AktG : Kommentar [4 ed.] 9783814555911, 3814555910


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AktG : Kommentar [4 ed.]
 9783814555911, 3814555910

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Wachter (Hrsg.) AktG

AktG Kommentar zum Aktiengesetz 4. Auflage Herausgegeben von Notar Dr. Thomas Wachter, München Bearbeitet von Prof. Dr. Uwe Blaurock, Dr. Michael Bormann, Boris Dürr, Dr. Daniel Epe, LL.M., Dr. Alexander Franz, Prof. Dr. Bernd Früchtl, Dr. Stefan Hackel, Dr. Dirk Kocher, LL.M., Dr. Simon Patrick Link, Dr. Klaus J. Müller, Dr. Oliver Rothley, Dr. Werner Paul Schick, Prof. Dr. Wolfgang Servatius, Prof. Dr. Sascha Stiegler, LL.M., Dr. Thomas Wachter, Dr. Jens Wagner, Dr. Christoph Andreas Weber, Dr. Thomas Zwissler

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG · Köln

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2022 RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG Postfach 27 01 25, 50508 Köln E-Mail: [email protected], Internet: http://www.rws-verlag.de Das vorliegende Werk ist in all seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der Übersetzung, des Vortrags, der Reproduktion, der Vervielfältigung auf fotomechanischem oder anderen Wegen und der Speicherung in elektronischen Medien. Satz und Datenverarbeitung: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt Druck und Verarbeitung: CPI books GmbH, Leck

Vorwort Die dritte Auflage des Kommentars zum Aktiengesetz ist in Wissenschaft und Praxis erfreulich positiv aufgenommen worden. Nach vier Jahren war es Zeit für eine Neuauflage. Das bewährte Konzept einer praxisnahen Darstellung des Aktienrechts wurde dabei beibehalten. In den letzten Jahren hat sich das Aktienrecht weiterhin dynamisch entwickelt. Neben dem ARUG II wurde das Aktiengesetz u. a. durch zahlreiche weitere Gesetze geändert. Beispielhaft erwähnt seien hier nur Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz (als Reaktion auf den Wirecard-Skandal), das Zweite Führungspositionen-Gesetz (einschließlich der Umsetzung der „stayonboard“-Initiative) sowie das Transparenzregister- und Finanzinformationsgesetz (mit neuen Mitteilungspflichten auch für Aktiengesellschaften). Die Corona-Gesetzgebung hat in den letzten beiden Jahren nahezu alle Rechtsbereiche erfasst. Im Bereich des Aktienrechts wurde u. a. die Möglichkeit einer virtuellen Hauptversammlung geschaffen. Diese Regelungen wurden durch das (Flut-)Aufbauhilfegesetz nochmals bis zum 31.8.2022 verlängert. Eine nochmalige Verlängerung ist derzeit nicht vorgesehen. Vielmehr will der Gesetzgeber jetzt eine dauerhafte Lösung schaffen. Im Februar 2022 hat das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz dazu den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften vorgelegt. Der Entwurf wird derzeit kontrovers diskutiert; das weitere Gesetzgebungsverfahren bleibt abzuwarten. Die Digitalisierung des Gesellschaftsrechts erfasst zunehmend auch das Aktienrecht. Die Gründung einer Aktiengesellschaft wird zwar zunächst noch nicht mittels Videokommunikation möglich sein. Allerdings werden auch bei Aktiengesellschaften künftig alle Anmeldungen zum Handelsregister online erfolgen können. Das Gesetz zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie wird am 1.8.2022 in Kraft treten. Im März hat das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz einen Referentenentwurf für ein Gesetz zur Ergänzung der Regelungen zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie vorgelegt. Den Praxistest müssen die neuen Online-Formate allerdings noch bestehen. In diesem Zusammenhang ist auch das neue Gesetz zur Einführung von elektronischen Wertpapieren zu erwähnen. Das Gesetz gilt bislang nur für Inhaberschuldverschreibungen, nicht aber auch für Inhaberaktien). Nach der Gesetzesbegründung ist aber eine spätere Ausweitung auf „elektronische Aktien“ geplant (siehe BT-Drucks. 19/26925, S. 30). Nach dem Koalitionsvertrag für die 20. Legislaturperiode könnte es hier zu weiteren Neuregelungen kommen (S. 172). Das Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts ist zwar bereits beschlossen worden, wird aber erst am 1.1.2024 in Kraft treten. Dies betrifft nicht nur mittelbar, sondern bspw. in Bezug auf das Aktienregister auch unmittelbar das Aktiengesetz. Die Praxis des Aktienrechts wird zudem durch den Deutschen Corporate Governance Kodex erheblich beeinflusst, der in der Vergangenheit immer wieder geändert worden ist. Am 21.1.2022 hat die Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex neue Vorschläge für weitere Änderungen am Kodex für deutsche börsennotierte Gesellschaften veröffentlicht (Volltext siehe www.dcgk.de). Dabei geht es vor allem um die Berücksichtigung ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit (ESG) bei der Leitung und Überwachung börsennotierter Unternehmen. Schließlich hat auch die Rechtsprechung, allen voran des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs, maßgeblich zur Fortentwicklung des Aktienrechts beigetragen.

V

Vorwort Für die 20. Legislaturperiode sind (zumindest mittelbar) weitere Änderungen des Aktienrechts zu erwarten. Der deutsche Gesetzgeber muss bis zum 31.1.2023 die Europäische Mobilitätsrichtlinie in das deutsche Recht umsetzen, wonach Aktiengesellschaften neue Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Umwandlung offenstehen werden. Zudem dürfte der Vorschlag für eine Richtlinie zu Corporate Sustainability Due Diligence (COM(2022) 71 final vom 23.2.2022) umfassende Auswirkungen auf die Organpflichten von Aktiengesellschaften haben. Die geplanten Regelungen sollen deutlich weitreichender sein als das in Deutschlang zum 1.1.2022 in Kraft getretene Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Im Autorenkreis ist es zu kleinen Veränderungen gekommen. Auf eigenen Wunsch ausgeschieden ist Dr. Thomas Kantenwein, dem herzlich für seine engagierte Mitarbeit gedankt sei. Neu hinzugekommen sind Dr. Stefan Hackel und Dr. Sascha Stiegler. Besonderer Dank gebührt wiederum Frau Rechtsanwältin Iris Theves-Telyakar, die die Neuauflage des Kommentars mit großer Sorgfalt und viel Geduld betreut hat. Im RWS Verlag hat Herr Rechtsanwalt Markus J. Sauerwald als Verlagsleiter maßgeblich zum Gelingen des Werks beigetragen. Anregungen und Kritik sind jederzeit herzlich willkommen. München im Mai 2022

VI

Thomas Wachter

Inhaltsübersicht Seite Vorwort ................................................................................................................................. V Bearbeiterverzeichnis ......................................................................................................... XI Literaturverzeichnis ........................................................................................................ XIII Erstes Buch Aktiengesellschaft (§§ 1 – 277) ............................................................................................. 1 Erster Teil

Allgemeine Vorschriften (§§ 1 – 22) ................................................. 1

Zweiter Teil

Gründung der Gesellschaft (§§ 23 – 53) ....................................... 113

Dritter Teil

Rechtsverhältnisse der Gesellschaft und der Gesellschafter (§§ 53a – 75) ..................................................................... 275

Vierter Teil

Verfassung der Aktiengesellschaft (§§ 76 – 149) ......................... 519

Erster Abschnitt

Vorstand (§§ 76 – 94) .................................................................... 519

Zweiter Abschnitt

Aufsichtsrat (§§ 95 – 116) ............................................................. 752

Dritter Abschnitt

Benutzung des Einflusses auf die Gesellschaft (§ 117) ............................................................................................ 918

Vierter Abschnitt

Hauptversammlung (§§ 118 – 149) ............................................... 923 Erster Unterabschnitt Rechte der Hauptversammlung (§§ 118 – 120a) ............................ 923 Zweiter Unterabschnitt Einberufung der Hauptversammlung (§§ 121 – 128) .................... 963 Dritter Unterabschnitt Verhandlungsniederschrift. Auskunftsrecht (§§ 129 – 132) .......... 1032 Vierter Unterabschnitt Stimmrecht (§§ 133 – 137) ........................................................... 1089 Fünfter Unterabschnitt Sonderbeschluß (§ 138) ............................................................... 1166 Sechster Unterabschnitt Vorzugsaktien ohne Stimmrecht (§§ 139 – 141) ........................... 1170 Siebenter Unterabschnitt Sonderprüfung. Geltendmachung von Ersatzansprüchen (§§ 142 – 149) .......................................... 1190

Fünfter Teil

Rechnungslegung. Gewinnverwendung (§§ 150 – 178) ............................................................................... 1233

Erster Abschnitt

Jahresabschluss und Lagebericht. Entsprechenserklärung und Vergütungsbericht (§§ 150 – 162) ...................... 1233

VII

Inhaltsübersicht Zweiter Abschnitt

Prüfung des Jahresabschlusses (§§ 163 – 171) ............................ 1288 Erster Unterabschnitt Prüfung durch Abschlußprüfer (§§ 163 – 169) (aufgehoben) ......... 1288 Zweiter Unterabschnitt Prüfung durch den Aufsichtsrat (§§ 170 – 171) ............................ 1289

Dritter Abschnitt

Feststellung des Jahresabschlusses. Gewinnverwendung (§§ 172 – 176) ............................................ 1309 Erster Unterabschnitt Feststellung des Jahresabschlusses (§§ 172 – 173) ......................... 1309 Zweiter Unterabschnitt Gewinnverwendung (§ 174) ....................................................... 1314 Dritter Unterabschnitt Ordentliche Hauptversammlung (§§ 175 – 176) ......................... 1317

Vierter Abschnitt

Bekanntmachung des Jahresabschlusses (§§ 177 – 178) (aufgehoben) ........................................................ 1324

Sechster Teil

Satzungsänderung. Maßnahmen der Kapitalbeschaffung und Kapitalherabsetzung (§§ 179 – 240) ................. 1325

Erster Abschnitt

Satzungsänderung (§§ 179 – 181) ................................................ 1325

Zweiter Abschnitt

Maßnahmen der Kapitalbeschaffung (§§ 182 – 221) .................. 1357 Erster Unterabschnitt Kapitelerhöhung gegen Einlagen (§§ 182 – 191) .......................... 1357 Zweiter Unterabschnitt Bedingte Kapitalerhöhung (§§ 192 – 201) .................................... 1419 Dritter Unterabschnitt Genehmigtes Kapital (§§ 202 – 206) ............................................ 1459 Vierter Unterabschnitt Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln (§§ 207 – 220) ............ 1489 Fünfter Unterabschnitt Wandelschuldverschreibungen. Gewinnschuldverschreibungen (§ 221) .................................................................... 1526

Dritter Abschnitt

Maßnahmen der Kapitalherabsetzung (§§ 222 – 240) ................ 1546 Erster Unterabschnitt Ordentliche Kapitalherabsetzung (§§ 222 – 228) ......................... 1546 Zweiter Unterabschnitt Vereinfachte Kapitalherabsetzung (§§ 229 – 236) ........................ 1571 Dritter Unterabschnitt Kapitalherabsetzung durch Einziehung von Aktien. Ausnahme für Stückaktien (§§ 237 – 239) .................................... 1589 Vierter Unterabschnitt Ausweis der Kapitalherabsetzung (§ 240) .................................... 1604

VIII

Inhaltsübersicht Siebenter Teil

Nichtigkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen und des festgestellten Jahresabschlusses. Sonderprüfung wegen unzulässiger Unterbewertung (§§ 241 – 261a) ............................................................................. 1607

Erster Abschnitt

Nichtigkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen (§§ 241 – 255) ............................................................................... 1607 Erster Unterabschnitt Allgemeines (§§ 241 – 249) .......................................................... 1607 Zweiter Unterabschnitt Nichtigkeit bestimmter Hauptversammlungsbeschlüsse (§§ 250 – 255) ............................................................................... 1659

Zweiter Abschnitt

Nichtigkeit des festgestellten Jahresabschlusses (§§ 256 – 257) ............................................................................... 1679

Dritter Abschnitt

Sonderprüfung wegen unzulässiger Unterbewertung (§§ 258 – 261a) ............................................................................. 1690

Achter Teil

Auflösung und Nichtigerklärung der Gesellschaft (§§ 262 – 277) ............................................................................... 1707

Erster Abschnitt

Auflösung (§§ 262 – 274) ............................................................ 1707 Erster Unterabschnitt Auflösungsgründe und Anmeldung (§§ 262 – 263) ...................... 1707 Zweiter Unterabschnitt Abwicklung (§§ 264 – 274) .......................................................... 1716

Zweiter Abschnitt

Nichtigerklärung der Gesellschaft (§§ 275 – 277) ............................................................................... 1751

Zweites Buch Kommanditgesellschaft auf Aktien (§§ 278 – 290) ....................................................... 1757 Drittes Buch Verbundene Unternehmen (§§ 291 – 393) .................................................................... 1795 Erster Teil

Unternehmensverträge (§§ 291 – 307) ....................................... 1795

Erster Abschnitt

Arten von Unternehmensverträgen (§§ 291 – 292) ................... 1795

Zweiter Abschnitt

Abschluß, Änderung und Beendigung von Unternehmensverträgen (§§ 293 – 299) ..................................... 1816

Dritter Abschnitt

Sicherung der Gesellschaft und der Gläubiger (§§ 300 – 303) ............................................................................... 1855

Vierter Abschnitt

Sicherung der außenstehenden Aktionäre bei Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen (§§ 304 – 307) ............................................................................... 1866

IX

Inhaltsübersicht Zweiter Teil

Leitungsmacht und Verantwortlichkeit bei Abhängigkeit von Unternehmen (§§ 308 – 318) ........................ 1883

Erster Abschnitt

Leitungsmacht und Verantwortlichkeit bei Bestehen eines Beherrschungsvertrags (§§ 308 – 310) ............................... 1883

Zweiter Abschnitt

Verantwortlichkeit bei Fehlen eines Beherrschungsvertrags (§§ 311 – 318) ........................................ 1899

Dritter Teil

Eingegliederte Gesellschaften (§§ 319 – 327) ............................. 1941

Vierter Teil

Ausschluss von Minderheitsaktionären (§§ 327a – 327f) ............................................................................ 1973

Fünfter Teil

Wechselseitig beteiligte Unternehmen (§ 328) ......................... 2007

Sechster Teil

Rechnungslegung im Konzern (§§ 329 – 393) (aufgehoben) ........................................................ 2011

Viertes Buch Sonder-, Straf- und Schlußvorschriften (§§ 393a– 410) .............................................. 2013 Erster Teil

Sondervorschriften bei Beteiligung von Gebietskörperschaften (§§ 393a– 395) ....................................... 2013

Zweiter Teil

Gerichtliche Auflösung (§§ 396 – 398) ....................................... 2025

Dritter Teil

Straf- und Bußgeldvorschriften. Schlußvorschriften (§§ 399 – 410) ............................................................................... 2031

Stichwortverzeichnis ....................................................................................................... 2057

X

Bearbeiterverzeichnis Prof. Dr. Uwe Blaurock ........................................................................................ §§ 278 – 290 Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg Institut für Handels- und Wirtschaftsrecht Dr. Michael Bormann ........................................................................................... §§ 170 – 178 Rechtsanwalt Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Düsseldorf Boris Dürr ............................................................................ §§ 133 – 134, 135 – 141, 182 – 206 Rechtsanwalt Heuking Kühn Lüer Wojtek, München Dr. Daniel Epe, LL.M. .......................................................................................... §§ 241 – 249 Rechtsanwalt, Partner GLNS, München Dr. Alexander Franz .................................................................................................... §§ 1 – 22 Rechtsanwalt München Prof. Dr. Bernd Früchtl ...................................................... §§ 221 – 240, 256 – 261a, 394 – 395 Ass. iur., Steuerberater HfWU Nürtingen-Geislingen Dr. Stefan Hackel .................................................................................................. §§ 150 – 169 Rechtsanwalt, Steuerberater, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht Kantenwein, Zimmermann, Spatscheck & Partner, München Dr. Dirk Kocher, LL.M. ........................................................................................ §§ 117 – 128 Rechtsanwalt Latham & Watkins LLP, Hamburg Dr. Simon Patrick Link .................................................................................. §§ 76 – 94, 393a Rechtsanwalt, Dipl.-Kfm. Hengeler Mueller, München Dr. Klaus J. Müller ................................................................................................ §§ 291 – 307 Notar, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht Schiedermair Rechtsanwälte, Frankfurt/M.

XI

Bearbeiterverzeichnis Dr. Oliver Rothley ................................................................................................. §§ 308 – 393 Rechtsanwalt Taylor Wessing, München Dr. Werner Paul Schick ........................................................................................... §§ 95 – 116 Rechtsanwalt (Syndikusrechtsanwalt) München Prof. Dr. Wolfgang Servatius ...................................................................... §§ 53a – 67, 68 – 75 Universität Regensburg Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Unternehmensrecht Richter am OLG München Prof. Dr. Sascha Stiegler, LL.M. ........................................................ §§ 67a – 67f, 134a – 134d Professor für Wirtschaftsrecht IU Internationale Hochschule, Berlin Dr. Thomas Wachter ............................................... §§ 23 – 53, 129 – 132, 179 – 181, 396 – 410 Notar München Dr. Jens Wagner .................................................................................... §§ 207 – 220, 250 – 255 Rechtsanwalt Allen & Overy, München PD Dr. Christoph Andreas Weber ......................................................................... §§ 262 – 277 Ludwig-Maximilians-Universität München Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Unternehmensrecht Dr. Thomas Zwissler .............................................................................................. §§ 142 – 149 Rechtsanwalt ZIRNGIBL, München

XII

Literaturverzeichnis Themenspezifische Fachliteratur ist in den Literaturübersichten zu Beginn der Kommentierungen aufgeführt. Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, Loseblatt, Stand: 6. Aufl. 1995 ff. (zit.: Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung) Altmeppen, GmbHG, Kommentar, 10. Aufl. 2021 Angerer/Geibel/Süßmann, WpÜG, Kommentar, 3. Aufl. 2017 Asmus, Die vinkulierte Mitgliedschaft, 2001 Assmann/Pötzsch/Schneider, U. H., WpÜG, Kommentar, 3. Aufl. 2019 Assmann/Schneider, WpHG, Kommentar, 7. Aufl. 2019 Baumbach/Hueck, GmbHG, Kommentar, 22. Aufl. 2019 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, Kommentar, 77. Aufl. 2019 Baums, Der Geschäftsleitervertrag, 1987 (zit.: Baums, Geschäftsleitervertrag) Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, Bd. 2, 2007 BDI/Hengeler/Mueller, Die GmbH im Wettbewerb der Rechtsformen, 2006 BeckOnline Großkommentar zum Aktienrecht, Gesamthrsg. Henssler, Stand 1.9.2021 (zit.: Bearbeiter in: BeckOGK-AktR) Beck’scher Bilanz-Kommentar Handels- und Steuerbilanz, hrsg. v. Grottel/ Justenhoven/Schubert/Störk, 12. Aufl. 2020 (zit.: Bearbeiter in: BeckBilKomm) Beck’sches Formularbuch Bürgerliches, Handels- und Wirtschaftsrecht, hrsg. v. HoffmannBecking/Gebele, 13. Aufl. 2019 (zit.: Bearbeiter in: Beck’sches Formb. BHW) Beck’sches Mandatshandbuch Vorstand der AG, hrsg. v. Lücke/Schaub, 2. Aufl. 2010 (zit.: Bearbeiter in: Beck MandatsHdB Vorstand) Bednarz, Der Ermächtigungsbeschluss der Hauptversammlung zum Erwerb eigener Aktien, 2006 Bezzenberger, Das Kapital der Aktiengesellschaft, 2005 Bezzenberger, Der Erwerb eigener Aktien durch die AG, 2002 Biener/Bernecke, Bilanzrichtlinien-Gesetz, Düsseldorf 1986 (zit.: BiRiLiG) Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG im Gesellschafts- und Steuerrecht, 12. Aufl. 2018 Birkmose/Sergakis, The Shareholder Rights Directive II, 2021 Blaurock, Handbuch Stille Gesellschaft, 9. Aufl. 2020 Boeckmann, Die Zulässigkeit von Leistungen Dritter an Mitglieder des Vorstands der unabhängigen Aktiengesellschaft, 2018 Bork/Schäfer, GmbHG, Kommentar, 4. Aufl. 2019 Bormann/Diehn/Sommerfeldt, GNotKG, Kommentar, 4. Aufl. 2021

XIII

Literaturverzeichnis Böttcher/Carl/Schmidt/Seibert, Die Aktienrechtsnovelle, 2016 Brosius, Die finanzielle Unterstützung des Erwerbs eigener Aktien, 2011 Brungs, Das Statusverfahren der §§ 97 ff. AktG, 2015 (Diss.) Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020 (zit.: Brünkmans/Thole-Bearbeiter, Hdb Insolvenzplan) Bumiller/Harders/Schwamb, FamFG, Kommentar, 12. Aufl. 2019 Bürgers/Fett, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien, 2. Aufl. 2015 Bürgers/Körber/Lieder, Heidelberger Kommentar zum Aktiengesetz, 5. Aufl. 2021 (zit.: Bürgers/Körber/Lieder-Bearbeiter, AktG) Butzke, Die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft, 5. Aufl. 2011 (zit.: Butzke, Hauptversammlung der AG) Canaris, Handelsrecht, 24. Aufl. 2006 Casper, Die Heilung nichtiger Beschlüsse im Kapitalgesellschaftsrecht, 1998 Decher, Personelle Verflechtungen im Aktienkonzern, 1990 Dolzer, Die Emanzipation des Prüfungsausschusses im Aufsichtsrat, 2019 Dörner/Horváth/Kagermann, Praxis des Risikomanagements, 2000 Eberspächer, Nichtigkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen nach § 241 Nr. 3 AktG, 2009 Eckardt, Die Beendigung der Vorstands- und Geschäftsführerstellung in Kapitalgesellschaften, 1989 Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019 (zit.: Emmerich/Habersack-Bearbeiter, Konzernrecht) Eschenbruch, Konzernhaftung: Haftung der Unternehmen und Manager, 1996 Feldmeier, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien unter der „50 + 1“-Regel, 2020 Feuerich/Weyland, BRAO, Bundesrechtsanwaltsordnung, 10. Aufl. 2020 Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 2006 (zit.: Fleischer-Bearbeiter, Hdb. VorstandsR) Fleischer/Kalss/Vogt, Aktuelle Entwicklungen im deutschen, österreichischen und schweizerischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht 2012, 2013 Frodermann/Jannott, Handbuch des Aktienrechts, 9. Aufl. 2017 Früchtl, Die Aktiengesellschaft als Rechtsform für die wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand, 2009 (zit.: Früchtl, Aktiengesellschaft in öffentlicher Hand) Fuhrmann/Linnerz/Pohlmann, Deutscher Corporate Governance Kodex, 2015 Goette/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, 2020 (zit.: Bearbeiter in: Goette/Arnold, Hdb. Aufsichtsrat) Goj, Ungeschriebenes Hauptversammlungserfordernis beim Beteiligungserwerb?, 2017 Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020 (zit.: Bearbeiter in: Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Hdb.)

XIV

Literaturverzeichnis Grigoleit, AktG, Kommentar, 2. Aufl. 2020 Grigoleit, Gesellschafterhaftung für interne Einflussnahme im Recht der GmbH, 1999 Gröntgen, Operativer shareholder activism, 2020 Großkommentar zum Aktiengesetz, hrsg. v. Hirte/Mülbert/Roth u. a., Loseblatt, 4. Aufl. 2004 ff. und 5. Aufl. 2014 ff. (zit.: Bearbeiter in: GroßKomm-AktG) Großkommentar zum Handelsgesetzbuch, hrsg. v. Canaris/Habersack/Schäfer, Bd. 3, 5. Aufl. 2009 (zit.: Bearbeiter in: GroßKomm-HGB) Großmann, Unternehmensziele im Aktienrecht, 1980 Grüneberg, Bürgerliches Gesetzbuch, Kommentar, 81. Aufl. 2022 Gutheil, Die Auswirkungen von Umwandlungen auf Unternehmensverträge nach §§ 291, 292 AktG und die Rechte außenstehender Aktionäre, 2000 Gutzler, Übertragungshindernisse bei der Unternehmensspaltung, 2000 Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 3. Aufl. 2022 Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018 Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, 4. Aufl. 2019 (zit.: Habersack/Mülbert/Schlitt-Bearbeiter, Unternehmensfinanzierung) Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2019 Hachenburg, GmbHG, Großkommentar, 7. Aufl. 1979 ff., 8. Aufl. 1990 ff. Hahn, Die Übernahme von Aktien für Rechnung der Gesellschaft, 2005 Happ, Aktienrecht, Handbuch, Mustertexte, Kommentar, 5. Aufl. 2019 (zit.: Happ-Bearbeiter, AktienR) Harnos, Geschäftsleiterhaftung bei unklarer Rechtslage, 2013 Hauber, Der Stimmrechtsberater in der Unternehmensverfassung der deutschen Aktiengesellschaft, 2020 Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 5. Aufl. 2020 (zit.: Heidel-Bearbeiter, AktR) Heidel/Schall, HGB, Kommentar, 3. Aufl. 2019 Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2021 (zit.: Henssler/Strohn-Bearbeiter, GesR) Henze/Born/Drescher, Aktienrecht, Höchstrichterliche Rechtsprechung, 6. Aufl. 2015 Hirte/Heidel, Das neue Aktienrecht nach ARUG II und Corona-Gesetzgebung, Kommentar, 2020 (zit.: Hirte/Heidel-Bearbeiter, Das neue Aktienrecht) Hoffmann/Preu, Der Aufsichtsrat, 5. Aufl. 2002 Hohenstatt/Seibt, Geschlechter- und Frauenquote in der Privatwirtschaft, 2015 (zit.: Bearbeiter in: Hohenstatt/Seibt, Geschlechter- und Frauenquote) Hölters, AktG, Aktiengesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2017 Hölters/Weber, Aktiengesetz, Kommentar, 4. Aufl. 2022 XV

Literaturverzeichnis Hommelhoff, Konzernleitungspflicht, 1982 Hommelhoff/Hopt/v. Werder, Handbuch Corporate Governance, 2. Aufl. 2010 Hopt, Handelsgesetzbuch, Kommentar, 40. Aufl. 2021 Hopt/Binder/Böcking, Handbuch Corporate Governance von Banken und Versicherungen, 2. Aufl. 2020 (zit.: Bearbeiter in: Hopt/Binder/Böcking, Hdb. Corporate Governance) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, Aktienrecht und Corporate Governance, 2019 Hopt/Seibt, Schuldverschreibungsrecht, Kommentar – Handbuch – Vertragsmuster, 2017 (zit.: Bearbeiter in: Hopt/Seibt, Schuldverschreibungsrecht) Höreth/Linnerz, Geschäftsordnungsanträge in Hauptversammlungen, 2012 Hueck, Der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Privatrecht, 1958 Hüffer/Koch, Aktiengesetz, Kommentar, 15. Aufl. 2021 (zit.: Hüffer/Koch-Bearbeiter, AktG) Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, 2. Aufl. 2020 Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2. Aufl. 2014 Johannsen-Roth/Illert/Ghassemi-Tabar, Deutscher Corporate Governance Kodex, DCGK, 2020 Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, Handbuch, 2019 (zit.: Bearbeiter in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa) Kallmeyer, Umwandlungsgesetz, Kommentar, 7. Aufl. 2020 Kalss/Klampfl, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2015 Kamm, Die aktienrechtliche Sonderprüfung gemäß § 142 ff. AktG, 2015 Kantzas, Das Weisungsrecht im Vertragskonzern, 1988 Keidel, FamFG, Kommentar, hrsg. v. Engelhardt/Sternal, 20. Aufl. 2020 Klimmer, Unternehmensorganisation, 5. Aufl. 2022 Koch, Aktiengesetz, Kommentar, 16. Aufl. 2022 (zit.: Koch, AktG) Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, hrsg. v. Zöllner/Noack, 3. Aufl. 2009 ff. (zit.: Bearbeiter in: KölnKomm-AktG) Kölner Kommentar zum WpHG, hrsg. v. Hirte/Möllers, 2. Aufl. 2014 (zit.: Bearbeiter in: KölnKomm-WpHG) Kölner Kommentar zum WpÜG, hrsg. v. Hirte/v. Bülow, 2. Aufl. 2010 (zit.: Bearbeiter in: KölnKomm-WpÜG) Krafka, Registerrecht, 11. Aufl. 2019 Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, Kommentar zum Deutschen Corporate Governance Kodex, 8. Aufl. 2021 (zit.: Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Bearbeiter, DCGK) Krieger, Personalentscheidungen des Aufsichtsrats, 1981

XVI

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XVIII

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XX

Aktiengesetz (AktG) vom 6. September 1965, BGBl. I 1965, 1089 zuletzt geändert durch Artikel 61 des Gesetzes vom 10. August 2021, BGBl. I 2021, 3436

Erstes Buch Aktiengesellschaft Erster Teil Allgemeine Vorschriften §1 Wesen der Aktiengesellschaft Alexander Franz

(1) 1Die Aktiengesellschaft ist eine Gesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit. 2Für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft haftet den Gläubigern nur das Gesellschaftsvermögen. (2) Die Aktiengesellschaft hat ein in Aktien zerlegtes Grundkapital. Literatur: Goette, Die aktuelle gesellschaftsrechtliche Rechtsprechung des BGH, in: VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2009, 2010, S. 1; Kölbl, Die Haftung wegen existenzvernichtenden Eingriffs: gesicherte Erkenntnisse und Entwicklungen seit Trihotel, BB 2009, 1194; Leipold, Kommt das Unternehmensstrafrecht?, NJW-Spezial 2013, 696; Rubner, Liquidationsgesellschaft und Gesellschafterhaftung – zugleich Besprechung des BGH-Urteils vom 9.2.2009, II ZR 292/07, „Sanitary“, DStR 2009, 1538; Weller, Die Neuausrichtung der Existenzvernichtungshaftung durch den BGH und ihre Implikationen für die Praxis, ZIP 2007, 1681; Wessing, Gesetzentwurf zur Einführung eines Unternehmensstrafrechts, DB 2013, 1.

Übersicht I. Bedeutung der Norm ........................ 1 II. Typologische Einordnung der AG ................................................ 2 III. Eigene Rechtspersönlichkeit ........... 5 1. Beginn der Rechtspersönlichkeit ....... 6 2. Vorgründungsgesellschaft, Vorgesellschaft ................................... 7 3. Fähigkeiten als juristische Person ..... 8 4. Ende der Rechtspersönlichkeit ........ 17 IV. Beschränkung der Haftung ............ 18 V. Durchgriffshaftung ......................... 21 I.

1. Vermögensvermischung ................... 2. Materielle Unterkapitalisierung ....... 3. Existenzvernichtender Eingriff ....... VI. Grundkapital ................................... 1. Begriff, Funktionen, Abgrenzung ...................................... 2. Prinzip der Kapitalaufbringung ....... 3. Prinzip der Kapitalerhaltung ........... VII. Zerlegung in Aktien ..................... 1. Bedeutung der Aktie ........................ 2. Zerlegung ..........................................

22 23 24 27 27 28 29 30 30 31

Bedeutung der Norm

§ 1 nennt folgende Wesensmerkmale der AG: Gesellschaft, eigene Rechtspersönlichkeit, 1 (grundsätzliche) Beschränkung der Haftung auf das Gesellschaftsvermögen (§ 1 Abs. 1) sowie Existenz eines in Aktien zerlegten Grundkapitals (§ 1 Abs. 2). Zum Wesen der AG

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1

§1

Wesen der Aktiengesellschaft

zählt darüber hinaus das in § 3 Abs. 1 normierte Merkmal der Kaufmannseigenschaft (siehe § 3 Rz. 1, 3).1) II.

Typologische Einordnung der AG

2 Die in § 1 Abs. 1 Satz 1 als Gesellschaft bezeichnete AG hat insbesondere korporativen Charakter und ist als Körperschaft typologisch dem Verein i. S. der §§ 21 ff. BGB zuzuordnen.2) Diese Zuordnung folgt primär aus ihrer dem Verein ähnlichen Organisationsstruktur mit Satzung (§§ 2, 23), Vorstand (§§ 76 ff.), Aufsichtsrat (§§ 95 ff.), Hauptversammlung (§§ 118 ff.), festgelegten Kompetenzen der Organe sowie mitgliedschaftlichen Rechten und Pflichten der Aktionäre. Die vereinsrechtlichen Vorschriften der § 31 BGB (Haftungszuweisung von schädigenden Handlungen der Organe), § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB (Zustimmung aller Gesellschafter zur Änderung des Gesellschaftszwecks; umstritten) und § 35 BGB (Unentziehbarkeit von Sonderrechten) sind mangels spezieller Regelungen im AktG ergänzend auf die AG anzuwenden.3) 3 Gleichzeitig ist die AG aber auch Gesellschaft, deren Gründung durch mehrere Personen einen notariell zu beurkundenden Gesellschaftsvertrag sowie die Erfüllung der Kriterien in § 705 BGB, §§ 2, 23 und 41 AktG, bzw. im Fall der Einmanngründung eine ebenfalls notariell zu beurkundende einseitige Gründungserklärung (anstelle des Gesellschaftsvertrages) sowie die Erfüllung der Kriterien in §§ 2 (verdrängt § 705 BGB), 23 und 41 AktG voraussetzt.4) Zu den Themen Unternehmensgegenstand und Gesellschaftszweck vgl. die Ausführungen unter § 3 Rz. 4 ff. 4 Eine AG entsteht entweder durch Neugründung (Bar- und/oder Sachgründung), in der Praxis häufig im Wege der Umwandlung5) (insbesondere durch: Formwechsel, §§ 190 ff. UmwG; aber auch durch: Verschmelzung zur Neugründung, §§ 36 ff. UmwG; Spaltung zur Neugründung, §§ 135 ff. UmwG; Ausgliederung zur Neugründung, §§ 158 ff. UmwG).6) III.

Eigene Rechtspersönlichkeit

5 Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 hat die AG eigene Rechtspersönlichkeit und ist somit juristische Person.7) 1.

Beginn der Rechtspersönlichkeit

6 Die AG erwirbt die Rechtspersönlichkeit erst mit Eintragung in das Handelsregister, § 41 Abs. 1 Satz 1. Vor Eintragung besteht eine juristische Person nicht (siehe auch § 41).8) 2.

Vorgründungsgesellschaft, Vorgesellschaft

7 Bei einer Mehrpersonengründung existiert die Gesellschaft vor dem Zeitpunkt ihrer Gründung durch notarielle Satzung als sog. Vorgründungsgesellschaft in Form einer GbR bzw. OHG und ab diesem Zeitpunkt (statutarische Gründung) bis zur Registereintragung als sog. Vor-AG in Form einer Gesellschaft eigener Art.9) Bei einer Einmanngründung soll es _____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9)

2

Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 1. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 2; K. Schmidt, GesR, § 26 I. 1., S. 755. Näher hierzu K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 1 Rz. 3; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 1 Rz. 11. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 3. Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 3 Rz. 1. Ausführlich K. Schmidt, GesR, § 27 I., S. 783 f. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 4; K. Schmidt, GesR, § 26 I. 2., S. 755. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 41 Rz. 1. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 41 Rz. 2 ff.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 41 Rz. 10 ff.

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§1

Wesen der Aktiengesellschaft

sich ab statutarischer Gründung bis zur Registereintragung entweder um eine am Vorbild der Vor-AG orientierten rechtsfähigen Wirkungseinheit oder um ein Sondervermögen des Alleingründers handeln.10) In beiden Fällen dieser sog. Vorgesellschaft (Mehrpersonenund Einmanngründung) gehen mit Eintragung in das Handelsregister die seit statutarischer Gründung entstandenen Rechte und Pflichten im Wege der Gesamtrechtsnachfolge ipso iure auf die AG als juristische Person über (siehe auch § 41).11) Eine Gesamtrechtsnachfolge ipso iure von der Vorgründungsgesellschaft auf die Vorgesellschaft bzw. auf die juristische Person findet hingegen nicht statt, so dass die Übertragung etwaiger Vermögensgegenstände mit oder im Anschluss an die statutarische Gründung im Wege der vertraglich zu regelnden Einzelrechtsnachfolge (sog. Asset Deal12); siehe auch § 41) oder der ebenfalls vertraglich zu regelnden (partiellen) Gesamtrechtsnachfolge nach den Vorschriften des UmwG13) erfolgen muss. 3.

Fähigkeiten als juristische Person

Als juristische Person ist die AG selbst Trägerin von Rechten und Pflichten und kann 8 somit am Rechtsverkehr ähnlich einer natürlichen Person teilnehmen. Erst durch ihre Organe wird die AG handlungsfähig. –

Zivilrechtlich kann die AG Trägerin sämtlicher vermögensrechtlicher Rechte und Pflich- 9 ten, Eigentümerin, Vertragspartnerin, Gläubigerin und Schuldnerin sein, ist u. a. konto-, grundbuch-, beteiligungsfähig (d. h. sie kann Gesellschafterin anderer Gesellschaften sein) und auch besitzfähig, soweit der Vorstand die Voraussetzungen des § 854 BGB oder einer anderen Besitzform (z. B. § 868 BGB) erfüllt.14)



Die AG kann zwar weder Urheber noch Erfinder schöpferischer Ideen sein, sie kann 10 aber z. B. Patente anmelden und somit Inhaber derartiger Schutzrechte werden, sich das ausschließliche Nutzungsrecht an Urheberrechten einräumen lassen (§ 31 UrhG) und Diensterfindungen ihrer Arbeitnehmer in Anspruch nehmen (§§ 6 ff. ArbEG).15)



Ob der AG Persönlichkeitsrechte zustehen, ist umstritten, wird aber vom BGH und 11 von Teilen der Literatur befürwortet, wenn und soweit ihr sozialer Geltungsanspruch als Arbeitgeber oder als Wirtschaftsunternehmen betroffen ist.16)



Zivilprozessrechtlich ist die AG aktiv und passiv parteifähig i. S. von § 50 ZPO.17) Um- 12 stritten ist, ob sie auch prozessfähig i. S. von § 51 ZPO ist.18)

_____________ 10) Zum Meinungsstand: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 41 Rz. 17a ff.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 41 Rz. 76 ff. 11) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 41 Rz. 16, 17g; K. Schmidt, GesR, § 11 IV. 4., S. 306 f., § 27 II. 3. d), S. 790. 12) Pentz in: MünchKomm-AktG, § 41 Rz. 17. 13) Die Vor-AG ist als Gesellschaft sui generis noch nicht umwandlungsfähig, kann zwar bereits den jeweiligen Umwandlungs-Vertrag (z. B. Verschmelzungsvertrag) abschließen, Zustimmungsbeschlüsse fassen lassen und die Anmeldung zum Handelsregister durchführen, muss allerdings vor Eintragung des umwandlungsrechtlichen Vorgangs in das Handelsregister durch ihre eigene Handelsregistereintragung entstanden sein; vgl. hierzu Henssler/Strohn-Heidinger, GesR, § 3 UmwG Rz. 13; LutterLutter/Drygala, UmwG, § 3 Rz. 5. 14) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 5 ff. 15) Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 1 Rz. 18. 16) BGH, Urt. v. 3.6.1986 – VI ZR 102/85, ZIP 1986, 1145, 1146 f.; Spindler/Stilz-Fock, AktG, § 1 Rz. 20 ff.; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 1 Rz. 16. 17) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 7. 18) Die Prozessfähigkeit befürworten Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 1 Rz. 8; Spindler/Stilz-Fock, AktG, § 1 Rz. 26; jeweils m. w. N. zum Meinungsstand; a. A. Baumbach/ Lauterbach/Albers/Hartmann-Hartmann, ZPO, § 52 Rz. 4.

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3

§1

Wesen der Aktiengesellschaft

13 –

Steuerrechtlich ist die AG mit inländischem Register- und/oder Verwaltungssitz grundsätzlich körperschafts- sowie gewerbesteuerpflichtig und im Gegensatz zu Personengesellschaften steuerlich nicht transparent.19)

14 –

Öffentlich-rechtlich unterliegt die AG den gleichen bau-, umwelt- und gewerberechtlichen Vorschriften wie natürliche Personen; Grundrechte gelten gemäß Art. 19 Abs. 3 GG, wenn und soweit diese ihrem Wesen nach auf juristische Personen anwendbar sind.20)

15 –

Strafrechtlich kann die AG als juristische Person mangels Handlungs- und Schuldfähigkeit nicht selbst zur Verantwortung gezogen werden und wird auch nicht für strafrechtlich relevantes Handeln ihrer Organmitglieder verantwortlich gemacht.21) Ein straftatbestandliches oder ordnungswidriges Verhalten der Organe wirkt sich allerdings insofern auf die AG aus, als dass auch gegen diese eine Geldbuße festgesetzt werden kann, vgl. § 30 OWiG, § 401 AO.22)

16 –

Die Insolvenzfähigkeit der AG folgt aus §§ 11 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 1 InsO.23)

4.

Ende der Rechtspersönlichkeit

17 Wann die Rechtspersönlichkeit der AG endet, ist umstritten. Nach Meinung des BGH24) endet diese ipso iure im Zeitpunkt der Vermögenslosigkeit, nach a. A.25) mit Löschung im Handelsregister. Die vermittelnde Auffassung26) kombiniert die beiden zuvor genannten Positionen und nimmt ein Ende der Rechtspersönlichkeit mit Eintritt der Vermögenslosigkeit und der Löschung als Doppeltatbestand an, da die Rechtspersönlichkeit auch nach Löschung erhalten bleiben muss, wenn und solange noch verteilungsfähiges Vermögen der AG vorhanden ist.27) Der am 1.1.1999 für die GmbH eingeführte § 66 Abs. 5 GmbHG spricht insgesamt auch auf Ebene der AG für die Theorie des Doppeltatbestandes.28) IV.

Beschränkung der Haftung

18 Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 haftet den Gläubigern für die Verbindlichkeiten der AG (grundsätzlich) nur das Gesellschaftsvermögen. Hiermit wird das für Kapitalgesellschaften charakteristische Trennungsprinzip beschrieben. Aus dem Trennungsprinzip folgt, dass nur die AG selbst Zuordnungssubjekt von Rechten und Pflichten ist, die Rechtssphären der AG und ihrer Organmitglieder folglich getrennt sind (Ausnahme: Durchgriffslehre, siehe hierzu Rz. 21 ff.).29) _____________ 19) Spindler/Stilz-Fock, AktG, § 1 Rz. 30; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 1 Rz. 24. 20) Spindler/Stilz-Fock, AktG, § 1 Rz. 27; K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 1 Rz. 10; jeweils m. w. N. 21) Vgl. aber zur Gesetzesinitiative von NRW zu einem Unternehmensstrafrecht Wessing, DB 2013, 1; Leipold, NJW-Spezial 2013, 696. 22) Spindler/Stilz-Fock, AktG, § 1 Rz. 28 f.; K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 1 Rz. 9; jeweils m. w. N. 23) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 7. 24) BGH, Urt. v. 29.9.1981 – VI ZR 21/80, ZIP 1981, 1268 = NJW 1982, 238. 25) Heider in: MünchKomm-AktG, § 1 Rz. 28; Hachenburg-Ulmer, GmbHG, Anh. § 60 Rz. 37. 26) BayObLG, Beschl. v. 7.1.1998 – 3Z BR 491/97, ZIP 1998, 421 f.; OLG Stuttgart, Urt. v. 30.9.1998 – 20 U 21/98, AG 1999, 280, 281 = ZIP 1998, 1880; Spindler/Stilz-Fock, AktG, § 1 Rz. 32; K. Schmidt/ Lutter-Lutter, AktG, § 1 Rz. 5; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 1 Rz. 9. 27) K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 1 Rz. 5 m. w. N.; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 1 Rz. 9; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 1 Rz. 16. 28) So auch Spindler/Stilz-Fock, AktG, § 1 Rz. 32. 29) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 4, 15.

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§1

Wesen der Aktiengesellschaft

Dieser Grundsatz gilt nicht zulasten der Gläubiger einer eingegliederten Gesellschaft 19 i. S. von §§ 319 ff., da diesen gemäß § 322 neben der eingegliederten Gesellschaft selbst auch die Hauptgesellschaft als Aktionärin haftet. Ebenso wenig gilt dieser Grundsatz in anderen Fällen von unmittelbar den Aktionär persönlich treffenden vertraglich oder gesetzlich begründeten Haftungstatbeständen, z. B. im Falle einer Bürgschaft, Garantie oder Patronatserklärung, der allgemeinen Schutzpflichthaftung gemäß § 311 Abs. 2 und 3 BGB sowie der deliktischen Haftung nach §§ 823 ff. BGB.30) Einen direkten Zugriff der Gläubiger auf die Aktionäre oder sonstige Organmitglieder lassen 20 darüber hinaus ausnahmsweise folgende Vorschriften zu: § 62 Abs. 2 Satz 1 (subsidiäre Haftung der Aktionäre), § 93 Abs. 5 Satz 1 (ggf. i. V. m. § 116) (subsidiäre Haftung von Vorstand bzw. Aufsichtsrat), § 117 Abs. 5 (subsidiäre Haftung des „Beeinflussenden“), § 309 Abs. 4 Satz 3 (subsidiäre Haftung des gesetzlichen Vertreters im Vertragskonzern), § 317 Abs. 4 (subsidiäre Haftung des herrschenden Unternehmens und seiner gesetzlichen Vertreter im faktischen Konzern).31) Es handelt sich hierbei nicht um Ausnahmen von dem in § 1 Abs. 1 Satz 2 verankerten Trennungsprinzip, sondern lediglich um Lockerungen in Form einer ausnahmsweise zugelassenen subsidiären Haftung, die immer nur dann eingreift, wenn und soweit die Gläubiger von der AG selbst keine Befriedigung erlangen können.32) V.

Durchgriffshaftung

Eine echte Ausnahme vom Trennungsprinzip stellt hingegen die sog. Durchgriffshaftung 21 dar, die im anglo-amerikanischen Rechtskreis unter dem Rechtsinstitut piercing the corporate veil diskutiert wird.33) Die Durchgriffslehre möchte Missbrauchsfällen mit der ausnahmsweise zulässigen direkten Haftung der Aktionäre gegenüber den Gläubigern der AG begegnen und wird primär im Bereich der GmbH diskutiert.34) Praktisch bedeutsam werden die folgenden Ausführungen allerdings regelmäßig erst bei Insolvenz der AG, da zuvor kein Anlass für die Gläubiger besteht, die schwierigere Inanspruchnahme der Aktionäre einer solchen der AG vorzuziehen.35) Im Laufe der Zeit haben sich im Wesentlichen folgende Fallgruppen herausgebildet:36) 1.

Vermögensvermischung

Ein Fall der Vermögensvermischung liegt vor, wenn infolge undurchsichtiger Buchfüh- 22 rung oder auf andere Weise das Trennungsprinzip missachtet wurde und so eine Abgrenzung von Privat- und Gesellschaftsvermögen verschleiert wird.37) Rechtsfolge ist eine akzessorische Haftung der Gesellschafter für Verbindlichkeiten der Gesellschaft gegenüber deren Gläubigern analog § 128 HGB.38) Der BGH stellt bei der GmbH hohe Anforderungen an die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Fallgruppe und fordert hier_____________ 30) 31) 32) 33) 34) 35) 36) 37) 38)

Vgl. hierzu Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 1 Rz. 87 ff.; Hölters-Solveen, AktG, § 1 Rz. 20. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 9; K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 1 Rz. 12. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 9. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 15; zum anglo-amerikanischen piercing the corporate veil: Henssler/ Strohn-Servatius, GesR, IntGesR Rz. 110; Spahlinger/Wegen, IntGesR, Rz. 1342. Lutter/Hommelhoff-Lutter, GmbHG, § 13 Rz. 11 ff.; Bork/Schäfer-Weller/Discher, GmbHG, § 13 Rz. 34 ff. K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 1 Rz. 14. Vgl. zur ausführlichen und vollständigen Darstellung der Fallgruppen Hölters-Solveen, AktG, § 1 Rz. 10 ff.; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 1 Rz. 93 ff. BGH, Urt. v. 14.11.2005 – II ZR 178/03, ZIP 2006, 467, 469 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 20. BGH, Urt. v. 16.7.2007 – II ZR 3/04 (Trihotel), ZIP 2007, 1552, 1556, dazu EWiR 2007, 557 (Wilhelm); Bork/Schäfer-Weller/Discher, GmbHG, § 13 Rz. 36.

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§1

Wesen der Aktiengesellschaft

für, dass die vom Gesetz normierte Kapitalerhaltung durch Verschleierungstaktiken der Gesellschafter unkontrollierbar wird.39) Auch bei der AG soll in derartigen Fällen ausnahmsweise ein Durchgriff zugelassen werden, wenn vorhandene gesetzliche Kapitalschutzregelungen (§§ 57, 62) nicht ausreichen und die wegen der Weisungsunabhängigkeit des Vorstands gemäß § 76 strengeren Anforderungen an die Verantwortlichkeit des jeweiligen Gesellschafters erfüllt sind.40) 2.

Materielle Unterkapitalisierung

23 Statten die Gesellschafter die Gesellschaft mit völlig unzureichenden Mitteln aus, so dass das Eigenkapital nicht ausreicht, um den nach Art und Umfang der angestrebten oder tatsächlichen Geschäftstätigkeit bestehenden und nicht durch Kredite Dritter zu deckenden Finanzbedarf zu befriedigen, so liegt ein Fall der materiellen Unterkapitalisierung vor, die nach Ansicht des BSG und Teilen der Literatur eine Durchgriffshaftung der Gesellschafter rechtfertigen soll.41) Der BGH und die Gegenauffassung in der Literatur tendieren dazu, diese Fallgruppe nicht über die Durchgriffshaftung, sondern allein über eine Innenhaftung der Gesellschafter gegenüber der Gesellschaft gemäß § 826 BGB zu lösen, die nur seitens der Geschäftsleitung bzw. des Insolvenzverwalters im Namen der Gesellschaft, nicht aber seitens der Gläubiger selbst geltend gemacht werden kann.42) Im Falle einer Innenhaftung nach § 826 BGB müssen die Gläubiger der Gesellschaft zunächst einen Titel gegen die (vermögenslose) Gesellschaft erstreiten, um anschließend auf Basis eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses die Forderung der Gesellschaft aus § 826 BGB direkt bei den Gesellschaftern einziehen zu können. 3.

Existenzvernichtender Eingriff

24 Die Fallgruppe des existenzvernichtenden Eingriffs ist die in der Praxis wichtigste. Nach jüngerer Rechtsprechung des BGH handelt es sich hierbei allerdings nicht (mehr) um einen Fall der Durchgriffshaftung, sondern ebenfalls um eine auf § 826 BGB gestützte Innenhaftung der Gesellschafter gegenüber der Gesellschaft.43) Der BGH versteht unter der sog. Existenzvernichtungshaftung die durch Schutzlücken im Haftungssystem der Kapitalerhaltungsvorschriften gerechtfertigte Missbrauchshaftung der Gesellschafter, die durch Eingriffe des jeweiligen Gesellschafters in das dem Gläubigerschutz zur Verfügung stehenden Gesellschaftsvermögen ausgelöst werden soll, sofern diese Eingriffe –

die Insolvenz der Gesellschaft bewirken oder vertiefen,



als sittenwidrig zu qualifizieren sind, und



bei der Gesellschaft zu einem vorsätzlich verursachten Schaden führen.44)

_____________ 39) BGH, Urt. v. 13.4.1994 – II ZR 16/93, ZIP 1994, 867 f.; BGH, Beschl. v. 7.1.2008 – II ZR 314/05, ZIP 2008, 308, 310. 40) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 20; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 1 Rz. 53; Heider in: MünchKomm-AktG, § 1 Rz. 72; Hölters-Solveen, AktG, § 1 Rz. 12. 41) BSG, Urt. v. 7.12.1983 – 7 Rar 20/82, NJW 1984, 2117, 2118; BSG, Urt. v. 1.2.1996 – 2 RU 7/95, NJW-RR 1997, 94, 95; Lutter/Hommelhoff-Lutter, GmbHG, § 13 Rz. 20; Hachenburg-Ulmer, GmbHG, Anh. § 30 Rz. 55; K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 1 Rz. 16. 42) BGH, Urt. v. 24.8.2008 – II ZR 264/06 (Gamma), ZIP 2008, 1232, 1234 ff.; Spindler/Stilz-Fock, AktG, § 1 Rz. 61; Hölters-Solveen, AktG, § 1 Rz. 16. 43) BGH, Urt. v. 16.7.2007 – II ZR 3/04 (Trihotel), ZIP 2007, 1552, 1557 ff.; hierzu Weller, ZIP 2007, 1681 ff.; BGH, Beschl. v. 7.1.2008 – II ZR 314/05, ZIP 2008, 308 ff., dazu EWiR 2008, 135 (Westermann); BGH, Urt. v. 9.2.2009 – II ZR 292/07 (Sanitary), ZIP 2009, 802 ff.; insgesamt zum Thema Kölbl, BB 2009, 1194 ff.; Rubner, DStR 2009, 1538 ff. 44) BGH, Urt. v. 16.7.2007 – II ZR 3/04 (Trihotel), ZIP 2007, 1552, 1555 ff.; ausführlich zu den einzelnen Tatbestandsmerkmalen Bork/Schäfer-Weller, GmbHG, § 13 Rz. 42 ff.

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§1

Wesen der Aktiengesellschaft

Mit Urteil vom 16.7.2007 stellte der BGH die Existenzvernichtungshaftung in endgülti- 25 ger Abkehr von früheren Konzepten auf die deliktische Grundlage des § 826 BGB (Trihotel).45) Die Trihotel-Entscheidung wurde zuletzt durch Urteil vom 9.2.2009 (Sanitary) bestätigt.46) In der Sanitary-Entscheidung hat der BGH bei einer GmbH in Liquidation das Rechtsinstitut der Existenzvernichtungshaftung aufgrund Missachtung der Liquidationsvorschriften angewendet und auf die Voraussetzung der Insolvenzverursachung oder -vertiefung sogar gänzlich verzichtet.47) Aufgrund der Lösung über § 826 BGB sind die Gesellschafter ebenso wie bei der materiellen Unterkapitalisierung (siehe Rz. 23) auch im Fall des existenzvernichtenden Eingriffs auf den Umweg verwiesen, zunächst einen Titel gegen die AG zu erstreiten. Die Übertragung dieser für die GmbH entwickelten Grundsätze auf die AG ist umstritten 26 und bislang höchstrichterlich nicht entschieden. Eine ausschließliche Lösung dieser Fälle über die Grundsätze des sog. qualifizierten faktischen Konzern analog §§ 302, 303 lässt sich inzwischen kaum noch rechtfertigen.48) Der praktische Mehrwert einer Übertragung des existenzvernichtenden Eingriffs und der damit verbundenen Haftung gemäß § 826 BGB auf die AG wird in der aktienrechtlichen Literatur teilweise als gering eingestuft, da der ebenfalls als deliktische Innenhaftung ausgestaltete § 117 im Jahre 1937 eingeführt wurde, um die Notwendigkeit eines Rückgriffs auf § 826 BGB zu vermeiden.49) Dennoch sind die vom BGH zu diesem Rechtsinstitut für die GmbH angestellten Erwägungen vorbehaltlos auf die AG übertragbar.50) So wird das Rechtsinstitut des existenzvernichtenden Eingriffs in der gesamten aktienrechtlichen Kommentarliteratur teilweise recht ausführlich diskutiert51) und sollte bereits aus rechtssystematischen Gründen nicht auf die GmbH beschränkt, sondern als ein auf § 826 BGB gestützter allgemeiner Grundsatz im Kapitalgesellschaftsrecht verstanden werden.52) VI.

Grundkapital

1.

Begriff, Funktionen, Abgrenzung

Der Betrag des Grundkapitals ist in Euro auszuweisen, darf einen Betrag von mindestens 27 50.000 € nicht unterschreiten (§ 7), bildet einen notwendigen Satzungsbestandteil (§ 23 Abs. 3 Nr. 3) und ist auf der Passivseite der Bilanz als Teil des Eigenkapitals (Gezeichnetes Kapital) auszuweisen (§ 266 Abs. 3 A. I. HGB).53) Das Grundkapital dient primär dem Ausgleich für die in § 1 Abs. 1 Satz 2 normierte Beschränkung der Gesellschafterhaftung auf das Gesellschaftsvermögen; allerdings sollte diese Kompensationswirkung bei einem tatsächlichen Grundkapital von lediglich 50.000 € nicht überschätzt werden.54) Neben _____________ 45) BGH, Urt. v. 16.7.2007 – II ZR 3/04 (Trihotel), ZIP 2007, 1552, 1555 ff.; hierzu Weller, ZIP 2007, 1681 ff. 46) BGH, Urt. v. 9.2.2009 – II ZR 292/07 (Sanitary), ZIP 2009, 802 ff.; hierzu Kölbl, BB 2009, 1194 ff.; Rubner, DStR 2009, 1538 ff. 47) BGH, Urt. v. 9.2.2009 – II ZR 292/07 (Sanitary), ZIP 2009, 802, 806; hierzu Goette in: VGR, S. 1, 24 f. 48) A. A. wohl Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 70 Rz. 142. 49) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 30; Emmerich/Habersack-Habersack, Konzernrecht, Anh. § 317 Rz. 5a. 50) So zu Recht Kölbl, BB 2009, 1194, 1200. 51) S. nur bei Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 22 ff.; K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 1 Rz. 22; Spindler/Stilz-Fock, AktG, § 1 Rz. 62 ff.; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 1 Rz. 56 f.; HöltersSolveen, AktG, § 1 Rz. 18 f. 52) So auch Spindler/Stilz-Fock, AktG, § 1 Rz. 64; Hölters-Solveen, AktG, § 1 Rz. 19; Heider in: MünchKomm-AktG, § 1 Rz. 87. 53) K. Schmidt, GesR, § 26 IV. 1. a), S. 775 f. 54) Spindler/Stilz-Fock, AktG, § 1 Rz. 83.

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§1

Wesen der Aktiengesellschaft

dem Gläubigerschutz hat das Grundkapital u. a. folgende Funktionen: Ordnungspolitische Seriositätsschwelle, Finanzierungsinstrument (Eigenkapital) und Warnfunktion (da bei hälftigem Verlust die Hauptversammlung einzuberufen ist, vgl. § 92).55) Vom Grundkapital streng zu trennen ist das Gesellschaftsvermögen als solches (Reinvermögen der AG nach Abzug der Verbindlichkeiten).56) Anders als das Grundkapital sind die verschiedenen Vermögensgruppen des Gesellschaftsvermögens, soweit diese ansatzfähig sind, als Aktivposten zu bilanzieren.57) 2.

Prinzip der Kapitalaufbringung

28 Nach dem Prinzip der Kapitalaufbringung muss ein der Grundkapitalziffer in der Satzung entsprechender Vermögenswert (Bar- und/oder Sachwert) tatsächlich durch die Aktionäre aufgebracht werden.58) Dieses Prinzip hat folgende Facetten: Verbot der Stufengründung (§§ 2, 29) sowie der Unterpariemmission (§ 9 Abs. 1), Satzungspublizität von Sondervorteilen und Gründungsaufwand, die für Sacheinlagen und -übernahmen strengeren Sonderregelungen (§§ 26, 27), die Gründungsprüfung (§§ 32 Abs. 2, 33 Abs. 2 Nr. 4, § 34), Vorschriften über die Einlagenleistung (§ 36 Abs. 2 i. V. m. §§ 54 Abs. 3, 36a), gerichtliche Prüfung des Gründungsvorgangs (insb. § 38 Abs. 2 Satz 2), die Regelungen der Gründerhaftung (§§ 46 ff.) und das Nachgründungserfordernis (§ 52).59) 3.

Prinzip der Kapitalerhaltung

29 Die Schutzfunktion zugunsten der Gläubiger einer AG kann das Grundkapital nur dann erfüllen, wenn das der statutarischen Grundkapitalziffer entsprechende Vermögen im Wert dauerhaft erhalten bleibt und nicht an die Aktionäre ausgeschüttet wird.60) Dieses Prinzip der Kapitalerhaltung hat folgende Facetten: Das Verbot jeglicher Leistungen an die Aktionäre außerhalb der Dividendenausschüttung (Verbot der Einlagenrückgewähr gemäß § 57 Abs. 1 und 2), das in §§ 71 bis 71e normierte grundsätzliche Verbot, eigene Aktien zu erwerben (sonst: Zahlung des Kaufpreises = verdeckte Einlagenrückgewähr), und das Verbot, vor Auflösung der AG eine Dividende auszuschütten, die höher als der Bilanzgewinn ist (§ 57 Abs. 3).61) Klarzustellen ist: Die dem Grundkapital zugewiesenen Barbzw. Sacheinlagen sind nur wertmäßig (= rechnerisch), nicht hingegen gegenständlich zu erhalten (Grundkapital als Finanzierungsinstrument).62) VII. Zerlegung in Aktien 1.

Bedeutung der Aktie

30 Der Begriff Aktie beschreibt die Gesamtheit der mitgliedschaftlichen Rechte und Pflichten eines Aktionärs, das Objekt des Rechtsverkehrs (ggf. das sie verbriefende Wertpapier) und die Beteiligungsquote des einzelnen Aktionärs.63) In § 1 Abs. 2 beschreibt der Begriff die Beteiligungsquote.64) Die Höhe des Grundkapitals entspricht bei Nennbetragsaktien _____________ 55) 56) 57) 58) 59) 60) 61) 62) 63) 64)

8

K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 1 Rz. 24. Spindler/Stilz-Fock, AktG, § 1 Rz. 85. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 10. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 11. K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 1 Rz. 27. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 12. K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 1 Rz. 28. K. Schmidt, GesR, § 29 II. 2. b), S. 891 f. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 13. K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 1 Rz. 29.

Alexander Franz

§2

Gründerzahl

(§ 8 Abs. 1, 2) der Summe der Nennbeträge und bei Stückaktien (§ 8 Abs. 1, 3) der Summe der Ausgabebeträge aller Aktien; bei Nennbetragsaktien ist der Nennbetrag zu nennen, bei Stückaktien lediglich die Anzahl aller Aktien (Beispiel für Nennbetragsaktie: Eine Aktie über 50 €; Beispiel für Stückaktie: Eine von fünf Aktien).65) Die Beteiligungsquote ist bei Nennbetragsaktien gleich dem Quotienten aus der Summe der Nennbeträge aller Aktien eines Aktionärs und der Grundkapitalziffer (die einzelnen Nennbetragsaktien können je nach Höhe des Nennbetrags unterschiedliche Anteile am Grundkapital ausmachen) und bei Stückaktien gleich dem Quotienten aus der gesamten Anzahl der Aktien eines Aktionärs und der gesamten Anzahl aller ausgegebenen Aktien (jede Aktie macht einen gleichwertigen Anteil am Grundkapital aus).66) 2.

Zerlegung

§ 1 Abs. 2 fordert die Aufteilung (Zerlegung) des Grundkapitals in grundsätzlich mehr 31 als eine, d. h. mindestens zwei Aktien, deren Gesamtzahl in der Satzung anzugeben ist (§ 23 Abs. 3 Nr. 4). Die Auffassung, am Plural „Aktien“ auch für die Einpersonen-AG (siehe hierzu § 2 Rz. 4) festzuhalten, ist abzulehnen, so dass bei der Einpersonen-Gründung die „Zerlegung“ in eine Aktie ausreicht.67) _____________ 65) K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 1 Rz. 30. 66) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 13. 67) So auch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 13; K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 1 Rz. 31; Spindler/ Stilz-Fock, AktG, § 1 Rz. 102; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 1 Rz. 29; a. A. wohl nur Heider in: MünchKomm-AktG, § 1 Rz. 99, der auch bei der Einpersonen-AG die Zerlegung in mindestens zwei Aktien fordert.

§2 Gründerzahl Alexander Franz

An der Feststellung des Gesellschaftsvertrags (der Satzung) müssen sich eine oder mehrere Personen beteiligen, welche die Aktien gegen Einlagen übernehmen. Literatur: Buck, Der Erwerb von Geschäftsanteilen durch Minderjährige, 2012; Hüffer, Vorgesellschaft, Kapitalaufbringung und Drittbeziehungen bei der Einmanngründung, ZHR 142 (1978) 486; Wachter, Ausländer als GmbH-Gesellschafter und Geschäftsführer, ZIP 1999, 1577; Winkler, Die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts zu gesellschaftsrechtlichen Akten bei Beteiligung Minderjähriger, ZGR 1973, 177.

Übersicht I. Bedeutung der Norm ........................ 1 II. Feststellung der Satzung .................. 2 1. Grundlagen ......................................... 3 2. Beteiligung einer Person .................... 4 3. Beteiligung mehrerer Personen ......... 5 III. Gründungsfähige Personen ............. 6 1. Grundsatz ........................................... 6 2. Einzelfälle ........................................... 7 a) Natürliche Personen .................... 7 b) Juristische Personen ................... 10

c) Personenhandelsgesellschaften, EWIV, PartG .............. d) GbR, eingetragener Verein ........ e) Erbengemeinschaft .................... f) Ehegatten .................................... IV. Übernahme der Aktien gegen Einlagen ........................................... 1. Einheitsgründung ............................. 2. Mitwirkung ohne Einlagepflicht ................................................

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11 12 13 14 17 18 19

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§2 I.

Gründerzahl Bedeutung der Norm

1 § 2 nennt als Anforderungen an die Gründung einer AG die Feststellung der Satzung und die Übernahme der Aktien gegen Einlage(n) durch die beteiligte(n) Person(en). II.

Feststellung der Satzung

2 Bei Gleichstellung der Begriffe Gesellschaftsvertrag und Satzung handelt es sich um eine irreführende Legaldefinition. Die Satzung kann nicht nur von zwei oder mehreren Personen durch Vertrag, sondern ebenfalls von nur einer Person durch einseitiges Rechtsgeschäft festgestellt werden.1) Der bzw. die satzungsfeststellende(n) Aktionär(e) ist bzw. sind Gründer der AG (§ 28). 1.

Grundlagen

3 Die Satzung entsteht durch rechtsgeschäftliche Feststellung des oder der Gründer in Form notarieller Beurkundung (§ 23 Abs. 1). Mit Eintragung der AG in das Handelsregister löst sich die Satzung von ihrem rein schuldrechtlichen Charakter (Vertrag bzw. einseitiges Rechtsgeschäft) und erlangt einen Status mit schuld- und organisationsvertraglichen Elementen.2) Es ist klar zu trennen zwischen der Satzungserrichtung (Rechtsgeschäft) und der Satzung selbst als Verfassung des Verbandes (Rechtszustand).3) Da die Satzung ab dem Zeitpunkt der Registereintragung als Quelle objektiven Rechts nicht länger nur für die Gründungsmitglieder, sondern auch für sämtliche zukünftigen Aktionäre gilt und sich somit an einen unbestimmten Personenkreis richtet, sind zumindest ihre materiellen Bestandteile nicht länger nach §§ 133, 157 BGB, sondern vielmehr objektiv auszulegen.4) Bei dieser objektiven Auslegung werden nur Wortlaut, Zweck und systematische Stellung berücksichtigt, wozu nur allgemein zugängliche Unterlagen, also insbesondere die Handelsregisterakten, herangezogen werden dürfen.5) Der Wille der Gründer bleibt ebenso unberücksichtigt wie die Entstehungsgeschichte der Satzung, sofern sich entsprechende Anhaltspunkte nicht aus den öffentlich zugänglichen Registerakten erschließen.6) 2.

Beteiligung einer Person

4 Beteiligt sich zum Gründungszeitpunkt lediglich eine Person (sog. Einpersonen-AG), so kann die Satzung ausschließlich durch einseitiges Rechtsgeschäft festgestellt werden; als nicht empfangsbedürftige Willenserklärung wird die Erklärung des alleinigen Gründers mit Abgabe und notarieller Beurkundung wirksam und die Satzung festgestellt.7) 3.

Beteiligung mehrerer Personen

5 Beteiligen sich bereits zum Gründungszeitpunkt mehrere Mitglieder an der AG, so kann die Satzung ausschließlich durch notariell zu beurkundenden Vertrag, den Gesellschaftsvertrag, nicht auch durch einseitiges Rechtsgeschäft, festgestellt werden.8) Beteiligen sich _____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8)

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Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 2 Rz. 4. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 3 m. w. N. K. Schmidt, GesR, § 5 I., S. 76. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 9 m. w. N. Wiesner in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 6 Rz. 4. BGH, Urt. v. 11.10.1993 – II ZR 155/92, ZIP 1993, 1709, 1711 f.; Wiesner in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 6 Rz. 4. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 2 Rz. 4a. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 2 Rz. 3.

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§2

Gründerzahl

zum Gründungszeitpunkt mehrere Mitglieder an der AG, obwohl zwischen den Beteiligten verabredet ist, eine Einpersonen-AG zu errichten, so kann die Satzung dennoch durch Gesellschaftsvertrag festgestellt werden. In einem solchen Fall der sog. Strohmanngründung wird die Satzung regelmäßig zunächst durch zwei Mitglieder festgestellt und im Anschluss an den Gründungsakt die Aktie(n) des einen auf das andere Gründungsmitglied übertragen.9) Die Strohmanngründung ist nach überwiegender Meinung rechtlich unbedenklich und stellt weder ein Scheingeschäft gemäß § 117 BGB noch einen Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot gemäß § 134 BGB dar.10) III.

Gründungsfähige Personen

1.

Grundsatz

„Person(en)“ i. S. von § 2 und somit gründungsfähig sind aufgrund ihrer (Teil-) Rechts- 6 fähigkeit natürliche und juristische Personen sowie Personenhandelsgesellschaften; bei GbR, Erben- und Gütergemeinschaft ist die Gründerfähigkeit aufgrund ihres Charakters als Gesamthandsgemeinschaft jeweils gesondert zu rechtfertigen.11) 2.

Einzelfälle

a)

Natürliche Personen

Jede natürliche Person kann unabhängig von ihrer Nationalität (Mit-)Gründerin einer AG 7 sein. Umstritten ist, ob ein Verstoß gegen Aufenthaltsbeschränkungen nach § 14 Abs. 1 und 8 2 AuslG zur Unwirksamkeit der Gründungserklärung führt. Nach Auffassung der überwiegenden Rechtsprechung zur GmbH12) sowie Teilen der Literatur13) führt nur eine im Einzelfall festzustellende Gesetzesumgehung (evidenter Rechtsformmissbrauch) zur Unwirksamkeit. Nach der vorzugswürdigen Gegenansicht14) berührt selbst eine solche Umgehung die Wirksamkeit der Gründungserklärung nicht, da ausländerrechtliche Beschränkungen nicht den Zweck haben, die Rechtsfähigkeit und somit die Gründerfähigkeit zu beschränken. Da sich ausländische Staatsangehörige selbst dann an der Gründung einer AG beteiligen können, wenn sie ihren Wohnsitz im Ausland haben, muss die Frage der Gründerfähigkeit von Ausländern mit Wohnsitz im Inland unabhängig von eventuellen Verstößen gegen Aufenthaltsbeschränkungen beantwortet werden.15) Für Geschäftsunfähige und beschränkt Geschäftsfähige (§ 104 bzw. § 106 BGB) handelt 9 bei Gründung deren gesetzlicher Vertreter (§§ 107 ff. BGB). Nach überwiegender Auffassung bedarf es gemäß §§ 1822 Nr. 3, 1643 Abs. 1 BGB nur dann zusätzlich der Genehmigung des Familiengerichts (§ 112 BGB), wenn die AG auf den Betrieb eines Erwerbsgeschäfts ausgerichtet ist.16) Eine abweichende Ansicht17) verlangt unabhängig vom Betrieb _____________ 9) K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 2 Rz. 11. 10) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 2 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 2 Rz. 11 m. w. N. Früher geäußerte Bedenken gegen die Strohmanngründung sind inzwischen überholt, vgl. Hüffer, ZHR 142 (1978) 486, 488 f. 11) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 2 Rz. 5. 12) OLG Stuttgart, Beschl. v. 20.1.1984 – 8 W 243/83, OLGZ 1984, 143, 145 f.; KG Berlin, Beschl. v. 24.9.1996 – 1 W 4534/95, BB 1997, 172 f. 13) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 2 Rz. 7 m. w. N. 14) Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 2 Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 2 Rz. 3; Heider in: MünchKomm-AktG, § 2 Rz. 12; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 2 Rz. 6; Wachter, ZIP 1999, 1577, 1582 ff. 15) So zu Recht Heider in: MünchKomm-AktG, § 2 Rz. 12; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 2 Rz. 8. 16) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 2 Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 2 Rz. 3. 17) Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 2 Rz. 7; Heider in: MünchKomm-AktG, § 2 Rz. 11.

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§2

Gründerzahl

eines Erwerbsgeschäfts stets eine solche Genehmigung, ist aber mit Wortlaut und Sinn des § 1822 Nr. 3 BGB unvereinbar und daher abzulehnen.18) Im Hinblick auf die heute anerkannte persönliche Haftung der Gründungsgesellschafter einer Vor-AG (vgl. hierzu § 41) ist die früher vertretene Ansicht,19) mangels persönlichen Haftungsrisikos des nicht voll Geschäftsfähigen bei Gründung einer AG sei eine Genehmigung nach § 1822 Nr. 3 BGB generell entbehrlich, ebenfalls abzulehnen.20) b)

Juristische Personen

10 Gründer einer AG können angesichts ihrer Rechtsfähigkeit alle inländischen juristischen Personen sein, namentlich AG, KGaA, Societas Europaea (SE), GmbH, Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt), im Falle ihrer Einführung auch die Societas Privata Europaea (SPE), Genossenschaften, rechtsfähige Vereine und Stiftungen des Privatrechts sowie juristische Personen des öffentlichen Rechts, d. h. rechtsfähige Körperschaften, Anstalten und Stiftungen.21) Auch Vor-AG und Vor-GmbH werden als gründungsfähig angesehen.22) Ausländische juristische Personen können Gründer sein, wenn sie nach dem für sie maßgeblichen ausländischen Recht einer inländischen juristischen Person gleichgestellt sind.23) Ausländische juristische Personen aus Drittstaaten mit Verwaltungssitz in Deutschland, die von der deutschen Rechtsordnung aufgrund der Sitztheorie nicht als solche anerkannt, sondern vielmehr als OHG bzw. GbR qualifiziert werden (z. B. eine Schweizer AG; siehe zur Sitztheorie § 5 Rz. 13 ff.)24) sind ebenso wie die Vorgründungsgesellschaft nach den im Folgenden dargestellten für OHG bzw. GbR geltenden Grundsätzen gründerfähig. c)

Personenhandelsgesellschaften, EWIV, PartG

11 OHG und KG (und somit auch AG & Co. KG, GmbH & Co. KG, UG & Co. KG, aber auch Limited & Co. KG etc.) können aufgrund ihrer selbständigen Rechtsträgerschaft Gründer einer AG sein. Selbiges gilt für die deutsche Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV) und die Partnerschaftsgesellschaft (PartG), die den Personenhandelsgesellschaften aufgrund des Verweises in § 1 EWIVAG bzw. der vielen Verweise des PartGG ins HGB (vgl. insb. § 6 Abs. 2 PartGG, der die entsprechende Anwendung von § 124 HGB normiert) nahestehen.25) d)

GbR, eingetragener Verein

12 Da der BGH im Jahre 200126) die (Teil-)Rechtsfähigkeit der GbR festgestellt hat und diese als Rechtsform folglich immer näher an die der Personenhandelsgesellschaften heranrückt, ist auch der GbR-Außengesellschaft die Fähigkeit zuzusprechen, eine AG gründen zu können. Zuordnungssubjekt der Aktien ist die GbR als nunmehr (teil-)rechtsfähige Gesamthands_____________ 18) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 2 Rz. 6; Grigoleit-Vedder, AktG, § 2 Rz. 3. 19) Winkler, ZGR 1973, 177, 182. 20) So zu Recht Grigoleit-Vedder, AktG, § 2 Rz. 3; Buck, Der Erwerb von Geschäftsanteilen durch Minderjährige, S. 42. 21) K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 2 Rz. 4 f. 22) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 2 Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 2 Rz. 4; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 2 Rz. 9. 23) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 2 Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 2 Rz. 4. 24) BGH, Urt. v. 27.10.2008 – II ZR 158/06 (Trabrennbahn), ZIP 2008, 2411 ff., dazu EWiR 2009, 355 (Tepfer). 25) K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 2 Rz. 5 m. w. N. 26) BGH, Urt. v. 27.9.1999 – II ZR 371/98, ZIP 1999, 1755 ff., dazu EWiR 1999, 1053 (Keil); BGH, Urt. v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, ZIP 2001, 330 ff.

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Alexander Franz

§2

Gründerzahl

gemeinschaft.27) Diese für die GbR geltenden Grundsätze sind ebenso auf den nicht eingetragenen Verein übertragbar (umstritten).28) e)

Erbengemeinschaft

Da die Gesamthandsgemeinschaften keinen einheitlichen Rechtsregeln folgen, sind die auf- 13 grund ihrer Sonderstellung für die GbR geltenden Grundsätze nicht verallgemeinerungsfähig.29) Dennoch wird nach überwiegender Auffassung30) auch der Erbengemeinschaft die Fähigkeit zuerkannt, Gründerin einer AG sein zu können. Eine differenzierende Ansicht31) lässt die Fortführung einer noch vom Erblasser begonnenen Gründung zu, lehnt die Möglichkeit einer originären Gründung durch die Erbengemeinschaft hingegen ab. Die Fortführung einer Gründung anzuerkennen, den eigenständigen Beginn hingegen abzulehnen, wird zu Recht als widersprüchlich bezeichnet.32) f)

Ehegatten

Ehegatten können Gründer einer AG sein, wenn sie jeweils einzeln als natürliche Person 14 auftreten, wobei im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft (§§ 1363 ff. BGB) jeder Ehegatte ggf. die Verfügungsbeschränkung des § 1365 BGB zu beachten hat.33) Die Zugewinngemeinschaft als solche ist hingegen nicht ausreichend verselbständigt, um 15 als eigenes Rechtssubjekt gründungsfähig sein zu können.34) Umstritten ist, ob Ehegatten als Gütergemeinschaft Gründer einer AG sein können.35) 16 Da eine unterschiedliche Behandlung der Erbengemeinschaft und der ehelichen Gütergemeinschaft im Ergebnis keinen Sinn macht, ist die Gründerfähigkeit nach hier vertretener Ansicht auch für die Gütergemeinschaft anzuerkennen.36) IV.

Übernahme der Aktien gegen Einlagen

Zusätzlich zur Feststellung der Satzung durch eine oder mehrere Person(en) verlangt die ord- 17 nungsgemäße Gründung einer AG gemäß § 2 die Übernahme der Aktien gegen Einlagen.

_____________ 27) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 2 Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 2 Rz. 6. 28) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 2 Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 2 Rz. 6; Spindler/StilzDrescher, AktG, § 2 Rz. 11; Grigoleit-Vedder, AktG, § 2 Rz. 6; a. A. im Hinblick auf den nicht rechtsfähigen Verein: Kraft in: KölnKomm-AktG, 2. Aufl. 1988, § 2 Rz. 30. 29) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 2 Rz. 11. 30) K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 2 Rz. 7; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 2 Rz. 12; Heider in: MünchKomm-AktG, § 2 Rz. 19; Brändel in: GroßKomm-AktG, § 2 Rz. 29; Grigoleit-Vedder, AktG, § 2 Rz. 6. 31) Kraft in: KölnKomm-AktG, 2. Aufl. 1988, § 2 Rz. 27 ff.; zustimmend, aber im Einzelnen bzgl. der originären Gründung offengelassen in der 3. Aufl. 2011 von Dauner-Lieb, in: KölnKomm-AktG, § 2 Rz. 11; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 2 Rz. 11 lehnt die Gründerfähigkeit von Erben- und Gütergemeinschaft grundsätzlich ab, erkennt im selbständigen Gründungsakt einer bereits bestehenden Erbengemeinschaft ohne vorangegangenen Initiierungsakt des Erblassers allerdings eine erweiternde Zwecksetzung und somit eine Erweiterung zur GbR, die ihrerseits ja gründerfähig ist. 32) K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 2 Rz. 7. 33) K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 2 Rz. 8. 34) Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 2 Rz. 13; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 2 Rz. 12. 35) Für die Gründerfähigkeit: K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 2 Rz. 8; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 2 Rz. 13; a. A. mangels eigenständiger Organisationseinheit und mangels nach außen in Erscheinung tretendem Sondervermögen bei der Gütergemeinschaft: Heider in: MünchKomm-AktG, § 2 Rz. 21; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 2 Rz. 12. 36) Ebenso: K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 2 Rz. 8.

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§3 1.

Formkaufmann. Börsennotierung Einheitsgründung

18 Die Aktien werden von dem bzw. den Gründer(n) jeweils gegen Abgabe einer Erklärung über die Begründung einer entsprechenden Einlagepflicht übernommen (Grundsatz der Einheitsgründung); zwecks Vermeidung von Stufengründungen verlangt dieser Grundsatz, dass Feststellung der Satzung und Abgabe der Erklärungen zur Übernahme der Einlagen einheitlich beurkundet werden (§ 23 Abs. 2).37) Eine einheitliche Beurkundung in diesem Sinne liegt auch dann vor, wenn mehrere Urkunden aufeinander verweisen und jede als Teil des Ganzen erkennbar ist (umstritten).38) Mit Feststellung der Satzung und Übernahme aller Aktien ist die AG errichtet und bis zum Zeitpunkt ihrer Eintragung in das Handelsregister zunächst als Vor-AG entstanden, vgl. § 29.39) 2.

Mitwirkung ohne Einlagepflicht

19 Solange zumindest ein einlagewilliger Gründer vorhanden ist, lässt der Wortlaut des § 2 bei Gründung einer AG auch die Mitwirkung von Teilnehmern zu, die selbst keine Einlagepflicht übernehmen.40) Die Beteiligung Dritter an der Satzungsfeststellung ist allerdings umstritten.41) Als unbedenklich wird hingegen die Begründung schuldrechtlicher Förderpflichten durch Abgabe der Errichtungserklärung außenstehender Dritter angesehen.42) _____________ 37) K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 2 Rz. 13. 38) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 23 Rz. 9; K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 2 Rz. 13 a. A. wohl K. Schmidt/ Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 15; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 23 Rz. 30; Grigoleit-Vedder, AktG, § 23 Rz. 8. 39) K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 2 Rz. 13. 40) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 2 Rz. 13. 41) Für die Möglichkeit einer Beteiligung: K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 2 Rz. 14; Brändel in: GroßKomm-AktG, § 2 Rz. 64; Kraft in: KölnKomm-AktG, 2. Aufl. 1988, § 2 Rz. 21; gegen diese Möglichkeit: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 2 Rz. 13; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 2 Rz. 6; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 2 Rz. 21; Heider in: MünchKomm-AktG, § 2 Rz. 32. 42) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 2 Rz. 13; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 2 Rz. 6; Heider in: MünchKommAktG, § 2 Rz. 32.

§3 Formkaufmann. Börsennotierung Alexander Franz

(1) Die Aktiengesellschaft gilt als Handelsgesellschaft, auch wenn der Gegenstand des Unternehmens nicht im Betrieb eines Handelsgewerbes besteht. (2) Börsennotiert im Sinne dieses Gesetzes sind Gesellschaften, deren Aktien zu einem Markt zugelassen sind, der von staatlich anerkannten Stellen geregelt und überwacht wird, regelmäßig stattfindet und für das Publikum mittelbar oder unmittelbar zugänglich ist. Übersicht I. Bedeutung der Norm ....................... 1 II. Handelsgesellschaft .......................... 3

14

III. Gegenstand des Unternehmens ....... 4 IV. Börsennotierung ................................ 7

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§3

Formkaufmann. Börsennotierung I.

Bedeutung der Norm

§ 3 Abs. 1 ergänzt §§ 1 ff. HGB und ordnet im Wege der gesetzlichen Fiktion an, dass 1 die AG ohne Rücksicht auf ihren Unternehmensgegenstand Handelsgesellschaft und als solche gemäß § 6 Abs. 1 HGB Kaufmann kraft Rechtsform (Formkaufmann) ist.1) § 3 Abs. 2 enthält eine für den Bereich des Aktiengesetzes gültige Legaldefinition des 2 Begriffs der börsenorientierten Gesellschaft.2) II.

Handelsgesellschaft

Angesichts ihrer Eigenschaft als Handelsgesellschaft gelten gemäß § 6 Abs. 1 HGB die 3 auf Kaufleute anwendbaren Vorschriften des HGB auch für die AG. Im Umkehrschluss wird aus § 3 Abs. 1 gefolgert, dass die AG weder ein Handelsgewerbe betreiben noch sonst wirtschaftliche Zwecke verfolgen muss, ihr vielmehr jede legale Tätigkeit offensteht, soweit das Gesetz diese im Einzelfall nicht an bestimmte persönliche Voraussetzungen knüpft.3) So steht die Rechtsform der AG auch den freiberuflich (und nicht gewerblich) tätigen Anwälten,4) Wirtschaftsprüfern5) und Steuerberatern6) zur Verfügung.7) Für das Gewerbe- und Steuerrecht ist die Qualifikation als Handelsgesellschaft unbedeutend und vielmehr entscheidend, ob tatsächlich ein Gewerbe betrieben wird oder nicht.8) Nach h. A. gilt § 3 Abs. 1 ausschließlich für die in das Handelsregister bereits eingetragene AG und ist mithin nicht auf die Vor-AG anwendbar, die sich folglich ausschließlich über § 1 HGB als Kaufmann qualifizieren kann.9) III.

Gegenstand des Unternehmens

Der in § 3 Abs. 1 erwähnte Unternehmensgegenstand ist ebenso wie im GmbH-Recht auch 4 im Aktienrecht vom Gesellschaftszweck abzugrenzen.10) Während der Gesellschaftszweck vorrangig das von den Aktionären festgelegte Ziel des Zusammenschlusses definiert und häufig nur aus dem Unternehmensgegenstand abgeleitet werden kann, ist der Unternehmensgegenstand statutarisch festzulegen und bezeichnet die Tätigkeit, mit der der Gesellschaftszweck zu verfolgen ist (Mittel-Zweck-Relation).11) Im Zweifelsfall liegt der Gesellschaftszweck in der Erwirtschaftung von Gewinnen, er kann aber auch rein sozialer, ideeller oder gemeinnütziger Natur sein.12) Soll die ursprünglich vereinbarte Gewinnerzielungsabsicht einer AG aufgegeben werden, so ist eine Änderung des Gesellschafts-

_____________ 1) 2) 3) 4)

5) 6) 7) 8) 9) 10) 11) 12)

Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 3 Rz. 1. Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 3 Rz. 3. K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 3 Rz. 1; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 3 Rz. 2, 12 f. § 59c Abs. 1 BRAO regelt lediglich die Zulassung einer Rechtsanwalts-GmbH – die Zulässigkeit einer Rechtsanwalts-AG wurde jedoch auch ohne explizite gesetzlich Grundlage in der BRAO aus Art. 12 GG abgeleitet und in Rspr. und Literatur anerkannt, vgl. BGH, Beschl. v. 10.1.2005 – AnwZ (B) 27/03, 28/03, NJW 2005, 1568, 1569 f. = ZIP 2005, 944; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 3 Rz. 14; ausführlich hierzu Feuerich/Weyland-Brüggemann, BRAO, Vor § 59c Rz. 8 ff. § 27 WPO. § 49 Abs. 1 StBerG. Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 3 Rz. 4. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 3 Rz. 4 m. w. N. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 3 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 3 Rz. 1; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 3 Rz. 2. K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 3 Rz. 3; Heider in: MünchKomm-AktG, § 3 Rz. 14. Heider in: MünchKomm-AktG, § 3 Rz. 15. K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 3 Rz. 3; Wiesner in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 9 Rz. 10.

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§4

Firma

zwecks unter Zustimmung sämtlicher Aktionäre erforderlich (§ 33 Abs. 1 Satz 2 BGB),13) soll hingegen die Tätigkeit zur Gewinnerzielungsabsicht z. B. von „Immobilienan- und -verkauf“ auf „Herstellung und Betrieb von Solaranlagen“ erweitert werden, so ist lediglich eine Anpassung des Unternehmensgegenstands in Form einer mit Dreiviertelmehrheit der Hauptversammlung umsetzbaren Satzungsänderung erforderlich (§ 179 Abs. 2).14) 5 Da der Umfang des Unternehmensgegenstands die Geschäftsführungsbefugnis des Vorstands der AG begrenzt, ist es diesem untersagt, Geschäfte abzuschließen, die über diesen statutarisch festgelegten Umfang hinausgehen (Innenverhältnis).15) Anders als nach der im anglo-amerikanischen Rechtskreis vorherrschenden sog. ultra-vires-Lehre begrenzen im deutschen Kapitalgesellschaftsrecht allerdings weder der Gesellschaftszweck noch der Unternehmensgegenstand die Vertretungsmacht des Vorstands (Außenverhältnis).16) 6 Der Unternehmensgegenstand kann frei gewählt werden, solange er dem Bestimmtheitserfordernis des § 23 Abs. 3 Nr. 2 entspricht, klar umschrieben ist und weder gegen ein gesetzliches Verbot (§ 134 BGB) verstößt noch sittenwidrig (§ 138 BGB) ist.17) IV.

Börsennotierung

7 Die für das Aktiengesetz geltende Legaldefinition der börsennotierten Gesellschaft umfasst den amtlich regulierten Handel gemäß §§ 32 ff. BörsG, nicht hingegen den Freiverkehr gemäß § 48 BörsG.18) Die Zulassung zu einem ausländischen Markt (auch außerhalb EU und EWR), der von einer staatlich anerkannten Stelle geregelt und überwacht wird, genügt.19) Die Legaldefinition hat insbesondere Bedeutung für §§ 67 Abs. 6 Satz 2, 87 Abs. 1 Satz 2, 93 Abs. 6, 100 Abs. 2 Nr. 4, 110 Abs. 3, 120 Abs. 4 Satz 1, 121 Abs. 3 Satz 3, Abs. 4a und Abs. 7, 122 Abs. 2 Satz 3, 123 Abs. 3 Satz 3, 124 Abs. 1 Satz 2, 124a Satz 1, 125 Abs. 1 Satz 3, 126 Abs. 1 Satz 3, 130 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 2 und Abs. 6, 134 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 Satz 3 und 4, 135 Abs. 5 Satz 4, 149 Abs. 1, 161 Abs. 1 Satz 1, 171 Abs. 2 Satz 2, 175 Abs. 2 Satz 1, 176 Abs. 1 Satz 1, 248a Abs. 1, 328 Abs. 3, 404 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1. _____________ 13) Umstritten, vgl. zum Meinungsstand der Anwendung des § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB auf die Änderung des Gesellschaftszwecks: Heider in: MünchKomm-AktG, § 1 Rz. 20, § 3 Rz. 16. 14) Vgl. Heider in: MünchKomm-AktG, § 1 Rz. 20, § 3 Rz. 16; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 23 Rz. 85; grundlegend für das Verbandsrecht: K. Schmidt, GesR, § 4 II. 3., S. 65 f. 15) K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 3 Rz. 3. 16) Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 1 Rz. 10; K. Schmidt, GesR, § 8 V. 2. a), S. 214. 17) K. Schmidt/Lutter-Lutter, AktG, § 3 Rz. 4. 18) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 3 Rz. 6; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 3 Rz. 5. 19) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 3 Rz. 6.

§4 Firma Alexander Franz

Die Firma der Aktiengesellschaft muß, auch wenn sie nach § 22 des Handelsgesetzbuchs oder nach anderen gesetzlichen Vorschriften fortgeführt wird, die Bezeichnung „Aktiengesellschaft“ oder eine allgemein verständliche Abkürzung dieser Bezeichnung enthalten. Literatur: Clausnitzer, Das Firmenrecht in der Rechtsprechung (2000 bis 2009), DNotZ 2010, 345; Lutter/Welp, Das neue Firmenrecht der Kapitalgesellschaften, ZIP 1999, 1073; Obergfell, Grenzenlos liberalisiertes Firmenrecht? Ein Statement zur Eintragungsfähigkeit des „@“, CR 2000, 855.

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§4

Firma Übersicht I. Bedeutung der Norm ........................ 1 II. Firmenfähigkeit ................................ 2 III. Rechtsformzusatz .............................. 3 IV. Firma der AG .................................... 4 1. Erstmalige Firmenbildung ................. 5 a) Kennzeichnungseignung .............. 6 b) Unterscheidbarkeit ...................... 7 I.

c) Firmenwahrheit ............................ 8 d) Firmeneinheit ............................... 9 2. Fortführung der Firma ..................... 10 V. Firma der Zweigniederlassung ...... 13 VI. Rechtsfolgen bei Verstößen ........... 14 VII. Firmenschutz ................................. 16 VIII. Praxishinweis ............................... 17

Bedeutung der Norm

Entgegen der Überschrift behandelt § 4 nicht die Firma selbst, sondern lediglich den von 1 der AG zu führenden Rechtsformzusatz.1) Die Firma und deren rechtliche Grundlagen regeln vielmehr die §§ 17 ff. HGB. Gemäß §§ 6 Abs. 1, 17 Abs. 1 HGB ist die Firma der Name der Handelsgesellschaft und somit gemäß § 3 Abs. 1 auch der Name der AG. Die Firma verkörpert zugleich Persönlichkeits- und Immaterialgüterrecht der AG und zählt als immaterielles Rechtsgut zur Insolvenzmasse.2) Die durch § 4 angeordnete Kennzeichnung als AG soll die Rechtsverhältnisse offenlegen und auf diese Weise der Information und dem Schutz des Rechtsverkehrs dienen.3) Die Offenlegung erfolgt insbesondere durch die in §§ 23 Abs. 3 Nr. 1, 80 Abs. 1 vorgeschriebene Angabe der Rechtsform in der Satzung sowie auf allen Geschäftsbriefen der AG. II.

Firmenfähigkeit

Grundsätzlich beginnt die Firmenfähigkeit als „Aktiengesellschaft“ mit Eintragung der AG 2 in das Handelsregister, vgl. § 41 Abs. 1 Satz 1.4) Wenn bereits vor Eintragung ein kaufmännisches Gewerbe betrieben wird, ist auch der Name der Vor-AG Firma (§ 1 Abs. 2 HGB); allerdings muss die firmenführende Vor-AG einen zusätzlichen Hinweis auf das Gründungsstadium aufnehmen (z. B. „in Gründung“, „i. G.“ oder „i. Gr.“).5) § 269 Abs. 6 ordnet auch für die Liquidationsphase die Aufnahme eines auf dieses Stadium hinweisenden Zusatzes (z. B. „in Liquidation“ oder „i. L.“) an. III.

Rechtsformzusatz

Die Firma muss die Bezeichnung „Aktiengesellschaft“ ausgeschrieben oder in einer allge- 3 mein verständlichen Abkürzung enthalten (sog. Rechtsformzusatz). Dieser Zusatz muss in deutscher Sprache abgefasst sein und kann an beliebiger Stelle in die Firma eingefügt werden, d. h. am Ende, am Anfang oder auch in der Mitte.6) Der Rechtsformzusatz kann mit den sonstigen Bestandteilen der Firma verbunden,7) in Versalien oder auch klein geschrieben sowie in Klammern gestellt werden (zumindest sofern die Art der Klammerstellung nicht zu einer Verwirrung führt).8) Als verkehrsüblich und allgemein verständliche Abkürzung i. S. der Norm gilt die Abkürzung „AG“.9) Da die Abkürzung den gesamten Begriff „Aktiengesell_____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9)

Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 4 Rz. 1. Grigoleit-Vedder, AktG, § 4 Rz. 3. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 4 Rz. 1. K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 4 Rz. 4. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 4 Rz. 4; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 4 Rz. 2. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 4 Rz. 17; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 4 Rz. 4. Heider in: MünchKomm-AktG, § 4 Rz. 18. K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 4 Rz. 7; für die Zulässigkeit der Verwendung von Klammern auch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 4 Rz. 17; die Zulässigkeit von Klammern anzweifelnd: Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 4 Rz. 9. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 4 Rz. 17; K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 4 Rz. 5.

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§4

Firma

schaft“ spiegeln muss, kann diese nicht nur aus einem der beiden Begriffsbestandteile des Wortes „Aktiengesellschaft“ bestehen, so dass z. B. „Aktien-Brauerei“ ausscheidet.10) Da der Gesetzgeber die genaue Ausgestaltung offengelassen hat, können neben „AG“ auch andere Abkürzungen verwendet werden, z. B. „Aktienges.“, „Aktges.“, oder „Gesellschaft auf Aktien“.11) IV.

Firma der AG

4 Die AG ist als juristische Person Trägerin von Rechten und Pflichten, so dass im rechtsgeschäftlichen Verkehr klar erkennbar sein muss, wer diese durch ihre Organe berechtigte bzw. verpflichtete juristische Person ist.12) Die Firma ist ausschließlich der Name der AG, eine Gleichsetzung mit dem Unternehmen oder dem Betrieb ist umgangssprachlich und trifft rechtlich nicht zu.13) Die Bezeichnung des Unternehmens oder des Betriebs als allgemeine Geschäftsbezeichnung i. S. von § 5 Abs. 2 MarkenG muss mit der Firma der AG folglich nicht zwingend übereinstimmen.14) 1.

Erstmalige Firmenbildung

5 Seit der Deregulierung und Liberalisierung durch das Handelsrechtsreformgesetz vom 22.6.1998 ist die Gestaltungsfreiheit der Gesellschafter bei der Wahl einer Firma deutlich erweitert worden, so dass heute auch Fantasiebezeichnungen rechtlich unbedenklich sind.15) Eingeschränkt wird diese Gestaltungsfreiheit durch §§ 18, 30 HGB wie folgt: a)

Kennzeichnungseignung

6 Die Firma muss die AG als Inhaberin des Unternehmens individualisieren können und folglich eine entsprechende Namensfunktion mit Kennzeichnungseignung aufweisen (d. h. „wie ein Name wirken“).16) Im Einzelnen können Sachbezeichnungen, Personennamen, Fantasienamen, Werbeslogans, bloße (lateinische) Buchstabenfolgen17) (zumeist Abkürzungen wie z. B. MAN, SAP, BMW, RWE, VW), aber auch Zeichen (soweit mit ihnen eine bestimmte sprachliche Aussage verbunden ist) sowie Zahlen zur Kennzeichnung geeignet sein.18) Bloße Bildzeichen haben dagegen regelmäßig keine ausreichende Kennzeichnungseignung.19) Diskutiert und umstritten ist dies bei dem Bildzeichen „@“.20) _____________ 10) K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 4 Rz. 5. 11) K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 4 Rz. 5; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 4 Rz. 8; Spindler/ Stilz-Drescher, AktG, § 4 Rz. 5 will zumindest „Aktienges.“ zulassen; Lutter/Welp, ZIP 1999, 1073 ff.; a. A. Heider in: MünchKomm-AktG, § 4 Rz. 19. 12) Heider in: MünchKomm-AktG, § 4 Rz. 20. 13) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 4 Rz. 2. 14) Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 4 Rz. 7; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 4 Rz. 2. 15) Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 4 Rz. 10. 16) K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 4 Rz. 12. 17) Artikulierbarkeit reicht aus, vgl. hierzu BGH, Beschl. v. 8.12.2008 – II ZB 46/07 (HM & A GmbH & Co. KG), ZIP 2009, 168 = DNotZ 2009, 469 ff. 18) Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 4 Rz. 11; vgl. hierzu ausführlich und mit vielen Beispielen aus der Rspr.: Clausnitzer, DNotZ 2010, 345 ff.; K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 4 Rz. 13 ff. 19) BGH, Urt. v. 6.7.1954 – I ZR 167/52, NJW 1954, 1681 ff.; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 4 Rz. 11; Baumbach/Hopt-Hopt, HGB, § 18 Rz. 4. 20) Die Kennzeichnungseignung befürwortend: LG München, Beschl. v. 15.12.2008 – 17 HKT 920/09, MittBayNot 2009, 315; LG Berlin, Beschl. v. 13.1.2004 – 102 T 122/03, NZG 2004, 532 f.; LG Cottbus, Beschl. v. 2.8.2001 – 11 T 1/00, CR 2002, 134, 135; Clausnitzer, DNotZ 2010, 345, 358; K. Schmidt/ Lutter-Langhein, AktG, § 4 Rz. 19; Lutter/Hommelhoff-Bayer, GmbHG, § 4 Rz. 19 für die GmbH; a. A.: BayOLG, Beschl. v. 4.4.2001 – 3 Z BR 84/01, NZG 2001, 802 f.; OLG Braunschweig, Beschl. v. 27.11.2000 – 2 W 270/00, WRP 2001, 287, 288, dazu EWiR 2001, 275 (Mankowski); ausführlich hierzu: Obergfell, CR 2000, 855 ff.

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§4

Firma b)

Unterscheidbarkeit

Im Lichte einer abstrakt generellen Betrachtungsweise muss sich die Firma der AG gemäß 7 § 18 Abs. 1 HGB von anderen Firmen unterscheiden und auf diese Weise individualisierbar sein (Unterscheidungskraft).21) Während Fantasienamen angesichts ihrer besonderen Originalität meist unproblematisch sind, mangelt es bei allgemeinen Gattungs- oder Branchenbezeichnungen, die ohne ausreichende Individualisierung lediglich die Tätigkeit des Unternehmens beschreiben, häufig an dieser Unterscheidungskraft.22) Konkret betrachtet muss die Firma gemäß § 30 HGB auch von anderen, an demselben Ort bereits existierenden und in das Handelsregister eingetragenen Firmen unterscheidbar sein, d. h. auch für geschäftlich unerfahrene Personen darf keine Verwechslungsgefahr bestehen (Unterscheidbarkeit); hieran mangelt es, wenn Wortbild und -klang ähnlich sind und die Verschiedenartigkeit der Unternehmensträger auch nicht durch den Wortsinn sichergestellt ist.23) Regelmäßig reicht der Rechtsformzusatz allein als Unterscheidungskriterium nicht aus.24) c)

Firmenwahrheit

Das allgemeine Prinzip der Firmenwahrheit umfasst gemäß § 18 Abs. 2 HGB insbeson- 8 dere das Irreführungsverbot, welches sich auf die Firma insgesamt, d. h. nicht nur auf Firmenzusätze sondern auch und gerade auf den Firmenkern bezieht.25) Eine Irreführung liegt vor, wenn mit einer in der Firma enthaltenen Angabe eine unzutreffende Vorstellung über die geschäftlichen Verhältnisse gegenüber den angesprochenen Verkehrskreisen hervorgerufen werden kann (Eignung zur Irreführung genügt).26) Eine Irreführung in diesem Sinne kann sich insbesondere bei geografischen Firmenzusätzen, Personenfirmen, unklaren Haftungsverhältnissen bzw. einer Täuschung über den Unternehmensgegenstand ergeben.27) Bestimmte Bezeichnungen unterliegen einem spezialgesetzlichen Schutz und sind in ihrer Verwendung den die entsprechenden regulatorischen Anforderungen erfüllenden Rechtsträgern vorbehalten (z. B. Rechtsanwaltsgesellschaft, REIT, Architekt, Ingenieur, Steuerberatungsgesellschaft, Kapitalanlagegesellschaft, Investmentfonds, Bank, Bausparkasse, Versicherung etc.).28) Angesichts der Wesentlichkeits- und Ersichtlichkeitsschwelle ist eine Irreführung in diesem Sinne allerdings nur anzunehmen, wenn diese für die angesprochenen Verkehrskreise wesentlich und die Irreführungsgefahr durch das für die Eintragung zuständige Registergericht ohne intensivere Prüfung ersichtlich ist.29) Bei der Beurteilung der Wesentlichkeit ist objektiviert auf die Sicht eines durchschnittlichen Adressaten abzustellen.30) Ersichtlich irreführend sind insbesondere solche Firmenbestandteile, bei denen die Täuschungseignung nicht allzu fern liegt und ohne umfangreiche Beweisaufnahme angenommen werden kann.31) _____________ 21) K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 4 Rz. 20; Canaris, Handelsrecht, § 10 Rz. 38. 22) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 10.1.2005 – 20 W 106/04, AG 2005, 403, 404; Dauner-Lieb in: KölnKommAktG, § 4 Rz. 12 f.; Baumbach/Hopt-Hopt, HGB, § 18 Rz. 6 f. 23) Heider in: MünchKomm-AktG, § 4 Rz. 17; K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 4 Rz. 36. 24) BGH, Beschl. v. 14.7.1966 – II ZB 4/66, NJW 1966, 1813, 1815 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 4 Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 4 Rz. 36; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 4 Rz. 10. 25) Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 4 Rz. 14. 26) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 4 Rz. 13; K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 4 Rz. 28. 27) Clausnitzer, DNotZ 2010, 345, 351 ff. 28) Clausnitzer, DNotZ 2010, 345, 359 f. 29) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 4 Rz. 13; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 4 Rz. 11. 30) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 4 Rz. 13; K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 4 Rz. 28. 31) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 4 Rz. 13; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 4 Rz. 11.

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§4 d)

Firma Firmeneinheit

9 Darüber hinaus gilt für die AG der Grundsatz der Firmeneinheit, d. h. jede AG kann nur eine Firma führen.32) Zur Firma eventueller Zweigniederlassungen, siehe Rz. 13. 2.

Fortführung der Firma

10 Der bereits in Art. 22 EGHGB verankerte Grundsatz der Firmenbeständigkeit soll bei Übertragung oder Umwandlung eines Rechtsträgers den Erhalt des Firmenwerts sicherstellen.33) 11 Der im § 4 explizit genannte § 22 HGB regelt die Fortführung der bisherigen Firma bei Erwerb eines bestehenden Handelsgeschäfts. Da die AG nicht mehrere Handelsgeschäfte betreiben und für jedes einzelne eine eigene Firma bilden kann (Grundsatz der Firmeneinheit, siehe Rz. 9), muss sie als Erwerberin i. S. von § 22 HGB ihre bisherige Firma (alternativ diejenige des erworbenen Handelsgeschäfts) aufgeben und die neue im Wege der Satzungsänderung und unter Ergänzung des nach § 4 erforderlichen Rechtsformzusatzes übernehmen (alternativ die bisherige beibehalten).34) Die Übernahme eines unter Lebenden erworbenen Handelsgeschäfts unter der bisherigen Firma löst gemäß § 25 HGB die Haftung für alle im Betrieb des früheren Inhabers begründeten Verbindlichkeiten aus. 12 Im Falle der Firmenfortführung bei Umwandlungsvorgängen enthält das UmwG spezielle Vorschriften.35) Gemäß § 18 UmwG kann der übernehmende Rechtsträger nach einer Verschmelzung durch Aufnahme die Firma eines der übertragenden Rechtsträger, dessen Handelsgeschäft er durch die Verschmelzung erwirbt, fortführen, wobei sich der erforderliche Rechtsformzusatz im Falle einer übernehmenden AG nach § 4 richtet. Selbiges gilt bei der Aufspaltung gemäß §§ 125 Satz 1, 18 UmwG sowie beim Formwechsel gemäß § 200 UmwG. Aufgrund des Fortbestehens des übertragenden Rechtsträgers ist eine Firmenfortführung bei Abspaltung und Ausgliederung nicht möglich, vgl. § 125 Satz 1 UmwG. V.

Firma der Zweigniederlassung

13 Für eventuelle Zweigniederlassungen kann die AG entweder ihre eigene Firma oder eine gesonderte Firma einsetzen.36) Übernimmt die Zweigniederlassung die Firma der AG, so ist ein besonderer Hinweis auf die Stellung als rechtlich unselbständiger Teil des Gesamtunternehmens nicht erforderlich.37) Bei Verwendung einer von der Firma der AG abweichenden Firma für die Zweigniederlassung muss der Zusammenhang zwischen Haupt- und Zweigniederlassung deutlich zum Ausdruck kommen, bei Beibehaltung des Firmenkerns z. B. durch den Zusatz „Zweigniederlassung“.38) Umgekehrt kann aber auch ein abweichender Firmenkern gebildet und die Firma der Hauptgesellschaft als Zusatz eingefügt

_____________ 32) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 4 Rz. 7 m. w. N. 33) BGH, Urt. v. 20.4.1972 – II ZR 17/70, NJW 1972, 1419, 1420; K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 4 Rz. 38; Baumbach/Hopt-Hopt, HGB § 22 Rz. 1. 34) BGH, Urt. v. 8.4.1991 – II ZR 259/90, NJW 1991, 2023, 2024; K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 4 Rz. 39, Heider in: MünchKomm-AktG, § 4 Rz. 32. 35) Vgl. ausführlich zu diesem Thema: Lutter-Bork, UmwG, § 18 Rz. 1 ff.; Heider in: MünchKommAktG, § 4 Rz. 41 ff.; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 4 Rz. 19. 36) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 4 Rz. 20. 37) Spindler/Stilz/Drescher, AktG, § 4 Rz. 21; Heider in: MünchKomm-AktG, § 4 Rz. 53. 38) RG, Beschl. v. 30.3.1926 – II B 8/26, RGZ 113, 213, 217; RG, Urt. v. 24.9.1926 – II 558/25, RGZ 114, 318, 320; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 4 Rz. 20; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 4 Rz. 21.

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§4

Firma

werden.39) Auch für die Zweigniederlassung ist die Führung des in § 4 angeordneten Rechtsformzusatzes notwendig.40) VI.

Rechtsfolgen bei Verstößen

Ist die gewählte Firma oder deren Rechtsformzusatz i. R. der dargestellten Grundsätze un- 14 zulässig oder fehlt der notwendige Rechtsformzusatz, so hat das Registergericht die Eintragung abzulehnen, vgl. § 38 Abs. 1 Satz 2. Wird die Gesellschaft gleichwohl eingetragen, ist sie trotz dieses Mangels wirksam als AG entstanden; das Registergericht kann in einem solchen Fall das Firmenmissbrauchsverfahren nach § 392 FamFG i. V. m. § 37 Abs. 1 HGB einleiten und die AG zur Unterlassung des Gebrauchs der unzulässigen Firma oder des unzulässigen bzw. fehlenden Rechtsformzusatzes auffordern.41) Führt dies nicht zum Erfolg, kann das Registergericht gemäß § 399 FamFG die AG zusätzlich zu einer Behebung des Mangels anhalten und, kommt die AG auch dieser Aufforderung nicht nach, schließlich den Mangel mittels richterlichem Beschluss feststellen, wodurch die AG gemäß § 262 Abs. 1 Nr. 5 als aufgelöst gilt.42) Ein Verstoß gegen Namens- bzw. Markenrechte ist kein registerrechtliches Eintragungs- 15 hindernis.43) VII. Firmenschutz Die AG genießt unter ihrer zulässigen Firma Firmenschutz und kann gegen Konkurrenten 16 nach § 37 Abs. 2 HGB auf Unterlassung einer Verwendung der Firma durch diese klagen sowie ein Firmenmissbrauchsverfahren durch das Registergericht gemäß § 37 Abs. 1 HGB anregen.44) Darüber hinaus genießt sie den materiellen Firmenschutz des in § 12 BGB normierten Namensrechts sowie den Unternehmenskennzeichenschutz der §§ 5 Abs. 2 Satz 1, 15 MarkenG, ebenfalls durchsetzbar mittels entsprechender Beseitigungs- und Unterlassungsklagen.45) Bei Irreführung ist auch eine Konkurrentenklage auf Unterlassung nach § 5 UWG denkbar.46) Die Vor-AG genießt Firmenschutz hingegen nur, wenn ein Handelsgewerbe als Sacheinlage eingebracht und nunmehr fortgeführt wird.47) VIII. Praxishinweis Ist für den Rechtsformzusatz ein anderer als „Aktiengesellschaft“ oder eine andere als die 17 geläufige Abkürzung „AG“ geplant oder bestehen Unsicherheiten im Hinblick auf die Zulässigkeit und Eintragungsfähigkeit der vorgesehenen Firma, insbesondere im Hinblick auf §§ 18, 30 HGB, so empfiehlt sich angesichts der bestehenden Meinungsvielfalt für die Praxis in jedem Fall eine vorherige Abstimmung mit dem zuständigen Registergericht. Um insbesondere dem Kriterium der Unterscheidbarkeit (siehe Rz. 7) gerecht werden zu können, bietet sich eine frühzeitige Anfrage bei der örtlich zuständigen Industrie- und Handelskammer (IHK) an. Zur Erlangung des markenrechtlichen Schutzes sind eine rechtzeitige Markenrecherche sowie die entsprechende Anmeldung zum Markenregister ratsam. _____________ 39) Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 4 Rz. 21; Heider in: MünchKomm-AktG, § 4 Rz. 54; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 4 Rz. 22. 40) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 4 Rz. 20; K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 4 Rz. 44. 41) Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 4 Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 4 Rz. 42. 42) Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 4 Rz. 6, 20; K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 4 Rz. 42. 43) Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 4 Rz. 20. 44) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 4 Rz. 10. 45) BGH, Urt. v. 2.4.1971 – I ZR 41/70, NJW 1971, 1522, 1523 f. – zu § 16 UWG a. F.; Hüffer/KochKoch, AktG, § 4 Rz. 10; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 4 Rz. 22. 46) Grigoleit-Vedder, AktG, § 4 Rz. 15, 20. 47) Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 4 Rz. 2; Heider in: MünchKomm-AktG, § 4 Rz. 11.

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§5

Sitz

§5 Sitz Alexander Franz

Sitz der Gesellschaft ist der Ort im Inland, den die Satzung bestimmt. Literatur: Bayer/Hoffmann, Aktiengesellschaft mit Doppelsitz, AG-Report 2010, R 259; Drygala, Europäische Niederlassungsfreiheit vor der Rolle rückwärts?, EuZW 2013, 569; Ege/Klett, Praxisfragen der grenzüberschreitenden Mobilität von Gesellschaften, DStR 2012, 2442; Fingerhuth/ Rumpf, MoMiG und die grenzüberschreitende Sitzverlegung, IPRax 2008, 90; Franz, Internationales Gesellschaftsrecht und deutsche Kapitalgesellschaften im In- bzw. Ausland, BB 2009, 1250; Franz/Laeger, Die Mobilität deutscher Kapitalgesellschaften nach Umsetzung des MoMiG unter Einbeziehung des Referentenentwurfs zum internationalen Gesellschaftsrecht, BB 2008, 678; Hoffmann, Die stille Bestattung der Sitztheorie durch den Gesetzgeber, ZIP 2007, 1581; Hushahn, Grenzüberschreitende Formwechsel im EU/EWR Raum – die identitätswahrende statutenwechselnde Verlegung des Satzungssitzes in der notariellen Praxis, RNotZ 2014, 137; Kindler, Der reale Niederlassungsbegriff nach dem VALE-Urteil des EuGH, EuZW 2012, 888; Kindler, GmbH-Reform und internationales Gesellschaftsrecht, AG 2007, 721; Mansel/Thorn/ Wagner, Europäisches Kollisionsrecht 2008: Fundamente der Europäischen IPR-Kodifikation, IPRax 2009, 1; Sandrock, Die Konkretisierung der Überlagerungstheorie in einigen zentralen Einzelfragen, in: Festschrift für Günther Beitzke, 1979, S. 669; Weller, Internationales Unternehmensrecht 2010 – IPR-Methodik für grenzüberschreitende gesellschaftsrechtliche Sachverhalte, ZGR 2010, 679; Wicke, Zulässigkeit des grenzüberschreitenden Formwechsels – Rechtssache „Vale“ des Europäischen Gerichtshofs zur Niederlassungsfreiheit, DStR 2012, 1756.

Übersicht I. Bedeutung der Norm ....................... 1 II. Sitz der Gesellschaft ......................... 3 1. Satzungssitz ....................................... 4 a) Festlegung .................................... 4 b) Bedeutung .................................... 5 c) Verlegung ..................................... 8 d) Rechtsfolgen bei Verstößen ........ 9 2. Verwaltungssitz ............................... 12 I.

a) Festlegung ................................... 13 b) Bedeutung ................................... 14 c) Verlegung .................................... 16 d) Praxishinweis .............................. 19 e) Rechtsfolgen bei Verstößen ...... 20 III. Inländische Geschäftsanschrift ............................................ 21 IV. Doppelsitz ........................................ 22

Bedeutung der Norm

1 Die Norm enthält eine Legaldefinition des Terminus „Sitz der Gesellschaft“. Aus dem Wortlaut des bis 31.10.2008 geltenden § 5 a. F. ergaben sich folgende Konsequenzen: Der mit dem Satzungssitz übereinstimmende Registersitz (§ 5 Abs. 1 a. F.) sollte in der Regel mit dem tatsächlichen Sitz der Geschäftsleitung (Verwaltungssitz) gemäß § 5 Abs. 2 a. F. gleichlaufen, d. h. die in einem deutschen Handelsregister einzutragende AG konnte ihren Verwaltungssitz regelmäßig nicht im Ausland begründen und auch im Inland kein vom Verwaltungssitz abweichendes Registergericht auswählen (sog. Handelsregister-Shopping).1) 2 Aufgrund der Rechtsprechung des EuGH i. R. der Urteile Centros,2) Überseering3) und Inspire Art4) ist es EU-Gesellschaften inzwischen gestattet, ihren Verwaltungssitz auch in einem anderen Staat zu begründen und ist der jeweilige Aufnahmestaat verpflichtet, die zuziehende ausländische EU-Gesellschaft nach den Grundsätzen der Rechtsordnung ihres _____________ 1) 2) 3) 4)

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Franz/Laeger, BB 2008, 678. EuGH, Urt. v. 9.3.1999 – C-212/97 (Centros), ZIP 1999, 438 ff., dazu EWiR 1999, 259 (Neye). EuGH, Urt. v. 5.11.2002 – C-208/00 (Überseering), ZIP 2002, 2037 ff., dazu EWiR 2002, 1003 (Neye). EuGH, Urt. v. 30.9.2003 – C-167/01 (Inspire Art), ZIP 2003, 1885 ff., dazu EWiR 2003, 1029 (Drygala).

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§5

Sitz

Gründungsstaats anzuerkennen.5) Auf dieser Grundlage werden z. B. englische Gesellschaften mit Verwaltungssitz in Deutschland – wie etwa die Air Berlin plc – anerkannt.6) Im Zuge des am 1.11.2008 in Kraft getretenen MoMiG7) wurden folgerichtig § 5 Abs. 2 a. F. ebenso wie der gleichlautende § 4a Abs. 2 a. F. GmbHG gestrichen, um eine Verlegung des Verwaltungssitzes ins Ausland auch für deutsche Kapitalgesellschaften zu ermöglichen und diesen ein level playing field zu schaffen.8) Um klarzustellen, dass Satzungs- und Registersitz einer deutschen AG auch weiterhin im Inland belegen sein müssen, wurden in § 5 Abs. 1 sowie in § 4a Abs. 1 GmbHG die Worte „im Inland“ ergänzt. II.

Sitz der Gesellschaft

Aus der Normhistorie wird klar, dass „Sitz der Gesellschaft“ i. S. von § 5 nur den Satzungs- 3 sitz (und somit Registersitz), nicht aber den Verwaltungssitz der AG meint.9) 1.

Satzungssitz

a)

Festlegung

Die Festlegung des Satzungssitzes erfolgt gemäß § 23 Abs. 3 Nr. 1 durch eine entsprechende 4 Nennung in der Satzung und wird im Zeitpunkt der Entstehung der AG durch Eintragung in das Handelsregister wirksam, vgl. §§ 41 Abs. 1 Satz 1, 36, 47 Abs. 4 Satz 1. Änderungen bedürfen eines satzungsändernden Beschlusses der Hauptversammlung gemäß §§ 179 ff., wobei § 45 zu beachten ist. Der Satzungssitz muss hinreichend bestimmt sein, um die eindeutige Zuständigkeit eines Registergerichts festlegen zu können.10) Es ist eine bestimmte deutsche Gemeinde anzugeben (z. B. Köln), bei in mehrere Amtsgerichtsbezirke eingeteilten Großgemeinden (z. B. Hamburg) muss zusätzlich der jeweilige Gerichtsbezirk erkennbar sein (z. B. Hamburg Barmbek).11) Seit Streichung des § 5 Abs. 2 a. F. können die Aktionäre den Satzungssitz im Inland wieder frei und unabhängig vom Verwaltungssitz festlegen und so ein vom Verwaltungssitz abweichendes Registergericht frei wählen, z. B. um ein ihnen günstig und liberal erscheinendes Registergericht einem anderen vorzuziehen oder eine deutschlandweit einheitlich Konzernzuständigkeit zu begründen (sog. Handelsregister-Shopping).12) b)

Bedeutung

Neben der Firma dient auch der Satzungssitz der Individualisierung und Identifizierung 5 der AG und bestimmt gleichzeitig deren Hauptniederlassung sowie das ebenfalls für alle Zweigniederlassungen zuständige Registergericht (§ 13 HGB).13) _____________ 5) So der EuGH unter Bezugnahme auf Art. 43, 48 EGV a. F., EuGH, Urt. v. 5.11.2002 – C-208/00 (Überseering), ZIP 2002, 2037 ff. LS 2: „Macht eine Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedsstaats gegründet worden ist, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, in einem anderen Mitgliedsstaat von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch, so ist dieser andere Mitgliedsstaat nach den Art. 43 und 48 EG verpflichtet, die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit zu achten, die diese Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungsstaats besitzt.“ 6) Weller, ZGR 2010, 679 ff., 695 f. 7) Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 23.10.2008, BGBl. I 2008, 20, 26 ff. 8) BT-Drucks. 16/6140, S. 29. 9) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 5 Rz. 6; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 5 Rz. 1. 10) Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 5 Rz. 12. 11) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 5 Rz. 6; K. Schmitt/Lutter-Zimmer, AktG, § 5 Rz. 7. 12) Grigoleit-Wicke, AktG, § 5 Rz. 5; Franz/Laeger, BB 2008, 678, 683, 685; kritisch hierzu: Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 5 Rz. 9; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 5 Rz. 8. 13) Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 5 Rz. 1 ff.; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 5 Rz. 13 f.

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§5

Sitz

6 Der Satzungssitz hat Bedeutung für das Verfahrensrecht: Er bestimmt den allgemeinen Gerichtsstand der AG gemäß § 17 Abs. 1 ZPO (§ 5 ist eine andere Bestimmung i. S. dieser Vorschrift),14) die örtliche Zuständigkeit in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit gemäß § 377 Abs. 1 FamFG, die Zuständigkeit für Anfechtungs- oder Nichtigkeitsklagen gemäß § 246 Abs. 3 Satz 1, für Streitigkeiten über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats gemäß § 98 Abs. 1 sowie über das Auskunftsrecht der Aktionäre gegen den Vorstand gemäß § 132 Abs. 1, für Anträge auf Klagezulassungsverfahren gemäß § 148 Abs. 2 Satz 1, für die Bestellung der Prüfer zur Prüfung der Unternehmensverträge gemäß § 293c Abs. 1 Satz 3 und für die gerichtliche Auflösung gemäß § 396 Abs. 1. 7 Darüber hinaus soll die Hauptversammlung gemäß § 121 Abs. 5 am Sitz der Gesellschaft stattfinden und der Sitz ist ebenfalls steuerrechtlicher Anknüpfungspunkt i. S. des KStG, vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 1 KStG i. V. m. § 11 AO. c)

Verlegung

8 Da seit dem 1.11.2008 aufgrund des Wegfalls von § 5 Abs. 2 a. F. der Satzungs- und somit Registersitz nicht mehr zwingend mit dem Verwaltungssitz übereinstimmen müssen, kann die AG innerhalb Deutschlands unter entsprechender Beachtung der §§ 45, 179 ff. ihren statutarisch bereits festgelegten Sitz auch jederzeit und unabhängig vom Verwaltungssitz verlegen.15) Nur in besonderen Ausnahmefällen können Sitzverlegungsbeschlüsse als rechtsmissbräuchlich und sodann als nichtig gewertet werden.16) Der in § 5 Abs. 1 eingeführte Zusatz „im Inland“ stellte klar, dass die Verlegung des Satzungssitzes ins Ausland seitens des deutschen Gesetzgebers nicht erwünscht ist, woran auch eine eventuelle Umsetzung des Referentenentwurfs für ein Gesetz zum internationalen Privatrecht der Gesellschaften, Vereine und juristischen Personen (nachfolgend: RefE IntGesR)17) in seiner derzeitigen Fassung nichts ändern würde.18) In der Rechtssache Vale hat der EuGH allerdings entschieden, dass eine grenzüberschreitende Umwandlung und damit einhergehende Satzungssitzverlegung (grenzüberschreitende statutenwechselnde Sitzverlegung) im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit zulässig sein muss, wenn der aufnehmende Mitgliedstaat für rein innerstaatliche Sachverhalte einen solchen Umwandlungsvorgang zulässt und die betroffene Gesellschaft tatsächlich eine wirtschaftliche Tätigkeit im Aufnahmestaat ausübt.19) Aus diesem Urteil folgt, dass nicht nur der rechtsformkongruente Formwechsel unter gleichzeitiger Verlegung des Satzungs- und Verwaltungssitzes einer EU-Auslandsgesellschaft in eine deutsche AG (sog. Hereinformwechsel), sondern umgekehrt auch derjenige einer deutschen AG in eine EU-Auslandsgesellschaft (sog. Herausformwechsel) möglich sein muss.20) Diese Rechtsprechung eröffnet auch über die innerhalb von EU und EWR _____________ 14) BGH, Beschl. v. 13.1.1998 – X ARZ 1298-97, NJW 1998, 1322 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 5 Rz. 4; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 5 Rz. 2. 15) Franz/Laeger, BB 2008, 678, 683 f. 16) Grigoleit-Wicke, AktG, § 5 Rz. 6 m. w. N. 17) Referentenentwurf IntGesR abrufbar unter https://rsw.beck.de/docs/librariesprovider5/rsw-dokumente/ Referentenentwurf-IGR (Abrufdatum: 23.6.2022). 18) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 5 Rz. 13 ff.; ausführlich hierzu Franz/Laeger, BB 2008, 678, 679. 19) EuGH, GA (Kokott), Schlussanträge v. 4.5.2017 – C-106/16, ZIP 2017, 1319 = NZG 2017, 702 mit Anm. Wicke, dazu EWiR 2017, 491 (Mutter); EuGH, Urt. v. 12.7.2012 – C-378/10 (Vale Epitesi kft), ZIP 2012, 1394 = EuZW 2012, 621 ff., dazu EWiR 2012, 541 (Mutter/Kruchen); anders noch: OLG Nürnberg, Beschl. v. 13.2.2012 – 12 W 2361/11, ZIP 2012, 572, dazu EWiR 2012, 263 (Drygala), mit der Begründung, das UmwG sehe lediglich Regelungen für eine grenzüberschreitende Verschmelzung, nicht jedoch für einen grenzüberschreitenden Formwechsel bzw. eine grenzüberschreitende Vermögensübertragung vor. Zu den mit dem Erfordernis der tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit im Aufnahmestaat verbundenen Schwierigkeiten: Drygala, EuZW 2013, 569 ff. 20) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 5 Rz. 15; Kindler, EuZW 2012, 888, 890; Wicke, DStR 2012, 1756, 1758.

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§5

Sitz

inzwischen normierte grenzüberschreitende Verschmelzung (§§ 122a ff. UmwG) hinaus die Möglichkeit, eine grenzüberschreitende Gesamtrechtsnachfolge unter Fortführung der deutschen AG in einer Rechtsform des jeweils aufnehmenden Mitgliedstaates umzusetzen und nähert sich somit dem bislang nur für die SE geltenden Art. 8 SE-VO.21) Nicht hieraus ergibt sich hingegen, dass eine deutsche AG ihren Satzungssitz unter Wahrung ihrer Rechtsform als deutsche AG in das europäische Ausland verlegen kann.22) Der Wortlaut von § 5 steht der Rechtsprechung des EuGH somit zwar nicht entgegen, die Norm ist allerdings europarechtskonform auszulegen. d)

Rechtsfolgen bei Verstößen

Da seit Streichung des § 5 Abs. 2 a. F. der Satzungssitz im Inland wieder frei gewählt 9 werden darf, kann ein Verstoß gegen § 5 nur dadurch bedingt sein, dass der Sitz nicht hinreichend bestimmt ist, vollständig fehlt oder unzulässigerweise einen Ort im Ausland benennt.23) Gemäß § 38 Abs. 1 Satz 2 hat das Registergericht die Eintragung der AG in einem solchen Fall abzulehnen.24) Wird die Gesellschaft gleichwohl eingetragen, ist sie trotz dieses Mangels wirksam als AG entstanden; das Registergericht hat die AG gemäß § 399 FamG zur Behebung dieses Mangels aufzufordern und bei Unterlassung der Behebung den zur Auflösung der Gesellschaft nach § 262 Abs. 1 Nr. 5 führenden Mangel mittels Beschluss festzustellen.25) Ein satzungsändernder Hauptversammlungsbeschluss, der nachträglich einen unzulässigen 10 Satzungssitz bestimmt, ist gemäß § 241 Nr. 3 nichtig, seine Eintragung grundsätzlich vom Registergericht abzulehnen und kann auch nach einer aufgrund § 242 Abs. 2 erfolgten Heilung durch Eintragung in das Handelsregister gemäß § 398 Abs. 2 FamG noch gelöscht werden.26) Eine nachträgliche Verlegung des Satzungssitzes ins Ausland ist nach bisherigem Rechts- 11 verständnis unzulässig und hat ebenfalls die Nichtigkeit des zugrunde liegenden Hauptversammlungsbeschlusses gemäß § 241 Nr. 3 und im ungünstigsten Fall sogar die Umdeutung in einen Auflösungsbeschluss nach § 262 Abs. 1 Nr. 2 zur Folge.27) Diese Auffassung ist im Lichte der Rechtssache Vale neu zu überdenken und der jeweilige Beschluss ggf. als rechtswirksamer Teilakt eines zulässigen grenzüberschreitenden Rechtsformwechsels zu interpretieren.28) 2.

Verwaltungssitz

Der Begriff Verwaltungssitz wurde in § 5 Abs. 2 a. F. umschrieben und wird definiert als 12 „Tätigkeitsort der Geschäftsführung und der dazu berufenen Vertretungsorgane, also der Ort, _____________ 21) 22) 23) 24) 25) 26) 27)

28)

Vgl. zur SE: Habersack/Drinhausen-Diekmann, SE-Recht, Art. 8 SE-VO Rz. 4 f. So zutreffend auch Grigoleit-Wicke, AktG, § 5 Rz. 11 a. E. m. w. N. Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 5 Rz. 18; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 5 Rz. 9. BGH, Beschl. v. 2.6.2008 – II ZB 1/06, ZIP 2008, 1627 = NJW 2008, 2914 ff. – zur GmbH noch vor MoMiG; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 5 Rz. 11. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 5 Rz. 9. Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 5 Rz. 12. BayObLG, Beschl. v. 7.5.1992 – 3Z BR 14/92, NJW-RR 1993, 43 f.; OLG Hamm, Beschl. v. 30.4.1997 – 15 W 91-97, NJW-RR 1998, 615; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 26.3.2001 – 3 Wx 88/01, NJW 2001, 2184, 2185 = ZIP 2001, 790, dazu EWiR 2001, 581 (Niesert); Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 5 Rz. 23; Kindler, AG 2007, 721, 723. Zu den einzelnen Voraussetzungen eines solchen Umwandlungsvorgangs vgl. Grigoleit-Wicke, AktG, § 5 Rz. 11 m. w. N; Wicke, DStR 2012, 1756, 1758 f.; Ege/Klett, DStR 2012, 2442, 2444 ff.; Hushahn, RNotZ 2014, 137 ff.

Alexander Franz

25

§5

Sitz

wo die grundlegenden Entscheidungen der Unternehmensleitung effektiv in laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt werden“ (Sandrock’sche Formel).29) a)

Festlegung

13 Der Verwaltungssitz wird durch tatsächliche Umstände festgelegt und bestimmt sich gemäß der Sandrock’schen Formel regelmäßig nach dem Schwerpunkt der operativen Tätigkeit der AG. Die Aktionäre können den Verwaltungssitz unabhängig vom Satzungssitz i. S. von § 5 auswählen und diesen bei Geltung der Gründungstheorie im Aufnahmestaat auch erstmalig im Ausland begründen.30) Beispiel: Die neu gegründete X-AG hat ihren Satzungssitz in Köln und wird im Handelsregister des AG Köln registriert. Der Sitz der Geschäftsleitung (=Verwaltungssitz) befindet sich hingegen von Anfang an in London. Mangels Mobilitätskomponente (kein Umzug, sondern originäre Begründung des Verwaltungssitzes im Ausland) kann sich die X-AG nicht auf die bereits zitierte EuGH-Rechtsprechung (siehe Rz. 2) berufen.31) Da allerdings das autonome englische Kollisionsrecht der Gründungstheorie folgt, wird die X-AG in London als AG des deutschen Aktienrechts anerkannt. Auch das deutsche Recht stellt sich diesem Fall seit Streichung des § 5 Abs. 2 a. F. nicht mehr entgegen. b)

Bedeutung

14 Gemäß der in Deutschland laut BGH grundsätzlich nach wie vor geltenden Sitztheorie32) ist der Verwaltungssitz entscheidend für die kollisionsrechtliche Bestimmung des auf die AG anwendbaren Gesellschaftsrechts (sog. Gesellschaftsstatut), d. h. bei Sachverhalten mit Auslandsberührung für die Bestimmung der maßgeblichen gesellschaftsrechtlichen Vorschriften.33) Auch die im Zuge des MoMiG erfolgte Streichung des § 5 Abs. 2 a. F. ändert nach umstrittener (aber zutreffender) Ansicht nichts an der grundsätzlichen Fortgeltung der Sitztheorie, da diese gesetzgeberische Maßnahme rein materiell-, nicht aber kollisionsrechtliche Auswirkungen hat.34) Eine endgültige Anerkennung der Gründungstheorie im deutschen Recht bleibt hingegen einer weitergehenden gesetzlichen Änderung, wie bspw. der im RefE IntGesR vorgeschlagenen Neufassung des Art. 10 Abs. 1 EGBGB, vorbehalten.35) Allerdings wird die Sitztheorie zumindest bei Sachverhalten innerhalb Europas durch die Rechtsprechung des EuGH vielfach überlagert (siehe hierzu Rz. 17). 15 Ebenso wie der Satzungssitz ist auch der Verwaltungssitz steuerrechtlicher Anknüpfungspunkt i. S. des KStG, vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 1 KStG i. V. m. § 10 AO. _____________ 29) BGH, Urt. v. 21.3.1986 – V ZR 10/85, NJW 1986, 2194 f., 2195 = ZIP 1986, 643, im Anschluss an Sandrock in: FS Beitzke, S. 669, 683; OLG Hamm, Beschl. v. 18.8.1994 – 15 W 209/94, NJW-RR 1995, 469, 470; OLG Hamm, Urt. v. 4.10.1996 – 29 U 108/95, RIW 1997, 236, 237. 30) S. hierzu Franz/Laeger, BB 2008, 678, 681 ff., 684. 31) A. A. Altmeppen/Ego in: MünchKomm-AktG, Europ. Niederlassungsfreiheit Rz. 57, 205 m. w. N. 32) BGH, Urt. v. 27.10.2008 – II ZR 158/06 (Trabrennbahn), ZIP 2008, 2411 ff., dazu EWiR 2009, 355 (Tepfer); BGH, Beschl. v. 8.10.2009 – IX ZR 227/06, ZIP 2009, 2385 ff., dazu EWiR 2010, 117 (Lieder/ Kliebisch). 33) Ausführlich hierzu Franz/Laeger, BB 2008, 678, 681 ff.; Franz, BB 2009, 1250 ff. 34) BGH, Urt. v. 27.10.2008 – II ZR 158/06 (Trabrennbahn), ZIP 2008, 2411 ff.; BGH, Beschl. v. 8.10.2009 – IX ZR 227/06, ZIP 2009, 2385 ff.; Franz/Laeger, BB 2008, 678, 681 ff. und Franz, BB 2009, 1250, 1251 (jeweils m. w. N. zum Meinungsstand); Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 5 Rz. 28; so wohl auch: Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2009, 1, 4; a. A. Grigoleit-Wicke, AktG, § 5 Rz. 12; Altmeppen/Ego in: MünchKomm-AktG, Europ. Niederlassungsfreiheit Rz. 199; Fingerhuth/Rumpf, IPRax 2008, 90, 92; Hoffmann, ZIP 2007, 1581, 1585 f. 35) Franz/Laeger, BB 2008, 678, 681 f.

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§5

Sitz c)

Verlegung

Ebenso wie die AG innerhalb Deutschlands jederzeit ihren Sitz i. S. von § 5 unabhängig 16 vom Verwaltungssitz verlegen kann, kann sie umgekehrt ihren Verwaltungssitz innerhalb Deutschlands jederzeit unabhängig vom Satzungssitz verlegen. Auch einer nachträglichen Verlegung des Verwaltungssitzes ins Ausland steht die re- 17 gisterrechtliche Hürde des § 5 Abs. 2 a. F. seit dessen Streichung nicht mehr im Wege.36) Wird der Verwaltungssitz in einen Mitgliedstaat der EU oder des EWR verlegt, so hat dieser Staat die Gesellschaft nach den Vorgaben der hierzu ergangenen (und Sitztheorie überlagernden) Rechtsprechung des EuGH als deutsche AG unter Fortgeltung des deutschen Aktienrechts anzuerkennen (siehe hierzu unter Rz. 2). Beispiel: Satzungssitz und Sitz der Geschäftsleitung (Verwaltungssitz) der in das örtliche Handelsregister eingetragenen X-AG befinden sich in Köln. Die Geschäftsleitung verlegt nun ihren Verwaltungssitz von Köln nach London. Die mit diesem Umzug verbundene Mobilitätskomponente rechtfertigt die Anwendung der Niederlassungsfreiheit, so dass England als Aufnahmestaat die X-AG angesichts der bereits zitierten EuGH-Rechtsprechung (siehe Rz. 2) auch unabhängig vom autonomen englischen Kollisionsrecht anzuerkennen hat. § 5 Abs. 2 a. F. steht dem nicht entgegen. Wird der Verwaltungssitz hingegen in einen außereuropäischen Staat verlegt, gilt die Recht- 18 sprechung des EuGH nicht und die Anerkennung der AG in einem solchen Drittstaat hängt davon ab, ob die dortige Rechtsordnung der Sitz- oder der Gründungstheorie folgt.37) Folgt der Aufnahmestaat der Sitztheorie, so endet die Zuständigkeit der deutschen Rechtsordnung an dieser Stelle, eine deutsche AG mit Verwaltungssitz in einem solchen Staat kann nicht existieren, es kommt zu einem sog. Statutenwechsel; bei Geltung der Gründungstheorie im Aufnahmestaat kann grundsätzlich von einer Anerkennung unter Fortgeltung des deutschen Aktienrechts ausgegangen werden.38) Beispiel: Die Geschäftsleitung der X-AG verlegt ihren Verwaltungssitz im Beispiel oben unter Rz. 17 nicht nach London, sondern (i) nach Hongkong und alternativ (ii) nach Istanbul. Die bereits zitierte EuGH-Rechtsprechung (siehe Rz. 2) findet bei einem Umzug in einen außereuropäischen Drittstaat keine Anwendung. Da Hongkong ebenso wie England der Gründungstheorie folgt, wird die X-AG in Alternative (i) in Hongkong anerkannt. Die Türkei folgt der Sitztheorie und erkennt die X-AG in Alternative (ii) hingegen nicht an. d)

Praxishinweis

Die Zulässigkeit einer grenzüberschreitenden Verlegung des Verwaltungssitzes eröffnet der 19 deutschen AG die Möglichkeit, ihre Geschäftstätigkeit ausschließlich über eine oder mehrere europäische Zweigniederlassungen zu entfalten bzw. ihre (ausschließlich) im europäischen Ausland aktiven Tochtergesellschaften in der Rechtsform einer deutschen AG oder GmbH (vgl. hierzu die dem § 5 AktG entsprechende Vorschrift des § 4a GmbHG) zu gründen.39) So wird das gesetzgeberisch beabsichtigte level playing field für die deutsche AG, zumindest innerhalb der EU und des EWR, geschaffen. Da der Verwaltungssitz _____________ 36) Franz, BB 2009, 1250, 1251. 37) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 1 Rz. 41; Franz/Laeger, BB 2008, 678 ff., 683, 681; Franz, BB 2009, 1250, 1251. 38) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 5 Rz. 12; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 5 Rz. 10; Franz/Laeger, BB 2008, 678, 683, 684; Franz, BB 2009, 1250, 1251. 39) Grigoleit-Wicke, AktG, § 5 Rz. 12.

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§5

Sitz

nunmehr i. R. der rechtlich zulässigen Grenzen grundsätzlich frei durch eine entsprechende Entscheidung des Vorstands der AG verlegt werden kann, sollte in der Satzung ggf. zwischen Satzungs- und Verwaltungssitz unterschieden und eine Verlegung des Verwaltungssitzes dem Zustimmungsvorbehalt der Hauptversammlung oder des Aufsichtsrats unterstellt werden. In jedem Fall sollte die Anerkennung der zuziehenden AG im betroffenen Aufnahmestaat nach der jeweiligen ausländischen Rechtsordnung untersucht werden (so ist bspw. ggf. die Registrierung als Zweigniederlassung vor Ort erforderlich). e)

Rechtsfolgen bei Verstößen

20 Eine Abweichung des Verwaltungssitzes vom Sitz i. S. von § 5 hat keine Satzungsänderung und somit auch keinen Wechsel des Registergerichts zur Konsequenz.40) Divergenzen zwischen Satzungs- und Verwaltungssitz werden grundsätzlich hingenommen.41) Nur im Falle der originären Begründung des Verwaltungssitzes einer AG im Gründungsstadium in einem der Sitztheorie folgenden ausländischen Staat (EU, EWR oder Drittstaat), hat dies im Zweifel die Nichtanerkennung im Drittstaat sowie die Auflösung im Inland zur Folge.42) Selbiges gilt für die nachträgliche Verlegung des Verwaltungssitzes in einen der Sitztheorie folgenden außereuropäischen Drittstaat. III.

Inländische Geschäftsanschrift

21 Seit Änderung des AktG durch das MoMiG fordert § 37 Abs. 3 Nr. 1 bei Anmeldung einer AG zur Eintragung in das Handelsregister in jedem Fall und unabhängig von einem ggf. ausschließlichen Verwaltungssitz im Ausland die Angabe einer inländischen Geschäftsanschrift, die sodann bei Eintragung mit eingetragen wird, vgl. § 39 Abs. 1 Satz 1.43) IV.

Doppelsitz

22 Der Wortlaut in § 5 geht davon aus, dass die AG nur einen einzigen Sitz hat. Ein vom Gesetz abweichender sog. Doppelsitz, d. h. die Begründung von zwei Satzungssitzen kann daher nur die Ausnahme sein und bedarf besonderer Rechtfertigung.44) Eine solche Ausnahme soll vorliegen, wenn die AG ohne Zulassung des Doppelsitzes einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden erleiden oder in der Existenz gefährdet würde.45) Unter welchen Voraussetzungen konkret die Verschmelzung von Rechtsträgern durch Aufnahme oder Neugründung den Anforderungen an eine solche Rechtfertigung gerecht werden kann, ist umstritten.46) Ein zulässiger Doppelsitz begründet zwei gleichberechtigt nebeneinander stehende Handelsregisterzuständigkeiten und hat u. a. folgende rechtliche Konsequenzen: Konstitutive Eintragungen sind erst mit Eintragung in beiden Registern wirksam, die _____________ 40) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 5 Rz. 11; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 5 Rz. 9. 41) Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 5 Rz. 6, die allerdings für eine Restriktion der freien Sitzwahl im Inland und somit gegen ein freies Handelsregister-Shopping plädiert. 42) So wie hier: Kindler in: MünchKomm-BGB, IntGesR Rz. 407; a. A. Altmeppen/Ego in: MünchKommAktG, Europ. Niederlassungsfreiheit Rz. 57, 205 m. w. N., die innerhalb EU/EWR nicht zwischen originärer Begründung und nachträglichem Umzug differenzieren. 43) Vgl. zu der hiermit verknüpften erleichterten Zustellungsmöglichkeit Leistikow, Das neue GmbHRecht, § 4 Rz. 410 ff. 44) BayObLG, Beschl. v. 29.3.1985 – 3 Z 22/85, AG 1986, 48, 49 f., und AG Essen, Beschl. v. 5.1.2001 – 89b AR 1241/00, AG 2001, 434 f. – jeweils zur grundsätzlichen Unzulässigkeit eines Doppelsitzes auch bei Verschmelzung; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 5 Rz. 7 f.; K. Schmidt/Lutter-Zimmer, AktG, § 5 Rz. 13 ff. 45) Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 5 Rz. 7; Heider in: MünchKomm-AktG, § 5 Rz. 34. 46) Vgl. hierzu m. w. N.: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 5 Rz. 10; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 5 Rz. 7; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 5 Rz. 21; Bayer/Hoffmann, AG-Report 2010, R 259 ff.

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§6

Grundkapital

AG hat zwei allgemeine Gerichtsstände nach § 17 Abs. 1 Satz 1 ZPO und in Antragsverfahren nach § 375 FamFG ist gemäß § 2 FamFG dasjenige Gericht zur Entscheidung berufen, welches zuerst in der Sache tätig geworden ist.47) _____________ 47) Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 5 Rz. 22 m. w. N.

§6 Grundkapital Alexander Franz

Das Grundkapital muss auf einen Nennbetrag in Euro lauten. Literatur: Ihrig/Streit, Aktiengesellschaft und Euro, Handlungsbedarf und Möglichkeiten der Aktiengesellschaften anlässlich der Euro-Einführung, NZG 1998, 201.

Übersicht I. Bedeutung der Norm ........................ 1 II. Grundkapital ..................................... 2 III. Nennbetrag ........................................ 3 I.

IV. Euro-Umstellung .............................. 4 V. Rechtsfolgen bei Verstößen ............. 8

Bedeutung der Norm

§ 6 setzt die Notwendigkeit eines Grundkapitals voraus, schreibt vor, dass dieses in einem 1 Nennbetrag in Euro ausgedrückt sein muss und wurde aufgrund der Einführung des Euro zum 1.1.1999 durch das Euro-EG1) von DM auf Euro umgestellt.2) II.

Grundkapital

Die Notwendigkeit eines Grundkapitals für jede AG ergibt sich bereits aus § 1 Abs. 2. Das 2 Grundkapital ist das in einer Geldsumme ausgedrückte verfassungsmäßige Garantiekapital der AG, dessen Aufbringung und Erhalt durch §§ 9 Abs. 1, 27 ff., 63 ff. bzw. §§ 57 – 6 2, 71 sichergestellt wird.3) Siehe zur Bedeutung des Grundkapitals auch § 1 Rz. 27 ff., § 7 Rz. 1. III.

Nennbetrag

Da das Grundkapital aufgrund gesetzlicher Anordnung einen Nennbetrag haben muss, kann 3 es lediglich durch Bezifferung ausgedrückt werden, Umschreibungen genügen hingegen nicht.4) Die Höhe des Grundkapitals muss gemäß § 7 mindestens 50.000 € (z. B. als Summe der Einlagen) betragen und ist bei Gründung der AG in der Satzung festzusetzen, vgl. § 23 Abs. 3 Nr. 3. Eine Änderung des festgesetzten Betrages erfordert stets eine Satzungsänderung und kann nur i. R. von Kapitalmaßnahmen i. S. der §§ 182 ff. (Kapitalerhöhung) oder §§ 222 ff. (Kapitalherabsetzung) mit mindestens Dreiviertelmehrheit der Hauptversammlung (§ 179 Abs. 2) erfolgen.

_____________ 1) 2) 3) 4)

Gesetz zur Einführung des Euro (Euro-Einführungsgesetz – EuroEG) v. 9.6.1998, BGBl. I 1998, 1242. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 6 Rz. 1 f. K. Schmidt, GesR, § 26 IV. 1. a), S. 775 f. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 6 Rz. 1; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 6 Rz. 1, 5.

Alexander Franz

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§6 IV.

Grundkapital Euro-Umstellung

4 Für jede AG, die vor dem 1.1.1999 in das Handelsregister eingetragen wurde, bestanden gemäß §§ 1 – 4 EGAktG bis zum 31.12.2001 vier Möglichkeiten, auf die Währungsumstellung von DM auf Euro zu reagieren: –

Die DM-Beträge konnten rechnerisch mit Nennbetragsglättung auf Euro umgestellt werden;



die DM-Beträge konnten rechnerisch ohne Nennbetragsglättung auf Euro umgestellt werden;



die Aktien konnten auf Stückaktien umgestellt werden; oder



die DM-Beträge konnten beibehalten werden.5)

5 Sollte im Fall der Umstellung auf Euro-Beträge keine Nennbetragsglättung oder -anpassung durchgeführt worden sein, so muss(te) dies bei der nächsten Kapitalmaßnahme nachgeholt werden, vgl. §§ 1 Abs. 2 Satz 3, 3 Abs. 5 EGAktG. 6 Wurden die DM-Beträge auch nach dem 31.12.2001 statutarisch beibehalten, gilt ab dem 1.1.2002 der Nennbetrag des Grundkapitals mit dem Umrechnungskurs von 1 € für 1,95583 DM automatisch als Euro-Betrag, so dass formelle (= Wortlaut der Satzung) und materielle (= gesetzlich automatische Umstellung auf Euro) Rechtslage auseinander fallen.6) Die Anpassung der formellen Rechtslage auf Euro wird dadurch erleichtert, dass gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 EGAktG, in Abweichung von § 179 Abs. 2, eine einfache Mehrheit in der Hauptversammlung hierfür ausreicht und ausnahmsweise der Aufsichtsrat zu einer grundsätzlich vom Vorstand gemäß § 181 Abs. 1 Satz 1 beim Handelsregister anzumeldenden Satzungsänderung ermächtigt ist, vgl. § 4 Abs. 1 Satz 2 EGAktG. Im Rahmen der vereinfachten Handelsregisteranmeldung muss weder der vollständige Satzungswortlaut noch eine notarielle Bescheinigung beigefügt oder die Änderung bekannt gemacht werden, vgl. § 4 Abs. 1 Satz 3 EGAktG. 7 Für den Übergangszeitraum vom 1.1.1999 bis zum 31.12.2001 konnten auch solche Neugründungen und Kapitalmaßnahmen in das Handelsregister eingetragen werden, bei denen der Nennbetrag noch in DM beziffert war, im Fall von Kapitalmaßnahmen gemäß §§ 202 ff. (genehmigtes Kapital) mit späterem Ablauf der Ermächtigungsfrist auch noch nach dem 31.12.2001.7) Seit dem 1.1.2002 dürfen Neugründungen und Kapitalmaßnahmen mit auf DM lautendem Grundkapital nicht mehr eingetragen werden, bei Kapitalmaßnahmen ist das Datum des Hauptversammlungsbeschlusses (§ 183) und nicht dasjenige ihrer Durchführung (§ 188) maßgeblich.8) V.

Rechtsfolgen bei Verstößen

8 Ist in der Satzung kein Grundkapital bestimmt, ist das Grundkapital nicht beziffert, bis 31.12.2001 nicht in Euro oder DM (d. h. in Fremdwährung) oder ab dem 1.1.2002 in Fremdwährung oder noch in DM angegeben, so hat das Registergericht gemäß § 38 Abs. 1 Satz 2 die Eintragung abzulehnen.9) Die Eintragung in das Handelsregister trotz eines sol_____________ 5)

6) 7) 8) 9)

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Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 6 Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 6 Rz. 4; ausführlich zum Thema Umstellung des Grundkapitals bei Altgesellschaften: Heider in: MünchKomm-AktG, § 6 Rz. 44 ff.; Ihrig/Streit, NZG 1998, 201 ff. Art. 14 der VO des Rates der EU über die Einführung des Euro Nr. 1103/97 v. 17.6.1997, ABl. (EG) Nr. L 162/1 v. 19.6.1997; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 6 Rz. 10. Hölters-Solveen, AktG, § 6 Rz. 4; ausführlich zum genehmigten Kapital: Heider in: MünchKomm-AktG, § 6 Rz. 70. Heider in: MünchKomm-AktG, § 6 Rz. 106. Hölters-Solveen, AktG, § 6 Rz. 5; Heider in: MünchKomm-AktG, § 6 Rz. 17.

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§7

Mindestnennbetrag des Grundkapitals

chen Mangels führt dennoch zur wirksamen Entstehung der AG.10) Enthält die Satzung keine Bestimmung zum Grundkapital, kann die Nichtigkeitsklage gemäß § 275 Abs. 1 erhoben und daneben das Amtslöschungsverfahren gemäß § 398 FamFG eingeleitet werden; ist die Höhe des Grundkapitals nicht beziffert oder lautet es nicht auf Euro, so hat das Registergericht die AG gemäß § 399 FamFG zur Behebung dieses Mangels aufzufordern und bei Unterlassung der Behebung den zur Auflösung der Gesellschaft nach § 262 Abs. 1 Nr. 5 führenden Mangel mittels Beschluss festzustellen.11) Ein satzungsändernder Hauptversammlungsbeschluss, der nachträglich gegen § 6 verstößt, ist gemäß § 241 Nr. 3 nichtig, seine Eintragung vom Registergericht abzulehnen und kann auch noch nach einer aufgrund § 242 Abs. 2 durch Eintragung in das Handelsregister erfolgten Heilung gemäß § 398 Abs. 2 FamFG gelöscht werden.12) _____________ 10) Hölters-Solveen, AktG, § 6 Rz. 5; Heider in: MünchKomm-AktG, § 6 Rz. 18. 11) Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 6 Rz. 4. 12) Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 6 Rz. 4.

§7 Mindestnennbetrag des Grundkapitals Alexander Franz

Der Mindestnennbetrag des Grundkapitals ist fünfzigtausend Euro. Literatur: Eidenmüller/Engert, Die angemessene Höhe des Grundkapitals der Aktiengesellschaft, AG 2005, 97.

Übersicht I. Bedeutung der Norm ........................ 1 II. Mindestnennbetrag ........................... 2 I.

III. Spezialgesetzliche Ausnahmen ........ 3 IV. Rechtsfolgen bei Verstößen ............. 5

Bedeutung der Norm

Neben der Gewährleistung eines den Gläubigern als Ausgleich für die fehlende persönliche 1 Haftung der Aktionäre zur Verfügung stehenden Mindesthaftkapitals (Gläubigerschutz) soll die Vorschrift primär eine Sperrfunktion erfüllen, indem sie Unternehmen, deren Geschäftsbetrieb mit weniger als 50.000 € Eigenkapital auskommt, den Zugang zur Rechtsform der AG verwehrt (siehe zu weiteren Funktionen § 1 Rz. 27 ff.).1) Selbst Kleinunternehmer werden heute allerdings eher von der aufwendigen Organisationsstruktur, der Satzungsstrenge, den strikten Vorschriften zur Sachgründung und den strengen Publizitätspflichten bei der AG abgeschreckt als von der Höhe des Mindestnennbetrags.2) II.

Mindestnennbetrag

Die Vorschrift legt die betragsmäßige Untergrenze für das von § 1 Abs. 2 geforderte und 2 gemäß § 6 in Euro zu beziffernde Grundkapital auf 50.000 € fest. Das Mindest-Grundkapital für die deutsche AG liegt somit über dem in Art. 6 Abs. 1 der Kapitalrichtlinie vorgeschriebenen Betrag von 25.000 € und unterhalb dem gemäß Art. 4 Abs. 2 SE-VO für die europäische AG vorgeschriebenen Betrag von 120.000 €. Das Grundkapital liegt in der _____________ 1) 2)

Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 7 Rz. 1; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 7 Rz. 1. Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 7 Rz. 4; Heider in: MünchKomm-AktG, § 7 Rz. 10; HöltersSolveen, AktG, § 7 Rz. 1.

Alexander Franz

31

§8

Form und Mindestbeiträge der Aktien

Praxis allerdings regelmäßig deutlich über 50.000 €.3) Grundsätzlich darf der von § 7 vorgegebene Mindestnennbetrag nur über-, aber nicht unterschritten werden. Einzige (scheinbare) Ausnahme ist eine sanierungsbedingte Kapitalherabsetzung gemäß § 228, bei welcher der Mindestnennbetrag durch eine gleichzeitig beschlossene Kapitalerhöhung alsbald allerdings wieder erreicht wird.4) III.

Spezialgesetzliche Ausnahmen

3 Für Gesellschaften, die ein bestimmtes Gewerbe ausüben, legen Spezialgesetze teilweise einen höheren Mindestnennbetrag fest: –

300.000 € bei internen Kapitalverwaltungsgesellschaften (sog. Anfangskapital),5)



125.000 € bei externen Kapitalverwaltungsgesellschaften (sog. Anfangskapital),6)



1.000.000 € bei Unternehmensbeteiligungsgesellschaften,7)



5.000.000 € bei Verwahrstellen,8)



15.000.000 € bei REIT-AGs9) und



25.000.000 € bei Pfandbriefbanken.10)

4 Auch bei Versicherungsgesellschaften und Bausparkassen kann die Erlaubnis zum Geschäftsbetrieb vom Erreichen einer bestimmten Eigenkapitalausstattung abhängig gemacht werden. IV.

Rechtsfolgen bei Verstößen

5 Bei fehlender oder zu geringer Festsetzung des Grundkapitals gelten hinsichtlich der Rechtsfolgen die Ausführungen zu § 6 entsprechend (siehe hierzu § 6 Rz. 8). Mit Ausnahme der REIT-AG11) sind die genannten spezialgesetzlichen Regelungen über ein von § 7 abweichendes höheres Mindestkapital nicht gesellschafts-, sondern vielmehr aufsichtsrechtlich veranlasst, so dass eine Unterschreitung keine aktienrechtlichen, sondern lediglich aufsichtsrechtliche Konsequenzen hat.12) _____________ 3) Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 7 Rz. 1; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 7 Rz. 5; Eidenmüller/ Engert, AG 2005, 97, 99. 4) Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 7 Rz. 2; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 7 Rz. 5. Bsp. bei: BGH, Urt. v. 5.10.1992 – II ZR 172/91 (Klöckner & Co.), AG 1993, 125 ff. 5) § 25 Abs. 1 Nr. 1 lit. a KAGB. 6) § 25 Abs. 1 Nr. 1 lit. b KAGB. 7) § 2 Abs. 4 UBGG. 8) § 68 Abs. 5 KAGB. 9) § 4 REITG. 10) § 2 Abs. 1 Nr. 1 PfandBG. 11) Bei den REIT-AG ist der Mindestnennbetrag von 15.000.000 € gemäß § 4 REITG gesellschaftsrechtlich vorgeschrieben und gemäß § 1 Abs. 3 REITG gelten die aktienrechtlichen Regelungen über die Eintragung entsprechend. 12) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 7 Rz. 6; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 7 Rz. 2; Hölters-Solveen, AktG, § 7 Rz. 7.

§8 Form und Mindestbeiträge der Aktien Alexander Franz

(1) Die Aktien können entweder als Nennbetragsaktien oder als Stückaktien begründet werden. 32

Alexander Franz

§8

Form und Mindestbeiträge der Aktien

(2) 1Nennbetragsaktien müssen auf mindestens einen Euro lauten. 2Aktien über einen geringeren Nennbetrag sind nichtig. 3Für den Schaden aus der Ausgabe sind die Ausgeber den Inhabern als Gesamtschuldner verantwortlich. 4Höhere Aktiennennbeträge müssen auf volle Euro lauten. (3) 1Stückaktien lauten auf keinen Nennbetrag. 2Die Stückaktien einer Gesellschaft sind am Grundkapital in gleichem Umfang beteiligt. 3Der auf die einzelne Aktie entfallende anteilige Betrag des Grundkapitals darf einen Euro nicht unterschreiten. 4Absatz 2 Satz 2 und 3 findet entsprechende Anwendung. (4) Der Anteil am Grundkapital bestimmt sich bei Nennbetragsaktien nach dem Verhältnis ihres Nennbetrags zum Grundkapital, bei Stückaktien nach der Zahl der Aktien. (5) Die Aktien sind unteilbar. (6) Diese Vorschriften gelten auch für Anteilscheine, die den Aktionären vor der Ausgabe der Aktien erteilt werden (Zwischenscheine). Literatur: Heider, Einführung der nennwertlosen Aktie in Deutschland anlässlich der Umstellung des Gesellschaftsrechts auf den Euro, AG 1998, 1; Vetter, Verpflichtung zur Schaffung von 1 Euro-Aktien?, AG 2000, 193; Zöllner, Neustückelung des Grundkapitals und Neuverteilung von Einzahlungsquoten bei teileingezahlten Aktien der Versicherungsgesellschaften, AG 1985, 19.

Übersicht I. Bedeutung der Norm ........................ 1 II. Nennbetragsaktien (§ 8 Abs. 2, Abs. 4) ................................................. 5 1. Begriff ................................................. 5 2. Unterschiedliche Nennbeträge .......... 7 3. Vermeidung von Spitzen .................... 8 4. Kalter Bezugsrechtsausschluss .......... 9 5. Änderung der Nennbeträge ............. 10 a) Neustückelung ........................... 11 b) Kapitalmaßnahmen .................... 12 6. Rechtsfolgen bei Verstößen ............. 13 a) Verstöße gegen § 8 Abs. 2 Satz 1 ........................................... 14 b) Verstöße gegen § 8 Abs. 2 Satz 4 ........................................... 17 I.

III. Stückaktien (§ 8 Abs. 3, Abs. 4) ..... 1. Begriff ............................................... 2. Zulässigkeit von Spitzen .................. 3. Besonderheiten bei Kapitalmaßnahmen ...................................... 4. Rechtsfolgen bei Verstößen ............ IV. Umstellung der Aktienform .......... 1. Grundsatz ......................................... 2. Beschlossene Kapitalmaßnahmen .............................................. V. Unteilbarkeit (§ 8 Abs. 5) ............... 1. Aufspaltungsverbot .......................... 2. Abspaltungsverbot ........................... 3. Rechtsfolgen bei Verstößen ............ VI. Zwischenscheine (§ 8 Abs. 6) .........

18 18 19 20 21 22 22 23 24 24 26 28 29

Bedeutung der Norm

Ursprünglich kannte das Aktiengesetz ausschließlich Nennbetragsaktien. Erst zum 1.4.1998 1 wurde durch das Gesetz über die Zulassung von Stückaktien (Stück AG)1) alternativ die Ausgabe von Stückaktien vorgesehen.2) Der Wortlaut des § 8 Abs. 1 sowie derjenige des § 23 Abs. 3 Nr. 4 („entweder … oder“) 2 setzt Nennbetrags- und Stückaktien in ein striktes Alternativverhältnis, so dass die Ausgabe beider Aktienformen nebeneinander unzulässig ist.3) Die Wahl für eine der Aktienformen ist bei Gründung durch entsprechende Festlegung in der Satzung zu treffen, vgl. § 23 Abs. 3 Nr. 4. Da Inhaber- bzw. Namensaktien i. S. von § 10 Abs. 1 ebenso wie Vor_____________ 1) 2) 3)

Gesetz über die Zulassung von Stückaktien (StückAG) v. 25.3.1998, BGBl. I 1998, 590. Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 8 Rz. 1 f. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 8 Rz. 4; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 8.

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33

§8

Form und Mindestbeiträge der Aktien

zugs- bzw. Stammaktien i. S. von § 12 Abs. 1 keine Aktienformen im Rechtssinne sind, ist ein gleichzeitiges Nebeneinander diesbezüglich zulässig.4) 3 Praktische Vorteile der Stückaktie sind insbesondere die Zulässigkeit eines nicht auf ganze Euro lautenden anteiligen Betrags am Grundkapital, die Möglichkeit einer Einziehung ohne Kapitalherabsetzung gemäß § 237 Abs. 3 Nr. 3 (Amortisation) sowie einer Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln durch Aufstockung des rechnerischen Anteils gemäß § 207 Abs. 2 Satz 2 und ein im Vergleich zur Nennbetragsaktie geringeres Anfechtungsrisiko.5) Vorteil der Nennbetragsaktie ist die Möglichkeit, dass Aktien mit unterschiedlichen Nennbeträgen ausgegeben werden können.6) 4 Bei der Investmentaktiengesellschaft dürfen gemäß § 109 Abs. 1 KAGB nur noch Stückaktien ausgegeben werden. II.

Nennbetragsaktien (§ 8 Abs. 2, Abs. 4)

1.

Begriff

5 Wichtigste Eigenschaft der Nennbetragsaktie ist die Ausweisung eines gemäß § 6 zu beziffernden und statutarisch festzulegenden Nennbetrags von mindestens 1 €, vgl. § 8 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 3 Nr. 4. Im Zusammenspiel mit dem Gebot der Zerlegung des Grundkapitals in § 1 Abs. 2 folgt hieraus, dass der Gesamtbetrag aller Nennbetragsaktien mit der Summe des Grundkapitals identisch sein muss, dieses also weder unternoch überschreiten darf.7) Setzt man den Nennbetrag der jeweiligen Aktie ins Verhältnis zum Grundkapital, so kann man den prozentualen Anteil der jeweiligen Aktie am Grundkapital bestimmen (§ 8 Abs. 4 Alt. 1). Ein Nennbetrag von mehr als 1 € muss stets durch 1 € teilbar sein (§ 8 Abs. 2 Satz 4). Beispiel: Bei einem Grundkapital i. H. von 50.000 € und einer Zerlegung in zwei Nennbetragsaktien zu einem Nennbetrag von 30.000 € bzw. 20.000 € beträgt der Anteil der jeweiligen Aktie am Grundkapital 60 % bzw. 40 %. 6 Umgekehrt folgt hieraus, dass die Höhe des Grundkapitals die zulässige Höchstzahl von Nennbetragsaktien bestimmt. Beispiel: So kann z. B. eine AG mit einem Grundkapital i. H. von 100.000 € maximal 100.000 Nennbetragsaktien mit einem Nennwert von je 1 € ausgeben (§ 8 Abs. 2 Satz 1). 2.

Unterschiedliche Nennbeträge

7 Das Grundkapital kann in Aktien mit unterschiedlichen Nennbeträgen gestückelt werden, vgl. § 23 Abs. 3 Nr. 4 („… die Zahl der Aktien jeden Nennbetrags …“), so dass nicht nur bei Gründung unterschiedliche Nennbeträge festgelegt, sondern auch bei Kapitalerhöhungen Aktien mit anderen Nennbeträgen als bisher vorhanden ausgegeben werden können.8) Grundsätzlich sind die Aktionäre bei Festlegung der Höhe des Nennbetrags oberhalb des 1 € Mindestnennbetrags frei, vgl. aber § 8 Abs. 2 Satz 4 (siehe hierzu Rz. 8).

_____________ 4) 5) 6) 7) 8)

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Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 8 AktG Rz. 3. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 8 Rz. 5. Grigoleit-Vedder, AktG, § 8 Rz. 3. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 14; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 8 Rz. 5. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 16.

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Form und Mindestbeiträge der Aktien 3.

§8

Vermeidung von Spitzen

Soweit Aktien mit Nennbeträgen i. H. von über 1 € ausgegeben werden, schreibt § 8 8 Abs. 2 Satz 4 vor, dass diese ebenfalls auf volle Euro lauten, und somit jeweils durch 1 € teilbar sein müssen. Zu Schwierigkeiten kann dies führen, wenn bei Durchführung bestimmter Strukturmaßnahmen keine glatten Eurobeträge, sondern rechnerische Bruchteile von Aktien (sog. Spitzen) anfallen, wie z. B. bei Kapitalmaßnahmen, Umwandlungen oder Abfindungen i. R. von Unternehmensverträgen.9) In solchen Fällen greifen zum Teil gesetzliche Regelungen ein (bei Kapitalherabsetzung § 222 Abs. 4 Satz 2, bei Formwechsel einer GmbH in eine AG § 241 Abs. 1 UmwG), zum Teil können Mehrheitsaktionäre kraft ihrer mitgliedschaftlichen Treubindung (§ 53a) gegenüber Minderheitsaktionären ausnahmsweise verpflichtet sein, derartige Spitzen durch Wahl des geringstzulässigen Nennbetrags zu vermeiden, wobei ein abweichender Beschluss ggf. anfechtbar ist.10) Zu der mit Einführung des Euro erforderlichen Umstellung der Nennbetragsaktien von DM auf Euro und der damit verbundenen Problematik krummer Nennbeträge vgl. §§ 3 und 4 EGAktG.11) 4.

Kalter Bezugsrechtsausschluss

Wird der Nennbetrag bei einer Kapitalerhöhung unter formaler Wahrung des Bezugsrechts 9 so hoch angesetzt, dass es zu einem faktischen Bezugsrechtsausschluss für Altaktionäre kommt (sog. kalter Bezugsrechtsausschluss), besteht das Risiko einer Anfechtbarkeit des jeweiligen Kapitalerhöhungsbeschlusses.12) Vgl. zum kalten Bezugsrechtsausschluss auch § 9 Rz. 19. 5.

Änderung der Nennbeträge

Da die Nennbeträge Teil der Satzung sind, bedarf jede Nennbetragsänderung unter Bea- 10 chtung von § 8 Abs. 2 Satz 1 und 4 eines entsprechenden satzungsändernden Hauptversammlungsbeschlusses gemäß §§ 179 ff.13) Folgende Konstellationen einer statutarischen Nennbetragsänderung sind denkbar: a)

Neustückelung

Die Neustückelung ist eine Änderung der Zerlegung des Grundkapitals bei gleichbleibender 11 Ziffer des Grundkapitals im Wege der Teilung und/oder Vereinigung.14) Bei einer Teilung werden die jeweiligen Nennbeträge in kleinere Einheiten gegliedert.15) § 8 Abs. 5 ist hiervon nicht betroffen.16) Die Zustimmung des einzelnen Aktionärs zur Teilung ist grundsätzlich nicht erforderlich, da sein Mitgliedschaftsrecht unverändert bleibt und seine Rechtsposition folglich nicht beeinträchtigt wird.17) Etwas anderes kann gelten, wenn bei der Teilung eine Spitze bleibt, für die keine neue Aktie zugeteilt wird.18) Die Vereinigung als _____________ 9) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 17 ff.; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 8 Rz. 10. 10) BGH, Urt. v. 5.7.1999 – II ZR 126-98, NJW 1999, 3197 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 8 Rz. 6, § 222 Rz. 23; Heider in: MünchKomm-AktG, § 8 Rz. 60; ausführlich hierzu: Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 17 ff.; Vetter, AG 2000, 193 ff. 11) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 8 Rz. 14; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 64 ff. 12) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 29; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 8 Rz. 7. 13) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 23. 14) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 26; ausführlich hierzu Zöllner, AG 1985, 19 ff. 15) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 27. 16) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 8 Rz. 27. 17) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 27; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 8 Rz. 12. 18) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 8 Rz. 32; Grigoleit-Vedder, AktG, § 8 Rz. 12.

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§8

Form und Mindestbeiträge der Aktien

Pendant zur Teilung bedeutet Zusammenlegung mehrerer bisher selbständiger Aktien zu einer (oder mehreren) neuen Aktie(n), die nunmehr bei gleichbleibendem Grundkapital einen der Summe der bisherigen Nennbeträge entsprechenden höheren Nennbetrag ausweist/en.19) Im Gegensatz zur Teilung ist bei der Vereinigung nach überwiegender Ansicht die Zustimmung des betroffenen Aktionärs erforderlich, weil hierdurch die Mobilität und somit auch die Fungibilität seiner Beteiligungen erschwert werden.20) Teilung und Vereinigung der Nennbeträge können auch kombiniert werden.21) b)

Kapitalmaßnahmen

12 Einfache Kapitalerhöhungen können ebenso wenig wie Kapitalerhöhungen aus Gesellschaftsmitteln im Wege der Erhöhung des Nennbetrags der bestehenden Aktien durchgeführt werden, sondern nur durch Ausgabe neuer Aktien, vgl. §§ 182 Abs. 1 Satz 4, 207 Abs. 2 (anders bei Stückaktien, siehe hierzu Rz. 20).22) Es dürfte aber zulässig sein, im Zuge der Kapitalerhöhung das Grundkapital neu zu stückeln und anschließend Aktien mit entsprechend höheren Nennbeträgen auszugeben.23) Um die Identität zwischen der Summe sämtlicher Nennbeträge und dem Grundkapital wahren zu können, ist bei einer Kapitalherabsetzung notwendigerweise eine Absenkung der bisherigen Nennbeträge erforderlich und somit auch zulässig, vgl. § 222 Abs. 4 Satz 1. Hierbei müssen die Nennbeträge soweit herabgesetzt werden, dass Spitzen vermieden werden.24) 6.

Rechtsfolgen bei Verstößen

13 Das Gesetz sanktioniert Verstöße gegen § 8 Abs. 2 Satz 1 mit der Nichtigkeit der Aktien (§ 8 Abs. 2 Satz 2). Für Verstöße gegen § 8 Abs. 2 Satz 4 fehlt eine gesetzliche Regelung. Es wird wie folgt unterschieden: a)

Verstöße gegen § 8 Abs. 2 Satz 1

14 Für den (theoretischen) Fall, dass die Gründungssatzung einen Nennbetrag von unter 1 € festsetzt, sind sowohl Satzung als auch Übernahmeerklärung vor Handelsregistereintragung gemäß § 134 BGB nichtig, eine Vor-AG entsteht nicht, und das Registergericht hat die Eintragung der AG gemäß § 38 Abs. 1 Satz 2 abzulehnen.25) Trägt das Registergericht die AG trotz Mangels ein, entsteht die AG und somit gleichzeitig die aktienrechtliche Mitgliedschaft rechtswirksam, ein Nichtigkeitsgrund gemäß § 275 liegt nicht vor, so dass nur ein Amtsauflösungsverfahren gemäß § 399 FamFG i. V. m. § 262 Abs. 1 Nr. 5 AktG in Betracht kommt.26) Verstößt ein satzungsändernder Hauptversammlungsbeschluss, z. B. ein Kapitalerhöhungsbeschluss, gegen § 8 Abs. 2 Satz 1, so ist er gemäß § 241 Nr. 3 nichtig, das Registergericht darf weder den Beschluss noch dessen Durchführung eintragen; wird ein solcher Beschluss dennoch eingetragen, so ist die Mitgliedschaft zunächst wirksam entstanden, allerdings kann jeder Aktionär oder ein Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsrats innerhalb von drei Jahren seit Eintragung Klage auf Feststel_____________ 19) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 28. 20) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 28; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 8 Rz. 13; Heider in: MünchKomm-AktG, § 8 Rz. 55; Grigoleit-Vedder, AktG, § 8 Rz. 12; Hölters-Solveen, AktG, § 8 Rz. 14; a. A. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 8 Rz. 32. 21) Heider in: MünchKomm-AktG, § 8 Rz. 56. 22) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 24. 23) Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 8 Rz. 14. 24) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 25. 25) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 8 Rz. 7. 26) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 8 Rz. 7.

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Form und Mindestbeiträge der Aktien

§8

lung der Nichtigkeit des entsprechenden Beschlusses gemäß §§ 249, 242 Abs. 2 erheben.27) Darüber hinaus und unabhängig von der Drei-Jahres-Frist kann der Beschluss von Amts wegen gemäß § 398 Abs. 2 FamFG als nichtig gelöscht werden.28) Wird trotz eines Verstoßes gegen § 8 Abs. 2 Satz 1 in das Handelsregister eingetragen, so 15 entfallen bei einer eventuellen Verbriefung der Mitgliedschaft alle wertpapierrechtlichen Anknüpfungen.29) Die Übertragung der mit Eintragung entstandenen Mitgliedschaftsrechte ist nur noch nach allgemeinen zivilrechtlichen Regelungen möglich (§§ 413, 398 ff., 1274 BGB), so dass die Möglichkeit eines gutgläubigen Erwerbs ausscheidet.30) Bereits vor Eintragung der AG bzw. der Kapitalerhöhung ausgegebene Aktienurkunden sind nach §§ 41 Abs. 4 Satz 1, 191 Satz 2, 197 Satz 2, 203 Abs. 1 nichtig, so dass § 8 Abs. 2 Satz 2 in diesem Fall nicht bemüht werden muss.31) § 8 Abs. 2 Satz 3 begründet eine gesamtschuldnerische Schadensersatzpflicht in Form 16 einer §§ 823 ff. BGB unterstehenden deliktsähnlichen Gefährdungshaftung der Ausgeber (regelmäßig: Vorstand) gegenüber den Inhabern (Eigentümer der nichtigen Urkunden).32) Ein Verstoß gegen § 8 Abs. 2 Satz 1 stellt außerdem eine Ordnungswidrigkeit gemäß § 405 Abs. 1 Nr. 3 dar, die mit einer Geldbuße von bis zu 25.000 € sanktioniert werden kann, vgl. § 405 Abs. 4. b)

Verstöße gegen § 8 Abs. 2 Satz 4

Verstöße gegen § 8 Abs. 2 Satz 4 sind weniger gravierend als Verstöße gegen § 8 Abs. 2 17 Satz 1.33) Sollten entgegen der gesetzlichen Anordnung die vorgesehenen Nennbeträge der Aktien nicht auf volle Euro lauten, so hat das Registergericht die Eintragung der AG bzw. die entsprechende Kapitalerhöhung gemäß § 38 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 Nr. 1 i. V. m. § 23 Abs. 3 Nr. 4 abzulehnen; wird die Handelsregistereintragung dennoch vollzogen, bleibt ein solcher Verstoß weitgehend folgenlos: § 8 Abs. 2 Satz 2 und 3, § 405 Abs. 1 Nr. 3 sind nicht anwendbar, Amtsauflösung gemäß § 399 FamFG, Amtslöschung gemäß § 398 FamFG oder Nichtigerklärung gemäß § 275 kommen nicht in Betracht, d. h. die Mitgliedschaften sind wirksam entstanden und ggf. wirksam verbrieft.34) Wird der Verstoß i. R. einer Satzungsänderung begangen, so ist der zugrunde liegende Hauptversammlungsbeschluss nicht nichtig, sondern nach § 243 Abs. 1 lediglich anfechtbar.35) III.

Stückaktien (§ 8 Abs. 3, Abs. 4)

1.

Begriff

Da Stückaktien gemäß § 8 Abs. 3 Satz 1 keinen Nennbetrag ausweisen, ist der Wert einer 18 Stückaktie nicht aus der jeweiligen Aktie selbst heraus erkennbar, sondern muss mittels Division des Grundkapitals durch die gemäß § 23 Abs. 3 Nr. 4 in der Satzung festzulegenden Anzahl sämtlicher Stückaktien errechnet werden, vgl. auch § 8 Abs. 4 Alt. 2. Diese Art der Wert- bzw. Anteilsbestimmung folgt aus der gesetzlichen Anordnung der _____________ 27) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 33; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 8 Rz. 21. 28) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 33; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 8 Rz. 21. 29) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 8 Rz. 9; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 37; Dauner-Lieb in: KölnKommAktG, § 8 Rz. 23. 30) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 37; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 8 Rz. 23. 31) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 37. 32) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 8 Rz. 10; Heider in: MünchKomm-AktG, § 8 Rz. 72 ff. 33) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 39. 34) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 8 Rz. 12; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 40. 35) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 8 Rz. 12; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 40.

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§8

Form und Mindestbeiträge der Aktien

Beteiligung sämtlicher Stückaktien am Grundkapital in gleichem Umfang gemäß § 8 Abs. 3 Satz 2. Auch der Nennwert einer jeden Stückaktie darf den Betrag von 1 € gemäß § 8 Abs. 3 Satz 3 nicht unterschreiten. Ein unterschiedlich hoher Anteil am Grundkapital, wie er bei Nennbetragaktien durch die Ausgabe von Aktien mit voneinander abweichenden Nennbeträgen begründet werden kann, ist bei Stückaktien wegen § 8 Abs. 3 Satz 2 nicht denkbar (für Nennbetragsaktien siehe Rz. 7).36) Beispiel: So kann eine AG mit einem Grundkapital i. H. von 100.000 € maximal 100.000 Stückaktien ausgeben (§ 8 Abs. 3 Satz 3). 2.

Zulässigkeit von Spitzen

19 Ein Nennwert von über 1 € muss, mangels einer dem § 8 Abs. 2 Satz 4 entsprechenden Regelung, im Gegensatz zu Nennbetragsaktien allerdings nicht auf einen vollen Euro-Betrag lauten, so dass bei Stückaktien auch krumme Nennwerte zulässig sind.37) Beispiel: Bei einem Grundkapital i. H. von 100.000 € und einer Zerlegung in 101 Stückaktien beträgt der Nennwert jeder Aktie 990,09901 € und ihr Anteil am Grundkapital 0,99009901 %. 3.

Besonderheiten bei Kapitalmaßnahmen

20 Da Stückaktien keinen Nennbetrag ausweisen, können Kapitalerhöhungen aus Gesellschaftsmitteln auch ohne Ausgabe neuer Aktien durch Erhöhung des Grundkapitals durchgeführt werden, vgl. § 207 Abs. 2 Satz 2. In diesem Fall erhöht sich der jeweilige Wert einer Stückaktie unter Beibehaltung ihres prozentualen Anteils am Grundkapital. Bei Kapitalerhöhungen gegen Einlagen sind jedoch auch bei Stückaktien stets neue Aktien auszugeben, vgl. § 182 Abs. 1 Satz 4 und 5. Bei Kapitalherabsetzungen von Stückaktien ist die bei Nennbetragsaktien gemäß § 222 Abs. 4 Satz 1 erforderliche Herabsetzung des jeweiligen Nennbetrags der einzelnen Aktie entbehrlich, da die Division des angepassten Grundkapitals durch die gleichbleibende Zahl der Stückaktien nunmehr aufgrund gesetzlicher Anordnung automatisch einen geringeren Wert ergibt.38) 4.

Rechtsfolgen bei Verstößen

21 Während ein Verstoß gegen § 8 Abs. 2 Satz 1 bei Nennbetragsaktien in der Praxis eher geringe praktische Bedeutung hat, ist die (Neu-)Stückelung des Grundkapitals bei Stückaktien im Hinblick auf die auch hier gemäß § 8 Abs. 3 Satz 3 geltende gesetzliche Anordnung eines Mindestnennwerts von 1 € fehleranfälliger, da bei Stückaktien der Nennwert nicht explizit ausgewiesen ist.39) Die Ausführungen unter Rz. 13 ff. gelten hier entsprechend, vgl. auch § 8 Abs. 3 Satz 4. IV.

Umstellung der Aktienform

1.

Grundsatz

22 Der Wechsel zwischen beiden Aktienformen ist zulässig und bedarf der Satzungsänderung nach den allgemeinen Regelungen der §§ 179 ff.; die Zustimmung sämtlicher Aktionäre ist grundsätzlich nicht erforderlich, da es kein Aktionärsrecht auf Beibehaltung der _____________ 36) 37) 38) 39)

38

Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 8 Rz. 29. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 8 Rz. 19; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 8 Rz. 6. Heider in MünchKomm-AktG, § 8 Rz. 84. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 30.

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Form und Mindestbeiträge der Aktien

§8

bisherigen Aktienstrukturen gibt.40) Sollte es sich bei einer Umstellung von Nennbetragsauf Stückaktien um Aktien mit unterschiedlich hohen Nennbeträgen handeln, muss vor der Umstellung auf Stückaktien zunächst eine entsprechende Umstückelung auf Nennbetragsaktien mit jeweils gleichem Nennbetrag vollzogen werden, damit § 8 Abs. 3 Satz 2 gewahrt bleibt.41) Sollten bei einer Umstellung von Stück- auf Nennbetragsaktien die Stückaktien so gestückelt sein, dass die jeweiligen Nennbetragsaktien bei Umrechnung keine vollen Eurobeträge ergeben und somit einen Verstoß gegen § 8 Abs. 2 Satz 4 zur Konsequenz haben, sind zunächst ebenfalls entsprechende Kapitalmaßnahmen (Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln bzw. Kapitalherabsetzung) erforderlich.42) Sofern die einzelnen Maßnahmen hinreichend transparent bleiben, können diese auch in einem Hauptversammlungsbeschluss zusammengefasst und gemeinsam zum Handelsregister angemeldet werden.43) 2. Beschlossene Kapitalmaßnahmen Besonderheiten bei der Umstellung von Nennbetrags- auf Stückaktien oder umgekehrt sind 23 zu beachten, wenn bereits beschlossene Kapitalmaßnahmen zum Zeitpunkt des Umstellungsbeschlusses noch nicht vollständig durchgeführt worden sind. Folgende Fälle werden unterschieden: Hat die Hauptversammlung den Nennbetrag des genehmigten Kapitals i. S. von §§ 202 ff. festgelegt, muss die Ermächtigung (§ 202 Abs. 1) durch Satzungsänderung an die neue Form und Stückelung des Grundkapitals angepasst werden.44) Wenn und soweit i. R. einer bedingten Kapitalerhöhung gemäß §§ 192 ff. von den Umtausch- oder Bezugsrechten noch Gebrauch gemacht werden kann, bedürfen Satzung bzw. zugrunde liegender Hauptversammlungsbeschluss ebenfalls einer entsprechenden Anpassung.45) Auch bei Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln ist der zugrunde liegende Hauptversammlungsbeschluss entsprechend anzupassen und sollte ggf. entscheiden, ob neue Aktien ausgegeben werden sollen oder nicht (§ 207 Abs. 2 Satz 2).46) Bei Wandel- und Optionsanleihen i. S. von § 221 ist im Hinblick auf die Bezugsrechte die Änderung des jeweiligen Hauptversammlungsbeschlusses nicht zwingend erforderlich, eine entsprechende Klarstellung allerdings sinnvoll.47) V. Unteilbarkeit (§ 8 Abs. 5) 1. Aufspaltungsverbot § 8 Abs. 5 untersagt die Teilung der in den Aktien verkörperten Mitgliedschaften und 24 hat die Nichtigkeit eines hierauf abzielenden Rechtsgeschäfts gemäß § 134 BGB zur Konsequenz.48) Da eine Neustückelung des Grundkapitals durch satzungsändernden Hauptversammlungsbeschluss nicht gegen § 8 Abs. 5 verstößt, kann sich das Verbot der Aktienteilung nur an die Aktionäre richten, wodurch ein Gleichlauf der tatsächlichen Einteilung des Grundkapitals mit der in der Satzung festgelegten erreicht wird.49) § 8 Abs. 5 verbietet nicht die Begründung von Rechtsgemeinschaften an einer Aktie, 25 deren Zulässigkeit der auf diese Fälle anwendbare § 69 vielmehr voraussetzt.50) So kann _____________ 40) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 8 Rz. 20; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 9; Dauner-Lieb in: KölnKommAktG, § 8 Rz. 4. 41) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 8 Rz. 22. 42) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 8 Rz. 22. 43) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 15.3.2001 – 20 W 147/00, NZG 2001, 612 f. = ZIP 2001, 149; Spindler/ Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 10. 44) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 8 Rz. 21; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 12. 45) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 8 Rz. 22; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 12. 46) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 12; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 8 Rz. 41. 47) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 8 Rz. 22. 48) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 8 Rz. 26. 49) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 8 Rz. 24 f. 50) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 54; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 8 Rz. 47; K. Schmidt/ Lutter-Ziemons, AktG, § 8 Rz. 26.

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§8

Form und Mindestbeiträge der Aktien

eine Aktie von mehreren in Bruchteilsgemeinschaft gemäß §§ 741 ff. BGB gehalten werden, wobei im Fall der Verbriefung Miteigentum an der Aktienurkunde besteht.51) Ebenso können Aktien von der nicht rechtsfähigen Erbengemeinschaft nach § 2032 BGB und der ebenfalls nicht rechtsfähigen Gütergemeinschaft nach §§ 1415 ff. BGB gehalten werden.52) Zulässig ist außerdem die Begründung einer schuldrechtlichen Unterbeteiligung oder eines Treuhandverhältnisses an der Aktie sowie die Überlassung einzelner Aktionärsrechte i. R. der gesetzlich vorgesehenen Fälle von Ermächtigung oder Vollmacht (vgl. §§ 129, 134, 135).53) Einen Sonderfall stellt die sog. Miteigentumslösung für das Sondervermögen einer Kapitalverwaltungsgesellschaft gemäß § 92 Abs. 1 KAGB dar. 2.

Abspaltungsverbot

26 Unzulässig und nichtig ist die Abspaltung einzelner Verwaltungsrechte von der Mitgliedschaft. So können –

das Recht auf Teilnahme an der Hauptversammlung gemäß § 118 Abs. 1,



das Auskunftsrecht gemäß §§ 131 f.,



das Stimmrecht gemäß §§ 133 ff.,



das Recht auf Beteiligung am Bilanzgewinn gemäß 58 Abs. 4 sowie



das allgemeine Bezugsrecht gemäß § 186

nicht abgespalten und gesondert übertragen werden.54) 27 Als sog. Gläubigerrechte nicht erfasst vom Abspaltungsverbot sind hingegen der durch den Gewinnverwendungsbeschluss nach § 174 konkretisierte Anspruch auf Auszahlung des anteiligen Bilanzgewinns sowie das durch Kapitalerhöhungsbeschluss entstehende konkrete Bezugsrecht, so dass diese beiden (konkreten) Rechtspositionen als selbständig angesehen und unabhängig vom Mitgliedschaftsrecht abgetreten werden können.55) Ebenfalls als selbständig abtretbare Gläubigerrechte gelten der Anspruch auf anteiligen Liquidationserlös gemäß § 271, der Anspruch auf Gründungsentschädigung oder -lohn gemäß § 26 Abs. 2, der Anspruch auf Ausgleichszahlung beim Gewinnabführungs- und Beherrschungsvertrag gemäß § 304, der konkrete Anspruch auf Zahlung der Abfindung nach Annahme des Abfindungsangebots gemäß § 305 sowie konkrete Abfindungs- oder Zuzahlungsansprüche nach dem UmwG.56) 3.

Rechtsfolgen bei Verstößen

28 Rechtsgeschäfte, die gegen § 8 Abs. 5 verstoßen, sind gemäß § 134 BGB nichtig.57) VI.

Zwischenscheine (§ 8 Abs. 6)

29 Da die Ausgabe von Aktienurkunden bis zur vollständigen Leistung des Ausgabebetrages gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 unzulässig ist, können die Mitgliedschaftsrechte zwischenzeitlich in sog. Zwischenscheinen verbrieft werden (siehe auch § 10 Rz. 17, 20). Gemäß § 8 Abs. 6 sind die Absätze 2 bis 5 anwendbar, weitere Bestimmungen enthalten § 10 Abs. 3 _____________ 51) 52) 53) 54)

Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 55. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 56. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 57 ff. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 50; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 8 Rz. 27 ff.; DaunerLieb in: KölnKomm-AktG, § 8 Rz. 45 f. 55) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 8 Rz. 28. 56) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 60. 57) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 8 Rz. 62; Heider in: MünchKomm-AktG, § 8 Rz. 98 m. w. N.

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§9

Ausgabebetrag der Aktien

und 4 sowie § 41 Abs. 4. Einen Anspruch auf Ausgabe haben die Aktionäre nur, soweit die Satzung dies vorsieht, ansonsten entscheidet der Vorstand nach seinem Ermessen.58) _____________ 58) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 8 Rz. 28.

§9 Ausgabebetrag der Aktien Alexander Franz

(1) Für einen geringeren Betrag als den Nennbetrag oder den auf die einzelne Stückaktie entfallenden anteiligen Betrag des Grundkapitals dürfen Aktien nicht ausgegeben werden (geringster Ausgabebetrag). (2) Für einen höheren Betrag ist die Ausgabe zulässig. Literatur: Brehm, Das Venture-Capital-Vertragswerk, 2011; Maidl/Kreifels, Beteiligungsverträge und ergänzende Vereinbarungen, NZG 2003, 1091; Mellert, Venture Capital Beteiligungsverträge auf dem Prüfstand, NZG 2003, 1096; Priester, Schuldrechtliche Zusatzleistung bei Kapitalerhöhung im Aktienrecht – Zulässigkeit, Registerprüfung, Bilanzierung, in: Festschrift für Volker Röhricht, 2005, S. 467.

Übersicht I. II. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

I.

Bedeutung der Norm ........................ 1 Unterpariemission (§ 9 Abs. 1) ........ 2 Begriff ................................................. 2 Ausgabebetrag .................................... 3 Bareinlage ............................................ 5 Sacheinlage .......................................... 6 Verdeckte Unterpariemission ............ 8 Rechtsfolgen bei Verstößen ............. 10 a) Gründung unter pari .................. 10 b) Kapitalerhöhung unter pari ....... 11

c) Verdeckte Unterpariemission ........................................ III. Überpariemission (§ 9 Abs. 2) ....... 1. Begriff ............................................... 2. Höhe ................................................. 3. Grenzen der freien Gestaltung ........ 4. Kapitalbindung ................................. IV. Schuldrechtliche Zuzahlungen ..... 1. Zulässigkeit und Vorteile ................. 2. Praxishinweis ....................................

12 16 16 17 18 20 21 21 23

Bedeutung der Norm

Die Norm verbietet in § 9 Abs. 1 unter gleichzeitiger Legaldefinition des geringstmög- 1 lichen Ausgabebetrags (= Nennwert) sog. Unterpariemissionen und lässt gemäß § 9 Abs. 2 sog. Überpariemissionen zu. Zur Berechnung des Nennwerts einer jeden Aktie siehe § 8 Rz. 5 bzw. Rz. 18. Zweck des Verbots der Unterpariemission ist die Sicherung der Kapitalaufbringung.1) § 9 ist ausschließlich auf die Begründung der aktienrechtlichen Mitgliedschaft durch Ausgabe von Aktien i. R. der Gründung oder späterer Kapitalerhöhungen, nicht hingegen auf Rechtsnachfolgetatbestände anwendbar, so dass die Norm z. B. auf den bei Veräußerung bestehender Aktien zu vereinbarenden Kaufpreis keinen Einfluss hat.2) II.

Unterpariemission (§ 9 Abs. 1)

1.

Begriff

Eine Unterpariemission liegt vor, wenn bei einer Bareinlage die Zahlungsverpflichtung 2 oder bei einer Sacheinlage der Sachwert unter dem in § 9 Abs. 1 definierten geringsten _____________ 1) 2)

BGH, Urt. v. 27.2.1975 – II ZR 111/72, NJW 1975, 974, 977; BGH, Urt. v. 14.3.1977 – II ZR 156/75, NJW 1977, 1196 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 9 Rz. 1; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 9 Rz. 2. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 6; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 9 Rz. 11.

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§9

Ausgabebetrag der Aktien

Ausgabebetrag liegt.3) Das Verbot des § 9 Abs. 1 greift nicht nur bei Gründung, sondern auch bei Kapitalerhöhung (§ 182 Abs. 3) und erschwert so die Beschaffung neuer Eigenmittel, wenn der Aktienkurs unter dem geringsten Ausgabebetrag liegt.4) 2.

Ausgabebetrag

3 Der geringste Ausgabebetrag und das ggf. geschuldete und nach § 9 Abs. 2 zulässige Aufgeld (Agio) bilden zusammen den Ausgabebetrag, während freiwillige schuldrechtliche Zuzahlungen hiervon nicht erfasst sind (zu diesen siehe Rz. 21 ff.).5) Beispiel: Angesichts eines guten Aktienkurses wird der Ausgabebetrag für die im Wege einer Kapitalerhöhung auszugebenden 100 neuen Nennbetragsaktien mit einem jeweiligen Nennbetrag von 1.000 € auf 2.500 € pro Aktie, d. h. auf insgesamt 250.000 € festgesetzt. Hiervon entfallen 100.000 € auf die Nennbeträge (1.000 € pro Aktie) und 150.000 € (1.500 € pro Aktie) auf das jeweils zusätzlich zu leistende Agio. 4 Der jeweilige Ausgabebetrag für die Aktien wird bei Gründung auf Grundlage der Gründungsurkunde in der Übernahmeerklärung nach § 23 Abs. 2 Nr. 2 bzw. bei Kapitalerhöhungen auf Grundlage des Hauptversammlungs- und ggf. Vorstandsbeschlusses im Zeichnungsschein nach § 185 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 (bei genehmigtem Kapital i. V. m. § 203 Abs. 1 Satz 1) und bei bedingten Kapitalerhöhungen in der Bezugserklärung nach § 198 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 193 Abs. 2 Nr. 3 festgesetzt.6) Das Verbot in § 9 Abs. 1 erfasst sämtliche dieser Vorstufen bis hin zu und einschließlich der endgültigen Entstehung der Mitgliedschaften durch Eintragung in das Handelsregister.7) 3.

Bareinlage

5 Im Falle einer Bareinlage bestimmt der Ausgabebetrag Inhalt und Umfang der dem jeweiligen Aktionär in Form einer monetären Einlage gemäß § 54 Abs. 2 obliegenden Zahlungspflicht und begrenzt gleichzeitig gemäß § 54 Abs. 1 dessen Einlagepflicht nach oben.8) 4.

Sacheinlage

6 Die Geltung des Verbots in § 9 Abs. 1 für Sacheinlagen wird in § 36a Abs. 2 Satz 3 bestätigt. Bei Sacheinlagen ergeben sich Inhalt und Umfang der Sachleistungspflicht nicht erst aus der Festsetzung eines Ausgabebetrags, sondern bereits aus der Festsetzung des an die AG zu übertragenden Sacheinlagegegenstands.9) Der Ausgabebetrag (inklusive Agio) dient allerdings als Maßstab für den Wert des geschuldeten Gegenstands sowie für den Umfang der bei Unterschreitung aufgrund Überbewertung oder bei verdeckter Sacheinlage durch Barzahlung auszugleichenden sog. Differenzhaftung des betroffenen Aktionärs.10) Beispiel: Aktionär A zeichnet 100 neue Aktien zum Nennbetrag von insgesamt 300.000 € und bringt im Gegenzug ein Grundstück ein, dessen tatsächlicher Wert allerdings nur 200.000 € beträgt. Da der Wert des Grundstücks unter dem geringstmöglichen Ausgabebetrag der 100 neuen Aktien liegt, greift vorliegend das Verbot der Unterpariemission des § 9 Abs. 1. _____________ 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9) 10)

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Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 9 Rz. 2; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 10. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 9 Rz. 4; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 9 Rz. 13. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 2. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 7 f.; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 9 Rz. 9. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 9 Rz. 5. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 5. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 5. Vgl. ausführlich hierzu: Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 5, 18 – 22.

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§9

Ausgabebetrag der Aktien

Zur Vermeidung einer Überbewertung von Sacheinlagegegenständen sollen insbeson- 7 dere §§ 27, 32 Abs. 2, 33 Abs. 2 Nr. 4, 34 Abs. 1, 37 Abs. 4 Nr. 2, 38 Abs. 2 Satz 2 dienen.11) 5.

Verdeckte Unterpariemission

Ob eine Unterpariemission i. S. von § 9 Abs. 1 auch dann vorliegt, wenn § 9 Abs. 1 vor- 8 dergründig zwar gewahrt ist, den Aktionären allerdings nicht von § 26 Abs. 2 gedeckte Provisionen, Skonti oder sonstige Nachlässe eingeräumt werden, welche die Zahlungsverpflichtung im Ergebnis entsprechend schmälern, oder im Falle der Sacheinlage eine Überbewertung des Sacheinlagegegenstands bzw. eine verdeckte Sacheinlage (§ 27 Abs. 3) vorliegt (sog. verdeckte Unterpariemission),12) ist umstritten, wird überwiegend aber befürwortet.13) Die Gegenauffassung befürchtet, dass die aufgrund der Nichtigkeitsrechtsfolge eines Verstoßes gegen § 9 Abs. 1 vor Handelsregistereintragung gar nicht erst entstehende Einlagepflicht diejenigen Gründer bzw. Zeichner privilegiert, die in besonders krasser Weise „verdeckt“ gegen ihre „Einlagepflicht“ verstoßen und verneint eine Anwendung des § 9 Abs. 1 auf Fälle der verdeckten Unterpariemission.14) Der Gegenauffassung ist zuzustimmen: Die als Hin- und Herzahlen, überbewertete oder 9 verdeckte Sacheinlage zu qualifizierenden Fallgruppen der verdeckten Unterpariemission sind durch die bereits außerhalb von § 8 einschlägigen Rechtsfolgen (im Ergebnis meist: Differenzhaftung, Ausnahme: Hin- und Herzahlen, siehe hierzu ausführlich § 27) hinreichend sanktioniert.15) Zudem hat diese Lösung den Vorteil, dass die Einlagepflicht mangels Nichtigkeit des jeweils zugrunde liegenden Rechtsgeschäfts bereits vor Handelsregistereintragung entsteht und es keiner umständlichen Konstruktionen mehr bedarf, um diese anderweitig zu begründen (siehe hierzu Rz. 12 ff.). Eine unterschiedliche Behandlung von offener und verdeckter Unterpariemission rechtfertigt nach hier vertretener Ansicht bereits die Tatsache, dass die offene Unterpariemission für alle Beteiligten erkennbar ist, während die verdeckte Unterpariemission in der Regel einen nicht ohne Weiteres erkennbaren Umgehungstatbestand darstellt, bei dem die Parteien an den Inhalt ihres zumindest formal mit § 9 Abs. 1 konform gehenden Leistungsversprechens gebunden bleiben sollten. 6.

Rechtsfolgen bei Verstößen

a)

Gründung unter pari

Für den Fall, dass in der Übernahmeerklärung als materiellem Satzungsbestandteil ein Aus- 10 gabebetrag unter pari festgesetzt und somit gegen § 9 Abs. 1 verstoßen wird, sind sowohl Übernahmeerklärung als auch das gesamte Errichtungsgeschäft, inklusive Satzung, vor Handelsregistereintragung gemäß §§ 134, 139 BGB nichtig.16) Gemäß § 38 Abs. 1 Satz 2 bzw. Abs. 2 Satz 2 hat das Registergericht die Eintragung der AG in diesem Fall abzulehnen.17) Wird durch Aufnahme des Geschäftsbetriebs schon vor Eintragung eine Vor-AG _____________ 11) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 9 Rz. 3. 12) Vgl. zu den von der verdeckten Unterpariemission erfassten Fallgruppen ausführlich: Heider in: MünchKomm-AktG, § 9 Rz. 25 ff. 13) Für eine Erfassung der verdeckten Unterpariemission durch § 9 Abs. 1: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 9 Rz. 2; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 10; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 9 Rz. 17; Heider in: MünchKomm-AktG, § 9 Rz. 11. 14) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 9 Rz. 7, 11; Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 9 AktG Rz. 7. 15) So wohl auch: K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 9 Rz. 10; Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 9 AktG Rz. 7; a. A.: Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 9 Rz. 17, die dem mit der Nichtigkeitsrechtsfolge verbundenen präventiven Kapitalaufbringungsschutz größere Bedeutung zumisst. 16) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 14. 17) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 9 Rz. 5.

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§9

Ausgabebetrag der Aktien

in Vollzug gesetzt, kommen die Regeln über die fehlerhafte Gesellschaft zur Anwendung und die Gründer können ggf. entsprechend § 277 Abs. 3 zur Leistung der versprochenen Einlagen verpflichtet sein, soweit die Mittel zur Begleichung bereits entstandener Verbindlichkeiten benötigt werden.18) Trägt das Registergericht trotz Mangels ein, entsteht die AG rechtswirksam, ein Nichtigkeitsgrund gemäß § 275 liegt nicht vor und weder das Amtslöschungsverfahren gemäß § 397 FamFG noch das Amtsauflösungsverfahren gemäß § 399 FamFG kommen in Betracht.19) Der Bargründer ist nunmehr verpflichtet, Zahlungen bis zur Höhe des geringsten und darüber hinaus des vollen Ausgabebetrags zu leisten und den Sachgründer trifft neben der Pflicht zur Einbringung seines nicht werthaltigen Sacheinlagegegenstands die gesetzliche Differenzhaftung.20) b)

Kapitalerhöhung unter pari

11 Wird der Ausgabebetrag bereits im Kapitalerhöhungsbeschluss unter pari festgelegt, so ist der Beschluss gemäß § 241 Nr. 3 Alt. 2 ebenso wie eine entsprechende Zeichnungserklärung nichtig.21) Das Registergericht darf die Kapitalerhöhung nicht eintragen.22) Wird sie gleichwohl eingetragen, so hat die Eintragung vorbehaltlich § 242 Abs. 2 Satz 1 keine heilende Wirkung.23) Jeder Aktionär und jedes Organmitglied kann Nichtigkeitsklage gemäß § 249 Abs. 1 erheben und auch nach Ablauf der Drei-Jahres-Frist in § 242 Abs. 2 Satz 1 ist das Amtslöschungsverfahren gemäß § 398 FamFG noch möglich.24) Mit Ausnahme der in Analogie zu § 277 Abs. 3 begründeten Pflicht bei bereits entstandenen Verbindlichkeiten, existiert aufgrund der Nichtigkeit keine Einlagepflicht.25) c)

Verdeckte Unterpariemission

12 Obwohl die überwiegende Literatur die Fallgruppen der verdeckten Unterpariemission ebenfalls als Verstoß gegen § 9 Abs. 1 wertet, wird die Konsequenz der Nichtigkeit des zugrunde liegenden Rechtsgeschäfts für diese Fälle weitgehend abgelehnt. Nach hier vertretener Ansicht ist die verdeckte Unterpariemission bereits tatbestandlich kein Fall von § 9 Abs. 1 (siehe Rz. 9). 13 So soll bei verdeckter Unterpariemission im Zusammenhang mit einer Bareinlage der Gründer bzw. im Fall einer späteren Kapitalerhöhung der Zeichner von Anfang an zumindest zur vollen Leistung auf den geringsten Ausgabebetrag verpflichtet sein.26) 14 Für den Fall der überbewerteten Sacheinlage ist weitgehend anerkannt, dass der Sacheinleger ab Eintragung der Gründung bzw. der Kapitalerhöhung in das Handelsregister den Differenzbetrag zwischen dem tatsächlichen Wert der Sacheinlage zum Zeitpunkt der Anmeldung und dem Ausgabebetrag in bar zu leisten hat.27) Für den Zeitraum vor Eintragung in das Handelsregister ist die Rechtsfolge bei überbewerteter Sacheinlage umstritten: Teilweise wird auch hier Nichtigkeit abgelehnt und eine Differenzhaftung be_____________ Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 14; Heider in: MünchKomm-AktG, § 9 Rz. 22. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 9 Rz. 8. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 9 Rz. 6; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 15. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 9 Rz. 7; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 16. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 9 Rz. 9; Heider in: MünchKomm-AktG, § 9 Rz. 29. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 9 Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 9 Rz. 9. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 16; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 9 Rz. 9. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 9 Rz. 7; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 16; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 9 Rz. 9. 26) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 16a; Heider in: MünchKomm-AktG, § 9 Rz. 26. 27) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 17; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 9 Rz. 22; a. A. für Kapitalerhöhung: Heider in: MünchKomm-AktG, § 9 Rz. 30. 18) 19) 20) 21) 22) 23) 24) 25)

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§9

Ausgabebetrag der Aktien

fürwortet.28) Die Gegenansicht nimmt i. S. eines effektiven Präventivschutzes der realen Kapitalaufbringung Nichtigkeit an.29) Eine vermittelnde Auffassung hält eine am Einzelfall orientierte Lösung für angemessen.30) Bei der verdeckten Sacheinlage soll sowohl bei Gründung als auch bei Kapitalerhöhung 15 stets die Sonderregelung des § 27 Abs. 3 eingreifen, und zwar unabhängig davon, ob dass Verbot der Unterpariemission berührt ist oder nicht.31) Rechtsfolge ist hier die sog. Anrechnungslösung, d. h. die Bareinlagepflicht besteht weiterhin, der Wert einer bereits geleisteten verdeckten Sacheinlage wird allerdings auf die Zahlungsverpflichtung angerechnet und läuft im Ergebnis somit ebenfalls auf eine Differenzhaftung des Gründers bzw. Zeichners hinaus (siehe hierzu § 27). III.

Überpariemission (§ 9 Abs. 2)

1.

Begriff

§ 9 Abs. 2 stellt klar, dass die Ausgabe von Aktien zu einem über dem geringsten Ausga- 16 bebetrag liegenden Betrag zulässig ist. Dieses sog. Agio (= Differenz zwischen Mindestausgabebetrag (= Nennwert) und in der Übernahmeerklärung bzw. dem Kapitalerhöhungsbeschluss festgelegten tatsächlichen Ausgabebetrag) ist nicht Teil des auf die Aktie entfallenden Anteils am Grundkapital, aber als Teil des Ausgabebetrags gleichzeitig Bestandteil der korporativen Einlagepflicht des Aktionärs und wird gemäß § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB bzw. § 266 Abs. 3 A. II. HGB als gesetzliche Kapitalrücklage in der Bilanz passiviert.32) 2.

Höhe

Die Festsetzung eines Agios ist unverbindlich und eine bestimmte Höhe nicht vorge- 17 geben, sondern grundsätzlich Verhandlungssache im Einzelfall.33) Das von den Organen zu wahrende finanzielle Interesse der AG wird regelmäßig auf einen hohen Ausgabebetrag und somit auf ein entsprechend hohes Agio gerichtet sein. 3.

Grenzen der freien Gestaltung

Bei Kapitalerhöhungen unter Ausschluss des Bezugsrechts der Altaktionäre besteht bei 18 einem unter dem Aktienkurs liegenden Ausgabebetrag die Gefahr der Verwässerung des Werts der bestehenden Aktien, da sich nach Durchführung der Kapitalerhöhung ein Mischkurs bilden wird, der jedenfalls unter dem bisherigen Aktienkurs liegt und sich somit entsprechend negativ auf den Aktienwert der Altaktionäre auswirkt.34) Aus diesem Grund sind die zuständigen Organe verpflichtet, den Ausgabebetrag und somit das Agio in einem solchen Fall so hoch wie möglich festzusetzen, da der zugrunde liegende Hauptversammlungsbeschluss ansonsten gemäß § 255 Abs. 2 ggf. angefochten bzw. ein entsprechender Vorstandsbeschluss beim genehmigten Kapital im Wege der vorbeugenden Unterlassungs- oder Feststellungsklage angegriffen werden kann.35) Als ein grundsätzlich angemessener und deshalb zulässiger Abschlag auf den Verkehrs- bzw. Börsenwert wird bei Festsetzung des Ausgabebetrags durch die Hauptversammlung ein Abschlag von 3 – 5 % _____________ 28) Pentz in: MünchKomm-AktG, § 27 Rz. 42; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 9 Rz. 19; K. Schmidt/ Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 24. 29) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 9 Rz. 5. 30) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 17. 31) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 22. 32) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 23; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 9 Rz. 23 f. 33) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 26. 34) Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 9 Rz. 28. 35) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 26; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 9 Rz. 28.

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§9

Ausgabebetrag der Aktien

angesehen.36) Insbesondere Venture Capital und Private Equity Investoren verlangen regelmäßig vertraglich zugesicherte Verwässerungsschutzmechanismen, um sich davor zu schützen, dass bei zukünftigen Kapitalerhöhungen eine niedrigere Bewertung zugrunde gelegt wird als bei der eigenen Beteiligungsrunde (sog. Down-Round-Protection).37) 19 Bei Kapitalerhöhungen unter Wahrung des Bezugsrechts der Altaktionäre kommen entsprechende Rechtsmittel in Betracht, wenn der Ausgabebetrag so hoch festgesetzt wird, dass den Minderheitsaktionären die Bezugsrechtsausübung faktisch unmöglich ist (sog. kalter Bezugsrechtsausschluss) und sich die Mehrheitsverhältnisse zwangsweise zugunsten der Mehrheitsaktionäre verschieben.38) Vgl. zum kalten Bezugsrechtsausschluss auch § 8 Rz. 9. Umgekehrt kann im Einzelfall aus Gründen der Treupflicht die Festsetzung eines Ausgabebetrags geboten sein, der zumindest den Verkehrs- bzw. Börsenwert der bestehenden Aktien erreicht, wenn sich die Altaktionäre ansonsten zur Ausübung des Bezugsrechts gezwungen sehen, um ihre Vermögens- und Beteiligungsinteressen zu wahren.39) 4.

Kapitalbindung

20 Das Agio unterliegt den Kapitalaufbringungsvorschriften in gleicher Weise wie der geringste Ausgabebetrag und zugleich den Kapitalerhaltungsvorschriften in § 150 Abs. 3 und 4.40) IV.

Schuldrechtliche Zuzahlungen

1.

Zulässigkeit und Vorteile

21 Alternativ oder zusätzlich zum Agio werden häufig Zuzahlungen an die AG vereinbart, zu denen sich der Aktionär außerhalb des formal festgesetzten Ausgabebetrags aufgrund einer gesondert abgeschlossenen schuldrechtlichen Vereinbarung mit der AG oder den anderen Aktionären verpflichtet hat (sog. verdecktes Agio).41) Diese Zuzahlungen sind nach überwiegender Meinung nicht Gegenstand einer auf korporativer Grundlage begründeten Leistungspflicht und unterliegen daher nicht den Regeln über Kapitalaufbringung und -erhaltung, sondern nur dem allgemeinen Schuldrecht.42) Zulässigkeitsgrenzen bestehen nur, wenn die Festsetzung eines korporativen Agios aus aktienrechtlichen Gründen ausnahmsweise geboten ist.43) Die Gegenauffassung will allerdings auch rein schuldrechtliche Zuzahlungen dann einem korporativen Agio mit entsprechender Kapitalbindung des AktG gleichstellen, wenn die Gesellschaft nach der zugrunde liegenden Vereinbarung ein eigenes (schuldrechtliches) Forderungsrecht hat.44) 22 Derartige schuldrechtliche Zuzahlungen werden in der Praxis insbesondere im Zusammenhang mit Kapitalerhöhungen unter Beteiligung von Venture Capital und Private Equity Investoren vereinbart45) und bieten im Unterschied zum Agio folgende Vorteile: – sie sind nicht Teil der gesellschaftsrechtlichen Einlagepflicht, so dass die AG je nach vertraglicher Gestaltung nicht zwingend ein eigenes Forderungsrecht gegen den Akti_____________ 36) 37) 38) 39) 40) 41) 42)

K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 9 Rz. 21 m. w. N. Vgl. hierzu: Weitnauer, Hdb. Venture Capital, Teil F II Rz. 111 ff., S. 348 f. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 29; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 9 Rz. 28. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 30. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 9 Rz. 14; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 32. S. hierzu ausführlich Priester in: FS Röhricht, S. 467 ff. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 39; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 9 Rz. 34 ff.; GrigoleitVedder, AktG, § 9 Rz. 8; Hölters-Solveen, AktG, § 9 Rz. 13. 43) Vgl. hierzu Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 37. 44) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 9 Rz. 15 m. w. N. 45) S. hierzu Mellert, NZG 2003, 1096 ff.

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Alexander Franz

§ 10

Aktien und Zwischenscheine

onär hat; die Verpflichtung zur sofortigen Volleinzahlung gemäß §§ 36 Abs. 2, 36a Abs. 1 findet keine Anwendung, so dass die Zahlung auch erst später z. B. bei Erfüllung bestimmter aufschiebender Bedingungen (sog. Closing Conditions) oder Meilensteine (sog. Milestones) geleistet werden kann; –

sie sind in der Bilanz als „andere Zuzahlungen“ gemäß § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB zu passivieren, als solche nicht den Verwendungsbeschränkungen nach § 150 Abs. 3, 4 unterstellt und werden in der Praxis auch häufig zur Ausschüttung an die Altaktionäre verwendet;



da sie nicht zwingend Bestandteil der formalen Kapitalerhöhungsdokumente sind, lässt sich die Registerpublizität insofern vermeiden.46)

2.

Praxishinweis

Um den Anforderungen der Praxis gerecht zu werden, gilt es, das Risiko einer Qualifika- 23 tion der schuldrechtlichen Zuzahlungen als ein der unter Rz. 20 dargestellten aktienrechtlichen Kapitalbindung unterliegendes korporatives Agio zu minimieren. Es muss also verhindert werden, dass die zugrunde liegende Zahlungsverpflichtung mitgliedschaftlicher Natur ist, d. h. sie darf nicht gegenüber der Gesellschaft begründet werden. Es bietet sich daher an, das Forderungsrecht auf schuldrechtliche Zuzahlung ausschließlich als ein Recht der Aktionäre zur Leistung an die Gesellschaft, nicht jedoch als einen eigenen Anspruch der Gesellschaft selbst, auch nicht als einen solchen i. S. von § 328 BGB, auszugestalten.47) Wenn die Zuzahlungen somit als unechter Vertrag zugunsten Dritter (der AG) ausgestaltet sind, sollte einer Qualifikation nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB und somit der Vermeidung des korporativen Charakters nichts im Wege stehen. _____________ 46) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 9 Rz. 34 ff.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 9 Rz. 15; DaunerLieb in: KölnKomm-AktG, § 9 Rz. 34 ff. 47) Maidl/Kreifels, NZG 2003, 1091, 1092 f.; Mellert, NZG 2003, 1096, 1096 ff.; Weitnauer, Hdb. Venture Capital, Teil F II Rz. 127, S. 353; s. hierzu auch BayOLG, Beschl. v. 27.2.2002 – 3Z BR 35/02, ZIP 2002, 1484 = NZG 2002, 583; Brehm, Das Venture-Capital-Vertragswerk, S. 60 f.

§ 10 Aktien und Zwischenscheine Alexander Franz

(1) 1Die Aktien lauten auf den Namen. 2Sie können auf den Inhaber lauten, wenn 1. die Gesellschaft börsennotiert ist oder 2. der Anspruch auf Einzelverbriefung ausgeschlossen ist und die Sammelurkunde bei einer der folgenden Stellen hinterlegt wird: a) einer Wertpapiersammelbank im Sinne des § 1 Absatz 3 Satz 1 des Depotgesetzes, b) einem zugelassenen Zentralverwahrer oder einem anerkannten Drittland-Zentralverwahrer gemäß der Verordnung (EU) Nr. 909/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Juli 2014 zur Verbesserung der Wertpapierlieferungen und -abrechnungen in der Europäischen Union und über Zentralverwahrer sowie zur Änderung der Richtlinien 98/26/EG und 2014/65/EU und der Verordnung (EU) Nr. 236/2012 (ABl. L 257 vom 28.8.2014, S. 1) oder c) einem sonstigen ausländischen Verwahrer, der die Voraussetzungen des § 5 Absatz 4 Satz 1 des Depotgesetzes erfüllt.

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§ 10

Aktien und Zwischenscheine

3

Solange im Fall des Satzes 2 Nummer 2 die Sammelurkunde nicht hinterlegt ist, ist § 67 entsprechend anzuwenden.

(2) 1Die Aktien müssen auf Namen lauten, wenn sie vor der vollen Leistung des Ausgabebetrags ausgegeben werden. 2Der Betrag der Teilleistungen ist in der Aktie anzugeben. (3) Zwischenscheine müssen auf Namen lauten. (4) 1Zwischenscheine auf den Inhaber sind nichtig. 2Für den Schaden aus der Ausgabe sind die Ausgeber den Inhabern als Gesamtschuldner verantwortlich. (5) In der Satzung kann der Anspruch des Aktionärs auf Verbriefung seines Anteils ausgeschlossen oder beschränkt werden. Literatur: Bayer/Hoffmann, Namensaktien bei Börsen- und Nichtbörsen-Aktiengesellschaften, AG-Report 2007, R 528; Bayer/Hoffmann, Aktien in Form von Einzelurkunden, Sammelurkunden und Globalurkunde, AG-Report 2007, R 439; Bungert/Wettich, Aktienrechtsnovelle 2012 – der Regierungsentwurf aus Sicht der Praxis, ZIP 2012, 297; Bungert/Wettich, Kleine Aktienrechtsnovelle 2011 – Kritische Würdigung des Referentenentwurfs aus Sicht der Praxis, ZIP 2011, 160; Diekmann/Nolting, Aktienrechtsnovelle 2011, NZG 2011, 6; Drinhausen/Keinath, Referentenentwurf einer „kleinen Aktienrechtsnovelle“, BB 2011, 11; Drygala, Nur noch Namensaktien für die nicht börsennotierten Aktiengesellschaften?, ZIP 2011, 798; Götze/Arnold/ Carl, Der Regierungsentwurf der Aktienrechtsnovelle 2012 – Anmerkungen aus der Praxis, NZG 2012, 321; Iversen, Die außerbörsliche Übertragung von Aktien unter Beachtung des sachenrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes, AG 2008, 736; Merkner/Schmidt-Bendun, Die Aktienrechtsnovelle 2012 – Überblick über den Regierungsentwurf, DB 2012, 98; Mirow, Die Übertragung von Aktien im Aktienkauf – Formulierungshilfen für die Praxis, NZG 2008, 52; Nikoleyczik, Aktienrechtsnovelle 2011 – Neues zum Beschlussmängelrecht und zur Namensaktie, GWR 2010, 594; Noack, Aktienrechtsnovelle 2011, DB 2010, 2657; Noack/Zetsche, Die Legitimation der Aktionäre bei Globalaktien und Depotverbuchung, AG 2002, 651; Seibert, Der Ausschluss des Verbriefungsanspruchs des Aktionärs in Gesetzgebung und Praxis, DB 1999, 267; Wieneke/Kunz, Das Gesetz zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, NZG 2021, 316; Ziemons, Die aktienbezogenen Regelungen des RegE „Aktienrechtsnovelle 2012“, BB 2012, 523.

Übersicht I. Bedeutung der Norm ....................... 1 II. Namensaktien ................................... 3 III. Inhaberaktien .................................... 4 IV. Eingeschränkte Wahlfreiheit aufgrund § 10 Abs. 1 ......................... 5 1. Börsennotierte AGs ........................... 6 2. Nicht börsennotierte AGs ................ 7 3. Übergangsvorschriften .................... 10 4. Rechtsfolgen bei Verstößen ............ 11 5. Praxishinweis ................................... 12 V. Eingeschränkte Wahlfreiheit außerhalb § 10 Abs. 1 ..................... 13 1. § 10 Abs. 2 ........................................ 14 2. Sondernormen ................................. 15 3. Rechtsfolgen bei Verstößen ............ 16

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VI. Zwischenscheine .............................. 17 VII. Verbriefung .................................... 18 1. Bedeutung, Durchführung ............... 18 2. Arten ................................................. 19 3. Ausgabe der Urkunden .................... 20 4. Verwahrung der Urkunden .............. 22 VIII. Anspruch auf Verbriefung .......... 23 IX. Übertragung der Aktien ................. 25 1. Unverbriefte Aktien ......................... 26 2. Verbriefte Aktien ............................. 27 a) Namensaktien ............................. 28 b) Inhaberaktien .............................. 29 c) Girosammelverwahrte Aktien ......................................... 30 d) Praxishinweis .............................. 31

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§ 10

Aktien und Zwischenscheine I.

Bedeutung der Norm

§ 10 behandelt die Ausgestaltung der aktienrechtlichen Mitgliedschaften in Form von 1 Inhaber- oder Namensaktien (§ 10 Abs. 1) und deren Verbriefung, die Aktienausgabe vor vollständiger Erfüllung der Einlageverpflichtung der Aktionärs (§ 10 Abs. 2), die vorläufige Verbriefung der Mitgliedschaft in Form von Zwischenscheinen (§ 10 Abs. 3 und 4), sowie die Möglichkeit, den Anspruch des Aktionärs auf Verbriefung auszuschließen oder einzuschränken (§ 10 Abs. 5). Während Inhaberaktien in der Vergangenheit die Regel und Namensaktien die Ausnahme waren, ließ sich in letzter Zeit sowohl bei börsen- als auch bei nicht börsennotierten AGs eine stärkere Tendenz zur Namensaktie beobachten.1) Ebenso scheint die Namensaktie inzwischen auch best practise in der notariellen Beratungspraxis zu sein.2) Zwecks Förderung der Transparenz von Aktionärsstrukturen wollte der Gesetzgeber diese 2 Tendenz im Wege der durch das Gesetz zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2016) vom 22.12.20153) umgesetzte Anpassung von § 10 fördern. Der am 11.11.2010 veröffentlichte Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung des AktG sah ursprünglich vor, Inhaberaktien nur noch für börsennotierte AGs zuzulassen und für nicht börsennotierte AGs zwingend Namensaktien vorzuschreiben.4) Begründet wurde die geplante Änderung mit mangelnder Transparenz der Gesellschafterstruktur bei nicht börsennotierten AGs mit Inhaberaktien, da die Schwellenwerte für die Meldepflichten in § 20 deutlich höher sind als die in § 33 WpHG. Die juristische Literatur kommentierte diesen apodiktischen Ansatz weitgehend kritisch.5) Diese Kritik aufgreifend schlug der inzwischen im Wesentlichen Gesetz gewordene Regierungsentwurf für eine Aktienrechtsnovelle vom 23.1.20156) einen liberaleren Weg ein und hat Inhaberaktien weiterhin sowohl für börsennotierte als auch für nicht börsennotierte AGs zugelassen, für erstere vorbehaltslos, für letztere hingegen nur unter bestimmten zusätzlichen Voraussetzungen. Gleichzeitig wurde mittels Anpassung in § 67 Abs. 1 Satz 1 klargestellt, dass die Eintragung der Aktionäre in das Aktienregister bei Namensaktien unabhängig von einer Verbriefung der Aktien obligatorisch ist. Mit der hierdurch beabsichtigten Erhöhung der Transparenz wurde einer Rüge Deutschlands durch die Financial Action Task Force (FATF) begegnet, deren Ziel eine wirksame Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung in den Mitgliedstaaten war.7) Nach Ansicht der FATF gebe es insbesondere bei deutschen nicht börsennotierten Gesellschaften, die Inhaberaktien ausgeben, keine hinreichende Transparenz hinsichtlich der Gesellschafterstruktur und sei nicht gewährleistet, dass die zuständigen Behörden rechtzeitig hinreichende und aktuelle Informationen über die Aktionäre erhielten.8) Namens- und Inhaberaktien sind im Hinblick auf den durch sie verkörperten mitgliedschaftlichen Status gleichwertig und begründen keinen Gattungsunterschied i. S. von _____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8)

Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 11; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 10 Rz. 28; Bayer/ Hoffmann, AG-Report 2007, R 528 ff. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 10 Rz. 1. Gesetz zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2016) v. 22.12.2015, BGBl. I 2015, 2565. S. die im Art. 1 des RefE ursprünglich geplanten Änderungen von §§ 10 Abs. 1, 23 Abs. 3 und § 24. Vgl. nur Bungert/Wettich, ZIP 2011, 160; Diekmann/Nolting, NZG 2011, 6; Drinhausen/Keinath, BB 2011, 11, 17; Drygala, ZIP 2011, 798; Nikoleyczik, GWR 2010, 594; Noack, DB 2010, 2657. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2014) v. 23.1.2015, BR-Drucks. 22/15. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2014) v. 23.1.2015, BR-Drucks. 22/15, S. 12. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2014) v. 23.1.2015, BR-Drucks. 22/15, S. 12.

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§ 10

Aktien und Zwischenscheine

§ 11 (siehe hierzu auch § 11 Rz. 16).9) Allerdings ist nur bei Namensaktien eine Haftung des im Aktienregister verzeichneten Vormanns gemäß § 65, eine Vinkulierung gemäß § 68 Abs. 2, eine Nebenleistungspflicht gemäß § 55 oder ein Entsenderecht in den Aufsichtsrat gemäß § 101 Abs. 2 Satz 2 möglich.10) II.

Namensaktien

3 Die Namensaktie ist (geborenes) Orderpapier, weist eine bestimmte Person als berechtigt aus und ermöglicht auf diese Weise die Eintragung dieser Person in das Aktienregister nach § 67 Abs. 1.11) Gegenüber Dritten legitimiert die verbriefte Namensaktie denjenigen als Inhaber des mitgliedschaftlichen Rechts, der in der Urkunde als Aktionär oder durch eine ununterbrochene Kette von Vollindossamenten (einschließlich Blankoindossamenten) als ausgewiesener Indossatar benannt ist, vgl. § 68 Abs. 1 i. V. m. Art. 16 Abs. 1 WG (zur Übertragung mittels Indossament siehe unten Rz. 28); Lücken in der Indossamentenkette können auch durch anderweitigen Nachweis des Rechtsübergangs, z. B. bei Abtretung oder Gesamtrechtsnachfolge geschlossen werden.12) Gegenüber der AG erfolgt die Legitimation hingegen ausschließlich durch ordnungsgemäße Eintragung in das Aktienregister gemäß § 67 Abs. 2, wodurch die unwiderlegliche Vermutung begründet wird, dass die eingetragene Person Aktionär ist.13) Nur blankoindossierte Namensaktien sind börsenund girosammelverwahrfähig (zur Girosammelverwahrung siehe Rz. 30).14) III.

Inhaberaktien

4 Inhaberaktien sind Inhaberpapiere i. S. von §§ 793 ff. BGB analog und verbriefen Mitgliedschaftsrechte, ohne den Berechtigten namentlich zu nennen.15) Eine Eintragung in das Aktienregister ist nicht vorgesehen, vgl. § 67 Abs. 1 Satz 1. Gegenüber Dritten und gegenüber der AG legitimiert die verbriefte Inhaberaktie ihren unmittelbaren Besitzer bzw. im Falle des mittelbaren Besitzes ihren mittelbaren Besitzer gemäß § 1006 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 BGB als Inhaber des verbrieften Rechts; diese widerlegliche Vermutung wirkt gemäß § 1006 Abs. 1 Satz 2 BGB auch gegen einen früheren Besitzer, dem die Aktienurkunde gestohlen wurde, verloren gegangen oder sonst abhanden gekommen ist.16) Inhaberaktien sind stets börsen- und girosammelverwahrfähig (zur Girosammelverwahrung siehe Rz. 30).17) IV.

Eingeschränkte Wahlfreiheit aufgrund § 10 Abs. 1

5 Während § 10 Abs. 1 a. F. grundsätzlich freie Wahl zwischen Namens- und Inhaberaktien gestattete, sieht § 10 Abs. 1 n. F. die Namensaktie als Regelfall vor. Angesichts dieses Kurswechsels musste § 24 a. F. gestrichen werden.18)

_____________ 9) 10) 11) 12) 13) 14) 15) 16) 17) 18)

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Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 10; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 11 Rz. 7. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 13. Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 10 Rz. 29 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 10 Rz. 4. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 10 Rz. 10. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 12 ff.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 10 Rz. 11. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 9; Spindler/Stilz-Cahn, AktG, § 68 Rz. 6; Franz, Überregionale Effektentransaktionen und anwendbares Recht, S. 51 f. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 7; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 10 Rz. 4. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 10 Rz. 7; Heider in: MünchKomm-AktG, § 10 Rz. 37. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 8; Spindler/Stilz-Cahn, AktG, § 68 Rz. 6. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 24 Rz. 1.

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§ 10

Aktien und Zwischenscheine 1.

Börsennotierte AGs

Für eine börsennotierte AG soll es weiterhin bei der freien Wahl zwischen Namens- und 6 Inhaberaktien bleiben, vgl. § 10 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1. Die hier geltenden Regularien des Wertpapierhandelsgesetzes, nach dessen § 33 WpHG Mitteilungspflichten über die Beteiligung an einer AG bereits bei Erreichen, Überschreiten oder Unterschreiten von 3 % der Stimmrechte an einer börsennotierten Gesellschaft bestehen, werden in Kombination mit den Rechtsfolgen (nachlaufenden Rechtsverlust trotz nachgeholter Mitteilungspflicht gemäß § 44 Abs. 1 Satz 3 WpHG bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung) als hinreichende Absicherung der Transparenz angesehen.19) 2.

Nicht börsennotierte AGs

Im Gegensatz zu § 33 WpHG sieht § 20 AktG für nicht börsennotierte Gesellschaften 7 Mitteilungspflichten erst ab einer Beteiligungsquote von 25 % sowie weniger einschneidende Rechtsfolgen vor, vgl. hierzu § 20 Rz. 30 ff. Aktien einer nicht börsennotierten AG sollen zukünftig nur noch dann auf den Inhaber 8 lauten können, wenn der Anspruch auf Einzelverbriefung ausgeschlossen und die ausgegebene(n) Sammelurkunde(n) (§ 9a DepotG) bei einer Wertpapiersammelbank (§ 1 Abs. 3 Satz 1 DepotG), einem zugelassenen Zentralverwahrer oder einem anerkannten Drittland-Zentralverwahrer gemäß der Verordnung (EU) Nr. 909/201420) oder einem qualifizierten ausländischen Verwahrer (§ 5 Abs. 4 Satz 1 DepotG) hinterlegt werden, vgl. § 10 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. a – c (sog. Dauer-Globalurkunde, siehe Rz. 24). Solange eine Hinterlegung nach diesen Vorgaben (noch) nicht erfolgt ist, soll § 67 AktG gelten und hat die AG ein entsprechendes Aktienregister zu führen, vgl. § 10 Abs. 1 Satz 3. Der Gesetzgeber signalisiert auf diese Weise, dass Namensaktien bei der nicht börsenno- 9 tierten AG zumindest bevorzugt werden und sieht vor dem Hintergrund der geplanten Neuregelungen auch für die Alternative der nunmehr eingeschränkt zugänglichen Inhaberaktien die eingeforderte Transparenz gewährleistet.21) Denn die gesetzlich verbindliche Girosammelverwahrung gewährleiste aufgrund der nachvollziehbaren Verwahrkette stets eine hinreichende Ermittlungsspur, um den Aktionär identifizieren zu können und einem Verdacht auf kriminelles Handeln nachgehen zu können.22) Die Literatur äußert sich insbesondere mit Blick auf die weiterhin bestehenden Umgehungsmöglichkeiten (Eintragungen von Legitimationsaktionären und Treuhandverhältnissen) und mangels Öffentlichkeit der Angaben hingegen kritisch zu der Frage, ob das Aktienregister in § 67 AktG bzw. die Neuregelungen in § 10 tatsächlich die gewünschte Erhöhung der Beteiligungstransparenz gewährleisten können.23)

_____________ 19) Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2014) v. 23.1.2015, BR-Drucks. 22/15, S. 13; Nikoleyczik, GWR 2010, 594, 596. 20) Verordnung (EU) Nr. 909/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.7.2014 zur Verbesserung der Wertpapierlieferungen und -abrechnungen in der Europäischen Union und über Zentralverwahrer sowie zur Änderung der Richtlinien 98/26/EG und 2014/65/EU und der Verordnung (EU) Nr. 236/2012, ABl. (EU) L 257/1 v. 28.8.2014. 21) Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2014) v. 23.1.2015, BR-Drucks. 22/15, S. 13. 22) Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2014) v. 23.1.2015, BR-Drucks. 22/15, S. 13. 23) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 10 Rz. 6; Diekmann/Nolting, NZG 2011, 6; Nikoleyczik, GWR 2010, 594, 596 f.; Bungert/Wettich, ZIP 2012, 297, 298.

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§ 10 3.

Aktien und Zwischenscheine Übergangsvorschriften

10 § 26h Abs. 1 EGAktG soll nicht börsennotierten Gesellschaften, deren Satzung vor dem 31.12.2015 durch notarielle Beurkundung festgestellt wurde, einen umfassenden Bestandsschutz gewähren. Für diese (Vor-)Gesellschaften soll die Regelung in § 10 der früheren Fassung weiterhin zeitlich unbeschränkt Anwendung finden, auch bei Kapitalerhöhungen oder im Falle des Delisting.24) Der Bestandsschutz endet, wenn erstmals Inhaberaktien ausgegeben werden.25) 4.

Rechtsfolgen bei Verstößen

11 Bestimmt die Satzung einer neu gegründeten nicht börsennotierten AG die Ausstellung von Inhaberaktien, ohne dass der Anspruch auf Einzelverbriefung statutarisch ausgeschlossen ist, soll diese Satzungsregelung nichtig sein und das Registergericht die Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister gemäß § 38 Abs. 4 Nr. 1 i. V. m. § 23 Abs. 3 Nr. 5 ablehnen.26) Wird dennoch eingetragen, kommt das Zwangsauflösungsverfahren gemäß § 399 FamFG in Betracht.27) Beschließt die Hauptversammlung, durch Satzungsänderung die bislang ausgestellten Namensaktien in Inhaberaktien umzuwandeln oder (bei neuen und nicht vom Bestandsschutz erfassten Altgesellschaften)28) das Grundkapital durch Ausgabe junger Inhaberaktien zu erhöhen, ohne dass der Anspruch auf Einzelverbriefung statutarisch ausgeschlossen ist, soll der Beschluss gemäß § 241 Nr. 3 Fall 3 nichtig sein, nicht in das Handelsregister eingetragen und ggf. gemäß § 249 gerichtlich als nichtig festgestellt werden können.29) 5.

Praxishinweis

12 In Anbetracht der Neuregelung in § 10 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 ist unabhängig von etwaigen Börsenplänen jeder im Anschluss an das Inkrafttreten der Neuregelungen neu zu gründenden AG sowie jeder AG, deren Satzung nach dem 31.12.2015 festgestellt wurde, der ggf. im Wege der Satzungsänderung durchzusetzende statutarische Ausschluss des Einzelverbriefungsanspruchs anzuraten. Ansonsten kann es zu Schwierigkeiten kommen, sei es in Folge der lückenhaften Übergangsregelung in § 26h Abs. 1 EGAktG, sei es in Folge eines zukünftigen Delisting einer AG mit Inhaberaktien.30) Ob es in der Praxis bei nicht börsennotierten Gesellschaften zu dem vom Gesetzgeber intendierten und angesichts der mit höheren Kosten verbundenen Girosammelverwahrung in der Literatur prognostizierten31) Rückgang der Inhaberaktien kommen wird, bleibt abzuwarten. V.

Eingeschränkte Wahlfreiheit außerhalb § 10 Abs. 1

13 Auch außerhalb von § 10 Abs. 1 ist die Wahlfreiheit zwischen Namens- und Inhaberaktien teilweise ausgeschlossen. _____________ 24) Ziemons, BB 2012, 523, 524; Götze/Arnold/Carl, NZG 2012, 321, 323. 25) Götze/Arnold/Carl, NZG 2012, 321, 323. 26) Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2014) v. 23.1.2015, BR-Drucks. 22/15, S. 15. 27) Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2014) v. 23.1.2015, BR-Drucks. 22/15, S. 15. 28) Ziemons, BB 2012, 523, 524. 29) Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2014) v. 23.1.2015, BR-Drucks. 22/15, S. 15. 30) Vgl. hierzu Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 10 AktG Rz. 11; Götze/Arnold/Carl, NZG 2012, 321, 323; Ziemons, BB 2012, 523, 524; Merkner/Schmidt-Bendun, DB 2012, 98, 99. 31) Götze/Arnold/Carl, NZG 2012, 321, 322; Bungert/Wettich, ZIP 2012, 297, 298.

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Alexander Franz

§ 10

Aktien und Zwischenscheine 1.

§ 10 Abs. 2

Aufgrund gesetzlicher Anordnung müssen Aktien auf Namen lauten, wenn sie vor der 14 vollen Leistung des Ausgabebetrags ausgegeben werden, vgl. § 10 Abs. 2 Satz 1. Diese Vorschrift bezweckt, dass sich die AG aufgrund der bei Namensaktien erforderlichen Eintragung in das Aktienregister gemäß § 67 Abs. 1 bis zur vollständigen Erfüllung der Einlagepflicht zu jeder Zeit Kenntnis über die Identität ihrer Einlageschuldner verschaffen kann.32) Die Angabe des Betrags der teilweise bereits geleisteten Einlage gemäß § 10 Abs. 2 Satz 2 ist erforderlich, um bei wertpapiermäßiger Übertragung der Aktie den guten Glauben des Erwerbers an die Volleinzahlung der Aktie auszuschließen (zur Übertragung verbriefter Aktien und zur Möglichkeit des gutgläubigen Erwerbs siehe unten Rz. 27 ff.).33) 2.

Sondernormen

Ebenso sehen einige spezialgesetzliche Sondernormen einen Zwang zur Ausgabe von 15 (meist vinkulierten) Namensaktien vor.34) Dies gilt z. B. für Wirtschaftsprüfer-, Steuerberater- sowie Rechtsanwalts-Aktiengesellschaften (vgl. § 28 Abs. 5 Satz 1, § 130 Abs. 2 WPO, § 50 Abs. 5 Satz 1 StBerG, § 59m Abs. 1 BRAO) und je nach Landesrecht teilweise auch für Architekten- und Ingenieur-Aktiengesellschaften. Ähnliches gilt für inländische, börsennotierte Luftfahrtunternehmen gemäß §§ 1 – 3 LuftNaSiG sowie für private Rundfunkveranstalter gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 6 und 7, § 29 des Staatsvertrags für Rundfunk und Telemedien (RStV) vom 31.8.1991 in der Fassung vom 1.4.2010. Bei der Investmentaktiengesellschaft müssen die sog. Unternehmensaktien auf Namen lauten, vgl. § 109 Abs. 2 KAGB. Einen gesetzlichen Zwang zur Inhaberaktie ordnet bislang nur § 1 Abs. 3 des VW-Gesetzes an. 3.

Rechtsfolgen bei Verstößen

Bei Verstößen gegen § 10 Abs. 2 Satz 1 oder Satz 2 entsteht gleichwohl eine gültige wert- 16 papiermäßige Verbriefung.35) Vorstand und Aufsichtsrat machen sich mit der Aktienausgabe allerdings gemäß §§ 93 Abs. 3 Nr. 4, 116 schadensersatzpflichtig und begehen nach § 405 Abs. 1 Nr. 1 eine bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeit. Verstöße gegen spezialgesetzliche Sondernormen bleiben den jeweiligen Spezialgesetzen vorbehalten und haben ggf. regulatorische Konsequenzen, die zur Gefährdung der Zulassung der Unternehmenstätigkeit führen können. VI.

Zwischenscheine

Zwischenscheine i. S. von § 8 Abs. 6 müssen gemäß § 10 Abs. 3 auf den Namen lauten. 17 Da es sich bei diesen ebenso wie bei Namensaktien, wertpapierrechtlich um Orderpapiere handelt, richten sich Legitimations- und Rechtsscheinwirkung nach den für die Namensaktie geltenden Grundsätzen (siehe hierzu Rz. 3).36) Im Gegensatz zu den vor vollständiger Erbringung der Einlageleistung ausgegebenen Namensaktien bedarf es bei den ebenfalls regelmäßig für teileingezahlte Aktien ausgegebenen Zwischenscheinen keiner Angabe der Teilleistung i. S. von § 10 Abs. 2 Satz 2, da ein gutgläubiger Erwerb von Zwischenscheinen generell nicht zugelassen wird.37) Gemäß § 10 Abs. 4 Satz 1 sind auf den Inhaber lautende Zwischenscheine nichtig, die betroffenen Mitgliedschaftsrechte nicht wirk_____________ 32) 33) 34) 35) 36) 37)

K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 10 Rz. 15; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 10 Rz. 18. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 10 Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 10 Rz. 15. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 23 ff. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 10 Rz. 9. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 10 Rz. 18. Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 10 Rz. 39.

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§ 10

Aktien und Zwischenscheine

sam verbrieft und nach wie vor unverkörpert.38) Hinsichtlich der gesamtschuldnerischen Haftung in § 10 Abs. 4 Satz 2 kann auf die entsprechenden Ausführungen zu § 8 Abs. 2 verwiesen werden (siehe hierzu § 8 Rz. 16). Zur eigenständigen Bedeutung der Zwischenscheine für die Praxis siehe Rz. 20. VII. Verbriefung 1.

Bedeutung, Durchführung

18 Die Aktie als aktienrechtliches Mitgliedschaftsrecht entsteht konstitutiv mit Eintragung der AG bzw. der entsprechend durchgeführten Kapitalmaßnahme in das Handelsregister, nicht erst im Zeitpunkt ihrer Verbriefung, der somit lediglich deklaratorische Bedeutung zukommt.39) Diese Unterscheidung ist elementar, um zu verstehen, dass die rechtswirksame Begründung von Inhaber- bzw. Namensaktien unabhängig davon erfolgt, ob diese Mitgliedschaft sodann in einem zweiten Schritt verbrieft wird oder nicht. Die Mitgliedschaft entsteht selbst dann unabhängig von einer Verbriefung, wenn die Verbriefung in der Satzung vorgeschrieben ist.40) Ein Zwang zur Verbriefung besteht nach überwiegender Auffassung nur bei Aktienausgabe im Zusammenhang mit einer bedingten Kapitalerhöhung nach §§ 199 f.41) Neben der Ausstellung einer formgerecht angefertigten und vom Vorstand gemäß § 13 zu unterzeichnenden Aktienurkunde erfordert die Verbriefung zusätzlich den Abschluss eines sog. Begebungsvertrags zwischen der AG und dem jeweiligen Aktionär.42) Die ordnungsgemäße Verbriefung hat zur Folge, dass über die Aktie wertpapiermäßig verfügt werden kann, wodurch insbesondere ein gutgläubiger Erwerb möglich wird.43) Im Rahmen der Kapitalmarktentwicklungen nahm der Funktionsverlust der Aktienurkunde insbesondere bei börsennotierten AGs immer weiter zu, allerdings bislang ohne dass der Gesetzgeber vollständig auf eine Verbriefung verzichten und zum reinen Wertrecht übergehen wollte.44) Es bleibt abzuwarten, ob eine Erweiterung des Anwendungsbereichs des Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren vom 3.6.2021 auf Aktien erfolgt.45) 2.

Arten

19 Aktien können in Einzel- oder Sammel- bzw. Globalurkunden verbrieft werden.46) Während im Fall von Einzelurkunden jede einzelne Aktie noch in einer eigenen Urkunde verbrieft wird, werden im Fall von Sammelurkunden, die auch Globalurkunden genannt werden, mehrere gleichartige Aktien (meist hundert oder tausend Aktien) zusammen in einer Urkunde verbrieft, vgl. § 9a Abs. 1 DepotG.47) Die sog. Dauer-Globalurkunde ist eine Sonderform der Sammel- bzw. Globalurkunde, bei der gemäß § 9a Abs. 3 Satz 2 DepotG _____________ 38) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 10 Rz. 19. 39) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 10 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 10 Rz. 20; Heider in: MünchKomm-AktG, § 10 Rz. 5, 8. 40) Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 10 Rz. 20. 41) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 28; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 10 Rz. 20. 42) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 10 Rz. 21; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 10 Rz. 34. 43) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 10 Rz. 22; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 10 Rz. 29. 44) Bericht und Beschlussempfehlung d. RA, BT-Drucks. 13/10038, S. 25; Scherer-Scherer, DepotG, Vor § 1 Rz. 9 ff.; Scherer-Scherer/Martin, DepotG, § 9a Rz. 19 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 10 Rz. 3a; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 83; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, AktG, § 10 Rz. 12. 45) S. hierzu Vatter in: BeckOGK-AktR, § 10 AktG Rz. 39; Wieneke/Kunz, NZG 2021, 316, 317. 46) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 34 ff.; vgl. zur Ausgestaltung der verschiedenen Urkunden auch die Muster bei Happ/Groß-Schäfer, AktienR, S. 535 ff. 47) Scherer-Scherer/Martin, DepotG, § 9a Rz. 3 ff.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 10 Rz. 23; Franz, Überregionale Effektentransaktionen und anwendbares Recht, S. 52 ff.

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Aktien und Zwischenscheine

der einzelne Aktionär weder die Ausstellung noch die Auslieferung einzelner verbriefter Aktien verlangen kann. Angesichts des mit der Dauer-Globalurkunde erzielten größtmöglichen Rationalisierungseffekts und der damit verbundenen Kosteneinsparung ist diese Form der Verbriefung sehr praxisfreundlich und wird heute von den meisten börsennotierten AGs genutzt.48) Liegen unterschiedliche Aktiengattungen i. S. von § 11 vor, ist für jede Gattung eine eigene Dauer-Globalurkunde erforderlich.49) 3.

Ausgabe der Urkunden

Die Ausgabe von Aktien oder Zwischenscheinen ist erst nach Eintragung der Gründung 20 bzw. Kapitalerhöhung in das Handelsregister zulässig, zuvor ausgegebene Aktien oder Zwischenscheine sind ebenso wie der zugrunde liegende Begebungsvertrag nichtig, vgl. § 41 Abs. 4 Satz 1 und 2 bzw. § 191. Zwischen Handelsregistereintragung und vollständiger Leistung des Ausgabebetrags können unter Beachtung von § 10 Abs. 2 bzw. Abs. 3 lediglich Namensaktien oder auf den Namen lautende Zwischenscheine ausgegeben werden.50) Die Ausgabe von Zwischenscheinen in diesem Zeitraum hat insbesondere für den Fall Bedeutung, dass die Satzung ausschließlich eine Ausgabe von Inhaberaktien vorsieht, welche gemäß eines Umkehrschlusses aus § 10 Abs. 2 erst nach vollständiger Leistung des Ausgabebetrags ausgegeben werden dürfen.51) Eine Geltung der Beschränkung in § 10 Abs. 2 bei noch nicht vollständig erbrachten Sacheinlagen ist umstritten.52) Da eine dem § 10 Abs. 4 entsprechende Regelung in § 10 Abs. 2 fehlt, können Verstöße 21 gegen Absatz 2 Satz 1 und 2 nicht zur Nichtigkeit führen, so dass die Mitgliedschaft trotz eines Verstoßes wirksam entstehen kann und sich die Sanktionen auf §§ 93 Abs. 3 Nr. 4, 166, 405 Abs. 1 Nr. 1 beschränken.53) 4.

Verwahrung der Urkunden

Während Aktienurkunden meist nur noch bei nicht börsennotierten AGs von den ein- 22 zelnen Aktionären oder der AG aufbewahrt werden, bedienen sich börsennotierte AGs heute weit überwiegend der zentralen Verwahrung ihrer Aktienurkunden durch eine Wertpapiersammelbank (in Deutschland: Clearstream Banking AG) sog. Girosammelverwahrung.54) Die für die Girosammelverwahrfähigkeit von § 5 Abs. 1 Satz 1 DepotG vorausgesetzte Vertretbarkeit der Aktien i. S. von § 91 BGB ist bei Inhaberaktien stets, bei Namensaktien hingegen nur dann gegeben, wenn diese blankoindossiert sind.55) VIII. Anspruch auf Verbriefung Da das Gesetz in § 10 Abs. 5 einen solchen voraussetzt, ist die grundsätzliche Existenz 23 eines jedem Aktionär zustehenden Anspruchs auf Verbriefung allgemein anerkannt.56) Dieser _____________ 48) Vgl. ausführlich hierzu Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 41; Noack/Zetsche, AG 2002, 651, 653; s. hierzu auch Bayer/Hoffmann, AG-Report 2007, R 439 ff. 49) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 43; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 10 Rz. 11. 50) Heider in: MünchKomm-AktG, § 10 Rz. 50. 51) Heider in: MünchKomm-AktG, § 8 Rz. 100. 52) Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 10 Rz. 41; Heider in: MünchKomm-AktG, § 10 Rz. 52 jeweils m. w. N. 53) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 10 Rz. 9; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 10 Rz. 38. 54) Scherer-Rögner, DepotG, § 5 Rz. 16 ff.; Scherer-Scherer/Martin, DepotG, § 9a Rz. 21 ff.; Spindler/ Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 34 f.; Einsele in: MünchKomm-HGB, Depotgeschäft Rz. 50; Franz, Überregionale Effektentransaktionen und anwendbares Recht, S. 50 ff. 55) Scherer-Rögner, DepotG, § 5 Rz. 9 ff.; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 37; Spindler/Stilz-Cahn, AktG, § 68 Rz. 10; Franz, Überregionale Effektentransaktionen und anwendbares Recht, S. 51 f. 56) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 10 Rz. 3; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 29.

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Anspruch entsteht nach überwiegender Ansicht nicht erst im Zeitpunkt der vollständigen Erbringung der Einlageleistung, sondern bereits im Zeitpunkt der Entstehung der Mitgliedschaft durch Handelsregistereintragung.57) 24 § 10 Abs. 5 eröffnet die Möglichkeit, den mitgliedschaftlichen Anspruch des Aktionärs auf Verbriefung seines Anteils in der Satzung einzuschränken oder vollständig auszuschließen, wobei der Gleichbehandlungsgrundsatz (§ 53a) zu beachten ist.58) Von dieser Möglichkeit wird insbesondere aus Kostengründen häufig Gebrauch gemacht.59) Umstritten ist, ob trotz § 10 Abs. 5 zumindest ein satzungsfester Anspruch jedes Aktionärs auf Verbriefung sämtlicher Aktien – also auch derjenigen, die nicht ihm gehören – in einer Dauer-Globalurkunde i. S. des § 9a Abs. 3 Satz 2 DepotG erhalten bleibt. Die h. M. bejaht dies überzeugend.60) Das Ergebnis lässt sich durchaus mit dem Wortlaut des § 10 Abs. 5 begründen: Da der Anspruch auf Verbriefung des Aktionärs im Grundsatz anerkannt ist, kann dieser gemäß § 10 Abs. 5 nur insoweit statutarisch ausgeschlossen oder eingeschränkt werden, als es um die Verbriefung „seines“ Anteils geht, so dass ein Anspruch auf Verbriefung „sämtlicher“ Anteile in Form einer Dauer-Globalurkunde erhalten bleiben muss.61) Nur bei Erhaltung dieses Anspruchs kann ein veräußerungswilliger Aktionär die Voraussetzungen für einen eventuellen gutgläubigen Erwerb schaffen, der insbesondere bei unverbrieften Aktien für potentielle Erwerber wichtig sein kann (siehe hierzu auch Rz. 31).62) Darüber hinaus hat der Gesetzgeber einen Übergang zu reinen Wertrechten bei Aktien und den damit verbundenen Ausschluss eines Anspruchs auf jegliche Verbriefung bislang nicht gewollt.63) Ebenfalls umstritten ist, mit welcher Mehrheit der Anspruch auf (Einzel-)Verbriefung nachträglich ausgeschlossen werden kann. Die überwiegende Auffassung geht davon aus, dass ein solcher Ausschluss mit der Mehrheit des § 179 Abs. 2 und somit ohne Zustimmung jedes einzelnen Aktionärs durchgeführt werden kann.64) Für die REIT-AG ist der Anspruch der Aktionäre auf Verbriefung bereits aufgrund spezialgesetzlicher Anordnung in § 5 Abs. 2 REITG ausgeschlossen. IX.

Übertragung der Aktien65)

25 Im deutschen Aktienrecht gilt mit Ausnahme von vinkulierten Namensaktien gemäß § 68 Abs. 2 der Grundsatz der freien Übertragbarkeit der Aktien.66) Aktien können entweder als mitgliedschaftliches Recht oder, im Falle ihrer Verbriefung, als Urkunde und somit als _____________ 57) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 10 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 10 Rz. 37; Heider in: MünchKomm-AktG, § 10 Rz. 15; a. A. RG, Urt. v. 3.4.1912 – I 178/11, RGZ 79, 174, 175 f. 58) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 10 Rz. 12; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 10 Rz. 38. 59) S. hierzu Bayer/Hoffmann, AG-Report 2007, R 439 ff. 60) OLG München, Urt. v. 4.5.2005 – 23 U 5121/04, ZIP 2005, 1070, 1071, dazu EWiR 2005, 525 (Bayer/ Lieder); Scherer-Scherer/Martin, DepotG, § 9a Rz. 16; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 10 Rz. 12; DaunerLieb in: KölnKomm-AktG, § 10 Rz. 12; Heider in: MünchKomm-AktG, § 10 Rz. 60; Henssler/StrohnLange, GesR, § 10 AktG Rz. 9; Hölters-Solveen, AktG, § 10 Rz. 20; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 83, der eine Differenzierung zwischen börsennotierten und nicht börsennotierten Aktie diskutiert; a. A. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 10 Rz. 39. 61) So im Ergebnis auch Heider in: MünchKomm-AktG, § 10 Rz. 60. 62) Vgl. auch Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 20 Rz. 83. 63) S. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 10 Rz. 9; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 10 Rz. 38; s. hierzu aber auch Rz. 18 a. E. 64) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 80; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 10 Rz. 34; Seibert, DB 1999, 267, 268; kritisch: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 10 Rz. 14; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 10 Rz. 13. 65) Zur Bestellung von beschränkt dinglichen Rechten an Aktien s. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 66 ff. 66) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 49.

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Aktien und Zwischenscheine

Sache übertragen werden.67) Für den Erwerber ist eine möglichst rechtssichere Gestaltung des jeweiligen Übertragungsvorgangs entscheidend, wobei die Ausnutzung der Möglichkeit des gutgläubigen Erwerbs und die Beachtung des sachenrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes im Vordergrund stehen sollten.68) 1.

Unverbriefte Aktien

Die rechtsgeschäftliche Übertragung kann nur nach allgemeinen zivilrechtlichen Grund- 26 sätzen gemäß §§ 413, 398 ff. BGB erfolgen (siehe auch § 68).69) Das einzige gesetzliche Verfügungsverbot des AktG enthält § 41 Abs. 4 Satz 1 für das Stadium der Vor-AG.70) Die Satzung der AG kann die Übertragung durch Abtretung der unverbrieften Mitgliedschaft weder ausschließen noch einschränken.71) Eine Ausnahme hiervon besteht nur, wenn nach § 23 Abs. 3 Nr. 5 die Ausgabe von Namensaktien vorgesehen ist, gemäß der in § 68 Abs. 2 Satz 1 vorgesehenen Vinkulierungsmöglichkeit die Übertragung der Aktien an die Zustimmung der AG gebunden ist und die Aktienurkunden noch nicht ausgegeben sind.72) Die Abtretung umfasst das Mitgliedschaftsrecht als solches inklusive sämtlicher unselbständiger Nebenrechte, z. B. des Gewinnbezugsrechts, während bereits beschlossene Dividenden und konkret entstandene Bezugsrechte über §§ 413, 398 ff. BGB gesondert übertragen werden müssen; die Beachtung des sachenrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes erfordert eine genaue Bezeichnung der abzutretenden Aktien im jeweiligen Abtretungsvertrag.73) Ein gutgläubiger Erwerb unverbriefter Aktien ist nicht möglich.74) 2.

Verbriefte Aktien

Ein gewichtiger Grund für die Verbriefung der aktienrechtlichen Mitgliedschaft ist die 27 Ermöglichung einer Übertragung der Urkunde nach sachen- bzw. wertpapierrechtlichen Grundsätzen einschließlich des gutgläubigen Erwerbs.75) Alternativ bleibt auch für verbriefte Aktien die Möglichkeit der zivilrechtlichen Abtretung gemäß §§ 413, 398 ff. i. V. m. § 952 Abs. 2 BGB erhalten, was für Namensaktien durch das Wort „auch“ in § 68 Abs. 1 klargestellt wird (siehe auch § 68).76) Der Erwerber kann in diesem Fall die Herausgabe der Urkunde nach §§ 402, 952 Abs. 2, 985 BGB verlangen,77) ein gutgläubiger Erwerb scheidet in diesen Fällen allerdings aus.78) a)

Namensaktien

Gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 kann die Namensaktie durch sog. Indossament übertragen wer- 28 den, wofür § 68 Abs. 1 Satz 2 die sinngemäße Anwendung des Wechselrechts, insbeson_____________ 67) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 50. 68) Ausführlich zur Übertragung von Aktien in der Praxis: Wiesner in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 14; Iversen, AG 2008, 736 ff.; Mirow, NZG 2008, 52 ff. 69) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 52; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 10 Rz. 27. 70) Wiesner in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 14 Rz. 2. 71) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 68 Rz. 32 m. w. N. 72) OLG Celle, Urt. v. 24.11.2004 – 9 U 119/04, AG 2005, 438 f.; Wiesner in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 14 Rz. 2. 73) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 10 Rz. 27. 74) BGH, Urt. v. 5.4.1993 – II ZR 195/91, NJW 1993, 1983, 1987 = ZIP 1993, 667; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 52. 75) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 54. 76) Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 10 Rz. 32; Bayer in: MünchKomm-AktG § 68 Rz. 1. 77) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 53. 78) Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 10 Rz. 32.

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dere der §§ 12, 13 und 16 WG anordnet.79) Der gutgläubige Erwerb richtet sich nach § 16 WG. Die h. M. fordert neben dem Indossament zusätzlich die Übereignung der Urkunde nach den Vorschriften der §§ 929 ff. BGB (Einzelheiten bei § 68).80) Bei vinkulierten Namensaktien ist zusätzlich die Zustimmung der AG erforderlich, vgl. § 68 Abs. 2 Satz 1. Blankoindossierte Namensaktien können in sinngemäßer Anwendung des Art. 14 Abs. 2 Nr. 3 WG durch bloße Übereignung der Aktienurkunde nach §§ 929 ff. BGB übertragen werden.81) b)

Inhaberaktien

29 Die sachenrechtliche Übertragung bei Inhaberaktien erfolgt durch Übereignung der Aktienurkunde nach sachenrechtlichen Grundsätzen gemäß §§ 929 ff. BGB, wozu Einigung und Besitzübergabe bzw. Besitzübergabesurrogat erforderlich sind.82) Der gutgläubige Erwerb richtet sich hier nach §§ 932 ff. BGB.83) c)

Girosammelverwahrte Aktien

30 Bei girosammelverwahrten Aktien haben die Aktionäre Miteigentum nach Bruchteil an den zum Sammelbestand des Verwahrers gehörenden Wertpapieren derselben Art, vgl. § 6 Abs. 1 DepotG. Sind die Aktien in Einzel- oder Sammelurkunden verbrieft, bezieht sich die Einigung auf den Übergang des Eigentums am jeweiligen Bruchteil des Sammelbestandes und die Übergabe wird durch die Abtretung des Herausgabeanspruchs ersetzt, vgl. §§ 7, 8 DepotG.84) Da bei Dauer-Globalurkunden der Herausgabeanspruch gemäß § 9a Abs. 3 Satz 2 DepotG ausgeschlossen ist, wird in diesem Fall die Übergabe durch die Umstellung des Besitzmittlungsverhältnisses gemäß Ziff. 8 AGB der Clearstream Banking AG ersetzt.85) Faktisch stellt sich die Übertragung als eine entsprechende Umbuchung bei der jeweiligen Wertpapiersammelbank dar.86) Ob die Umbuchung bei girosammelverwahrten Aktien einen für den Gutglaubensschutz erforderlichen Rechtsschein darstellt und somit ein gutgläubiger Erwerb auch bei girosammelverwahrten Aktien möglich ist, ist umstritten, wird von der h. M. jedoch befürwortet.87) d)

Praxishinweis

31 Der für die Praxis sicherste Weg ist häufig die Übertragung der Urkunde nach sachenbzw. wertpapierrechtlichen Grundsätzen und die hilfsweise Übertragung des mitgliedschaftlichen Rechts nach §§ 413, 398 ff. BGB i. V. m. § 952 Abs. 2 BGB.88) Insbesondere bei fehlenden Nachweisen in der Erwerberkette seit Gründung der AG ist ein potentieller Erwerber unverbriefter Aktien im Hinblick auf die Möglichkeit des gutgläubigen Erwerbs gut beraten, vom Veräußerer eine entsprechende Verbriefung rechtzeitig vor Vollzug der dinglichen Übertragung zu verlangen. _____________ 79) 80) 81) 82) 83) 84) 85) 86) 87)

88)

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Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 56. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 68 Rz. 4; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 56. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 68 Rz. 5; Hölters-Solveen, AktG, § 10 Rz. 14. K. Schmidt, GesR, § 26 IV. 1. b), S. 277; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 55. Iversen, AG 2008, 736, 739; Mirow, NZG 2008, 52, 53. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 10 Rz. 31; vgl. ausführlich hierzu Einsele in: MünchKommHGB, Depotgeschäft Rz. 95 ff.; Scherer-Rögner, DepotG, § 5 Rz. 72 ff. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 10 Rz. 31; vgl. ausführlich hierzu Einsele in: MünchKommHGB, Depotgeschäft Rz. 95 ff. Einsele in: MünchKomm-HGB, Depotgeschäft Rz. 51. Scherer-Scherer/Martin, DepotG, § 9a Rz. 29; Scherer-Rögner, DepotG, § 5 Rz. 70, § 6 Rz. 7; Spindler/ Stilz-Vatter, AktG, § 10 Rz. 65 m. w. N.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 10 Rz. 32; a. A. Einsele in: MünchKomm-HGB, Depotgeschäft Rz. 111 ff. Iversen, AG 2008, 736, 738.

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§ 11

Aktien besonderer Gattung

§ 11 Aktien besonderer Gattung Alexander Franz

1

Die Aktien können verschiedene Rechte gewähren, namentlich bei der Verteilung des Gewinns und des Gesellschaftsvermögens. 2Aktien mit gleichen Rechten bilden eine Gattung. Literatur: Bayer/Hoffmann, Ausgestaltung von Vorzugsaktien mit Stimmrecht in der Praxis, AG-Report 2010, R 235; Bayer/Hoffmann, Vorzugsaktien mit Stimmrecht als Aktiengattung, AGReport 2010, R 207; Bayer/Hoffmann, Gemeinnützige Aktiengesellschaften, AG-Report 2007, R 347; Brehm, Das Venture-Capital-Vertragswerk, 2011; Erhart/Riedel, Disproportionale Gewinnausschüttungen bei Kapitalgesellschaften – gesellschafts- und steuerrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten, BB 2008, 2266; Loges/Distler, Gestaltungsmöglichkeiten durch Aktiengattungen, ZIP 2002, 467; Sethe, Aktien ohne Vermögensbeteiligung, ZHR 162 (1998) 474; Sieger/Hasselbach, „Tracking-Stock“ im deutschen Aktien- und Kapitalmarktrecht, AG 2001, 391; Zirngibl/Kupsch, Erlöspräferenzen für Venture Capital-Investoren – ein neuer Gestaltungsvorschlag für Gesellschaftervereinbarungen, BB 2011, 579.

Übersicht I. Bedeutung der Norm ........................ 1 II. Verhältnis zu § 53a ............................ 4 III. Aktiengattungen ............................... 5 1. Begriff ................................................. 5 2. Mitgliedschaftsrechte ......................... 6 a) Vermögensrechte ......................... 7 b) Verwaltungsrechte ..................... 11 I.

3. Pflichten ............................................ 4. Sonder- und Gläubigerrechte .......... IV. Keine Aktiengattungen .................. V. Entstehung der Gattungen ............ VI. Änderung der Gattungen .............. VII. Rechtsfolgen bei Verstößen .........................................

14 15 16 17 19 20

Bedeutung der Norm

§ 11 besagt, dass es trotz des in § 53a normierten Gleichbehandlungsgebots Aktien mit 1 verschiedenen Rechten (und Pflichten) geben kann und Aktien mit gleichen Rechten (bzw. Pflichten) jeweils eine Gattung bilden.1) Die geläufigste eigene Aktiengattung bilden die gesetzlich in §§ 139 ff., 12 Abs. 1 Satz 2 2 normierten stimmrechtlosen, aber mit Gewinnvorrechten ausgestatteten Vorzugsaktien. Da diese die Möglichkeit bieten, unter Erhaltung der Stimmrechtsmacht bestehender Stammaktien weiteres Eigenkapital aufzunehmen, ist diese Aktiengattung besonders interessant für Familienunternehmen.2) In der Praxis werden darüber hinaus eigene Aktiengattungen für folgende Konstellationen 3 diskutiert: Aktien ohne Vermögensbeteiligung bei der gemeinnützigen AG.3) Aktien, die insbesondere Venture Capital und Private Equity Investoren unter Erhaltung des Stimmrechts besondere Vorrechte einräumen (sog. Preferred Stock).4) Aktien, bei denen sich die Vermögensbeteiligung auf eine Sparte der AG beschränkt (sog. Spartenaktien oder Tracking Stocks).5) § 5 Abs. 1 REITG ordnet für die REIT-AG an, dass sämtliche _____________ 1) 2) 3) 4) 5)

Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 11 Rz. 1, 2, 7. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 2; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 11 Rz. 14; Wiesner in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 13 Rz. 7. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 2; Sethe, ZHR 162 (1998) 474 ff. am Bsp. der Fußball-AG. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 2; Loges/Distler, ZIP 2002, 467 ff.; Bayer/Hoffmann, AG-Report 2010, R 235 ff. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 2; Wiesner in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 13 Rz. 10 f.; Erhart/ Riedel, BB 2008, 2266 ff.; Sieger/Hasselbach, AG 2001, 391 ff.

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§ 11

Aktien besonderer Gattung

Aktien als stimmberechtigte Aktien gleicher Gattung begründet werden, so dass unterschiedliche Gattungen hier nicht denkbar sind. II.

Verhältnis zu § 53a

4 Während das in § 53a verankerte Gebot, Aktionäre unter gleichen Voraussetzungen gleichzubehandeln (Gleichbehandlungsgebot), an jegliches Verhalten der Gesellschaftsorgane unterhalb der Satzungsebene gerichtet ist, stellt § 11 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 3 Nr. 4 klar, dass mitgliedschaftliche Ansprüche und Befugnisse unterschiedlich ausgeprägt sein können, soweit hierfür eine entsprechende Grundlage in der Satzung geschaffen wurde.6) III.

Aktiengattungen

1.

Begriff

5 Aktien i. S. von § 11 Satz 1 meint Mitgliedschaften und neben den in § 11 Satz 2 explizit genannten gleichen (mitgliedschaftlichen) Rechten sind auch gleiche (mitgliedschaftliche) Pflichten gattungsbegründend.7) Eine eigene Gattung wird auch dann begründet, wenn nur eine einzige Aktie mit abweichenden Rechten und/oder Pflichten ausgestattet ist.8) 2.

Mitgliedschaftsrechte

6 Die in § 11 geregelten Mitgliedschaftsrechte lassen sich in Vermögens- und Verwaltungsrechte unterteilen.9) Diese Rechte unterliegen dem gesellschaftsrechtlichen Abspaltungsverbot des § 8 Abs. 5 und können im Gegensatz zu den nicht an die Mitgliedschaft gekoppelten, rein schuldrechtlichen Rechten einzelner Aktionäre (sog. Gläubigerrechte; siehe hierzu Rz. 15) nicht unabhängig von der Mitgliedschaft übertragen oder belastet werden.10) Neben den Gläubigerrechten sind die Mitgliedschaftsrechte auch von den Sonderrechten i. S. des § 35 BGB abzugrenzen (siehe hierzu Rz. 15), die jeweils losgelöst von § 11 zu betrachten sind. a)

Vermögensrechte

7 Zu den mitgliedschaftlichen Vermögensrechten zählen insbesondere jedem Aktionär grundsätzlich anteilig im Verhältnis zu seiner Beteiligung am Grundkapital zustehende Gewinnbeteiligungsrechte gemäß § 58 Abs. 4, Liquidationserlösbeteiligungsrechte gemäß § 271 und Bezugsrechte auf neue Aktien gemäß § 186.11) Sollte die Satzung eine nach § 60 Abs. 3 bzw. § 271 Abs. 2 i. V. m. § 23 Abs. 5 zulässige Abweichung vom Grundsatz der anteiligen Beteiligung am Gewinn bzw. am Liquidationserlös für bestimmte Aktien vorsehen, so begründet diese Abweichung eine eigene Aktiengattung i. S. von § 11.12) Da das mitgliedschaftliche Bezugsrecht durch entsprechende Satzungsregelung für bestimmte Aktien nicht generell, sondern nur im Zusammenhang mit einem konkreten Kapitalerhöhungsbeschluss und unter Beachtung der Anforderungen des § 186 Abs. 3 ganz oder teil_____________ 6) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 11 Rz. 2. 7) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 11 Rz. 7; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 3; K. Schmidt/LutterZiemons, AktG, § 11 Rz. 5; Wiesner in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 13 Rz. 9. 8) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 3; Heider in: MünchKomm-AktG, § 11 Rz. 29. 9) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 11 Rz. 19 f. 10) Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 11 Rz. 8. 11) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 11 Rz. 4. 12) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 9.

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Alexander Franz

§ 11

Aktien besonderer Gattung

weise ausgeschlossen werden kann, ist die Begründung einer Aktiengattung durch Differenzierungen im Bereich des Bezugsrechts nicht möglich.13) Die Schaffung einer insbesondere für die gemeinnützige AG diskutierten Aktiengattung 8 mit Stimmrecht aber ohne Vermögensbeteiligung ist für die Anerkennung der Gemeinnützigkeit bedeutsam und auch aktienrechtlich zulässig.14) Die am anglo-amerikanischen Vorbild des sog. Preferred Stock orientierten Vorrechte 9 sollen die i. R. einer Kapitalerhöhung neu auszugebenden Aktien im Hinblick auf die Vermögensbeteiligung (insbesondere in Form von Gewinn- bzw. Liquidations- oder Erlöspräferenzen),15) aber z. B. auch bzgl. des Verwässerungsschutzes, der Informations- und Entsenderechte sowie der Einflussnahme auf die Geschäftsleitung gegenüber den bisherigen Aktien privilegieren und werden häufig von Venture Capital und Private Equity Investoren eingefordert.16) Ein klassischer Fall stimmrechtloser Vorzugsaktien liegt grundsätzlich nicht vor, da der Investor in der Regel eine vermögensrechtliche Privilegierung unter Aufrechterhaltung seines Stimmrechts erhält. Insbesondere eine Gewinn- bzw. Liquidationspräferenz neu auszugebender Aktien führt zur Begründung einer eigenen Aktiengattung i. S. von § 11.17) Der Einsatz von sog. Spartenaktien oder Tracking Stocks, d. h. der Beschränkung von 10 Vermögensrechten auf z. B. bestimmte Geschäftsbereiche oder Tochtergesellschaften einer AG (= „Sparten“) stößt in der Praxis auf Schwierigkeiten im Hinblick auf die Möglichkeit einer korrespondierenden Beschränkung des Stimmrechts, die sich nur bei Schaffung stimmrechtsloser Vorzugsaktien vermeiden lassen.18) Die Ausgabe von Spartenaktien, deren Vermögensrechte von denjenigen anderer Aktien abweichen, sei es in Form von Stamm- oder in Form von Vorzugsaktien, stellt die Begründung einer eigenen Aktiengattung i. S. von § 11 dar.19) b)

Verwaltungsrechte

Zu den mitgliedschaftlichen Verwaltungsrechten zählen u. a. –

das Stimmrecht (§§ 12, 133 ff.),



das Recht auf Teilnahme an der Hauptversammlung (§ 118),

11



das Auskunftsrecht (§ 131),



das aktive Wahlrecht zum Aufsichtsrat (§ 101 Abs. 1) sowie



die verschiedenen Schutzrechte in Form der Klagerechte (§§ 147 f., 241 ff.) und der Minderheitenrechte (z. B. §§ 93 Abs. 4 Satz 3, 122, 142 Abs. 2, 147 Abs. 2 Satz 2, 148, 258 Abs. 2, 309 Abs. 3 Satz 1).20)

_____________ 13) 14) 15) 16) 17) 18) 19) 20)

Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 10. Sethe, ZHR 162 (1998) 474 ff.; Bayer/Hoffmann, AG-Report 2007, R 347 ff. Vgl. hierzu Zirngibl/Kupsch, BB 2011, 579 ff. S. hierzu Loges/Distler, ZIP 2002, 467 ff.; Bayer/Hoffmann, AG-Report 2010, R 207 f. und R 235 ff.; Brehm, Das Venture-Capital-Vertragswerk, S. 86 ff., 98 ff., 120 ff., 128 ff., 178 ff. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 8 f. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 2; eingehend hierzu: Wiesner in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 13 Rz. 10 f.; Sieger/Hasselbach, AG 2001, 391 ff. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 11 Rz. 9; Wiesner in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 13 Rz. 10. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 11 ff.

Alexander Franz

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§ 11

Aktien besonderer Gattung

12 Das Gesetz sieht bei den Verwaltungsrechten weit überwiegend keine von § 23 Abs. 5 geforderte Abweichungsmöglichkeit durch Satzungsregelung vor.21) Die einzigen beiden unstreitig zulässigen Ausnahmen hiervon bilden –

die stimmrechtslosen Vorzugsaktien gemäß §§ 139 ff. sowie



das Entsenderecht in den Aufsichtsrat gemäß § 101 Abs. 2.22)

13 Bei den stimmrechtslosen Vorzugsaktien wird der Stimmrechtsverlust durch einen Gewinnvorzug ausgeglichen, so dass diese Gattung sowohl durch rechtliche Vor- als auch durch rechtliche Nachteile geprägt ist.23) Mehrstimmrechte, bei denen bestimmte Aktien ihren Inhabern mehr Stimmen gewähren als der jeweiligen Beteiligungsquote am Grundkapital entspricht, sind gemäß § 12 Abs. 2 inzwischen unzulässig (siehe hierzu § 12 Rz. 1, 14). Zuvor geschaffene Mehrstimmaktien können aber über einen Beibehaltungsbeschluss gemäß § 5 Abs. 1 EGAktG auch heute noch fortbestehen und stellen eine eigene Gattung gemäß § 11 dar.24) Nach überwiegender Ansicht sind Höchststimmrechte nur im Fall der nicht börsennotierten AG i. S. von § 134 Abs. 1 Satz 2 nicht gattungsbegründend.25) Das Entsenderecht in den Aufsichtsrat ist aufgrund gesetzlicher Anordnung in § 101 Abs. 2 Satz 3 nicht gattungsbegründend. Während das in § 131 normierte Auskunftsrecht in der Hauptversammlung nach allgemeiner Auffassung nicht beschränkt werden kann, ist die Möglichkeit einer Erweiterung dieses Rechts (außerhalb der Hauptversammlung) umstritten und in der Praxis insbesondere bei Kapitalerhöhungen unter Beteiligung von Venture Capital und Private Equity Investoren als Bestandteil des Preferred Stock relevant.26) Eine Erweiterung der Berichtspflichten des Vorstands mit einer korrespondierenden Erweiterung der Auskunftsrechte der Aktionäre wird mit Blick auf § 23 Abs. 5 Satz 2 überwiegend als zulässig erachtet.27) 3.

Pflichten

14 Zu den gattungsbegründenden Pflichten zählen insbesondere die Nebenpflichten des § 55, während nach überwiegender Auffassung unterschiedlich hohe Einlagepflichten keine unterschiedlichen Gattungen begründen.28) Ob die statutarische Anordnung einer Zwangseinziehung für bestimmte Aktien i. S. von § 237 gattungsbegründend ist, ist umstritten.29) 4.

Sonder- und Gläubigerrechte

15 Sonderrechte sind Rechte i. S. des § 35 BGB, die ohne Zustimmung des jeweiligen Betroffenen nicht verändert werden dürfen, während bei § 11 die individuelle Zustimmung zur Erleichterung des Eingriffs durch ein kollektives Schutzrecht der Gattung ersetzt wird. Im Aktienrecht findet § 35 BGB grundsätzlich nur subsidiär zur spezialgesetzlichen Sonderregelung des § 11 Anwendung, z. B. im Hinblick auf das von § 11 explizit ausge_____________ 21) 22) 23) 24) 25) 26)

Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 11 Rz. 3. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 11 Rz. 3; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 13, 15. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 13. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 13. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 13. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 14 m. w. N.; Loges/Distler, ZIP 2002, 467, 469 f.; Bayer/Hoffmann, AG-Report, 2010, R 235 ff.; Brehm, Das Venture-Capital-Vertragswerk, S. 76 f. 27) Brehm, Das Venture-Capital-Vertragswerk, S. 76 m. w. N. 28) S. hierzu Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 16; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 11 Rz. 19 m. w. N. 29) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 17; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 11 Rz. 18 jeweils m. w. N.

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Alexander Franz

§ 11

Aktien besonderer Gattung

nommene Entsenderecht in den Aufsichtsrat nach § 101 Abs. 2 Satz 1.30) Die sog. Gläubigerrechte sind nicht Bestandteil der Mitgliedschaft und können nur unabhängig von der Mitgliedschaft übertragen oder belastet werden.31) Hierzu zählen insbesondere der konkrete Dividenden- und Liquidationsauszahlungsanspruch sowie das konkrete Bezugsrecht, d. h. die durch den jeweiligen Beschluss der Hauptversammlung konkretisierten Vermögensrechte.32) IV.

Keine Aktiengattungen

Nicht gattungsbegründend sind neben den bereits genannten Beispielen nach überwiegen- 16 der Ansicht: Vinkulierung, Aktienart (Namens- oder Inhaberaktien)33), Nennbetrag, Verbriefung34) und unterschiedliche Ausgabebeträge, Aktien mit verschiedenen Einlagepflichten sowie voll- und teileingezahlte Aktien.35) V.

Entstehung der Gattungen

Die Entstehung unterschiedlicher Gattungen setzt sowohl bei Gründung als auch bei spä- 17 teren Kapitalerhöhungen oder sonstigen Satzungsänderungen eine entsprechende Satzungsgrundlage nach § 23 Abs. 3 Nr. 4 voraus.36) Im Gründungsstadium ist die Begründung von Aktiengattungen unproblematisch, da 18 aufgrund der hierzu erforderlichen Zustimmung sämtlicher Gründer keine Bedenken im Hinblick auf das Gleichbehandlungsgebot in § 53a bestehen.37) Bei späterer erstmaliger Begründung von Aktiengattungen ist hinsichtlich der Reichweite des Zustimmungserfordernisses der Aktionäre danach zu unterscheiden, ob es sich um die spätere Ausgabe neuer Aktien bei Kapitalerhöhung oder um die Umwidmung bereits bestehender Aktien im Wege einfacher Satzungsänderung handelt sowie danach, ob die Aktien der neuen Gattung ausschließlich geringere oder umfangreichere Rechte gewähren als die Altaktien.38) Selbiges gilt bei späterer wiederholter Begründung neuer Aktiengattungen zusätzlich zu den bereits bestehenden. Für den Fall, dass im Wege einer Kapitalerhöhung neben bereits bestehenden weitere Aktiengattungen begründet werden sollen, bedarf der satzungsändernde Hauptversammlungsbeschluss zusätzlich eines zustimmenden Sonderbeschlusses der Aktionäre sämtlicher bereits bestehender stimmberechtigter Gattungen (vgl. §§ 182 Abs. 2, 193 Abs. 1 Satz 3, 202 Abs. 2 Satz 4, 221 Abs. 1 Satz 4). VI.

Änderung der Gattungen

Soll das bisherige Verhältnis mehrerer Gattungen von Aktien zum Nachteil einer Gat- 19 tung geändert werden, so bedarf der Beschluss der Hauptversammlung zu seiner Wirksamkeit der Zustimmung der benachteiligten Aktionäre, vgl. § 179 Abs. 3 Satz 1. Dies gilt auch dann, wenn die neue Gattung neben Vor- auch Nachteile aufweist.39) Dieser Son_____________ 30) 31) 32) 33) 34) 35) 36) 37) 38) 39)

Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 4. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 11 Rz. 15; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 11 Rz. 7. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 19; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 11 Rz. 15. A. A. Bürgers/Körber-Westermann, AktG, § 11 Rz. 10; Brändel in: Großkomm-AktG, § 11 Rz. 17. A. A. Brändel in: Großkomm-AktG, § 11 Rz. 17. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 11 Rz. 11 m. w. N.; Grigoleit-Vedder, AktG, § 11 Rz. 7; Heider in: MünchKomm-AktG, § 11 Rz. 30. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 21. Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 11 Rz. 27; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 22. S. ausführlich hierzu Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 23 ff.; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 11 Rz. 26 ff. Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 11 Rz. 34.

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§ 12

Stimmrecht. Keine Mehrstimmrechte

derbeschluss (vgl. § 179 Abs. 3 Satz 2) ist zusätzlich zu dem einfachen satzungsändernden Hauptversammlungsbeschluss sämtlicher Aktionäre erforderlich und bedarf – vorbehaltlich abweichender Satzungsregelung – gemäß § 179 Abs. 3 Satz 3 i. V. m. § 179 Abs. 2 einer Kapitalmehrheit von drei Vierteln des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals sowie gemäß §§ 138 Satz 2, 133 Abs. 1 einer einfachen Stimmenmehrheit der jeweiligen Gattung.40) Der Sonderbeschluss ersetzt die ansonsten erforderliche Einzelzustimmung der benachteiligten Aktionäre und neutralisiert somit als Ausnahmeregelung das Gleichbehandlungsgebot in § 53a (kollektives Schutzrecht der Gattung, siehe auch Rz. 15).41) VII. Rechtsfolgen bei Verstößen 20 Die für eine Entstehung bzw. Änderung von Aktiengattungen nach Gründung der AG erforderlichen Hauptversammlungsbeschlüsse unterliegen den allgemeinen Anfechtungsbzw. Nichtigkeitsrisiken der §§ 241 ff.; dies gilt auch, soweit es um Verstöße gegen das Gleichbehandlungsgebot des § 53a aufgrund fehlender Einzelzustimmungen benachteiligter Aktionäre geht.42) Solange über Sonderbeschlüsse nicht abgestimmt ist oder sonst für die Wirksamkeit erforderliche Zustimmungen fehlen, ist der Hauptversammlungsbeschluss zunächst schwebend unwirksam und wird endgültig unwirksam, wenn der Sonderbeschluss abgelehnt, nichtig oder erfolgreich angefochten bzw. die Zustimmung verweigert worden ist.43) _____________ 40) 41) 42) 43)

Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 32. Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 11 Rz. 33. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 36. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 11 Rz. 36.

§ 12 Stimmrecht. Keine Mehrstimmrechte Alexander Franz

(1) 1Jede Aktie gewährt das Stimmrecht. 2Vorzugsaktien können nach den Vorschriften dieses Gesetzes als Aktien ohne Stimmrecht ausgegeben werden. (2) Mehrstimmrechte sind unzulässig. Literatur: Wedemann, Das Stimmrecht beim Anteilsnießbrauch im Spiegel der Rechtsvergleichung und Rechtssetzungslehre, NZG 2013, 1281; Wertenbruch, Beschlussfassung und Pflichtverletzung im Stimmrechtskonsortium, NZG 2009, 645.

Übersicht I. Bedeutung der Norm ....................... II. Stimmrecht (§ 12 Abs. 1) ................. 1. Kein Stimmrecht ohne Aktie ............ 2. Keine Aktie ohne Stimmrecht .......... 3. Gleiches Stimmrecht ......................... 4. (Un-)Einheitliche Stimmabgabe ....... III. Schranken des Stimmrechts ............ I.

1 2 3 4 5 6 7

1. Aktien ohne Stimmrecht .................... 8 2. Höchst- oder Maximalstimmrecht ........................................ 10 3. Gesetzliche Ausübungsverbote ....... 11 4. Schuldrechtliche Beschränkungen ... 12 5. Treupflicht ........................................ 13 IV. Mehrstimmrechte (§ 12 Abs. 2) ..... 14

Bedeutung der Norm

1 Die Norm enthält drei Aussagen: Es gibt kein Stimmrecht ohne Aktie (§ 12 Abs. 1 Satz 1); es gibt grundsätzlich keine Aktie ohne Stimmrecht (§ 12 Abs. 1); grundsätzlich gewährt

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Alexander Franz

Stimmrecht. Keine Mehrstimmrechte

§ 12

jede Aktie gleiches Stimmrecht (§ 12 Abs. 2).1) Zu den Aussagen zwei und drei gibt es Ausnahmen: § 12 Abs. 1 Satz 2 lässt die Existenz stimmrechtsloser Vorzugsaktien i. S. von §§ 139 ff. zu; vorbehaltlich einer anderweitigen Satzungsregelung steht dem Anlegeraktionär einer Investmentaktiengesellschaft gemäß § 109 Abs. 3 KAGB grundsätzlich kein Stimmrecht zu; § 134 Abs. 1 Satz 2 sieht für nicht börsennotierte Gesellschaften sog. Höchst- oder Maximalstimmrechte vor.2) Mit den Regelungen in § 12 will das Gesetz Kapitalrisiko und Stimmrechtseinfluss im Grundsatz kongruent halten (Kapitalprinzip).3) Seit der Änderung des § 12 Abs. 2 durch das KonTraG im Jahre 1998 ist die Einführung neuer Mehrstimmrechte seit 1.5.1998 verboten.4) Für bestehende Mehrstimmrechte enthält § 5 EGAktG eine Übergangsregelung zu Fortbestand bzw. Erlöschen derselbigen. II.

Stimmrecht (§ 12 Abs. 1)

Das Stimmrecht ist das Recht, an Beschlüssen der Hauptversammlung im Wege der Stimm- 2 abgabe mitwirken zu können und zählt zu den mitgliedschaftlichen Verwaltungsrechten eines jeden Aktionärs (siehe § 11 Rz. 11). 1.

Kein Stimmrecht ohne Aktie

Dieser ausnahmslose Grundsatz wird aus Sinn und Zweck der §§ 12 Abs. 1 Satz 1, 133 ff. 3 abgeleitet und hat zur Folge, dass das Stimmrecht als akzessorischer Bestandteil der Mitgliedschaft von der Existenz der Aktie abhängt bzw. im Zusammenspiel mit dem in § 8 normierten Abspaltungsverbot (siehe hierzu § 8 Rz. 26) nicht isoliert von der Aktie übertragen werden kann.5) Nicht stimmberechtigt sind daher z. B. Inhaber bloßer Gläubigerrechte sowie Pfandgläubiger, Nießbraucher6), Treugeber bei der Treuhand und Sicherungsgeber beim Sicherungseigentum.7) Unbedenklich ist hingegen die bloße Stimmrechtsausübung durch einen Nichtaktionär auf Basis gesetzlich oder rechtgeschäftlich begründeter Vertretungsmacht (u. a. auch verdeckte Stellvertretung gemäß § 129 Abs. 2), durch einen Verwalter kraft Amtes (Testamentsvollstrecker, Insolvenzverwalter) oder durch den in § 129 Abs. 3 behandelten sog. Legitimationsaktionär.8) 2.

Keine Aktie ohne Stimmrecht

Echte Ausnahmen von diesem in § 12 Abs. 1 Satz 1 normierten Grundsatz gelten nur, 4 soweit gesetzlich oder aufgrund gesetzlicher Legitimation (§ 23 Abs. 5) statutarisch ein Stimmrechtsausschluss begründet wird (siehe hierzu Rz. 8 – 11). Die weiteren Fälle zulässiger Stimmrechtsbeschränkung stellen keine echte Ausnahme von diesem Grundsatz dar (siehe hierzu Rz. 12, 13).

_____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6)

7) 8)

Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 12 Rz. 1. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 12 Rz. 10, 3, 11; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 12 Rz. 2. Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 12 Rz. 3 f. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 12 Rz. 16, 19. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 12 Rz. 3; Heider in: MünchKomm-AktG, § 12 Rz. 6. Im Hinblick auf den Nießbraucher differenzierend bzw. teilweise a. A.: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 16 Rz. 7; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 16 Rz. 28; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 12 Rz. 4; Wedemann, NZG 2013, 1281, 1284 f. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 12 Rz. 6 m. w. N.; Heider in: MünchKomm-AktG, § 12 Rz. 7 m. w. N. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 12 Rz. 5; Heider in: MünchKomm-AktG, § 12 Rz. 14 ff.

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§ 12 3.

Stimmrecht. Keine Mehrstimmrechte Gleiches Stimmrecht

5 Das im Verbot der Mehrstimmrechte des § 12 Abs. 2 zum Ausdruck kommende Kapitalprinzip beinhaltet den in § 134 Abs. 1 Satz 1 positiv geregelten Grundsatz der für jede Aktie gleich bemessenen Stimmkraft, die sich bei Nennbetragsaktien nach dem Nennbetrag und bei Stückaktien nach der Zahl der Aktien bemisst.9) 4.

(Un-)Einheitliche Stimmabgabe

6 Das Stimmrecht aus einer einzigen Aktie kann nur einheitlich ausgeübt werden, da Bruchteilsstimmrechte unzulässig sind.10) Die einer Person aus mehreren Aktien zustehenden Stimmrechte können hingegen unterschiedlich ausgeübt werden, da eine uneinheitliche Stimmabgabe niemandem schaden und durchaus auf berechtigten Interessen beruhen kann, so z. B. wenn ein Treuhänder für verschiedene Treugeber Aktien an einer AG hält und deren Stimmrechte aufgrund voneinander abweichenden Weisungen unterschiedlich ausüben soll.11) III.

Schranken des Stimmrechts

7 Stimmrechtsbeschränkungen können entweder an eine bestimmte Aktiengattung i. S. von § 11 oder an die Person des Aktionärs gekoppelt sein.12) 1.

Aktien ohne Stimmrecht

8 § 12 Abs. 1 Satz 2 lässt die Ausgabe von Vorzugsaktien ohne Stimmrecht gemäß §§ 139 ff. zu. Bei Vorzugsaktien in diesem Sinne ist der Verlust des Stimmrechts an die Aktiengattung gekoppelt und wird durch einen (ggf. nachzuzahlenden) Vorzug bei der Gewinnverteilung kompensiert, vgl. §§ 139 Abs. 1, 140 Abs. 2. Vgl. zu den mit der Aktienrechtsnovelle 2011/2013 verbundenen gesetzlichen Änderungen §§ 139 f. § 5 Abs. 1 REITG ordnet für die REIT-AG an, dass sämtliche Aktien als stimmberechtigte Aktien gleicher Gattung begründet werden, so dass stimmrechtslose Vorzugsaktien hier nicht denkbar sind. 9 Vorbehaltlich einer anderweitigen Satzungsregelung ist der Anlegeraktionär einer Investmentaktiengesellschaft weder zur Teilnahme an der Hauptversammlung berechtigt noch steht ihm ein Stimmrecht zu, vgl. § 109 Abs. 3 KAGB. 2.

Höchst- oder Maximalstimmrecht

10 Für nicht börsennotierte AGs kann eine entsprechende Satzungsregelung das Stimmrecht durch Festlegung eines Höchstbetrags oder von Abstufungen beschränken, vgl. § 134 Abs. 1 Satz 2. Diese Maßnahmen dienen insbesondere dazu, den Einfluss von Großaktionären zu beschränken.13) Die Stimmkraft von Aktionären, denen mehrere Aktien gehören, kann gemäß dieser Vorschrift beschränkt werden, indem die jeweilige Stimmkraft z. B. auf 5 % oder 10 % des Grundkapitals reduziert wird oder indem ab 1.000 Aktien 10 Aktien _____________ 9) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 12 Rz. 6. 10) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 12 Rz. 8; Heider in: MünchKomm-AktG, § 12 Rz. 20 m. w. N.; zur vorübergehenden Zulässigkeit eines Bruchteilsstimmrechts bei der Entstehung von Spitzen durch Zusammenlegung von Aktien i. R. einer Kapitalherabsetzung vgl. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 12 Rz. 7; ebenfalls sollen Bruchteilsstimmrechte bei sog. Restgesellschaften vorübergehend zulässig sein, vgl. hierzu: BGH, Urt. v. 30.9.1991 – II ZR 47/91, ZIP 1991, 1423; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 12 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 12 Rz. 8. 11) Heider in: MünchKomm-AktG, § 12 Rz. 20; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 12 Rz. 13; K. Schmidt/ Lutter-Ziemons, AktG, § 12 Rz. 9. 12) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 12 Rz. 3. 13) Grigoleit-Vedder, AktG, § 12 Rz. 4.

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Alexander Franz

Stimmrecht. Keine Mehrstimmrechte

§ 12

eine Stimme gewähren, ab 2.000 Aktien 20 Aktien usw.14) Derartige Beschränkungen sind an die Person des Aktionärs gekoppelt und stellen somit keine eigene Aktiengattung i. S. von § 11 dar (siehe auch § 11 Rz. 13).15) 3.

Gesetzliche Ausübungsverbote

Das AktG ordnet für folgende Situationen ein (vorübergehendes) an die Person des jewei- 11 ligen Aktionärs gekoppeltes Verbot der Stimmrechtsausübung an: –

§ 71b (eigene Aktien),



§ 136 Abs. 1 (persönliche Befangenheit),



§ 286 Abs. 5 Satz 3 HGB i. V. m. § 136 Abs. 1 (Offenlegung der Bezüge von Vorstandsaktionären),



§ 142 Abs. 1 Satz 2, 3 (Sonderprüfung Rechtsstreit mit Organmitglied),



§§ 20 Abs. 7, 21 Abs. 4, § 44 WpHG, § 59 WpÜG (Verstoß gegen Mitteilungspflichten),



§ 328 (wechselseitige Beteiligung), sowie



§ 67 Abs. 2 Satz 2, 3 (Namensaktien, Fremdbesitz).16)

4.

Schuldrechtliche Beschränkungen

In den Grenzen der Zulässigkeitsschranken des § 136 Abs. 2 können i. R. sog. Stimmbin- 12 dungsverträge schuldrechtliche Stimmrechtsbeschränkungen vereinbart werden, in denen sich Aktionäre verpflichten, ihr Stimmrecht nur nach bestimmten vertraglichen Vorgaben auszuüben (sog. Konsortial-, Schutzgemeinschafts- oder Poolverträge).17) Mangels dinglicher Wirkung sind vertragswidrig ausgeübte Stimmrechte dennoch wirksam und die Vertragspartner auf klagbare Erfüllungs- bzw. Schadensersatzansprüche verwiesen.18) Falls sämtliche Aktionäre an einer Stimmrechtsvereinbarung beteiligt sind, sollen Beschlüsse, die durch vertragswidrig abgegebene Stimmen zustande gekommen sind, anfechtbar sein.19) 5.

Treupflicht

Aus der gesellschaftsrechtlichen Treupflicht können sich insoweit Stimmrechtsbeschrän- 13 kungen ergeben, als dass jeder Aktionär sein Stimmrecht unter Berücksichtigung der Interessen der AG sowie der übrigen Aktionäre auszuüben hat.20) Auch hier bestehen ggf. einklagbare Erfüllungs- und Schadensersatzansprüche.21) IV.

Mehrstimmrechte (§ 12 Abs. 2)

Mehrstimmrechtsaktien sind Aktien, denen entgegen § 12 Abs. 1 Satz 1 ein mehrfaches 14 und somit überproportionales Stimmrecht zustehen soll.22) Während diese früher begrenzt _____________ 14) 15) 16) 17)

18) 19) 20) 21) 22)

Heider in: MünchKomm-AktG, § 12 Rz. 36. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 12 Rz. 11. Vgl. hierzu Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 12 Rz. 14 f.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 12 Rz. 14 ff. BGH, Urt. v. 20.1.1983 – II ZR 243/81, AG 1983, 249 ff. = ZIP 1983, 297; BGH, Urt. v. 27.10.1986 – II ZR 240/85, ZIP 1987, 293, 295; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 12 Rz. 22; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 12 Rz. 11; ausführlich zum Thema: Wertenbruch, NZG 2009, 645 ff. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 12 Rz. 23; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 12 Rz. 11. BGH, Urt. v. 20.1.1983 – II ZR 243/81, AG 1983, 249 f. = ZIP 1983, 297; BGH, Urt. v. 27.10.1986 – II ZR 240/85, ZIP 1987, 293, 295; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 12 Rz. 23. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 12 Rz. 24; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 12 Rz. 12. OLG Stuttgart, Urt. v. 23.7.2003 – 20 U 5/03, NZG 2003, 1025, 1027 = ZIP 2003, 2024, dazu EWiR 2004, 45 (Wilhelm); Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 12 Rz. 12. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 12 Rz. 17.

Alexander Franz

67

§ 13

Unterzeichnung der Aktien

zulässig waren, hat der Gesetzgeber die Ausgabe neuer Mehrstimmrechtsaktien mit Einführung des KonTraG 1998 unter Änderung des § 12 Abs. 2 strikt verboten. Abweichungen in der Gründungssatzung sind gemäß § 23 Abs. 5 nicht zulässig und führen ebenso wie entsprechende spätere Änderungsbeschlüsse zur Nichtigkeit, vgl. § 134 BGB, § 241 Nr. 3 Alt. 3.23) Für die vor dem 1.5.1998 begründeten Mehrstimmrechtsaktien gilt die Übergangsregelung in § 5 EGAktG, wonach bis 31.5.2003 die Mehrstimmrechte durch Beschluss beseitigt oder fortgesetzt werden konnten. Mangels eines Beseitigungsbeschlusses und vorbehaltlich eines etwaig gefassten Fortsetzungsbeschlusses sind die Mehrstimmrechte gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 EGAktG mit Wirkung zum 1.6.2003 automatisch erloschen. In Fällen des Beseitigungsbeschlusses bzw. des automatischen Erlöschens steht den betroffenen Aktionären ein angemessener Ausgleich gegen die AG zu, dessen Höhe im Spruchverfahren überprüft werden kann, vgl. § 5 Abs. 3 – 6 EGAktG. _____________ 23) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 12 Rz. 10; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 12 Rz. 18.

§ 13 Unterzeichnung der Aktien Alexander Franz

1

Zur Unterzeichnung von Aktien und Zwischenscheinen genügt eine vervielfältigte Unterschrift. 2Die Gültigkeit der Unterzeichnung kann von der Beachtung einer besonderen Form abhängig gemacht werden. 3Die Formvorschrift muß in der Urkunde enthalten sein. Übersicht I. Bedeutung der Norm ....................... 1 II. Erfasste Wertpapiere ........................ 2 III. Vereinfachte Form (§ 13 Satz 1) ..... 3 I.

IV. Besondere Form (§ 13 Satz 2, Satz 3) ................................................. 4 V. Rechtsfolgen bei Verstößen ............. 5

Bedeutung der Norm

1 Neben weiteren z. B. in §§ 8, 10 und 55 geregelten Entstehungsvoraussetzungen1) ist auch die ordnungsgemäße Unterzeichnung eine wesentliche wertpapierrechtliche Bedingung für die wirksame Verbriefung von Aktien und Zwischenscheinen.2) § 13 Satz 1 erleichtert insbesondere die massenhafte Verbriefung.3) Gemäß § 13 Sätze 2 und 3 kann die Gültigkeit der Unterzeichnung von weiteren erhöhten Anforderungen abhängig gemacht werden. II.

Erfasste Wertpapiere

2 Der Anwendungsbereich des § 13 erfasst jede Art und Gattung von Aktienurkunden, Nennbetrags- und Stückaktien sowie Namens- und Inhaberaktien und gilt ebenfalls für Zwischenscheine i. S. von §§ 8 Abs. 6, 10 Abs. 3 und 4.4) Nach überwiegender Ansicht fallen auch Globalurkunden i. S. von §§ 2, 9a Abs. 1 DepotG in den Anwendungsbereich des _____________ 1) 2) 3) 4)

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Vgl. hierzu sowie zu den Rechtsfolgen inhaltlicher Mängel ausführlich: K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 13 Rz. 7 ff.; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 13 Rz. 1 f. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 13 Rz. 2. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 13 Rz. 1; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 13 Rz. 4; Grigoleit-Vedder, AktG, § 13 Rz. 2. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 13 Rz. 2; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 13 Rz. 4.

Alexander Franz

§ 13

Unterzeichnung der Aktien

§ 13, da der Wortlaut keine diesbezüglichen Einschränkungen erkennen lässt.5) Die praktische Relevanz der Frage, ob Gewinnanteils-, Erneuerungs- und Genussscheine, Wandel-, Options- und Gewinnschuldverschreibungen dem Anwendungsbereich von § 13 oder demjenigen von § 793 Abs. 2 BGB unterstehen, ist angesichts des identischen Regelungsgehalts beider Vorschriften gering.6) III.

Vereinfachte Form (§ 13 Satz 1)

Die Urkunde muss grundsätzlich in Schriftform i. S. des § 126 Abs. 1 BGB abgefasst sein, 3 elektronische Form i. S. des § 126a BGB reicht nicht aus.7) Da die Technik der Urkundenherstellung nicht gesetzlich vorgeschrieben ist, kommen grundsätzlich alle denkbaren Herstellungsvarianten in Betracht, so z. B. Handschrift, Schreibmaschine, Computerausdruck, Fotokopie, Offset- oder Siebdruck.8) Im Falle der Börsennotierung müssen die Aktien den gemeinsamen Grundsätzen der deutschen Wertpapierbörse für den Druck von Wertpapieren entsprechen.9) Als Aussteller der Urkunden sind für deren Unterzeichnung die Vorstandsmitglieder in vertretungsberechtigter Anzahl zuständig, eine Stellvertretung bedarf stets ausdrücklicher Bevollmächtigung (auch bei Prokuristen).10) Die gemäß § 126 Abs. 1 BGB erforderliche eigenhändige Unterschrift kann gemäß § 13 Satz 1 durch Vervielfältigung ersetzt werden, wodurch i. S. der Praktikabilität Massenemissionen erleichtert werden.11) Vervielfältigung bedeutet, der handschriftliche Originalnamenszug wird mittels Druck oder Stempel auf der Urkunde angebracht (Faksimile).12) Zur Anbringung des Faksimiles auf der Urkunde bedarf es der Zustimmung des Unterzeichners, da das Recht ansonsten nicht wirksam verbrieft ist.13) Eine über die Regelung in § 13 Satz 1 hinausgehende Erleichterung der gesetzlichen Anforderungen an die Unterzeichnung, etwa durch gleichzeitige Abbedingung eigenhändiger (§ 126 Abs. 1 BGB) und vervielfältigter Unterschrift (§ 13 Satz 1), ist nicht zulässig.14) IV.

Besondere Form (§ 13 Satz 2, Satz 3)

Da es sich hierbei nicht um eine Geschäftsführungsmaßnahme handelt, fällt die Begrün- 4 dung zusätzlicher Formvorschriften nach § 13 Satz 2 nicht in die Zuständigkeit des Vorstands, sondern in diejenige der Aktionäre, und erfordert entweder eine Regelung in der Satzung oder einen entsprechenden Hauptversammlungsbeschluss.15) So kann z. B. entgegen § 13 Satz 1 wiederum die eigenhändige Unterschrift (i. S. von § 126 Abs. 1 BGB), _____________ 5) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 13 Rz. 2; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 13 Rz. 6; K. Schmidt/LutterZiemons, AktG, § 13 Rz. 12; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 13 Rz. 6; Heider in: MünchKommAktG, § 13 Rz. 6; a. A. Brändel in: GroßKomm-AktG, § 13 Rz. 26. 6) Vgl. hierzu: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 13 Rz. 2; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 13 Rz. 8; Brändel in: GroßKomm-AktG, § 13 Rz. 26; a. A. im Hinblick auf Coupons, Dividenden-, Gewinnanteils- sowie Erneuerungsscheine K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 13 Rz. 3 f. 7) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 13 Rz. 11. 8) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 13 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 13 Rz. 11; Spindler/StilzVatter, AktG, § 13 Rz. 12. 9) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 13 Rz. 5; Druckrichtlinie abrufbar unter https://www.deutsche-boersecash-market.com/resource/blob/332164/a6523789f70f53431c48e234d452a657/data/Grunds-tze.pdf (Abrufdatum: 23.6.2022). 10) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 13 Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 13 Rz. 12. 11) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 13 Rz. 1; Grigoleit-Vedder, AktG, § 13 Rz. 2; Hölters-Solveen, AktG, § 13 Rz. 1. 12) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 13 Rz. 12; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 13 Rz. 16. 13) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 13 Rz. 9; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 13 Rz. 16. 14) Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 13 Rz. 10. 15) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 13 Rz. 7; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 13 Rz. 17.

Alexander Franz

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§ 14

Zuständigkeit

die zusätzliche Unterzeichnung durch Aufsichtsratsmitglieder oder sonstige Kontrollpersonen, die notarielle Beglaubigung der Unterschriften, die Verwendung eines Siegels oder Stempels, o. Ä., vorgeschrieben werden.16) Derartige besondere Formvorschriften sind gemäß § 13 Satz 3 ebenfalls in der Urkunde selbst anzugeben. V.

Rechtsfolgen bei Verstößen

5 Entsprechen die ausgegebenen Aktien nicht den dargestellten Formerfordernissen nach § 13, so hat dies grundsätzlich die Unwirksamkeit der Verbriefung zur Folge.17) Da die Verbriefung keine Wirksamkeitsvoraussetzung für die Entstehung der aktienrechtlichen Mitgliedschaft ist, bleibt diese von einer eventuell unwirksamen Verbriefung unberührt.18) Übrig bleiben allerdings der noch nicht erfüllte Anspruch des Aktionärs auf Verbriefung19) sowie die mangelnde Möglichkeit eines gutgläubigen Erwerbs bei Übertragung der Mitgliedschaft (siehe hierzu § 10 Rz. 24).20) _____________ 16) 17) 18) 19) 20)

K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 13 Rz. 13; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 13 Rz. 10. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 13 Rz. 8; Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 13 Rz. 27. Spindler/Stilz-Vatter, AktG, § 13 Rz. 27. Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 13 Rz. 19. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 13 Rz. 15; Bürgers/Körber/Lieder-Westermann, AktG, Rz. 1.

§ 14 Zuständigkeit Alexander Franz

Gericht im Sinne dieses Gesetzes ist, wenn nichts anderes bestimmt ist, das Gericht des Sitzes der Gesellschaft. Übersicht I. Bedeutung der Norm ....................... 1 II. FamFG-Verfahren ........................... 2 I.

III. Sitz ...................................................... 3 IV. Sonderfälle ......................................... 4

Bedeutung der Norm

1 Vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelungen bestimmt § 14 die örtliche Zuständigkeit (nur) für Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit mit aktienrechtlichem Bezug.1) Wird in anderen Vorschriften des AktG ohne nähere Festlegung einer besonderen Zuständigkeit das Tätigwerden des „Gerichts“ vorgesehen, so ergibt sich die örtliche Zuständigkeit für frühere FGG- und heutige FamFG-Verfahren aus § 14.2) Für streitige Verfahren gelten §§ 12 ff. ZPO (insbesondere § 17 ZPO), soweit das AktG keine Sondervorschriften enthält.3) Seit Einführung des FamFG verbleibt kein erkennbarer Anwendungsbereich des subsidiären § 14.4) II.

FamFG-Verfahren

2 Bei den FamFG-Verfahren wird zwischen „Streitverfahren“ (§§ 98 Abs. 1, 132 Abs. 1, 260 Abs. 1, 304 Abs. 3 Satz 3, 320b Abs. 2 Satz 2 AktG, § 5 EGAktG) und „Registerver_____________ 1) 2) 3) 4)

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Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 14 Rz. 1. K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 14 Rz. 1. Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 14 Rz. 1. Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 14 Rz. 2; Grigoleit-Vedder, AkG, § 14 Rz. 1.

Alexander Franz

§ 15

Verbundene Unternehmen

fahren“ (§§ 374, 375 FamFG) differenziert.5) Registerverfahren lassen sich wiederum in allgemeine Registerverfahren (§ 374 FamFG i. V. m. §§ 26 Abs. 3 – 5, 36, 38, 51 f., 81 AktG) und Verfahren nach § 375 FamFG (§ 375 Nr. 3 FamFG i. V. m. §§ 33 Abs. 3, 35, 73 Abs. 1, 85, 103 Abs. 3, 104, 122 Abs. 3, 147 Abs. 2, 183a Abs. 3, 264 Abs. 2, 265 Abs. 3 und 4, 270 Abs. 3, 273 Abs. 2 – 4, 290 Abs. 3 AktG) aufteilen.6) III.

Sitz

Der Satzungssitz der Gesellschaft ist Sitz i. S. von § 14 und legt somit die örtliche Zu- 3 ständigkeit des Registergerichts fest.7) Das gilt gemäß §§ 33 Abs. 3, 35 – 38 auch, wenn das Registergericht bereits vor Eintragung der AG in das Handelsregister tätig wird.8) Die sachliche Zuständigkeit wird nicht im AktG, sondern im FamFG geregelt.9) IV.

Sonderfälle

Bei der AG mit Doppelsitz sind grundsätzlich beide Sitzgerichte zuständig, die ihre Tä- 4 tigkeit dann verfahrensrechtlich untereinander abzustimmen haben.10) Nachdem ein Sitzgericht tätig wird, verliert das andere gemäß § 2 Abs. 1 FamFG die Zuständigkeit.11) Bei Spaltgesellschaften hilft § 5 FamFG analog.12) _____________ 5) 6) 7) 8) 9) 10) 11) 12)

K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 14 Rz. 3. K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 14 Rz. 4 f.; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 14 Rz. 3. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 14 Rz. 3. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 14 Rz. 3; Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 14 Rz. 2. Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 14 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 14 Rz. 3. K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 14 Rz. 12; Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 14 Rz. 5. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 14 Rz. 4; Grigoleit-Vedder, AktG, § 13 Rz. 2. Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 14 Rz. 7; s. hierzu ausführlich: Spindler/Stilz-Drescher, AktG, § 14 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Langhein, AktG, § 14 Rz. 15.

§ 15 Verbundene Unternehmen Alexander Franz

Verbundene Unternehmen sind rechtlich selbständige Unternehmen, die im Verhältnis zueinander in Mehrheitsbesitz stehende Unternehmen und mit Mehrheit beteiligte Unternehmen (§ 16), abhängige und herrschende Unternehmen (§ 17), Konzernunternehmen (§ 18), wechselseitig beteiligte Unternehmen (§ 19) oder Vertragsteile eines Unternehmensvertrags (§§ 291, 292) sind. Literatur: Drygala, Der Gläubigerschutz bei der typischen Betriebsaufspaltung, 1991; Langenbucher, Bankaktienrecht unter Unsicherheit, ZGR 2010, 75; Priester, Unbeschränkte Konzernhaftung des GmbH-Gesellschafters, ZIP 1986, 137; Wiedemann, Entwicklung im Kapitalgesellschaftsrecht, DB 1993, 141; Zöllner, Zum Unternehmensbegriff der §§ 15 ff. Aktiengesetz, ZGR 1976, 1.

Übersicht I. Bedeutung der Norm ........................ 1 II. Begriff des Unternehmens ............... 4 1. Herrschendes Unternehmen ............. 5 a) Natürliche Personen .................... 7 b) Handelsgesellschaften, Formkaufleute ....................................... 9 c) Weitere Rechtsträger ................. 10 d) Innengesellschaft ........................ 11

e) (Zwischen-)Holding, Treuhand, NewCo-Gestaltungen ..... f) Sonderfälle: Öffentliche Hand/SoFFin ............................. 2. In Mehrheitsbesitz stehendes bzw. abhängiges Unternehmen ................ 3. Gleichgeordnetes bzw. wechselseitig beteiligtes Unternehmen ............

Alexander Franz

12 14 15 16 71

§ 15 I.

Verbundene Unternehmen Bedeutung der Norm

1 § 15 definiert den Begriff des verbundenen Unternehmens als Oberbegriff für die in Bezug genommenen fünf Unternehmensverbindungen, die ihrerseits in §§ 16 – 19 und §§ 291 f. näher umschrieben sind. Unter verbundenen Unternehmen versteht das AktG Unternehmen, die zwar rechtlich selbständig, aber auf Grundlage bestimmter gesellschaftsrechtlicher Instrumentarien miteinander verbunden sind.1) Da §§ 15 – 19 die maßgeblichen Definitionen für die speziellen Vorschriften zum Recht der verbundenen Unternehmen in §§ 291 – 328 enthalten, können diese zusammen mit §§ 20 – 22 als allgemeiner Teil des Konzernrechts verstanden werden.2) Die wesentlichen Bestimmungen des AktG, die den Oberbegriff des verbundenen Unternehmens i. S. der §§ 15 ff. verwenden, sind: §§ 71 Abs. 1 Nr. 2, 71a Abs. 1 Satz 2, 89 Abs. 4 Satz 2, 90 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 3 Satz 1, 115 Abs. 3 Satz 2, 131 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, 145 Abs. 6 Satz 2, 192 Abs. 2 Nr. 3, 293a Abs. 2 Satz 1, 313 ff., 400 Abs. 1 Nr. 1 und 2.3) Außerhalb des AktG wird der Begriff in diesem Sinne insbesondere in § 5 MitbestG, § 51a Abs. 2 Satz 1 GmbHG und § 36 Abs. 2 Satz 1 GWB verwendet. Den besonderen Teil des Konzernrechts bilden systematisch die §§ 291 – 328 mit ihren Regelungen zum Vertragskonzern (§§ 291 – 327), zum faktischen Konzern (§§ 311 – 318), zur Eingliederung (§§ 319 – 327), zum Squeeze-Out (§§ 327a f.) und zur wechselseitigen Beteiligung (§ 328).4) 2 Da die Beteiligung einer AG in §§ 15 – 19 nicht vorausgesetzt ist, gelten deren rechtsformneutrale Definitionen auch außerhalb des Aktienrechts für rechtlich selbständige Unternehmen anderer Rechtsformen.5) Soweit auch andere Gesetze auf die in §§ 15 – 19 definierten Begriffe verweisen, kann nicht immer von einem einheitlichen Verständnis ausgegangen werden, insbesondere § 271 Abs. 2 HGB enthält eine von § 15 abweichende, eigene Definition des verbundenen Unternehmens, die für das dritte Buch des HGB und somit für §§ 238 – 342e HGB maßgeblich ist.6) 3 Primärer Regelungszweck des Konzernrechts ist die Abwehr der abstrakten Gefahr, dass die Interessen der Gesellschafter und Gläubiger der untergeordneten (abhängigen) Gesellschaft wegen der Durchsetzung gesellschaftsfremder Interessen der übergeordneten (herrschenden) Gesellschaft zurückgedrängt werden (sog. Konzerngefahrenlage).7) Darüber hinaus weisen die Vorschriften auch einen organisationsrechtlichen Gehalt auf, da sie unterschiedliche Formen der Einbindung der abhängigen Gesellschaft in die Belange des herrschenden Unternehmens zur Verfügung stellen und dabei die für die unverbundene AG geltenden Grundsätze zum Teil erheblich modifizieren.8) II.

Begriff des Unternehmens

4 Der vom Gesetzgeber nicht näher umschriebene Begriff des „Unternehmens“ in § 15 verlangt dem Wortlaut nach lediglich eine „rechtliche Selbständigkeit“, so dass zumindest _____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8)

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Emmerich/Habersack-Habersack, Konzernrecht, Einl. Rz. 1. K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 7. Zu weiteren Bestimmungen des AktG, die sich auf in §§ 15 – 19 definierte Begriffe, insbesondere auf den des Unternehmens beziehen vgl. K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 4. Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 15 Rz. 3. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 15 Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 2; Henssler/StrohnMaier-Reimer, GesR, § 15 AktG Rz. 1. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 15 Rz. 1; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 7; BGH, Urt. v. 3.6.2004 – X ZR 104/03, ZIP 2004, 1363 = GmbHR 2004, 1085 ff. – für § 271 Abs. 2 HGB. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 15 Rz. 3; Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 15 Rz. 16, 94; HöltersHirschmann, AktG, § 15 Rz. 3; Emmerich/Habersack-Habersack, Konzernrecht, Einl. Rz. 1. Emmerich/Habersack-Habersack, Konzernrecht, Einl. Rz. 1.

Alexander Franz

§ 15

Verbundene Unternehmen

die (Teil-)Rechtsfähigkeit als charakteristisches Merkmal vorausgesetzt werden kann.9) Da es keinen einheitlichen Unternehmensbegriff gibt und selbst i. R. der Unternehmensverbindungen der §§ 16 – 19 zwischen den jeweiligen Perspektiven der Betroffenen unterschieden wird (herrschende Unternehmen einerseits und abhängige, gleichgeordnete bzw. wechselseitig beteiligte Unternehmen andererseits),10) hat sich ein an Sinn und Zweck der jeweiligen Sondervorschriften für Unternehmen anknüpfender teleologischer Unternehmensbegriff gegen den institutionellen und den funktionalen Unternehmensbegriff durchgesetzt.11) Bei dem vorliegend i. S. des Konzernrechts zu bestimmenden Begriff geht es insbesondere um die Abwehr der sog. Konzerngefahr im Interesse des Minderheiten- und Gläubigerschutzes (siehe auch Rz. 3).12) Abzugrenzen ist der Begriff des Unternehmens von demjenigen des reinen Privatgesellschafters, da der Gesetzgeber allein bei Unternehmensgesellschaftern im Gegensatz zu Privatgesellschaftern die Gefahr sieht, dass dieser die Rechte aus seiner Beteiligung zum Nachteil der Gesellschaft für seine sonstigen unternehmerischen Interessen ausnutzt.13) 1.

Herrschendes Unternehmen

Seit der Leitentscheidung des BGH vom 13.10.1977 (Veba/Gelsenberg) versteht die h. M. 5 als „herrschendes Unternehmen“ jeden Anteilsinhaber, der neben seiner Beteiligung an der Gesellschaft noch eine anderweitige wirtschaftliche Interessenbindung hat, die nach Art und Intensität ernsthafte Sorge begründet, er könne wegen dieser Bindung seinen aus der Mitgliedschaft folgenden Einfluss auf die Gesellschaft nachteilig ausüben (Ausnahme: Öffentliche Hand).14) Dieser Ansicht haben sich ebenfalls das BAG15), das BSG16) sowie der BFH17) angeschlossen. Aus dem Erfordernis der anderweitigen wirtschaftlichen Interessenbindung folgt zunächst, dass die Beteiligung an einem einzigen Unternehmen (sog. privilegierter Privataktionär) nicht zur Begründung der Unternehmenseigenschaft genügt.18) Eine anderweitige wirtschaftliche Interessenbindung hat, wer neben seiner Beteiligung ein 6 Handelsgewerbe bzw. sonstiges Gewerbe oder eine freiberufliche Tätigkeit betreibt.19) Nach h. M. genügt es ebenfalls, dass der Anteilsinhaber nur eine einzige weitere (oder mehrere) maßgebliche Beteiligung(en) an einem (oder mehreren) anderen Unternehmen _____________ 9) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 31; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 56. 10) Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 12. 11) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 15 Rz. 9; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 32; Spindler/StilzSchall, AktG, § 15 Rz. 11; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 15 Rz. 10; Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 15 AktG Rz. 8. 12) Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 10, Vor § 15 Rz. 27. 13) Kropff, AktG, S. 41 f.; Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 15 AktG Rz. 6 f. 14) BGH, Urt. v. 13.10.1977 – II ZR 123/76 (Veba/Gelsenberg), AG 1978, 50, 51; BGH, Urt. v. 18.6.2001 – II ZR 212/99 (MLP), AG 2001, 588, 589 = ZIP 2001, 1323, dazu EWiR 2001, 1079 (Kort); Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 15 Rz. 10; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 13; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 34; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 6. 15) BAG, Urt. v. 8.3.1994 – 9 AZR 197/92, ZIP 1994, 1378 = AG 1994, 510; BAG, Urt. v. 30.3.2004 – 1 ABR 61/01 (Bofrost*), ZIP 2004, 1468, 1473 f., dazu EWiR 2004, 1175 (Thüsing); BAG, Urt. v. 27.10.2010 – 7 ABR 85/09, ZIP 2011, 587 = AG 2011, 382, dazu EWiR 2011, 267 (Junker). 16) BSG, Urt. v. 27.9.1994 – 10 RAr 1/92, AG 1995, 279, 282 = ZIP 1994, 1944. 17) BFH, Urt. v. 23.3.2011 – X R 45/09, ZIP 2011, 1468 = AG 2011, 639, dazu EWiR 2011, 741 (Jungbluth). 18) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 15 Rz. 11; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 15 Rz. 16; a. A. beim Formkaufmann: K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 38, 53 ff.; Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 15 AktG Rz. 22; Henssler/Strohn-Kessler/Maier-Reimer, GesR, § 15 AktG Rz. 4 f. 19) BGH, Urt. v. 19.9.1994 – II ZR 237/93, AG 1995, 35, 36 = ZIP 1994, 1690; BGH, Urt. v. 27.3.1995 – II ZR 136/94, AG 1995, 326, 327 = ZIP 1995, 733; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 24; K. Schmidt/ Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 41; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 7.

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§ 15

Verbundene Unternehmen

hält.20) Im Hinblick auf die Maßgeblichkeit orientiert sich der BGH an dem Kriterium der Mehrheitsbeteiligung gemäß § 16 und lehnt sich i. Ü. eng an die Kriterien einer Beherrschung i. S. von § 17 an.21) So ist bereits eine geringere Beteiligung ausreichend, wenn gleichwohl aufgrund rechtlicher oder tatsächlicher Umstände ein maßgeblicher Einfluss möglich ist (siehe § 17 Rz. 11 ff.).22) Auf Grundlage einer Einzelfallbetrachtung ist im Hinblick auf die Unternehmenseigenschaft in diesem Sinne auch eine Zurechnung der von Dritten verfolgten wirtschaftlichen Interessen in Betracht zu ziehen, so dass die anderweitigen wirtschaftlichen Interessen nicht zwingend unmittelbar selbst verfolgt werden müssen.23) Eine solche Zurechnung lässt sich laut BGH allerdings nicht auf § 16 Abs. 4 stützen, da diese Vorschrift die Eigenschaft des Normadressaten als Unternehmen voraussetzt, diese aber nicht begründen kann.24) a)

Natürliche Personen

7 Auch im Hinblick auf die Unternehmenseigenschaft natürlicher Personen gelten die allgemeinen Ausführungen unter Rz. 5 f. Ausreichend ist es, wenn eine natürliche Person neben ihrer Beteiligung aufgrund originärer Tätigkeit (eine) anderweitige wirtschaftliche Interessenbindung(en) gewerblicher oder freiberuflicher Art hat, z. B. als Einzelkaufmann oder als Land- und Forstwirt i. S. von §§ 1, 3 HGB (wobei ein qualifizierter Gewerbebetrieb i. S. des § 1 Abs. 2 HGB nicht zwingend erforderlich ist).25) Nicht unternehmerisch sind dagegen allgemein dem privaten Bereich zuzuordnende, originär gemeinnützige oder karitative Aktivitäten.26) Ebenso genügt auch bei einer natürlichen Person die bloße Beteiligung an einem oder mehreren weiteren Unternehmen, wenn die Schwelle der Maßgeblichkeit erreicht ist.27) Bei Beteiligungen an Personengesellschaften genügt unabhängig von einer Kapitalbeteiligung bereits die Übernahme der persönlichen Haftung.28) 8 Unternehmen ist nach h. M. auch der Kaufmann, der sein (einheitliches) Geschäft in eine Besitz- und eine Betriebsgesellschaft aufspaltet, an denen er jeweils selbst maßgeblich beteiligt ist (sog. Betriebsaufspaltung), da bereits die abstrakte Möglichkeit eines Konflikts ausreicht.29) Anders zu entscheiden ist dieser Fall für eine GmbH & Co. KG bei gleich_____________ 20) BGH, Beschl. v. 17.3.1997 – II ZB 3/96 (VW), AG 1997, 374, 376 = ZIP 1997, 887; BGH, Urt. v. 18.6.2001 – II ZR 212/99 (MLP), AG 2001, 588, 589 = ZIP 2001, 1323; BAG, Urt. v. 27.10.2010 – 7 ABR 85/09, ZIP 2011, 587 = AG 2011, 382; BFH, Urt. v. 23.3.2011 – X R 45/09, ZIP 2011, 1468 = AG 2011, 639; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 15 Rz. 11; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 25; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 44; a. A. – eine unmittelbare unternehmerische Betätigung fordernd – Zöllner, ZGR 1976, 1, 13 ff.; Priester, ZIP 1986, 137, 141 f.; Wiedemann, DB 1993, 141, 153. 21) BGH, Urt. v. 18.6.2001 – II ZR 212/99 (MLP), AG 2001, 588, 589 = ZIP 2001, 1323; zustimmend K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 45 f.; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 15 Rz. 22; a. A. Spindler/ Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 27 f. 22) BGH, Urt. v. 18.6.2001 – II ZR 212/99 (MLP), AG 2001, 588, 589 = ZIP 2001, 1323. 23) Vgl. Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 30 ff.; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 39 f.; Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 15 Rz. 66 ff. 24) BGH, Urt. v. 18.6.2001 – II ZR 212/99 (MLP), AG 2001, 588, 589 = ZIP 2001, 1323. 25) S. hierzu die Nachweise in Fn. 12; Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 15 AktG Rz. 11a f. 26) Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 43; Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 15 AktG Rz. 11b. 27) S. hierzu die Nachweise in Fn. 13. 28) Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 29; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 43. 29) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 15 Rz. 45; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 48; Spindler/ Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 23; Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 15 AktG Rz. 11b; Bürgers/Körber-Fett, AktG, § 15 Rz. 9; a. A. Drygala, Der Gläubigerschutz bei der typischen Betriebsaufspaltung, S. 85 ff.

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§ 15

Verbundene Unternehmen

zeitiger maßgeblicher Beteiligung an GmbH sowie KG, wenn die GmbH ausschließlich als Komplementärin der betroffenen KG fungiert.30) b)

Handelsgesellschaften, Formkaufleute

Auch für AG und GmbH sowie sonstige Handelsgesellschaften (OHG, KG) und Form- 9 kaufleute i. S. von § 6 HGB (KGaA, Genossenschaft) verlangt die überwiegende (aber umstrittene) Ansicht eine anderweitige wirtschaftliche Interessenbindung zur Begründung der Unternehmenseigenschaft, d. h. eine maßgebliche Beteiligung an mindestens einem weiteren Unternehmen, da die Eigenschaft als Formkaufmann allein nicht genügt.31) Es gelten die allgemeinen Ausführungen unter Rz. 5 f. c)

Weitere Rechtsträger

Als herrschendes Unternehmen kommen darüber hinaus alle weiteren inländischen teil- 10 rechtsfähigen Rechtsträger in Betracht, wie z. B. bürgerlich-rechtlicher Idealverein, wirtschaftlicher Verein, Stiftung, GbR (als Außengesellschaft; siehe zur Innengesellschaft Rz. 11), Erbengemeinschaft, Partnerschaftsgesellschaft, Gewerkschaften, Vor-AG bzw. VorGmbH, Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt), Societas Europaea (SE), im Falle ihrer Einführung auch die Societas Privata Europaea (SPE), Hypothekenbanken, Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit (VVaG), sowie sämtliche (teil-)rechtsfähigen Rechtsträger ausländischer Rechtsordnungen.32) Voraussetzung ist ebenfalls die Existenz anderweitiger wirtschaftlicher Interessen über die einzelne Beteiligung hinaus. Auch hier gelten die allgemeinen Ausführungen unter Rz. 5 f. Besonderheiten im Hinblick auf die Fähigkeit, herrschendes Unternehmen sein zu können, gelten angesichts des gesetzlich angeordneten Konzernleitungsverbots für die Europäische Wirtschaftliche Interessengemeinschaft (EWIV).33) d)

Innengesellschaft

Reinen Innengesellschaften (wie z. B. Stimmbindungs- und Konsortialgesellschaften)34) 11 fehlt es an der Teilrechtsfähigkeit, so dass diese als Unternehmen i. S. von § 15 ausscheiden.35) Den Gesellschaftern der Innengesellschaft können allerdings die mittels dieser gemein-

_____________ 30) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 15 Rz. 46 mit weitergehenden Ausführungen zur sog. EinheitsGmbH & Co. KG; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 48; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 23; a. A. Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 15 Rz. 54; s. zur Anwendung des Konzernrechts auf das Verhältnis zwischen Komplementär-GmbH und KG: Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 15 AktG Rz. 23. 31) OLG Hamm, Urt. v. 2.11.2000 – 27 U 1/00 (Bowa), AG 2001, 146, 148 = ZIP 2000, 2302, dazu EWiR 2001, 979 (Priester); Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 15 Rz. 14; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 19; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 15 Rz. 16; Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 15 Rz. 60 m. w. N.; Bürgers/Körber/Lieder-Fett, AktG, § 15 Rz. 9; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 15 Rz. 19; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 10; a. A. mit teilweise beachtlichen Argumenten: K. Schmidt/ Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 33, 53 ff.; Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 15 AktG Rz. 22; Henssler/Strohn-Kessler/Maier-Reimer, GesR, § 15 AktG Rz. 4 f. 32) Windbichler in: GroßKomm-AktG, § 15 Rz. 16 ff.; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 10, 52 ff.; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 15 Rz. 16; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 10 ff. 33) S. hierzu Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 52; Windbichler in: GroßKomm-AktG, § 15 Rz. 17 ff. 34) Anders, wenn die betroffenen Stimmbindungs- und Konsortialgesellschaften als echte Außen-GbR zu qualifizieren sind, vgl. Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 41; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 15 Rz. 13. 35) OLG Hamburg, Beschl. v. 3.8.2000 – 11 W 36/95, AG 2001, 479, 481; OLG Hamm, Urt. v. 2.11.2000 – 27 U 1/00, AG 2001, 146, 147; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 15 Rz. 13; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 42; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 66.

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§ 15

Verbundene Unternehmen

schaftlich verfolgten wirtschaftlichen Interessen im Einzelfall zuzurechnen sein („kraft des Verbundes gestärkt“) und zur Begründung deren Unternehmenseigenschaft führen.36) e)

(Zwischen-)Holding, Treuhand, NewCo-Gestaltungen

12 Für die (Zwischen-)Holding selbst gelten die Ausführungen unter Rz. 5 f. Nach h. M. ist die dem Anteilsinhaber über eine Zwischenholding vermittelte maßgebliche Beteiligung zuzurechnen und dessen Unternehmenseigenschaft sodann zu bejahen, wenn dieser die zusätzliche(n) (mittelbare[n]) Beteiligung(en) trotz zwischengeschalteter Holding selbst verwaltet und die Zwischenholding quasi nur auf dem Papier besteht.37) Stark umstritten ist dies, wenn sich der Anteilsinhaber auf die reine Verwaltung seiner (unmittelbaren) Beteiligung an der Zwischenholding beschränkt und keinen direkten Einfluss auf die mittelbare(n) Beteiligung(en) nimmt.38) Zustimmung verdient die eine Unternehmenseigenschaft des Anteilsinhabers für diesen Fall ablehnende Ansicht, da die Gegenauffassung die Begründung der Unternehmenseigenschaft entgegen der Rechtsprechung des BGH allein auf § 16 Abs. 4 stützen möchte (siehe hierzu zuvor Rz. 6 a. E.).39) 13 Nach ähnlichen Kriterien wird man die maßgebliche Beteiligung eines Treuhänders im Hinblick auf die Unternehmenseigenschaft des Treugebers zurechnen können; gleiches gilt für die Einschaltung von NewCo-Gestaltungen in Private-Equity- oder Venture-CapitalStrukturen.40) f)

Sonderfälle: Öffentliche Hand/SoFFin

14 Seit dem Beschluss des BGH vom 17.3.1997 (VW) können unstreitig auch Bund, Länder, Gemeinden sowie andere Körperschaften der öffentlichen Hand, allein aufgrund der bloßen Gefahr, öffentliche Interessen zulasten der Beteiligungsgesellschaft zu fördern und daher, als Ausnahme zu allen anderen Rechtsträgern, unabhängig von einer anderweitigen wirtschaftlichen Interessenbindung, Unternehmen sein.41) Nach überwiegender Ansicht ist die Unternehmensqualität bereits zu bejahen, wenn die öffentliche Hand ein in privater Rechtsform geführtes Unternehmen beherrscht, so dass es auf die zusätzliche Verfolgung anderweitiger wirtschaftlicher Interessen (siehe hierzu Rz. 5) nicht ankommt.42) Zu Recht wird angeführt, dass dieses Ergebnis für alle weiteren Körperschaften des öffentlichen Rechts sowie für gemeinnützige Stiftungen, Gewerkschaften und Religionsgemeinschaften gelten muss.43) _____________ 36) OLG Hamm, Urt. v. 2.11.2000 – 27 U 1/00, AG 2001, 146, 147; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 67; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 41 f. 37) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 15 Rz. 12; Bayer in: MünchKomm-AktG § 15 Rz. 31; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 8; Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 15 AktG Rz. 17; so wohl auch K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 49; a. A. Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 39; Windbichler in: GroßKomm-AktG, § 15 Rz. 46. 38) Die Unternehmenseigenschaft auch in diesem Fall befürwortend: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 15 Rz. 12 (anders noch in früherer Auflage); Bayer in: MünchKomm-AktG, § 15 Rz. 33; Emmerich/ Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 15 AktG Rz. 17; a. A.; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 51; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 39; Krieger in: MünchHdb GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 8. 39) So auch K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 51; Krieger in: MünchHdb GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 8. 40) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 15 Rz. 12; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 40. 41) BGH, Beschl. v. 17.3.1997 – II ZB 3/96 (VW), AG 1997, 374 ff., 376 = ZIP 1997, 887; BGH, Urt. v. 3.3.2008 – II ZR 124/06 (UMTS-Versteigerung/Telekom), AG 2008, 375 ff. = ZIP 2008, 785; Hüffer/KochKoch, AktG, § 15 Rz. 16; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 44; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 69; Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 15 Rz. 71 ff.; Bayer in: MünchKomm-AktG § 15 Rz. 38, 41; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 11; kritisch: Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 15 Rz. 26. 42) Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 15 AktG Rz. 9a f., 29 m. w. N. 43) Bayer in: MünchKomm-AktG § 15 Rz. 43; Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 15 Rz. 58; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 11.

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In Mehrheitsbesitz stehende Unternehmen 2.

§ 16

In Mehrheitsbesitz stehendes bzw. abhängiges Unternehmen

Der Begriff des in Mehrheitsbesitz stehenden Unternehmens in § 16 Abs. 1 bzw. des ab- 15 hängigen Unternehmens in § 17 Abs. 1 wird sehr weit verstanden, so dass hier jeder zumindest teilrechtsfähige Rechtsträger als abhängiges Unternehmen in Betracht kommt, ohne dass es eines eigenen Geschäftsbetriebs oder einer anderweitigen wirtschaftlichen Interessenbindung bedarf.44) Auch die Europäische Wirtschaftliche Interessengemeinschaft (EWIV) kann abhängiges Unternehmen im diesem Sinne sein (zu ihrer Eigenschaft als herrschendes Unternehmen siehe zuvor unter Rz. 9 a. E.).45) 3.

Gleichgeordnetes bzw. wechselseitig beteiligtes Unternehmen

Ein ähnlich weit gefasstes Begriffsverständnis wie bei einem in Mehrheitsbesitz stehen- 16 den bzw. abhängigen Unternehmen soll für gleichgeordnete Unternehmen i. S. von § 18 Abs. 2 gelten.46) Wechselseitig beteiligte Unternehmen können gemäß § 19 Abs. 1 nur Kapitalgesellschaften mit inländischem Satzungssitz sein (siehe zum Begriff „Sitz im Inland“ § 19 Rz. 5).47) _____________ 44) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 73; Bayer in: MünchKomm-AktG § 15 Rz. 47 f.; Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 15 Rz. 86; a. A. – für natürliche Personen, die kein Unternehmen betreiben – Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 53. 45) Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 15 Rz. 54; Windbichler in: GroßKomm-AktG, § 15 Rz. 17 f. 46) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 75; eingehend: Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 15 Rz. 90. 47) Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 15 Rz. 91.

§ 16 In Mehrheitsbesitz stehende Unternehmen und mit Mehrheit beteiligte Unternehmen Alexander Franz

(1) Gehört die Mehrheit der Anteile eines rechtlich selbständigen Unternehmens einem anderen Unternehmen oder steht einem anderen Unternehmen die Mehrheit der Stimmrechte zu (Mehrheitsbeteiligung), so ist das Unternehmen ein in Mehrheitsbesitz stehendes Unternehmen, das andere Unternehmen ein an ihm mit Mehrheit beteiligtes Unternehmen. (2) 1Welcher Teil der Anteile einem Unternehmen gehört, bestimmt sich bei Kapitalgesellschaften nach dem Verhältnis des Gesamtnennbetrags der ihm gehörenden Anteile zum Nennkapital, bei Gesellschaften mit Stückaktien nach der Zahl der Aktien. 2 Eigene Anteile sind bei Kapitalgesellschaften vom Nennkapital, bei Gesellschaften mit Stückaktien von der Zahl der Aktien abzusetzen. 3Eigenen Anteilen des Unternehmens stehen Anteile gleich, die einem anderen für Rechnung des Unternehmens gehören. (3) 1Welcher Teil der Stimmrechte einem Unternehmen zusteht, bestimmt sich nach dem Verhältnis der Zahl der Stimmrechte, die es aus den ihm gehörenden Anteilen ausüben kann, zur Gesamtzahl aller Stimmrechte. 2Von der Gesamtzahl aller Stimmrechte sind die Stimmrechte aus eigenen Anteilen sowie aus Anteilen, die nach Absatz 2 Satz 3 eigenen Anteilen gleichstehen, abzusetzen. (4) Als Anteile, die einem Unternehmen gehören, gelten auch die Anteile, die einem von ihm abhängigen Unternehmen oder einem anderen für Rechnung des Unternehmens oder eines von diesem abhängigen Unternehmens gehören und, wenn der In-

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§ 16

In Mehrheitsbesitz stehende Unternehmen

haber des Unternehmens ein Einzelkaufmann ist, auch die Anteile, die sonstiges Vermögen des Inhabers sind. Literatur: Müller, Die Zurechnung von Anteilen gemäß § 16 Abs. 4 AktG, AG 1968, 277; Schubert/Ravenstein, Beschränkung der Stimmrechtsausübung und Abhängigkeit, DB 2006, 2219.

Übersicht I. Bedeutung der Norm ....................... II. Anteilsmehrheit (§ 16 Abs. 1 Alt. 1) ................................................. 1. Begriff ................................................. 2. Bestimmung (§ 16 Abs. 2) ................ III. Stimmenmehrheit (§ 16 Abs. 1 Alt. 2) ................................................. I.

1 2 2 3 6

1. Begriff .................................................. 6 2. Bestimmung (§ 16 Abs. 3) ............... 10 a) Stimmrechtslose Anteile ............ 11 b) Gesamtzahl aller Stimmrechte .......................................... 12 c) Ausübbare Stimmrechte ............ 14 IV. Zurechnung (§ 16 Abs. 4) ............... 17

Bedeutung der Norm

1 § 16 Abs. 1 definiert den Begriff der Mehrheitsbeteiligung sowie die von einer solchen Beteiligung betroffenen Unternehmen als einerseits ein in Mehrheitsbesitz stehendes und andererseits ein an diesem mit Mehrheit beteiligtes Unternehmen. Die Mehrheitsbeteiligung ist von der Abhängigkeit i. S. von § 17 zu unterscheiden, da eine Korrelation nicht zwingend ist.1) Zur Begründung einer Mehrheitsbeteiligung genügt alternativ (vgl. § 16 Abs. 1: „oder“) die nach § 16 Abs. 2 zu bestimmende Mehrheit der Anteile oder die nach § 16 Abs. 3 zu bestimmende Mehrheit der Stimmrechte (jeweils unter Berücksichtigung einer eventuellen Zurechnung gemäß § 16 Abs. 4). Fallen Anteils- und Stimmenmehrheit ausnahmsweise auseinander, so ist jeder der beiden Rechtsträger als ein mit Mehrheit beteiligtes Unternehmen i. S. von § 16 Abs. 1 anzusehen.2) Zum Begriff des Unternehmens i. S. von § 16 siehe die entsprechenden Ausführungen zu § 15 (zum Begriffsverständnis i. S. von § 15 siehe § 15 Rz. 4 und Rz. 15 – „In Mehrheitsbesitz stehendes Unternehmen“). Bedeutsam ist § 16 insbesondere für die (widerlegliche) Abhängigkeitsvermutung und der damit verbundenen Beweislastumkehr in § 17 Abs. 2, die ihrerseits wiederum Bedeutung für die (widerlegliche) Konzernvermutung in § 18 Abs. 1 Satz 3 hat.3) Verwendet wird der Begriff Mehrheitsbeteiligung insbesondere in §§ 19 Abs. 2 und 3, 20 Abs. 4, 21 Abs. 2, 56 Abs. 2 und 3, 71a Abs. 2, 71d Satz 2, 160 Abs. 1, 305 Abs. 2, eine Inbezugnahme des § 16 Abs. 2 bzw. 4 enthalten insbesondere §§ 19 Abs. 1, 20 Abs. 1, 21 Abs. 1, 327a und 328 Abs. 1 Satz 3. II.

Anteilsmehrheit (§ 16 Abs. 1 Alt. 1)

1.

Begriff

2 Anteilsmehrheit ist eine Mehrheit der Kapitalanteile, die grundsätzlich nur bei Rechtsträgern mit eigenem von den Gesellschaftern gehaltenen Gesellschaftskapital bestehen kann, insbesondere bei Kapital- und Personengesellschaften, grundsätzlich nicht hinge-

_____________ 1) 2) 3)

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Kropff, AktG, S. 28 ff.; Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 16 AktG Rz. 1. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 16 Rz. 2; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 10. K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 1; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 3.

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gen bei Einzelkaufmännern,4) Stiftungen, Genossenschaften,5) Idealvereinen,6) Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit (VVaG) oder Anstalten des öffentlichen Rechts.7) Maßgeblich für die Zuordnung der Anteile i. S. von § 16 Abs. 1 ist die dingliche Rechtsinhaberschaft des mit Mehrheit beteiligten Unternehmens, eine etwaige hiervon abweichende Legitimation gegenüber der Gesellschaft im Innenverhältnis (vgl. § 67 Abs. 2, § 16 Abs. 1 GmbHG) ist hingegen ohne Bedeutung.8) Der Anteilserwerb muss rechtswirksam sein, d. h. eine bloße tatsächliche Verfügungsmacht über die Anteile genügt nicht.9) Da Treugebern, Pfandgläubigern, Kommittenten, Nießbrauchberechtigten sowie lediglich schuldrechtlich „Beteiligten“ die dingliche Anteilsinhaberschaft nicht zusteht, lässt sich deren Anteilsmehrheit ggf. nur über eine Zurechnung nach § 16 Abs. 4 begründen.10) 2.

Bestimmung (§ 16 Abs. 2)

Bei Kapitalgesellschaften bestimmt sich die Anteilsmehrheit gemäß § 16 Abs. 2 nach dem 3 Verhältnis des Gesamtnennbetrags der dem Unternehmen zustehenden Anteile zum Gesamtnennbetrag des vorhandenen Kapitals („Nennkapital“). Für AGs mit Stückaktien stellt § 16 Abs. 2 klar, dass das Verhältnis zwischen der dem jeweiligen Unternehmen zustehenden Zahl der Stückaktien gemessen an der Gesamtzahl aller Stückaktien maßgeblich ist. Nennkapital ist bei der AG das Grundkapital, bei der GmbH das Stammkapital, und zwar jeweils unabhängig von der tatsächlichen Erbringung der Einlagen sowie ohne Berücksichtigung etwaiger Rücklagen.11) Kapitalmaßnahmen können nur dann berücksichtigt werden, wenn diese bereits wirksam durchgeführt und in das Handelsregister eingetragen worden sind.12) Bei den nicht explizit in § 16 Abs. 2 erwähnten Personengesellschaften entspricht das Nenn- 4 kapital der auf den gesellschaftsvertraglich festgelegten Kapitalkonten insgesamt einzuzahlenden Kapitaleinlagen (die bei der KG13) nicht zwingend mit den in das Handelsregister eingetragenen Haftsummen der Kommanditisten übereinstimmen müssen).14) Sieht der Gesellschaftsvertrag variable Kapitalkonten vor, ist für die Bestimmung der Anteilsmehrheit auf den Betrag zum letzten Bilanzstichtag abzustellen.15) Vom Nennkapital bzw. bei Stückaktien von der Gesamtzahl der Stückaktien abzuziehen 5 sind eigene Anteile des Unternehmens, an dem die Mehrheitsbeteiligung besteht („Betei_____________ 4) Ausnahmsweise für die Möglichkeit einer Mehrheitsbeteiligung i. S. von § 16 bei atypisch stiller Beteiligung an einem einzelkaufmännischen Unternehmen: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 16 Rz. 4; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 16 Rz. 18; Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 16 Rz. 16; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 20; a. A. K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 6; Spindler/ Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 40, mit dem Hinweis, dass eine Mehrheitsbeteiligung allerdings denkbar sei, wenn das einzelkaufmännische Unternehmen von einer Erben- oder Gütergemeinschaft getragen wird. 5) A. A. in Ausnahmefällen Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 16 AktG Rz. 8. 6) A. A. bei entsprechender Satzungsgestaltung wohl auch für Idealvereine Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 41. 7) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 4 m. w. N. 8) OLG Stuttgart Beschl. v. 1.12.2008 – 20 W 12/08, AG 2009, 204, 206; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 5; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 17. 9) OLG Stuttgart Beschl. v. 1.12.2008 – 20 W 12/08, AG 2009, 204, 206. 10) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 5; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 17. 11) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 16 Rz. 8; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 14. 12) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 16 Rz. 8; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 14. 13) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 9. 14) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 16 Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 9; Spindler/StilzSchall, AktG, § 16 Rz. 27. 15) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 16 Rz. 2, 10; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 9; Spindler/StilzSchall, AktG, § 16 Rz. 27.

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ligungsgesellschaft“), ebenso wie die einem anderen für Rechnung der Beteiligungsgesellschaft gehörenden Anteile, vgl. § 16 Abs. 2 Satz 2 und 3 (zum Begriff „für Rechnung“ siehe Rz. 18). Umstritten ist, ob im Wege teleologischer Erweiterung des § 16 Abs. 2 Satz 2 auch diejenigen Anteile abzuziehen sind, die einem von der Beteiligungsgesellschaft abhängigen Unternehmen i. S. von § 17 zustehen.16) Zustimmungswürdig ist im Hinblick auf die Regelungen in § 16 Abs. 4 sowie in § 71d Satz 2 und 3 i. V. m. § 71b die eine Analogie zu § 17 befürwortende Auffassung. III.

Stimmenmehrheit (§ 16 Abs. 1 Alt. 2)

1.

Begriff

6 Stimmenmehrheit i. S. von § 16 Abs. 1 Alt. 2 kann es nur geben, wenn die betroffene Beteiligungsgesellschaft mitgliedschaftlich organisiert ist, d. h. der Verbandswille in Mitgliederversammlungen nach dem Mehrheitsprinzip gebildet wird.17) 7 Gemäß § 709 Abs. 1 BGB, § 119 Abs. 1 HGB fordert das Gesetz bei Personengesellschaften grundsätzlich einstimmige Beschlüsse, so dass mehrheitsfähige Entscheidungen und somit eine Stimmenmehrheit nur bei abweichender gesellschaftsvertraglicher Gestaltung in Betracht kommen.18) Mangels mitgliedschaftlicher Organisation ist eine Stimmenmehrheit bei Stiftungen und Anstalten des öffentlichen Rechts nicht möglich.19) Auch bei Genossenschaften kann es keine Stimmenmehrheit geben.20) Denkbar ist Stimmenmehrheit (nicht aber Anteilsmehrheit, siehe hierzu Rz. 2) hingegen beim Verein sowie beim Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (VVaG).21) 8 Problematisch erscheint die Zuordnung der Stimmenmehrheit, wenn der Gesellschaftsvertrag für einzelne oder sämtliche Beschlüsse eine qualifizierte Mehrheit (z. B. 75 %) fordert und/oder einzelne Befugnisse der Gesellschafterversammlung auf andere Organe delegiert. Da der Wortlaut des § 16 Abs. 1 und 3 von einer einfachen Mehrheit (d. h. über 50 %) ausgeht, stellt sich die Frage, ob die Stimmenmehrheit i. S. von § 16 Abs. 1 in derartigen Fällen auf Basis einer Einzelfallbetrachtung ggf. abweichend vom Wortlaut (d. h. nicht abstrakt, sondern konkret) festgestellt werden muss.22) Während einige Stimmen den abstrakten Mehrheitsbegriff infrage stellen,23) erscheint es aus systematischen Gründen sinnvoller, derartige Überlegungen erst im Hinblick auf eine eventuelle Widerlegung _____________ 16) Für eine (teleologische) Erweiterung des § 16 Abs. 2 Satz 2: Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 15; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 10; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 16 Rz. 34; Emmerich/ Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 16 AktG Rz. 11; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 25; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 16 Rz. 9 (anders noch in früherer Auflage); gegen eine Erweiterung: Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 16 Rz. 25; Windbichler in: GroßKomm-AktG, § 16 Rz. 13. 17) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 7.5.2008 – VI-Kart 1/07, AG 2008, 859, 860; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 16 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 11. 18) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 16 Rz. 5; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 39; K. Schmidt/LutterVetter, AktG, § 16 Rz. 12. 19) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 7.5.2008 – VI-Kart 1/07, AG 2008, 859, 860 – Anstalt des öffentlichen Rechts; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 16 Rz. 4 f., § 17 Rz. 17; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 11. 20) Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 41; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 12; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 16 Rz. 15, der eine Ausnahme zulassen will, wenn nach der Satzung Mehrstimmrechte gemäß § 43 Abs. 3 GenG zugelassen sind. 21) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 12; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 30; Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 16 Rz. 17 – nicht beim Idealverein; a. A. – beim VVaG – Spindler/ Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 41; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 16 Rz. 17; Windbichler in: GroßKommAktG, § 16 Rz. 46. 22) Hierzu eingehend: Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 16 Rz. 18 f.; Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 16 AktG Rz. 23 ff. 23) Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 16 Rz. 18 f.; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 32.

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der Abhängigkeitsvermutung für eine Beherrschung gemäß § 17 Abs. 2 zu berücksichtigen und für § 16 stets auf die vom Wortlaut vorgegebene (abstrakte) einfache Stimmenmehrheit abzustellen (zu einer Berücksichtigung dieser Umstände i. R. von § 17 Abs. 2 siehe die Ausführungen bei § 17 Rz. 25 ff.).24) § 16 Abs. 3 stellt explizit klar, dass i. R. der originären Zuordnung nur solche Stimmrech- 9 te Berücksichtigung finden, die sich unmittelbar aus der Anteilsinhaberschaft ergeben, so dass sich rein schuldrechtlich vermittelte „Stimmrechte“ (Stimmbindungen, Stimmrechtsverzichte, Stimmrechtsvollmachten, Ermächtigungen i. S. von § 129 Abs. 3, atypisch stille Gesellschaftskonstruktionen) lediglich über die Zurechnungsnorm des § 16 Abs. 4 berücksichtigen lassen.25) Stimmen i. S. von § 16 Abs. 3 stehen somit regelmäßig dem Treuhänder, Pfandschuldner oder Kommissionär zu, eine eventuelle Berücksichtigung zugunsten des Treugebers, Pfandgläubigers oder Kommittenten kann nur über § 16 Abs. 4 erfolgen (siehe hierzu auch Rz. 2).26) 2.

Bestimmung (§ 16 Abs. 3)

Die Stimmenmehrheit i. S. von § 16 Abs. 1 Alt. 2 ist gemäß § 16 Abs. 3 dadurch zu ermitteln, 10 dass die „ausübbaren“ Stimmrechte der Anteile der Beteiligungsgesellschaft in das Verhältnis zur Anzahl sämtlicher Stimmrechte („Gesamtzahl aller Stimmrechte“) gesetzt werden. Von der Gesamtzahl abzuziehen sind die Stimmrechte aus eigenen Anteilen der Beteiligungsgesellschaft, aus Anteilen, die für Rechnung der Beteiligungsgesellschaft gehalten werden und, nach umstrittener Ansicht,27) die aus Anteilen eines von der Beteiligungsgesellschaft abhängigen Unternehmens resultierenden Stimmrechte (siehe hierzu auch Rz. 5). a)

Stimmrechtslose Anteile

Stimmrechtslose Anteile, z. B. stimmrechtslose Vorzugsaktien, werden weder bei Be- 11 stimmung der ausübbaren Stimmrechte der Beteiligungsgesellschaft, noch bei Bestimmung der Gesamtzahl aller Stimmrechte mitgezählt (es sei denn, das Stimmrecht lebt gemäß § 140 Abs. 2 wieder auf; siehe hierzu auch § 140).28) b)

Gesamtzahl aller Stimmrechte

Beschränkte („ruhende“) Stimmrechte einzelner Aktionäre nach

12



§ 134 Abs. 1 (Höchststimmrechte),



§ 134 Abs. 2 (mangelnde Volleinzahlung auf die Einlage),



§ 136 (Befangenheit) und



§§ 20 Abs. 7, 21 Abs. 4, § 44 WpHG, § 59 WpÜG (unterlassene Schwellenwertmitteilungen)

werden bei Bestimmung der Gesamtzahl mitgezählt.29) _____________ 24) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 13; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 16 Rz. 11; Emmerich/ Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 16 AktG Rz. 23. 25) Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 31; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 14. 26) Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 31; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 14; ausführlich zum Meinungsstand im Hinblick auf den Sonderfall des Nießbrauchs: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 16 Rz. 7; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 16 Rz. 28. 27) Dafür: Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 29; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 16; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 16 Rz. 38; Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 16 AktG Rz. 22; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 16 Rz. 11; dagegen: Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 16 Rz. 47. 28) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 18; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 16 Rz. 37. 29) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 16 Rz. 11; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 19; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 16 Rz. 37.

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§ 16

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13 Nicht mitgezählt werden hingegen die im Innenverhältnis (noch) nicht existierenden Stimmrechte eines nicht ordnungsgemäß gegenüber der Beteiligungsgesellschaft legitimierten Anteilsinhabers (§ 67 Abs. 2, § 16 Abs. 1 GmbHG).30) c)

Ausübbare Stimmrechte

14 Bei Bestimmung der ausübbaren Stimmrechte der Beteiligungsgesellschaft sind Höchststimmrechte gemäß § 134 Abs. 1 zu berücksichtigen, so dass diese nur bis zum jeweils vorgegebenen Höchstbetrag mitgezählt werden.31) 15 Umstritten ist, wie Stimmrechtsbeschränkungen aufgrund §§ 134 Abs. 2, 136, 20 Abs. 7, 21 Abs. 4, § 44 WpHG und § 59 WpÜG zu behandeln sind. Nach einer Ansicht werden diese „ruhenden“ Stimmrechte auch bei Bestimmung der ausübbaren Stimmrechte der Beteiligungsgesellschaft mitgezählt, da der betroffene Anteilsinhaber es selbst in der Hand hat, die Beschränkung jederzeit zu beenden und die Stimmrechte zu „aktivieren“.32) Die Gegenauffassung hält an einem streng formalen Wortlautverständnis des § 16 Abs. 3 fest, unterscheidet nicht zwischen generellen und konkret-individuellen Stimmrechtsbeschränkungen und zählt die „ruhenden“ Stimmrechte mangels Ausübbarkeit insgesamt nicht mit.33) Die erste Ansicht ist vorzugswürdig. Der Verweis der Gegenauffassung auf eine mögliche Berücksichtigung der Beschränkungen i. R. von § 17 geht an dieser Stelle fehl,34) da die Vermutungsregel des § 17 Abs. 2 ansonsten allzu leicht zum Zwecke einer konzernrechtlichen Privilegierung durch die betroffenen Anteilsinhaber ausgehebelt werden könnte.35) 16 Aus denselben Gründen werden auch die „Stimmrechte“ eines (noch) nicht gemäß § 67 Abs. 2 oder § 16 Abs. 1 GmbHG ordnungsgemäß legitimierten Anteilsinhabers an dieser Stelle mitgezählt (ebenfalls umstritten).36) Überlegenswert ist, angesichts der gesetzlichen Fiktion in § 67 Abs. 2 und § 16 Abs. 1 GmbHG die Anteile und somit auch die Stimmrechte für Zwecke des § 16 Abs. 3 ebenfalls dem dinglich Nichtberechtigten, aber im Innenverhältnis nach wie vor Legitimierten, zuzuordnen. IV.

Zurechnung (§ 16 Abs. 4)

17 Bei Bestimmung der Anteils- oder Stimmenmehrheit sind nicht nur eigene Anteile bzw. Stimmrechte der Beteiligungsgesellschaft zu berücksichtigen, sondern auch über § 16 Abs. 4 zuzurechnende Anteile Dritter. Auch wenn § 16 Abs. 4 dies nicht explizit vorsieht, ergibt sich die Zurechnung fremder Stimmrechte aus dem systematischen Zusammenspiel zwischen § 16 Abs. 4 und Abs. 3, wonach „ihm gehörende Anteile“ i. S. von § 16 Abs. 3 auch die über § 16 Abs. 4 zugerechneten Anteile sind.37) Ein und dieselben Anteile können durch gleichzeitige Berücksichtigung bei Anteilsinhaber und Zurechnungsempfänger zu einer doppelten Mehrheitsbeteiligung i. S. von § 16 führen, da eine Absorption nicht stattfindet.38) _____________ 30) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 21. 31) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 20; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 35. 32) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 20; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 16 Rz. 40; Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 16 Rz. 46; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 34; Hüffer/KochKoch, AktG, § 16 Rz. 11. 33) Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 35; Windbichler in: GroßKomm-AktG, § 16 Rz. 35. 34) So aber Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 35. 35) So auch Bayer in: MünchKomm-AktG, § 16 Rz. 40. 36) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 21; a. A. Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 32. 37) Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 33; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 22. 38) LG Berlin, Urt. v. 1.12.1997 – 99 O 171/97, AG 1998, 195, 196; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 16 Rz. 13; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 23.

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§ 17

Abhängige und herrschende Unternehmen

Über § 16 Abs. 4 explizit zugerechnet werden Anteile eines abhängigen Unternehmens 18 i. S. von § 17 sowie die einem Dritten, aber für Rechnung der Beteiligungsgesellschaft oder eines von der Beteiligungsgesellschaft abhängigen Unternehmens, gehörenden Anteile. Für Rechnung bedeutet auf Kosten und wirtschaftliches Risiko (z. B. bei Geschäftsbesorgungs- und Treuhandverhältnissen).39) Zusätzlich stellt § 16 Abs. 4 klar, dass die Zurechnung auch im Privatvermögen eines Einzelkaufmanns gehaltene Anteile erfasst, wobei selbiges auch für Kleingewerbetreibende und Freiberufler, nicht hingegen aber für Personengesellschaften gilt.40) Über eine teleologische Erweiterung des Anwendungsbereichs von § 16 Abs. 4 wird ins- 19 besondere bei Stimmbindungsverträgen entsprechend der Regelung in § 290 Abs. 3 Satz 2 HGB diskutiert.41) Sachgerechter dürfte es sein, eine analoge Anwendung auf Stimmbindungsverträge und andere schuldrechtliche Abreden (z. B. Konsortialvereinbarungen, Gesellschaftervereinbarungen oder Stimmrechtsvollmachten) abzulehnen. Da schuldrechtliche Besonderheiten auf Ebene von § 17 berücksichtigt werden können, ist die eine Analogie voraussetzende Regelungslücke vorliegend nicht erkennbar (siehe auch bei § 17 Rz. 14 f.).42) Selbiges muss auch für andere, nicht auf einer Beteiligung beruhende, gesetzliche Tatbestände der Stimmrechtszurechnung gelten (siehe auch § 17 Rz. 16).43) _____________ 39) Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 22; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 26. 40) Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 26; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 27. 41) Für eine Erweiterung des § 16 Abs. 4: Bayer in: MünchKomm-AktG, § 16 Rz. 41, 48; Emmerich/ Habersack-Emmerich, § 16 AktG Rz. 25; gegen eine Erweiterung: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 16 Rz. 13; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 23, 34; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 29; Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 16 Rz. 43; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 33. 42) Ähnlich Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 16 Rz. 23. 43) Vgl. hierzu K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 16 Rz. 30.

§ 17 Abhängige und herrschende Unternehmen Alexander Franz

(1) Abhängige Unternehmen sind rechtlich selbständige Unternehmen, auf die ein anderes Unternehmen (herrschendes Unternehmen) unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluß ausüben kann. (2) Von einem in Mehrheitsbesitz stehenden Unternehmen wird vermutet, daß es von dem an ihm mit Mehrheit beteiligten Unternehmen abhängig ist. Literatur: Kiefner, Investorenvereinbarungen zwischen Aktien- und Vertragsrecht, ZHR 178 (2014) 547; Soudry/Löb, Der Begriff des abhängigen Unternehmens im Sinne des § 17 AktG – Zur Einbeziehung rein wirtschaftlich vermittelter Abhängigkeiten in den Anwendungsbereich des Konzernrechts, GWR 2011, 127.

Übersicht I. II. 1. 2.

Bedeutung der Norm ........................ 1 Abhängigkeit (§ 17 Abs. 1) .............. 2 Mögliche Beherrschung ..................... 2 Gesellschaftsrechtliche Vermittlung ........................................ 7 3. Mittelbare, mehrfache Abhängigkeit ....................................................... 8

4. Einzelfälle ......................................... a) Minderheitsbeteiligung (kombinierte Beherrschung) ..... b) Keine Beteiligung ....................... c) Optionsrechte ............................ III. Vermutungsregel (§ 17 Abs. 2) ...... 1. Bedeutung .........................................

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§ 17

Abhängige und herrschende Unternehmen

2. Widerlegung ..................................... 25 a) Grundsatz .................................. 25 I.

b) Einzelfälle ................................... 26

Bedeutung der Norm

1 § 17 Abs. 1 definiert den Begriff des abhängigen Unternehmens über denjenigen des beherrschenden Einflusses. Bedeutsam ist der Begriff der Abhängigkeit insbesondere für die Konzernvermutung und die damit verbundene Beweislastumkehr in § 18 Abs. 1 Satz 3.1) Während die Möglichkeit einer Beherrschung für eine Abhängigkeit i. S. von § 17 ausreicht, verlangt der Konzernbegriff des § 18 zusätzlich die (tatsächliche) einheitliche Leitung durch das herrschende Unternehmen.2) An die zu zentralen Tatbeständen des Konzernrechts avancierten Begriffe der Abhängigkeit bzw. der Beherrschung knüpfen insbesondere die Schutzvorschriften des Konzernrechts zugunsten der abhängigen Gesellschaft (§§ 311 ff.) sowie solche Vorschriften an, die einen Umgehungsschutz bezwecken (z. B. §§ 16 Abs. 4, 56 Abs. 2).3) Zum Begriff des Unternehmens i. S. von § 17 siehe die entsprechenden Ausführungen zu § 15 (zum Begriffsverständnis i. S. von § 15 siehe § 15 Rz. 4, 5 ff. – „Herrschendes Unternehmen“ und Rz. 15 – „Abhängiges Unternehmen“ bzw. „In Mehrbesitz stehendes Unternehmen“). II.

Abhängigkeit (§ 17 Abs. 1)

1.

Mögliche Beherrschung

2 Erforderlich, aber auch ausreichend für die Begründung einer Abhängigkeit i. S. von § 17 Abs. 1 ist, dass ein Unternehmen (herrschendes Unternehmen) die Möglichkeit hat, auf ein anderes Unternehmen (abhängiges Unternehmen) unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluss auszuüben (§ 17 Abs. 1: „ausüben kann“).4) 3 Im Hinblick auf den beherrschenden Einfluss lässt die an eine Mehrheitsbeteiligung i. S. von § 16 Abs. 1 anknüpfende Vermutungsregel des § 17 Abs. 2 den Umkehrschluss zu, dass grundsätzlich die Kompetenz, die geschäftsleitenden Organe bestellen bzw. abberufen zu können, entscheidend ist.5) Die aus dieser sog. Personalkompetenz resultierende Einflussmöglichkeit ist nach allgemeiner Auffassung ausreichend, da sich die Geschäftsleitung mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits aus Eigeninteresse (z. B. an Wiederwahl) gegenüber den Anteilsinhabern einflusskonform verhalten wird.6) Während vorbehaltlich einer abweichenden gesellschaftsvertraglichen Regelung die Gesellschafter einer Personengesellschaft bzw. einer GmbH die Geschäftsführung selbst ausüben bzw. unmittelbar besetzen (vgl. §§ 709 f. BGB, §§ 114 f. HGB, § 46 Abs. 2 Nr. 5 GmbHG), genügt es bei der AG, dass die Hauptversammlung nicht direkt, sondern über die turnusmäßig mit einfacher Mehrheit zu bestellenden Aufsichtsratsmitglieder die personelle Besetzung des geschäftsführenden Vorstands mittelbar beeinflussen kann (vgl. § 101 Abs. 1 i. V. m. §§ 133 Abs 1, 84).7) Ist ein Aufsichtsrat teilweise (zu 1/3 gemäß DrittelbG bzw. paritätisch gemäß _____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6)

7)

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K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 2; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 4. Vgl. auch K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 2 – Abhängigkeit als „potentieller Konzern“. Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 4 ff. m. N. weiterer Vorschriften. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 5 f.; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 2, 8. K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 6. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 5; OLG München, Beschl. v. 24.6.2008 – 31 Wx 83/07, AG 2008, 672, 673 = ZIP 2008, 1330, dazu EWiR 2008, 481 (Goslar); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 7.5.2008 – 19 VI-Kart 1/07, AG 2008, 859, 860 f.; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 6, die im Einzelfall auch eine faktische Einflussnahme auf den für die Organbesetzung zuständigen Entscheidungsträger genügen lassen. Vgl. K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 6; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 17 Rz. 26 f.

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Abhängige und herrschende Unternehmen

§ 17

MitbestG oder Montanmitbestimmungsgesetz) durch Arbeitnehmervertreter besetzt, so hat dies nach h. M. keinen Einfluss auf die Bestimmung der Abhängigkeit.8) Gleiches muss für sonstige bei der Wahl des Aufsichtsrates zu beachtende gesetzliche Vorgaben wie z. B. § 100 Abs. 5 und Ziff. 5.4.2 DCGK (Anforderungen an die Unabhängigkeit) gelten.9) Ausreichend ist unabhängig von der Organbesetzung ggf. aber auch die Möglichkeit, 4 Weisungen an die Geschäftsleitung insgesamt oder zumindest im Hinblick auf die wichtigen Geschäftsbereiche erteilen zu können, wie gemäß § 37 Abs. 1 GmbHG für die GmbH gesetzlich vorgesehen und bei Personengesellschaften mit gesellschaftsvertraglich verankertem Mehrheitsprinzip ebenfalls möglich (bei der AG ist dies wegen § 76 Abs. 1 hingegen nur bei Bestehen eines Beherrschungsvertrags denkbar).10) Die bloße Blockademöglichkeit oder „negative“ Beherrschung aufgrund einer Sperrmi- 5 norität reicht hingegen grundsätzlich nicht aus.11) Die mögliche beherrschende Einflussnahme muss nach h. M. eine gewisse Beständigkeit 6 i. S. von Verlässlichkeit, nicht notwendigerweise auch i. S. von Dauerhaftigkeit, aufweisen und umfassend sein.12) Beständigkeit ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn die Beherrschungsmöglichkeit unmittelbar auf eigenem Recht oder mittelbar auf gesicherter Mitwirkung Dritter beruht,13) wobei maßgebliche Perspektive diejenige des abhängigen Unternehmens ist.14) 2.

Gesellschaftsrechtliche Vermittlung

Die Möglichkeit der beherrschenden Einflussnahme muss nach h. M.15) stets zumindest 7 auch gesellschaftsrechtlich vermittelt sein, d. h. in die Innenstruktur des Unternehmens eingreifen, und kann nicht allein durch außergesellschaftsrechtliche Umstände (z. B. wirtschaftliche Abhängigkeit aufgrund umfangreicher Liefer-, Leistungs- oder Kreditbeziehungen) begründet, wohl aber im Wege einer Gesamtbetrachtung durch solche Umstände verstärkt werden (sog. kombinierte Beherrschung, siehe hierzu Rz. 11 ff.). Folglich bedarf es zumindest stets auch der Möglichkeit, Stimmrechte ausüben zu können oder einer anderen organisationsrechtlichen Verbindung in Form eines Beherrschungsvertrags oder _____________ 8) BAG, Beschl. v. 18.6.1970 – 1 ABR 3/70, AG 1970, 268, 270; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 11; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 7; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 54; a. A. angesichts der vollen Parität ohne Zweitstimmrecht des Vorsitzenden für den Grenzfall der Montanmitbestimmung Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 17 Rz. 120. 9) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 7; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 11. 10) BGH, Urt. v. 4.3.1974 – II ZR 89/72, AG 1974, 220, 221 f.; OLG Stuttgart, Beschl. v. 1.12.2008 – 20 W 12/08, AG 2009, 204, 206; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 8; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 9 ff. 11) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 10; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 9, 27; Henssler/StrohnKessler/Maier-Reimer, GesR, § 17 AktG Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 9 m. N. zu denkbaren Ausnahmen. 12) OLG Karlsruhe, Beschl. v. 11.12.2003 – 12 W 11/02, AG 2004, 147, 148; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 31.3.2009 – I-26 W 5/08, AG 2009, 873, 874; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 6 f.; Spindler/StilzSchall, AktG, § 17 Rz. 19. 13) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 6; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 19. 14) BGH, Urt. v. 4.3.1974 – II ZR 89/72, AG 1974, 220, 221; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 4; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 38; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 14; einschränkend K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 13. 15) BGH, Urt. v. 26.3.1984 – II ZR 171/83 (BuM/WestLB), AG 1984, 181, 184 = ZIP 1984, 572; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 11.12.2003 – 12 W 11/02 AktE, AG 2004, 147, 148; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 41; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 15 f.; Bayer in: MünchKommAktG, § 17 Rz. 21 ff. 31 f.; abweichend Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 21 f.; Soudry/Löb, GWR 2011, 127 ff.; kritisch Henssler/Strohn-Kessler/Maier-Reimer, GesR, § 17 AktG Rz. 5.

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§ 17

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der Eingliederung (AG) bzw. bestimmter gesellschaftsvertraglich festgelegter Herrschaftsrechte (GmbH, Personengesellschaft).16) 3.

Mittelbare, mehrfache Abhängigkeit

8 § 17 Abs. 1 stellt klar, dass die Möglichkeit eines mittelbar beherrschenden Einflusses ausreicht. Beispiel: Es genügt also, wenn A mittelbar über B und B unmittelbar auf C beherrschenden Einfluss ausüben kann (insbesondere in Form der mehrstufigen Abhängigkeit im Konzern zwischen Mutter, Tochter und Enkelin), wobei die mittelbare Abhängigkeit C von A ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen A und B nicht zwingend voraussetzt.17) Da C sowohl von A (mittelbar) als auch von B (unmittelbar) abhängig ist und eine Absorption der Abhängigkeiten nicht stattfindet, liegt im Beispielsfall mehrfache Abhängigkeit vor (zum Thema mehrfache Mehrheitsbeteiligung und Absorption siehe § 16 Rz. 17).18) 9 Außerhalb von Konzernbeziehungen ist eine mehrfache Abhängigkeit insbesondere denkbar bei –

Gemeinschaftsunternehmen (vor allem beim 50:50 Joint-Venture, siehe hierzu auch Rz. 17),19)



Treuhandverträgen (siehe hierzu auch Rz. 21),20)



Stimmbindungs- und Konsortialverträgen (siehe hierzu auch Rz. 14 f.)21) sowie



Stimmrechtsvollmachten (siehe hierzu noch auch Rz. 14, 21).

4.

Einzelfälle

10 Außerhalb einer Mehrheitsbeteiligung, angesichts der Notwendigkeit einer gesellschaftsrechtlichen Vermittlung (siehe hierzu Rz. 7) meist aber in Kombination mit einer Minderheitsbeteiligung, wird ein beherrschender Einfluss in folgenden Konstellationen diskutiert: a)

Minderheitsbeteiligung (kombinierte Beherrschung)

11 Eine Minderheitsbeteiligung vermittelt dann die Möglichkeit einer beherrschenden Einflussnahme, wenn die Präsenz in Haupt- oder Gesellschafterversammlung erfahrungsgemäß so niedrig ist, dass die betroffene Beteiligung für eine Mehrheit regelmäßig ausreicht und es sich nicht bloß um eine Zufallsmehrheit handelt (insbesondere bei Publikumsgesellschaften mit hohem Streubesitz denkbar).22) 12 Selbiges gilt für zusätzliche personelle Verflechtungen auf Leitungsebene, insbesondere dann, wenn durch diese die Mehrheit in allen maßgeblichen Gremien (Vorstand und Auf_____________ 16) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 15. 17) Vgl. Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 49 f.; Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 17 Rz. 29 f.; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 17 Rz. 72 ff. 18) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 18 f.; Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 17 Rz. 31. 19) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 19, 45 ff.; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 17 Rz. 76. 20) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 19; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 17 Rz. 74. 21) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 48; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 52. 22) BGH, Urt. v. 13.10.1977 – II ZR 123/76 (Veba/Gelsenberg), AG 1978, 50 ff. – Beteiligung von 43,74 % bei durchschnittlicher Präsenz von ca. 80 %; BGH, Beschl. v. 17.3.1997 – II ZB 3/96 (VW), AG 1997, 374, 376 = ZIP 1997, 887 – Beteiligung von 20 % bei durchschnittlicher Präsenz von unter 40 % im fünften Jahr; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 9; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 12, 20; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 30.

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sichtsrat bei AGs, grundsätzlich nur Geschäftsführung bei GmbH und Personengesellschaften) gesichert ist.23) Die wirtschaftliche Abhängigkeit aufgrund umfangreicher Liefer-, Leistungs- oder Kre- 13 ditbeziehungen kann die Minderheitsbeteiligung ebenfalls zu einer beherrschenden Einflussmöglichkeit aufwerten (siehe hierzu auch Rz. 7 und die dortigen Nachweise).24) Kontrolliert ein beteiligtes Unternehmen mittels Stimmbindungsvertrag die Mehrheit der 14 Stimmrechte, so ist dieser Umstand als beherrschende Einflussmöglichkeit i. S. von § 17 Abs. 1 anzusehen (siehe hierzu auch § 16 Rz. 19).25) Selbiges gilt für Stimmrechtvollmachten, wenn der Vertreter freie Hand bei Ausübung der Vollmacht hat (siehe hierzu auch § 16 Rz. 19).26) Ebenso können im Einzelfall auch andere schuldrechtliche Vereinbarungen, wie Konsor- 15 tial- oder Gesellschaftervereinbarungen sowie insbesondere bei GmbH und Personengesellschaften spezielle gesellschaftsvertragliche Regelungen, in Kombination mit einer Minderheitsbeteiligung ausreichen (siehe hierzu auch § 16 Rz. 19).27) Unter (zusätzlicher) Berücksichtigung des faktischen Abstimmungsverhaltens zwischen 16 zwei oder mehr Anteilsinhabern im Hinblick auf ihre Stimmrechtsausübung in der gemeinsamen Beteiligungsgesellschaft (z. B. bei Familienverbindungen) und/oder der auf einem solchen Verhalten basierenden gesetzlichen Tatbestände der Stimmrechtszurechnung in § 30 Abs. 2 WpÜG, § 34 Abs. 2 WpHG (Acting in Concert) kann ggf. eine Beherrschung i. S. von § 17 Abs. 1 entstehen (siehe hierzu auch § 16 Rz. 19).28) Anerkannt ist inzwischen, dass ein Unternehmen auch außerhalb einer mehrstufigen (mehr- 17 fachen) Konzernabhängigkeit von zwei oder mehr29) Anteilsinhabern jeweils einzeln (nicht hingegen gemeinsam als GbR in Form einer „Gesamthandsherrschaft“)30) auf gleicher Stufe abhängig sein kann (sog. Mehrmütterherrschaft).31) Häufigstes Beispiel für ein solches Gemeinschaftsunternehmen ist das 50:50 Joint Venture. In diesen Fällen ist die Mehrmütterherrschaft allerdings auch nicht zwingend.32) b)

Keine Beteiligung

Für die Fälle, in denen nicht einmal eine Minderheitsbeteiligung vorliegt, muss die gesell- 18 schaftsrechtliche Vermittlung der Beherrschungsmöglichkeit jeweils anderweitig begründet _____________ 23) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 16, 40 f.; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 31; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 48. 24) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 22, und Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 35, jeweils m. w. N. 25) OLG Karlsruhe, Beschl. v. 11.12.2003 – 12 W 11/02, AG 2004, 147, 148; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 23; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 26; nach a. A. führen Stimmbindungsverträge bereits i. R. der Mehrheitsbeteiligung zu einer Zurechnung über § 16 Abs. 4, so dass bereits ein Fall des § 17 Abs. 2 vorliegt. 26) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 23; kritisch Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 17 AktG Rz. 17. 27) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 25; Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 17 AktG Rz. 20 f. 28) Eingehend K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 26 ff. unter Auflistung einzelner tatbestandlicher Kriterien; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 32 ff. 29) BGH, Urt. v. 4.3.1974 – II ZR 89/72, AG 1974 220 ff. – gemeinsame Beherrschung durch drei Gesellschafter mit einer Beteiligung von 25 %, 25 % und 5 %. 30) Vgl. Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 16 m. w. N. 31) BGH, Urt. v. 4.1974 – II ZR 89/72, AG 1974 220, 221 f.; BGH, Urt. v. 16.2.1981 – II ZR 168/79 (Spindelfabrik Süssen), AG 1981, 225, 226 = ZIP 1981, 399; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 13 ff.; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 45 f.; eingehend Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 14 ff. 32) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 22.12.2003 –19 U 78/03, AG 2004, 567 f.; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 46.

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werden. Dies kann entweder originär oder derivativ erfolgen. Da die gesellschaftsrechtliche Vermittlung gemäß § 17 Abs. 1 nicht zwingend eine unmittelbare eigene Beteiligung voraussetzt, genügt die Zurechnung fremder Beteiligung.33) 19 Beherrschungsverträge i. S. von § 291 Abs. 1 Satz 1 und Eingliederungen i. S. von §§ 319 ff. begründen angesichts des damit verbundenen umfangreichen Weisungsrechts (vgl. §§ 308 Abs. 1, 323 Abs. 1) stets und unabhängig von jeglicher Beteiligung bzw. deren Vermittlung eine originär gesellschaftsrechtlich vermittelte Beherrschungsmöglichkeit, was bereits im Hinblick auf die gesetzliche Qualifikation der beteiligten Unternehmen als Konzern gemäß § 18 Abs. 1 Satz 2 naheliegt.34) 20 Mangels gesetzlich vorgesehenen Weisungsrechts genügt der Abschluss eines isolierten Gewinnabführungsvertrags i. S. von § 291 Abs. 1 Satz 1 oder eines der übrigen Unternehmensverträge i. S. von. § 292 allein hingegen nicht.35) Wenn und soweit bestimmte Personalkompetenzen oder sonstige Herrschaftsrechte i. R. des rechtlich Zulässigen mittels Gesellschaftsvertrag auf Nichtgesellschafter übertragen werden, so ist eine Beherrschung auch außerhalb eines Beherrschungsvertrags denkbar (zumindest bei GmbH und Personengesellschaft, wegen § 76 Abs. 1 nicht bei AGs). 21 Bei der Treuhand und bei Stimmrechtvollmachten kann die unmittelbare Beteiligung des Treugebers bzw. des Vollmachtgebers dem Treuhänder bzw. dem Bevollmächtigten als gesellschaftsrechtlich vermittelndes Element zugerechnet werden und so die beherrschende Einflussnahmemöglichkeit des nicht beteiligten Treuhänders bzw. Bevollmächtigten begründen (siehe hierzu auch § 16 Rz. 18 f.).36) 22 Bei Beurteilung einer Zurechnung i. R. von § 17 Abs. 1 ist i. Ü. das Zusammenspiel zwischen § 16 Abs. 4 und Abs. 2 zu berücksichtigen. Da nach hier vertretener Ansicht eine restriktive und am Wortlaut orientierte Interpretation von § 16 Abs. 4 vorzugswürdig ist (siehe hierzu § 16 Rz. 19), sind an eine Zurechnung des gesellschaftsrechtlichen Vermittlungselements bei § 17 Abs. 1 entsprechend geringe Anforderungen zu stellen, um Schutzlücken weitmöglichst zu vermeiden. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Beurteilung bei gesetzlichen Zurechnungstatbeständen v. a. in § 20 Abs. 2, § 34 Abs. 2 WpHG, § 30 Abs. 1 WpÜG.37) c)

Optionsrechte

23 Eine Option zum Erwerb einer Mehrheitsbeteiligung genügt nach h. M. für die Begründung einer Beherrschungsmöglichkeit nicht.38) III.

Vermutungsregel (§ 17 Abs. 2)

1.

Bedeutung

24 Die Regelung des § 17 Abs. 2 begründet die Vermutung einer Abhängigkeit i. S. von § 17 bei einer Mehrheitsbeteiligung i. S. von § 16 (d. h. alternativ bei Anteils- oder Stimmen_____________ 33) Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 20 m. w. N. 34) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 12; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 42; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 17 Rz. 64. 35) Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 17 Rz. 62 m. w. N.; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 46; kritisch K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 42. 36) So zumindest für die Treuhand K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 19; Bayer in: MünchKommAktG, § 17 Rz. 74. 37) Vgl. hierzu eingehend K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 36 ff. 38) OLG Düsseldorf, Urt. v. 22.7.1993 – 6 U 84/92 (Feldmühle Nobel/Stora), AG 1994, 36, 38 f. = ZIP 1994, 1026; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 37; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 35; a. A. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 17 Rz. 53 ff. m. w. N.

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mehrheit) und führt unmittelbar zu einer Umkehr der Darlegungs- und Beweislast zulasten desjenigen, der sich im konkreten Einzelfall zu seinen Gunsten darauf beruft, das Tatbestandsmerkmal der Abhängigkeit sei im Hinblick auf die jeweils streitbefangene Norm nicht erfüllt.39) 2.

Widerlegung

a)

Grundsatz

Um die Vermutung des § 17 Abs. 2 zu widerlegen, ist der Gegenbeweis zu führen, dass 25 trotz Anteils- und/oder Stimmenmehrheit gemäß § 16 die Möglichkeit eines beherrschenden Einflusses auf das in Mehrheitsbesitz stehende Unternehmen nicht besteht.40) Da bereits allein die mögliche Beherrschung aufgrund Anteilsmehrheit den Tatbestand des § 17 Abs. 2 erfüllt, ist der Nachweis tatsächlich nicht ausgeübter Einflussnahme und fehlender Stimmenmehrheit allein nicht zur Widerlegung geeignet, sondern muss zusätzlich ggf. weitere substantiiert dargelegte Beherrschungsmittel (insbesondere in Fällen kombinierter Beherrschung, siehe hierzu Rz. 11 ff.) entkräften.41) Bei Stimmenmehrheit kann die Abhängigkeitsvermutung widerlegt werden, indem nachgewiesen wird, dass diese den ihr grundsätzlich zukommenden Einfluss angesichts bestimmter Regelungen im Gesellschaftsvertrag oder sonstigen schuldrechtlichen Abreden (insbesondere Stimmbindungsvertrag) nicht entfalten kann.42) b)

Einzelfälle

Qualifizierte Mehrheitserfordernisse im Gesellschaftsvertrag können eine Widerlegung 26 tragen, wenn sich diese (auch) auf diejenigen Beschlussgegenstände beziehen, welche die Personalkompetenz (Bestellung des Aufsichtsrats bei AGs, Bestellung der oder Weisung an die Geschäftsführung bei GmbH und Personengesellschaften ausmachen (siehe hierzu Rz. 3 f.).43) Auch statutarisch zulässigerweise begründete Stimmrechtsauschlüsse oder – beschränkungen (insbesondere bei stimmrechtslosen Vorzugsaktien gemäß §§ 12 Abs. 1, 139 ff. und Höchststimmrechten gemäß § 134 Abs. 1) können die Vermutung aufgrund Anteilsmehrheit widerlegen,44) nicht hingegen etwaige nur zu einem vorübergehenden „Ruhen“ der Stimmrechte führende Stimmrechtsbeschränkungen (siehe hierzu auch § 16 Rz. 15).45) Ferner sind Stimmbindungsverträge zur Widerlegung geeignet, wenn hiernach die Stim- 27 menmehrheit in den die Personalkompetenz betreffenden Beschlüssen nicht ausgeübt werden darf.46) Das einem Minderheitsgesellschafter zustehende Entsenderecht in den Aufsichtsrat kann 28 zumindest bei paritätisch mitbestimmten Gesellschaften die Vermutung einer Beherrschungsmöglichkeit durch den Mehrheitsgesellschafter widerlegen.47) _____________ 39) 40) 41) 42) 43) 44) 45) 46) 47)

Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 17 f.; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 50 f. K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 52. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 19 f.; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 52 f. OLG München, Urt. v. 11.5.2004 – 30 UF 303/03, AG 2004, 455 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 21 f. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 21; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 54; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 17 Rz. 98. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 21; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 51. K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 57; a. A. Windbichler in: GroßKomm-AktG, § 17 Rz. 74; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 51 (Fn. 218). Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 22; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 51; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 64. K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 55.

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§ 18

Konzern und Konzernunternehmen

29 Ein Beherrschungsvertrag mit einem Dritten ist zur Widerlegung der Vermutung ausreichend, so dass insbesondere ein solcher zwischen Mutter und Enkelin die Vermutung des § 17 Abs. 2 im Hinblick auf das Verhältnis Tochter und Enkelin widerlegt.48) 30 Bei mehrstufiger Abhängigkeitsvermutung, z. B. in Form mittelbarer Mehrheitsbeteiligung, genügt es, wenn ein (unteres) Glied in der Vermutungskette widerlegt wird.49) Beispiel: A ist mehrheitlich beteiligt an B und B ist mehrheitlich beteiligt an C. C kann gleichzeitig von B (unmittelbar) und von A (mittelbar) abhängig sein, die Vermutung der Abhängigkeit C von A gilt allerdings automatisch als widerlegt, wenn die Vermutung der Abhängigkeit C von B widerlegt ist.50) 31 Anerkanntes Mittel zur Widerlegung ist nach überwiegender Ansicht auch der in der Praxis gebräuchliche sog. Entherrschungsvertrag,51) bei dem im Verhältnis zur Beteiligungsgesellschaft die Stimmrechtsausübung des Mehrheitsgesellschafters in den für die Beherrschung maßgeblichen Beschlüssen (Stichwort: Personalkompetenz) ausgeschlossen wird, wobei nach der sog. „Minus-Eins-Regel“ eine Beschränkung auf die Ausübung der Hälfte der in der Gesellschafterversammlung vertretenen Stimmen abzüglich mindestens einer weiteren Stimme erforderlich ist.52) Ein Entherrschungsvertrag muss schriftlich abgeschlossen sein und eine Mindestlaufzeit von fünf Jahren unter Ausschluss der ordentlichen Kündigung in dieser Zeit aufweisen.53) Die Praxis bedient sich solcher Entherrschungsverträge inzwischen auch häufiger i. R. von Investorenvereinbarungen und Business Combination Agreements.54) _____________ 48) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 58; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 23; Spindler/StilzSchall, AktG, § 17 Rz. 56. 49) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 58. 50) Vgl. auch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 23; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 56. 51) OLG Köln, Urt. v. 24.11.1992 – 22 U 72/92 (Winterthur/Nordstern), AG 1993, 86, 87 = ZIP 1993, 110. 52) Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 17 Rz. 52; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 60 f.; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 22. 53) OLG Köln, Urt. v. 24.11.1992 – 22 U 72/92 (Winterthur/Nordstern), AG 1993, 86, 87 = ZIP 1993, 110; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 22; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 62; eingehend K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 17 Rz. 61 ff. 54) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 17 Rz. 22; Kiefner, ZHR 178 (2014) 567 f.

§ 18 Konzern und Konzernunternehmen Alexander Franz

(1) 1Sind ein herrschendes und ein oder mehrere abhängige Unternehmen unter der einheitlichen Leitung des herrschenden Unternehmens zusammengefaßt, so bilden sie einen Konzern; die einzelnen Unternehmen sind Konzernunternehmen. 2Unternehmen, zwischen denen ein Beherrschungsvertrag (§ 291) besteht oder von denen das eine in das andere eingegliedert ist (§ 319), sind als unter einheitlicher Leitung zusammengefaßt anzusehen. 3Von einem abhängigen Unternehmen wird vermutet, daß es mit dem herrschenden Unternehmen einen Konzern bildet. (2) Sind rechtlich selbständige Unternehmen, ohne daß das eine Unternehmen von dem anderen abhängig ist, unter einheitlicher Leitung zusammengefaßt, so bilden sie auch einen Konzern; die einzelnen Unternehmen sind Konzernunternehmen.

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§ 18

Konzern und Konzernunternehmen Übersicht I. Bedeutung der Norm ........................ 1 II. Unterordnungskonzern (§ 18 Abs. 1) ....................................... 2 1. Einheitliche Leitung ........................... 2 2. Mehrstufige, mehrfache Konzernierung ................................................ 8 3. Unwiderlegliche Vermutung (§ 18 Abs. 1 Satz 2) .......................... 10 I.

4. Widerlegliche Vermutung (§ 18 Abs. 1 Satz 3) .......................... III. Gleichordnungskonzern (§ 18 Abs. 2) ..................................... 1. Begründung, Bedeutung .................. 2. Verhältnis zu § 18 Abs. 1 .................

11 14 14 15

Bedeutung der Norm

§ 18 definiert den Begriff Konzern sowie die an diesem beteiligten Unternehmen als Kon- 1 zernunternehmen und unterscheidet anhand der Abhängigkeit i. S. von § 17 zwischen dem praktisch wichtigeren Unterordnungskonzern (§ 18 Abs. 1) und dem Gleichordnungskonzern (§ 18 Abs. 2).1) Unterfälle von § 18 Abs. 1 sind Vertragskonzern (Beherrschungsvertrag, § 291 Abs. 1 Satz 1), Eingliederungskonzern (§ 319 ff.) und faktischer Konzern, Unterfälle von § 18 Abs. 2 sind Vertragskonzern (Gleichordnungsvertrag, § 291 Abs. 2) und faktischer Konzern.2) Das für den Konzern wesentliche Merkmal der einheitlichen Leitung wird bei Existenz eines Beherrschungsvertrags sowie im Fall der Eingliederung unwiderleglich, i. R. einer sonstigen Abhängigkeit gemäß § 17 widerleglich vermutet.3) Begrifflich ist der Konzern im Gesellschaftsrecht weniger bedeutsam als die, dem AktG als zentraler Anknüpfungspunkt dienende, Abhängigkeit i. S. von § 17.4) Verwendung findet der Konzernbegriff insbesondere in §§ 97 Abs. 1, 100 Abs. 2 Satz 2, 104 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1, 134 Abs. 1 Satz 4, 145 Abs. 3, 250 Abs. 2 Nr. 1 und 2, 293d Abs. 1 Satz 2, § 37 WpHG, § 36 Nr. 3 WpÜG, § 5 MitbestG, § 2 DrittelbG, § 54 Abs. 1 BetrVG, § 36 Abs. 2 Satz 1 GWB. Im Gegensatz zu §§ 16, 17 begründet der Konzern nicht nur ein vertikales Verhältnis zwischen über- und untergeordnetem Unternehmen, sondern gleichzeitig ein horizontales Gleichordnungsverhältnis zwischen den einzelnen untergeordneten Unternehmen (mehrseitige Unternehmensverbindung).5) Zum Begriff des Unternehmens i. S. von § 18 siehe die entsprechenden Ausführungen zu § 15 (siehe hierzu § 15 Rz. 4, 5 ff. – „Herrschendes Unternehmen“, Rz. 15 – „Abhängiges Unternehmen“ und Rz. 16 – „Gleichgeordnetes Unternehmen“). II.

Unterordnungskonzern (§ 18 Abs. 1)

1.

Einheitliche Leitung

Wesentliche Voraussetzung für einen Unterordnungskonzern ist die Zusammenfassung 2 einer oder mehrerer abhängiger Unternehmen i. S. von § 17 Abs. 1 unter einheitlicher Leitung des herrschenden Unternehmens i. S. von § 17 Abs. 1. Durch Inbezugnahme des § 17 wird mittelbar (über § 17 Abs. 1) auf den Unternehmensbegriff in § 15 verwiesen.6) _____________ 1) 2) 3) 4)

5) 6)

Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 18 Rz. 2; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 18 Rz. 1. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 18 Rz. 3; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 18 Rz. 2; ausführlich zum sog. qualifiziert faktischen Konzern Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 18 Rz. 3, Vor § 15 Rz. 12 ff. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 18 Rz. 17 f.; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 1, 16. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 18 Rz. 1; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 5, § 15 Rz. 8, § 17 Rz. 3; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 18 Rz. 1, 7, § 17 Rz. 1; zur Bedeutung des Konzernbegriffs bei der Arbeitnehmermitbestimmung vgl. K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 11, 14, 17. K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 2; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 18 Rz. 1. K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 6.

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§ 18

Konzern und Konzernunternehmen

3 Umstritten ist, ob zur Bestimmung der einheitlichen Leitung auf einen engen oder einen weiten Konzernbegriff zurückgegriffen werden soll.7) Die Vertreter des engen Begriffsverständnisses fordern eine am Konzern als wirtschaftlicher Einheit orientierte und auf das Gesamtinteresse der verbundenen Unternehmen ausgerichtete Zielkonzeption sowie deren Durchführung und Kontrolle.8) Nach dem weiten Konzernbegriff genügt die (teilweise) Wahrnehmung zentraler Leitungsfunktionen (Planung, Organisation und Koordinierung, Kontrolle) in mindestens einem der zentralen unternehmerischen Funktionsbereiche (insbesondere Investition, Finanzen, Einkauf, Produktion, Absatz, Personal), solange hiermit entsprechende Auswirkungen für den gesamten Konzern verbunden sind.9) Soweit auch die Vertreter des engen Konzernbegriffs eine konzernweite Finanzplanung und -kontrolle (z. B. durch zentrales Cash Management)10) genügen lassen,11) relativiert sich der Unterschied beider Begriffe im Ergebnis.12) Insgesamt ist der weite Konzernbegriff vorzugswürdig, da nur dieser dem an seiner Schutzfunktion auszurichtenden Konzernrecht einen möglichst breiten Anwendungsbereich eröffnet13) und gleichzeitig dem in der Gesetzesbegründung angedeuteten Verständnis am nächsten kommt.14) Zudem begünstigt der weite Konzernbegriff die Rechtfertigung, der, auch von Vertretern des engen Konzernbegriffs weitgehend als zulässig anerkannten, mehrfachen Konzernierung bei Gemeinschaftsunternehmen (siehe hierzu Rz. 9).15) 4 Ebenso wie die Abhängigkeit i. S. von § 17 setzt die einheitliche Leitung i. S. von § 18 eine gewisse Beständigkeit (nicht notwendigerweise Dauerhaftigkeit) voraus, so dass eine lediglich gelegentliche einzelfallbezogene Leitung nicht ausreicht (siehe hierzu auch unter § 17 Rz. 6).16) 5 Im Gegensatz zur beherrschenden Einflussmöglichkeit i. S. von § 17 genügt die bloße Möglichkeit der einheitlichen Leitung bei § 18 nicht, vielmehr bedarf es deren tatsächlicher Ausübung (zum Begriff des beherrschenden Einflusses siehe § 17 Rz. 2 ff.).17) Ein Konzern entsteht, wenn das herrschende Unternehmen tatsächlich Einfluss auf die Personalpolitik der abhängigen Gesellschaft nimmt, um die Politik der verbundenen Unternehmen beständig zu koordinieren und eine auf deren Gesamtinteresse ausgerichtete Zielkonzeption entwickelt.18) _____________ 7) Vgl. ausführlich zum Meinungsstand: Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 18 AktG Rz. 10 ff. 8) Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 18 Rz. 15 ff., 20; Windbichler in: GroßKomm-AktG, § 18 Rz. 19 ff., 24 f. 9) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 18 Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 11; Spindler/StilzSchall, AktG, § 18 Rz. 14 – anders aber für den Gleichordnungskonzern (Rz. 15); Bayer in: MünchKommAktG, § 18 Rz. 33. 10) Vgl. hierzu BGH, Urt. v. 20.2.1989 – II ZR – 167/88, NJW 1989, 1800, 1802. 11) Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 18 Rz. 15, 20; Windbichler in: GroßKomm-AktG, § 18 Rz. 19 ff., 25. 12) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 9; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 18 Rz. 12. 13) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 18 Rz. 33. 14) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 10 f.; im Ergebnis ebenso den weiten Konzernbegriff befürwortend: Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 18 AktG Rz. 14. 15) Die Vertreter des engen Konzernbegriffs sehen sich hingegen mit größeren Schwierigkeiten im Hinblick auf eine diesbezügliche Rechtfertigung konfrontiert, vgl. nur Koppensteiner in: KölnKommAktG, § 18 Rz. 20, 34. 16) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 13; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 18 Rz. 17; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 18 Rz. 37. 17) Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 18 Rz. 16. 18) OLG Dresden, Beschl. v. 15.4.2010 – 2 W 1174/09, NZG 2011, 462; Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 18 AktG Rz. 14.

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§ 18

Konzern und Konzernunternehmen

Die Besetzung des Aufsichtsrats mit Arbeitnehmervertretern nach geltendem Mitbestim- 6 mungsrecht hat keinen Einfluss auf die Bestimmung der einheitlichen Leitung und folglich auch nicht auf die Vermutungsregel in § 18 Abs. 1 Satz 2 bzw. Satz 3 (siehe zur Behandlung der Arbeitnehmermitbestimmung i. R. der Abhängigkeit unter § 17 Rz. 3).19) Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des untergeordneten Unter- 7 nehmens endet die einheitliche Leitung und die Vermutungsregel in § 18 Abs. 1 Satz 3 ist widerlegt.20) 2.

Mehrstufige, mehrfache Konzernierung

Einem Konzern können aufgrund einheitlicher Leitung von oben nach unten (vertikal) 8 betrachtet Unternehmen auf verschiedenen Stufen als Konzernunternehmen i. S. von § 18 angehören, vorausgesetzt, die an der Konzernspitze stehende Muttergesellschaft leitet nicht nur die ihr unmittelbar nachgeordnete(n) Tochtergesellschaft(en), sondern ebenfalls die ihr mittelbar nachgeordnete(n) Enkel- bzw. Urenkelgesellschaft(en) usw. (zur mehrstufigen Abhängigkeit siehe unter § 17 Rz. 8).21) Auf gesellschaftsrechtlicher Ebene wird innerhalb eines mehrstufigen Konzerns die weitere 9 Konzernbildung in Form eines sog. „Konzerns im Konzern“ weitgehend abgelehnt,22) die mehrfache Zugehörigkeit eines Gemeinschaftsunternehmens zu den Konzernen sämtlicher Mütter hingegen überwiegend anerkannt (zur mehrfachen Abhängigkeit bei Gemeinschaftsunternehmen siehe § 17 Rz. 17).23) 3.

Unwiderlegliche Vermutung (§ 18 Abs. 1 Satz 2)

Bei Existenz eines Beherrschungsvertrags gemäß § 291 Abs. 1 Satz 1 oder im Fall der Ein- 10 gliederung gemäß §§ 319 ff. wird die einheitliche Leitung angesichts der an diese Tatbestände nach §§ 308 bzw. 323 anknüpfenden gesetzlichen Weisungsrechte gemäß § 18 Abs. 1 Satz 2 unwiderleglich vermutet (rechtlich anerkannte Leitungsmacht).24) 4.

Widerlegliche Vermutung (§ 18 Abs. 1 Satz 3)

Greift angesichts einer bestehenden Abhängigkeit i. S. von § 17 die Vermutungsregel des 11 § 18 Abs. 1 Satz 3 ein, so verlangt die Widerlegung dieser Vermutung den Gegenbeweis, dass von der zur Begründung einer Abhängigkeit notwendigen (aber auch ausreichenden) Möglichkeit der beherrschenden Einflussnahme kein tatsächlicher Gebrauch i. S. einer einheitlichen Leitung gemacht wurde, wobei die Unterschiede des engen bzw. weiten Konzernbegriffs zu berücksichtigen sind (siehe hierzu Rz. 3; zur Widerlegung der Abhängigkeitsvermutung siehe § 17 Rz. 25 ff.).25) _____________ 19) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 18 Rz. 17; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 20; Spindler/StilzSchall, AktG, § 18 Rz. 28. 20) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 19; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 18 Rz. 27. 21) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 18 Rz. 13; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 14; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 18 Rz. 39. 22) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 18 Rz. 14; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 18 Rz. 42; anders hingegen das mitbestimmungsrechtliche Verständnis des Konzernbegriffs, vgl. hierzu Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 18 Rz. 19 f., und K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 14, jeweils m. w. N. 23) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 18 Rz. 16; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 15; Spindler/StilzSchall, AktG, § 18 Rz. 21. 24) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 18 Rz. 17; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 1, 16. 25) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 18 Rz. 19; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 18; Spindler/StilzSchall, AktG, § 18 Rz. 27.

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§ 18

Konzern und Konzernunternehmen

12 Als potentielle Gegenbeweise werden u. a. diskutiert: –

freie Hand des untergeordneten Unternehmens in seiner Finanzpolitik,26)



Beherrschungsvertrag mit einem Dritten (siehe hierzu auch § 17 Rz. 29),27)



entsprechende Gestaltung eines Entherrschungsvertrags (siehe hierzu auch § 17 Rz. 31).28)

13 Da die Widerlegung der Konzernvermutung in der Praxis insbesondere zur Vermeidung der Konzernmitbestimmung (§ 5 Abs. 1 MitbestG) interessant sein kann, aber nur selten gelingen dürfte, erscheint es zielführender, bereits auf Ebene des § 17 anzusetzen und die Abhängigkeit zu beseitigen bzw. den Gegenbeweis der Abhängigkeitsvermutung in § 17 Abs. 2 anzutreten.29) III.

Gleichordnungskonzern (§ 18 Abs. 2)

1.

Begründung, Bedeutung

14 Liegt keine Abhängigkeit i. S. von § 17 vor und sind zwei oder mehr Unternehmen dennoch unter einheitlicher Leitung zusammengefasst, so sind die beteiligten Unternehmen gemäß § 18 Abs. 2 ebenfalls Konzernunternehmen und bilden einen Gleichordnungskonzern. Ein solcher Gleichordnungskonzern entsteht meist mittels Abschluss eines sog. Gleichordnungsvertrags i. S. von § 291 Abs. 2, wodurch regelmäßig ein Vertragskonzern in Form einer BGB-Innengesellschaft begründet wird.30) Die §§ 293 ff. finden keine Anwendung.31) Die vertragliche Einräumung eines Rechts zur Erteilung bzw. Befolgung nicht umgehend kompensierter nachteiliger Weisungen ist bei der AG im Gleichordnungskonzern unzulässig (strittig).32) Weitgehend anerkannt ist auch der faktische Gleichordnungskonzern, der insbesondere aufgrund personeller Verflechtungen in Familienunternehmen vorkommen kann, bei denen sich keine Beherrschung durch einen oder mehrere Gesellschafter ausmachen lässt.33) Insgesamt ist die praktische Bedeutung des Gleichordnungskonzerns gering und seine Existenz hauptsächlich im Kartellrecht und im Hinblick auf die Anwendung der Kapitalerhaltungsvorschriften relevant.34) 2.

Verhältnis zu § 18 Abs. 1

15 Da § 18 Abs. 2 ausschließlich Fälle erfasst, in denen konzernbildendes Mittel nicht der beherrschende Einfluss ist, können zwei Tochtergesellschaften eines herrschenden Unternehmens im Verhältnis zueinander keinen Gleichordnungskonzern bilden.35) Besteht zwischen dem leitenden Unternehmen an der Spitze eines Unterordnungskonzerns und einem anderen, nicht in diesen Unterordnungskonzern einbezogenen Unternehmen ein Gleichordnungskonzern, so überlagert der Gleichordnungskonzern den Unterordnungskonzern _____________ 26) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 18 Rz. 19; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 18 Rz. 27 weist zu Recht darauf hin, dass dieser Nachweis unter Zugrundelegung des weiten Konzernbegriffs nicht zwingend ausreicht. 27) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 18. 28) Windbichler in: GroßKomm-AktG, § 18 Rz. 40. 29) Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 74. 30) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 18 Rz. 20; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 24; Spindler/StilzSchall, AktG, § 18 Rz. 31. 31) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 18 Rz. 20; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 86. 32) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 27, 31; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 89 f. 33) BGH, Beschl. v. 8.12.1998 – KVR 31/97 (Pirmasenser Zeitung), NZG 1999, 254, 257 = ZIP 1999, 331; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 25; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 83. 34) Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 18 Rz. 29; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 26 m. w. N. aus der Rspr.; zu den haftungsrechtlichen Konsequenzen im Gleichordnungskonzern s. ausführlich K. Schmidt/ Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 31 ff. 35) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 22; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 80, 82.

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§ 19

Wechselseitig beteiligte Unternehmen

und sämtliche Konzernunternehmen des (früheren) Unterordnungskonzerns sind nunmehr solche des (neuen) Gleichordnungskonzerns.36) _____________ 36) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 18 Rz. 15; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 18 Rz. 23; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 18 Rz. 5; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 84.

§ 19 Wechselseitig beteiligte Unternehmen Alexander Franz

(1) 1Wechselseitig beteiligte Unternehmen sind Unternehmen mit Sitz im Inland in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft, die dadurch verbunden sind, daß jedem Unternehmen mehr als der vierte Teil der Anteile des anderen Unternehmens gehört. 2Für die Feststellung, ob einem Unternehmen mehr als der vierte Teil der Anteile des anderen Unternehmens gehört, gilt § 16 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4. (2) Gehört einem wechselseitig beteiligten Unternehmen an dem anderen Unternehmen eine Mehrheitsbeteiligung oder kann das eine auf das andere Unternehmen unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluß ausüben, so ist das eine als herrschendes, das andere als abhängiges Unternehmen anzusehen. (3) Gehört jedem der wechselseitig beteiligten Unternehmen an dem anderen Unternehmen eine Mehrheitsbeteiligung oder kann jedes auf das andere unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluß ausüben, so gelten beide Unternehmen als herrschend und als abhängig. (4) § 328 ist auf Unternehmen, die nach Absatz 2 oder 3 herrschende oder abhängige Unternehmen sind, nicht anzuwenden. Übersicht I. Bedeutung der Norm ........................ 1 II. Einfache wechselseitige Beteiligung (§ 19 Abs. 1) ............................. 5 III. Einseitige qualifizierte wechselseitige Beteiligung (§ 19 Abs. 2, Abs. 4) ............................................... 10 I.

IV. Beiderseitige qualifizierte wechselseitige Beteiligung (§ 19 Abs. 3, Abs. 4) ......................... 12

Bedeutung der Norm

§ 19 kennt zwei Arten wechselseitiger Beteiligung, die einfache wechselseitige Beteili- 1 gung mit einer Kapitalbeteiligung von über 25 % (Abs. 1) und die qualifizierte wechselseitige Beteiligung mit einseitiger Mehrheitsbeteiligung bzw. Beherrschung (einseitige qualifizierte wechselseitige Beteiligung, § 19 Abs. 2) oder gegenseitiger Mehrheitsbeteiligung bzw. Beherrschung (beiderseitige qualifizierte wechselseitige Beteiligung, § 19 Abs. 3). § 19 verfolgt gemeinsam mit § 328 den Zweck, die einer wechselseitigen Beteiligung im- 2 manenten Gefahren der Kapitalverwässerung und der sog. Verwaltungsstimmrechte zu entschärfen.1) Kapitalverwässerung entsteht dadurch, dass sich das Vermögen wechselseitig beteiligter Unternehmen zum Teil aus Anteilsrechten zusammensetzt, deren Gegenwert eine mittelbare Beteiligung am eigenen Unternehmen darstellt, d. h. bei wechselseitiger Zeichnung neuer Aktien ein Fall der mittelbaren Übernahme eigener Aktien (vgl. _____________ 1)

Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 19 Rz. 1; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 19 Rz. 1.

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§ 19

Wechselseitig beteiligte Unternehmen

§ 56) und bei wechselseitigem Erwerb bestehender Aktien ein Fall des mittelbaren Erwerbs eigener Aktien (vgl. §§ 71 ff.) vorliegt.2) Verwaltungsstimmrechte entstehen dadurch, dass die Vorstände wechselseitig beteiligter Unternehmen in der Hauptversammlung des jeweils anderen Unternehmens die Beschlussergebnisse je nach Höhe der Beteiligung erheblich und ggf. sogar maßgeblich mitbestimmen (insbesondere bei Wahl der Aufsichtsratsmitglieder) und so entgegen der gesellschaftsrechtlichen Kompetenzordnung die Einflussnahme der Anteilseigner unterlaufen und durch eine Art wechselseitig bedingte Verwaltungsherrschaft ersetzen können.3) Zum Begriff des Unternehmens i. S. von § 19 siehe die Ausführungen zu § 15 (siehe hierzu § 15 Rz. 4 und Rz. 16 – „wechselseitig beteiligtes Unternehmen“). 3 Da § 328 mit seinen speziellen Rechtsfolgen (Beschränkung der Mitgliedschaftsrechte, Mitteilungspflichten, siehe hierzu im Detail die Kommentierung zu § 328) zur Entschärfung dieser Gefahren nur auf die Fallgruppe der einfachen wechselseitigen Beteiligung in § 19 Abs. 1 Anwendung findet (vgl. § 19 Abs. 4), kommt nur dieser Fallgruppe praktisch eigenständige Bedeutung zu.4) 4 Grundsätzlich nicht von § 19 erfasst sind ringförmige Beteiligungen. Beispiel: Wenn A an B, B an C und C wiederum an A mit jeweils 26 % beteiligt ist, liegt kein Fall des § 19 vor (anders aber, wenn B im Beispiel von A abhängig ist und A die Anteile von B an C zugerechnet werden, siehe hierzu das Beispiel unter Rz. 8).5) II.

Einfache wechselseitige Beteiligung (§ 19 Abs. 1)

5 Voraussetzung für eine Anwendung des § 19 Abs. 1 ist die wechselseitige Beteiligung von über 25 % zwischen zwei Kapitalgesellschaften (GmbH, UG [haftungsbeschränkt], AG, KGaA) mit Satzungssitz im Inland („Sitz“ i. S. von § 5),6) ohne dass zugleich eine Mehrheitsbeteiligung oder ein Abhängigkeitsverhältnis vorliegt; sonst greift § 19 Abs. 2 bzw. 3.7) Vor-GmbH bzw. Vor-AG8) und Societas Europaea (SE)9) werden ebenfalls erfasst; selbiges muss im Falle ihrer Einführung für die Societas Privata Europaea (SPE) gelten. 6 Kapitalgesellschaften mit Satzungssitz im Ausland scheiden hiernach grundsätzlich ebenso aus wie alle Personengesellschaften.10) 7 Die Berechnung der Beteiligung richtet sich gemäß § 19 Abs. 1 Satz 2 nach § 16 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4. Da § 16 Abs. 3 vom Verweis in § 19 Abs. 1 Satz 2 nicht erfasst ist, bleiben eventuell von der kapitalmäßigen Beteiligung abweichende Stimmrechtsanteile bei der Berechnung nach § 19 Abs. 1 unberücksichtigt.11) Mangels Verweis auf § 16 Abs. 2 Satz 2

_____________ 2) 3) 4) 5) 6)

7) 8) 9) 10) 11)

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Bayer in: MünchKomm-AktG, § 19 Rz. 2, 5; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 19 Rz. 1. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 19 Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 19 Rz. 1. Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 19 Rz. 4. Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 19 Rz. 1; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 98. K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 19 Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 19 Rz. 2; Spindler/StilzSchall, AktG, § 19 Rz. 12 (der allerdings §§ 19, 328 auch auf EU-Auslandsgesellschaften anwenden möchte); a. A. Windbichler in: GroßKomm-AktG, § 19 Rz. 14 – die auf den Verwaltungssitz abstellen. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 19 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 19 Rz. 5 ff. Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 19 Rz. 13; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 19 Rz. 6. Windbichler in: GroßKomm-AktG, § 19 Rz. 13; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 19 Rz. 6. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 19 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 19 Rz. 5 ff. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 19 Rz. 3; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 19 Rz. 9.

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Wechselseitig beteiligte Unternehmen

§ 19

und 3 werden bei der Berechnung auch keine eigenen Anteile bzw. diesen gleichstehende Anteile abgezogen.12) Über die Zurechnung in § 16 Abs. 4 können auch i. R. ringförmiger Beteiligungen (mehr- 8 fache) wechselseitige Beteiligungen begründet werden: Beispiel: Ist A an B mehrheitlich mit 51 %, B an C und C wiederum an A mit jeweils 26 % beteiligt, dann werden A die Anteile von B an C über § 19 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 16 Abs. 4 zugerechnet, so dass A und C wechselseitig i. S. von § 19 Abs. 1 beteiligt sind (was angesichts des rechtsformneutralen Unternehmensbegriffs in § 16 Abs. 4 auch dann gilt, wenn zwar A und C, nicht aber auch B Kapitalgesellschaft ist. Ist C zusätzlich noch mit 26 % an (Kapitalgesellschaft) B beteiligt, liegen mangels Absorption (zum Thema Absorption siehe § 16 Rz. 17) zwei wechselseitige Beteiligungen i. S. von § 19 Abs. 1 vor (mittelbar über B zwischen A und C und unmittelbar zwischen B und C).13) Für Unternehmen i. S. von § 19 Abs. 1 gelten die Vorschriften für verbundene Unter- 9 nehmen in § 15, die allgemeinen Mitteilungspflichten in §§ 20 ff. (insbesondere § 20 Abs. 3 und § 21 Abs. 1) bzw. §§ 33 ff. WpHG, § 160 Abs. 1 Nr. 7 (Angabe der wechselseitigen Beteiligung im Anhang des Jahresabschlusses) sowie insbesondere § 328.14) III.

Einseitige qualifizierte wechselseitige Beteiligung (§ 19 Abs. 2, Abs. 4)

Eine wechselseitige Beteiligung i. S. von § 19 Abs. 1 stellt gemäß § 19 Abs. 2 dann eine 10 einseitige qualifizierte wechselseitige Beteiligung dar, wenn eine der wechselseitig beteiligten Kapitalgesellschaften mehrheitlich i. S. von § 16 an der anderen beteiligt ist oder unmittelbar bzw. mittelbar einen beherrschenden Einfluss i. S. von § 17 auf diese ausüben kann. Im Gegensatz zu § 19 Abs. 1 Satz 2 bezieht § 19 Abs. 2 den gesamten § 16 ein. § 19 Abs. 2 stellt klar, dass auch solche wechselseitig beteiligten Kapitalgesellschaften in 11 einem Verhältnis i. S. von § 17 Abs. 1 zueinander stehen und begründet eine über § 17 Abs. 2 hinausgehende unwiderlegliche Vermutung der Abhängigkeit bei Mehrheitsbeteiligung i. R. wechselseitiger Beteiligung.15) Nach § 19 Abs. 4 ist § 328 in diesem Fall nicht anwendbar, so dass sich die Rechtsfolgen ausschließlich an denen für herrschende und abhängige Unternehmen orientieren.16) Es gelten insbesondere die §§ 18 Abs. 1 Satz 3, 20 Abs. 4, 21 Abs. 2 – 4, 22, 71b ff., wodurch die Verwaltungsstimmrechte (siehe hierzu Rz. 2) weitgehend ausgeschlossen werden.17) IV.

Beiderseitige qualifizierte wechselseitige Beteiligung (§ 19 Abs. 3, Abs. 4)

Steht nicht nur einer, sondern jeder der wechselseitig beteiligten Kapitalgesellschaften 12 eine Mehrheitsbeteiligung oder die Möglichkeit des beherrschenden Einflusses im Hinblick auf die jeweils andere Kapitalgesellschaft zu, so stellt § 19 Abs. 3 klar, dass § 17 für beide Seiten gleichermaßen gilt, d. h. jede der beiden Gesellschaften herrschendes und zugleich beherrschtes Unternehmen i. S. von § 17 Abs. 1 ist. Im Übrigen gelten die Ausführungen zu Rz. 10 f. _____________ 12) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 19 Rz. 3; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 19 Rz. 9. 13) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 19 Rz. 10 f.; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 98 – mit zusätzlichem Bsp. zur durchgängigen Abhängigkeit bei ringförmiger Beteiligung und dadurch bedingter wechselseitiger Beteiligung i. S. von § 19 Abs. 3. 14) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 19 Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 19 Rz. 12. 15) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 19 Rz. 15; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 19 Rz. 5. 16) K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 19 Rz. 15 f.; Spindler/Stilz-Schall, AktG, § 19 Rz. 5. 17) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 19 Rz. 10.

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§ 20

Mitteilungspflichten

§ 20 Mitteilungspflichten Alexander Franz

(1) 1Sobald einem Unternehmen mehr als der vierte Teil der Aktien einer Aktiengesellschaft mit Sitz im Inland gehört, hat es dies der Gesellschaft unverzüglich schriftlich mitzuteilen. 2Für die Feststellung, ob dem Unternehmen mehr als der vierte Teil der Aktien gehört, gilt § 16 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4. (2) Für die Mitteilungspflicht nach Absatz 1 rechnen zu den Aktien, die dem Unternehmen gehören, auch Aktien, 1. deren Übereignung das Unternehmen, ein von ihm abhängiges Unternehmen oder ein anderer für Rechnung des Unternehmens oder eines von diesem abhängigen Unternehmens verlangen kann; 2. zu deren Abnahme das Unternehmen, ein von ihm abhängiges Unternehmen oder ein anderer für Rechnung des Unternehmens oder eines von diesem abhängigen Unternehmens verpflichtet ist. (3) Ist das Unternehmen eine Kapitalgesellschaft, so hat es, sobald ihm ohne Hinzurechnung der Aktien nach Absatz 2 mehr als der vierte Teil der Aktien gehört, auch dies der Gesellschaft unverzüglich schriftlich mitzuteilen. (4) Sobald dem Unternehmen eine Mehrheitsbeteiligung (§ 16 Abs. 1) gehört, hat es auch dies der Gesellschaft unverzüglich schriftlich mitzuteilen. (5) Besteht die Beteiligung in der nach Absatz 1, 3 oder 4 mitteilungspflichtigen Höhe nicht mehr, so ist dies der Gesellschaft unverzüglich schriftlich mitzuteilen. (6) 1Die Gesellschaft hat das Bestehen einer Beteiligung, die ihr nach Absatz 1 oder 4 mitgeteilt worden ist, unverzüglich in den Gesellschaftsblättern bekanntzumachen; dabei ist das Unternehmen anzugeben, dem die Beteiligung gehört. 2Wird der Gesellschaft mitgeteilt, daß die Beteiligung in der nach Absatz 1 oder 4 mitteilungspflichtigen Höhe nicht mehr besteht, so ist auch dies unverzüglich in den Gesellschaftsblättern bekanntzumachen. (7) 1Rechte aus Aktien, die einem nach Absatz 1 oder 4 mitteilungspflichtigen Unternehmen gehören, bestehen für die Zeit, für die das Unternehmen die Mitteilungspflicht nicht erfüllt, weder für das Unternehmen noch für ein von ihm abhängiges Unternehmen oder für einen anderen, der für Rechnung des Unternehmens oder eines von diesem abhängigen Unternehmens handelt. 2Dies gilt nicht für Ansprüche nach § 58 Abs. 4 und § 271, wenn die Mitteilung nicht vorsätzlich unterlassen wurde und nachgeholt worden ist. (8) Die Absätze 1 bis 7 gelten nicht für Aktien eines Emittenten im Sinne des § 33 Absatz 4 des Wertpapierhandelsgesetzes. Literatur: Burgard, Inzidente Mitteilungen gemäß § 20 AktG?, WM 2012, 1937; Irriger/Longrée, Aktienrechtliche Mitteilungspflichten gem. § 20 AktG nach Formwechsel in eine AG, NZG 2013, 1289.

Übersicht I. II. 1. 2.

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Bedeutung der Norm ....................... 1 Mitteilungspflichten ........................ 9 Adressaten .......................................... 9 Empfänger ........................................ 13

3. Rechtsnatur und Ausgestaltung der Mitteilung ................................... 14 III. Fallgruppen ...................................... 20

Alexander Franz

§ 20

Mitteilungspflichten 1. 25 % Beteiligung (§ 20 Abs. 1, Abs. 2) ............................................... 20 2. 25 % Beteiligung (§ 20 Abs. 3) ........ 23 3. 50 % Beteiligung (§ 20 Abs. 4) ........ 25 4. Schwellenunterschreitung (§ 20 Abs. 5) ..................................... 27 IV. Bekanntmachung (§ 20 Abs. 6) ..... 28 I.

V. Rechtsfolgen des § 20 Abs. 7 .......... 1. Rechtsverlust (§ 20 Abs. 7 Satz 1) ............................................... 2. Ruhen von Rechten (§ 20 Abs. 7 Satz 2) ............................................... 3. Dividendenrückstellungen ............... VI. Sonstige Sanktionen .......................

29 30 35 36 37

Bedeutung der Norm

Sinn und Zweck von § 20 ist es, die Aktionäre und Gläubiger sowie die Öffentlichkeit 1 über geplante und bestehende Konzernverbindungen besser zu unterrichten.1) § 20 verpflichtet Unternehmen, denen eine wesentliche Beteiligung in Aktien an einer 2 Gesellschaft mit Satzungssitz im Inland „gehört“ (§ 20 Abs. 1, 3 und 4) bzw. bei denen eine solche Beteiligung „nicht mehr besteht“ (§ 20 Abs. 5), zu einer entsprechenden Mitteilung gegenüber der Gesellschaft, an der die jeweilige Beteiligung (nicht mehr) besteht. Auf die Art des Erreichens der zur Mitteilungspflicht führenden Schwellenwerte (originär oder derivativ) kommt es nicht an.2) Die zu einer wesentlichen Aktienbeteiligung führenden und somit die Mitteilungspflichten auslösenden Schwellenwerte liegen bei 25 % unter eventueller Hinzurechnung nach § 20 Abs. 2 (Schachtelbeteiligung gemäß § 20 Abs. 1 und ggf. Abs. 2), bei 25 % ohne Hinzurechnung nach § 20 Abs. 2 (Schachtelbeteiligung einer Kapitalgesellschaft gemäß § 20 Abs. 3, bedeutsam für die Feststellung einer wechselseitigen Beteiligung i. S. von § 19) und bei 50 % (Mehrheitsbeteiligung nach § 20 Abs. 4). In jedem dieser drei Fälle ist über § 20 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 16 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 (bei 25 % Schachtelbeteiligung) bzw. über § 20 Abs. 4 i. V. m. § 16 (bei 50 % Mehrheitsbeteiligung) eine Zurechnung fremder Aktien zu berücksichtigen.3) Der Unternehmensbegriff in § 20 entspricht demjenigen in § 15 (siehe hierzu auch § 15 3 Rz. 4 ff.).4) Publizitätswirkung erlangt die jeweilige Mitteilung erst durch Bekanntmachung in den 4 Gesellschaftsblättern (§ 20 Abs. 6) sowie durch Ausweisung dieser Bekanntmachung im Anhang des Jahresabschlusses (§ 160 Abs. 1 Nr. 8 i. V. m. § 264 Abs. 1 Satz 1 HGB). Nach § 20 Abs. 7 stehen dem mitteilungspflichtigen Unternehmen die mitgliedschaft- 5 lichen Aktionärsrechte für die Zeit der Verletzung dieser Pflichten nicht zu. § 20 ist insbesondere im Zusammenhang mit §§ 15 – 19 zu sehen, deren tatbestandliche 6 Prüfung die Vorschrift erleichtert5) und die gemeinsam mit §§ 20 ff. den allgemeinen Teil des Konzernrechts bilden.6) Ist neben § 20 zugleich der Tatbestand des § 21 erfüllt, so hat § 20 als strengere Norm 7 Vorrang.7) Eine Konkurrenz zu den engmaschigeren Mitteilungspflichten börsennotierter Gesellschaften gemäß §§ 33 ff. WpHG (Schwellenwerte bei 3 %, 5 %, 10 %, 25 %, 50 % und 75 %) ist nach § 20 Abs. 8 ausgeschlossen. Bei wechselseitiger Beteiligung erweitert _____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7)

Begr. zum RegE zu §§ 20, 21 AktG, bei Kropff, AktG, S. 38. Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 20 Rz. 13; Bürgers/Körber-Schilha, AktG, § 20 Rz. 7. K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 1. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 20 Rz. 2. Bürgers/Körber-Schilha, AktG, § 20 Rz. 1. K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 15 Rz. 7. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 20 Rz. 1; Spindler/Stilz-Petersen, AktG, Vor §§ 20 – 22 Rz. 8; K. Schmidt/ Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 2; für ein Nebeneinander von §§ 20, 21 Bayer in: MünchKomm-AktG, § 20 Rz. 3; Windbichler in: GroßKomm-AktG, § 20 Rz. 7.

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§ 20

Mitteilungspflichten

der sowohl für börsennotierte als auch für nicht börsennotierte Gesellschaften geltende § 328 Abs. 4 die §§ 20, 21 (siehe hierzu auch § 328).8) 8 Rechtspolitisch wird eine Erweiterung des Anwendungsbereichs von § 20, insbesondere im Hinblick auf die durch den Unternehmensbegriff sowie die Höhe der Schwellenwerte bedingten Beschränkungen diskutiert.9) II.

Mitteilungspflichten

1.

Adressaten

9 Die Mitteilungspflichten nach § 20 Abs. 1 und 4 (ggf. i. V. m. § 20 Abs. 5) obliegen sämtlichen Rechtsträgern, welche als (Gründungs-)Aktionäre die Unternehmenseigenschaft i. S. von § 15 erfüllen, u. a. in- und ausländischen Unternehmen ebenso wie natürlichen Personen und auch dem Alleinaktionär.10) 10 Da der Unternehmensbegriff in den § 20 Abs. 1, 2 und 4 demjenigen in § 15 entspricht, fallen all diejenigen Aktionäre aus dem Adressatenkreis raus, die neben ihrer Beteiligung an der Gesellschaft keine anderweitige konzernrelevante wirtschaftliche Interessenbindung haben und somit als privilegierte Privataktionäre anzusehen sind (siehe hierzu auch § 15 Rz. 5).11) Auf die Art der das Erreichen des jeweiligen Schwellenwertes bedingenden Rechtshandlung kommt es nicht an, so dass die Gründung der Empfängergesellschaft (auch mittels Formwechsels; originärer Erwerb) ebenso wie spätere Kapitalerhöhungen (originärer Erwerb) und Anteilsabtretungen (derivativer Erwerb) die Mitteilungspflichten auslösen können.12) Wird die Unternehmenseigenschaft erst im Anschluss an das Erreichen eines der Schwellenwerte, z. B. durch Beteiligungserwerb an einer weiteren Gesellschaft, begründet (siehe hierzu § 15 Rz. 6), entsteht eine Mitteilungspflicht nach § 20 auch ohne Veränderung der Beteiligungsstruktur.13) 11 In Anlehnung an § 19 gilt § 20 Abs. 3 nur für Unternehmen in Form von Kapitalgesellschaften mit Satzungssitz im Inland (siehe zum Begriff „Sitz im Inland“ § 19 Rz. 5).14) 12 Nimmt ein Dritter die Mitteilungspflicht wahr, muss erkennbar sein, dass dieser in Stellvertretung bzw. Auftrag eines bestimmten mitteilungspflichtigen Unternehmens handelt.15) Anderweitige Kenntniserlangung der die Mitteilungspflicht auslösenden Umstände seitens der Gesellschaft befreit nicht von den Mitteilungspflichten des § 20.16) _____________ 8) Spindler/Stilz-Petersen, AktG, Vor §§ 20 – 22 Rz. 9. 9) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 20 Rz. 4 und K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 4 f., jeweils m. w. N. 10) Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 1; K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 13 f. 11) BGH, Urt. v. 22.4.1991 – II ZR 231/90, NJW 1991, 2765, 2766 f. = ZIP 1991, 719; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 20 Rz. 2; Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 1; K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 4, 13. 12) Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 20 Rz. 13; Bürgers/Körber-Schilha, AktG § 20 Rz. 7; zum Fall des Formwechsels: Irriger/Longrée, NZG 2013, 1289 ff. 13) K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 10, 13. 14) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 20 Rz. 5; Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 3; K. Schmidt/LutterVeil, AktG, § 20 Rz. 26. 15) BGH, Urt. v. 22.4.1991 – II ZR 231/90, NJW 1991, 2765, 2768 = ZIP 1991, 719; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 20 Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 15; Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 23. 16) BGH, Urt. v. 24.4.2006 – II ZR 30/05, ZIP 2006, 1134 = NZG 2006, 505, dazu EWiR 2006, 449 (Wilsing/Goslar); BGH, Urt. v. 22.4.1991 – II ZR 231/90, NJW 1991, 2765, 2767 = ZIP 1991, 719; LG Düsseldorf, Urt. v. 26.11.2009 – 32 O 65/09, ZIP 2010, 1129, 1131; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 20 Rz. 5, 8; K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 15; Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 20 AktG Rz. 30; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 20 Rz. 10; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 130.

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§ 20

Mitteilungspflichten 2.

Empfänger

Korrekte Empfänger der Mitteilung sind AG, Vor-AG17) sowie KGaA18) und Societas 13 Europaea (SE),19) an denen eine entsprechende Aktienbeteiligung besteht und die ihren Satzungssitz im Inland haben, jeweils empfangsvertreten durch Vorstand bzw. Komplementär (bei KGaA).20) Bei einem Formwechsel in eine solche Gesellschaftsform gemäß §§ 190 ff. UmwG entstehen die Mitteilungspflichten erst im Zeitpunkt der Eintragung des Formwechsels in das Handelsregister.21) 3.

Rechtsnatur und Ausgestaltung der Mitteilung

Mitteilungen i. S. von § 20 sind als rechtsgeschäftsähnliche Handlungen zu qualifizieren, 14 deren Rechtsfolgen nicht durch den Willen des Handelnden, sondern durch das Gesetz bestimmt werden.22) Der Mitteilungspflicht wird nur genügt, wenn die Mitteilung so eindeutig formuliert ist, 15 dass der Empfänger diese ohne korrigierend eingreifen zu müssen bekannt machen und nach Veröffentlichung gemäß § 20 Abs. 6 auch die Öffentlichkeit unzweifelhaft erkennen kann, welche Art der Beteiligung i. S. von § 20 gemeint ist und wem diese zuzuordnen ist.23) Daher muss aus der Mitteilung (mindestens) zweifelsfrei hervorgehen, ob und von wem die Schwelle einer 25 % Beteiligung gemäß § 20 Abs. 1 (ggf. i. V. m. Abs. 2) oder gemäß § 20 Abs. 3 bzw. diejenige einer 50 % Beteiligung gemäß § 20 Abs. 4 überschritten worden ist.24) Hinzuweisen ist auch darauf, dass ggf. mehrere Mitteilungspflichten gleichzeitig erfüllt werden, z. B. diejenigen nach § 20 Abs. 1 und 3 (denkbar, wenn für § 20 Abs. 1 keine Zurechnung über § 20 Abs. 2 notwendig ist; siehe hierzu auch Rz. 24)25) oder nach § 20 Abs. 1 und 4 (wenn eine Stimmenmehrheitsbeteiligung gemäß § 20 Abs. 4 i. V. m. § 16 Abs. 3 vorliegt, die keine kapitalmäßige Mehrheitsbeteiligung von über 50 % i. S. von § 20 Abs. 4 i. V. m. § 16 Abs. 2, wohl aber eine solche von über 25 % i. S. von § 20 Abs. 1 darstellt; siehe hierzu auch Rz. 26).26) Auch bei einer Schwellenunterschreitung nach § 20 Abs. 5 muss aus der Mitteilung (mindestens) zweifelsfrei die jeweils unterschrittene Fallgruppe hervorgehen, wobei auf die vorangegangene(n) Mitteilung(en) nach § 20 Abs. 1 (ggf. i. V. m. Abs. 2), 3 oder 4 verwiesen werden kann.27) _____________ 17) K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 20 Rz. 2; a. A. Windbichler in: GroßKomm-AktG, § 20 Rz. 19. 18) K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 17; Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 6; Hüffer/KochKoch, AktG, § 20 Rz. 2. 19) K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 17; Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 6. 20) K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 17; Windbichler in: GroßKomm-AktG, § 20 Rz. 40. 21) K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 17; Windbichler in: GroßKomm-AktG, § 20 Rz. 19; LG Düsseldorf, Urt. v. 26.11.2009 – 32 O 85/09, BeckRS 2010, 13983 und hierzu: Irriger/Langrée, NZG 2013, 1289 ff. 22) OLG München, Beschl. v. 12.4.2012 – 7 U 5101/11, BeckRS 2012, 12690; K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 8; Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 20 AktG Rz. 30; Burgard, WM 2012, 1937, 1940. 23) BGH, Urt. v. 22.4.1991 – II ZR 231/90, NJW 1991, 2765, 2767 = ZIP 1991, 719; K. Schmidt/LutterVeil, AktG, § 20 Rz. 8; Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 24 f.; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 127. 24) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 20 Rz. 8; Hölters-Hirschmann, AktG, § 20 Rz. 10; Emmerich/HabersackEmmerich, Konzernrecht, § 20 AktG Rz. 33. 25) K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 8; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 20 Rz. 27 – eingehend zum Verhältnis von § 20 Abs. 1 und 3; a. A. wohl Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 128. 26) BGH, Urt. v. 22.4.1991 – II ZR 231/90, NJW 1991, 2765, 2767 = ZIP 1991, 719; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 129. 27) K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 8; Windbichler in: GroßKomm-AktG, § 20 Rz. 44, 39.

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§ 20

Mitteilungspflichten

16 Hinweise zur genauen Höhe der Beteiligung oder darauf, ob eine Zurechnung nach § 20 Abs. 2 oder § 16 Abs. 4 erfolgt ist, sind grundsätzlich nicht erforderlich.28) Etwas anderes gilt nur, wenn aufgrund eines Zurechnungstatbestands und mangels Absorption mehrere Unternehmen mitteilungspflichtig sind (siehe hierzu auch Rz. 22).29) 17 Umstritten ist, ob und wenn ja, in welcher Detailtiefe, die Mitteilung einen expliziten Verweis auf die jeweilige Rechtsgrundlage in § 20 enthalten muss. Die überwiegende Auffassung hält eine explizite Inbezugnahme zwar für wünschenswert, lehnt eine entsprechende Rechtspflicht aber grundsätzlich ab.30) Gegen eine solche Pflicht spricht der Wortlaut in § 20 Abs. 1 und 3 bis 5, der lediglich eine „unverzügliche schriftliche Mitteilung“ verlangt. Ein Hinweis auf die Rechtsgrundlage soll ausnahmsweise erforderlich sein, wenn nur so eine zweifelsfreie Zuordnung zu einer bzw. mehreren der Fallgruppen möglich ist.31) Zu berücksichtigen ist jedoch, dass mit dem grundsätzlichen Verzicht auf eine eindeutige Inbezugnahme der die Mitteilungspflicht auslösenden Rechtsgrundlage in § 20 eine kaum hinnehmbare Rechtsunsicherheit verbunden ist. So erkennt die Rechtsprechung teilweise selbst Ausführungen über die entsprechenden Schwellenwerte als Mitteilungen i. S. von § 20 an, die inzident oder „en passent“ in einem an die AG gerichteten Schreiben enthalten sind, obwohl das Schreiben inhaltlich ein völlig anderes Anliegen verfolgt, ein Wille des Absenders zur Erfüllung der Mitteilungspflichten gemäß § 20 nicht erkennbar ist und diesem folglich eher zufällig entsprechen wird.32) 18 Eine derartige Aufweichung der inhaltlichen Anforderungen an Mitteilungen i. S. von § 20 vereitelt dessen Zweck, da die Empfänger mangels eindeutiger Erkennbarkeit ihrer Veröffentlichungspflicht nach § 20 Abs. 7 dieser entweder gar nicht nachkommen oder angesichts der Unsicherheit zukünftig auch etliche fehlerhafte Mitteilungen veröffentlichen werden. Auslegungsfragen im Hinblick auf derartige Mitteilungen müssen aber stets zulasten des Erklärenden gehen.33) Aus diesen Gründen ist nach hier vertretener Ansicht die explizite Nennung der jeweiligen Rechtsgrundlage (§ 20 Abs. 1, Abs. 3 und/oder 4) i. S. der Rechtssicherheit als inhaltliche Wirksamkeitsvoraussetzung für eine ordnungsgemäße Mitteilung nach § 20 anzuerkennen. Der Gesetzgeber sollte hier für entsprechende Klarheit sorgen. 19 Die jeweilige Mitteilung hat unverzüglich, d. h. ohne schuldhaftes Zögern i. S. von § 121 BGB, und schriftlich i. S. von § 126 BGB oder § 126a BGB zu erfolgen (vgl. § 20 Abs. 1, 3, 4 und 5) und ist auch bereits bei Gründung34) der Gesellschaft und nicht erst bei späterer Anteilsveränderung durchzuführen.

_____________ 28) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 20 Rz. 31; K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 9. 29) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 20 Rz. 34; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 128. 30) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 20 Rz. 8 (grds. nur „zweckmäßig“); Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 25 („nicht zwingend erforderlich“); Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 125 („zweckmäßigerweise“); Windbichler in: GroßKomm-AktG, § 20 Rz. 44 („hilfreich“); Hölters-Hirschmann, AktG, § 20 Rz. 10 („die einschlägigen Normen müssen dabei nicht zitiert werden“); Bürgers/KörberSchilha, AktG, § 20 Rz. 21 („zweckmäßig“, „ratsam“). 31) Burgard, WM 2012, 1937, 1939. 32) LG Hamburg, Urt. v. 8.6.1995 – 405 O 203/94, WM 1996, 168, 169 f. (Antrag auf Einberufung der Hauptversammlung gemäß § 122); OLG München, Beschl. v. 6.7.2011 – 7 AktG 1/11, ZIP 2011, 2199, 2201 f. (Squeeze-Out Verlangen nach § 327a); OLG München, Beschl. v. 28.7.2010 – 7 AktG 2/10, WM 2010, 1859, 1860 f. = ZIP 2011, 1147 – Eintragungs- und Auskunftsverlangen nach § 67; dem folgend wohl auch Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 20 Rz. 17; a. A. Burgard, WM 2012, 1937. 33) So auch Burgard, WM 2012, 1937, 1941. 34) BGH, Urt. v. 24.4.2006 – II ZR 30/05, NZG 2006, 505, 506 = ZIP 2006, 1134; K. Schmidt/LutterVeil, AktG, § 20 Rz. 11, 17; Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 2.

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§ 20

Mitteilungspflichten III.

Fallgruppen

1.

25 % Beteiligung (§ 20 Abs. 1, Abs. 2)

Die Meldepflicht nach § 20 Abs. 1 entsteht, sobald einem Unternehmen über 25 % („mehr 20 als der vierte Teil“) der Aktien gehört. Angesichts der Beschränkung des Verweises in § 20 Abs. 1 Satz 2 auf § 16 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 ist nur die kapitalmäßige Anteilsinhaberschaft entscheidend für die Berechnung der Beteiligung. Eine von dieser abweichende Stimmrechtsverteilung bleibt unberücksichtigt, so dass z. B. auch Unternehmen, deren Beteiligung von über 25 % ausschließlich in Form stimmrechtsloser Vorzugsaktien besteht, nach § 20 Abs. 1 mitteilungspflichtig sind.35) Im Hinblick auf die genaue Berechnung nach § 16 Abs. 2 Satz 1 (ggf. i. V. m. Abs. 4) kann auf die entsprechenden Ausführungen zu § 16 verwiesen werden (siehe hierzu § 16 Rz. 3 ff., 17 ff.). Ein Abzug nach § 16 Abs. 2 Satz 2 und 3 findet mangels entsprechenden Verweises in § 20 Abs. 1 nicht statt.36) Zwei spezielle Tatbestände der Zurechnung sieht § 20 Abs. 2 für Situationen vor, in 21 denen dem Unternehmen selbst noch nicht über 25 % der Anteile gehören, aber bereits eine anwartschaftsähnliche Rechtsposition existiert, aufgrund derer das Unternehmen selbst, ein von ihm abhängiges Unternehmen, ein anderer für Rechnung des Unternehmens (siehe zum Begriff „für Rechnung“ unter § 16 Rz. 18) oder ein von diesem abhängigen Unternehmen die Übereignung entsprechender Anteile verlangen kann (§ 20 Abs. 2 Nr. 1) oder zu deren Abnahme verpflichtet ist (§ 20 Abs. 2 Nr. 2). Für § 20 Abs. 2 Nr. 1 genügt der Abschluss eines entsprechenden Kausalgeschäfts (z. B. Kaufvertrag), bei einem unwiderruflichen Angebot oder einer Option (z. B. Call Option) ist § 20 Abs. 2 Nr. 1 nach überwiegender Ansicht analog anwendbar.37) Nicht erfasst werden Positionen, die unter einer Bedingung stehen, deren Eintritt nicht allein von der jeweils betroffenen Person (das Unternehmen bzw. der Dritte) herbeigeführt werden kann.38) Beispiel für § 20 Abs. 2 Nr. 2 ist das unechte Pensionsgeschäft in § 340b Abs. 3 HGB.39) § 20 Abs. 2 dient der Vermeidung einer Umgehung der Meldepflichten und findet auch dann Anwendung, wenn dem Zurechnungsempfänger kein einziger Anteil gehört, d. h. sich die Zuordnung der Anteile allein auf § 20 Abs. 2 stützt.40) Sowohl eine Zurechnung nach § 16 Abs. 4 als auch eine solche nach § 20 Abs. 2 können 22 mangels Absorption der zugerechneten Anteile eine Mitteilungspflicht bei mehreren Unternehmen begründen.41) 2.

25 % Beteiligung (§ 20 Abs. 3)

Da sie der Aufdeckung wechselseitiger Beteiligungen i. S. von §§ 19, 328 dient und solche 23 grundsätzlich nur zwischen Kapitalgesellschaften mit Satzungssitz im Inland bestehen können, gilt die Mitteilungspflicht in § 20 Abs. 3 ebenfalls nur für Kapitalgesellschaften mit Satzungssitz im Inland (siehe zum Begriff „Sitz im Inland“ § 19 Rz. 5).42) Die Berechnung erfolgt nach § 16 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 ohne Hinzurechnung nach § 20 Abs. 2, eine Bekanntmachung nach § 20 Abs. 6 erfolgt nicht (siehe hierzu auch Rz. 28), da die _____________ 35) K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 19; Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 7. 36) K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 20; Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 7. 37) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 20 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 24; Spindler/StilzPetersen, AktG, § 20 Rz. 11. 38) Bürgers/Körber-Schilha, AktG, § 20 Rz. 11; Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 11. 39) K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 25; Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 13. 40) Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 10, 14; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 121. 41) Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 15 Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 121. 42) Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 16; K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 26.

Alexander Franz

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§ 20

Mitteilungspflichten

Aufdeckung wechselseitiger Beteiligungen nur im Interesse der an einer solchen beteiligten Kapitalgesellschaften, insbesondere im Hinblick auf die Rechtsfolgen des § 328, erfolgt.43) Aus § 328 Abs. 4 resultiert sodann eine gegenseitige Mitteilungspflicht für jegliche Veränderung i. R. der wechselseitigen Beteiligung (siehe hierzu ausführlich § 328). 24 Sollte neben § 20 Abs. 3 zugleich ein Fall des § 20 Abs. 1 vorliegen, so können beide Mitteilungspflichten in einer entsprechend zu gestaltenden, einheitlichen Mitteilung erfüllt werden. Liegt hingegen zwischen der tatbestandlichen Erfüllung des § 20 Abs. 1 und derjenigen des § 20 Abs. 3 eine zeitliche Zäsur, so sind beide Mitteilungspflichten getrennt zu erfüllen.44) Wurde die zeitlich früher entstehende Pflicht versäumt, kann diese allerdings gemeinsam mit der später entstehenden nachgeholt werden. 3.

50 % Beteiligung (§ 20 Abs. 4)

25 Sobald eine Mehrheitsbeteiligung nach § 16 Abs. 1 besteht, ist auch diese der von einer solchen Beteiligung betroffenen Gesellschaft mitzuteilen (vgl. § 20 Abs. 4). Da an eine solche Beteiligung über § 17 Abs. 2 regelmäßig die besonderen konzernrechtlichen Folgen der §§ 311 ff. anknüpfen, erfasst der Verweis in § 20 Abs. 4, anders als derjenige in § 20 Abs. 1, den gesamten § 16 (Kapital- oder Stimmenmehrheit von über 50 %), d. h. auch § 16 Abs. 2 Satz 2 und 3 sowie Abs. 3, eine Hinzurechnung nach § 20 Abs. 2 findet hingegen nicht statt (siehe zur genauen Berechnung § 16 Rz. 3 ff.).45) § 16 Abs. 2 – 4 konkretisieren lediglich die Vorschrift des § 16 Abs. 1 und sind daher von dem Verweis auf § 16 Abs. 1 ebenfalls erfasst.46) 26 Auch eine gleichzeitige Erfüllung der Tatbestände des § 20 Abs. 4 und des § 20 Abs. 1 ist denkbar, wenn z. B. (teilweise) stimmrechtslose Vorzugsaktien oder Mehrstimmrechtsaktien existieren und dazu führen, dass im Einzelfall eine kapitalmäßige Beteiligung von über 25 % (aber unter 50 %) und gleichzeitig eine Stimmenmehrheit von über 50 % vorliegt.47) Auch in diesem Fall ist eine entsprechend zu gestaltende, einheitliche Mitteilung denkbar. Im Falle einer zeitlichen Zäsur gelten die Ausführungen unter Rz. 24 entsprechend. 4.

Schwellenunterschreitung (§ 20 Abs. 5)

27 § 20 Abs. 5 sieht eine weitere Mitteilungspflicht vor, wenn eine der in den § 20 Abs. 1, 3 oder 4 genannten mitteilungspflichtigen Schwellen unterschritten wird. Die Pflicht gilt grundsätzlich, wenn (eine) vorangegangene Mitteilung(en) nach § 20 Abs. 1 (ggf. i. V. m. Abs. 2), 3 oder 4 vorgenommen wurde(n), wobei auf diese Mitteilung(en) verwiesen werden kann. Sie gilt aber nach umstrittener Ansicht auch dann, wenn die früher entstandene Pflicht nach § 20 Abs. 1 (ggf. i. V. m. Abs. 2), 3 oder 4 nicht erfüllt wurde, da die Öffentlichkeit auch in diesem Fall ein Interesse daran hat, die Entwicklung der Machtverhältnisse in der betroffenen Gesellschaft nachvollziehen zu können, und es rechtspolitisch bedenklich ist, ein vorangegangenes pflichtwidriges Unterlassen im Bereich des § 20

_____________ 43) 44) 45) 46) 47)

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Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 16 f.; K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 26, 32. K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 27; Windbichler in: GroßKomm-AktG, § 29 Rz. 35. K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 29; Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 18. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 20 Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 29. BGH, Urt. v. 22.4.1991 – II ZR 231/90, NJW 1991, 2765, 2767 = ZIP 1991, 719; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 129.

Alexander Franz

§ 20

Mitteilungspflichten

Abs. 5 zu privilegieren.48) Eine Unterschreitung der Beteiligungsschwelle in § 20 Abs. 3 ist nicht gemäß § 20 Abs. 6 bekannt zu machen (siehe hierzu auch Rz. 28).49) IV.

Bekanntmachung (§ 20 Abs. 6)

Die jeweilige Gesellschaft hat das Bestehen einer ihr gemäß § 20 Abs. 1 oder 4 (nicht gemäß 28 § 20 Abs. 3 bzw. Abs. 5 i. V. m. Absatz 3, siehe hierzu auch Rz. 24 bzw. Rz. 27)50) mitgeteilten Beteiligung unverzüglich in den Gesellschaftsblättern (mindestens im elektronischen Bundesanzeiger, vgl. § 25)51) bekannt zu machen, vgl. § 20 Abs. 6. Die Pflicht nach § 20 Abs. 6 entsteht nur im Fall einer ordnungsgemäß erfolgten und der Gesellschaft zuvor schriftlich zugegangenen Mitteilung.52) Die Gesellschaft ist grundsätzlich nicht gehindert bei anderweitiger Kenntniserlangung freiwillig eine entsprechende Veröffentlichung vorzunehmen,53) eine solche kann allerdings nicht dazu führen, dass eine ordnungsgemäß erfolgte Mitteilung fingiert und der Rechtsverlust gemäß § 20 Abs. 7 in Folge dessen beendet wird.54) Inhaltlich fordert § 20 Abs. 6 Satz 1 Halbs. 2 seinem Wortlaut nach lediglich die Angabe des von der Beteiligung betroffenen Unternehmens, nicht hingegen konkrete Angaben zu Höhe oder Art und Weise einer eventuellen Zurechnung. In der Literatur wird hingegen teilweise gefordert, dass zusätzlich Angaben über eine eventuelle Zurechnung zu machen sind.55) Dem ist nur insofern zu folgen, als dass auch die zugrunde liegende Mitteilungspflicht entsprechende Angaben umfassen muss (nur bei angesichts der Zurechnung entstehender mehrfacher Beteiligung, siehe hierzu Rz. 16), da an die Bekanntmachungspflicht keine höheren Anforderungen als an die Mitteilungspflicht gestellt werden sollten. V.

Rechtsfolgen des § 20 Abs. 7

Gemäß § 20 Abs. 7 Satz 1 führt ein Verstoß gegen die Mitteilungspflichten aus § 20 Abs. 1 29 oder 4 (nicht hingegen ein Verstoß gegen Absatz 3, 5 oder 6)56) zum Verlust der Rechte aus den Aktien, die dem mitteilungspflichtigen Unternehmen gehören bzw. diesem über § 16 Abs. 4 zugerechnet werden (nicht hingegen aus Aktien, die nach § 20 Abs. 2 hinzugerechnet werden).57) § 20 Abs. 7 enthält folgende drei Aussagen: –

Die aktienrechtlichen Mitgliedschaftsrechte bestehen grundsätzlich für den Zeitraum eines (verschuldensabhängigen) Verstoßes gegen § 20 Abs. 1 oder 4 nicht (zeitweiliger Rechtsverlust);

_____________ 48) LG München II, Urt. v. 14.8.2006 – 9 O 4357/06, BeckRS 2006, 13195; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 20 Rz. 26; K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 31; Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 20; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 20 Rz. 7; a. A. Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 20 Rz. 21; Henssler/ Strohn-Kessler/Maier-Reimer, GesR, § 20 AktG Rz. 7. 49) K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 32. 50) K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 32. 51) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 20 Rz. 9. 52) BGH, Urt. v. 22.4.1991 – II ZR 231/90, NJW 1991, 2765, 2767 = ZIP 1991, 719; OLG Dresden, Urt. v. 11.1.2005 – 2 U 1728/04 (Mitteldeutsche Leasing AG), ZIP 2005, 573, dazu EWiR 2005, 369 (Theusinger/ Klein); Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 29; Bürgers/Körber-Schilha, AktG, § 20 Rz. 23. 53) Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 29; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 132. 54) So zu Recht Bürgers/Körber-Schilha, AktG, § 20 Rz. 23; Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 29. 55) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 20 Rz. 36; Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 20 Rz. 43; a. A. K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 34. 56) OLG Stuttgart, Beschl. v. 21.12.2012 – 20 AktG 1/12, ZIP 2013, 170 = BeckRS 2013, 00660, dazu EWiR 2013, 263 (Nikoleyczik/Gublitz); Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 34; Bürgers/KörberSchilha, AktG, § 20 Rz. 27; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 20 Rz. 41. 57) Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 42.

Alexander Franz

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§ 20 –



1.

Mitteilungspflichten

hiervon ausgenommen sind Gewinnbeteiligungsrechte gemäß § 58 Abs. 4 sowie Liquidationsbeteiligungsrechte gemäß § 271, die lediglich zeitweilig ruhen, nicht aber verloren sind, es sei denn, der (verschuldensabhängige) Verstoß basiert auf Vorsatz; und dem mitteilungspflichtigen Unternehmen stehen die ihm über § 16 Abs. 4 zuzurechnenden Rechtsträger („… weder für das Unternehmen, noch für ein von ihm abhängiges Unternehmen oder für einen anderen, der für Rechnung des Unternehmens oder eines von diesem anhängigen Unternehmens handelt.“) bzgl. der von § 20 Abs. 7 angeordneten Rechtsfolgen gleich.58) Rechtsverlust (§ 20 Abs. 7 Satz 1)

30 Im Hinblick auf die mitgliedschaftlichen Rechte ordnet § 20 Abs. 7 Satz 1 grundsätzlich sowohl für die Verwaltungs- als auch für die Vermögensrechte einen endgültigen Rechtsverlust für Gegenwart und Vergangenheit an, der erst im Zeitpunkt der Nachholung der jeweiligen Mitteilungspflicht gemäß § 20 Abs. 1 oder 4 ex nunc endet (zeitweiliger Rechtsverlust).59) Über den Wortlaut des § 20 Abs. 7 Satz 1 hinaus wird als zusätzliches Tatbestandsmerkmal überwiegend vermutetes Verschulden auf Seiten des mitteilungspflichtigen Unternehmens gefordert.60) 31 Zu den Verwaltungsrechten zählen u. a. – – – – –

das Stimmrecht, das Recht auf Teilnahme an der Hauptversammlung, das Auskunftsrecht, das aktive Wahlrecht zum Aufsichtsrat sowie die verschiedenen Schutzrechte in Form der Klagerechte und der Minderheitenrechte (zur Ausgestaltung dieser Rechte im Einzelnen siehe unter § 11 Rz. 11). 32 Zu den Vermögensrechten zählen insbesondere die jedem Aktionär grundsätzlich anteilig im Verhältnis zu seiner Beteiligung am Grundkapital zustehenden Gewinnbeteiligungsrechte, Liquidationsbeteiligungsrechte und Bezugsrechte auf neue Aktien (zur Ausgestaltung dieser Rechte im Einzelnen siehe unter § 11 Rz. 7). 33 Vom Rechtsverlust nicht erfasst sind – – –

die Mitgliedschaft als solche, das Recht zum Bezug von Aktien bei einer Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln (§ 212) und – das Recht auf Entgelt bei Einziehung von Aktien (§ 237).61) 34 Mit Ausnahme der Gewinnbeteiligungsrechte gemäß § 58 Abs. 4 sowie der Liquidationsbeteiligungsrechte gemäß § 271 gilt der normale Verschuldensmaßstab des § 276 Abs. 2 BGB, so dass einfache Fahrlässigkeit ausreicht, um die Rechtsfolge eines (zeitweiligen) vergangenheitsbezogenen Rechtsverlusts auszulösen. Hinsichtlich der Rechte aus §§ 58 Abs. 4, 271 fordert § 20 Abs. 7 Satz 2 hierfür hingegen einen vorsätzlichen Verstoß. – –

_____________ 58) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 20 Rz. 10. 59) K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 36. 60) K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 43; Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 37; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 20 Rz. 49; Henssler/Strohn-Kessler/Maier-Reimer, GesR, § 20 AktG Rz. 13; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 20 Rz. 11. 61) Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 44; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 20 Rz. 11, 15 f.

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§ 21

Mitteilungspflichten der Gesellschaft 2.

Ruhen von Rechten (§ 20 Abs. 7 Satz 2)

Liegt kein Vorsatz, sondern lediglich einfache oder grobe Fahrlässigkeit vor, so sind die 35 Rechte aus §§ 58 Abs. 4, 271 anders zu behandeln als die übrigen Mitgliedschaftsrechte, d. h. sie gehen nicht für die Vergangenheit verloren, sondern ruhen lediglich bis zum Zeitpunkt der ordnungsgemäßen Nachholung der bislang unterlassenen Mitteilung.62) 3.

Dividendenrückstellungen

Bis zur Nachholung der Mitteilung ist der Vorstand gehalten, aus den Dividenden zu- 36 nächst eine entsprechende Rückstellung für säumige Aktionäre zu bilden.63) Diese Rückstellung kann erst dann aufgelöst werden, wenn die Mitteilung ordnungsgemäß nachgeholt wurde und feststeht, ob diese vorsätzlich (und die Rückstellung auf die anderen Aktionäre verteilt werden muss) oder nur fahrlässig (und die Rückstellung an den jeweiligen säumigen Aktionär ausgeschüttet werden muss) versäumt worden ist.64) Im Rahmen der Feststellung ist ggf. ein entsprechendes Gutachten in Auftrag zu geben. VI.

Sonstige Sanktionen

Im Falle der unzulässigen Rechtsausübung trotz eines durch § 20 Abs. 7 angeordneten 37 Rechtsverlusts ist ein Hauptversammlungsbeschluss unter zu Unrecht berücksichtigter Stimmabgabe gemäß § 243 Abs. 1 anfechtbar, zu Unrecht gewährte Dividenden oder ausgeübte Bezugsrechte sind gemäß § 62 zu erstatten bzw. zu kompensieren.65) Gegebenenfalls liegt eine Ordnungswidrigkeit nach § 405 Abs. 3 Nr. 5 vor; diskutiert wird auch die Frage nach einer gegenüber anderen Aktionären oder Dritten bestehenden Schadensersatzpflicht des Mitteilungspflichtigen.66) Im Falle einer unterlassenen Bekanntmachung gemäß § 20 Abs. 6 kommen Schadens- 38 ersatzansprüche der Aktionäre und Dritter gegenüber der Gesellschaft gemäß § 823 Abs. 2 und solche der Gesellschaft gegenüber ihrem Vorstand gemäß § 93 Abs. 2 in Betracht.67) _____________ 62) 63) 64) 65) 66) 67)

K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 41; Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 20 Rz. 52. K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 42. K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 42. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 20 Rz. 17; K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 44. S. hierzu Bayer in: MünchKomm-AktG, § 20 Rz. 85; K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 45. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 20 Rz. 85; K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 20 Rz. 47.

§ 21 Mitteilungspflichten der Gesellschaft Alexander Franz

(1) 1Sobald der Gesellschaft mehr als der vierte Teil der Anteile einer anderen Kapitalgesellschaft mit Sitz im Inland gehört, hat sie dies dem Unternehmen, an dem die Beteiligung besteht, unverzüglich schriftlich mitzuteilen. 2Für die Feststellung, ob der Gesellschaft mehr als der vierte Teil der Anteile gehört, gilt § 16 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 sinngemäß. (2) Sobald der Gesellschaft eine Mehrheitsbeteiligung (§ 16 Abs. 1) an einem anderen Unternehmen gehört, hat sie dies dem Unternehmen, an dem die Mehrheitsbeteiligung besteht, unverzüglich schriftlich mitzuteilen.

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§ 21

Mitteilungspflichten der Gesellschaft

(3) Besteht die Beteiligung in der nach Absatz 1 oder 2 mitteilungspflichtigen Höhe nicht mehr, hat die Gesellschaft dies dem anderen Unternehmen unverzüglich schriftlich mitzuteilen. (4) 1Rechte aus Anteilen, die einer nach Absatz 1 oder 2 mitteilungspflichtigen Gesellschaft gehören, bestehen nicht für die Zeit, für die sie die Mitteilungspflicht nicht erfüllt. 2§ 20 Abs. 7 Satz 2 gilt entsprechend. (5) Die Absätze 1 bis 4 gelten nicht für Aktien eines Emittenten im Sinne des § 33 Absatz 4 des Wertpapierhandelsgesetzes. Literatur: Grimm/Wenzel, Praxisrelevante Probleme der Mitteilungspflichten nach § 21 AktG, AG 2012, 274; Leitzen, Mitteilungspflichten nach § 21 AktG und die notarielle Praxis im Gesellschaftsrecht, MittBayNot 2012, 183.

Übersicht I. II. 1. 2. I.

Bedeutung der Norm ....................... Fallgruppen ....................................... 25 % Beteiligung (§ 21 Abs. 1) ......... 50 % Beteiligung (§ 21 Abs. 2) .........

1 6 6 8

3. Schwellenunterschreitung (§ 21 Abs. 3) ....................................... 9 III. Rechtsfolgen des § 21 Abs. 4 .......... 10

Bedeutung der Norm

1 Die Norm behandelt den umgekehrten Fall des § 20 und regelt somit Mitteilungspflichten einer Gesellschaft bei wesentlicher Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft (§ 21 Abs. 1) bzw. an einem Unternehmen (§ 21 Abs. 2).1) Auf das Erreichen der die Mitteilungspflicht auslösenden Schwellenwerte kommt es ebenso wie bei § 20 nicht an (siehe § 20 Rz. 2, 10).2) § 21 steht im sachlichen Zusammenhang mit § 20,3) beide Normen sind ähnlich aufgebaut und verfolgen den gleichen Zweck (Transparenz der Beteiligungsverhältnisse).4) § 21 Abs. 1 (Schachtelbeteiligung von über 25 %) bzw. § 21 Abs. 2 (Mehrheitsbeteiligung von über 50 %) entsprechen § 20 Abs. 3 bzw. 4, ein Pendant zu § 20 Abs. 1, 2 fehlt hingegen in § 21, § 21 Abs. 3 (Schwellenunterschreitung) bzw. § 21 Abs. 4 (Rechtsfolgen) sind mit § 20 Abs. 5 bzw. Abs. 7 vergleichbar.5) 2 Praktisch bedeutsam ist das Fehlen einer Pflicht des Empfängers zur Bekanntmachung der jeweiligen Mitteilung in § 21 (vgl. § 20 Abs. 6). Hieraus ergibt sich eine unterschiedliche Behandlung von wesentlichen Beteiligungen an einer AG, KGaA oder Societas Europaea (SE) (Bekanntmachungspflicht des Mitteilungsempfängers gemäß § 20 Abs. 6) und wesentlichen Beteiligungen dieser Rechtsformen an anderen Kapitalgesellschaften bzw. Unternehmen (keine Bekanntmachungspflicht des Mitteilungsempfängers, da § 20 Abs. 6 nicht anwendbar ist und § 21 eine solche nicht vorsieht). 3 Mitteilungspflichtige „Gesellschaft“ und somit Adressat der Pflichten in § 21 Abs. 1 und 2 sind neben der AG auch KGaA sowie Societas Europaea (SE) mit Satzungssitz im Inland.6) 4 Die Mitteilungen nach den § 21 Abs. 1 – 3 haben jeweils schriftlich und unverzüglich zu erfolgen (siehe hierzu sowie zur inhaltlichen Ausgestaltung der jeweiligen Mitteilung § 20 Rz. 19 und Rz. 15 ff.). _____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6)

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Bürgers/Körber/Lieder-Schilha, AktG, § 21 Rz. 1. Leitzen, MittBayNot 2012, 183, 184 ff. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 21 Rz. 1. K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 21 Rz. 1. Bürgers/Körber/Lieder-Schilha, AktG, § 21 Rz. 1. Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 21 Rz. 2; Bürgers/Körber/Lieder-Schilha, AktG, § 21 Rz. 1.

Alexander Franz

Mitteilungspflichten der Gesellschaft

§ 21

Ist neben § 21 zugleich der Tatbestand des § 20 erfüllt, so hat § 20 als strengere Norm 5 Vorrang (siehe hierzu § 20 Rz. 7). Eine Konkurrenz zu §§ 33 ff. WpHG ist nach § 21 Abs. 5 wiederum ausgeschlossen (siehe hierzu auch § 20 Rz. 7). II.

Fallgruppen

1.

25 % Beteiligung (§ 21 Abs. 1)

Die Meldepflicht nach § 21 Abs. 1 entspricht derjenigen in § 20 Abs. 3 und entsteht, sobald 6 einer Gesellschaft über 25 % („mehr als der vierte Teil“) der Anteile an einer anderen Kapitalgesellschaft mit Sitz im Inland gehört. Angesichts der Beschränkung des Verweises in § 21 Abs. 1 Satz 2 auf § 16 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 ist ebenso wie bei § 20 Abs. 1, 3 nur die kapitalmäßige Anteilsinhaberschaft entscheidend für die Berechnung der Beteiligung (siehe hierzu auch § 20 Rz. 20). Im Hinblick auf die genaue Berechnung nach § 16 Abs. 2 Satz 1 (ggf. i. V. m. § 16 Abs. 4) kann auf die entsprechenden Ausführungen zu §§ 16, 20 verwiesen werden (siehe hierzu § 16 Rz. 2 ff., 17 ff., § 20 Rz. 20 ff.). Mitteilungsempfänger i. S. § 21 Abs. 1 sind „Kapitalgesellschaften“ mit Satzungssitz im 7 Inland (AG, KGaA, Societas Europaea (SE), GmbH, UG (haftungsbeschränkt), und im Falle ihrer Einführung auch die Societas Privata Europaea (SPE)).7) 2.

50 % Beteiligung (§ 21 Abs. 2)

Gemäß des der Regelung in § 20 Abs. 4 entsprechenden § 21 Abs. 2 ist auch eine Mehr- 8 heitsbeteiligung i. S. von § 16 Abs. 1 dem von einer solchen Beteiligung betroffenen „Unternehmen“ mitzuteilen. Hinsichtlich des Empfängerkreises der Mitteilung ist § 21 Abs. 2 weiter gefasst als § 21 Abs. 1 und betrifft unabhängig von der jeweiligen Rechtsform nach h. M. sämtliche Unternehmen mit Satzungssitz im Inland (und somit u. a. auch Personengesellschaften).8) Fraglich ist, ob es sich hierbei zwingend um deutsche Beteiligungsunternehmen handeln muss,9) oder ob auch Mehrheitsbeteiligungen an ausländischen Unternehmen mitteilungspflichtig sind.10) Zwar sprechen gewichtige gesetzessystematische und teleologische Argumente für eine Erstreckung von § 21 Abs. 2 auf ausländische Beteiligungen, allerdings endet die gesellschaftsrechtliche Regelungskompetenz des deutschen Gesetzgebers diesbezüglich auf der Rechtsfolgenseite, mit der Konsequenz, dass § 21 Abs. 4 bei fehlenden Meldungen über ausländische Mehrheitsbeteiligungen keine Anwendung finden würde.11) Mangels entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten des deutschen Gesetzgebers erscheint nach hier vertretener Ansicht eine Einbeziehung ausländischer Beteiligungen in die Mitteilungspflicht nach § 21 Abs. 2 weder de lege lata noch de lege ferenda sinnvoll.12) Diskutiert wird darüber hinaus, ob der 100 % Anteilserwerb an einer GmbH von der Mitteilungspflicht des § 21 Abs. 2 ausgenommen sein soll.13) _____________ 7) Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 21 Rz. 3; Bürgers/Körber/Lieder-Schilha, AktG, § 21 Rz. 2. 8) K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 21 Rz. 5; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 21 Rz. 3; GrigoleitRachlitz, AktG, § 21 Rz. 2; Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 21 AktG Rz. 8; Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 152; Bürgers/Körber/Lieder-Schilha, AktG, § 21 Rz. 3; HöltersHirschmann, AktG, § 21 Rz. 4; ausführlich zu entsprechenden Mitteilungspflichten bei Beteiligung an einer GmbH bzw. an Personengesellschaften: Leitzen, MittBayNot 2012, 183 ff. 9) So die in Fn. 8 genannten Autoren. 10) So Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 21 Rz. 3; Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 21 Rz. 4; Windbichler in: GroßKomm-AktG, § 21 Rz. 9; Kindler in: MünchKomm-BGB, IntGesR Rz. 804; Henssler/StrohnKessler/Maier-Reimer, GesR, § 21 AktG Rz. 4; Grimm/Wenzel, AG 2012, 274, 283 f. 11) So im Ergebnis auch Grimm/Wenzel, AG 2012, 274, 275 ff., 278 f. 12) Ähnlich Emmerich/Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 21 AktG Rz. 8; a. A. Grimm/Wenzel, AG 2012, 274, 283 f. 13) S. hierzu Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 69 Rz. 152 und Bürgers/Körber/Lieder-Schilha, AktG, § 21 Rz. 2, jeweils m. w. N.; Grimm/Wenzel, AG 2012, 274, 280 ff.

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§ 22 3.

Nachweis mitgeteilter Beteiligungen Schwellenunterschreitung (§ 21 Abs. 3)

9 § 21 Abs. 3 ist mit § 20 Abs. 5 vergleichbar und sieht eine weitere Mitteilungspflicht vor, wenn eine der in § 21 Abs. 1 oder 2 genannten mitteilungspflichtigen Schwellen unterschritten wird (siehe hierzu § 20 Rz. 27). III.

Rechtsfolgen des § 21 Abs. 4

10 § 21 Abs. 4 unterscheidet ebenso wie die vergleichbare Vorschrift des § 20 Abs. 7 zwischen dem grundsätzlichen zeitweiligen Rechtsverlust der Mitgliedschaftsrechte (§ 21 Abs. 4 Satz 1) und dem ausnahmsweise nur zeitweiligen Ruhen der Gewinnbeteiligungsrechte gemäß § 58 Abs. 4 sowie der Liquidationsbeteiligungsrechte gemäß § 271 (§ 21 Abs. 4 Satz 2) anhand der Schwere des Verschuldensvorwurfs (Vorsatz oder Fahrlässigkeit, siehe hierzu § 20 Rz. 34 f.). Umstritten ist, ob sich die Rechtsfolge des § 21 Abs. 4 ebenso wie diejenige des § 20 Abs. 7 auch auf die der mitteilungspflichtigen Gesellschaft über § 16 Abs. 4 zuzurechnenden Anteile erstreckt, obwohl eine explizite Klarstellung diesbezüglich in § 21 Abs. 4 fehlt. Zuzustimmen ist der überwiegenden Ansicht, die eine Erstreckung auf diese Anteile befürwortet.14) Es macht keinen Sinn, § 20 und § 21 auf der Rechtsfolgenseite unterschiedlich zu behandeln und der im Vergleich zu § 20 Abs. 7 abweichende Wortlaut lässt sich durchaus systematisch mit dem Fehlen einer dem § 20 Abs. 2 entsprechenden Regelung in § 21 Abs. 4 begründen.15) 11 Zu den weiteren Rechtsfolgen gelten die zu § 20 Abs. 7 gemachten Ausführungen entsprechend (siehe hierzu § 20 Rz. 36 ff.). _____________ 14) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 21 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 21 Rz. 7; Bayer in: MünchKommAktG, § 21 Rz. 6; Bürgers/Körber/Lieder-Schilha, AktG, § 21 Rz. 5; a. A. Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 21 Rz. 11. 15) So auch Bayer in: MünchKomm-AktG, § 21 Rz. 6.

§ 22 Nachweis mitgeteilter Beteiligungen Alexander Franz

Ein Unternehmen, dem eine Mitteilung nach § 20 Abs. 1, 3 oder 4, § 21 Abs. 1 oder 2 gemacht worden ist, kann jederzeit verlangen, daß ihm das Bestehen der Beteiligung nachgewiesen wird. Literatur: Siehe die Literaturangaben zu §§ 20 und 21.

Übersicht I. Bedeutung der Norm ....................... 1 I.

II. Art und Form des Nachweises ......... 2

Bedeutung der Norm

1 Um eine gewisse Rechtssicherheit zu schaffen und im Hinblick auf die Veröffentlichungspflicht des § 20 Abs. 7, gibt § 22 dem Mitteilungsempfänger i. S. von § 20 Abs. 1, 3 und 4 sowie § 21 Abs. 1 und 2 einen Anspruch, vom jeweils Mitteilungspflichtigen einen Nachweis über das Bestehen der mitgeteilten Beteiligung verlangen zu können.1) Ausgeklammert von § 22 sind mangels Verweis auf §§ 20 Abs. 5, 21 Abs. 3 (Schwellenwertunterschreitung) Ansprüche auf Nachweis, dass eine Beteiligung in mitgeteilter Höhe nicht _____________ 1)

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K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 22 Rz. 2; Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 22 Rz. 1.

Alexander Franz

§ 22

Nachweis mitgeteilter Beteiligungen

mehr besteht. Allerdings kann das betroffene Unternehmen „jederzeit“ Nachweis darüber verlangen, dass die Beteiligung besteht, und somit auch abfragen, ob eine entsprechende (und nicht gemäß §§ 20 Abs. 5, 21 Abs. 3 unterschrittene) Beteiligung noch fortbesteht.2) II.

Art und Form des Nachweises

Über Art und Form des Nachweises schweigt das Gesetz. Der Mitteilungspflichtige kann 2 daher jeden Nachweis erbringen, der geeignet ist, zu belegen, dass er die mitgeteilte Beteiligung tatsächlich hält, was ggf. den Nachweis einer Beteiligungszurechnung einschließt.3) Hierzu zählen insbesondere Depotbescheinigungen, Abtretungsvereinbarungen und ggf. (für die Zurechnungsnachweise nach §§ 16 Abs. 4, 20 Abs. 2) Treuhandverträge oder Nachweise über Abhängigkeitsverhältnisse.4)

_____________ 2) 3) 4)

Bayer in: MünchKomm-AktG, § 22 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 22 Rz. 2; Spindler/StilzPetersen, AktG, § 22 Rz. 4. Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 22 Rz. 4. K. Schmidt/Lutter-Veil, AktG, § 22 Rz. 5; Spindler/Stilz-Petersen, AktG, § 22 Rz. 5.

Alexander Franz

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Zweiter Teil Gründung der Gesellschaft § 23 Feststellung der Satzung Thomas Wachter

(1) 1Die Satzung muß durch notarielle Beurkundung festgestellt werden. 2Bevollmächtigte bedürfen einer notariell beglaubigten Vollmacht. (2) In der Urkunde sind anzugeben 1. die Gründer; 2. bei Nennbetragsaktien der Nennbetrag, bei Stückaktien die Zahl, der Ausgabebetrag und, wenn mehrere Gattungen bestehen, die Gattung der Aktien, die jeder Gründer übernimmt; 3. der eingezahlte Betrag des Grundkapitals. (3) Die Satzung muß bestimmen 1. die Firma und den Sitz der Gesellschaft; 2. den Gegenstand des Unternehmens; namentlich ist bei Industrie- und Handelsunternehmen die Art der Erzeugnisse und Waren, die hergestellt und gehandelt werden sollen, näher anzugeben; 3. die Höhe des Grundkapitals; 4. die Zerlegung des Grundkapitals entweder in Nennbetragsaktien oder in Stückaktien, bei Nennbetragsaktien deren Nennbeträge und die Zahl der Aktien jeden Nennbetrags, bei Stückaktien deren Zahl, außerdem, wenn mehrere Gattungen bestehen, die Gattung der Aktien und die Zahl der Aktien jeder Gattung; 5. ob die Aktien auf den Inhaber oder auf den Namen ausgestellt werden; 6. die Zahl der Mitglieder des Vorstands oder die Regeln, nach denen diese Zahl festgelegt wird. (4) Die Satzung muß ferner Bestimmungen über die Form der Bekanntmachungen der Gesellschaft enthalten. (5) 1Die Satzung kann von den Vorschriften dieses Gesetzes nur abweichen, wenn es ausdrücklich zugelassen ist. 2Ergänzende Bestimmungen der Satzung sind zulässig, es sei denn, daß dieses Gesetz eine abschließende Regelung enthält. Literatur: Attenberger, § 378 Abs. 3 FamFG n. F. und § 15 Abs. 3 GBO n. F. – Notarielle Prüfung auf Eintragungsfähigkeit als Eintragungsvoraussetzung im Register- und Grundbuchverfahren und ausschließliche Einreichung über den Notar im Handelsregisterverfahren, MittBayNot 2017, 335; Bachmann, Die Offenlegung der wirtschaftlichen Neugründung und die Folgen ihrer Versäumung, NZG 2012, 579; Bachmann, Abschied von der „wirtschaftlichen Neugründung“?, NZG 2011, 441; Baumann/Wagner, Schiedsfähigkeit I, II oder III – Ob Ihr Recht habt oder nicht, sagt Euch der BGH, BB 2017, 1993; Bayer, Neue und gebrauchte Mäntel, „gestreckte“ und „mutierte“ Gründungen – Die Rechtsfigur der „wirtschaftlichen Neugründung“ in der Rechtsprechung des BGH, in: Festschrift für Wulf Goette, 2011, S. 15; Bayer, Empfehlen sich besondere Regelungen für börsennotierte und für nicht börsennotierte Gesellschaften, NJW Beilage Heft 21/2008, S. 21; Binnewies/Hertwig, Die gemeinnützige Aktiengesellschaft, AG 2020, 739; Blasche, Satzungsregelungen zur Amtszeit der Aufsichtsratsmitglieder, AG 2017, 112; Bormann/

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§ 23

Feststellung der Satzung

Stelmaszczyk, Vertrauensschutz durch öffentliche Register im internationalen Rechtsverkehr, in: Festschrift 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, 2018, S. 415; Borris, Die „Schiedsfähigkeit“ von Beschlussmängelstreitigkeiten in der Personengesellschaft, NZG 2017, 761; Burgard, Inzidente Mitteilungen gemäß § 20 AktG?, WM 2012, 1937; Cramer, Die Bestellung von Vorstandsmitgliedern zu Geschäftsführern einer Tochter-GmbH, NZG 2012, 765; Cziupka/Kliebisch, Probleme der Steuerung des Gesellschafterbestandes durch schuldrechtliche Vereinbarungen zwischen Aktiengesellschaft und ihren jeweiligen Aktionären, BB 2013, 715; Diehn/Rachlitz, Notarielle Prüfungspflichten im Grundbuch- und Registerverkehr, DNotZ 2017, 487; Eble, Familien- und betreuungsgerichtliche Genehmigungen im Gesellschaftsrecht, RNotZ 2021, 117; Fleischer, Corporate Purpose: Ein Management-Konzept und seine gesellschaftsrechtlichen Implikationen, ZIP 2021, 5; Fleischer, Zur Auslegung von Gesellschaftsverträgen und Satzungen, DB 2013, 1466; Fleischer/Maas, Satzungsgestaltung in den DAX-Unternehmen, AG 2020, 761; Fleischer/ Mock, Gesellschaftsverträge und Satzungen im Wandel der Zeiten, NZG 2020, 161; Freier, Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) – Überblick über die Änderungen für die notarielle Praxis, NotBZ 2021, 161; Gottschalk, Die wirtschaftliche Neugründung einer GmbH und ihre Haftungsfolgen, DStR 2012, 1458; Habersack, „Corporate Purpose“, in: Festschrift für Christine Windbichler, 2020, S. 707; Habersack, Gemeinwohlbindung und Unternehmensrecht, AcP 220 (2020) 594; Habersack, Wider das Dogma von der unbeschränkten Gesellschafterhaftung bei wirtschaftlicher Neugründung einer AG oder GmbH, AG 2010, 845; Harbarth/Zeyher/Brechtel, Gestaltung einer von der Satzung und dem gesetzlichen Regelfall abweichenden Gewinnauszahlungsabrede in der Aktiengesellschaft, AG 2016, 801; Hasselmann, Die vollmachtlose Gründung einer Einpersonen-GmbH, ZIP 2012, 1947; Heckschen, Die Gründung der GmbH im Ausland, DB 2018, 685; Heckschen, Formwechsel und Stimmrechtsvollmachten, NZG 2017, 721; Heinemann, Neue Vermerkpflichten für Notare?, ZNotP 2017, 166; Heinrich, Schiedsfähigkeit III – Richtungswechsel des BGH bei Beschlussmängelstreitigkeiten in Personengesellschaften, ZIP 2018, 411; Heinrich, Wann machen Schiedsklauseln in Gesellschaftsverträgen Sinn und worauf ist dabei zu achten?, NZG 2016, 1406; Heinze, Wirtschaftliche Neugründung und Aktiengesellschaft: Zur „entsprechenden Anwendung der Gründungsvorschriften“, BB 2012, 67; Herchen, Satzungsstrenge versus Rechtssicherheit? – Die Heilung nichtiger Satzungsbestimmungen im Lichte des § 23 Abs. 5 AktG, in: Festschrift für Reinhard Marsch-Barner, 2018, S. 239; Herrler, Anforderungen an den satzungsmäßigen Versammlungsort – Hauptversammlung im. Ausland?, ZGR 2015, 918; Horn, Haftung bei wirtschaftlicher Neugründung – Hinweise für die Transaktionspraxis, DB 2012, 1255; Jeep, Leere Hülse, beschränktes Risiko: Die Gesellschafterhaftung bei nicht offengelegter wirtschaftlicher Neugründung, NZG 2012, 1209; Kalss/Fleischer, Neues zur Lockerung der Satzungsstrenge bei nicht börsennotierten Aktiengesellschaften, AG 2013, 693; Kienzle, Die Videobeurkundung nach dem DiRUG, DNotZ 2021, 590; Kort, Die Bedeutung von Unternehmensgegenstand und Gesellschaftszweck einer AG bei Auslagerung von Geschäftsbereichen auf gemeinnützige Gesellschaften, NZG 2011, 929; Kuszlik, Die Haftung bei der „wirtschaftlichen Neugründung“ einer GmbH, GmbHR 2012, 882; Leitzen, Mitteilungspflichten nach § 21 AktG und die notarielle Praxis im Gesellschaftsrecht, MittBayNot 2012, 183; Leitzen, Neues zu Satzungsdurchbrechungen und schuldrechtlichen Nebenabreden, RNotZ 2010, 566; Lieder, Zur Auslandsbeurkundung im Grundstücks- und Gesellschaftsrecht, NZG 2020, 1081; v. d. Linden, Kann die Satzung eine Börsennotierung vorschreiben?, NZG 2015, 176; Linke, Gesetz zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG), NZG 2021, 309; Meier, „Echte“ und „unechte“ Satzungsbestanteile – eine überflüssige Unterscheidung, ZGR 2020, 124; Mohamed, Die Sprachverwirrung in der ausländisch geprägten Hauptversammlung von AG oder SE, NZG 2015, 1263; Noack, Satzungsergänzende Verträge der Gesellschaft mit ihren Gesellschaftern, NZG 2013, 281; Noack, Der allseitige Gesellschafterbeschluss als „schuldrechtliche Abrede“ und dessen korporationsrechtliche Folgen, NZG 2010, 1017; Nolting, Neue Anforderungen an Schiedsklauseln zwischen Personengesellschaftern – „Schiedsfähigkeit III“, ZIP 2017, 1641; Podewils, Unterbilanzhaftung bei unterlassener Offenlegung einer wirtschaftlichen Neugründung, GmbHR 2012, 1175; Priester, Unterschreitung des satzungsmäßigen Unternehmensgegenstands

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Thomas Wachter

§ 23

Feststellung der Satzung

im Aktienrecht, ZGR 2017, 474; Priester, Schuldrechtliche Vereinbarungen zur Gewinnverteilung bei der AG, ZIP 2015, 2156; Schaefer/Steiner/Link, Die wirtschaftliche Neugründung bei Verwendung von Börsenmänteln und ihre registerrechtlichen Voraussetzungen, DStR 2016, 1166; Schäfer/Hoffmann, Die gesetzlichen Anforderungen an die Ausgabe und Verwahrung von Aktien durch Aktiengesellschaften, GWR 2016, 478; Schaper, Aktienurkunden in der Praxis – Verbriefung, Übertragung, Umtausch und Kraftloserklärung, AG 2016, 889; Schmidt, J., Auf dem Weg in ein digitale(re)s Gesellschafts- und Registerrecht, NZG 2021, 849; Schmidt, K., Die Verwendung von GmbH-Mänteln und ihre Haftungsfolgen: ein Thema von gestern?, ZIP 2010, 857; Schockenhoff, Die Auslegung von GmbH- und AG-Satzungen, ZGR 2013, 76; Schön, Der Zweck der Aktiengesellschaft – geprägt durch europäisches Gesellschaftsrecht?, ZHR 180 (2016) 279; Scholz, Zurück ins „Macrotron“-Zeitalter durch Satzungsregelung?, BB 2015, 2248; Stelmaszczyk, Digitalisierung und Augenmaß: Die Online-Gründung der GmbH kommt, EuZW 2021, 513; Stelmaszczyk/Kienzle, Die Onlinegründung der GmbH nach dem DiRUG, GmbHR 2021, 849; Stelmaszczyk/Kienzle, GmbH digital – Online-Gründung und Online-Verfahren für Registeranmeldungen nach dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum DiRUG, ZIP 2021, 765; Tavakoli, Begrenzung der Unterbilanzhaftung bei wirtschaftlicher Neugründung einer GmbH, NJW 2012, 1855; Thelen, Die Unstimmigkeitsmeldung an das Transparenzregister in der notariellen Praxis, NotBZ 2021, 129; Theusinger/Andrä, Die Aktivierung unternehmensloser Gesellschaften, ZIP 2014, 1916; Thoma, Der Handel mit Waren aller Art als Unternehmensgegenstand einer GmbH, RNotZ 2011, 413; Ulmer, Entschärfte Gesellschafterhaftung bei wirtschaftlicher Neugründung einer zuvor unternehmenslosen Alt-GmbH, ZIP 2012, 817, ZIP 2012, 1265; Weber, Von der Identitätskontrolle zur materiellen Richtigkeit – die neuen notariellen Prüfpflichten im Grundbuch- und Registerverkehr, RNotZ 2017, 427; Westermann, Schiedsgerichte in kapitalgesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten, ZGR 2017, 38; Wicke, Nachhaltigkeit als Unternehmenszweck, DNotZ 2020, 448; Winnen, Die wirtschaftliche Neugründung von Kapitalgesellschaften, RNotZ 2013, 389; Zimmer, Neue Prüfungspflichten des Notars – oder alles beim Alten?, NJW 2017, 1909.

Übersicht I. Überblick ............................................ 1 II. Begriff der Satzung ........................... 4 III. Feststellung der Satzung (§ 23 Abs. 1) ..................................... 10 1. Begriff der Satzungsfeststellung ...... 10 2. Form der Satzungsfeststellung ........ 12 3. Vertretung bei der Satzungsfeststellung ........................................ 18 IV. Erklärung zur Übernahme der Aktien (§ 23 Abs. 2) .................. 24 1. Allgemeines ...................................... 24 2. Inhalt der Erklärung ......................... 25 a) Gründer (§ 23 Abs. 2 Nr. 1) ...... 25 b) Aktien (§ 23 Abs. 2 Nr. 2) ........ 30 c) Eingezahlter Betrag (§ 23 Abs. 2 Nr. 3) ............................... 35 V. Mindestinhalt der Satzung (§ 23 Abs. 3, Abs. 4) ......................... 36 1. Firma der Gesellschaft (§ 23 Abs. 3 Nr. 1) ........................... 36 2. Sitz der Gesellschaft (§ 23 Abs. 3 Nr. 1) ........................... 37

3. Gegenstand des Unternehmens (§ 23 Abs. 3 Nr. 2) ........................... 4. Höhe des Grundkapitals (§ 23 Abs. 3 Nr. 3) ........................... 5. Zerlegung des Grundkapitals (§ 23 Abs. 3 Nr. 4) ........................... 6. Art der Aktien (§ 23 Abs. 3 Nr. 5) ............................ 7. Zahl der Vorstandsmitglieder (§ 23 Abs. 3 Nr. 6) ........................... 8. Form der Bekanntmachungen der Gesellschaft (§ 23 Abs. 4) ......... 9. Weitere notwendige Bestimmungen der Satzung ....................................... VI. Satzungsstrenge (§ 23 Abs. 5) ..................................... 1. Allgemeines ...................................... 2. Abweichende Satzungsregelungen (§ 23 Abs. 5 Satz 1) .......................... 3. Ergänzende Satzungsregelungen (§ 23 Abs. 5 Satz 2) .......................... VII. Gründungsmängel ........................

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39 42 43 46 49 55 56 58 58 61 63 65

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§ 23

Feststellung der Satzung

VIII. Schuldrechtliche Nebenabreden ............................................. 69 I.

IX. Vorrats- und Mantelgesellschaften ............................................. 73

Überblick

1 Der Zweite Teil des Ersten Buchs des AktG (§§ 23 bis 53) regelt die Gründung der Gesellschaft. Die Gründung beginnt mit der Feststellung der Satzung (§ 23). Mit der Übernahme aller Aktien durch die Gründer ist die Gesellschaft errichtet (§ 23 Abs. 2 Nr. 2, 29). 2 Die Satzung muss durch notarielle Beurkundung festgestellt werden (§ 23 Abs. 1). In der notariellen Gründungsurkunde müssen die Gründer zugleich auch die Übernahme der Aktien erklären (§ 23 Abs. 2). Die Satzung (der Gesellschaftsvertrag, siehe § 2) muss einen bestimmten Mindestinhalt aufweisen (§ 23 Abs. 3 und 4). Die Satzungsfreiheit ist auch i. Ü. stark eingeschränkt. Die Satzung darf nur dann von den gesetzlichen Bestimmungen abweichen, wenn dies ausdrücklich zugelassen ist (§ 23 Abs. 5). Die Vorschriften über den Inhalt der Satzung (§ 23 Abs. 3 bis 5) gelten nicht nur für die Gründung der Gesellschaft, sondern auch für spätere Satzungsänderungen. 3 Im Rahmen der Aktienrechtsnovelle 2016 wurde das Wahlrecht zwischen Inhaber- und Namensaktien bei nicht börsennotierten AGs stark eingeschränkt (§ 10 AktG). Bei Neugründung einer AG müssen die Aktien im Regelfall auf den Namen lauten (§ 10 Abs. 1 Satz 1 AktG); Inhaberaktien sind nur ausnahmsweise zulässig (§ 10 Abs. 1 Satz 2 AktG).1) II.

Begriff der Satzung

4 Die Satzung ist der Gesellschaftsvertrag der AG (§ 2) und bildet ihre Verfassung (siehe § 25 BGB). 5 Die Rechtsnatur der Satzung ist seit langem umstritten. Heute wird die Satzung überwiegend als Rechtsgeschäft sui generis angesehen, das sowohl die subjektiven Rechte und Pflichten der Gründer untereinander regelt als auch objektive Normen aufstellt.2) Die Satzung ist damit Schuld- und Organisationsvertrag. Mit der Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister löst sich die Satzung vom subjektiven Willen der Gründer und beansprucht als objektiv geltendes Recht auch Geltung gegenüber neuen Aktionären. 6 In Bezug auf den Inhalt der Satzung wird üblicherweise zwischen materiellen (echten) Satzungsbestimmungen und formellen (unechten) Satzungsbestimmungen unterschieden.3) Die gesellschaftsrechtlichen Sonderregelungen für die Auslegung, die Änderung und die Geltung gegenüber (künftigen) Mitgliedern gelten nur für die materiellen Satzungsbestandteile. Demgegenüber sind die formellen Satzungsbestandteile in der Regel als bloß schuldrechtliche Vereinbarungen anzusehen, die insbesondere nicht für einen unbestimmten Personenkreis (von gegenwärtigen und künftigen Aktionären sowie den Gläubigern der Gesellschaft) gelten.

_____________ 1) 2)

3)

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Art. 1 Nr. 1 der Aktienrechtsnovelle 2016, BGBl. I 2015, 2565. Bürgers/Körber/Lieder-Körber, AktG, § 23 Rz. 4; Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 23 Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 3; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 23 Rz. 3 und 12. Die Terminologie ist uneinheitlich, s. nur Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 23 Rz. 2. Kritisch zu der Unterscheidung Meier, ZGR 2020, 124.

Thomas Wachter

§ 23

Feststellung der Satzung

Materielle Satzungsbestandteile sind alle Regelungen, die die Gesellschaft und ihre Be- 7 ziehungen zu den Gründern und auch den künftigen Aktionären betreffen.4) Dazu gehören bspw. die Bestimmungen, die zwingend in die Satzung aufzunehmen sind (§ 23 Abs. 3 und 4), zulässige Abweichungen von den Regelungen des AktG (§ 23 Abs. 5 Satz 1), die mitgliedschaftlichen Einlagepflichten in Form von Bar- bzw. Sacheinlagen (§ 23 Abs. 2, § 36a, nach h. M. auch Sachübernahmen nach § 27 Abs. 1), Bestimmungen über die Dauer der Gesellschaft (§§ 39 Abs. 2, 262 Abs. 1 Nr. 1), Sonderrechte von Aktionären und die Regelung zur Wahl des Aufsichtsratsvorsitzenden (§ 107 Abs. 1 Satz 1). Formelle Satzungsbestandteile sind solche Regelungen, die zwar (formal) in die Satzung 8 aufgenommen worden sind, aber nicht die Grundlagen der Gesellschaft oder ihre Beziehungen zu den Gründern und künftigen Aktionären betreffen. Vielmehr handelt es sich um Regelungen, die lediglich schuldrechtliche Wirkungen unter den Gesellschaftern oder zwischen der Gesellschaft und den Gesellschaftern entfalten.5) Beispiele für formelle Satzungsbestandteile sind etwa die Festsetzungen über etwaige Sondervorteile (§ 26 Abs. 1) oder den Gründungsaufwand (§ 26 Abs. 2), die Bestellung des ersten Aufsichtsrats (§ 30 Abs. 1) oder die Begründung von Nebenleistungspflichten (die über § 55 hinausgehen). Für die Auslegung der Satzung kommt es entscheidend auf die Art der jeweiligen Be- 9 stimmung an. Materielle Satzungsbestandteile sind (wie ein Gesetz) objektiv unter Berücksichtigung von Wortlaut, Zweck und systematischer Stellung auszulegen.6) Dabei können zur Auslegung nur solche Umstände herangezogen werden, die (bspw. aus dem Handelsregister) allgemein zugänglich sind. Für außenstehende Dritte nicht erkennbare Motive, Absichten und Überlegungen müssen bei der Auslegung unberücksichtigt bleiben. Formelle Satzungsbestandteile sind dagegen wie sonstige Willenserklärungen unter Berücksichtigung des jeweiligen Empfängerhorizonts der Gründer auszulegen (§§ 133, 157 BGB).7) III.

Feststellung der Satzung (§ 23 Abs. 1)

1.

Begriff der Satzungsfeststellung

Die Satzung muss durch notarielle Beurkundung festgestellt werden (§ 23 Abs. 1 Satz 1). 10 Die Feststellung der Satzung (des Gesellschaftsvertrages, siehe § 2) und die Erklärung der Gründer zur Übernahme der Aktien (§ 23 Abs. 2) stellen zusammen die Grundlage für die Errichtung der AG dar. _____________ 4)

5) 6)

7)

Zu Satzungsbestimmungen mit körperschaftsrechtlichem Charakter s. BGH, Urt. v. 11.10.1993 – II ZR 155/92, BGHZ 123, 347 = ZIP 1993, 1709, dazu EWiR 1994, 49 (Bork) – zur Auslegung einer Gerichtsstandsklausel; BGH, Urt. v. 16.12.1991 – II ZR 58/91, BGHZ 116, 359 = ZIP 1992, 237, dazu EWiR 1992, 321 (Wiedemann) – zu einer Abfindungsregelung in einer GmbH-Satzung. HöltersSolveen, AktG, § 23 Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 23 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 5; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 23 Rz. 40; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 23 Rz. 4. Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 23 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 6 f.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 23 Rz. 41 f.; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 23 Rz. 4. BGH, Beschl. v. 26.11.2007 – II ZR 227/06, AG 2008, 83, dazu EWiR 2008, 251 (Mock) – zur Auslegung einer Satzungsklausel, welche (abweichend von § 264 Abs. 1 Satz 3 HGB) uneingeschränkt die Aufstellung eines Lageberichts vorsieht; BGH, Urt. v. 11.10.1993 – II ZR 155/92, BGHZ 123, 347 = ZIP 1993, 1709, dazu EWiR 1994, 49 (Bork) – zur Auslegung einer Gerichtsstandsklausel in einer GmbH-Satzung; BGH, Beschl. v. 11.11.1985 – II ZB 5/85, BGHZ 96, 245 = ZIP 1996, 368, dazu EWiR 1986, 235 (Weipert) – zur Auslegung einer Vereinssatzung. – Für eine Differenzierung zwischen der Auslegung von Satzungen börsennotierter und nicht börsennotierter AG Schockenhoff, ZGR 2013, 76, 104 ff. – Rechtsvergleichend Fleischer, DB 2013, 1466. Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 7; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 23 Rz. 39 f.; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 9 f.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 23 Rz. 49 ff.

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§ 23

Feststellung der Satzung

11 Die Satzung muss durch notarielle Beurkundung festgestellt werden (§ 23 Abs. 1 Satz 1). Bei der Gründung einer AG durch eine Person ist die Feststellung der Satzung ein einseitiges Rechtsgeschäft. Der Gründer erklärt gegenüber dem beurkundenden Notar, eine AG mit der festgestellten Satzung errichten zu wollen. Bei der in der Praxis überwiegenden Gründung durch mehrere Personen erfolgt die Feststellung der Satzung durch Abschluss eines entsprechenden Gründungsvertrages. Die Gründer sind sich darüber einig, dass die festgestellte Satzung für das Verhältnis der (jetzigen und künftigen) Aktionäre untereinander maßgebend sein soll.8) 2.

Form der Satzungsfeststellung

12 Die Feststellung der Satzung bedarf zu ihrer Wirksamkeit der notariellen Beurkundung (§ 23 Abs. 1 Satz 1).9) Eine Videobeurkundung (§§ 16a ff. BeurkG)10) ist unzulässig. Dies gilt ausnahmslos für alle Bar- und/oder Sachgründungen einer AG.11) 13 Das Formerfordernis bezieht sich (unstreitig) nicht nur auf die Feststellung des eigentlichen Satzungsinhalts (des Gesellschaftsvertrages, § 2 i. V. m. § 23 Abs. 3 und 4), sondern auch auf die Übernahmeerklärung der Gründer (§ 23 Abs. 2). Die Feststellung der Satzung und die Übernahmeerklärung der Gründer müssen dabei zwingend in einer einzigen Urkunde enthalten sein (Einheitsgründung, siehe § 23 Abs. 1 und Abs. 2; missverständlich dagegen § 37 Abs. 4 Nr. 1).12) Eine Stufengründung ist demnach unzulässig.13) 14 In der Praxis wird meist eine notarielle Gründungsurkunde errichtet, in der neben der Satzungsfeststellung und der Übernahmeerklärungen alle mit der Gründung zusammenhängenden Fragen geregelt werden (wie etwa die Bestellung des ersten Aufsichtsrats und des ersten Abschlussprüfers, § 30 Abs. 1). Die Satzung wird der Urkunde dabei meist als Anlage beigefügt, damit sie als eigenständiges Dokument zur Verfügung steht. Dies ist zulässig, da die Anlage in vollem Umfang Bestandteil der Urkunde ist (§ 9 Abs. 1 Satz 2 BeurkG). 15 Für die Beurkundung sind ausschließlich (deutsche)14) Notare zuständig (§ 20 BNotO). Das Beurkundungsverfahren richtet sich nach den Bestimmungen des Beurkundungsgesetzes über die Beurkundung von Willenserklärungen (§§ 6 bis 35 BeurkG). Die Kosten richten sich nach den zwingenden Bestimmungen des Gerichts- und Notarkostengesetzes. 16 Dem Notar obliegen bei der Beurkundung umfangreiche Prüfungs-, Beratungs- und Aufklärungspflichten (§ 17 BeurkG), die weit über die gerichtliche Rechtmäßigkeitskontrolle hinausgehen (siehe § 38). Der Notar hat die Eintragungsfähigkeit der Gesellschaft vor Ein_____________ 8) Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 11. 9) Zur analogen Anwendung auf einen Vorgründungsvertrag für eine AG s. KG Berlin, Urt. v. 22.1.2004 – 8 U 170/03, AG 2004, 321. 10) Eingeführt durch Art. 4 Nr. 3 des Gesetzes zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) v. 5.7.2021, BGBl. I 2021, 3338. 11) Grundlegend zur Videobeurkundung bei der Bargründung von GmbHs ab dem 1.8.2022 u. a. Freier, NotBZ 2021, 161; Kienzle, DNotZ 2021, 590; Linke, NZG 2021, 309; J. Schmidt, NZG 2021, 849; Stelmaszczyk, EuZW 2021, 513; Stelmaszczyk/Kienzle, GmbHR 2021, 849; Stelmaszczyk/Kienzle, ZIP 2021, 765. 12) Ausführlich dazu Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 23 Rz. 6. 13) Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 9 und 15; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 15 und 23. 14) A. A. KG, Beschl. v. 24.1.2018 – 22 W 25/16, ZIP 2018, 323, dazu EWiR 2018, 137 (Cziupka) – zur Beurkundung der Gründung einer deutschen GmbH durch einen Schweizer Notar mit Amtssitz im Kanton Bern). Ausführlich dazu Heckschen, DB 2018, 685; s. a. BGH, Beschl. v. 13.2.2020 – V ZB 3/16, NJW 2020, 1670 = MittBayNot 2021, 65 mit Anm. Strauß (wonach die Auflassung nach § 925 BGB nur vor einem in Inland bestellten Notar erklärt werden kann); ausführlich dazu Lieder, NZG 2020, 1081.

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Thomas Wachter

§ 23

Feststellung der Satzung

reichung der Unterlagen beim Registergericht eigenständig zu prüfen und darüber einen förmlichen Prüfvermerk zu erstellen (§ 378 Abs. 3 FamFG).15) Der Notar koordiniert und überwacht zudem den gesamten Gründungsvorgang von der Vorgründungsgesellschaft bis zur Eintragung der Gesellschaft. Für etwaige Fehler haftet der Notar persönlich, unbeschränkt und unbeschränkbar (§ 19 BNotO).16) Die notarielle Mitwirkung an der Gründung hat eine Entlastung der staatlichen Registergerichte zur Folge und beschleunigt dadurch den Gründungsprozess. Nicht zuletzt dient die Beurkundung auch der Rechtssicherheit, da die öffentliche Urkunde den vollen Beweis der in ihr bezeugten Tatsachen erbringt (§§ 415, 418 ZPO).17) Gerichtliche Entscheidungen zu Fragen der Gründung der AG sind vergleichsweise selten. Dies zeigt, dass die notarielle Beratung und Beurkundung auch entscheidend zur Streitvermeidung beiträgt. Im öffentlichen Interesse obliegen dem Notar im Zusammenhang mit der Beurkundung 17 zudem zahlreiche steuerrechtliche Anzeige- und Mitteilungspflichten (u. a. § 54 EStDV, §§ 18 ff. GrEStG, §§ 30 ff. ErbStG und § 8 Abs. 1 Satz 6 ErbStDV).18) Darüber hinaus ist der Notar für die sorgfältige Identifizierung der Beteiligten nach dem Geldwäschegesetz verantwortlich (siehe im Einzelnen u. a. §§ 2, 10 ff. und 43 GwG).19) 3.

Vertretung bei der Satzungsfeststellung

Die Gründer können sich bei der Feststellung der Satzung und der Übernahme der Ak- 18 tien von einem Bevollmächtigten vertreten lassen (§§ 164 ff. BGB). Die Vollmacht bedarf zu ihrer Wirksamkeit (abweichend von § 167 Abs. 2 BGB) der notariellen Beglaubigung

_____________ 15) Die Änderung von § 378 Abs. 3 FamFG ist durch Art. 4 Nr. 5 lit. b des Gesetzes zur Neuordnung der Aufbewahrung von Notariatsunterlagen und zur Einrichtung des Elektronischen Urkundenarchivs bei der Bundesnotarkammer sowie zur Änderung weiterer Gesetze v. 1.6.2017, BGBl. I 2017, 1396, erfolgt und am 9.6.2017 in Kraft getreten. Ausführlich dazu Attenberger, MittBayNot 2017, 335; Diehn/ Rachlitz, DNotZ 2017, 487; Heinemann, ZNotP 2017, 166; Weber, RNotZ 2017, 427; Zimmer, NJW 2017, 1909. 16) S. (im Zusammenhang mit der GmbH) u. a. BGH, Urt. v. 24.4.2008 – III ZR 223/06, ZIP 2008, 1928 – Aufklärungspflichten im Zusammenhang mit Vorauszahlungen bei einer Kapitalerhöhung; BGH, Beschl. v. 2.10.2007 – III ZR 13/07, ZIP 2007, 2126, dazu EWiR 2007, 753 (Volmer) – Hinweispflicht auf etwaige Unterbewertung einer Sacheinlage und Risiko einer Differenzhaftung; BGH, Urt. v. 18.11.1999 – IX ZR 402/97, ZIP 2000, 35, dazu EWiR 2000, 675 (Kornblum) – Vollzugs- und Überwachungspflichten bei Befreiung des alleinigen Gesellschafter-Geschäftsführers v. Selbstkontrahierungsverbot; BGH, Urt. v. 16.11.1995 – IX ZR 14/95, ZIP 1996, 19, dazu EWiR 1996, 439 (Limmer) – Aufklärungspflichten hinsichtlich der Bedeutung des Begriffs des Einzahlens von Einlagen bei einer Barkapitalerhöhung; OLG Naumburg, Urt. v. 21.1.2010 – 1 U 35/09, DStR 2010, 564 = GmbHR 2010, 533 – Notarhaftung wegen Nichtaufklärung über Bedeutung des Bareinlagebegriffs; OLG Schleswig, Urt. v. 24.6.2004 – 11 U 38/03, NZG 2005, 89 – Hinweispflicht in Bezug auf die Fortführungshaftung nach § 25 HGB; OLG Düsseldorf, Urt. v. 15.12.1994 – 18 U 86/94, NJW 1995, 1761, dazu EWiR 1995, 851 (Trölitzsch) – Belehrungspflichten bei der Einbringung von Darlehensforderungen als Sacheinlage. 17) Zum Zweck der Beurkundung s. a. Heidel-Braunfels, AktR, § 23 AktG Rz. 3 ff.; Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 13; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 23 Rz. 12; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 23 Rz. 29; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 20; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 23 Rz. 7 f. 18) Zu Beurkundungen durch ausländische Notare (z. B. in der Schweiz), bei denen keinerlei steuerliche Anzeige erfolgt ist, s. u. a. BFH, Urt. v. 25.11.2015 – II R 64/08, BFH/NV 2016, 420; BFH, Urt. v. 19.2.2009 – II R 49/07, BStBl. II 2009, 932 = DB 2009, 2362; zu den steuerlichen Risiken einer missglückten Beurkundung in der Schweiz s. BGH, Urt. v. 7.12.2017 – IX ZR 25/17, GmbHR 2018, 410 m. Anm. Brete = DStR 2018, 982 mit Anm. Meixner/Schröder = GmbH-StB 2018, 172 mit Anm. Podewils, dazu EWiR 2018, 335 (Gräfe) – Haftung eines Steuerberaters bei Beurkundung bei einem Schweizer Notar. 19) Näher zur Bedeutung der Beurkundung für die Geldwäscheprävention u. a. Lieder, NZG 2020, 1081, 1087; Strauß, MittBayNot 2021, 65, 73 (Urteilsanm.); Thelen, NotBZ 2021, 129, 131, sowie monographisch Thelen, Geldwäscherecht in der notariellen Praxis, 2021.

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§ 23

Feststellung der Satzung

(§ 23 Abs. 1 Satz 2 AktG i. V. m. § 129 BGB,20) §§ 39a, 40, 40a BeurkG21)).22) Mit dem Formerfordernis sollen Zweifel über die Legitimation des Bevollmächtigten von vornherein ausgeschlossen und dem Vollmachtgeber die Bedeutung der Vollmacht vor Augen geführt werden. Bei Bevollmächtigung eines anderen Gründers muss dieser von den Beschränkungen des § 181 BGB befreit werden.23) 19 Handelt für einen Gründer ein vollmachtloser Vertreter können die Erklärungen nachgenehmigt werden (§§ 177 ff., 182 ff. BGB). Die Nachgenehmigung bedarf zu ihrer Wirksamkeit (abweichend von § 182 Abs. 2 BGB) der notariellen Beglaubigung (§ 23 Abs. 1 Satz 2 analog).24) Eine Nachgenehmigung ist allerdings nur bei Gründung einer AG durch mehrere Personen möglich. Bei einer Gründung durch eine Person ist eine Vertretung ohne Vertretungsmacht unzulässig (§ 180 BGB).25) 20 Inhaltlich muss die Vollmacht die Gründung der Gesellschaft umfassen.26) Eine Generalvollmacht ist dabei ausreichend. Eine bloße Handlungsvollmacht (§ 54 HGB) genügt nicht. Der Prokurist (§§ 48 ff. HGB) bedarf keiner notariell beglaubigten Vollmacht, da er seine Vertretungsmacht durch einen beglaubigten Handelsregisterauszug (§ 9 Abs. 4 HGB) oder durch eine Bescheinigung des Notars (§ 21 BNotO) nachweisen kann.27) Die Gründung einer AG kann allerdings im Einzelfall ein Grundlagengeschäft darstellen und dann nicht von der Vertretungsmacht des Prokuristen umfasst sein.28) 21 Die Formvorschrift (des § 23 Abs. 1 Satz 2) gilt nach ihrem Wortlaut nur für rechtsgeschäftlich Bevollmächtigte (§ 166 Abs. 1 BGB), da nur in diesem Fall eine Vollmachtsurkunde vorgelegt werden kann. Aufgrund des Normzwecks – dem Registergericht, die ordnungsgemäße Vertretung der Gründer zweifelsfrei nachzuweisen – gilt die Regelung aber für gesetzliche und organschaftliche Vertreter entsprechend.29) _____________ 20) Die Vorschrift des § 129 BGB wurde durch Art. 12 Nr. 4 des Gesetzes zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) v. 5.7.2021, BGBl. I 2021, 3388, geändert. 21) Die Vorschriften §§ 39a, 40a BeurkG (Beglaubigung einer qualifizierten elektronischen Signatur) wurden durch Art. 4 Nr. 4 und Nr. 5 des Gesetzes zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) v. 5.7.2021, BGBl. I 2021, 3388, eingeführt. Die Änderungen treten am 1.8.2022 in Kraft. Ausführlich dazu u. a. Freier, NotBZ 2021, 161; Kienzle, DNotZ 2021, 590; Linke, NZG 2021, 309; J. Schmidt, NZG 2021, 849; Stelmaszczyk, EuZW 2021, 513; Stelmaszczyk/Kienzle, GmbHR 2021, 849; Stelmaszczyk/ Kienzle, ZIP 2021, 765. 22) Arnold in: KölnKomm-AktG, § 23 Rz. 45; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 23 Rz. 14 ff.; Spindler/ Stilz-Limmer, AktG, § 23 Rz. 13. – Zur entsprechenden Anwendung der Formvorschrift auf die Gründung i. R. eines Formwechsels (§§ 190 ff., 197 UmwG) s. Heckschen, NZG 2017, 721. 23) Für eine konkludente Befreiung von den Beschränkungen des § 181 BGB in diesem Fall Arnold in: KölnKomm-AktG, § 23 Rz. 44 und 48; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 23 Rz. 14. 24) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 23 Rz. 12; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 23 Rz. 13a. 25) Zum Verbot der vollmachtlosen Vertretung bei Einpersonengesellschaften (§ 180 BGB) bei der GmbH s. OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 1.12.2016 – 20 W 198/15, ZIP 2017, 920, dazu EWiR 2017, 459 (Kubik/Nordholtz); OLG Stuttgart, Beschl. v. 3.2.2015 – 8 W 49/15, GmbHR 2015, 487, dazu EWiR 2015, 603 (Cramer); KG Berlin, Beschl. v. 14.12.2011 – 25 W 48/11, NZG 2012, 353 = GmbHR 2012, 569; LG Berlin, Beschl. v. 15.8.1995 – 98 T 34/95, GmbHR 1996, 123; OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 24.2.2003 – 20 W 447/02, GmbHR 2003, 415 = DNotZ 2003, 459, und OLG München, Beschl. v. 5.10.2010 – 31 Wx 140/10, ZIP 2011, 772 – Genehmigung einer vollmachtlosen Beschlussfassung bei Einmann-GmbH). – Kritisch dazu Hasselmann, ZIP 2012, 1947. 26) Zur Auslegung einer Vollmacht zur Gründung einer GmbH s. OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 1.12.2016 – 20 W 198/15, ZIP 2017, 920. 27) Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 13; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 23 Rz. 12; Arnold in: KölnKommAktG, § 23 Rz. 46. – A. A. Pentz in: MünchKomm-AktG, § 23 Rz. 18 – unter Hinweis auf die Unterschiede zwischen § 15 Abs. 2 Satz 2 HGB und § 172 BGB. 28) Eine notariell beglaubigte Spezialvollmacht für Prokuristen empfehlen grundsätzlich auch Bürgers/ Körber/Lieder-Körber, AktG, § 23 Rz. 11; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 20. 29) Anders aber die h. M., s. etwa Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 14; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 23 Rz. 13; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 23 Rz. 22.

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§ 23

Feststellung der Satzung

Bei juristischen Personen des Privatrechts wird die Vertretung durch die Organe in der 22 Regel durch eine Notarbescheinigung (§ 21 BNotO und § 12 BeurkG30) oder einen beglaubigten Handelsregisterauszug (§ 9 Abs. 4 HGB) nachgewiesen. Bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts ergibt sich die Vertretungsbefugnis meist aus den für diese geltenden gesetzlichen Bestimmungen (z. B. Gemeindeordnungen oder Satzungen). Bei Gründung einer (Tochter-)AG durch eine andere AG ist zu berücksichtigen, dass Vorstandsmitglieder nicht zu Insichgeschäften befugt sind und die Gesellschaft insoweit durch den Aufsichtsrat vertreten wird (§ 112).31) Minderjährige Kinder werden i. R. der gesetzlichen Vorschriften (insbesondere §§ 181, 23 1629, 1643, 1795, 1822, 1909 BGB und ab dem 1.1.2023 auch §§ 1824, 1852 BGB)32) durch ihre Eltern als gesetzliche Vertreter vertreten, ohne dass es insoweit eines besonderen Nachweises bedarf. Wird das Kind allerdings nur durch einen Elternteil alleine vertreten (siehe §§ 1671 ff., 1680 BGB), ist ein geeigneter Nachweis vorzulegen (z. B. Sterbeurkunde eines Elternteils oder gerichtlicher Beschluss über die Übertragung des Sorgerechts). IV.

Erklärung zur Übernahme der Aktien (§ 23 Abs. 2)

1.

Allgemeines

In der notariellen Gründungsurkunde müssen sich die Gründer zugleich zur Übernahme 24 aller Aktien und damit auch zur Leistung der entsprechenden Einlagen verpflichten. Die Feststellung der Satzung (§ 23 Abs. 1 Satz 1) und die Übernahmeerklärung der Gründer (§ 23 Abs. 2) sind an sich zwei eigenständige Rechtsgeschäfte,33) die zu ihrer Wirksamkeit allerdings beide der notariellen Beurkundung bedürfen und in einer Urkunde enthalten sein müssen. 2.

Inhalt der Erklärung

a)

Gründer (§ 23 Abs. 2 Nr. 1)

In der notariellen Gründungsurkunde über die Feststellung der Satzung sind zwingend 25 die Gründer anzugeben (§ 23 Abs. 2 Nr. 1). Gründer der Gesellschaft sind die Aktionäre, die die Satzung festgestellt haben (§ 28) und mindestens eine Aktie übernommen haben (siehe § 23 Abs. 2 Nr. 2). Die Gründer müssen (auch im Hinblick auf deren zivil- und strafrechtliche Verantwortlichkeit, §§ 46 ff., § 399 Abs. 1 Nr. 1 und 2) zweifelsfrei bezeichnet werden (siehe dazu §§ 10 ff. BeurkG und §§ 2 Abs. 1 Nr. 10, 10 ff. GwG).34) Bei natürlichen Personen sind daher in der Regel Vor- und Nachname, Geburtsdatum 26 und die vollständige Wohnanschrift anzugeben.

_____________ 30) Die Vorschrift des § 12 BeurkG wurde (im Hinblick auf § 172 BGB) durch Art. 4 Nr. 2 des Gesetzes zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) v. 5.7.2021, BGBl. I 2021, 3388, geändert. 31) S. dazu OLG München, Beschl. v. 8.5.2012 – 31 Wx 69/12, ZIP 2012, 1122 (Bestellung des Vorstands einer AG zum Geschäftsführer einer Tochter-GmbH). Ausführlich dazu Cramer, NZG 2012, 765. 32) S. dazu die Änderungen durch das Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrecht v. 4.5.2021, BGBl. I 2021, 882, die im Wesentlichen am 1.1.2023 in Kraft treten. Ausführlich dazu Eble, RNotZ 2021, 117. 33) Nach h. M. handelt es sich bei der Übernahmeerklärung gleichwohl um einen notwendigen materiellen Satzungsbestandteil. S. etwa Bürgers/Körber/Lieder-Körber AktG, § 23 Rz. 5; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 23 Rz. 57 ff.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 23 Rz. 12 und Rz. 55; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 23 Rz. 24. 34) Näher dazu Thelen, Geldwäscherecht in der notariellen Praxis, 2021.

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§ 23

Feststellung der Satzung

27 Bei juristischen Personen, Personenhandelsgesellschaften und anderen Personengesamtheiten sollten die Firma, der Sitz, die Geschäftsanschrift und das Handelsregister samt Nummer angegeben werden.35) 28 Bei Gesellschaften des bürgerlichen Rechts sollten derzeit auch deren Gesellschafter mit den entsprechenden Angaben aufgeführt werden (siehe derzeit § 40 Abs. 1 Satz 2 GmbHG, § 47 Abs. 2 GBO und § 162 Abs. 1 Satz 2 HGB).36) Ab dem 1.1.2024 sind bei GbRs (nach entsprechender Voreintragung im Gesellschaftsregister, vgl. §§ 707 ff. BGB n. F.) der Name, der Sitz, die Anschrift und das Gesellschaftsregister samt Registernummer anzugeben (siehe § 67 Abs. 1 Sätze 2 und 3 AktG n. F.).37) 29 Handelt es sich bei einem Gründer um ein Unternehmen (i. S. der §§ 15 ff.) und übernimmt dieser Gründer mehr als ein Viertel der Aktien oder eine Mehrheitsbeteiligung, ist der Erwerb der Vorgesellschaft unverzüglich schriftlich mitzuteilen (§ 20 Abs. 1 und 4).38) Die Gesellschaft hat das Bestehen der Beteiligung nach Mitteilung unverzüglich in den Gesellschaftsblättern bekannt zu machen (§ 20 Abs. 6). Bei börsennotierten AGs sind die entsprechenden Mitteilungspflichten nach Kapitalmarktrecht zu beachten (§ 20 Abs. 8 i. V. m. §§ 21, 28 WpHG). b)

Aktien (§ 23 Abs. 2 Nr. 2)

30 In der Gründungsurkunde sind nähere Angaben über die Aktien zu machen, die jeder Gründer übernimmt (§ 23 Abs. 2 Nr. 2; siehe auch § 23 Abs. 3 Nr. 4). Die Übernahmeerklärung darf weder bedingt noch befristet sein. 31 Bei Nennbetragsaktien sind der Nennbetrag (§ 8 Abs. 2), der Ausgabebetrag (§ 9) und ggf. auch die Gattung der Aktien (§ 11) anzugeben. Die bloße Angabe der Summe der Nennbeträge und Ausgabebeträge ist dabei nicht ausreichend. Vielmehr muss konkret angegeben werden, wie viele Aktien (jeder Gattung) jeder einzelne Gründer zu welchem Nennbetrag und zu welchem Ausgabebetrag übernimmt.39) Diese detaillierten Angaben sind insbesondere bei Ausgabe unterschiedlicher Aktien erforderlich, um die Rechte und Pflichten der einzelnen Gründer zweifelsfrei bestimmen zu können. 32 Bei Stückaktien (§ 8 Abs. 3) ist die Zahl der Aktien, der Ausgabebetrag (§ 9) und ggf. auch die Gattung der Aktien anzugeben (§ 11). Der rechnerische Anteil am Grundkapital, der auf die einzelne Stückaktie entfällt (§ 8 Abs. 3 Satz 2 und Satz 3) muss nicht angegeben werden. Im Übrigen muss auch bei Stückaktien genau angegeben werden, wie viele Aktien (jeder Gründer) zu welchem Ausgabebetrag übernimmt. 33 Die Angabe des Ausgabebetrags (§ 9) ist sowohl bei Nennbetrags- als auch bei Stückaktien stets zwingend erforderlich. Dies gilt auch dann, wenn kein Aufgeld (Agio) vereinbart worden ist.40) Bei Festsetzung unterschiedlicher Ausgabebeträge (was zulässig ist)41) muss eine Zuordnung zu den entsprechenden Aktien erfolgen. _____________ 35) Ähnlich Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 16; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 3. 36) Ausführlich Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 23 Rz. 25. 37) Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts (Personengesellschaftsrechtsmodernisierungsgesetz – MoPeG) v. 10.8.2021, BGBl. I 2021, 3436. 38) Dazu BGH, Urt. v. 24.4.2006 – II ZR 30/05, BGHZ 167, 204 = ZIP 2006, 1134, dazu EWiR 2006, 449 (Wilsing), BGH, Urt. v. 22.4.1991 – II ZR 231/90, BGHZ 114, 203 = ZIP 1991, 719, dazu EWiR 1991, 745 (Krieger). – Zu den Mitteilungspflichten nach §§ 20, 21 AktG s. Burgard, WM 2012, 1937; Grimm/Norwich, AG 2012, 274; Leitzen, MittBayNot 2012, 183. 39) Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 23 Rz. 18; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 26. 40) Pentz in: MünchKomm-AktG, § 23 Rz. 60. 41) S. nur Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 9 Rz. 10.

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§ 23

Feststellung der Satzung

Bei der Ausgabe von Namens- und Inhaberaktien (§ 10; siehe dazu auch Rz. 46 ff.) muss 34 genau angegeben werden, welcher Gründer welche Anzahl von welchen Aktien übernimmt.42) c)

Eingezahlter Betrag (§ 23 Abs. 2 Nr. 3)

Schließlich ist in der Gründungsurkunde der eingezahlte Betrag des Grundkapitals an- 35 zugeben (§ 23 Abs. 2 Nr. 3).43) Notwendig und ausreichend ist die Angabe des tatsächlich eingezahlten Gesamtbetrags. Nicht erforderlich ist es dagegen anzugeben, wie sich dieser Betrag auf die einzelnen Gründer aufteilt. Für die Angaben kommt es auf den Zeitpunkt der Satzungsfeststellung an, so dass die Vorschrift nur geringe praktische Bedeutung hat. V.

Mindestinhalt der Satzung (§ 23 Abs. 3, Abs. 4)

1.

Firma der Gesellschaft (§ 23 Abs. 3 Nr. 1)

Zum notwendigen Mindestinhalt der Satzung gehört die Firma (§ 23 Abs. 3 Nr. 1). Die 36 Bildung einer zulässigen Firma richtet sich nach den allgemeinen Bestimmungen des Handelsrechts. Danach muss die Firma insbesondere zur Kennzeichnung des Unternehmens geeignet sein, Unterscheidungskraft besitzen und darf nicht irreführend sein (§§ 17 ff. HGB). Jede neue Firma muss sich darüber hinaus von allen an demselben Ort oder in derselben Gemeinde bereits bestehenden und in das Handelsregister eingetragenen Firmen deutlich unterscheiden (§ 30 HGB). Die Firma einer AG muss stets die Bezeichnung „Aktiengesellschaft“ oder eine allgemein verständliche Abkürzung dieser Bezeichnung (in der Praxis meist AG) enthalten (§ 4). 2.

Sitz der Gesellschaft (§ 23 Abs. 3 Nr. 1)

Die Satzung muss auch den Sitz der Gesellschaft bestimmen (§ 23 Abs. 3 Nr. 1). Sat- 37 zungssitz (§ 5) kann nur ein Ort im Inland (und nicht auch im Ausland) sein. Im Inland kann der Satzungssitz frei gewählt werden. Der Satzungssitz muss insbesondere nicht mit dem Verwaltungssitz oder der Geschäftsanschrift der Gesellschaft (§ 37 Abs. 3 Nr. 1) übereinstimmen. Am Satzungssitz muss auch kein Betrieb bestehen. Bei dem Ort, an dem die Gesellschaft ihren Sitz haben soll, muss es sich um eine eigene politische Gemeinde handeln;44) ein bloßer Orts- oder Stadtteil ist nicht ausreichend. Der Ort ist so genau zu bezeichnen, dass eine zweifelsfreie Individualisierung möglich ist. Die Angabe der Postleitzahl kann im Einzelfall hilfreich sein, ist aber rechtlich nicht notwendig. Der Satzungssitz hat insbesondere Bedeutung für die Zuständigkeit von Gerichten und 38 Behörden (siehe etwa § 14; § 17 ZPO) und bestimmt im Regelfall auch den Ort, an dem die Hauptversammlung stattfindet (§ 121 Abs. 5). 3.

Gegenstand des Unternehmens (§ 23 Abs. 3 Nr. 2)

Die Satzung muss ferner auch den Gegenstand des Unternehmens bestimmen (§ 23 Abs. 3 39 Nr. 2 Halbs. 1). Bei Industrie- und Handelsunternehmen ist insbesondere die Art der Erzeugnisse und Waren, die hergestellt oder gehandelt werden sollen, näher anzugeben (§ 23 Abs. 3 Nr. 2 Halbs. 2). Der Gegenstand des Unternehmens wird in das Handelsregister _____________ 42) Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 17; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 23 Rz. 64; K. Schmidt/LutterSeibt, AktG, § 23 Rz. 28. – a. A. Bürgers/Körber/Lieder-Körber, AktG, § 23 Rz. 16, da es sich bei Namens- und Inhaberaktien lediglich um verschiedene Aktienarten und nicht um unterschiedliche Aktiengattungen handelt. 43) Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 18; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 23 Rz. 62. 44) Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 20; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 23 Rz. 20.

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§ 23

Feststellung der Satzung

eingetragen (§ 39 Abs. 1 Satz 1 AktG und § 43 Nr. 2 lit. c HRV) und bekannt gemacht (§ 10 HGB). Der Zweck der Regelung45) besteht in der Information der Öffentlichkeit über die konkrete Tätigkeit des Unternehmens, im Schutz der (Minderheits-)Aktionäre vor einer willkürlichen Ausweitung der unternehmerischen Tätigkeit und in der Begrenzung der Geschäftsführungsbefugnis des Vorstands der Gesellschaft (siehe § 82 Abs. 2).46) Für die präventive Registerkontrolle i. R. des Eintragungsverfahrens ist die Angabe des Unternehmensgegenstands heute dagegen weitgehend ohne Bedeutung, da das Registergericht das Vorliegen einer etwa erforderlichen Genehmigung nach Verwaltungs- oder Handwerksrecht grundsätzlich nicht mehr prüft (siehe § 37 Abs. 4 Nr. 5 a. F.; siehe dazu § 37 Rz. 64). Ausnahmen bestehen (neben §§ 134, 138 BGB)47) lediglich bei Gesellschaften, die im Bereich des Kreditwesengesetzes tätig sind (§§ 32, 43 KWG),48) bei Investmentaktiengesellschaften (§§ 3 Abs. 5, 108 ff., 110 Abs. 4 KAGB), bei Gesellschaften von Freiberuflern (siehe etwa §§ 49 ff. StBerG, §§ 27 ff. WPO)49) oder bei gemeinnützigen Gesellschaften (§§ 51 ff. AO).50) 40 Der Gegenstand des Unternehmens muss in der Satzung so konkret angegeben werden, dass der Schwerpunkt der Geschäftstätigkeit für außenstehende Dritte erkennbar ist. Allgemein gehaltene Umschreibungen (wie etwa der Betrieb eines kaufmännischen Betriebes, der Handel mit Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen) genügen im Hinblick auf den Normzweck nicht und stellen regelmäßig ein Eintragungshindernis dar.51) Entscheidend ist stets, ob nach der Verkehrsanschauung von einer hinreichenden Individualisierung des Unternehmensgegenstands ausgegangen werden kann. Als zulässige Bestimmung des Unternehmensgegenstands gelten danach bspw. der Betrieb von Gaststätten, _____________ 45) Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 22; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 32. 46) Zur Haftung des Vorstands, der Geschäfte außerhalb des Unternehmensgegenstands betreibt s. BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, ZIP 2013, 455, dazu EWiR 2013, 261 (E. Vetter); zu Schadensersatzansprüchen von Genussrechtsinhabern wegen unseriöser Überschreitung des Unternehmensgegenstands s. BGH, Urt. v. 29.4.2014 – II ZR 395/12, ZIP 2014, 1166, dazu EWiR 2014, 441 (Bracht). – Zu den Rechtsfolgen einer (dauerhaften) Über- bzw. Unterschreitung der durch den Unternehmensgegenstand gezogenen Grenzen s. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 38 und 38a; Spindler/StilzLimmer, AktG, § 23 Rz. 16 und 16a, je m. w. N. – Zur Satzungsunterschreitung durch Veräußerung von Unternehmensanteilen s. BVerfG, Beschl. v. 7.9.2011 – 1 BvR 1460/10, ZIP 2011, 2094, dazu EWiR 2012, 3 (Nietsch). Ausführlich zur Unterschreitung des Unternehmensgegenstandes im Aktienrecht Priester, ZGR 2017, 474. 47) Zu einer sittenwidrigen Strohmanngründung durch vermögenslose Gesellschafter s. etwa OLG Karlsruhe, Urt. v. 19.12.1997 – 1 U 170/97, dazu EWiR 1998, 1011 (Kort). 48) S. dazu OLG München, Beschl. v. 21.5.2012 – 31 Wx 164/12, ZIP 2012, 2107 (zur Bezeichnung der Anlage- und Vermögensberatung im Unternehmensgegenstand). 49) Am 1.8.2022 ist das Gesetz zur Neuregelung des Berufsrechts der anwaltlichen und steuerberatenden Berufsausübungsgesellschaften sowie zur Änderung weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufs v. 7.7.2021 in Kraft getreten, BGBl. I 2021, 2363. Danach stehen den Berufsausübungsgesellschaften von Rechtsanwälten (§§ 59b ff. BRAO), Patentanwälten (§§ 52b PatAnwO), Steuerberatern (§§ 49 ff. StBerG) und Wirtschaftsprüfern (§§ 27 ff., 43a ff. WPO) grundsätzlich alle europäischen Rechtsformen (und damit auch die AG) offen. S. zum Ganzen auch die Gesetzesmaterialien in RegE, BT-Drucks. 19/27670 v. 17.3.2021; Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses R/V, BTDrucks. 19/30516 v. 9.6.2021; Beschluss, BR-Drucks. 519/21 v. 11.6.2021 und RegE, BR-Drucks. 55/21 v. 22.1.2021. 50) Zur gemeinnützigen AG s. Binnewies/Herwtig, AG 2020, 739; Weber, Die gemeinnützige Aktiengesellschaft, 2014. 51) Zur Unzulässigkeit des Unternehmensgegenstands Handel mit Waren aller Art bei einer Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt) s. jüngst OLG Düsseldorf, Beschl. v. 6.10.2010 – I 3 Wx 231/10, DStR 2010, 2367 = DB 2011, 168. – Ausführlich dazu Thoma, RNotZ 2011, 413. – Bürgers/Körber/ Lieder-Körber, AktG, § 23 Rz. 30 f.; Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 23; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 23 Rz. 21 und 24; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 23 Rz. 83 ff.; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 35 f.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 23 Rz. 80 ff.; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 23 Rz. 16 und 17.

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Feststellung der Satzung

der Handel mit Baustoffen und ähnlichen Waren, die Verwaltung eigenen Vermögens52) oder die Beteiligung an anderen Unternehmen. Durch die Angabe des Tätigkeitsschwerpunkts werden unternehmerische Aktivitäten in Randbereichen und Hilfsgeschäfte nicht ausgeschlossen. Deren ausdrückliche Nennung kann allerdings im Hinblick auf die Möglichkeit des nachgründungsfreien Erwerbs i. R. des laufenden Geschäftsbetriebs sinnvoll sein (siehe § 52 Abs. 9 Alt. 1). Der Gegenstand des Unternehmens ist vom Zweck der Gesellschaft53) zu unterscheiden 41 (siehe §§ 1, 61 GmbHG).54) Der Zweck der Gesellschaft meint im Allgemeinen die eigentliche Zielsetzung der unternehmerischen Tätigkeit (meist Gewinnerzielung).55) Dagegen bezeichnet der Gegenstand des Unternehmens die Mittel, mit denen der Zweck der Gesellschaft erreicht werden soll. Der Zweck der Gesellschaft wird in der Satzung meist nur bei gemeinnützigen oder anderen nicht auf Gewinnerzielung ausgerichteten Gesellschaften angegeben (siehe auch §§ 51 ff., 60 AO).56) Änderungen des Gesellschaftszwecks bedürfen der Zustimmung aller Gesellschafter (§ 33 Abs. 1 Satz 2 BGB analog). Änderungen des Unternehmensgegenstands sind dagegen eine Satzungsänderung und können daher mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden (§§ 179 ff.). 4.

Höhe des Grundkapitals (§ 23 Abs. 3 Nr. 3)

Die Höhe des Grundkapitals muss in der Satzung stets konkret angegeben werden (§ 23 42 Abs. 3 Nr. 3; siehe auch § 39 Abs. 1 Satz 1 AktG und § 43 Nr. 3 HRV). Das Grundkapital muss auf einen Nennbetrag in Euro lauten (§ 6). Der Mindestnennbetrag des Grundkapitals beträgt grundsätzlich 50.000 € (§ 7). Die bloße Angabe eines Mindest- oder Höchstbetrags in der Satzung ist unzulässig. Ein bereits bei Gründung der Gesellschaft festgesetztes genehmigtes Kapital (§§ 202 ff.) gehört nicht zum Grundkapital. 5.

Zerlegung des Grundkapitals (§ 23 Abs. 3 Nr. 4)

Die AG hat ein in Aktien zerlegtes Grundkapital (§ 1 Abs. 2). In der Satzung ist die Art 43 und Weise der Zerlegung des Grundkapitals in Aktien konkret und zweifelsfrei anzugeben (§ 23 Abs. 3 Nr. 4; siehe auch § 23 Abs. 2 Nr. 2).57) Dazu gehört zunächst die Form der Aktien als Nennbetragsaktien oder als Stückaktien 44 (§ 8 Abs. 1). Ein Nebeneinander beider Aktienformen ist rechtlich nicht zulässig.58) Bei Nennbetragsaktien (§ 8 Abs. 2) sind die Nennbeträge der einzelnen Aktien (mindestens 1 €) und die Zahl der Aktien jedes einzelnen Nennbetrags anzugeben. Bei Stückaktien (§ 8 Abs. 3) ist nur deren Anzahl anzugeben.

_____________ 52) Zur Zulässigkeit der offenen Gründung einer Vorrats-AG s. BGH, Beschl. v. 16.3.1992 – II ZB 17/91, BGHZ 117, 323 = ZIP 1992, 689, dazu EWiR 1992, 673 (Kraft). 53) Zum „Corporate Purpose“ s. u. a. Fleischer, ZIP 2021, 5; Habersack in: FS Windbichler, S. 707 ff. 54) S. dazu BGH, Beschl. v. 11.11.1985 – II ZB 5/85, BGHZ 96, 245 = ZIP 1996, 368, dazu EWiR 1986, 235 (Weipert) – zu einem eingetragenen Verein. Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 21; Hüffer/KochKoch, AktG, § 23 Rz. 22; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 34; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 23 Rz. 70 ff. 55) Zur Prägung des Zwecks der AG durch das europäische Gesellschaftsrecht s. Schön, ZHR 180 (2016) 279. 56) S. Kort, NZG 2011, 929. 57) Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 25; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 47 f. 58) S. dazu LG München I, Urt. v. 6.11.2014 – 5 HK O 679/14, AG 2015, 639 = DB 2015, 453 – Nichtigkeit eines Kapitalerhöhungsbeschlusses.

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45 Falls mehrere Gattungen von Aktien (§ 11) bestehen, ist zudem die Gattung der Aktien und die Zahl der Aktien jeder Gattung anzugeben.59) Dabei sind auch die für die jeweilige Aktiengattung maßgeblichen Rechte und Pflichten zu bezeichnen. 6.

Art der Aktien (§ 23 Abs. 3 Nr. 5)

46 Die Satzung muss schließlich auch bestimmen, ob die Aktien auf den Inhaber und/oder auf den Namen ausgestellt werden (§ 23 Abs. 3 Nr. 5 i. V. m. § 10 Abs. 1).60) Über die Art der Aktien können die Gründer grundsätzlich frei entscheiden.61) 47 Im Rahmen der Aktienrechtsnovelle 201662) wurde das Wahlrecht zwischen Inhaberund Namensaktien bei nicht börsennotierten AGs allerdings stark eingeschränkt. In der Regel müssen die Aktien auf den Namen lauten (§ 10 Abs. 1 Satz 1 AktG). Inhaberaktien sind nur noch ausnahmsweise zulässig (§ 10 Abs. 1 Satz 2 AktG).63) 48 Die Angaben zur Art der Aktien müssen auch dann in der Satzung enthalten sein, wenn der Anspruch der Aktionäre auf Verbriefung ausgeschlossen oder beschränkt ist (§ 10 Abs. 5). 7.

Zahl der Vorstandsmitglieder (§ 23 Abs. 3 Nr. 6)

49 Die Satzung muss entweder die Zahl der Mitglieder des Vorstands oder die Regeln, nach denen diese Zahl festgelegt wird, bestimmen (§ 23 Abs. 3 Nr. 6). 50 Der Vorstand kann aus einer oder aus mehreren Personen bestehen (§ 76 Abs. 2 Satz 1).64) Bei Gesellschaften mit einem Grundkapital von mehr als 3 Mio. € muss der Vorstand aus mindestens zwei Personen bestehen, sofern die Satzung nicht etwas anderes bestimmt (§ 76 Abs. 2 Satz 2).65) Die Vorschriften über die Bestellung eines Arbeitsdirektors (vgl. § 13 Abs. 1 MontanMitbestG, § 13 MontanMitbestErgG, § 33 Abs. 1 Satz 1 MitbestG 1976) bleiben unberührt (§ 76 Abs. 2 Satz 3), so dass der Vorstand dann aus mindestens zwei Mitgliedern besteht. 51 In der Satzung kann entweder eine konkrete Zahl der Mitglieder des Vorstands oder eine Mindest- und/oder Höchstzahl bestimmt werden.66) Weit verbreitet ist die Satzungsbestimmung, dass der Vorstand aus einer oder aus mehreren Personen besteht (vgl. auch § 76 Abs. 2 Satz 1). Innerhalb dieses Rahmens entscheidet dann der Aufsichtsrat über die Zahl der Vorstände (vgl. § 84).67) Stellvertretende Vorstandsmitglieder (§ 94) sind bei der Berechnung zu berücksichtigen. _____________ 59) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 23 Rz. 29. 60) Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 26; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 49. 61) Zu Ausnahmen (z. B. nach § 50 Abs. 5 Satz 3 StBerG, §§ 28 Abs. 5 Satz 2, 130 Abs. 2 WPO) s. Arnold in: KölnKomm-AktG, § 23 Rz. 120, und Dauner-Lieb in: KölnKomm-AktG, § 10 Rz. 17 ff. 62) Gesetz zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2016) v. 22.12.2015, BGBl. I 2015, 2565. 63) Zu Aktienurkunden in der Praxis s. u. a. Schaper, AG 2016, 889; Schäfer/Hoffmann, GWR 2016, 478. 64) Mit dem Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (Zweites Führungspositionengesetz – FüPoG II) v. 7.8.2021, BGBl. I 2021, 3311, wurden u. a. § 76 und § 111 AktG geändert (zur zeitlichen Anwendung s. § 26l EGAktG). Die Neuregelungen (sog. Frauenquote im Vorstand) gelten aber nur für börsennotierte bzw. mitbestimmte Gesellschaften und daher noch nicht bei Neugründung einer AG. 65) S. BGH, Urt. v. 12.11.2001 – II ZR 225/99, BGHZ 149, 158 = ZIP 2002, 172, dazu EWiR 2002, 885 (Saenger). 66) Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 27. 67) Zur Wirksamkeit dieser Regelung LG Köln, Urt. v. 10.6.1998 – 91 O 15/98, AG 1999, 137.

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Feststellung der Satzung

Enthält die Satzung keine Bestimmung zur Zahl der Mitglieder des Vorstands sind zu- 52 mindest die Regeln, nach denen diese Zahl festgelegt wird, zu bestimmen. Denkbar ist bspw., dass die Zahl der Vorstandsmitglieder von der Hauptversammlung oder dem Aufsichtsrat68) festgelegt wird. Die Rechtsfolgen einer satzungswidrigen Zusammensetzung des Vorstands sind gesetz- 53 lich nicht geregelt. Eine Auflösung der Gesellschaft kommt nicht in Betracht (siehe § 399 Abs. 1 FamFG). Eine Überbesetzung des Vorstands ist unstreitig folgenlos. Eine Unterbesetzung des Vorstands beeinträchtigt die Handlungsfähigkeit der Gesellschaft. Dies gilt nicht nur in den Fällen, in denen die Mitglieder des Vorstands in vertretungsberechtigter Zahl handeln müssen und diese Zahl nicht vorhanden ist (siehe § 78), sondern grundsätzlich auch dann, wenn der Vorstand als Organ durch alle Mitglieder tätig werden muss (siehe z. B. §§ 90 ff., 121 Abs. 2, 124 Abs. 3, 170 Abs. 1 und 2, 172).69) Bei Untätigkeit des Aufsichtsrats sollte in der Praxis gleichwohl ein Antrag auf gerichtliche Bestellung des fehlenden Mitglieds des Vorstands gestellt werden. Bei dauerhafter Unterbesetzung sollte die Satzung geändert werden. Die Zahl der Mitglieder des Aufsichtsrats (siehe §§ 95 ff.) muss in der Satzung nicht 54 festgelegt werden.70) 8.

Form der Bekanntmachungen der Gesellschaft (§ 23 Abs. 4)

Die Satzung muss ferner Bestimmungen über die Form der Bekanntmachungen der Ge- 55 sellschaft enthalten (§ 23 Abs. 4). Die Vorschrift betrifft nur freiwillige Bekanntmachungen der Gesellschaft, die nach Gesetz oder Satzung nicht in den Gesellschaftsblättern der Gesellschaft erfolgen müssen.71) Die Pflichtbekanntmachungen der Gesellschaft erfolgen zwingend (auch) im Bundesanzeiger (§ 25).72) Hinsichtlich der freiwilligen Bekanntmachungen der Gesellschaft hat die Gesellschaft Wahlfreiheit. Neben dem Bundesanzeiger und Tageszeitungen kommen insbesondere auch elektronische Informationsmedien (z. B. Internetseite der Gesellschaft) in Betracht.73) In der Praxis wird meist lediglich der Bundesanzeiger für sämtliche Bekanntmachungen der Gesellschaft bestimmt. 9.

Weitere notwendige Bestimmungen der Satzung

Die Vorgaben des Aktienrechts zum notwendigen Mindestinhalt der Satzung sind nicht 56 abschließend (siehe etwa die Festsetzungen nach § 26 Abs. 1 und 2 sowie § 27 Abs. 1). Weitere Angaben, die zwingend in der Satzung der Gesellschaft enthalten sein müssen ergeben sich insbesondere aus den im Einzelfall anwendbaren Spezialgesetzen (z. B. für _____________ 68) BGH, Urt. v. 17.12.2001 – II ZR 288/99, ZIP 2002, 216, dazu EWiR 2002, 317 (Zetsche); LG Köln, Urt. v. 10.6.1998 – 91 O 15/98, AG 1999, 137. 69) BGH, Urt. v. 12.11.2001 – II ZR 225/99, BGHZ 149, 158 = ZIP 2002, 172, dazu EWiR 2002, 885 (Saenger) – zu dem Ausscheiden eines Vorstandsmitglieds aus dem zweiköpfigen Vorstand einer mit einem Grundkapital von mehr als 3 Mio. € ausgestatteten AG. 70) Zur Anfechtbarkeit eines Beschlusses der Hauptversammlung über eine Satzungsänderung, die die genaue Zahl der Mitglieder des Aufsichtsrats nicht bestimmt festlegt s. LG München I, Beschl. v. 27.2.2017 – 5 HK O 14748/16, ZIP 2017, 1326, dazu EWiR 2017, 689 (Kraack). 71) Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 28; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 23 Rz. 32; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 51. 72) Seit 1.4.2012 gibt es nur noch den elektronischen Bundesanzeiger; der Bundesanzeiger in Papierform wurde abgeschafft. Der „elektronische Bundesanzeiger“ wird seitdem nur noch als „Bundesanzeiger“ bezeichnet (BGBl. I 2011, 3044). 73) § 25 Satz 2 AktG wurde durch Art. 1 Nr. 3 der Aktienrechtsnovelle 2016, BGBl. I 2015, 2565, ersatzlos aufgehoben.

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Feststellung der Satzung

Freiberufler nach Berufsrecht,74) Immobilienaktiengesellschaften nach dem REITG75), Investmentaktiengesellschaften nach dem KAGB oder Verwertungsgesellschaften nach dem UrhG). 57 Das Geschäftsjahr (siehe § 240 Abs. 2 Satz 2 HGB) ist zwar üblicher, aber keineswegs zwingender Bestandteil der Satzung.76) Gleiches gilt auch für die von der Gesellschaft zu tragenden Gründungskosten. VI.

Satzungsstrenge (§ 23 Abs. 5)

1.

Allgemeines

58 Die Satzung kann von den Vorschriften des AktG nur abweichen, wenn es ausdrücklich zugelassen ist (§ 23 Abs. 5 Satz 1). Ergänzende Bestimmungen der Satzung sind zulässig, sofern das AktG keine abschließende Regelung enthält (§ 23 Abs. 5 Satz 2). 59 Die Regelung beschränkt die Satzungsfreiheit im Aktienrecht (Grundsatz der Satzungsstrenge, bzw. besser der Gesetzesstrenge). Die Satzungsregelungen werden in gewisser Weise standardisiert. Ungewöhnliche und überraschende Satzungsbestimmungen sind von vornherein ausgeschlossen. Ziel der Regelung ist es, die Verkehrsfähigkeit der Aktie sicherzustellen und Gläubiger und Aktionäre vor nachteiligen Satzungsregelungen zu schützen. 60 Die Regelung wird im neueren Schrifttum vielfach kritisiert.77) Änderungen sind gleichwohl (auch für nicht börsennotierte Gesellschaften) weder zu erwarten78) noch wünschenswert.79) 2.

Abweichende Satzungsregelungen (§ 23 Abs. 5 Satz 1)

61 Die Satzung kann von den gesetzlichen Bestimmungen des Aktienrechts nur dann abweichen, wenn dies ausdrücklich zugelassen ist (§ 23 Abs. 5 Satz 1). Eine Abweichung liegt immer dann vor, wenn die Satzung etwas anderes als das AktG bestimmt. Die Befugnis zu einer abweichenden Regelung muss sich klar und eindeutig aus dem Gesetz selbst ergeben (z. B. § 108 Abs. 2 KAGB für Investmentaktiengesellschaften); bloßes Schweigen des Gesetzgebers genügt nicht. Typische Beispiele dafür sind etwa gesetzliche Regelungen, in denen es heißt „wenn die Satzung nichts anderes bestimmt“ (siehe z. B. §§ 31 Abs. 2, 151 Abs. 5 Satz 1), oder „die Satzung kann bestimmen“ (siehe z. B. §§ 24, 182 Abs. 4 Satz 2), oder die Bestimmung „anderer Mehrheiten“ (siehe z. B. §§ 133 Abs. 1 und 2, 179 _____________ 74) Am 1.8.2022 ist das Gesetz zur Neuregelung des Berufsrechts der anwaltlichen und steuerberatenden Berufsausübungsgesellschaften sowie zur Änderung weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufs v. 7.7.2021, BGBl. I 2021, 2363, in Kraft getreten. Danach stehen den Berufsausübungsgesellschaften von Rechtsanwälten (§§ 59b ff. BRAO), Patentanwälten (§§ 52b PatAnwO), Steuerberatern (§§ 49 ff. StBerG) und Wirtschaftsprüfern (§§ 43a ff. WPO) grundsätzlich alle europäischen Rechtsformen (und damit auch die AG) offen. S. zum Ganzen auch die Gesetzesmaterialien in in RegE, BT-Drucks. 19/27670 v. 17.3.2021; Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses R/V, BTDrucks. 19/30516 v. 9.6.2021; Beschluss, BR-Drucks. 519/21 v. 11.6.2021 und RegE, BR-Drucks. 55/21 v. 22.1.2021. 75) Dazu K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 52. 76) A. A. Henssler/Strohn-E. Vetter, GesR, § 23 AktG Rz. 20. 77) Umfassend und rechtsvergleichend Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2015. 78) S. auch die Beschlüsse des 67. DJT 2008 (www.djt.de), und das entsprechende Gutachten von Bayer, Kurzfassung in NJW Beilage Heft 21/2008, S. 21. 79) Ähnlich Arnold in: KölnKomm-AktG, § 23 Rz. 134; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 23 Rz. 28. – Weitergehend Kalss/Fleischer, AG 2013, 693 (mit rechtsvergleichenden Hinweisen zum österreichischen Recht).

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Feststellung der Satzung

Abs. 2 Satz 2) oder „weitere Erfordernisse“ (siehe z. B. §§ 133 Abs. 1, 179 Abs. 2 Satz 3) für Beschlüsse.80) Eine abweichende Satzungsregelung ist dagegen u. a. ausgeschlossen bei allen Vorschrif- 62 ten, die die Zuständigkeit der einzelnen Organe, ihre Zusammensetzung und deren innere Organisation betreffen, bei den Bestimmungen über die Rechte von Minderheiten (mit Ausnahme von § 122 Abs. 1 Satz 2) und der Verpflichtung der Verwaltungsmitglieder zur Sorgfalt und Verschwiegenheit (§§ 93, 116).81) Unzulässig ist auch die generelle Festschreibung der Börsennotierung in der Satzung.82) 3.

Ergänzende Satzungsregelungen (§ 23 Abs. 5 Satz 2)

Satzungsbestimmungen, die das AktG lediglich ergänzen (und nicht von ihm abweichen), 63 müssen nicht ausdrücklich zugelassen sein. Ergänzende Satzungsregelungen sind vielmehr schon dann zulässig, wenn das Gesetz keine abschließende Regelung enthält (§ 23 Abs. 5 Satz 2). Das Gesetz muss nach seinem Sinn und Zweck somit für eine weiterführende Regelung offen sein. Nach der Gesetzesformulierung („es sei denn“) ist im Zweifel von der Zulässigkeit einer solchen ergänzenden Satzungsbestimmung auszugehen. In manchen Gesetzesbestimmungen ist eine ergänzende Satzungsregelung ausdrücklich 64 vorgesehen (siehe z. B. §§ 11, 39 Abs. 2 i. V. m. §§ 262 Abs. 1 Nr. 1, 55 Abs. 1, 107 Abs. 1 Satz 1). Ergänzende Satzungsregelungen sind aber auch in anderen Fällen zulässig. Beispiele dafür sind etwa die Bestimmung eines Hauptversammlungsorts im Ausland,83) die Festlegung bestimmter persönlicher Voraussetzungen für Mitglieder des Vorstands oder des Aufsichtsrats84) (z. B. Familienzugehörigkeit, fachliche Qualifikation, Alter, siehe §§ 76, 100 Abs. 4 und 5), die generelle Ermächtigung des Aufsichtsrats zu Fassungsänderungen der Satzung (siehe § 179 Abs. 1 Satz 2), Schiedsklauseln85) oder Gerichtsstandsvereinbarungen.86) Abschließende Regelungen enthalten dagegen u. a. §§ 107 Abs. 3 Satz 1, 241, 275.87) VII. Gründungsmängel Die Feststellung der Satzung (§ 23 Abs. 1) und die Übernahmeerklärung der Gründer 65 (§ 23 Abs. 2) können aus unterschiedlichen Gründen mit Mängeln behaftet sein. Das Registergericht hat grundsätzlich bei jedem Mangel des Gründungsvorgangs die Eintragung _____________ 80) S. a. die Übersichten bei Heidel-Braunfels, AktR, § 23 AktG Rz. 44; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 23 Rz. 35; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 23 Rz. 139 ff.; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 56; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 23 Rz. 155; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 23 Rz. 29. 81) BGH, Urt. v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325 = NJW 1975, 1412. 82) Ausführlich dazu v. d. Linden, NZG 2015, 176; Scholz, BB 2015, 2248. 83) BGH, Urt. v. 21.10.2014 – II ZR 330/13, ZIP 2014, 2494, dazu EWiR 2015, 3 (Kiem/Reutershahn). – Zu den damit verbundenen Sprachenfragen s. Mohamed, NZG 2015, 1263, und zu Beurkundungsfragen s. Herrler, ZGR 2015, 918. 84) Zu Satzungsregelungen zur Amtszeit der Aufsichtsratsmitglieder s. Blasche, AG 2017, 112. 85) Zu Schiedsklauseln in Gesellschaftsverträgen s. zuletzt BGH, Beschl. v. 6.4.2017 – I ZB 23/16 (Schiedsfähigkeit III), ZIP 2017, 1024, dazu EWiR 2017, 523 (Zarth/Buchner) (Schiedsfähigkeit einer Beschlussmängelstreitigkeit bei einer Personengesellschaft). Ausführlich zum Ganzen u. a. Baumann/ Wagner, BB 2017, 1993; Borris, NZG 2017, 761; Heinrich, ZIP 2018, 411; Nolting, ZIP 2017, 1641; K. Schmidt, NZG 2018, 121; Westermann, ZGR 2017, 38. 86) BGH, Urt. v. 11.10.1993 – II ZR 155/92, BGHZ 123, 347 = ZIP 1993, 1709, dazu EWiR 1994, 49 (Bork). – s. a. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 23 Rz. 37 f.; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 57; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 23 Rz. 161; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 23 Rz. 30. 87) Zur Unzulässigkeit einer Satzungsbestimmung, wonach die Hauptversammlung auch in Zürich abgehalten werden kann, s. OLG Hamburg, Beschl. v. 7.5.1993 – 2 Wx 55/91, ZIP 1993, 921, dazu EWiR 1993, 943 (Bokelmann).

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§ 23

Feststellung der Satzung

der Gesellschaft abzulehnen (§ 38). Im Übrigen ist die Möglichkeit solche Gründungsmängel geltend zu machen vor allem davon abhängig, zu welchem Zeitpunkt dies geschieht. 66 Vor der Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister richten sich die Rechtsfolgen von etwaigen Gründungsmängeln vor allem danach, ob die Gesellschaft bereits in Vollzug gesetzt worden ist, d. h. mit einer nach außen gerichteten Tätigkeit oder der Bildung von Gesellschaftsvermögen begonnen hat. Vor Invollzugsetzung der Gesellschaft kommen die allgemeinen Vorschriften des BGB über Willensmängel und sonstige Fehler von Rechtsgeschäften (z. B. §§ 104 ff., 116 ff., 119 ff., 134, 139 BGB, nicht aber § 139 BGB) zur Anwendung.88) Nach Invollzugsetzung der Gesellschaft kommt das Sonderrecht der fehlerhaften Gesellschaft zur Anwendung. Danach ist die fehlerhaft gegründete Gesellschaft grundsätzlich als wirksam zu behandeln und der Gesellschafter, der sich auf den Mangel beruft, muss ggf. den Weg der Auflösung und Abwicklung der Vorgesellschaft beschreiten.89) 67 Nach der Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister haben Gründungsmängel grundsätzlich keine Wirkung mehr. Die Gesellschaft ist mit Eintragung wirksam entstanden (siehe § 41 Abs. 1). Eine Löschung oder Auflösung der Gesellschaft kommt nur ganz ausnahmsweise bei schwerwiegenden Gründungsmängeln in Betracht (siehe etwa §§ 275 ff., §§ 397 ff. FamFG).90) 68 Die Nichtigkeit einzelner Satzungsbestimmungen (§ 241 Nr. 3) entfällt rückwirkend, wenn die Gesellschaft seit mindestens drei Jahren im Handelsregister eingetragen ist (§ 242 Abs. 2 analog).91) VIII. Schuldrechtliche Nebenabreden 69 Schuldrechtliche Nebenabreden92) (teilweise auch als satzungsergänzende Nebenabreden bezeichnet) sind Vereinbarungen von Aktionären,93) die diese vor, bei oder nach der Gründung der Gesellschaft außerhalb der Satzungsurkunde treffen und darin ihre Rechtsverhältnisse untereinander oder ihre Rechtsverhältnisse zur Gesellschaft regeln.94) Gegenstand solcher Nebenabreden sind in der Praxis oftmals Finanzierungsbeiträge der Aktionäre (über die nach der Satzung bestehenden Einlagepflichten hinaus), Stimmbindungen

_____________ 88) Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 34; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 23 Rz. 41; Arnold in: KölnKommAktG, § 23 Rz. 158 f.; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 59; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 23 Rz. 36. 89) Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 35; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 23 Rz. 41; Arnold in: KölnKommAktG, § 23 Rz. 160 ff.; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 59; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 23 Rz. 37. – Kritisch dazu Pentz in: MünchKomm-AktG, § 23 Rz. 169 ff. 90) Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 36 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 23 Rz. 42; Arnold in: KölnKommAktG, § 23 Rz. 164 ff.; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 60 ff.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 23 Rz. 174 ff.; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 23 Rz. 38. 91) BGH, Urt. v. 19.6.2000 – II ZR 73/99, BGHZ 144, 365 = ZIP 2000, 1294, dazu EWiR 2000, 943 (Casper) – zur Heilung einer nichtigen Bestimmung in der Ursprungssatzung einer GmbH. 92) Umfassend zum Ganzen Liefke, Verträge unter Aktionären, 2020. 93) Zur Nichtigkeit einer schuldrechtlichen Vereinbarung zwischen einer AG und ihrem Aktionär mit der Verpflichtung zur unentgeltlichen Rückübertragung von entgeltlich erworbenen Aktien s. BGH, Urt. v. 22.1.2013 – II ZR 80/10, ZIP 2013, 263, dazu EWiR 2013, 131 (Seibt). Ausführlich dazu Cziupka/ Kliebisch, BB 2013, 715; Noack, NZG 2013, 281. 94) Grundlegend dazu (zum GmbH-Recht) BGH, Beschl. v. 15.3.2010 – II ZR 4/09, ZIP 2010, 1749, dazu EWiR 2010, 639 (Wahl/Schult) – zur Zulässigkeit einer schuldrechtlichen Nebenabrede über die Berechnung der Abfindung im Falle des Ausscheidens eines Gesellschafters. Ausführlich dazu Leitzen, RNotZ 2010, 566; Lieder in: Fleischer/Kalss/Vogt, S. 231 ff.; Noack, NZG 2010, 1017.

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Thomas Wachter

§ 23

Feststellung der Satzung

(siehe aber §§ 136 Abs. 2, 405 Abs. 3 Nr. 6)95), Beschränkungen des Aktionärskreises durch Vorkaufs- und Vorerwerbsrechte, Andienungspflichten, Mitverkaufsrechte und -pflichten, Fragen der Besetzung und Besoldung von Vorstand und Aufsichtsrat, u. A. m.96) Ein wesentlicher Grund für den Abschluss solcher schuldrechtlicher Nebenabreden be- 70 steht darin, dass sie im Unterschied zur Satzung (§ 9 Abs. 1 HGB) nicht der Publizität des Handelsregisters unterliegen.97) Darüber hinaus können i. R. einer schuldrechtlichen Vereinbarung auch solche Regelungen getroffen werden, die aufgrund des grundsätzlich zwingenden Charakters des Aktienrechts (siehe § 23 Abs. 5) in der Satzung nicht wirksam vereinbart werden können.98) Schuldrechtliche Vereinbarungen können darüber hinaus deutlich einfacher und schneller als die Satzung (siehe §§ 179 ff.) an veränderte Verhältnisse angepasst oder geändert werden. Im Unterschied zur Satzung binden die schuldrechtlichen Nebenabreden allerdings nur die daran beteiligten Personen. Mit der Übertragung von Aktien gehen die Rechte und Pflichten aus der schuldrechtlichen Nebenabrede daher nicht automatisch auch auf den Erwerber über. Schuldrechtliche Nebenabreden sind im Allgemeinen zwei- oder mehrseitige Verträge, 71 mit denen aufgrund der gemeinsamen Zweckverfolgung eine Innengesellschaft des bürgerlichen Rechts (§§ 705 ff. BGB) begründet wird.99) Schuldrechtliche Nebenabreden sind von der Satzung unabhängig. Für die Auslegung der 72 Satzung sind sie ohne Bedeutung. Schuldrechtliche Nebenabreden beeinflussen auch nicht den Inhalt oder Umfang der Treuepflicht der beteiligten Aktionäre. Hauptversammlungsbeschlüsse können auch dann nicht wegen eines Verstoßes gegen eine schuldrechtliche Nebenabrede angefochten werden, wenn alle Aktionäre an dieser beteiligt sind.100) IX.

Vorrats- und Mantelgesellschaften

Die Vorschriften über die ordnungsgemäße Kapitalaufbringung gelten nach ständiger 73 Rechtsprechung101) nicht nur in Fällen der rechtlichen, sondern auch der wirtschaftlichen Neugründung einer Kapitalgesellschaft.102) Eine wirtschaftliche Neugründung wird angenommen, wenn eine rechtliche bereits bestehende Kapitalgesellschaft erstmals (Vorrats-

_____________ 95) Zur Nichtigkeit eines Stimmbindungsvertrages wegen Verstoß gegen § 136 Abs. 2 s. OLG Oldenburg, Urt. v. 16.3.2006 – 1 U 12/05, ZEV 2007, 35 mit Anm. Reimann = RNotZ 2006, 479 mit Anm. Oppermann. 96) Bürgers/Körber/Lieder-Körber, AktG, § 23 Rz. 52; Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 39; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 23 Rz. 174; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 64; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 23 Rz. 41. 97) Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 40; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 23 Rz. 173; K. Schmidt/LutterSeibt, AktG, § 23 Rz. 65; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 23 Rz. 189. 98) Zu einer abweichenden Gewinnverteilung nach § 60 Abs. 3 AktG außerhalb der Satzung s. LG Frankfurt/M., Urt. v. 23.12.2014 – 3-05 O 47/14, ZIP 2015, 931. Ausführlich dazu Harbarth/Zeyher/ Brechtel, AG 2016, 801; Priester, ZIP 2015, 2156. 99) Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 40; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 23 Rz. 175; K. Schmidt/LutterSeibt, AktG, § 23 Rz. 65. 100) Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 41; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 23 Rz. 176 und 180. – A. A. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 68 (auch unter Hinweis auf die – ältere – Rspr. des BGH zum GmbH-Recht). 101) Gleichwohl kritisch dazu u. a. Habersack, AG 2010, 845; K. Schmidt, ZIP 2010, 857. Grundsätzlich zustimmend dagegen Bachmann, NZG 2011, 441; Bayer in: FS Goette, S. 15 ff. 102) Ausführlich dazu u. a. Hölters-Solveen, AktG, § 23 Rz. 44 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 23 Rz. 25 ff.; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 23 Rz. 92 ff.; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 23 Rz. 39 ff.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 23 Rz. 87 ff.; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 23 Rz. 42 ff.

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§ 24

(aufgehoben)

gesellschaft)103) oder erneut (Mantelgesellschaft)104) unternehmerisch tätig wird. Entscheidend dabei ist, dass es sich bei der Gesellschaft lediglich um eine leere Hülse handelt, so dass der künftige Geschäftsbetrieb nicht an einen bereits bestehenden Geschäftsbetrieb anknüpfen kann.105) 74 In allen Fällen der wirtschaftlichen Neugründung müssen die Gründer und alle Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats (§ 36 Abs. 1 analog) (erneut) erklären, dass die Leistungen auf die Einlagen ordnungsgemäß erbracht worden sind und sich unverändert (oder wieder) in der endgültig freien Verfügung des Vorstands befinden (§§ 36 Abs. 2, 37 Abs. 1 analog).106) Die erforderliche Offenlegung muss gegenüber dem Registergericht in Form einer Handelsregisteranmeldung erfolgen (§ 12 HGB). Verstöße gegen die Verpflichtung zur Offenlegung führen zu einer persönlichen Haftung der Beteiligten nach den Grundsätzen der Unterbilanzhaftung (Vorbelastungshaftung)107) sowie der Handelndenhaftung (§ 41 Abs. 1 Satz 2 analog).108) _____________ 103) Grundlegend zur wirtschaftlichen Neugründung einer Vorratsgesellschaft in der Rechtsform einer GmbH BGH, Urt. v. 9.12.2002 – II ZB 12/02, BGHZ 153, 158 = ZIP 2003, 251, dazu EWiR 2003, 327 (Keil). Zur Zulässigkeit der offenen Gründung einer Vorratsgesellschaft, deren Zweck sich typischerweise auf die Verwaltung eigenen Vermögens beschränkt, s. BGH, Urt. v. 16.3.1992 – II ZB 17/91, BGHZ 117, 323 = ZIP 1992, 689, dazu EWiR 1992, 673 (Kraft) – zur AG. 104) Zur wirtschaftlichen Neugründung einer Mantelgesellschaft in der Rechtsform einer GmbH BGH, Urt. v. 7.7.2003 – II ZB 4/02, BGHZ 155, 318 = ZIP 2003, 1698, dazu EWiR 2005, 179 (Werner). 105) S. BGH, Beschl. v. 18.1.2010 – II ZR 61/09, ZIP 2010, 621, dazu EWiR 2010, 611 (Schmitz-DuMont) – keine wirtschaftliche Neugründung bei gestreckter Umsetzung des Gründungsvorgangs. 106) Zu Art und Umfang der erforderlichen Prüfung einer wirtschaftlichen Neugründung (§§ 32 ff. analog) und der dem Registergericht einzureichenden Berichte s. insbesondere Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 23 Rz. 47, sowie Heinze, BB 2012, 67; Theusinger/Andrä, ZIP 2014, 1916; Winnen, RNotZ 2013, 389. – Zur wirtschaftlichen Neugründung bei Verwendung von Börsenmänteln s. Schaefer/Steiner/Link, DStR 2016, 1166. 107) S. dazu im Zusammenhang mit der unterlassenen Offenlegung der wirtschaftlichen Neugründung einer Mantelgesellschaft in der Rechtsform einer GmbH, BGH, Urt. v. 6.3.2012 – II ZR 56/10, ZIP 2012, 817, dazu EWiR 2012, 347 (Bayer). – Ausführlich dazu Bachmann, NZG 2012, 579; Gottschalk, DStR 2012, 1458; Horn, DB 2012, 1255; Jeep, NZG 2012, 1209; Kuszlik, GmbHR 2012, 882; Podewils, GmbHR 2012, 1175; Tavakoli, NJW 2012, 1855; Ulmer, ZIP 2012, 1265; Winnen, RNotZ 2013, 389. 108) Zur Haftung des Vormanns eines ausgeschlossenen Aktionärs für die rückständige Einlage bei wirtschaftlicher Neugründung LG München I, Urt. v. 30.8.2012 – 5 HK O 5699/11, ZIP 2012, 2152.

§ 24 (aufgehoben) Thomas Wachter

1 § 24 (Umwandlung von Aktien) wurde i. R. der Aktienrechtsnovelle 20161) ersatzlos aufgehoben (siehe dazu auch § 10).2) _____________ 1) 2)

Art. 1 Nr. 2 der Aktienrechtsnovelle 2016, BGBl. I 2015, 2565 und Begr. RegE, BT-Drucks. 18/4339, S. 15 ff. Zur Umwandlung von Namensaktien in Inhaberaktien (und umgekehrt) s. u. a. Huep, WM 2000, 1623; Noack in: FS Bezzenberger, S. 291; Schaper, AG 2016, 889; Schäfer/Hoffmann, GWR 2016, 478.

§ 25 Bekanntmachungen der Gesellschaft Thomas Wachter

Bestimmt das Gesetz oder die Satzung, daß eine Bekanntmachung der Gesellschaft durch die Gesellschaftsblätter erfolgen soll, so ist sie in den Bundesanzeiger einzurücken.

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Thomas Wachter

§ 25

Bekanntmachungen der Gesellschaft

Literatur: Oppermann, Veröffentlichung der Hauptversammlungseinladung im elektronischen Bundesanzeiger ausreichend?, ZIP 2003, 793; Spindler/Kramski, Der elektronische Bundesanzeiger als zwingendes Gesellschaftsblatt für Pflichtbekanntmachungen der GmbH, NZG 2005, 746.

Übersicht I. Überblick ............................................ 1 II. Pflichtgesellschaftsblatt .................... 4 I.

III. Weitere Gesellschaftsblätter ............ 8 IV. Rechtsfolgen .................................... 10

Überblick

Das AktG sieht in zahlreichen Vorschriften vor, dass bestimmte Bekanntmachungen in 1 Bezug auf die Gesellschaft in den Gesellschaftsblättern erfolgen müssen (z. B. die Einberufung der Hauptversammlung und die Tagesordnung nach §§ 121 Abs. 4 Satz 1, 124). Darüber hinaus ist auch in manchen Satzungen eine Bekanntmachung in den Gesellschaftsblättern vorgesehen. Solche gesetzlich oder satzungsgemäß vorgesehenen Bekanntmachungen (Pflichtbekanntmachungen) sind zwingend in den Bundesanzeiger (www.bundesanzeiger.de) einzurücken (§ 25 Satz 1). Auf diese Weise soll eine schnelle, zuverlässige und umfassende Information der Öffentlichkeit (nicht nur der Aktionäre) erreicht werden.1) Die Satzung kann – neben dem Bundesanzeiger – noch andere Blätter (z. B. Tageszeitungen) oder elektronische Informationsmedien (z. B. die Internetseite der Gesellschaft) als (weitere) Gesellschaftsblätter vorsehen (§ 25 Satz 2). Die Pflichtbekanntmachungen müssen dann zusätzlich auch in diese Gesellschaftsblätter eingerückt werden. Die Vorschrift (des § 25) betrifft nur die Pflichtbekanntmachungen, und nicht auch freiwillige Bekanntmachungen der Gesellschaft. Die Satzung jeder AG muss u. a. auch Bestimmungen über die Form der Bekanntma- 2 chungen der Gesellschaft enthalten (§ 23 Abs. 4). Diese betrifft aber nur die freiwilligen Bekanntmachungen (und nicht auch die in § 25 geregelten Pflichtbekanntmachungen), die nicht zwingend in den Gesellschaftsblättern erfolgen müssen (z. B. Quartalsberichte).2) Die Satzung kann die Bekanntmachung insoweit frei bestimmen. Möglich ist die Bekanntmachung in einem (oder mehreren) Print- oder Online-Medium. Von den Bekanntmachungen der Gesellschaft (Pflichtbekanntmachungen und freiwilligen 3 Bekanntmachungen) sind insbesondere die Bekanntmachungen des Registergerichts zu unterscheiden (§ 10 HGB;3) siehe auch § 106 Halbs. 2 AktG). Das Registergericht macht von Amts wegen die Eintragungen in das Handelsregister in dem von der Landesjustizverwaltung bestimmten elektronischen Informations- und Kommunikationsmedium bekannt (siehe www.handelsregisterbekanntmachungen.de). Im Rahmen der Aktienrechtsnovelle 2016 wurde die Regelung des § 25 Abs. 2 ersatzlos gestrichen.4) II.

Pflichtgesellschaftsblatt

Bekanntmachungen der Gesellschaft müssen regelmäßig in den Gesellschaftsblättern 4 erfolgen (Beispiele: §§ 20 Abs. 6, 64 Abs. 2 und 3, 73 Abs. 2 Satz 3, 97 Abs. 1, 121 Abs. 4 Satz 1, 124, 186 Abs. 2 und 5, 214 Abs. 1, 226 Abs. 2, 246 Abs. 4, 259 Abs. 5). Darüber hinaus müssen auch einzelne Bekanntmachungen der Gerichte in den Gesellschaftsblättern _____________ 1) 2) 3)

4)

Hölters-Solveen, AktG, § 25 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 25 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 25 Rz. 1. Hölters-Solveen, AktG, § 25 Rz. 1. Die Vorschrift des § 10 HGB (Bekanntmachung der Eintragungen) wurde durch Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) v. 5.7.2021, BGBl. I 2021, 3338, neugefasst. Die Änderung tritt am 1.8.2022 in Kraft. Art. 1 Nr. 3 der Aktienrechtsnovelle 2016, BGBl. I 2015, 2565.

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§ 25

Bekanntmachungen der Gesellschaft

bekannt gemacht werden (z. B. bei gerichtlichen Entscheidungen über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats nach § 99 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 Satz 2). In wenigen Einzelfällen kann in der Satzung eine andere Art der Bekanntmachung bestimmt werden (z. B. für die Aufforderung von Aktionären zur Einzahlung der fälligen Einlagen nach § 63 Abs. 1 Satz 2 durch Einschreiben mit Rückschein). 5 Für eine Bekanntmachung durch die Gesellschaftsblätter ist eine Veröffentlichung im Bundesanzeiger zwingend erforderlich (§ 25). Der Bundesanzeiger ist somit für alle AGs einheitlich das Pflichtgesellschaftsblatt. Eine zusätzliche Bekanntmachung in einem anderen Medium ist grundsätzlich nicht erforderlich.5) Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Satzung oder das Gesetz (siehe § 186 Abs. 2 Satz 2: „in den Gesellschaftsblättern und über ein elektronisches Informationsmedium bekannt zu machen“) dies ausnahmsweise vorsehen. 6 Der (elektronische) Bundesanzeiger ist seit dem 1.1.2003 alleiniges Pflichtgesellschaftsblatt.6) Der „elektronische Bundesanzeiger“ wurde zum 1.4.2012 in „Bundesanzeiger“ umbenannt.7) Die Bezeichnung „elektronischer Bundesanzeiger“ gib es nicht mehr; in der Sache gibt es gleichwohl nur noch den elektronischen Bundesanzeiger, der jetzt allerdings schlicht „Bundeszeiger“ heißt. In älteren Satzungen wird für die Bekanntmachungen der Gesellschaft teilweise noch auf den „Bundesanzeiger“ Bezug genommen. Solche Satzungsbestimmungen sind nunmehr (wieder) zutreffend und meinen den (elektronischen) Bundesanzeiger.8) In neueren Satzungen wird dagegen vielfach auf den „elektronischen Bundesanzeiger“ verwiesen. Eine Änderung dieser Satzungsbestimmungen ist rechtlich nicht zwingend erforderlich, da der „elektronische Bundesanzeiger“ lediglich seine Bezeichnung geändert hat. Die Regelung ist auch eindeutig, da es den Bundesanzeiger nur noch in elektronischer Form (und nicht mehr in Papierform) gibt. Eine Anpassung der Satzung an den Gesetzeswortlaut ist aber gleichwohl möglich und regelmäßig auch empfehlenswert. Die Änderung kann dabei vom Aufsichtsrat beschlossen werden, wenn dieser zu Fassungsänderungen ermächtigt worden ist (§ 179 Abs. 1 Satz 2). 7 Als Nachweis der erfolgten Bekanntmachung (z. B. nach § 130 Abs. 3) dient ein Ausdruck aus dem Bundesanzeiger. Darüber hinaus ist auch der Hinweis auf die Internetadresse ausreichend.9) III.

Weitere Gesellschaftsblätter

8 Die Satzung der Gesellschaft kann (neben dem Bundesanzeiger) noch andere Blätter oder elektronische Informationsmedien als Gesellschaftsblätter bezeichnen (vgl. § 25 Satz 2 a. F.). Andere Blätter sind v. a. (in- und ausländische) Tageszeitungen und Zeitschriften aller Art. Mit elektronischen Informationsmedien ist insbesondere die Internetseite der Gesellschaft gemeint (siehe auch § 124a).10) _____________ 5) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 25 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 25 Rz. 3. 6) Änderung durch Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur weiteren Reform des Aktien- und Bilanzrechts, zu Transparenz und Publizität (Transparenz- und Publizitätsgesetz – TransPuG), BGBl. I 2002, 2681. 7) Art. 1 Nr. 8 und Art. 2 Abs. 49 Nr. 3 des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über Verkündung und Bekanntmachungen v. 22.12.2011, BGBl. I 2011, 3044. 8) Bürgers/Körber-Lohse, AktG, § 25 Rz. 3; Hölters-Solveen, AktG, § 25 Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 25 Rz. 3; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 25 Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 25 Rz. 6; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 25 Rz. 5. 9) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 25 Rz. 3; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 25 Rz. 4. 10) Einschränkend h. M. – Bekanntmachungen in einer Fremdsprache nur dann, wenn dies in der Satzung ausdrücklich vorgesehen ist – Hölters-Solveen, AktG, § 25 Rz. 6; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 25 Rz. 4; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 25 Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 25 Rz. 7; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 25 Rz. 11.

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§ 26

Sondervorteile. Gründungsaufwand

Hat die Satzung für die Bekanntmachungen der Gesellschaft (ausnahmsweise) weitere 9 Gesellschaftsblätter bestimmt, müssen alle Bekanntmachungen sowohl im Bundesanzeiger als auch in den weiteren Gesellschaftsblättern erfolgen. Eine Bekanntmachung ist in diesem Fall erst dann ordnungsgemäß erfolgt, wenn alle Veröffentlichungen vollständig erfolgt sind.11) Angesichts des Risikos einer unvollständigen oder nicht fristgerechten Bekanntmachung (siehe §§ 241 Nr. 1, 121 Abs. 4 Satz 1: Nichtigkeit der Beschlüsse der Hauptversammlung) wird in der Praxis von dieser Möglichkeit zu Recht kaum Gebrauch gemacht.12) Freiwillige Veröffentlichungen in anderen Medien sind i. Ü. auch ohne Satzungsregelung stets möglich.13) IV.

Rechtsfolgen

Die Bekanntmachung erfolgt mit dem Einrücken in den Bundesanzeiger (§ 25). Dies setzt 10 voraus, dass die Bekanntmachung auf der Internetseite des Bundesanzeigers eingestellt ist und dort abgerufen werden kann.14) Dieser Tag ist grundsätzlich auch für einen etwaigen Fristbeginn maßgebend, der an die Bekanntmachung geknüpft ist (z. B. bei der Ladung zur Hauptversammlung nach §§ 121 Abs. 4 Satz 1, 123 Abs. 1). Hat die Satzung für Pflichtbekanntmachungen (neben dem Bundesanzeiger) ausnahmsweise jedoch noch weitere Gesellschaftsblätter bestimmt, beginnt die Frist jedoch erst mit der zeitlich letzten Veröffentlichung zu laufen.15) Denn nur dann ist sichergestellt, dass die gesetzlich oder satzungsgemäß vorgesehene Frist den Aktionären auch uneingeschränkt zur Verfügung stand. Ausnahmen bestehen nur dann, wenn das Gesetz für den Fristbeginn nicht auf die Bekanntmachung in den Gesellschaftsblättern, sondern im Bundesanzeiger abstellt (wie dies etwa in §§ 97 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 1 der Fall ist).16) Eine fehlerhafte Bekanntmachung ist nicht wirksam und entfaltet keinerlei Rechtswir- 11 kungen (z. B. keinen Fristbeginn).17) _____________ 11) S. zur GmbH OLG Stuttgart, Beschl. v. 12.11.2010 – 8 W 444/10, ZIP 2011, 84 – Bekanntmachung im elektronischen Bundesanzeiger bei abweichender Satzungsregelung nicht ausreichend. 12) Wegen der damit verbundenen Fehlerquellen von dieser Möglichkeit zu Recht abratend Arnold in: KölnKomm-AktG, § 25 Rz. 7; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 25 Rz. 9; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 25 Rz. 2 und 6. 13) Hölters-Solveen, AktG, § 25 Rz. 7; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 25 Rz. 4. 14) Hölters-Solveen, AktG, § 25 Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 25 Rz. 2. 15) Arnold in: KölnKomm-AktG, § 25 Rz. 14. 16) Weitergehend (u. a. auch für die Fälle der §§ 125 Abs. 1, 126 Abs. 1) Hölters-Solveen, AktG, § 25 Rz. 8; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 25 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 25 Rz. 8. 17) Arnold in: KölnKomm-AktG, § 25 Rz. 15.

§ 26 Sondervorteile. Gründungsaufwand Thomas Wachter

(1) Jeder einem einzelnen Aktionär oder einem Dritten eingeräumte besondere Vorteil muß in der Satzung unter Bezeichnung des Berechtigten festgesetzt werden. (2) Der Gesamtaufwand, der zu Lasten der Gesellschaft an Aktionäre oder an andere Personen als Entschädigung oder als Belohnung für die Gründung oder ihre Vorbereitung gewährt wird, ist in der Satzung gesondert festzusetzen. (3) 1Ohne diese Festsetzung sind die Verträge und die Rechtshandlungen zu ihrer Ausführung der Gesellschaft gegenüber unwirksam. 2Nach der Eintragung der Gesell-

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§ 26

Sondervorteile. Gründungsaufwand

schaft in das Handelsregister kann die Unwirksamkeit nicht durch Satzungsänderung geheilt werden. (4) Die Festsetzungen können erst geändert werden, wenn die Gesellschaft fünf Jahre im Handelsregister eingetragen ist. (5) Die Satzungsbestimmungen über die Festsetzungen können durch Satzungsänderung erst beseitigt werden, wenn die Gesellschaft dreißig Jahre im Handelsregister eingetragen ist und wenn die Rechtsverhältnisse, die den Festsetzungen zugrunde liegen, seit mindestens fünf Jahren abgewickelt sind. Literatur: Elsing, Gründungsaufwand und seine Höchstgrenze? § 5 GmbHG; § 26 AktG, DNotZ 2011, 245; Heinze, Kapitalerhöhungskosten im Aktienrecht, ZIP 2011, 1848.

Übersicht I. Überblick ........................................... 1 II. Sondervorteile (§ 26 Abs. 1) ............ 6 III. Gründungsaufwand (§ 26 Abs. 2) ..................................... 10 IV. Sanktionen ...................................... 17 I.

V. Änderung und Beseitigung der Festsetzungen in der Satzung (§ 26 Abs. 4, Abs. 5) ......................... 22 1. Änderung .......................................... 22 2. Beseitigung ........................................ 24

Überblick

1 Sondervorteile, die einem Aktionär oder einem Dritten im Zusammenhang mit der Gründung der Gesellschaft eingeräumt werden, müssen zwingend in der Satzung der Gesellschaft festgesetzt werden. Entsprechendes gilt auch für den Gründungsaufwand, der zulasten der Gesellschaft an Aktionäre oder Dritte gewährt wird. 2 Die Regelung bezweckt den Schutz von Aktionären und Gläubigern vor nicht erkennbaren Belastungen des Grundkapitals der Gesellschaft.1) Der Schutz erfolgt durch den Zwang zur Offenlegung aller Belastungen in der Satzung und damit auch im Handelsregister. Die damit verbundene Publizität muss mindestens für die Dauer von fünf Jahren nach Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister gewährleistet sein. 3 Jeder einem Aktionär oder einem Dritten eingeräumte besondere Vorteil (Sondervorteil) muss in der Satzung unter Bezeichnung des Berechtigten festgesetzt werden (§ 26 Abs. 1). Ebenso muss der Gesamtaufwand, der zulasten der Gesellschaft an Aktionäre als Entschädigung oder als Belohnung für die Gründung der Gesellschaft gewährt wird (Gründungsaufwand), in der Satzung gesondert festgesetzt werden (§ 26 Abs. 2). Verträge über Sondervorteile und Gründungsaufwand sowie die Rechtshandlungen zu ihrer Ausführung sind ohne diese Festsetzungen in der Satzung der Gesellschaft gegenüber unwirksam (§ 26 Abs. 3 Satz 1). Nach Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister kann die Unwirksamkeit nicht durch Satzungsänderung geheilt werden (§ 26 Abs. 3 Satz 2). Die Satzungsbestimmungen über die Festsetzung können erst nach Ablauf von fünf bzw. dreißig Jahren aufgehoben oder beseitigt werden (§ 26 Abs. 4 und 5). 4 Die Richtigkeit und Vollständigkeit der Festsetzungen über etwaige Sondervorteile und den Gründungsaufwand sind Gegenstand der Gründungsprüfung (§ 34 Abs. 1 Nr. 1). Der Handelsregisteranmeldung sind die Verträge über Sondervorteile sowie eine Berechnung des Gründungsaufwands als Anlagen beizufügen (§ 37 Abs. 4 Nr. 2). Im Rahmen der _____________ 1)

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Hölters-Solveen, AktG, § 26 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 26 Rz. 1; A. Arnold in: KölnKommAktG, § 26 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 26 Rz. 2; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 26 Rz. 3 ff.; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 26 Rz. 1.

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§ 26

Sondervorteile. Gründungsaufwand

Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister unterliegen die Belastungen somit auch der registergerichtlichen Präventivkontrolle (§ 38 Abs. 1). Die Regelung (des § 26 Abs. 1 bis 3, nicht aber auch § 37 Abs. 4 Nr. 2) gilt für die GmbH 5 entsprechend.2) II.

Sondervorteile (§ 26 Abs. 1)

Sondervorteile sind Vorteile jeglicher Art, die einzelnen oder mehreren Aktionären oder 6 Dritten im Zusammenhang mit der Gründung eingeräumt werden (§ 26 Abs. 1 und Abs. 3).3) Die Sondervorteile stehen den jeweiligen Berechtigten persönlich zu und sind keine Mitgliedschaftsrechte (etwa i. S. von § 11 Satz 1 AktG oder § 35 BGB). Sonderrechte können demnach unabhängig von der Aktie übertragen werden (siehe §§ 399, 413 BGB). Nach dem Normzweck – Schutz der Gesellschaft vor Vorbelastungen – sind nur solche Vorteile erfasst, die zumindest auch von der Gesellschaft (und nicht nur von den Aktionären) zu erbringen sind.4) Vertragliche Ansprüche begründen keine Sondervorteile, wenn Leistung und Gegenleistung in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Beispiele für Sondervorteile sind etwa Warenbezugsrechte, Umsatzprovisionen, Vor- 7 rechte am Gewinn oder Liquidationserlös, Erwerbs-, Vorkaufs- und Wiederkaufsrechte, überhöhter Gründungsaufwand (i. S. von § 26 Abs. 2) oder Informationsrechte.5) Kein Sonderrecht in diesem Sinn ist das Recht zur Entsendung von Mitgliedern in den Aufsichtsrat (insoweit ist § 101 Abs. 2 vorrangig).6) Die wirksame Vereinbarung von Sondervorteilen setzt in formeller Hinsicht voraus, 8 dass sie in der Satzung genau und insbesondere auch unter Bezeichnung des Berechtigten festgesetzt werden (§ 26 Abs. 1).7) In materieller Hinsicht dürfen Sondervorteile nicht gegen die zwingenden Vorschriften des Aktienrechts verstoßen (siehe insbesondere §§ 57 Abs. 1 und 2, 84; zu sachwidrigen Vorteilen siehe auch § 243 Abs. 2).8) Verträge, die den Festsetzungen über Sondervorteile zugrunde liegen oder zu ihrer Aus- 9 führung geschlossen werden, müssen der Handelsregisteranmeldung als Anlage beigefügt werden, aber nicht in die Satzung aufgenommen werden.9) Die Wirksamkeit dieser Verträge richtet sich i. Ü. nach den allgemeinen Vorschriften (siehe § 26 Abs. 3 Satz 1). Das Aktienrecht sieht insoweit insbesondere keine besonderen Formvorschriften vor. _____________ 2)

3) 4)

5) 6) 7)

8)

9)

Grundlegend BGH, Beschl. v. 20.2.1989 – II ZB 10/88, BGHZ 107, 1 = ZIP 1989, 448, dazu EWiR 1989, 479 (Hüffer). – Zur analogen Anwendbarkeit von § 26 AktG auf Publikumsgesellschaften OLG Hamm, Urt. v. 4.7.2019 – 22 U 58/16 (Az. d. BGH: II ZR 160/19), DStR 2020, 2747 mit Anm. Matz/ Luers. Hölters-Solveen, AktG, § 26 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 26 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 26 Rz. 4 f. Hölters-Solveen, AktG, § 26 Rz. 3; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 26 Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 26 Rz. 4; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 26 Rz. 9. – A. A. insoweit wohl Hüffer/KochKoch, AktG, § 26 Rz. 2; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 26 Rz. 2 – gleichgültig, ob die Gesellschaft oder die Aktionäre verpflichtet werden. Hölters-Solveen, AktG, § 26 Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 26 Rz. 3 und Rz. 6; K. Schmidt/ Lutter-Seibt, AktG, § 26 Rz. 6. A. A. insoweit Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 26 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 26 Rz. 7. Offengelassen von Hölters-Solveen, AktG, § 26 Rz. 4; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 26 Rz. 3. Bürgers/Körber/Lieder-Lohse, AktG, § 26 Rz. 6; Hölters-Solveen, AktG, § 26 Rz. 6; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 26 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 26 Rz. 10; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 26 Rz. 5. Hölters-Solveen, AktG, § 26 Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 26 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 26 Rz. 8 f.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 26 Rz. 13 ff.; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 26 Rz. 4. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 26 Rz. 10.

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§ 26 III.

Sondervorteile. Gründungsaufwand Gründungsaufwand (§ 26 Abs. 2)

10 Der Gesamtaufwand, der zulasten der Gesellschaft an Aktionäre oder an andere Personen als Entschädigung (Gründungsentschädigung) oder als Belohnung (Gründerlohn) für die Gründung oder ihre Vorbereitung gewährt wird, ist in der Satzung der Gesellschaft gesondert festzusetzen (§ 26 Abs. 2). Der Gründungsaufwand setzt sich aus der Gründungsentschädigung und dem Gründerlohn zusammen. 11 Gründungsentschädigung meint den Ersatz von Aufwendungen und Auslagen, die Aktionären oder Dritten bei Gründung der Gesellschaft in deren Interesse entstanden sind.10) Beispiele dafür sind die Kosten der notariellen Beurkundung, der Eintragung im Handelsregister und der Bekanntmachung, Gebühren von Rechtsanwälten und Steuerberatern, Aufwendungen für einen Gründungsprüfer und etwaige im Zusammenhang mit der Gründung anfallende Steuern (z. B. Grunderwerbsteuer bei der Sacheinlage von Grundstücken oder Grundstücksgesellschaften). Nicht als Gründungsentschädigung anzusehen sind demgegenüber die Kosten der Ingangsetzung des Unternehmens sowie die erste Vergütung des Vorstands11) oder Aufsichtsrats. 12 Gründerlohn ist jede geldwerte Vergütung für die Mitwirkung bei der Gründung der Gesellschaft oder ihrer Vorbereitung. Dazu gehören bspw. Honorare von Unternehmensberatern und Kosten für Bewertungsgutachten. 13 Der von der Gesellschaft zu tragende Gründungsaufwand12) ist in der Satzung festzusetzen (§ 26 Abs. 2).13) Dabei muss der gesamte Gründungsaufwand ziffernmäßig in Euro angegeben werden.14) Die Höhe des Gesamtaufwands ist nicht begrenzt, insbesondere auch nicht auf einen bestimmten Prozentsatz (von etwa 10 %) des Grundkapitals.15) Allerdings müssen die Angaben zum Gründungsaufwand stets zutreffend sein und dem Registergericht ggf. auch nachgewiesen werden können. Überhöhter Gründungsaufwand ist zudem ein Sondervorteil (i. S. von § 26 Abs. 1), der in der Satzung unter Angabe des Berechtigten genau festgesetzt werden muss. 14 Die im Zusammenhang mit der Gründung einer AG kraft Gesetzes anfallenden Kosten und Steuern lassen sich im Allgemeinen anhand von Gesetzen und Gebührentabellen ermitteln. Die bei der Bargründung einer AG mit einem Grundkapital von 50.000 € anfallenden Kosten betragen heute (je nach Einzelfall) regelmäßig unter 1.000 €.16) _____________ 10) Hölters-Solveen, AktG, § 26 Rz. 9; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 26 Rz. 5; Arnold in: KölnKommAktG, § 26 Rz. 20; K. Schmidt/Lutter-Seibt, § 26 Rz. 14; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 26 Rz. 8. 11) BGH, Urt. v. 14.6.2004 – II ZR 47/02, ZIP 2004, 1409, dazu EWiR 2004, 783 (Drygala). 12) Zur Entbehrlichkeit von solchen Festsetzungen, wenn die Gesellschaft keine Gründungskosten übernimmt s. OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 7.4.2010 – 20 W 94/10, ZIP 2010, 1238 – zur GmbH. 13) Zur erstmaligen Übernahme des Gründungsaufwands für die wirtschaftliche Neugründung einer Vorrats-AG durch die Gesellschaft i. R. einer Satzungsänderung s. OLG Stuttgart, Beschl. v. 23.10.2012 – 8 W 218/12, ZIP 2013, 164. 14) Zum GmbH-Recht grundlegend BGH, Beschl. v. 20.2.1989 – II ZB 10/88, BGHZ 107, 1 = ZIP 1989, 448, dazu EWiR 1989, 479 (Hüffer), sowie nachfolgend u. a. OLG Celle, Beschl. v. 11.2.2016 – 9 W 10/16, ZIP 2016, 618 – Angabe der von der GmbH zu tragenden konkreten Gründungskosten in der Satzung; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 25.6.2013 – 3 W 28/13, ZIP 2014, 623 – Angabe des Gründungsaufwands in der Satzung einer GmbH durch Angabe einer prozentualen Obergrenze nicht ausreichend. 15) S. Hölters-Solveen, AktG, § 26 Rz. 11; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 26 Rz. 9. 16) Die Kosten der Beurkundung richten sich nach den gesetzlichen Bestimmungen des Gerichts- und Notarkostengesetzes. – Die genaue Höhe der Kosten ist von einer Vielzahl von Umständen abhängig (u. a. Höhe des Grundkapitals und einem etwaigen genehmigten Kapital, Einpersonen- oder Mehrpersonengründung, Eigen- oder Fremdentwürfe, Erstellung von Beschlüssen und Berichten, Vornahme einer etwaigen Gründungsprüfung, Umfang der Vollzugstätigkeit etc.). Bei dem gesetzlichen Grundkapital von 50.000 € bewegen sich die Kosten im allgemeinen in einer Größenordnung von ca. 500 € bis 1.500 € zuzüglich Auslagen und Umsatzsteuer. – Die Kosten der Eintragung im Handelsregister betragen nach der Handelsregistergebührenverordnung (§ 58 GNotKG) bei einer Bargründung 300 € und bei einer Sachgründung 360 €.

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§ 26

Sondervorteile. Gründungsaufwand

Bei den gesetzlich nicht zwingend vorgeschriebenen Aufwendungen (z. B. Beratungs- 15 honorare und Gutachterkosten) kann es sein, dass diese im Zeitpunkt der Gründung noch nicht genau feststehen. In diesem Fall ist eine Schätzung notwendig und zulässig. Die Schätzung muss aber stets angemessen und nachvollziehbar sein. Noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob neben dem Gesamtaufwand auch die 16 einzelnen Gründungskosten in der Satzung anzugeben sind. Die Rechtsprechung17) bejaht dies und verlangt neben dem Gesamtbetrag auch „die namentliche Nennung der einzelnen Kosten, aus denen sich der Gründungsaufwand zusammensetzt“. Richtigerweise ist die Angabe der einzelnen Gründungskosten aber nicht erforderlich.18) Dafür spricht schon der Gesetzeswortlaut, der lediglich die Festsetzung des „Gesamtaufwands“ verlangt (§ 26 Abs. 2). Eine genaue Berechnung des Gründungsaufwands (samt Aufführung von Art, Höhe und Empfänger der einzelnen Vergütungen) ist der Handelsregisteranmeldung als Anlage beizufügen (§ 37 Abs. 4 Nr. 2 Halbs. 2), nicht aber in die Satzung aufzunehmen. Schließlich spricht auch der Normzweck gegen die Notwendigkeit der Angabe der einzelnen Gründungskosten in der Satzung. Für Gläubiger und Aktionäre kommt es entscheidend darauf an, ob und ggf. in welcher Höhe das Grundkapital der Gesellschaft durch den Gründungsaufwand vorbelastet ist; die konkrete Zusammensetzung des Aufwands ist dagegen ohne Bedeutung. In der Praxis sollten die einzelnen Gründungskosten neben dem Gründungsaufwand gleichwohl vorsorglich in die Satzung mit aufgenommen werden. Die Angabe der einzelnen Gründungskosten ohne den Gesamtaufwand ist unstreitig nicht ausreichend. IV.

Sanktionen

Die unrichtige Festsetzung von Sondervorteilen oder Gründungsaufwand in der Satzung 17 stellt einen Errichtungsmangel dar und begründet ein Eintragungshindernis (§ 38 Abs. 1). Erlässt das Registergericht eine Zwischenverfügung, kann der Mangel nur durch einen einstimmigen und notariell beurkundeten Beschluss mit Zustimmung aller Gründer behoben werden. Die Gründer (§ 46) und Vergütungsempfänger (§ 47 Nr. 1) haften der Gesellschaft für 18 etwaige Schäden persönlich und gesamtschuldnerisch. Bei vorsätzlichem Handeln können Gründer und Organmitglieder auch strafbar sein (§ 399 Abs. 1 Nr. 1 und 2). Die (schuldrechtlichen und dinglichen)19) Verträge und die Rechtshandlungen zu ihrer Aus- 19 führung sind der Gesellschaft gegenüber (nicht auch gegenüber den Gründern oder Dritten) unwirksam, wenn die Festsetzungen in der Satzung nicht ordnungsgemäß erfolgt sind (§ 26 Abs. 3 Satz 1).20) Die Gesellschaft darf demnach keine Leistungen erbringen und muss bereits erbrachte Leistungen zurückfordern. Die Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister (trotz § 38 Abs. 1) heilt die Unwirk- 20 samkeit nicht. Nach Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister ist eine Heilung selbst durch einen einstimmigen Beschluss über eine Satzungsänderung nicht mehr möglich (§ 26 Abs. 3 Satz 2).21) _____________ 17) BGH, Urt. v. 29.9.1997 – II ZR 245/96, NJW 1998, 233 – zur GmbH. 18) Zutreffend Bürgers/Körber/Lieder-Lohse, AktG, § 26 Rz. 9; Hölters-Solveen, AktG, § 26 Rz. 12; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 26 Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Seibt, § 26 Rz. 16; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 26 Rz. 9. 19) A. A. in Bezug auf dingliche Rechtsgeschäfte Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 26 Rz. 11 – unter Hinweis auf das Abstraktionsprinzip. 20) Hölters-Solveen, AktG, § 26 Rz. 15; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 26 Rz. 30 ff.; K. Schmidt/LutterSeibt, AktG, § 26 Rz. 19. 21) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 26 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 26 Rz. 20.

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§ 27

Sacheinlagen. Sachübernahmen; Rückzahlung von Einlagen

21 Steuerrechtlich liegt eine verdeckte Gewinnausschüttung vor, wenn die Gesellschaft Gründungskosten übernimmt, die mangels ordnungsgemäßer Festsetzung in der Satzung zivilrechtlich von den Gründern zu tragen sind.22) V.

Änderung und Beseitigung der Festsetzungen in der Satzung (§ 26 Abs. 4, Abs. 5)

1.

Änderung

22 Die Festsetzungen in der Satzung über Sondervorteile und den Gründungsaufwand können erst fünf Jahre nach Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister geändert werden (§ 26 Abs. 4). Die Sperrfrist ist zwingend und gilt auch im Falle einer vollständigen Neufassung der Satzung. Die Fünf-Jahres-Frist entspricht der Verjährungsfrist für Schadensersatzansprüche gegen Gründer und Vergütungsempfänger (§§ 46, 47 Nr. 1, 51). 23 Vor Ablauf der fünfjährigen Sperrfrist ist keinerlei Änderung der entsprechenden Satzungsbestimmung möglich (§ 26 Abs. 4). Aber auch nach Ablauf der fünfjährigen Sperrfrist sind (über den Gesetzeswortlaut von § 26 Abs. 4 hinaus) nur Änderungen zugunsten der Gesellschaft (und auch nur mit Zustimmung des von der Änderung betroffenen Gläubiger) möglich. Änderungen zulasten der Gesellschaft bleiben dagegen unwirksam, da auch die entsprechenden Verträge und Rechtshandlungen dauerhaft unwirksam sind und bleiben (§ 26 Abs. 3 Satz 2).23) Etwaige Beschlüsse wären aufgrund Verstoßes gegen eine gläubigerschützende Vorschrift nichtig (§ 241 Nr. 3). 2.

Beseitigung

24 Die Festsetzungen in der Satzung über Sondervorteile und den Gründungsaufwand können erst dann beseitigt werden, wenn die Gesellschaft dreißig Jahre im Handelsregister eingetragen ist und die Rechtsverhältnisse, die den Festsetzungen zugrunde liegen, seit mindestens fünf Jahren abgewickelt sind (§ 26 Abs. 5).24) Beseitigung meint im Gegensatz zur Änderung (§ 26 Abs. 4) die vollständige Streichung einer Satzungsbestimmung, die gegenstandslos geworden ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die entsprechenden Rechte der Gläubiger durch Erfüllung vollständig erloschen sind (§ 362 BGB). Der Abschluss eines Erlassvertrages (§ 397 BGB) ist im vorliegenden Zusammenhang nicht als Erfüllung, sondern als eine Änderung (i. S. von § 26 Abs. 4) anzusehen.25) Die Frist von dreißig Jahren ist historisch bedingt und heute überholt. _____________ 22) BFH, Urt. v. 11.2.1997 – I R 42/96, DStRE 1997, 595; BFH, Urt. v. 11.10.1989 – I R 12/87, BStBl. II 1990, 89. 23) Hölters-Solveen, AktG, § 26 Rz. 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 26 Rz. 9; Arnold in: KölnKommAktG, § 26 Rz. 36; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 26 Rz. 22; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 26 Rz. 14. 24) Zur analogen Anwendung von § 26 Abs. 5 AktG im GmbH-Recht s. OLG Oldenburg, Beschl. v. 22.8.2016 – 12 W 121/16, ZIP 2016, 2118; OLG Celle, Beschl. v. 2.2.2018 – 9 W 15/18, ZIP 2018, 583. 25) Hölters-Solveen, AktG, § 26 Rz. 18; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 26 Rz. 10; Arnold in: KölnKommAktG, § 26 Rz. 40; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 26 Rz. 23; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 26 Rz. 16.

§ 27 Sacheinlagen. Sachübernahmen; Rückzahlung von Einlagen Thomas Wachter

(1) 1Sollen Aktionäre Einlagen machen, die nicht durch Einzahlung des Ausgabebetrags der Aktien zu leisten sind (Sacheinlagen), oder soll die Gesellschaft vorhandene oder herzustellende Anlagen oder andere Vermögensgegenstände übernehmen (Sach-

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Sacheinlagen. Sachübernahmen; Rückzahlung von Einlagen

§ 27

übernahmen), so müssen in der Satzung festgesetzt werden der Gegenstand der Sacheinlage oder der Sachübernahme, die Person, von der die Gesellschaft den Gegenstand erwirbt, und der Nennbetrag, bei Stückaktien die Zahl der bei der Sacheinlage zu gewährenden Aktien oder die bei der Sachübernahme zu gewährende Vergütung. 2Soll die Gesellschaft einen Vermögensgegenstand übernehmen, für den eine Vergütung gewährt wird, die auf die Einlage eines Aktionärs angerechnet werden soll, so gilt dies als Sacheinlage. (2) Sacheinlagen oder Sachübernahmen können nur Vermögensgegenstände sein, deren wirtschaftlicher Wert feststellbar ist; Verpflichtungen zu Dienstleistungen können nicht Sacheinlagen oder Sachübernahmen sein. (3) 1Ist eine Geldeinlage eines Aktionärs bei wirtschaftlicher Betrachtung und auf Grund einer im Zusammenhang mit der Übernahme der Geldeinlage getroffenen Abrede vollständig oder teilweise als Sacheinlage zu bewerten (verdeckte Sacheinlage), so befreit dies den Aktionär nicht von seiner Einlageverpflichtung. 2Jedoch sind die Verträge über die Sacheinlage und die Rechtshandlungen zu ihrer Ausführung nicht unwirksam. 3Auf die fortbestehende Geldeinlagepflicht des Aktionärs wird der Wert des Vermögensgegenstandes im Zeitpunkt der Anmeldung der Gesellschaft zur Eintragung in das Handelsregister oder im Zeitpunkt seiner Überlassung an die Gesellschaft, falls diese später erfolgt, angerechnet. 4Die Anrechnung erfolgt nicht vor Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister. 5Die Beweislast für die Werthaltigkeit des Vermögensgegenstandes trägt der Aktionär. (4) 1Ist vor der Einlage eine Leistung an den Aktionär vereinbart worden, die wirtschaftlich einer Rückzahlung der Einlage entspricht und die nicht als verdeckte Sacheinlage im Sinne von Absatz 3 zu beurteilen ist, so befreit dies den Aktionär von seiner Einlageverpflichtung nur dann, wenn die Leistung durch einen vollwertigen Rückgewähranspruch gedeckt ist, der jederzeit fällig ist oder durch fristlose Kündigung durch die Gesellschaft fällig werden kann. 2Eine solche Leistung oder die Vereinbarung einer solchen Leistung ist in der Anmeldung nach § 37 anzugeben. (5) Für die Änderung rechtswirksam getroffener Festsetzungen gilt § 26 Abs. 4, für die Beseitigung der Satzungsbestimmungen § 26 Abs. 5. Literatur: Altmeppen, Die verworrene Rechtslage der verdeckten Sacheinlage und ihre Folgen, in: Festschrift für Ulrich Seibert, 2019, S. 1 ff.; Altmeppen, Zur Haftung der Organwalter einer AG bei untauglicher Sacheinlage, in: Festschrift für Michael Hoffmann-Becking, 2013, S. 1; Binder, Mittelbare Einbringung eigener Aktien als Sacheinlage und Informationsgrundlagen von Finanzierungsentscheidungen in Vorstand und Aufsichtsrat, ZGR 2012, 757; Böffel, Russisch Roulette im Aktienrecht – die Erschwernisse von Kapitalmaßnahmen im physischen Cash Pool, ZIP 2018, 1031; Cavin, Mischeinlagen: Umfang der Geldeinzahlung vor der Anmeldung, NZG 2016, 734; Fischer, Querbezüge des MoMiG zum Unternehmenssteuerrecht, Ubg. 2008, 684; Fuhrmann, Steuerliche Aspekte des MoMiG, RNotZ 2010, 188; Fuhrmann/Demuth, Verdeckte Sacheinlagen in die GmbH im Zivil- und Steuerrecht, KÖSDI 2009, 16562; Habersack/ Weber, Die Einlageforderung als Gegenstand von Aufrechnung, Abtretung, Verpfändung und Pfändung, ZGR 2014, 509; Hein/Suchan/Geeb, MoMiG auf der Schnittstelle von Gesellschaftsund. Steuerrecht, DStR 2008, 2289; Hoffmann-Becking, Fehlerhafte offene Sacheinlage versus verdeckte Sacheinlage, in: Liber Amicorum für Martin Winter, 2011, S. 237; Junker/Biederbick, Die Unabhängigkeit des Unternehmensjuristen – Dürfen Organmitglieder auf den Rat der Rechtsabteilung hören?, AG 2012, 898; Kiefner/Krämer, Geschäftsleiterhaftung nach ISION und das Vertrauendürfen auf Rechtsrat – Plädoyer für eine Anwendung der Rechtsprechungsgrundsätze mit Augenmaß, AG 2012, 498; Kleindiek, Verdeckte (gemischte) Sacheinlage nach MoMiG: Rückwirkende Neuregelung und Wertanrechnung, ZGR 2011, 334; Lubberich, Verdeckte

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§ 27

Sacheinlagen. Sachübernahmen; Rückzahlung von Einlagen

Sacheinlage und fehlende schuldtilgende Leistung bei Voreinzahlung auf Kapitalerhöhung, Anrechnungslösung, DNotZ 2016, 811; Lutter, Verdeckte Sachleistungen und Kapitalschutz, in: Festschrift für Ernst C. Stiefel, 1987, S. 505; Maier-Reimer, Die verdeckte gemischte und die verdeckt gemischte Sacheinlage, in: Festschrift für Michael Hoffmann-Becking, 2013, S. 755; Maul, Die mit Einlagen und Darlehen ausgestattete Vor-AG, NZG 2014, 251; Merkt/Mylich, Einlage eigener Aktien und Rechtsrat durch den Aufsichtsrat, NZG 2012, 525; Müller, Gibt es einen Grundsatz der nominalen Kapitalaufbringung?, in: Festschrift für Michael HoffmannBecking, 2013, S. 835; Sammet, Die notwendige Einlageleistung auf eine „Mischeinlage“, NZG 2016, 344; Selter, Haftungsrisiken von Vorstandsmitgliedern bei fehlendem und von Aufsichtsratsmitgliedern bei vorhandenem Fachwissen, AG 2012, 11; Verse, (Gemischte) Sacheinlagen, Differenzhaftung und Vergleich über Einlageforderungen, ZGR 2012, 875; Wagner, Die Rolle der Rechtsabteilung bei fehlenden Rechtskenntnissen der Mitglieder von Vorstand und Geschäftsführung, BB 2012, 651; Weng, Aktienrechtliche Differenzhaftung bei Sacheinlagen, DStR 2012, 862; Wicke, Eilige Kapitalerhöhungen, DStR 2016, 1115; Wieneke, Die Festsetzung des Gegenstands der Sacheinlage nach §§ 27, 183 AktG, AG 2013, 437; Wieneke, Die Differenzhaftung des Inferenten und die Zulässigkeit eines Vergleichs über ihre Höhe, NZG 2012, 136.

Übersicht I. Überblick ........................................... 1 II. Sacheinlagen und -übernahmen (§ 27 Abs. 1, Abs. 2) .......................... 4 1. Sacheinlagen ....................................... 4 a) Begriff der Sacheinlage ................ 4 b) Sacheinlagefähigkeit (§ 27 Abs. 2) ................................ 5 c) Vereinbarung einer Sacheinlage ... 12 d) Bewertung von Sacheinlagen .... 15 2. Sachübernahmen .............................. 19 a) Begriff der Sachübernahme ....... 19 b) Vereinbarung einer Sachübernahme ......................................... 24 3. Gemischte Sacheinlagen .................. 25 4. Mischeinlagen .................................. 26 III. Festsetzung der Sacheinlagen bzw. Sachübernahmen in der Satzung (§ 27 Abs. 1, Abs. 5) ......... 27 1. Ordnungsgemäße Festsetzung in der Satzung (§ 27 Abs. 1) ................ 27 I.

2. Rechtsfolgen einer fehlerhaften Festsetzung ....................................... 31 3. Änderung und Beseitigung der Festsetzungen in der Satzung (§ 27 Abs. 5) ..................................... 33 IV. Verdeckte Sacheinlagen (§ 27 Abs. 3) ..................................... 35 1. Einführung ........................................ 35 2. Tatbestand der verdeckten Sacheinlage ........................................ 39 3. Rechtsfolgen der verdeckten Sacheinlage ........................................ 46 V. Hin- und Herzahlen (§ 27 Abs. 4) ............................................... 51 1. Einführung ........................................ 51 2. Tatbestand des Hin- und Herzahlens ........................................ 54 3. Rechtsfolge des Hin- und Herzahlens ........................................ 63 VI. Cash Pooling .................................... 70

Überblick

1 Die Gründer haben ihre Einlagen im Regelfall als Bareinlagen zu erbringen (siehe § 54 Abs. 2). Sacheinlagen (und Sachübernahmen) sind wegen der damit verbundenen Gefahren für die Kapitalaufbringung nur ausnahmsweise zulässig. Aus Gründen der Transparenz und der Werthaltigkeitskontrolle müssen Sacheinlagen in der Satzung ausdrücklich offengelegt („festgesetzt“) werden (§ 27 Abs. 1).1) Bei Gründungen mit Sacheinlagen ist regelmäßig eine zusätzliche Prüfung durch einen externen Gründungsprüfer erforderlich (siehe §§ 33 Abs. 1 Nr. 4, 33a). Die Gründungsprüfung soll insbesondere sicherstellen, _____________ 1)

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Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 27 Rz. 1; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 27 Rz. 4 ff.; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 3 f.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 27 Rz. 4 ff.; Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 2 ff.

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Sacheinlagen. Sachübernahmen; Rückzahlung von Einlagen

§ 27

dass der Wert der Sacheinlagen auch den geringsten Ausgabebetrag der dafür zu gewährenden Aktien erreicht (siehe §§ 34 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, 36a Abs. 2, 38 Abs. 2 Satz 2). Die präventive Registerkontrolle bezieht sich auch und gerade auf den Wert der Sacheinlagen, um die Kapitalaufbringung zu gewährleisten (§ 38 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2). Zweck der Vorschrift ist somit vor allem der Schutz der Gläubiger und der Aktionäre vor einer unzureichenden Kapitalaufbringung. Eine Sachgründung kann sowohl mit Sacheinlagen als auch durch Sachübernahmen erfolgen. 2 Das Gesetz definiert Sacheinlagen als Einlagen, die nicht durch Einzahlung in Geld zu leisten sind (§ 27 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1). Demgegenüber handelt es sich bei Sachübernahmen um die Übernahme von Vermögensgegenständen gegen eine Vergütung, die nicht in Aktien besteht (§ 27 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2). Beide Begriffsbestimmungen gelten für das gesamte Aktienrecht (siehe etwa §§ 32 Abs. 2, 33 Abs. 2 Nr. 4, 33a Abs. 1, 34 Abs. 1 Nr. 2, 36a Abs. 2, 37a Abs. 1, 38 Abs. 2 Satz 2, 54 Abs. 2, 183). Sacheinlagen und Sachübernahmen müssen in der Satzung festgesetzt werden (§ 27 Abs. 1 Satz 1). Als Sacheinlagen oder Sachübernahmen kommen nur Vermögensgegenstände in Betracht, deren wirtschaftlicher Wert feststellbar ist (§ 27 Abs. 2 Halbs. 1). Verpflichtungen zu Dienstleistungen können nicht Gegenstand einer Sacheinlage oder Sachübernahme sein (§ 27 Abs. 2 Halbs. 2). Verdeckte Sacheinlagen haben keine Erfüllungswirkung. Allerdings kann der Wert der Sache nach Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister auf die Bareinlageverpflichtung unter bestimmten Voraussetzungen angerechnet werden (§ 27 Abs. 3). Eine Bareinlage kann trotz Hin- und Herzahlen Erfüllungswirkung haben, wenn der Rückgewähranspruch vollwertig und fällig ist und dies alles gegenüber dem Handelsregister offengelegt wird (§ 27 Abs. 4). Wirksame Festsetzungen von Sacheinlagen und Sachübernahmen in der Satzung können nach Eintragung der Gesellschaft nur eingeschränkt geändert bzw. beseitigt werden (§ 27 Abs. 5). Die Regelungen über die verdeckte Sacheinlage (§ 27 Abs. 3) und das Hin- und Herzahlen (§ 27 Abs. 4) gelten bei Kapitalerhöhungen entsprechend (§§ 183 Abs. 2, 194 Abs. 2, 205 Abs. 3). Die Vorschrift wurde zuletzt durch das ARUG2) erheblich geändert. Dabei wurden ins- 3 besondere die Bestimmungen über die verdeckte Sacheinlage (§ 27 Abs. 3 n. F.) und das Hin- und Herzahlen (§ 27 Abs. 4 n. F.) neu in das Gesetz eingefügt. Die beiden Regelungen entsprechen nahezu wörtlich den entsprechenden Vorschriften des GmbH-Gesetzes, die dort i. R. des MoMiG3) eingefügt worden waren (§ 19 Abs. 4 und 5 GmbHG). Der Gesetzgeber ging davon aus, dass die Neuregelung im GmbH-Recht von Praxis und Wissenschaft überwiegend gut aufgenommen worden ist und hat diese daher im Wesentlichen unverändert auch in das Recht der AG übertragen.4) Beide Regelungen sollten daher grundsätzlich auch einheitlich ausgelegt werden. Allerdings sind im Aktienrecht (im Unterschied zum GmbH-Recht) weiterhin die Vorgaben der EU-Kapitalrichtlinie5) und die Vorschriften zur Nachgründung (§ 52) zu beachten. _____________ 2) 3)

4)

5)

Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG), BGBl. I 2009, 2479. S. dazu Beschlussempfehlung und Bericht d. RA, BT-Drucks. 16/13098, S. 36 ff. Art. 1 Nr. 17 des Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG), BGBl. I 2008, 2026. S. dazu Beschlussempfehlung und Bericht d. RA, BT-Drucks. 16/ 9737, S. 55 f., und Begr. RegE, BT-Drucks. 16/6140, S. 39 ff. Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. ARUG, BT-Drucks. 16/13098, S. 36. Kritisch dazu u. a. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 27 Rz. 24 und 34; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 1, 54 ff. und Rz. 92. In der Neuregelung zur verdeckten Sacheinlage (s. etwa Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 27 Rz. 24 und Rz. 34. A. A. Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 40; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 27 Rz. 86 ff.; K. Schmidt/ Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 57 ff.) und zum Hin- und Herzahlen (s. etwa Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 54 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 27 Rz. 39 und 45; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 93 ff.; a. A. Arnold in: KölnKomm-AktG, § 27 Rz. 133 ff.) wird teilweise ein Verstoß gegen die EU-Kapitalrichtlinie gesehen.

Thomas Wachter

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§ 27 II.

Sacheinlagen. Sachübernahmen; Rückzahlung von Einlagen Sacheinlagen und -übernahmen (§ 27 Abs. 1, Abs. 2)

1.

Sacheinlagen

a)

Begriff der Sacheinlage

4 Das AktG kennt Bar- und Sacheinlagen (siehe § 36a). Bei Bareinlagen muss der eingeforderte Betrag in gesetzlichen Zahlungsmitteln oder durch Gutschrift auf einem Konto geleistet werden (siehe §§ 36 Abs. 2, 54 Abs. 3, 37 Abs. 1). Sacheinlagen sind demgegenüber alle Einlagen, die nicht durch Einzahlung des Ausgabebetrags der Aktien zu leisten sind (§ 27 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1).6) Entscheidend ist somit, dass die Einlage nicht in Geld erfolgt. Nebenleistungen (§ 55) sind keine Sacheinlagen, weil sie nicht auf die Aktien geleistet werden. b)

Sacheinlagefähigkeit (§ 27 Abs. 2)

5 Sacheinlagen können nur solche Vermögensgegenstände sein, deren wirtschaftlicher Wert feststellbar ist (§ 27 Abs. 2 Halbs. 1). Verpflichtungen zu Dienstleistungen können nicht Sacheinlagen sein (§ 27 Abs. 2 Halbs. 2). 6 Gegenstand einer Sacheinlage können somit nicht nur Sachen (siehe § 90 BGB: körperliche Gegenstände), sondern alle Vermögensgegenstände (z. B. auch Forderungen und Rechte) sein. Voraussetzung der Sacheinlagefähigkeit ist aber stets, dass ein wirtschaftlicher Wert des Vermögensgegenstands feststellbar ist (siehe auch §§ 252 ff. HGB). Dies ist unstreitig bei allen Vermögensgegenständen der Fall, die bilanziert werden können. Darüber hinaus kommen auch nicht bilanzierungsfähige Vermögensgegenstände (siehe § 248 HGB) als Sacheinlage in Betracht, wenn ihr Wert in Geld feststellbar ist.7) 7 Die Sacheinlage muss endgültig zur freien Verfügung des Vorstands geleistet werden (siehe §§ 36 Abs. 2, 36a Abs. 2). Dies setzt voraus, dass die Sacheinlage übertragbar ist. 8 Beispiele für sacheinlagefähige Vermögensgegenstände8) sind danach das Eigentum an beweglichen und unbeweglichen Sachen, grundstücksgleiche Rechte (z. B. Wohnungs- und Teileigentum, Erbbaurecht), beschränkt dingliche Rechte an Sachen (z. B. Dienstbarkeiten, Nießbrauchsrechte, siehe aber §§ 1059 ff. BGB), Grundpfandrechte (z. B. Grundschulden), Anteile an Personen- und Kapitalgesellschaften (nicht aber eigene Aktien der Gesellschaft)9), stille Beteiligungen,10) Mitgliedschaftsrechte (siehe aber § 38 BGB für die Mitgliedschaft im Verein), Immaterialgüterrechte (z. B. Patent-, Marken-, Gebrauchs- und Geschmacksmuster, Urheber- und Verlagsrechte sowie entsprechende Lizenzrechte, siehe aber § 29 UrhG) und Sachgesamtheiten (z. B. Unternehmen).

_____________ 6) Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 6; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 27 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 6; Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 7. 7) Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 7; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 27 Rz. 13 ff.; Arnold in: KölnKommAktG, § 27 Rz. 42 ff.; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 10 ff.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 27 Rz. 18 ff.; Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 10 ff. 8) S. die umfangreichen Übersichten bei Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 13 ff.; Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 15 ff. 9) Zur Untauglichkeit eigener Aktien als mittelbarer Einlagegenstand bei einer Kombination von Wertpapierleihe und Sachkapitalerhöhung s. BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09 (ISION), ZIP 2011, 2097, dazu EWiR 2011, 793 (E. Vetter). Ausführlich zum Ganzen u. a. Altmeppen in: FS HoffmannBecking, S. 1 ff.; Binder, ZGR 2012, 757; Junker/Biederbick, AG 2012, 898; Kiefner/Krämer, AG 2012, 498; Merkt/Mylich, NZG 2012, 525; Selter, AG 2012, 11; Wagner, BB 2012, 651. 10) Grundlegend dazu (im Zusammenhang mit der Sachkapitalerhöhung bei einer GmbH) BGH, Urt. v. 3.11.2015 – II ZR 13/14, ZIP 2015, 2315, dazu EWiR 2016, 5 (Lieder). Ausführlich dazu Bieder, NZG 2016, 538; K. Schmidt, NZG 2016, 4.

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Sacheinlagen. Sachübernahmen; Rückzahlung von Einlagen

§ 27

Gegenstand einer Sacheinlage können auch Forderungen gegen Dritte sein, wenn sie 9 übertragbar sind (siehe § 399 BGB) und ihnen ein Vermögenswert zukommt. Forderungen gegen den Inferenten selbst sind dagegen (vorbehaltlich § 27 Abs. 4) nicht sacheinlagefähig, weil es dabei lediglich zu einem Austausch von Forderungen und nicht zu einer realen Kapitalaufbringung käme.11) Forderungen gegen die (Vor-)Gesellschaft (z. B. Erstattungsanspruch wegen verauslagter Gründungskosten oder übernommener Schulden der Gesellschaft) können als Sacheinlage (nicht auch als Bareinlage) in die Gesellschaft eingebracht werden.12) Diese erlöschen dann durch Konfusion bzw. Erlassvertrag. Obligatorische Nutzungsrechte (z. B. an einem Grundstück) können Gegenstand einer 10 Sacheinlage sein, wenn die Dauer des Nutzungsrechts feststeht,13) die Gesellschaft den Besitz an dem Gegenstand erlangt und das Nutzungsrecht nicht einseitig nach Belieben entzogen werden kann (z. B. auch nicht durch Insolvenz oder Zwangsvollstreckungsmaßnahmen).14) Dagegen kommt es für die Sacheinlagefähigkeit nicht darauf an, ob sich das Nutzungsrecht gegen den Inferenten oder einen Dritten richtet. Nicht Gegenstand einer Sacheinlage können Verpflichtungen zu Dienstleistungen sein 11 (§ 27 Abs. 2 Halbs. 2).15) Dies gilt unabhängig davon, ob die Dienstleistung von einem Dritten oder dem Inferenten geschuldet wird. Der Grund dafür, dass Dienstleistungen als Sacheinlagen ausscheiden, besteht vor allem darin, dass ihre zwangsweise Durchsetzung schwierig ist (siehe §§ 887, 888 Abs. 3 ZPO) und damit die reale Kapitalaufbringung gefährdet wäre.16) c)

Vereinbarung einer Sacheinlage

Die wirksame Vereinbarung einer Sacheinlage setzt zunächst voraus, dass die Sacheinlage 12 in der Satzung ordnungsgemäß festgesetzt wird (§ 27 Abs. 1 Satz 1). Daneben wird regelmäßig eine schuldrechtliche Sacheinlagevereinbarung geschlossen, 13 in der sich der Inferent verpflichtet, die vereinbarte Sacheinlage in die Gesellschaft einzubringen (siehe § 37 Abs. 4 Nr. 2 Halbs. 1: Verträge, die den Festsetzungen zugrunde liegen).17) Dabei handelt es sich nicht nur um einen schuldrechtlichen Vertrag, sondern _____________ 11) Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 9; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 27 Rz. 59 ff.; K. Schmidt/LutterBayer, AktG, § 27 Rz. 15; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 27 Rz. 26; Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 26. – Zur Einbringung von Gewinnausschüttungsansprüchen im Wege der verdeckten Sacheinlage bei der Kapitalerhöhung einer KGaA s. OLG Dresden, Urt. v. 12.1.2017 – 8 U 322/16, ZIP 2017, 2355. 12) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 27 Rz. 18; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 27 Rz. 54 ff.; K. Schmidt/ Lutter-Bayer, § 27 Rz. 16; Pentz in: MünchKomm-AktG, AktG, § 27 Rz. 29; Spindler/Stilz-Heidinger/ Benz, AktG, § 27 Rz. 24. 13) Der BGH stellt allein darauf ab, dass die Nutzungsdauer in Form einer festen Laufzeit oder als konkret bestimmte Mindestdauer feststeht. Zum Aktienrecht s. BGH, Urt. v. 15.5.2000 – II ZR 359/98, BGHZ 144, 290 = ZIP 2000, 1162, dazu EWiR 2000, 941 (Hirte) – zur Sacheinlage von obligatorischen Nutzungsrechten, deren Gegenstand die Verwertung der Namen und Logos von Sportvereinen ist. Zum GmbH-Recht BGH, Urt. v. 14.6.2004 – II ZR 121/02, ZIP 2004, 1642 – zur Sacheinlage eines obligatorischen Nutzungsrechts in Form eines Unterpachtvertrages. 14) Ähnlich Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 9; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 27 Rz. 19; K. Schmidt/LutterBayer, § 27 Rz. 17; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 27 Rz. 31; Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 33. 15) Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 9; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 18. Weitergehend für Dienstleistungen von Dritten Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 30 ff. 16) Grundlegend BGH, Urt. v. 1.2.2010 – II ZR 173/08 (Eurobike), BGHZ 184, 158 = ZIP 2010, 423, dazu EWiR 2010, 169 (Lieder); BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 120/07 (Qivive), BGHZ 180, 38 = ZIP 2009, 713, dazu EWiR 2009, 443 (Schodder). 17) Dazu Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 10; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 27 Rz. 4; K. Schmidt/LutterBayer, AktG, § 27 Rz. 7 ff.

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§ 27

Sacheinlagen. Sachübernahmen; Rückzahlung von Einlagen

zugleich auch um einen materiellen Bestandteil der Satzung der Gesellschaft (siehe § 23 Abs. 2).18) Etwaige Formvorschriften für die Verpflichtung zur Übertragung einer Sache (z. B. § 311b Abs. 1 BGB, § 15 Abs. 4 GmbHG) werden aufgrund der notariellen Feststellung der Satzung (§ 23 Abs. 1) gewahrt. Bei etwaigen Mängeln und Leistungsstörungen werden die allgemeinen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs durch die Grundsätze der ordnungsgemäßen Kapitalaufbringung überlagert.19) Im Zweifel muss der Inferent daher eine Bareinlage in entsprechender Höhe erbringen. 14 Schließlich bedarf es zur Erfüllung der Sacheinlageverpflichtung noch eines Vollzugsgeschäfts, das in der Praxis meist als Einbringungsvertrag bezeichnet wird (siehe § 37 Abs. 4 Nr. 2 Halbs. 1: Verträge, die zu ihrer Ausführung geschlossen worden sind). Die dingliche Übertragung der Sacheinlage auf die Gesellschaft richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechts (z. B. §§ 929 ff. BGB für bewegliche Sachen, §§ 873, 925 BGB für Grundstücke, §§ 398 ff., 413 BGB für Forderungen und Rechte, § 15 Abs. 3 GmbHG für GmbH-Geschäftsanteile, § 68 für vinkulierte Namensaktien). Das Vollzugsgeschäft kann bereits in die notarielle Gründungsurkunde aufgenommen werden oder später gesondert zwischen der (Vor-)Gesellschaft, vertreten durch den Vorstand und dem Inferenten abgeschlossen werden (zur umstrittenen Frage der Fälligkeit von Sacheinlagen siehe § 36a Rz. 8 ff.). d)

Bewertung von Sacheinlagen

15 Der Wert der Sacheinlage muss dem geringsten Ausgabebetrag (§ 9 Abs. 1) und bei Ausgabe der Aktien zu einem höheren Betrag auch dem Betrag entsprechen (§ 36a Abs. 2 Satz 3). Das Verbot der Unterpariemission gilt somit auch für Sacheinlagen. 16 Die Bewertung jeder Sacheinlage hat nach allgemein anerkannten Vorschriften (z. B. Grundsätze des Instituts der Wirtschaftsprüfer e. V., Düsseldorf für die Bewertung von Unternehmen) zu erfolgen.20) Der Wert ist anhand objektiver Kriterien zu ermitteln.21) Maßgebend ist der tatsächliche Verkehrswert. Wertbestimmungen des Inferenten sind nicht maßgebend. Bewertungsstichtag ist der Tag der Anmeldung der Gesellschaft zur Eintragung in das Handelsregister (§ 9 Abs. 1 Satz 1 GmbHG analog).22) 17 Eine Überbewertung von Sacheinlagen ist unzulässig. Die Überbewertung begründet, sofern sie nicht nur unwesentlich ist, ein Eintragungshindernis (§ 38 Abs. 2 Satz 2). Eine Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister ist nur dann möglich, wenn der Inferent die Wertdifferenz in Form einer Bareinlage aufbringt.23) Die Gesellschaft hat gegen den Inferenten einen verschuldensunabhängigen Anspruch auf baren Wertausgleich (§ 9 Abs. 1 GmbHG analog). Durch die Bareinlage wird die Sacheinlageverpflichtung dann insoweit erfüllt, als die Sacheinlage nicht werthaltig ist. Die Differenzhaftung sichert die ordnungs_____________ 18) S. BGH, Urt. v. 12.3.2007 – II ZR 302/05, BGHZ 171, 293 = ZIP 2007, 1104 – Vereinbarung einer Sacheinlage als körperschaftliches Hilfsgeschäft. 19) Ausführlich dazu Arnold in: KölnKomm-AktG, § 27 Rz. 16 ff.; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 44 ff.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 27 Rz. 47 ff.; Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 82 ff. 20) Zur Bewertung einzelner Vermögensgegenstände s. Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 11; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 27 Rz. 69 ff.; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 20; Pentz in: MünchKommAktG, § 27 Rz. 37; Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 35 ff. 21) K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 19. 22) Arnold in: KölnKomm-AktG, § 27 Rz. 67; K. Schmidt/Lutter-Bayer, § 27 Rz. 21; Pentz in: MünchKommAktG, § 27 Rz. 38; Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 34. 23) Im Einzelnen umstritten, s. Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 12; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 27 Rz. 73 ff.; K. Schmidt/Lutter-Bayer, § 27 Rz. 23 ff.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 27 Rz. 40 ff.; Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 42 und 44 ff.

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Sacheinlagen. Sachübernahmen; Rückzahlung von Einlagen

§ 27

gemäße Kapitalaufbringung und ist daher zwingend. Abweichende Vereinbarungen zulasten der Gesellschaft sind unzulässig. Die geänderte Form der Kapitalaufbringung ist gegenüber dem Registergericht in Form einer Handelsregisteranmeldung offenzulegen (siehe §§ 36 Abs. 1, 36a, 37 Abs. 1). Mit dieser Ergänzung ist die Gesellschaft dann ordnungsgemäß errichtet und kann in das Handelsregister eingetragen werden. Eine Unterbewertung von Sacheinlagen ist gleichfalls unzulässig, da die willkürliche Bil- 18 dung stiller Reserven verhindert werden soll. Ein etwaiger Mehrwert der Sacheinlage ist vielmehr als Kapitalrücklage auszuweisen (§ 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB i. V. m. § 150 AktG).24) 2.

Sachübernahmen

a)

Begriff der Sachübernahme

Eine Sachübernahme liegt vor, wenn die Gesellschaft von dem Gründer oder einem Dritten 19 Vermögensgegenstände gegen Vergütung (und nicht gegen Gewährung von Aktien) übernimmt (§ 27 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2).25) Gegenstand einer Sachübernahme können alle Vermögensgegenstände sein, die auch als Sacheinlage in Betracht kommen. Das Vorliegen einer Verrechnungsabrede ist keine zwingende Voraussetzung für eine Sachübernahme (zur Unzulässigkeit der Aufrechnung siehe § 66 Abs. 1 Satz 2).26) Der wesentliche Unterschied zwischen Sacheinlagen und Sachübernahmen besteht in der 20 Gegenleistung: bei Sacheinlagen besteht die Gegenleistung in Aktien, bei Sachübernahmen dagegen in anderen Bar- oder Sachleistungen, nicht aber in Aktien. An einer Sacheinlagevereinbarung kann nur ein Gründer (nicht auch ein Dritter) beteiligt sein. Dagegen kann Partei einer Sachübernahmevereinbarung sowohl ein Gründer als auch ein Dritter sein, da die Sachübernahme nicht mit einer Einlageverpflichtung zusammenhängt. Zeitlich muss die Sachübernahme bereits im Stadium der Vorgründung, d. h. vor der no- 21 tariellen Feststellung der Satzung (§ 23 Abs. 1) vereinbart worden sein. Für Geschäfte der Vorgesellschaft gilt die Vorschrift nach Wortlaut und Normzweck dagegen nicht.27) Der Schutz der Kapitalaufbringung wird insoweit durch die Unterbilanzhaftung und die Gründerhaftung (§§ 46 ff.) ausreichend gewährleistet. Die Übernahme von Vermögensgegenständen durch die Gesellschaft ohne jede Gegen- 22 leistung ist keine Sachübernahme und muss nicht in der Satzung festgesetzt werden. Die Kapitalaufbringung ist in diesem Fall auch nicht gefährdet. Eine fingierte Sacheinlage (§ 27 Abs. 1 Satz 2) liegt vor, wenn die von der Gesellschaft 23 für die Übernahme eines Vermögensgegenstands gewährte Vergütung auf die Bareinlage angerechnet werden soll (siehe dann § 36a Abs. 2). b)

Vereinbarung einer Sachübernahme

Die Sachübernahme muss in der Satzung festgesetzt werden (§ 27 Abs. 1 Satz 1). Daneben 24 bedarf es (wie bei der Sacheinlage) einer schuldrechtlichen Sachübernahmevereinbarung und eines dinglichen Vollzugsgeschäfts (siehe auch § 37 Abs. 4 Nr. 2 Halbs. 1).28) Für die _____________ 24) Arnold in: KölnKomm-AktG, § 27 Rz. 68; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 22; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 27 Rz. 39. – A. A. Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 43 – unter Hinweis auf die Änderung der Bilanzierungsvorschriften durch das BilMoG. 25) Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 14; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 27 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Bayer, § 27 Rz. 27; Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 49 ff. 26) Ausführlich dazu Habersack/Weber, ZGR 2014, 509. 27) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 27 Rz. 5a; K. Schmidt/Lutter-Bayer, § 27 Rz. 27. 28) Ausführlich dazu Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 16; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 27 Rz. 30 ff.; Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 56 ff.

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§ 27

Sacheinlagen. Sachübernahmen; Rückzahlung von Einlagen

Bewertung der übernommenen Gegenstände gelten die gleichen Grundsätze wie für Sacheinlagen. 3.

Gemischte Sacheinlagen

25 Bei der gemischten Sacheinlage handelt es sich um eine Kombination von Sacheinlage und Sachübernahme.29) Dabei wird der Gesellschaft ein Vermögensgegenstand übertragen, dessen Wert den Betrag der übernommenen Einlage übersteigt. Der Inferent erhält als Gegenleistung zum Teil Aktien und zum Teil sonstige Bar- oder Sachleistungen (z. B. Bargeld, Darlehensforderung gegen die Gesellschaft). In der Praxis kommen gemischte Sacheinlagen vor allem bei der Einbringung von Unternehmen vor, da der maßgebliche Unternehmenswert bei der Festlegung des Ausgabebetrags der Aktien noch nicht feststeht. Gemischte Sacheinlagen werden einheitlich nach den Regeln der Sacheinlage behandelt. 4.

Mischeinlagen

26 Von der gemischten Sacheinlage ist die Mischeinlage (gemischte Einlage)30) zu unterscheiden. In diesem Fall hat der Inferent auf die Aktie sowohl eine Bar- als auch eine Sacheinlage zu leisten.31) Jede Einlage wird nach den für sie geltenden Regeln behandelt (für Bareinlagen: §§ 36 Abs. 2, 36a Abs. 1, und für Sacheinlagen: § 36a Abs. 2). III.

Festsetzung der Sacheinlagen bzw. Sachübernahmen in der Satzung (§ 27 Abs. 1, Abs. 5)

1.

Ordnungsgemäße Festsetzung in der Satzung (§ 27 Abs. 1)

27 Sacheinlagen und Sachübernahmen müssen in der Satzung festgesetzt werden (§ 27 Abs. 1 Satz 1).32) Sie werden damit offengelegt (offene Sacheinlage im Unterschied zur verdeckten Sacheinlage) und sind im Handelsregister für jedermann einsehbar (§ 9 Abs. 1 HGB). 28 In der Satzung müssen dabei jeweils folgende Angaben aufgenommen werden: –

der (genau bezeichnete) Gegenstand der Sacheinlage oder Sachübernahme (nicht aber unbedingt auch deren Wert),



die (genau bezeichnete) Person des Inferenten bzw. des Veräußerers (jeweils auch mit Name, Vorname und Anschrift bzw. Firma und Sitz, siehe § 23 Abs. 2 Nr. 1),



bei Sacheinlagen: bei Nennbetragsaktien der Nennbetrag, und bei Stückaktien die Zahl der zu gewährenden Aktien, und der Ausgabebetrag der Aktien (siehe § 23 Abs. 2 Nr. 2),



bei Sachübernahmen: die Art und Höhe der zu gewährenden Vergütung.

_____________ 29) Zur Abgrenzung bei einer Sachkapitalerhöhung s. BGH, Urt. v. 6.12.2011 – II ZR 149/10 (Babcock Borsig), BGHZ 191, 364 = ZIP 2012, 73, dazu EWiR 2012, 129 (Vosberg/Klawa). Zu einer – verdeckten – gemischten Sacheinlage nach ARUG s. BGH, Urt. v. 22.3.2010 – II ZR 12/08 (AdCoCom), BGHZ 185, 44 = ZIP 2010, 978, dazu EWiR 2010, 421 (Wenzel), und vor ARUG s. BGH, Urt. v. 9.7.2007 – II ZR 62/06 (Lurgi), BGHZ 173, 145 = ZIP 2007, 1751, dazu EWiR 2009, 557 (Goslar); BGH, Urt. v. 20.11.2006 – II ZR 176/05 (Warenlager), BGHZ 170, 47 = ZIP 2007, 178. Ferner HöltersSolveen, AktG, § 27 Rz. 19; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 27 Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 31; Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 64 f. 30) Zu einer Mischeinlage bestehend aus Bar- und Sacheinlage bei Gründung einer GmbH s. OLG Celle, Beschl. v. 5.1.2016 – 9 W 150/15, ZIP 2016, 368, dazu EWiR 2016, 333 (Schröter). Ausführlich dazu Cavin, NZG 2016, 734; Sammet, NZG 2016, 344. 31) K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 32; Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 66. 32) K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 33; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 27 Rz. 69; Spindler/ Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 67 ff.

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Sacheinlagen. Sachübernahmen; Rückzahlung von Einlagen

§ 27

Alle Angaben müssen so umfassend sein, dass sich jedermann allein anhand der Satzung 29 einen verlässlichen Eindruck von der Kapitalausstattung der Gesellschaft machen kann.33) Die Angaben müssen in der Satzung selbst enthalten sein. Nach h. M. soll es (trotz § 9 30 Abs. 1 Satz 2 BeurkG) nicht genügen, wenn die Angaben in einer mitbeurkundeten Anlage zur Satzung enthalten sind.34) 2.

Rechtsfolgen einer fehlerhaften Festsetzung

Vor Inkrafttreten des ARUG waren die Verträge über Sacheinlagen und Sachübernahmen 31 und die Rechtshandlungen zu ihrer Ausführung ohne eine ordnungsgemäße Festsetzung in der Satzung unwirksam (§ 27 Abs. 3 a. F.). Diese Regelung wurde nunmehr ersatzlos gestrichen. Im Zusammenhang mit der Neuregelung der verdeckten Sacheinlage ist jetzt ausdrücklich bestimmt worden, dass die Verträge über die Sacheinlage und die Rechtshandlungen zu ihrer Ausführung nicht unwirksam sind (§ 27 Abs. 3 Satz 2 n. F.). Die Rechtsfolgen von anderen Fällen einer nicht ordnungsgemäß festgesetzten Sacheinlage bzw. Sachübernahme sind dagegen nicht geregelt.35) Im Ergebnis ist davon auszugehen, dass die nicht ordnungsgemäße Festsetzung von Sach- 32 einlagen bzw. Sachübernahmen die Wirksamkeit der Beitrittserklärungen der Gründer unberührt lässt. Die Verstöße stellen aber weiterhin ein zwingendes Eintragungshindernis dar (§ 38 Abs. 1 Satz 2). Darüber hinaus können die nicht ordnungsgemäßen Festsetzungen Schadensersatzansprüche begründen (§§ 46 ff.) und im Einzelfall auch strafbar sein (§ 399 Abs. 1 Nr. 1).36) Wird die Gesellschaft allerdings im Handelsregister eingetragen, ist die Gesellschaft wirksam entstanden. Der Wert der eingebrachten Vermögensgegenstände ist dann auf die Bareinlageforderung der Gesellschaft anzurechnen (§ 27 Abs. 3 Satz 3). 3.

Änderung und Beseitigung der Festsetzungen in der Satzung (§ 27 Abs. 5)

Bis zur Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister können die Festsetzungen über 33 die Sacheinlagen bzw. Sachübernahmen stets geändert werden.37) Zudem können fehlende Festsetzungen erstmals in die Satzung aufgenommen werden und fehlerhafte Festsetzungen berichtigt werden. Jede Änderung bedarf stets einer ergänzenden Feststellung der Satzung in notariell beurkundeter Form sowie der Zustimmung aller Gründer (siehe § 23 Abs. 1). Nach Eintragung der Gesellschaft können wirksame Festsetzungen über Sacheinlagen 34 und Sachübernahmen im Interesse der langfristigen Satzungspublizität nur eingeschränkt geändert bzw. beseitigt werden.38) Änderungen sind erst fünf Jahre nach Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister möglich (§ 27 Abs. 5 i. V. m. § 26 Abs. 4). Eine Beseitigung der Satzungsfestsetzungen ist sogar erst dann möglich, wenn die Gesellschaft dreißig Jahre im Handelsregister eingetragen ist und die entsprechenden Rechtsverhältnisse seit mindestens fünf Jahren abgewickelt sind (§ 27 Abs. 5 i. V. m. § 26 Abs. 5). _____________ 33) Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 20 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 27 Rz. 9 f.; Arnold in: KölnKommAktG, § 27 Rz. 36 ff.; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 33 f.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 27 Rz. 70 ff. 34) Arnold in: KölnKomm-AktG, § 27 Rz. 36; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 33 und 35; Spindler/ Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 67. 35) Ausführlich zum Ganzen Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 24 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 27 Rz. 12; K. Schmidt/Lutter-Bayer, § 27 Rz. 36 ff.; Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 74 ff. 36) Zur Haftung eines Steuerberaters, der eine verdeckte Sacheinlage empfiehlt s. BGH, Urt. v. 19.5.2009 – IX ZR 43/08, ZIP 2009, 1427, dazu EWiR 2009, 693 (Rohde). 37) Kritisch auch Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 20. 38) K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 43.

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§ 27

Sacheinlagen. Sachübernahmen; Rückzahlung von Einlagen

IV.

Verdeckte Sacheinlagen (§ 27 Abs. 3)

1.

Einführung

35 Die gesetzlichen Vorschriften über die offenen Sacheinlagen werden vielfach als kompliziert, aufwändig und teuer angesehen und daher in der Praxis (bewusst oder unbewusst) immer wieder umgangen.39) Dabei wird in der Regel formal eine Bareinlage vereinbart, wirtschaftlich aber eine Sache an die Gesellschaft geleistet. 36 Der BGH hat derartige Umgehungen in der Vergangenheit stets scharf sanktioniert. Danach hat der Gesellschafter seine Bareinlageverpflichtung durch die verdeckte Sacheinlage nicht (auch nicht teilweise) erfüllt. Das schuldrechtliche und das dingliche Rechtsgeschäft über die Sacheinlage wurden (analog § 27 Abs. 3 a. F.) als nichtig angesehen.40) Die Herausgabeund Bereicherungsansprüche des Gesellschafters wegen der Sacheinlage waren wirtschaftlich meist wertlos. Im Ergebnis musste der Gesellschafter seine Einlage somit oft doppelt leisten. Die bisherigen Rechtsfolgen der verdeckten Sacheinlage wurden daher schon seit langem als „ganz und gar katastrophal“41) bezeichnet. 37 Der Gesetzgeber ist der Kritik an dieser Rechtsprechung gefolgt und hat sich zunächst für das GmbH-Recht (§ 19 Abs. 4 GmbHG42) und später dann auch für das Aktienrecht (§ 27 Abs. 3)43) zu einer Neuregelung entschlossen. 38 Der verdeckten Sacheinlage kommt aber unverändert keine Erfüllungswirkung zu. Der Wert des verdeckt eingelegten Vermögensgegenstands wird allerdings unter bestimmten Voraussetzungen auf die fortbestehende Bareinlageverpflichtung des Gesellschafters angerechnet. Auf diese Weise werden die überwiegend als drakonisch empfundenen Folgen der verdeckten Sacheinlage abgemildert. Die verdeckte Sacheinlage ist und bleibt allerdings verboten.44) 2.

Tatbestand der verdeckten Sacheinlage

39 Eine verdeckte Sacheinlage liegt immer dann vor, wenn die „Geldeinlage eines Aktionärs bei wirtschaftlicher Betrachtung und auf Grund einer im Zusammenhang mit der Übernahme der Geldeinlage getroffenen Abrede vollständig oder teilweise als Sacheinlage zu bewerten“ ist (§ 27 Abs. 3 Satz 1 AktG, siehe auch § 19 Abs. 4 Satz 1 GmbHG).45) Diese Legaldefinition orientiert sich an der bisherigen Rechtsprechung des BGH.46) Der BGH hat eine verdeckte Sacheinlage regelmäßig dann angenommen, wenn „die gesetzlichen Regeln für Sacheinlagen objektiv dadurch unterlaufen werden, dass zwar … eine Bareinlage vereinbart wird, die Gesellschaft bei wirtschaftlicher Betrachtung von dem Einleger aufgrund eines im Zusammenhang mit der Übernahme der Einlage abgeschlossenen Gegengeschäfts (oder einer sonstigen Abspra_____________ 39) Arnold in: KölnKomm-AktG, § 27 Rz. 77. 40) S. etwa BGH, Urt. v. 9.7.2007 – II ZR 62/06 (Lurgi), BGHZ 173, 145 = ZIP 2007, 1751, dazu EWiR 2009, 557 (Goslar); BGH, Urt. v. 16.1.2006 – II ZR 76/04 (Cash Pool), BGHZ 166, 8 = ZIP 2006, 665, dazu EWiR 2006, 523 (Hoos). 41) So Lutter in: FS Stiefel, S. 505, 517. 42) Begr. RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 39 ff. 43) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. ARUG, BT-Drucks. 16/13098, S. 36 ff. Ausführlich dazu Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 28 ff.; K. Schmidt/Lutter-Bayer, § 27 Rz. 27 und 51 ff. 44) BGH, Urt. v. 20.7.2009 – II ZR 273/07 (Cash Pool II), BGHZ 182, 103 = ZIP 2009, 1561, dazu EWiR 2009, 537 (Maier-Reimer). 45) Dazu ausführlich Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 30 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 27 Rz. 25 ff.; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 27 Rz. 89 ff.; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 58 ff.; Spindler/ Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 130 ff. 46) BGH, Urt. v. 20.7.2009 – II ZR 273/07 (Cash Pool II), BGHZ 182, 103 = ZIP 2009, 1561, dazu EWiR 2009, 537 (Maier-Reimer).

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Sacheinlagen. Sachübernahmen; Rückzahlung von Einlagen

§ 27

che) einen Sachwert erhalten soll“.47) Der Tatbestand der verdeckten Sacheinlage ist somit durch das ARUG nicht geändert worden; geändert wurde nur die Rechtsfolge der verdeckten Sacheinlage.48) Gewöhnliche Umsatzgeschäfte i. R. des laufenden Geschäftsverkehrs sind unverändert 40 nicht vom Anwendungsbereich der verdeckten Sacheinlage ausgeklammert.49) Der Anwendung der verdeckten Sacheinlage steht es weiterhin nicht entgegen, dass der 41 Wert der verdeckt eingelegten Sache die Höhe der Einlageverpflichtung (um ein Vielfaches) übersteigt.50) Das Vorliegen einer entsprechenden Abrede ist bei Vorliegen eines engen sachlichen und 42 zeitlichen Zusammenhangs zwischen der (offenen) Bareinlage und der (verdeckten) Sacheinlage regelmäßig zu vermuten.51) Bei einer Einpersonen-Gesellschaft ist bereits das bloße Vorhaben des Gründers ausreichend und eine entsprechende Absprache nicht erforderlich.52) Das Vorliegen einer verdeckten Sacheinlage kann nicht durch die Einschaltung von Dritten 43 verhindert werden. Vielmehr muss sich der Inferent das Handeln des Dritten zurechnen lassen, wenn es sich um eine abhängige Gesellschaft oder eine nahestehende Person handelt (siehe etwa §§ 89 Abs. 3 Satz 1, 115 Abs. 2 AktG; § 138 Abs. 1 InsO).53) Im Aktienrecht sind neben den Vorschriften über die Sachgründung stets (zusätzlich) die 44 Regelungen über eine etwaige Nachgründung (§ 52) zu beachten.54) Dienstleistungen können nicht Gegenstand einer verdeckten Sacheinlage sein.55) Der BGH 45 begründet dies vor allem damit, dass der „den Grundsätzen der verdeckten Sacheinlage inhä_____________ 47) S. etwa BGH, Urt. v. 20.7.2009 – II ZR 273/07 (Cash Pool II), BGHZ 182, 103 = ZIP 2009, 1561, dazu EWiR 2009, 537 (Maier-Reimer); BGH, Urt. v. 18.2.2008 – II ZR 132/06 (Rheinmöve), BGHZ 175, 265 = ZIP 2008, 788, dazu EWiR 2008, 513 (Weipert); BGH, Urt. v. 11.2.2008 – II ZR 171/06, ZIP 2008, 643, dazu EWiR 2008, 247 (Hauptmann); BGH, Urt. v. 9.7.2007 – II ZR 62/06 (Lurgi), BGHZ 173, 145 = ZIP 2007, 1751, dazu EWiR 2009, 557 (Goslar); BGH, Urt. v. 20.11.2006 – II ZR 176/05 (Warenlager), BGHZ 170, 47 = ZIP 2007, 178; BGH, Urt. v. 16.1.2006 – II ZR 76/04 (Cash Pool), BGHZ 166, 8 = ZIP 2006, 665, dazu EWiR 2006, 523 (Hoos). 48) Zur verdeckten Sacheinlage der Forderung eines Gesellschafters einer GmbH s. BGH, Urt. v. 19.1.2016 – II ZR 61/15, ZIP 2016, 615, dazu EWiR 2016, 427 (Wenzel). Ausführlich dazu Lubberich, DNotZ 2016, 811; Wicke, DStR 2016, 1115. 49) BGH, Urt. v. 11.2.2008 – II ZR 171/06, ZIP 2008, 643, dazu EWiR 2008, 247 (Hauptmann); BGH, Urt. v. 20.11.2006 – II ZR 176/05 (Warenlager), BGHZ 170, 47 = ZIP 2007, 178. 50) BGH, Urt. v. 9.7.2007 – II ZR 62/06 (Lurgi), BGHZ 173, 145 = ZIP 2007, 1751, dazu EWiR 2009, 557 (Goslar); BGH, Urt. v. 18.2.2008 – II ZR 132/06 (Rheinmöve), BGHZ 175, 265 = ZIP 2008, 788, dazu EWiR 2008, 513 (Weipert); BGH, Urt. v. 20.11.2006 – II ZR 176/05 (Warenlager), BGHZ 170, 47 = ZIP 2007, 178. 51) BGH, Urt. v. 18.2.2008 – II ZR 132/06 (Rheinmöve), BGHZ 175, 265 = ZIP 2008, 788, dazu EWiR 2008, 513 (Weipert); BGH, Urt. v. 11.2.2008 – II ZR 171/06, ZIP 2008, 643, dazu EWiR 2008, 247 (Hauptmann); BGH, Urt. v. 4.3.1996 – II ZR 89/95, BGHZ 132, 133 = ZIP 1996, 595, dazu EWiR 1996, 457 (Trölitzsch); BGH, Urt. v. 16.1.2006 – II ZR 76/04 (Cash Pool), BGHZ 166, 8 = ZIP 2006, 665, dazu EWiR 2006, 523 (Hoos). 52) BGH, Urt. v. 11.2.2008 – II ZR 171/06, ZIP 2008, 643, dazu EWiR 2008, 247 (Hauptmann). 53) BGH, Urt. v. 12.2.2007 – II ZR 272/05, BGHZ 171, 113 = ZIP 2007, 528, dazu EWiR 2007, 331 (Rohde); BGH, Urt. v. 16.1.2006 – II ZR 76/04 (Cash Pool), BGHZ 166, 8 = ZIP 2006, 665, dazu EWiR 2006, 523 (Hoos). 54) Zu einer verdeckten (gemischten) Sacheinlage i. R. einer Kapitalerhöhung bei einer AG vor ARUG s. BGH, Urt. v. 18.2.2008 – II ZR 132/06 (Rheinmöve), BGHZ 175, 265 = ZIP 2008, 788; BGH, Urt. v. 9.7.2007 – II ZR 62/06 (Lurgi), BGHZ 173, 145 = ZIP 2007, 1751, dazu EWiR 2009, 557 (Goslar); BGH, Urt. v. 15.1.1990 – II ZR 164/88, BGHZ 110, 47 = ZIP 1990, 156, dazu EWiR 1990, 223 (Lutter). – Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 41; Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 114 ff. 55) BGH, Urt. v. 1.2.2010 – II ZR 173/08 (Eurobike), BGHZ 184, 158 = ZIP 2010, 423, dazu EWiR 2010, 169 (Lieder); BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 120/07 (Qivive), BGHZ 180, 38 = ZIP 2009, 713, dazu EWiR 2009, 443 (Schodder).

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151

§ 27

Sacheinlagen. Sachübernahmen; Rückzahlung von Einlagen

rente Vorwurf einer Umgehung der im Interesse des Gläubigerschutzes bestehenden Vorschriften über Sacheinlagen“ voraussetzt, dass der Aktionär den „erstrebten Erfolg einer Sacheinlage rechtmäßig“ hätte erreichen können. Dies sei aber bei Dienstleistungen gerade nicht der Fall, da diese als offene Sacheinlage nicht in eine Kapitalgesellschaft eingebracht werden können (§ 27 Abs. 2 Halbs. 2). Gegen die Anwendung der Regeln über verdeckte Sacheinlagen auf Dienstleistungen sprechen zudem die Vorgaben der EU-Kapitalrichtlinie. Denn die gesetzlich vorgesehene Anrechnung des Werts der verdeckten Sacheinlage hätte mittelbar zur Folge, dass das Kapital (in unzulässiger Weise) in Form von Dienstleistungen aufgebracht werden würde.56) 3.

Rechtsfolgen der verdeckten Sacheinlage

46 Der verdeckten Sacheinlage kommt keine Erfüllungswirkung zu (§ 27 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2). Die tatsächlich vereinbarte Bareinlageverpflichtung des Aktionärs bleibt vielmehr unverändert bestehen. Allerdings sind die Verträge über die Sacheinlage und die Rechtshandlungen zu ihrer Ausführung – abweichend von der bisherigen Rechtsprechung des BGH – wirksam (§ 27 Abs. 3 Satz 2). Der Wert des verdeckt eingelegten Vermögensgegenstands wird kraft Gesetzes auf die fortbestehende Bareinlageschuld des Aktionärs angerechnet.57) Maßgebend ist dabei der Verkehrswert der Sache. Die Anrechnung erfolgt nicht vor Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister (§ 27 Abs. 4 Satz 4). Die Beweislast für den Wert der Sacheinlage trifft den Aktionär (§ 27 Abs. 4 Satz 5).58) 47 Die Dogmatik der Anrechnungslösung ist noch nicht abschließend geklärt. Überzeugend erscheint eine Parallele zur Differenzhaftung bei einer offenen Sacheinlage (siehe § 9 GmbHG).59) Der Wert der verdeckt eingelegten Sache ist demnach auf den Nominalwert der vereinbarten Bareinlage anzurechnen. Eine aufgrund des Minderwerts der Sache verbleibende Differenz ist vom Aktionär nachträglich auszugleichen. 48 Besonderheiten bestehen bei einer verdeckten gemischten Sacheinlage. Denn eine Anrechnung ist stets nur insoweit möglich, als das Vermögen der Gesellschaft tatsächlich vermehrt wird. Die Anrechnung darf wegen des Grundsatzes der realen Kapitalaufbringung aber nie zulasten des sonstigen Gesellschaftsvermögens gehen.60) 49 Das Stimmrecht beginnt erst mit der vollständigen Leistung der Einlage (§ 134 Abs. 2 Satz 1). Dies gilt allerdings nicht, wenn der anrechenbare Wert der verdeckt eingelegten Sache der Höhe der Bareinlageverpflichtung nicht entspricht (§ 134 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1).61) Ein Stimmrechtsausschluss droht aber dann, wenn der Wertunterschied offensichtlich ist (§ 134 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2).

_____________ 56) BGH, Urt. v. 1.2.2010 – II ZR 173/08 (Eurobike), BGHZ 184, 158 = ZIP 2010, 423, dazu EWiR 2010, 169 (Lieder). 57) S. dazu BGH, Urt. v. 19.1.2016 – II ZR 61/15, ZIP 2016, 615. Ausführlich dazu Lubberich, DNotZ 2016, 811; Wicke, DStR 2016, 1115; BGH, Urt. v. 22.3.2010 – II ZR 12/08 (AdCoCom), BGHZ 185, 44 = ZIP 2010, 978, dazu EWiR 2010, 421 (Wenzel). 58) Ausführlich zum Ganzen Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 38 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 27 Rz. 31 ff.; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 27 Rz. 103 ff.; K. Schmidt/Lutter-Bayer, § 27 Rz. 70 ff.: Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 174 ff. 59) K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 75; Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 180, jeweils m. w. N. 60) BGH, Urt. v. 22.3.2010 – II ZR 12/08 (AdCoCom), BGHZ 185, 44 = ZIP 2010, 978, dazu EWiR 2010, 421 (Wenzel). Plastisch K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 81, der in diesem Fall von einer „Anrechnungssperre“ spricht. Instruktiv dazu Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 194 ff. 61) S. dazu Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. ARUG, BT-Drucks. 16/13098, S. 39.

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Sacheinlagen. Sachübernahmen; Rückzahlung von Einlagen

§ 27

Für die Beratungspraxis bleibt auch nach Inkrafttreten der Neuregelungen entscheidend, 50 dass verdeckte Sacheinlagen weiterhin verboten sind.62) Eine etwaige Anrechnung des Werts der verdeckten Sacheinlage erfolgt stets erst nach der Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister und ändert auch nichts an der Strafbarkeit einer falschen Versicherung von Gründern, Vorständen und Aufsichtsräten in der Handelsregisteranmeldung (§ 399 Abs. 1 Nr. 1). Steuerrechtlich ist zudem zu beachten, dass eine Sacheinlage zu Buchwerten nach bisher h. A. nur bei einer offenen Sacheinlage (dagegen nicht auch bei einer verdeckten Sacheinlage) in Betracht kommt (siehe § 20 UmwStG).63) V.

Hin- und Herzahlen (§ 27 Abs. 4)

1.

Einführung

An der Leistung einer Bareinlage zur endgültig freien Verfügung des Vorstands (siehe § 36 51 Abs. 2) fehlt es an sich, wenn der Einlagebetrag (z. B. als Darlehen oder aufgrund einer Treuhandabrede) unmittelbar oder mittelbar wieder an den Inferenten zurückfließt bzw. zurückfließen soll (siehe auch die Gesetzesüberschrift zu § 27: „Rückzahlung von Einlagen“). Dementsprechend ist der BGH früher davon ausgegangen, dass der Inferent im Falle 52 eines Hin- und Herzahlens „nichts“ geleistet hat.64) Die Bareinlageforderung bestand vielmehr unverändert fort. Eine Erfüllung ist allenfalls aufgrund der späteren Rückzahlung des vermeintlichen Darlehens erfolgt, wenn diese Zahlung der Einlageforderung eindeutig und zweifelsfrei zugeordnet werden konnte.65) Die dem Hin- und Herzahlen zugrunde liegende Darlehens- bzw. Treuhandabrede wurde wegen Verstoß gegen die Regeln der Kapitalaufbringung als unwirksam angesehen.66) Der Gesetzgeber hat die Fälle des Hin- und Herzahlens i. R. des ARUG67) (und zuvor be- 53 reits des MoMiG)68) nunmehr – abweichend von der bisherigen Rechtsprechung – gere_____________ 62) So ausdrücklich BGH, Urt. v. 20.7.2009 – II ZR 273/07 (Cash Pool II), Rz. 13 und Rz. 19, BGHZ 166, 8 = ZIP 2006, 665, dazu EWiR 2006, 523 (Hoos). – Zu den Sanktionen der verdeckten Sacheinlage s. insbesondere Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 200 ff. 63) S. dazu BFH, Urt. v. 1.7.1992 – I R 5/92, BStBl. II 1993, 131 – zur verschleierten Sachgründung nach § 20 Abs. 1 UmwStG 1977. Zur Rechtslage nach MoMiG und ARUG s. einerseits – für Anwendung von § 20 UmwStG – Fuhrmann, RNotZ 2010, 188, 194 f.; Fuhrmann/Demuth, KÖSDI 2009, 16562, 16566; Fischer, Ubg. 2008, 684, 687, und andererseits – gegen Anwendung von § 20 UmwStG – Hein/ Suchan/Geeb, DStR 2008, 2289. 64) S. etwa BGH, Urt. v. 10.12.2007 – II ZR 180/06, BGHZ 174, 370 = ZIP 2008, 174, dazu EWiR 2008, 33 (Thonfeld) – zur GmbH & Co. KG, und zum Hin- und Herzahlen bei der GmbH vor MoMiG BGH, Urt. v. 12.6.2006 – II ZR 334/04, ZIP 2006, 1633; BGH, Urt. v. 9.1.2006 – II ZR 72/05, BGHZ 165, 352 = ZIP 2006, 331, dazu EWiR 2006, 307 (Naraschewski); BGH, Urt. v. 21.11.2005 – II ZR 140/04, BGHZ 165, 113 = ZIP 2005, 2203, dazu EWiR 2006, 33 (Tillmann); BGH, Urt. v. 22.3.2004 – II ZR 7/02, ZIP 2004, 1046; BGH, Urt. v. 2.12.2002 – II ZR 101/02, BGHZ 153, 107 = ZIP 2003, 211, dazu EWiR 2003, 223 (Blöse). 65) BGH, Urt. v. 20.7.2009 – II ZR 273/07 (Cash Pool II), BGHZ 182, 103 = ZIP 2009, 1561, dazu EWiR 2009, 537 (Maier-Reimer); BGH, Urt. v. 15.10.2007 – II ZR 263/06, ZIP 2008, 1281, dazu EWiR 2009, 109 (Kleinschmidt); BGH, Urt. v. 16.1.2006 – II ZR 76/04 (Cash Pool), BGHZ 166, 8 = ZIP 2006, 665, dazu EWiR 2006, 523 (Hoos); BGH, Urt. v. 9.1.2006 – II ZR 72/05, BGHZ 165, 352 = ZIP 2006, 331, dazu EWiR 2006, 307 (Naraschewski); BGH, Urt. v. 21.11.2005 – II ZR 140/04, BGHZ 165, 113 = ZIP 2005, 2203, dazu EWiR 2006, 33 (Tillmann). 66) BGH, Urt. v. 12.6.2006 – II ZR 334/04, ZIP 2006, 1633 – zur Unwirksamkeit einer Darlehensabrede beim Her- und Hinzahlen der Einlage bei einer GmbH; BGH, Urt. v. 9.1.2006 – II ZR 72/05, BGHZ 165, 352 = ZIP 2006, 331, dazu EWiR 2006, 307 (Naraschewski) – zur Unwirksamkeit einer Treuhandabrede; BGH, Urt. v. 21.11.2005 – II ZR 140/04, BGHZ 165, 113 = ZIP 2005, 2203, dazu EWiR 2006, 33 (Tillmann) – zur Unwirksamkeit einer Darlehensabrede beim Hin- und Herzahlen der Einlage bei einer GmbH. 67) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. ARUG, BT-Drucks. 16/13098, S. 36 ff. 68) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. MoMiG, BT-Drucks. 16/9737, S. 55 f. und Begr. RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 34 f. und S. 39 ff.

Thomas Wachter

153

§ 27

Sacheinlagen. Sachübernahmen; Rückzahlung von Einlagen

gelt.69) Danach erfüllt der Inferent die Bareinlageforderung auch in diesem Fall, wenn der durch das Hin- und Herzahlen begründete Rückgewähranspruch der Gesellschaft (z. B. aus Darlehen) vollwertig und jederzeit fällig ist (§ 27 Abs. 4 Satz 1). Fehlt es dagegen an der Vollwertigkeit oder Fälligkeit tritt keine Erfüllungswirkung ein. 2.

Tatbestand des Hin- und Herzahlens

54 Der Gesetzgeber wollte mit der Neuregelung an die von der Rechtsprechung entwickelte Fallgruppe des Hin- und Herzahlens anknüpfen.70) 55 Der BGH hat den Umgehungstatbestand des Hin- und Herzahlens bislang immer dann angenommen, wenn „der Einlagebetrag absprachegemäß umgehend wieder an den Einleger, sei es als Darlehen … oder auch aufgrund einer Treuhandabrede … zurückfließen soll.“71) Das Vorgehen des Inferenten ziele in solchen Fällen darauf ab, „die prinzipiell unverzichtbare Einlageforderung durch eine in dieser Hinsicht schwächere schuldrechtliche Forderung (z. B. aus Darlehen) zu ersetzen“. 56 Die gesetzliche Umschreibung des Hin- und Herzahlens (in § 27 Abs. 4 Satz 1) entspricht dem weitgehend.72) Danach liegt ein Fall des Hin- und Herzahlens immer dann vor, wenn „vor der Einlage eine Leistung an den Aktionär vereinbart worden (ist), die wirtschaftlich einer Rückzahlung der Einlage entspricht und die nicht als verdeckte Sacheinlage im Sinne von Absatz 3 zu beurteilen ist“ (§ 27 Abs. 4 Satz 1). Der BGH betont, dass der Gesetzgeber damit insbesondere den „Gedanken des Forderungsaustauschs“ aufgegriffen habe.73) In der Sache gehe es bei dem Hin- und Herzahlen „um Fälle einer verdeckten Finanzierung der Einlagemittel durch die Gesellschaft“.74) 57 Die gesetzliche Regelung umfasst nicht nur das Hin- und Herzahlen i. R. einer Darlehensgewährung, sondern alle Fälle, die „wirtschaftlich einer Rückzahlung der Einlage“ an den Aktionär entsprechen. Dies deckt sich mit der Rechtsprechung des BGH. Danach liegt ein Hin- und Herzahlen immer dann vor, wenn „eine Einlageleistung vereinbart wird, die wirtschaftlich der Rückzahlung der Einlage entspricht und die nicht als verdeckte Sacheinlage … zu beurteilen ist“.75) 58 Nach dem Gesetzeswortlaut muss die Rückzahlung „vor“ der Einlage vereinbart worden sein. Gleichwohl sind weiterhin auch die umgekehrten Fälle erfasst, bei denen die Rückzahlung vor der Einlageleistung erfolgt. Dem entspricht es, dass der BGH die Reihenfolge der Leistungen aufgrund der wirtschaftlichen Vergleichbarkeit regelmäßig als belanglos ansieht. Dem Hin- und Herzahlen stehe auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung das Her- und Hinzahlen gleich, bei „dem die Einlagemittel nicht an den Gesellschafter _____________ 69) Ausführlich dazu Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 44 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 27 Rz. 39 ff.; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 27 Rz. 137 ff.; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 90 ff.; Spindler/ Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 214 ff. 70) K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 98 ff. 71) BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 120/07 (Qivive), BGHZ 180, 38 = ZIP 2009, 713, dazu EWiR 2009, 443 (Schodder). S. a. BGH, Urt. v. 1.2.2010 – II ZR 173/08 (Eurobike), BGHZ 184, 158 = ZIP 2010, 423, dazu EWiR 2010, 169 (Lieder). 72) BGH, Urt. v. 20.7.2009 – II ZR 273/07 (Cash Pool II), BGHZ 182, 103 = ZIP 2009, 1561, dazu EWiR 2009, 537 (Maier-Reimer). – Ausführlich dazu Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 219 ff. 73) BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 120/07 (Qivive), BGHZ 180, 38 = ZIP 2009, 713, dazu EWiR 2009, 443 (Schodder). 74) BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 120/07 (Qivive), BGHZ 180, 38 = ZIP 2009, 713, dazu EWiR 2009, 443 (Schodder). S. a. BGH, Urt. v. 1.2.2010 – II ZR 173/08 (Eurobike), BGHZ 184, 158 = ZIP 2010, 423, dazu EWiR 2010, 169 (Lieder). 75) BGH, Urt. v. 20.7.2009 – II ZR 273/07 (Cash Pool II), BGHZ 182, 103 = ZIP 2009, 1561, dazu EWiR 2009, 537 (Maier-Reimer).

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§ 27

zurückfließen, sondern die Gesellschaft dem Inferenten die Einlagemittel schon vor Zahlung der Einlage aus ihrem Vermögen zur Verfügung stellt“.76) Im Übrigen kommt es ohnehin nicht auf die zeitliche Reihenfolge der Leistungen, sondern auf den Zeitpunkt der entsprechenden Vereinbarung an. Die Vereinbarung erfolgt aber auch beim Her- und Hinzahlen regelmäßig vor der Einlageleistung. Das Hin- und Herzahlen muss darüber hinaus unverändert auf einer Absprache zwischen 59 den Beteiligten beruhen. Der BGH spricht von einer „die Einlagepflicht substituierenden Vereinbarung“77) (siehe auch den Gesetzeswortlaut „vereinbart“). Bei einem engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang zwischen der Ein- und Auszahlung wird das Vorliegen einer solchen Vereinbarung regelmäßig vermutet.78) Von einem Hin- und Herzahlen kann lediglich dann nicht mehr gesprochen werden, wenn der Kapitalaufbringungsvorgang im Zeitpunkt der Rückzahlung bereits „abgeschlossen“ war.79) Dies kann der Fall sein, wenn die Einlageleistung der Gesellschaft für „die Dauer von zwei Jahren“ zur freien Verfügung stand. Entgeltliche Dienstleistungen mit einem Inferenten (z. B. Beratungsverträge) sind nicht 60 verboten. Ein Hin- und Herzahlen liegt in diesem Fall nicht vor, weil die Einlageforderung der Gesellschaft nicht durch eine andere Geldforderung ersetzt wird. Vielmehr erwirbt die Gesellschaft eine Forderung, die auf die Erbringung einer Dienstleistung des Aktionärs gerichtet ist. Es fehlt damit an dem für das Hin- und Herzahlen charakteristischen Austausch einer Geldforderung durch eine andere Geldforderung. Gleichwohl ist die Vergütung von Dienstleistungen eines Aktionärs im Zusammenhang mit der Kapitalaufbringung nach Auffassung des BGH nur dann zulässig, wenn die Dienstleistung werthaltig und die Vergütung angemessen ist. Es muss eine tatsächlich erbrachte Leistung abgegolten werden, die dafür gezahlte Vergütung einem Drittvergleich standhalten und die objektiv werthaltige Leistung darf aus der subjektiven Sicht der Gesellschaft nicht unbrauchbar und wertlos sein.80) Im Ergebnis stellt sich die Vergütung von Dienstleistungen eines Aktionärs somit als zulässige Form der Mittelverwendung dar, wenn die Gesellschaft die Dienstleistungen andernfalls von einem Dritten zu gleichen (oder schlechteren) Konditionen hätte einkaufen müssen.81) Die Umgehung der Kapitalaufbringungsregeln durch ein Hin- und Herzahlen setzt schließ- 61 lich weiterhin „keine personelle Identität zwischen Inferent und Auszahlungsempfänger voraus.“82) Der BGH betont regelmäßig, dass es bei der Weiterleitung der Einlagemittel _____________ 76) BGH, Urt. v. 1.2.2010 – II ZR 173/08 (Eurobike), BGHZ 184, 158 = ZIP 2010, 423, dazu EWiR 2010, 169 (Lieder). 77) BGH, Urt. v. 20.7.2009 – II ZR 273/07 (Cash Pool II), BGHZ 182, 103 = ZIP 2009, 1561, dazu EWiR 2009, 537 (Maier-Reimer). 78) S. etwa BGH, Urt. v. 10.12.2007 – II ZR 180/06, BGHZ 174, 370 = ZIP 2008, 174, dazu EWiR 2008, 33 (Thonfeld) – zur GmbH & Co. KG; BGH, Urt. v. 15.10.2007 – II ZR 263/06, ZIP 2008, 1281, dazu EWiR 2009, 109 (Kleinschmidt) – zur vereinbarten Rückzahlung in Raten. 79) BGH, Urt. v. 20.7.2009 – II ZR 273/07 (Cash Pool II), BGHZ 182, 103 = ZIP 2009, 1561, dazu EWiR 2009, 537 (Maier-Reimer). 80) BGH, Urt. v. 1.2.2010 – II ZR 173/08 (Eurobike), BGHZ 184, 158 = ZIP 2010, 423, dazu EWiR 2010, 169 (Lieder); BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 120/07 (Qivive), BGHZ 180, 38 = ZIP 2009, 713, dazu EWiR 2009, 443 (Schodder). 81) S. BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 120/07 (Qivive), BGHZ 180, 38 = ZIP 2009, 713, dazu EWiR 2009, 443 (Schodder). 82) BGH, Urt. v. 20.7.2009 – II ZR 273/07 (Cash Pool II), BGHZ 182, 103 = ZIP 2009, 1561, dazu EWiR 2009, 537 (Maier-Reimer). S. a. BGH, Urt. v. 10.12.2007 – II ZR 180/06, BGHZ 174, 370 = ZIP 2008, 174, dazu EWiR 2008, 33 (Thonfeld) – zur GmbH & Co. KG; BGH, Urt. v. 20.11.2006 – II ZR 176/05 (Warenlager), BGHZ 170, 47 = ZIP 2007, 178; BGH, Urt. v. 16.1.2006 – II ZR 76/04 (Cash Pool), BGHZ 166, 8 = ZIP 2006, 665, dazu EWiR 2006, 523 (Hoos).

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§ 27

Sacheinlagen. Sachübernahmen; Rückzahlung von Einlagen

an einen Dritten darauf ankommt, dass „der Inferent dadurch in gleicher Weise begünstigt wird wie durch die unmittelbare Leistung an ihn selbst“. Dies ist bspw. dann der Fall, wenn die Rückzahlung der Einlage an ein vom Aktionär beherrschtes Unternehmen83) oder eine nahestehende Person erfolgt. 62 In der früheren Rechtsprechung war die Abgrenzung zwischen den Fallgruppen des Hinund Herzahlens und der verdeckten Sacheinlage nicht immer ganz eindeutig. In diesem Punkt hat die gesetzliche Regelung nunmehr eine Klärung herbeigeführt, indem sie den Vorrang der verdeckten Sacheinlage vor dem Hin- und Herzahlen ausdrücklich festgelegt hat (siehe Gesetzeswortlaut „die nicht als verdeckte Sacheinlage … zu beurteilen ist“).84) 3.

Rechtsfolge des Hin- und Herzahlens

63 Der BGH hat früher im Falle des Hin- und Herzahlens eine Erfüllungswirkung der Einlage stets verneint. Dem ist der Gesetzgeber nicht gefolgt. Nach der gesetzlichen Neuregelung kommt es vielmehr darauf an, ob der Rückzahlungsanspruch vollwertig und jederzeit fällig ist (§ 27 Abs. 4 Satz 1). Nur dann wird die Einlageforderung durch das Hinzahlen (trotz des Herzahlens) erfüllt. Andernfalls verbleibt es bei den bisherigen Rechtsprechungsregeln, wonach im Falle des Hin- und Herzahlens die geschuldete Einlageleistung nicht erfüllt worden ist (siehe Gesetzeswortlaut „so befreit dies den Aktionär von seiner Einlageverpflichtung nur dann“).85) 64 Erste Voraussetzung für die Erfüllungswirkung ist, dass die „Leistung durch einen vollwertigen Rückzahlungsanspruch gedeckt ist“. Im Rahmen der MPS-Entscheidung, bei der es um Fragen der Kapitalerhaltung bei verbundenen AGs ging, hat der BGH deutlich gemacht, dass für die Vollwertigkeit des Rückgewähranspruchs die allgemeinen Grundsätze des Bilanzrechts gelten. Maßstab für die Vollwertigkeit sei „eine vernünftige kaufmännische Beurteilung, wie sie auch bei der Bewertung von Forderungen aus Drittgeschäften im Rahmen der Bilanzierung (§ 253 HGB) maßgeblich ist“.86) Die Kapitalaufbringung ist somit nur dann ordnungsgemäß erfolgt, wenn der Rückgewähranspruch der Gesellschaft in voller Höhe vollwertig ist. Jeder Wertabschlag und jede Abzinsung haben zur Folge, dass der Aktionär seine Bareinlageverpflichtung nicht (auch nicht anteilig) erfüllt hat. 65 Zweite Voraussetzung für die Erfüllungswirkung des Hin- und Herzahlens ist, dass der Rückgewähranspruch „jederzeit fällig ist oder durch fristlose Kündigung durch die Gesellschaft fällig gestellt werden kann.“ Für die jederzeitige Fälligkeit des Rückgewähranspruchs (Alt. 1) genügt es nicht, dass die Gesellschaft die Möglichkeit hat, über die abgeflossenen Mittel zu verfügen. Der sofortigen Fälligkeit gleichwertig ist nur die Befugnis, den Rückgewähranspruch „jederzeit“ und „ohne Einschränkungen“ fällig stellen zu können (Alt. 2).87) Die Möglichkeit der Kündigung aus wichtigem Grund oder bei einer Verschlechterung der Vermögensverhältnisse genügt dafür nicht. Vielmehr muss das Recht zur fristlosen Kündigung ohne wichtigen Grund ausdrücklich vereinbart werden. _____________ 83) BGH, Urt. v. 20.7.2009 – II ZR 273/07 (Cash Pool II), BGHZ 182, 103 = ZIP 2009, 1561, dazu EWiR 2009, 537 (Maier-Reimer). S. a. BGH, Urt. v. 1.2.2010 – II ZR 173/08 (Eurobike), BGHZ 184, 158 = ZIP 2010, 423, dazu EWiR 2010, 169 (Lieder); BGH, Urt. v. 16.1.2006 – II ZR 76/04 (Cash Pool), BGHZ 166, 8 = ZIP 2006, 665, dazu EWiR 2006, 523 (Hoos). 84) Zur Abgrenzung des Hin- und Herzahlens bei einer GmbH s. BGH, Beschl. v. 17.9.2013 – II ZR 142/12, ZIP 2014, 261. 85) BGH, Urt. v. 20.7.2009 – II ZR 273/07 (Cash Pool II), BGHZ 182, 103 = ZIP 2009, 1561, dazu EWiR 2009, 537 (Maier-Reimer). Ausführlich dazu Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 236 ff. 86) BGH, Urt. v. 1.12.2008 – II ZR 102/07 (MPS), BGHZ 179, 71 = ZIP 2009, 70, dazu EWiR 2009, 129 (Blasche). 87) BGH, Urt. v. 20.7.2009 – II ZR 273/07 (Cash Pool II), BGHZ 182, 103 = ZIP 2009, 1561, dazu EWiR 2009, 537 (Maier-Reimer).

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Sacheinlagen. Sachübernahmen; Rückzahlung von Einlagen

§ 27

Nach dem Gesetzeswortlaut muss „eine solche Leistung oder die Vereinbarung einer solchen 66 Leistung“ in der Handelsregisteranmeldung angegeben werden (§ 27 Abs. 4 Satz 2). Der BGH ist – zum GmbH-Recht – davon ausgegangen, dass die Offenlegung in der Handelsregisteranmeldung „konstitutiv(e)“ Bedeutung hat und somit eine dritte Voraussetzung für die Erfüllungswirkung des Hin- und Herzahlens darstellt.88) Dies gilt nach Auffassung des BGH selbst dann, wenn das Hin- und Herzahlen bereits vor Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung erfolgt ist. Dabei ist nicht nur die Leistung bzw. deren Vereinbarung anzugeben. Vielmehr sind die 67 gesamten Umstände des Hin- und Herzahlens offenzulegen.89) Dazu gehört das Vorliegen einer die Einlagepflicht substituierenden Vereinbarung, das Erbringen einer entsprechenden Leistung, ein vollwertiger Rückgewähranspruch und dessen jederzeitige Fälligkeit bzw. die Möglichkeit der jederzeitigen Fälligstellung. Es bleibt abzuwarten, ob die Rechtsprechung an der konstitutiven Bedeutung der Offenlegung (auch für das Aktienrecht) festhält, nachdem sich aus der amtlichen Gesetzesbegründung zum ARUG jetzt wohl etwas anderes ergibt.90) Ein Hin- und Herzahlen befreit den Inferenten somit „nur dann“ von seiner Einlagever- 68 pflichtung, wenn diese drei Voraussetzungen vollständig erfüllt sind. Liegt nur eine Voraussetzung nicht vor, tritt keinerlei Erfüllungswirkung ein. Der Leistung von Bareinlagen dürfte in den Fällen des Hin- und Herzahlens somit auch 69 nach dem Inkrafttreten der Neuregelung nur in wenigen Ausnahmefällen Erfüllungswirkung zukommen. Bereits das Bestehen eines vollwertigen und jederzeit fälligen Rückgewähranspruchs ist für die Beteiligten keineswegs immer ohne weiteres darzulegen und nachzuweisen. Jedenfalls sind die entsprechenden Vereinbarungen und Prüfungen mit einem nicht unerheblichen Zeit- und Kostenaufwand verbunden. Darüber hinaus ist die Offenlegung des gesamten Vorgangs in der Handelsregisteranmeldung und die damit einhergehende Kontrolle durch das Registergericht91) vielfach nicht gewünscht (aber gleichwohl unbedingt notwendig). VI.

Cash Pooling

In größeren Konzernen sind zentrale Cash-Management-Systeme weit verbreitet, bei denen 70 die Liquidität unter den einzelnen Gesellschaften ständig ausgeglichen wird. Seit langem ist umstritten, ob und inwieweit solche Systeme mit den gesetzlichen Regeln über die Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung in Einklang stehen. Bedenken hat insbesondere auch der BGH92) geäußert, was Anlass für zahlreiche Diskussionen war.93) _____________ 88) BGH, Urt. v. 20.7.2009 – II ZR 273/07 (Cash Pool II), BGHZ 182, 103 = ZIP 2009, 1561, dazu EWiR 2009, 537 (Maier-Reimer). S. a. BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 120/07 (Qivive), BGHZ 180, 38 = ZIP 2009, 713, dazu EWiR 2009, 443 (Schodder). Ebenso für Altfälle vor Inkrafttreten des MoMiG OLG Koblenz, Urt. v. 17.3.2011 – 6 U 879/10, GmbHR 2011, 579 mit Anm. Zabel. 89) BGH, Urt. v. 20.7.2009 – II ZR 273/07 (Cash Pool II), BGHZ 182, 103 = ZIP 2009, 1561, dazu EWiR 2009, 537 (Maier-Reimer). 90) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. ARUG, BT-Drucks. 16/13098, S. 37 – „Erfüllungswirkung gemäß § 27 Abs. 4 Satz 1 AktG-E“, nicht aber auch Satz 2. Kritisch u. a. K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 107. 91) So zu § 19 Abs. 5 Satz 2 GmbHG OLG München, Beschl. v. 17.2.2011 – 31 Wx 246/10, ZIP 2011, 567. 92) S. insbesondere BGH, Urt. v. 24.11.2003 – II ZR 171/01 (November-Urteil), BGHZ 157, 72 = ZIP 2004, 263, dazu EWiR 2004, 911 (Schöne); BGH, Urt. v. 16.1.2006 – II ZR 76/04 (Cash Pool), BGHZ 166, 8 = ZIP 2006, 665, dazu EWiR 2006, 523 (Hoos). 93) S. u. a. Hölters-Solveen, AktG, § 27 Rz. 53; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 27 Rz. 111 ff.; Spindler/ Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 272 ff.

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§ 28

Gründer

71 Mit dem MoMiG94) und dem ARUG95) wollte der Gesetzgeber zur bilanziellen Betrachtungsweise zurückkehren96) und insbesondere auch das „ökonomisch sinnvolle“ Cash Pooling (wieder) ermöglichen. Der BGH hat seine Zustimmung zu den Neuregelungen bereits vor Inkrafttreten der Gesetzesänderung deutlich gemacht.97) 72 Der Gesetzgeber hat das Cash Pooling allerdings keineswegs generell für zulässig erklärt. Vielmehr gelten auch insoweit die allgemeinen Vorschriften über die Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung. Danach kommt es darauf an, ob der Saldo auf dem Zielkonto für die AG negativ oder positiv war.98) Bei einem negativen Saldo handelt es sich bei der Einlage, die dann mit der Verbindlichkeit verrechnet wird, um eine verdeckte Sacheinlage (§ 27 Abs. 3). Diese ist aber unverändert unzulässig. In der Anmeldung darf insbesondere nicht erklärt werden, dass die Kapitalaufbringung ordnungsgemäß erfolgt ist. Bei einem positiven Saldo liegt ein Hin- und Herzahlen vor (§ 27 Abs. 4). Die Leistung der Einlage hat demnach Erfüllungswirkung, wenn der Rückgewähranspruch der Gesellschaft gegen den Cash-Pool vollwertig und fällig ist, und dies alles der Handelsregisteranmeldung offengelegt wird. In der Praxis ist die Rechtsunsicherheit nach wie vor erheblich. Die zivilrechtlichen und strafrechtlichen Haftungsrisiken für die Beteiligten sind mit der Neuregelung keineswegs aus der Welt.99) _____________ 94) Begr. RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 34 und 40. 95) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. ARUG, BT-Drucks. 16/13098, S. 37. 96) Einschränkend und für eine wirtschaftliche Betrachtungsweise im Zusammenhang mit der Kapitalerhaltung bei einer GmbH jetzt BGH, Urt. v. 21.3.2017 – II ZR 93/16, ZIP 2017, 971, dazu EWiR 2017, 585 (K. Schmidt) – verbotene Auszahlung i. S. von § 30 Abs. 1 GmbHG bei der Bestellung dinglicher Sicherheiten für einen Darlehensrückzahlungsanspruch. 97) BGH, Urt. v. 1.12.2008 – II ZR 102/07 (MPS), BGHZ 179, 71 = ZIP 2009, 70, dazu EWiR 2009, 129 (Blasche). 98) BGH, Urt. v. 20.7.2009 – II ZR 273/07 (Cash Pool II), BGHZ 182, 103 = ZIP 2009, 1561, dazu EWiR 2009, 537 (Maier-Reimer). 99) Ähnlich das Fazit bei Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 285 – noch kein rechtssicheres und praktikables Verfahren gefunden.

§ 28 Gründer Thomas Wachter

Die Aktionäre, die die Satzung festgestellt haben, sind die Gründer der Gesellschaft. Übersicht I. Überblick ........................................... 1 I.

II. Begriff des Gründers ......................... 3

Überblick

1 Das AktG spricht in zahlreichen Vorschriften von den Gründern der Gesellschaft (siehe etwa §§ 23 Abs. 2 Nr. 1, 30 Abs. 1 Satz 1, 31 Abs. 1, 32 Abs. 1, 33 Abs. 2 Nr. 1, 35 Abs. 1 und 2, 36 Abs. 1, 160 Abs. 1 Nr. 1). Die Gründer sind sowohl zivilrechtlich (siehe §§ 46, 50 und 51) als auch strafrechtlich (§ 399 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2) für die ordnungsgemäße Gründung verantwortlich.1) Die Gründer sind verpflichtet, die versprochenen Einlagen auf die von ihnen übernommenen Aktien zu leisten (§§ 23 Abs. 2 Nr. 2, 36, 36a). Die Gründer haben den ersten Aufsichtsrat und den ersten Abschlussprüfer zu bestellen (§ 30 Abs. 1). Die Gründer müssen über den Hergang der Gründung einen schriftlichen Bericht erstat_____________ 1)

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Hölters-Solveen, AktG, § 28 Rz. 1.

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§ 28

Gründer

ten (§ 32). Schließlich müssen die Gründer (zusammen mit den Mitgliedern des Vorstands und Aufsichtsrats) die Gesellschaft auch zur Eintragung in das Handelsregister anmelden (§ 36 Abs. 1). § 28 enthält eine Legaldefinition der Gründer. Gründer sind danach die Aktionäre, die 2 die Satzung der Gesellschaft festgestellt haben. Die Begriffsbestimmung gilt für das gesamte Aktienrecht. Vorrangige Sondervorschriften bestehen lediglich im Umwandlungsrecht (siehe §§ 36 Abs. 2 Satz 2, 245 UmwG).2) II.

Begriff des Gründers

Gründer der Gesellschaft sind die Aktionäre, die die Satzung der Gesellschaft festgestellt haben (§ 28). Die Satzung muss durch notarielle Beurkundung festgestellt werden (§ 23 Abs. 1 Satz 1). In der Urkunde sind u. a. auch die Gründer anzugeben (§ 23 Abs. 2 Nr. 1). Die Gründer stehen aufgrund der Angaben in einer öffentlichen Urkunde somit rechtssicher und zweifelsfrei fest (§ 415 ZPO). Über den Gesetzeswortlaut hinaus muss ein Gründer aber nicht nur die Satzung wirksam festgestellt haben, sondern auch mindestens eine Aktie übernommen haben (siehe §§ 2 und 23 Abs. 2 Nr. 2).3) Mit der Feststellung der Satzung regeln die Gründer ihre gesellschaftsrechtlichen Beziehungen. Die Mitgliedschaft wird aber erst mit der Übernahme von Aktien begründet. Wer keine Aktien übernimmt, wird auch nicht Mitglied der Gesellschaft. Gründer einer AG können insbesondere natürliche Personen (unabhängig von Wohnsitz oder Staatsangehörigkeit), (in- und ausländische) juristische Personen des privaten und öffentlichen Rechts (einschließlich von Vorgesellschaften), Personenhandelsgesellschaften (wie etwa OHG, KG, GmbH & Co. KG, siehe § 14 Abs. 2 BGB), Gesellschaften bürgerlichen Rechts (vgl. §§ 8 Abs. 1 Nr. 3, 40 Abs. 1 Satz 2 GmbHG), Erbengemeinschaften und Ehegatten in Gütergemeinschaft sein (zum Streitstand insbesondere bei den Gesamthandsgemeinschaften siehe § 2 Rz. 13 ff.). Im Falle der Stellvertretung ist der Vertretene der Gründer (und nicht der Stellvertreter). Bei Handeln eines Treuhänders, der im eigenen Namen, aber auf fremde Rechnung handelt, ist dieser selbst Gründer. Eine Person, die bei Feststellung der Satzung geschäftsunfähig ist, wird nicht Gründer. Tritt die Geschäftsunfähigkeit aber erst später ein, bleibt die bereits begründete Gründerstellung unberührt (siehe § 130 Abs. 2 BGB).4) Bei Anfechtung (§§ 119 ff. BGB) einer auf die Feststellung der Satzung gerichteten Willenserklärung, entfällt die Gründerstellung des Anfechtenden rückwirkend (§ 142 BGB), wenn die Vor-AG zum Zeitpunkt der Anfechtung noch nicht in Vollzug gesetzt gewesen ist. Andernfalls kommen die Regeln über die fehlerhafte Gesellschaft zur Anwendung und der Anfechtende bleibt Gründer. Nach Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister ist eine Anfechtung ausgeschlossen.5) Bei Tod eines Gründers treten die Erben in seine (zivilrechtliche) Rechtsstellung ein (§§ 1922 ff. und 1967 ff. BGB). Die Entstehung der Gesellschaft bleibt davon unberührt.6) _____________ 2) 3) 4) 5) 6)

K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 28 Rz. 2. So auch Hölters-Solveen, AktG, § 28 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 28 Rz. 2; Arnold in: KölnKommAktG, § 28 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 28 Rz. 3; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 28 Rz. 2. Hölters-Solveen, AktG, § 28 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 28 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 28 Rz. 6; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 28 Rz. 3. Hölters-Solveen, AktG, § 24 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 28 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 28 Rz. 5; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 28 Rz. 3. Hölters-Solveen, AktG, § 28 Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 28 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 28 Rz. 7; Spindler/Stilz-Limmer, AktG, § 28 Rz. 4.

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§ 29

Errichtung der Gesellschaft

§ 29 Errichtung der Gesellschaft Thomas Wachter

Mit der Übernahme aller Aktien durch die Gründer ist die Gesellschaft errichtet. 1 Die Gesellschaft ist mit der Übernahme aller Aktien durch die Gründer errichtet (§ 29). Bei Feststellung der Satzung müssen alle Aktien von den Gründern übernommen werden (siehe § 23 Abs. 2 Nr. 2). Eine Übernahme von Aktien nach Feststellung der Satzung ist unzulässig. Der Zeitpunkt der Errichtung der Gesellschaft (§ 29) ist daher mit dem Zeitpunkt der Feststellung der Satzung (§ 23 Abs. 1 Satz 1) identisch.1) 2 Mit der Errichtung der Gesellschaft ist die Vor-AG entstanden (siehe § 41 Abs. 1 Satz 1).2) Mit der Eintragung im Handelsregister entsteht sodann die AG als juristische Person. _____________ 1) 2)

Arnold in: KölnKomm-AktG, § 29 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 29 Rz. 2 ff. Zur Rechtslage bei der GmbH s. zuletzt BGH, Urteil v. 15.4.2021 – III ZR 139/20, ZIP 2021, 1160.

§ 30 Bestellung des Aufsichtsrats, des Vorstands und des Abschlußprüfers Thomas Wachter

(1) 1Die Gründer haben den ersten Aufsichtsrat der Gesellschaft und den Abschlußprüfer für das erste Voll- oder Rumpfgeschäftsjahr zu bestellen. 2Die Bestellung bedarf notarieller Beurkundung. (2) Auf die Zusammensetzung und die Bestellung des ersten Aufsichtsrats sind die Vorschriften über die Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer nicht anzuwenden. (3) 1Die Mitglieder des ersten Aufsichtsrats können nicht für längere Zeit als bis zur Beendigung der Hauptversammlung bestellt werden, die über die Entlastung für das erste Voll- oder Rumpfgeschäftsjahr beschließt. 2Der Vorstand hat rechtzeitig vor Ablauf der Amtszeit des ersten Aufsichtsrats bekanntzumachen, nach welchen gesetzlichen Vorschriften der nächste Aufsichtsrat nach seiner Ansicht zusammenzusetzen ist; §§ 96 bis 99 sind anzuwenden. (4) Der Aufsichtsrat bestellt den ersten Vorstand. Literatur: Bayer/Scholz, Der Verzicht auf die Dreiteilbarkeit der Mitgliederzahl des Aufsichtsrats nach der Neufassung des § 95 Satz 3 AktG, ZIP 2016, 193; Blasche, Satzungsregelungen zur Amtszeit der Aufsichtsratsmitglieder, AG 2017, 112; Lübke, Die Nichtigkeitsklage des Insolvenzverwalters, die Zustellung der Klageschrift und die Liste der Aufsichtsratsmitglieder als Rechtsscheinträger, ZGR 2021, 156; Thoelke, Der erste Aufsichtsrat hat sich überlebt, AG 2014, 137.

Übersicht I. Überblick ........................................... 1 II. Der erste Aufsichtsrat (§ 30 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 3) ................ 4 1. Bestellung (§ 30 Abs. 1) .................... 4 2. Zusammensetzung (§ 30 Abs. 2) ...... 9 3. Amtszeit (§ 30 Abs. 3) .................... 13 160

4. Aufgaben ........................................... 18 III. Der erste Vorstand (§ 30 Abs. 4) ... 20 1. Bestellung .......................................... 20 2. Aufgaben ........................................... 24 IV. Der erste Abschlussprüfer (§ 30 Abs. 1) ..................................... 25

Thomas Wachter

Bestellung des Aufsichtsrats, des Vorstands und des Abschlußprüfers I.

§ 30

Überblick

Mit der Feststellung der Satzung (§ 23 Abs. 1) bzw. der Übernahme der Aktien durch die 1 Gründer (§§ 23 Abs. 2 Nr. 2, 29) entsteht die Vor-AG (siehe § 41 Abs. 1). Diese benötigt Organe, um handlungsfähig zu sein.1) Die Gründer müssen daher den ersten Aufsichtsrat bestellen. Dieser bestellt sodann den ersten Vorstand. Die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats haben den Hergang der Gründer zu prüfen (§ 33 Abs. 1) und die Gesellschaft (zusammen mit den Gründern) zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden (§ 36 Abs. 1). Ferner müssen die Gründer (und nicht eine sonst einzuberufende Hauptversammlung, siehe § 119 Abs. 1 Nr. 4 AktG und § 318 HGB)2) auch den ersten Abschlussprüfer der Gesellschaft bestellen. Die Bestellung von Aufsichtsrat und Abschlussprüfer bedarf im Interesse der Rechtssicherheit der notariellen Beurkundung. Die Gründer haben den ersten Aufsichtsrat der Gesellschaft zu bestellen (§ 30 Abs. 1 2 Satz 1). Die Bestellung bedarf der notariellen Beurkundung (§ 30 Abs. 1 Satz 2). Auf die Zusammensetzung und die Bestellung des ersten Aufsichtsrats sind die Vorschriften über die Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer (noch) nicht anzuwenden (§ 30 Abs. 2). Besonderheiten gelten für den Fall, dass in der Satzung die Einbringung oder Übernahme eines Unternehmens bzw. Unternehmensteils als Sacheinlage oder Sachübernahme festgesetzt worden ist (§ 31). Im Interesse einer möglichst frühzeitigen Beteiligung der Arbeitnehmer ist die Amtszeit des ersten Aufsichtsrats aber begrenzt. Die Mitglieder des ersten Aufsichtsrats können nicht für längere Zeit als bis zur Beendigung der Hauptversammlung bestellt werden, die über die Entlastung für das erste Voll- oder Rumpfgeschäftsjahr beschließt (§ 30 Abs. 3 Satz 1). Rechtzeitig vor Ablauf der Amtszeit des ersten Aufsichtsrats hat der Vorstand bekannt zu machen, nach welchen gesetzlichen Vorschriften sich der Aufsichtsrat zusammensetzt (§ 30 Abs. 3 Satz 2 i. V. m. §§ 96 ff.). Der (erste) Aufsichtsrat bestellt sodann den ersten Vorstand (§ 30 Abs. 4). Für das erste Voll- oder Rumpfgeschäftsjahr müssen die Gründer schließlich auch den 3 Abschlussprüfer der Gesellschaft bestellen (§ 30 Abs. 1 Satz 1). Diese Bestellung bedarf gleichfalls der notariellen Beurkundung (§ 30 Abs. 1 Satz 2). II.

Der erste Aufsichtsrat (§ 30 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 3)

1.

Bestellung (§ 30 Abs. 1)

Der erste Aufsichtsrat der Gesellschaft ist von den Gründern zu bestellen (§ 30 Abs. 1 4 Satz 1 i. V. m. § 28). Unterbleibt die Bestellung des ersten Aufsichtsrats, kann die Gesellschaft nicht in das Handelsregister eingetragen werden (§ 38 Abs. 1). Sonstige Sanktionen sind nicht vorgesehen. Eine gerichtliche Ersatzbestellung (siehe § 104) ist nicht möglich. Im Übrigen finden für die Bestellung des ersten Aufsichtsrats grundsätzlich die allgemeinen 5 Bestimmungen Anwendung (siehe §§ 100 ff.). Zu Mitgliedern des Aufsichtsrats können daher nur Personen bestellt werden, die auch die gesetzlich und satzungsgemäß vorgesehenen persönlichen Voraussetzungen erfüllen (§§ 100, 105). Gründer können zu Mitgliedern des Aufsichtsrats bestellt werden.3) Die Bestellung des ersten Aufsichtsrats erfolgt durch einen Beschluss der Gründer. Der 6 Beschluss bedarf der einfachen Mehrheit der Stimmen (§ 133 Abs. 1 analog). Stellvertretung bei der Beschlussfassung ist zulässig. Die Vollmacht bedarf jedoch der Textform (§ 134 _____________ 1)

2) 3)

Hölters-Solveen, AktG, § 30 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 30 Rz. 1; Arnold in: KölnKommAktG, § 29 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 30 Rz. 1; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 30 Rz. 6; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 30 Rz. 1. K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 30 Rz. 2. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 30 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 30 Rz. 4.

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§ 30

Bestellung des Aufsichtsrats, des Vorstands und des Abschlußprüfers

Abs. 3 Satz 3 analog). Ein Gründer ist auch dann stimmberechtigt, wenn er selbst zum Mitglied des Aufsichtsrats bestellt werden soll (§ 136 gilt insoweit nicht).4) In der Praxis erfolgt die Bestellung des ersten Aufsichtsrats meist unmittelbar im notariellen Gründungsprotokoll (siehe §§ 23 Abs. 1, 30 Abs. 1 Satz 2). 7 Die Bestellung des ersten Aufsichtsrats bedarf aus Gründen der Rechtssicherheit der notariellen Beurkundung (§ 30 Abs. 1 Satz 2).5) 8 Für die Bestellung des ersten Aufsichtsrats sind die Gründer zuständig (§ 30 Abs. 1 Satz 1). Eine Ausnahme besteht nur für den Fall, dass die Satzung ein Recht zur Entsendung von Mitgliedern des Aufsichtsrats vorsieht (§ 101 Abs. 2). In diesem Fall wird die Zuständigkeit der Gründer von dem Entsendungsrecht verdrängt.6) Die Erklärung des Entsendeberechtigten bedarf der notariellen Beurkundung (§ 30 Abs. 1 Satz 2 analog).7) Nach Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister werden die Mitglieder des Aufsichtsrats von der Hauptversammlung gewählt (§ 101 Abs. 1). 2.

Zusammensetzung (§ 30 Abs. 2)

9 Der Aufsichtsrat (auch der erste) besteht aus mindestens drei Mitgliedern (§ 95 Sätze 1 und 2). Die Satzung kann eine höhere Zahl von Mitgliedern des Aufsichtsrats bestimmen, die grundsätzlich nicht (mehr) durch drei teilbar sein muss (§ 95 Sätze 2 und 3. – Ausnahme: § 31).8) Je nach Höhe des Grundkapitals der Gesellschaft kann der Aufsichtsrat maximal 9, 15 oder 21 Mitglieder haben (§ 95 Satz 4). 10 Die Vorschriften über die Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer (siehe MitBestG, DrittelbG, MontanMitbestG und MontanMitbestErgG) finden auf den ersten Aufsichtsrat keine Anwendung (§ 30 Abs. 2; siehe auch § 96). Der erste Aufsichtsrat setzt sich somit ausschließlich aus Vertretern der Anteilseigner zusammen. Grund dafür ist, dass die neu gegründete Gesellschaft meist nur über wenige (oder gar keine) Arbeitnehmer verfügt und daher eine repräsentative Wahl der Arbeitnehmervertreter noch nicht möglich ist. Als Ausgleich für die fehlende Arbeitnehmerbeteiligung ist die Amtszeit des ersten Aufsichtsrats zeitlich eng begrenzt (§ 30 Abs. 3 Satz 1).9) 11 Beschränkungen für die Bestellung des ersten Aufsichtsrats bestehen (nur) für den Fall, dass in der Satzung die Einbringung oder Übernahme eines Unternehmens bzw. Unternehmensteils als Sacheinlage oder Sachübernahme festgesetzt worden ist (§ 31). Die Gründer dürfen dann nur diejenigen Aufsichtsratsmitglieder bestellen, die nach den gesetzlichen Vorschriften nicht auf die Vertreter der Arbeitnehmer entfallen. 12 Der Vorstand muss rechtzeitig vor Ablauf der Amtszeit des ersten Aufsichtsrats (in der Regel vier bis fünf Monate vor deren Ende) bekannt machen, nach welchen gesetzlichen Regelungen der nächste Aufsichtsrat zusammenzusetzen ist (§ 30 Abs. 3 Satz 2 i. V. m.

_____________ 4) 5) 6) 7) 8) 9)

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Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 30 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 30 Rz. 5; Spindler/StilzGerber, AktG, § 30 Rz. 8. Hölters-Solveen, AktG, § 30 Rz. 1 und 5; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 30 Rz. 1 und 6. Hölters-Solveen, AktG, § 30 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 30 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 30 Rz. 7. Hölters-Solveen, AktG, § 30 Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 30 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 30 Rz. 7; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 30 Rz. 15; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 30 Rz. 6. S. die Änderung von § 95 Satz 3 durch Art. 1 Nr. 8 der Aktienrechtsnovelle 2016, BGBl. I 2015, 2565. Ausführlich dazu Bayer/Scholz, ZIP 2016, 193. Arnold in: KölnKomm-AktG, § 30 Rz. 10 ff.; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 30 Rz. 2 und Rz. 8.

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Bestellung des Aufsichtsrats, des Vorstands und des Abschlußprüfers

§ 30

§§ 96 ff.).10) Dies gilt (anders als bei § 97 Abs. 1 Satz 1) auch dann, wenn der neue Aufsichtsrat ebenso wie der erste Aufsichtsrat zusammenzusetzen ist. Eine verspätete oder unterlassene Bekanntmachung des Vorstands führt nicht zur Unwirksamkeit der Neuwahl des Aufsichtsrats, kann aber Schadensersatzansprüche gegen den Vorstand begründen. Der Beschluss über die Neuwahl der Aufsichtsratsmitglieder ist allerdings nichtig, wenn die Bestellung nicht der Bekanntmachung des Vorstands (§ 97 Abs. 2 Satz 1) oder der gerichtlichen Entscheidung über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats entspricht (§ 250 Abs. 1 Nr. 1). 3.

Amtszeit (§ 30 Abs. 3)

Die Mitglieder des ersten Aufsichtsrats können höchstens bis zur Beendigung der Haupt- 13 versammlung bestellt werden, die über die Entlastung für das erste Voll- oder Rumpfgeschäftsjahr beschließt (§ 30 Abs. 3 Satz 1 als Ausnahme zu § 102). Im Ergebnis kann die Amtsdauer des ersten Aufsichtsrats somit höchstens zwanzig Monate betragen (siehe §§ 120 Abs. 1 Satz 1, 175 Abs. 1 Satz 2 und § 240 Abs. 2 Satz 2 HGB). Zweck der Vorschrift ist es, möglichst frühzeitig die Mitwirkung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat sicherzustellen.11) Die Beschränkung der Amtszeit gilt demnach nicht, wenn die Vertreter der Arbeitnehmer ausnahmsweise bereits zu Mitgliedern des Aufsichtsrats bestellt worden sind (§ 31 Abs. 5 und § 102). Die Höchstdauer ist zwingend.12) Eine längere Amtszeit des ersten Aufsichtsrats kann 14 weder in der Satzung vorgesehen werden (§ 23 Abs. 5)13) noch von den Gründern beschlossen werden (siehe § 30 Abs. 1 Satz 1). Die Festsetzung einer kürzeren Amtszeit ist dagegen möglich. Allerdings muss gewährleistet sein, dass die Mitglieder des Aufsichtsrats zumindest bis zur Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister im Amt bleiben.14) Die Amtszeit des ersten Aufsichtsrats15) endet kraft Gesetzes stets mit Ablauf der ge- 15 setzlich vorgesehenen Frist. Dies gilt auch dann, wenn die Hauptversammlung nicht innerhalb der vorgesehenen Frist über die Entlastung des Aufsichtsrats entscheidet. Das Amt des ersten Aufsichtsrats endet dann zu dem Zeitpunkt, zu dem die Hauptversammlung richtigerweise über die Entlastung entscheiden hätte müssen.16) Ein Fortbestand des Amts des Aufsichtsrats kommt aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit nicht in Betracht. Das Risiko der Beschlussunfähigkeit des Aufsichtsrats (siehe § 108 Abs. 2) kann durch die gerichtliche Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern (§ 104) verhindert werden. Alle Rechtshandlungen, die ein Mitglied des Aufsichtsrats nach Ende seiner Amtszeit noch vornimmt, sind unwirksam. Es besteht insoweit auch kein Vertrauensschutz (siehe § 106 AktG,17) § 15 HGB, § 40 GmbHG). _____________ 10) Zum Inhalt der Bekanntmachung s. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 30 Rz. 9; Arnold in: KölnKommAktG, § 30 Rz. 24; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 30 Rz. 17 f.; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 30 Rz. 18. 11) Pentz in: MünchKomm-AktG, § 30 Rz. 22. 12) K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 30 Rz. 10. 13) Allg. zu Satzungsregelungen zur Amtszeit der Aufsichtsratsmitglieder Blasche, AG 2017, 112. 14) K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 30 Rz. 11; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 30 Rz. 14. 15) Kritsch zu den Regelungen für den ersten Aufsichtsrat Thoelke, AG 2014, 137, der u. a. vorschlägt, dass die Regelung nur für die Mitglieder des Aufsichtsrats gilt, die bis zur Eintragung bestellt worden sind. 16) BGH, Urt. v. 24.6.2002 – II ZR 296/01, ZIP 2002, 1619, dazu EWiR 2003, 45 (Pötter) – zur Amtsdauer des regulären Aufsichtsrats nach § 102 Abs. 1. Zustimmend Hölters-Solveen, AktG, § 30 Rz. 8; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 30 Rz. 16; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 30 Rz. 10; Pentz in: MünchKommAktG, § 30 Rz. 24; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 30 Rz. 14. A. A. insoweit Bürgers/Körber/Lieder-Lohse, AktG, § 30 Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 30 Rz. 7. 17) Zum Rechtsschein der Liste der Aufsichtsratsmitglieder nach § 106 AktG i. V. m. §§ 170 ff. BGB analog s. BGH, Urteil v. 21.4.2020 – II ZR 412/17, ZIP 2020, 1064, dazu EWiR 2020, 387 (Wilsing), ausführlich dazu Lübke, ZGR 2021, 156.

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§ 30

Bestellung des Aufsichtsrats, des Vorstands und des Abschlußprüfers

16 Mitglieder des ersten Aufsichtsrats können ihr Amt (vorbehaltlich einer abweichenden Regelung in der Satzung) auch ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes niederlegen. Die Amtsniederlegung ist gegenüber dem Vorstand (und vor dessen Bestellung gegenüber den Gründern) zu erklären. Eine Abberufung von Mitgliedern des ersten Aufsichtsrats ist durch Beschluss der Hauptversammlung möglich (§ 103 Abs. 1 Satz 1). Der Beschluss bedarf regelmäßig einer Mehrheit von drei Vierteln der abgegebenen Stimmen (§ 103 Abs. 1 Sätze 2 und 3) und muss aus Gründen der Rechtssicherheit (ebenso wie der Bestellungsbeschluss) notariell beurkundet werden (§ 30 Abs. 1 Satz 2 analog).18) Die Beschlussniederschrift muss von einem Notar beurkundet werden (§ 130 Abs. 1 Satz 1); die Niederschrift des Vorsitzenden des Aufsichtsrats (§ 130 Abs. 1 Satz 3) ist nicht ausreichend.19) 17 Scheidet ein Mitglied des Aufsichtsrats vorzeitig aus, bestellen die Gründer einen Nachfolger (§ 30 Abs. 1). Nach Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister werden die neuen Mitglieder des Aufsichtsrats von der Hauptversammlung gewählt (§ 101 Abs. 1) oder vom Gericht bestellt (§ 104). 4.

Aufgaben

18 Der erste Aufsichtsrat bestellt den ersten Vorstand (§ 30 Abs. 4). Darüber hinaus haben die Mitglieder des Aufsichtsrats (zusammen mit den Mitgliedern des Vorstands) den Hergang der Gründung zu prüfen (§ 33 Abs. 1) und die Gesellschaft (zusammen mit den Gründern und den Mitgliedern des Vorstands) zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden (§ 36 Abs. 1). Im Übrigen ist der erste Aufsichtsrat zur Überwachung des Vorstands verpflichtet (§ 111). Vorstandsmitgliedern gegenüber vertritt der Aufsichtsrat die Gesellschaft (§ 112). 19 Die Mitglieder des ersten Aufsichtsrats haben keinen gesetzlichen Anspruch auf Vergütung. Eine Vergütung kann nur von der Hauptversammlung bewilligt werden, die über die Entlastung der Mitglieder des ersten Aufsichtsrats beschließt (§ 113 Abs. 2). Die Entscheidung über die Vergütung erfolgt somit erst am Ende der Amtszeit. Zusagen der Gründer über eine Vergütung sind nichtig (§ 134 BGB).20) Auf diese Weise soll ein Zusammenwirken zwischen den Gründern und den Mitgliedern des ersten Aufsichtsrats zulasten der Gesellschaft verhindert werden. Ein Gründerlohn (§ 26 Abs. 2) oder ein Sondervorteil (§ 26 Abs. 1) kann den Mitgliedern des ersten Aufsichtsrats gewährt werden, muss allerdings in der Satzung festgesetzt werden (siehe §§ 32 Abs. 3, 33 Abs. 2 Nr. 3). III.

Der erste Vorstand (§ 30 Abs. 4)

1.

Bestellung

20 Der erste Vorstand wird vom ersten Aufsichtsrat bestellt (§ 30 Abs. 4). Bestellt der Aufsichtsrat keinen Vorstand, können die Gründer nur den Aufsichtsrat abberufen und neue Mitglieder des Aufsichtsrats bestellen. 21 Die Bestellung des Vorstands erfolgt durch Beschluss des Aufsichtsrats (§ 108 Abs. 1). Der Beschluss bedarf der einfachen Mehrheit der Stimmen. Besondere Formvorschriften bestehen nicht (§ 30 Abs. 1 Satz 2 gilt nicht).21) Allerdings ist der Handelsregisteranmel_____________ 18) Hölters-Solveen, AktG, § 30 Rz. 9; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 30 Rz. 4; Arnold in: KölnKommAktG, § 30 Rz. 18; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 30 Rz. 13; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 30 Rz. 29; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 30 Rz. 10. 19) Insoweit a. A. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 30 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 30 Rz. 13. 20) Hölters-Solveen, AktG, § 30 Rz. 10; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 30 Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 30 Rz. 16. 21) Bürgers/Körber/Lieder-Lohse, AktG, § 30 Rz. 6; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 30 Rz. 12.

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Bestellung des Aufsichtsrats, des Vorstands und des Abschlußprüfers

§ 30

dung die Urkunde über die Bestellung des Vorstands als Anlage beizufügen (§ 37 Abs. 4 Nr. 3). Für die Anzahl der Vorstandsmitglieder (§ 76 Abs. 2), die Voraussetzungen einer wirk- 22 samen Bestellung (§ 76 Abs. 3) und die Amtsdauer der Vorstandsmitglieder (§ 84 Abs. 1) gelten die allgemeinen Bestimmungen. Ein Arbeitsdirektor muss jedoch nicht bestellt werden (siehe §§ 76 Abs. 2 Satz 3 und 30 Abs. 2).22) Von der Bestellung des Vorstands als körperschaftlichem Akt ist der Abschluss des schuld- 23 rechtlichen Anstellungsvertrags zu unterscheiden. Dieser wird zwischen der Vor-AG, vertreten durch den Aufsichtsrat (§ 112) und dem Vorstand geschlossen. Die vereinbarte Vergütung des Vorstands (§ 87) muss nicht in der Satzung festgesetzt werden (siehe § 26 Abs. 2).23) 2.

Aufgaben

Der Vorstand leitet die Gesellschaft in eigener Verantwortung (§ 76 Abs. 1). Der erste 24 Vorstand muss darüber hinaus (zusammen mit den Mitgliedern des Aufsichtsrats) den Hergang der Gründung prüfen (§ 33 Abs. 1) und die Gesellschaft (zusammen mit den Gründern und den Mitgliedern des Aufsichtsrats) zur Eintragung in das Handelsregister anmelden (§ 36 Abs. 1). IV.

Der erste Abschlussprüfer (§ 30 Abs. 1)

Die Gründer (und nicht die Hauptversammlung, siehe § 119 Abs. 1 Nr. 4 AktG i. V. m. 25 § 318 HGB) müssen für das erste Voll- oder Rumpfgeschäftsjahr regelmäßig einen Abschlussprüfer bestellen (§ 30 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 319 HGB). Die Bestellung bedarf der notariellen Beurkundung (§ 30 Abs. 1 Satz 2). In der Praxis erfolgt die Bestellung meist im notariellen Gründungsprotokoll (§ 23 Abs. 1). Die Bestellung eines Abschlussprüfers ist entbehrlich, wenn die Gesellschaft im ersten 26 Voll- oder Rumpfgeschäftsjahr nach Auffassung der Gründer eine kleine Kapitalgesellschaft sein wird (§§ 267, 267a HGB) und demnach überhaupt nicht prüfungspflichtig ist (§ 316 Abs. 1 HGB).24) Falls sich die Verhältnisse anders als von den Gründern erwartet entwickeln und die Gesellschaft doch prüfungspflichtig wird, kann das Gericht jederzeit einen Abschlussprüfer bestellen (§ 318 Abs. 4 HGB). Die Bestellung des ersten Abschlussprüfers ist (anders als die Bestellung des ersten Auf- 27 sichtsrats und des ersten Vorstands) keine zwingende Voraussetzung der Gründung. Unterbleibt die Bestellung des Abschlussprüfers, muss das Registergericht die Gesellschaft gleichwohl in das Handelsregister eintragen (§ 38 Abs. 1).25) Von der Bestellung des Abschlussprüfers ist die Erteilung des konkreten Prüfauftrags zu 28 unterscheiden. Diesen erteilt der Aufsichtsrat (§ 111 Abs. 2 Satz 3 AktG i. V. m. § 318 Abs. 1 Satz 4 HGB).26) _____________ 22) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 30 Rz. 12; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 30 Rz. 23; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 30 Rz. 39. 23) BGH, Urt. v. 14.6.2004 – II ZR 47/02, ZIP 2004, 1409, dazu EWiR 2004, 783 (Drygala). Einschränkend Pentz in: MünchKomm-AktG, § 30 Rz. 41. 24) Hölters-Solveen, AktG, § 30 Rz. 13; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 30 Rz. 19. A. A. Arnold in: KölnKomm-AktG, § 30 Rz. 27. 25) Hölters-Solveen, AktG, § 30 Rz. 13; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 30 Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 30 Rz. 26. 26) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 30 Rz. 10.

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§ 31

Bestellung des Aufsichtsrats bei Sachgründung

29 Die Abberufung des Abschlussprüfers ist nur durch das Gericht möglich (§ 318 Abs. 3 HGB). Eine Abberufung durch die Gründer scheidet im Interesse der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers auch vor der Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister aus.27) _____________ 27) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 30 Rz. 11.

§ 31 Bestellung des Aufsichtsrats bei Sachgründung Thomas Wachter

(1) 1Ist in der Satzung als Gegenstand einer Sacheinlage oder Sachübernahme die Einbringung oder Übernahme eines Unternehmens oder eines Teils eines Unternehmens festgesetzt worden, so haben die Gründer nur so viele Aufsichtsratsmitglieder zu bestellen, wie nach den gesetzlichen Vorschriften, die nach ihrer Ansicht nach der Einbringung oder Übernahme für die Zusammensetzung des Aufsichtsrats maßgebend sind, von der Hauptversammlung ohne Bindung an Wahlvorschläge zu wählen sind. 2 Sie haben jedoch, wenn dies nur zwei Aufsichtsratsmitglieder sind, drei Aufsichtsratsmitglieder zu bestellen. (2) Der nach Absatz 1 Satz 1 bestellte Aufsichtsrat ist, soweit die Satzung nichts anderes bestimmt, beschlußfähig, wenn die Hälfte, mindestens jedoch drei seiner Mitglieder an der Beschlußfassung teilnehmen. (3) 1Unverzüglich nach der Einbringung oder Übernahme des Unternehmens oder des Unternehmensteils hat der Vorstand bekanntzumachen, nach welchen gesetzlichen Vorschriften nach seiner Ansicht der Aufsichtsrat zusammengesetzt sein muß. 2§§ 97 bis 99 gelten sinngemäß. 3Das Amt der bisherigen Aufsichtsratsmitglieder erlischt nur, wenn der Aufsichtsrat nach anderen als den von den Gründern für maßgebend gehaltenen Vorschriften zusammenzusetzen ist oder wenn die Gründer drei Aufsichtsratsmitglieder bestellt haben, der Aufsichtsrat aber auch aus Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer zu bestehen hat. (4) Absatz 3 gilt nicht, wenn das Unternehmen oder der Unternehmensteil erst nach der Bekanntmachung des Vorstands nach § 30 Abs. 3 Satz 2 eingebracht oder übernommen wird. (5) § 30 Abs. 3 Satz 1 gilt nicht für die nach Absatz 3 bestellten Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer. Übersicht I. Überblick ........................................... 1 II. Sachgründung ................................... 3 III. Bestellung des ersten Aufsichtsrats durch die Gründer (§ 31 Abs. 1) ................................................ 7 IV. Beschlussfähigkeit (§ 31 Abs. 2) ... 12 I.

V. Ergänzung des Aufsichtsrats durch Arbeitnehmervertreter (§ 31 Abs. 4) ..................................... 15 VI. Amtszeit der Mitglieder des Aufsichtsrats (§ 31 Abs. 5) ..................................... 21

Überblick

1 Die Gründer bestellen grundsätzlich alle Mitglieder des ersten Aufsichtsrats (§ 30 Abs. 1). Die Vorschriften über die Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer sind dabei grundsätzlich (noch) nicht anzuwenden (§ 30 Abs. 2). Besonderheiten bestehen jedoch für Sachgründungen, bei denen ein Unternehmen bzw. Unternehmensteil eingebracht

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Bestellung des Aufsichtsrats bei Sachgründung

§ 31

oder übernommen wird. In diesen Fällen sind die nach Einbringung bzw. Übernahme des Unternehmens geltenden Vorschriften über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats bereits bei der Gründung der Gesellschaft zu berücksichtigen. Die Gründer dürfen daher nur die Mitglieder des Aufsichtsrats bestellen, die – aufgrund der künftig maßgeblichen gesetzlichen Vorschriften – nicht auf die Arbeitnehmer entfallen. Die Mitglieder des ersten Aufsichtsrats werden somit bei Gründung ggf. noch nicht vollständig, sondern nur teilweise bestellt. Nach Vollzug der Unternehmenseinbringung bzw. -übernahme wird der Aufsichtsrat sodann um die Arbeitnehmervertreter ergänzt. Auf diese Weise soll eine möglichst frühzeitige Beteiligung der Arbeitnehmer des eingebrachten Unternehmens im Aufsichtsrat der übernehmenden AG sichergestellt werden. Dies erscheint sachgerecht, da in diesem Fall – anders als bei einer Bargründung oder einer sonstigen Sachgründung – typischerweise bereits eine ausreichende Zahl von Arbeitnehmern vorhanden ist, so dass eine repräsentative Wahl der Arbeitnehmervertreter möglich ist.1) § 31 regelt die Zusammensetzung, Beschlussfähigkeit und Amtszeit des ersten Aufsichts- 2 rats in solchen Fällen einer Sachgründung mit Unternehmen. II.

Sachgründung

Der Anwendungsbereich der Vorschrift ist auf Fälle beschränkt, in denen in der Satzung 3 der Gesellschaft als Sacheinlage oder Sachübernahme (§ 27 Abs. 1) die Einbringung oder Übernahme eines Unternehmens oder eines Teils eines Unternehmens2) festgesetzt worden ist (§ 31 Abs. 1 Satz 1). Für alle anderen Fälle der Bar- und Sachgründung verbleibt es dagegen bei dem Grundsatz, dass alle Mitglieder des ersten Aufsichtsrats von den Gründern bestellt werden. Die Regelung gilt auch nicht für verdeckte Sachgründungen (siehe § 27 Abs. 3), weil es in diesen Fällen gerade an einer förmlichen Festsetzung in der Satzung fehlt.3) Nach dem Normzweck – frühzeitige Sicherung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer im 4 Aufsichtsrat – ist die Vorschrift zudem nur dann anwendbar, wenn das eingebrachte bzw. übernommene Unternehmen über eine hinreichende Anzahl von Arbeitnehmern verfügt und diese auch auf die neu gegründete AG übergehen.4) Nicht entscheidend ist demgegenüber, ob das Unternehmen bei der AG fortgeführt (oder 5 eingestellt) wird und ob den Arbeitnehmern bereits bei dem bisherigen Unternehmen Mitbestimmungsrechte zustanden. Die Vorschrift ist auch bei Gründung einer AG im Wege des Formwechsels anwendbar 6 (§ 197 Satz 3 UmwG). III.

Bestellung des ersten Aufsichtsrats durch die Gründer (§ 31 Abs. 1)

Die Zusammensetzung des Aufsichtsrats bestimmt sich nach den Vorschriften, die nach 7 der Einbringung oder Übernahme des Unternehmens bzw. Unternehmensteils maßgebend sind (siehe § 31 Abs. 1 Satz 1; sowie §§ 1, 7 MitBestG, §§ 1, 4 DrittelbG, §§ 4, 8, _____________ 1) 2) 3) 4)

Hölters-Solveen, AktG, § 31 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 31 Rz. 1; Arnold in: KölnKommAktG, § 31 Rz. 2 f.; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 31 Rz. 2; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 31 Rz. 1. Zum Begriff des Unternehmens(teils) Hölters-Solveen, AktG, § 31 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 31 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 31 Rz. 3; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 31 Rz. 7 ff. Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 31 Rz. 5. Bürgers/Körber-Lohse, AktG, § 31 Rz. 2; Hölters-Solveen, AktG, § 31 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 31 Rz. 2; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 31 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 31 Rz. 4; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 31 Rz. 3.

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§ 31

Bestellung des Aufsichtsrats bei Sachgründung

und 9 MontanMitbestG und § 5 MontanMitbestErgG).5) Dabei kommt es stets auf die subjektive Sicht der Gründer an (§ 31 Abs. 1 Satz 1: „ihrer Ansicht nach“), die darüber mit einfacher Mehrheit entscheiden. Diese Auffassung ist auch für das Registergericht bindend. Eine falsche Rechtsansicht begründet kein Eintragungshindernis. Etwaige Fehler sind vielmehr nachträglich i. R. eines gerichtlichen Statusverfahrens zu korrigieren (§ 31 Abs. 3 Satz 2, § 98). 8 Unterliegt die Gesellschaft nicht der Mitbestimmung, sind alle Mitglieder des Aufsichtsrats von den Gründern zu bestellen. 9 Greifen die Vorschriften über die Arbeitnehmermitbestimmung ein, bestellen die Gründer zunächst (nur) so viele Aufsichtsratsmitglieder, wie von der Hauptversammlung ohne Bindung an Wahlvorschläge zu wählen sind (§ 31 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 101 Abs. 1). Nicht bestellt werden demnach die Aufsichtsratsmitglieder, die auf die Arbeitnehmervertreter entfallen. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass Mitglieder des Aufsichtsrats zunächst von den Gründern bestellt werden und später zugunsten von Vertretern der Arbeitnehmer wieder aus dem Aufsichtsrat ausscheiden müssen. 10 Im Interesse der Beschlussfähigkeit des ersten Aufsichtsrats müssen die Gründer in jedem Fall mindestens drei Mitglieder des Aufsichtsrats bestellen (§ 31 Abs. 1 Satz 2). Dies gilt auch dann, wenn ein Aufsichtsrat nach der Satzung drei Mitglieder hat und ein Drittel der Mitglieder für Vertreter der Arbeitnehmer vorgesehen ist (siehe etwa § 4 Abs. 1 DrittelbG). Nachdem ein (vorläufiger) Aufsichtsrat mit nur zwei Mitgliedern bei Meinungsverschiedenheiten beschlussunfähig wäre (siehe auch § 31 Abs. 2, § 108 Abs. 2 Satz 3), müssen stets mindestens drei Aufsichtsratsmitglieder bestellt werden. 11 Der Aufsichtsrat ist auch dann, wenn noch nicht alle Mitglieder bestellt worden sind, erster Aufsichtsrat i. S. des Gesetzes und hat alle diesem obliegenden Rechte und Pflichten (u. a. nach §§ 30 Abs. 4, 33 Abs. 1 und 36 Abs. 1). IV.

Beschlussfähigkeit (§ 31 Abs. 2)

12 Der vorläufige erste Aufsichtsrat ist beschlussfähig, wenn die Hälfte, mindestens jedoch drei seiner Mitglieder an der Beschlussfassung teilnehmen (§ 31 Abs. 2. – § 108 Abs. 2 Sätze 2 und 3 sowie § 28 MitbestG, §§ 10, 11 MontanMitbestG sind insoweit verdrängt).6) Zweck der Vorschrift ist es die Beschlussfähigkeit des ersten Aufsichtsrats auch dann sicherzustellen, wenn noch nicht alle Mitglieder bestellt worden sind. 13 Für die Berechnung der Hälfte der Mitglieder des Aufsichtsrats kommt es darauf an, wie viele Mitglieder nach Gesetz oder Satzung zu bestimmen sind (wie bei § 108 Abs. 2 Satz 2),7) und nicht auf die tatsächlich vorhandene Anzahl der Aufsichtsratsmitglieder. 14 Die Satzung kann die Beschlussfähigkeit des ersten Aufsichtsrats abweichend regeln (§ 31 Abs. 2). Nicht zulässig ist es allerdings vorzusehen, dass der Aufsichtsrat auch dann beschlussfähig ist, wenn weniger als drei Mitglieder an der Beschlussfassung teilnehmen (siehe § 108 Abs. 3 Satz 3).8) Im Übrigen ist bei der Auslegung entsprechender Satzungsbestimmungen zu berücksichtigen, dass der erste Aufsichtsrat hier noch unvollständig ist, so dass bspw. ein Quorum verhältnismäßig anzupassen ist. _____________ 5)

6) 7) 8)

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Hölters-Solveen, AktG, § 31 Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 31 Rz. 4; Arnold in: KölnKommAktG, § 31 Rz. 6 ff.; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 31 Rz. 7 f.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 31 Rz. 12 ff.; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 31 Rz. 8. Arnold in: KölnKomm-AktG, § 31 Rz. 9 f.; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 31 Rz. 11. Wie hier Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 31 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 31 Rz. 13; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 31 Rz. 21; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 31 Rz. 12. So auch K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 31 Rz. 16; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 31 Rz. 22.

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Bestellung des Aufsichtsrats bei Sachgründung V.

§ 31

Ergänzung des Aufsichtsrats durch Arbeitnehmervertreter (§ 31 Abs. 4)

Die Mitglieder des ersten Aufsichtsrats wurden von den Gründern zunächst nur teilweise 15 bestellt (§ 31 Abs. 1 Satz 1). Nach der Einbringung bzw. Übernahme des Unternehmens(teils) in die AG ist der Aufsichtsrat sodann aber unverzüglich um die fehlenden Arbeitnehmervertreter zu ergänzen. Dazu hat der Vorstand unverzüglich (§ 121 Abs. 1 Satz 1 BGB) nach der Einbringung oder 16 Übernahme des Unternehmens bekannt zu machen, nach welchen gesetzlichen Vorschriften sich nach seiner Ansicht der Aufsichtsrat zusammensetzt (§ 31 Abs. 3 Satz 1). Hat der Vorstand bereits vor der Einbringung bzw. Übernahme des Unternehmens eine entsprechende Bekanntmachung nach allgemeinen Vorschriften vorgenommen (§ 30 Abs. 3 Satz 2) entfällt dieses Verfahren (§ 31 Abs. 4). Für die Bekanntmachung über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats gelten die allge- 17 meinen Vorschriften (§ 31 Abs. 3 Satz 2 i. V. m. §§ 97 bis 99).9) Für die Ergänzung des Aufsichtsrats kommt es darauf an, ob der Vorstand (oder das Gericht) 18 die Ansicht der Gründer über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats teilt oder nicht:10) Wird die Ansicht der Gründer bestätigt, bleiben die bereits bestellten Mitglieder des Auf- 19 sichtsrats im Amt (Ausnahme: § 31 Abs. 3 Satz 3 Alt. 2 i. V. m. Abs. 1 Satz 2). Der Aufsichtsrat wird aber um die neu gewählten Vertreter der Arbeitnehmer ergänzt. Wird die Ansicht der Gründer dagegen nicht bestätigt, erlischt das Amt der bisherigen 20 Mitglieder des Aufsichtsrats (§ 31 Abs. 3 Satz 3 Alt. 1) und der Aufsichtsrat ist insgesamt neu zu wählen. VI.

Amtszeit der Mitglieder des Aufsichtsrats (§ 31 Abs. 5)

Als erster Aufsichtsrat gilt auch der Aufsichtsrat, der nachträglich um die Vertreter der 21 Arbeitnehmer ergänzt worden ist (nach § 31 Abs. 3). Die Amtsdauer der Mitglieder des ersten Aufsichtsrats wäre daher grundsätzlich auf die Zeit bis zur Beendigung der Hauptversammlung beschränkt, die über die Entlastung für das erste Voll- oder Rumpfgeschäftsjahr beschließt (§ 30 Abs. 3 Satz 1). Dies hätte zur Folge, dass innerhalb kurzer Zeit zwei finanziell und zeitlich unter Umständen aufwändige Wahlen zur Bestellung der Arbeitnehmervertreter durchgeführt werden müssten (bzw. ersatzweise entsprechende gerichtliche Verfahren nach § 104). Um dies zu vermeiden, können die Arbeitnehmervertreter im ersten Aufsichtsrat auch für eine volle Amtsperiode (nach § 102) bestellt werden (§ 31 Abs. 5).11) Die gesetzliche Höchstdauer für die ersten Mitglieder des Aufsichtsrats (nach § 30 Abs. 3 22 Satz 1) gilt somit nur für die Vertreter der Anteilseigner.

_____________ 9) Dazu Hölters-Solveen, AktG, § 31 Rz. 10 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 31 Rz. 8 ff.; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 31 Rz. 14 ff.; K. Schmidt/Lutter-Bayer, § 31 Rz. 17 ff. 10) Hölters-Solveen, AktG, § 31 Rz. 14 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 31 Rz. 10 f.; K. Schmidt/LutterBayer, AktG, § 31 Rz. 21 ff.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 31 Rz. 28 ff.; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 31 Rz. 14 ff. 11) Hölters-Solveen, AktG, § 31 Rz. 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 31 Rz. 14; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 31 Rz. 25; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 31 Rz. 48.

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§ 32

Gründungsbericht

§ 32 Gründungsbericht Thomas Wachter

(1) Die Gründer haben einen schriftlichen Bericht über den Hergang der Gründung zu erstatten (Gründungsbericht). (2) 1Im Gründungsbericht sind die wesentlichen Umstände darzulegen, von denen die Angemessenheit der Leistungen für Sacheinlagen oder Sachübernahmen abhängt. 2 Dabei sind anzugeben 1. die vorausgegangenen Rechtsgeschäfte, die auf den Erwerb durch die Gesellschaft hingezielt haben; 2. die Anschaffungs- und Herstellungskosten aus den letzten beiden Jahren; 3. beim Übergang eines Unternehmens auf die Gesellschaft die Betriebserträge aus den letzten beiden Geschäftsjahren. (3) Im Gründungsbericht ist ferner anzugeben, ob und in welchem Umfang bei der Gründung für Rechnung eines Mitglieds des Vorstands oder des Aufsichtsrats Aktien übernommen worden sind und ob und in welcher Weise ein Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsrats sich einen besonderen Vorteil oder für die Gründung oder ihre Vorbereitung eine Entschädigung oder Belohnung ausbedungen hat. Übersicht I. Überblick ........................................... II. Inhalt des Gründungsberichts .............................................. 1. Allgemeine Angaben für alle Gründungen ....................................... 2. Besondere Angaben bei Sach-gründungen (§ 32 Abs. 2) ................................................ a) Gleichwertigkeit .......................... b) Einzelangaben .............................. I.

1 5 5

6 6 7

3. Zusätzliche Angaben zum Vorstand und Aufsichtsrat (§ 32 Abs. 3) ..................................... 11 a) Übernahme von Aktien für Rechnung von Mitgliedern der Verwaltung ........................... 11 b) Sondervorteile und Gründungsentschädigung für Mitglieder der Verwaltung ......... 16 III. Formalien ......................................... 18

Überblick

1 Die Gründer (§ 28) haben über den Hergang der Gründung stets einen schriftlichen Bericht (Gründungsbericht) zu erstatten (§ 32 Abs. 1). Die Erstellung eines Gründungsberichts ist sowohl bei Bargründungen als auch bei Sachgründungen notwendig. Der Gründungsbericht ist der Handelsregisteranmeldung als Anlage beizufügen (§ 37 Abs. 4 Nr. 4). 2 Für Bargründungen sind im AktG keine besonderen Vorgaben für den Inhalt des Gründungsberichts vorgesehen. Bei Sachgründungen müssen im Gründungsbericht insbesondere die wesentlichen Umstände dargelegt werden, von denen die Angemessenheit der Leistungen für Sacheinlagen oder Sachübernahmen abhängt (§ 32 Abs. 2 Satz 1). Dabei sind auch anzugeben die vorausgegangenen Rechtsgeschäfte, die auf den Erwerb durch die Gesellschaft hingezielt haben (§ 32 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1), die Anschaffungs- und Herstellungskosten aus den letzten beiden Jahren (§ 32 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2) und beim Übergang eines Unternehmens auf die Gesellschaft die Betriebserträge aus den letzten beiden Geschäftsjahren (§ 32 Abs. 2 Nr. 3). 3 Darüber hinaus ist in jedem Gründungsbericht stets anzugeben, ob und in welchem Umfang bei der Gründung für Rechnung eines Mitglieds des Vorstands oder des Aufsichts-

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§ 32

Gründungsbericht

rats Aktien übernommen worden sind (§ 32 Abs. 3 Alt. 1) und, ob und in welcher Weise ein Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsrats sich einen besonderen Vorteil (§ 26 Abs. 1) oder für die Gründung oder ihre Vorbereitung eine Entschädigung oder Belohnung (§ 26 Abs. 2) ausbedungen hat (§ 32 Abs. 3 Alt. 2). Zweck des Gründungsberichts ist es vor allem, die Allgemeinheit vor unseriösen und 4 betrügerischen Gründungen zu schützen.1) Darüber hinaus ist der Gründungsbericht Grundlage für die anschließende Gründungsprüfung. Neben dem Gründungsbericht der Gründer (§ 32 Abs. 1) ist von den Mitgliedern des Vorstands und des Aufsichtsrats ein (interner) Gründungsprüfungsbericht (§ 33 Abs. 1), und in bestimmten Fällen darüber hinaus auch ein externer Gründungsbericht eines Gründungsprüfers (§§ 33 Abs. 2, 33a) zu erstellen. Alle Berichte sind streng voneinander zu unterscheiden. Alle Berichterstatter sind für die Vollständigkeit und Richtigkeit ihrer Berichte zivil- und strafrechtlich verantwortlich (u. a. §§ 46 ff., § 399 Abs. 1 Nr. 2 AktG; §§ 823 Abs. 2, 826 BGB). Dem Handelsregister sind alle Berichte als Anlage zur Handelsregisteranmeldung mit vorzulegen (§ 37 Abs. 4 Nr. 4). Die Berichte sind die Grundlage für die registergerichtliche Prüfung und sollen diese erleichtern (§ 38 Abs. 1). Fehlende, unvollständige oder unrichtige Berichte stellen ein zwingendes Eintragungshindernis dar (siehe auch § 38 Abs. 2).2) Im Handelsregister sind die Berichte für jedermann einsehbar (§ 9 Abs. 1 HGB) und dienen damit auch der Information der interessierten Öffentlichkeit. II.

Inhalt des Gründungsberichts

1.

Allgemeine Angaben für alle Gründungen

Der Inhalt des Gründungsberichts ist im AktG nur für einzelne Spezialfälle näher gere- 5 gelt (§ 32 Abs. 2 und 3). Allgemein gilt, dass jeder Gründungsbericht den gesamten Hergang der Gründung (§ 32 Abs. 1) umfassen muss. In dem Gründungsbericht sind daher alle Umstände anzugeben, die für die Gründung der Gesellschaft von Bedeutung sind. Anzugeben sind auch solche Umstände, die sich bereits aus der Satzung oder der notariellen Gründungsurkunde ergeben.3) Im Regelfall sind insbesondere anzugeben: –

Namen der Gründer (siehe § 23 Abs. 2 Nr. 1);



Tag der Feststellung der Satzung (meist, aber nicht zwingend auch der Name des beurkundenden Notars und die Urkundennummer; siehe § 23 Abs. 1 Satz 1);



Höhe des Grundkapitals und Zerlegung in Nennbetrags- oder Stückaktien (siehe § 23 Abs. 2 Nr. 2 sowie Abs. 3 Nr. 3 und Nr. 4);



Ausgabebetrag der Aktien, Anzahl der von jedem Gründer übernommenen Aktien (ggf. getrennt nach einzelnen Gattungen von Aktien);



Höhe der geleisteten Bareinlagen (siehe §§ 36 Abs. 2, 36a);



erster Aufsichtsrat (Tag der Bestellung, Zahl und Namen der Mitglieder; siehe §§ 30 Abs. 1, 31);



erster Vorstand (Tag der Bestellung, Zahl und Namen der Mitglieder, Vertretungsbefugnis; siehe § 30 Abs. 4);

_____________ 1)

2) 3)

Hölters-Solveen, AktG, § 32 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 32 Rz. 1; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 32 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 32 Rz. 1; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 32 Rz. 3; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 32 Rz. 1. Hölters-Solveen, AktG, § 32 Rz. 13; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 32 Rz. 23. Hölters-Solveen, AktG, § 32 Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 32 Rz. 3; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 32 Rz. 6 f.; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 32 Rz. 4; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 32 Rz. 12; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 32 Rz. 6.

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§ 32

Gründungsbericht



Bestellung des ersten Abschlussprüfers (soweit erforderlich; siehe § 30 Abs. 1 und §§ 267 Abs. 1, 316 ff. HGB);



Hinweis auf etwaige Personenidentität zwischen Gründern (bzw. deren Organen) und Organmitgliedern;



Übernahme von Aktien für Rechnung eines Dritten (auch über § 32 Abs. 3 Alt. 1 hinaus);



Zusagen über etwaige Sondervorteile (auch über § 32 Abs. 3 Alt. 2 hinaus, siehe § 26 Abs. 1) sowie



der gesamte Gründungsaufwand (auch über § 32 Abs. 3 Alt. 2 hinaus, siehe § 26 Abs. 2).

2.

Besondere Angaben bei Sachgründungen (§ 32 Abs. 2)

a)

Gleichwertigkeit

6 Bei einer Sachgründung (§ 27) sind im Gründungsbericht über die allgemeinen Angaben hinaus insbesondere die wesentlichen Umstände darzulegen, von denen die Angemessenheit der Leistungen für Sacheinlagen oder Sachübernahmen abhängt (§ 32 Abs. 2 Satz 1). Die Leistungen sind angemessen, wenn der Ausgabebetrag der Aktien bzw. die gewährte Vergütung dem Wert der Sache entspricht (siehe auch § 34 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 2). Leistung und Gegenleistung müssen gleichwertig sein.4) In dem Gründungsbericht ist daher umfassend zu dem Wert der eingelegten bzw. übernommenen Sachen und der Art und Weise der konkreten Wertermittlung Stellung zu nehmen. Die im Einzelfall erforderlichen Angaben sind insbesondere von Art, Zustand und Beschaffenheit der jeweiligen Sache abhängig. In jedem Fall müssen die Ausführungen in dem Gründungsbericht die Gründungsprüfer und das Registergericht von der Werthaltigkeit der Sachen überzeugen. Denn das Registergericht hat die Eintragung der Gesellschaft u. a. dann abzulehnen, wenn der Wert der Sacheinlagen oder Sachübernahmen nicht unwesentlich hinter dem geringsten Ausgabebetrag der dafür zu gewährenden Aktien oder dem Wert der dafür zu gewährenden Leistungen zurückbleibt (§ 38 Abs. 2 Satz 2). Die Angaben zum Wert der Sacheinlagen bzw. Sachübernahmen müssen im Gründungsbericht auch dann gemacht werden, wenn die Gesellschaft auf eine externe Gründungsprüfung verzichtet (siehe § 33a i. V. m. § 33 Abs. 2 Nr. 4, der § 32 jedoch unberührt lässt). b)

Einzelangaben

7 Neben den allgemeinen Angaben zur Werthaltigkeit der eingebrachten bzw. übernommenen Sachen müssen die Gründer zum Zwecke der Konkretisierung in dem Bericht stets noch bestimmte weitere Angaben machen (§ 32 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 bis 3). Diese Angaben sind zwingend. Im Einzelfall ist eine entsprechende Fehlanzeige in dem Gründungsbericht aufzunehmen.5) 8 In dem Gründungsbericht sind die vorausgegangenen Rechtsgeschäfte anzugeben, die auf den Erwerb durch die Gesellschaft hingezielt haben (§ 32 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1).6) Damit sind vor allem solche Geschäfte gemeint, mit denen die Gründer einen Gegenstand von einem Dritten erwerben, um ihn anschließend der Gesellschaft i. R. einer Sachgründung _____________ 4)

5) 6)

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Bürgers/Körber/Lieder-Lohse, AktG, § 32 Rz. 4; Hölters-Solveen, AktG, § 32 Rz. 5; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 32 Rz. 9; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 32 Rz. 5; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 32 Rz. 9 f. Hölters-Solveen, AktG, § 32 Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 32 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Bayer, § 32 Rz. 6; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 32 Rz. 16. Hölters-Solveen, AktG, § 32 Rz. 6; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 32 Rz. 10; K. Schmidt/LutterBayer, AktG, § 32 Rz. 7; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 32 Rz. 18.

Thomas Wachter

§ 32

Gründungsbericht

zu überlassen (vielfach auch als Zwischengeschäfte bezeichnet). Zweck der Vorschrift ist es vor allem, etwaige Gewinne der Gründer (als Zwischenperson) offenzulegen und auf ihre Marktüblichkeit zu prüfen. Von Bedeutung sind daher vor allem Art, Zeitpunkt und Inhalt dieser Rechtsgeschäfte. Ferner sind in dem Gründungsbericht die Anschaffungs- und Herstellungskosten an- 9 zugeben, die den Gründern für die Sachen in den letzten beiden Jahren7) entstanden sind (§ 32 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AktG i. V. m. § 255 HGB).8) Ziel der Regelung ist es, eine etwaige Differenz zwischen den Anschaffungs- und Herstellungskosten einerseits und dem Ausgabebetrag der Aktien bzw. der von der Gesellschaft gewährten Vergütung andererseits offenzulegen und zu prüfen. Beim Übergang eines Unternehmens (oder eines Unternehmensteils, siehe § 31 Abs. 1 10 Satz 1)9) sind in dem Gründungsbericht darüber hinaus auch die Betriebserträge aus den letzten beiden Geschäftsjahren (getrennt voneinander) anzugeben (§ 32 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 AktG i. V. m § 275 Abs. 2 Nr. 20 und Abs. 3 Nr. 19 HGB; siehe auch § 5 Abs. 4 Satz 2 GmbHG).10) Anhand der (ordentlichen) Erträge soll die Rentabilität des eingebrachten bzw. übernommenen Unternehmens ermittelt und damit die ordnungsgemäße Kapitalaufbringung gesichert werden. Besteht das Unternehmen noch keine vollen zwei Geschäftsjahre, sind die bisherigen Erträge anzugeben. Die Angabe des Betriebsertrags aus dem laufenden Geschäftsjahr ist nach dem Gesetzeswortlaut nicht erforderlich, für die Beurteilung der Angemessenheit der Gegenleistung aber regelmäßig hilfreich. 3.

Zusätzliche Angaben zum Vorstand und Aufsichtsrat (§ 32 Abs. 3)

a)

Übernahme von Aktien für Rechnung von Mitgliedern der Verwaltung

In jedem Gründungsbericht (bei Bar- und Sachgründungen) ist anzugeben, ob und in 11 welchem Umfang bei der Gründung für Rechnung eines Mitglieds des Vorstands oder des Aufsichtsrats Aktien übernommen worden sind (§ 32 Abs. 3 Alt. 1). Im Interesse der Transparenz des Gründungsvorgangs sind solche Treuhand- bzw. Strohmannverhältnisse in dem Gründungsbericht vollständig offenzulegen.11) Möglichen Interessenkollisionen soll auf diese Weise vorgebeugt werden. Anzugeben sind dabei insbesondere der Name des Gründers, der Name des Mitglieds des Vorstands und Aufsichtsrats sowie Art und Anzahl der übernommenen Aktien. Die Angaben sind für jedes Mitglied des Vorstands und des Aufsichtsrats gesondert zu machen. Nach dem Gesetzeswortlaut ist eine gesonderte Angabe im Gründungsbericht dann nicht 12 erforderlich, wenn ein Gründer für Rechnung eines Dritten (z. B. für Angehörige von Mitgliedern der Verwaltung oder Angestellte der Gesellschaft) Aktien übernimmt. Nach dem Normzweck gehören aber auch diese Informationen zum Hergang der Gründung (§ 32 Abs. 1) und sind daher in den Gründungsbericht mit aufzunehmen.12) _____________ 7) Zur Berechnung der Zwei-Jahres-Frist s. Hölters-Solveen, AktG, § 32 Rz. 7; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 32 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 32 Rz. 11; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 32 Rz. 23. 8) Hölters-Solveen, AktG, § 32 Rz. 7; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 32 Rz. 11 ff.; K. Schmidt/LutterBayer, AktG, § 32 Rz. 8 ff.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 32 Rz. 20 ff. 9) Arnold in: KölnKomm-AktG, § 32 Rz. 15. 10) Hölters-Solveen, AktG, § 32 Rz. 8; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 32 Rz. 15 ff.; K. Schmidt/ Lutter-Bayer, § 32 Rz. 12; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 32 Rz. 24 ff. 11) Hölters-Solveen, AktG, § 32 Rz. 9; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 32 Rz. 6; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 32 Rz. 17; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 32 Rz. 13 ff. 12) K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 32 Rz. 15 (einschränkend aber wohl Rz. 4 a. E.); Pentz in: MünchKommAktG, § 32 Rz. 31.

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§ 32

Gründungsbericht

13 Dagegen bedarf es keiner gesonderten Angabe im Gründungsbericht, wenn ein Mitglied des Vorstands oder Aufsichtsrats selbst zu den Gründern gehört und für eigene Rechnung Aktien übernimmt (siehe auch § 33 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 im Unterschied zu § 32 Abs. 3 Alt. 1).13) 14 Werden keine Aktien für Rechnung Dritter übernommen ist in den Gründungsbericht eine entsprechende Fehlanzeige aufzunehmen. 15 Die Übernahme von Aktien für Rechnung von Mitgliedern der Verwaltung (nicht auch für Dritte) macht eine externe Gründungsprüfung erforderlich (§ 33 Abs. 2 Nr. 2). b)

Sondervorteile und Gründungsentschädigung für Mitglieder der Verwaltung

16 In jedem Gründungsbericht ist darüber hinaus stets auch anzugeben, ob und in welcher Weise ein Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsrats sich einen besonderen Vorteil (§ 26 Abs. 1) oder eine Entschädigung oder Belohnung für die Gründung oder ihre Vorbereitung (§ 26 Abs. 2) ausbedungen hat (§ 32 Abs. 3 Alt. 2). In der Satzung sind etwaige Sondervorteile sowie der Gründungsaufwand ohnehin gesondert festzusetzen und sind damit über das Handelsregister für jedermann ersichtlich. Zur Vermeidung von Interessenkollisionen sind Sondervorteile, Gründungsentschädigungen und -belohnungen im Gründungsbericht gleichwohl ausdrücklich anzugeben.14) Anzugeben sind jeweils Art und Umfang des Sondervorteils, der Gründungsentschädigung bzw. des Gründerlohns sowie der Name des Empfängers. Über den Gesetzeswortlaut (des § 32 Abs. 3 Alt. 2) hinaus sind in dem Gründungsbericht auch alle sonstigen Sondervorteile, Entschädigungen und Belohnungen für die Gründung, die Dritten gewährt worden sind mit anzugeben (nach § 32 Abs. 1). Gegebenenfalls ist eine entsprechende Fehlanzeige erforderlich. 17 Die Gewährung von Sondervorteilen, Gründungsentschädigungen und -belohnungen für Mitglieder der Verwaltung (nicht auch für Dritte) macht eine externe Gründungsprüfung erforderlich (§ 33 Abs. 2 Nr. 3). III.

Formalien

18 Der Gründungsbericht ist schriftlich zu erstatten (§ 32 Abs. 1 AktG i. V. m. § 126 BGB). Alle Gründer müssen den Gründungsbericht eigenhändig unterzeichnen. Gründungsberichte, die lediglich per Telefax oder als pdf Dokumente übermittelt werden, sind nicht ausreichend. 19 Falsche Angaben der Gründer in dem Gründungsbericht sind strafbar (§ 399 Abs. 1 Nr. 2). Die Gründer müssen den Gründungsbericht daher höchstpersönlich erstatten. Stellvertretung ist ausgeschlossen.15) 20 Zeitlich ist der Gründungsbericht nach Bestellung des ersten Vorstands (siehe §§ 30 Abs. 4, 32 Abs. 3) und vor der Gründungsprüfung (§§ 33 ff.) zu erstellen. Stellen die Gründer nach Erstattung des Gründungsberichts (und vor Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister) fest, dass sich ein wesentlicher Umstand nachträglich geändert hat, müssen sie unverzüglich einen Nachtrag zum Gründungsbericht erstellen und diesen zum Handelsregister einreichen.16) _____________ 13) Hölters-Solveen, AktG, § 32 Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 32 Rz. 14. 14) K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 32 Rz. 16; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 32 Rz. 32. 15) Hölters-Solveen, AktG, § 32 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 32 Rz. 2; Arnold in: KölnKommAktG, § 32 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 32 Rz. 2. 16) Arnold in: KölnKomm-AktG, § 32 Rz. 22.

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§ 33

Gründungsprüfung. Allgemeines

§ 33 Gründungsprüfung. Allgemeines Thomas Wachter

(1) Die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats haben den Hergang der Gründung zu prüfen. (2) Außerdem hat eine Prüfung durch einen oder mehrere Prüfer (Gründungsprüfer) stattzufinden, wenn 1. ein Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsrats zu den Gründern gehört oder 2. bei der Gründung für Rechnung eines Mitglieds des Vorstands oder des Aufsichtsrats Aktien übernommen worden sind oder 3. ein Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsrats sich einen besonderen Vorteil oder für die Gründung oder ihre Vorbereitung eine Entschädigung oder Belohnung ausbedungen hat oder 4. eine Gründung mit Sacheinlagen oder Sachübernahmen vorliegt. (3) 1In den Fällen des Absatzes 2 Nr. 1 und 2 kann der beurkundende Notar (§ 23 Abs. 1 Satz 1) anstelle eines Gründungsprüfers die Prüfung im Auftrag der Gründer vornehmen; die Bestimmungen über die Gründungsprüfung finden sinngemäße Anwendung. 2Nimmt nicht der Notar die Prüfung vor, so bestellt das Gericht die Gründungsprüfer. 3Gegen die Entscheidung ist die Beschwerde zulässig. (4) Als Gründungsprüfer sollen, wenn die Prüfung keine anderen Kenntnisse fordert, nur bestellt werden 1. Personen, die in der Buchführung ausreichend vorgebildet und erfahren sind; 2. Prüfungsgesellschaften, von deren gesetzlichen Vertretern mindestens einer in der Buchführung ausreichend vorgebildet und erfahren ist. (5) 1Als Gründungsprüfer darf nicht bestellt werden, wer nach § 143 Abs. 2 nicht Sonderprüfer sein kann. 2Gleiches gilt für Personen und Prüfungsgesellschaften, auf deren Geschäftsführung die Gründer oder Personen, für deren Rechnung die Gründer Aktien übernommen haben, maßgebenden Einfluß haben. Literatur: Grage, Notarrelevante Regelungen des Transparenz- und Publizitätsgesetzes im Überblick, RNotZ 2002, 326; Heckschen, Gründungsprüfung durch den Notar, NotBZ 2002, 429; Hermanns, Erleichterungen bei der Gründung von Aktiengesellschaften durch das Transparenzund Publizitätsgesetz, ZIP 2002, 1785.

Übersicht I. Überblick ............................................ 1 II. Interne Gründungsprüfung (§ 33 Abs. 1) ....................................... 3 III. Externe Gründungsprüfung (§ 33 Abs. 2 – 5) .................................. 5 1. Erforderlichkeit der externen Gründungsprüfung (§ 33 Abs. 2) ...... 5 I.

2. Person des Gründungsprüfers (§ 33 Abs. 3 – 5) ................................ 10 a) Gerichtlich bestellter Gründungsprüfer ....................... 10 b) Notar als Gründungsprüfer .......................................... 13

Überblick

Jede Gründung einer AG erfordert eine – mehr oder weniger umfangreiche – Gründungs- 1 prüfung (§§ 33 – 35). Mit der Gründungsprüfung soll die Einhaltung der gesetzlichen

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§ 33

Gründungsprüfung. Allgemeines

Gründungsvorschriften sichergestellt werden.1) Die Berichte über die Gründungsprüfung sind im Handelsregister für jedermann einsehbar (§ 34 Abs. 3 Satz 2 AktG und § 9 HGB). Die damit verbundene Transparenz soll unseriöse Gründer von der AG von vornherein fernhalten. Die Berichte über die Gründungsprüfung bilden zudem eine wesentliche Grundlage für die Rechtmäßigkeitsprüfung des Registergerichts (§§ 37 Abs. 4 Nr. 4, 38 Abs. 1 und 2). Falsche, unvollständige oder unrichtige Angaben in den Prüfungsberichten können Schadensersatzansprüche begründen (siehe §§ 46 ff.) und bei vorsätzlichem Verhalten auch strafbar sein (§§ 399 Abs. 1 Nr. 2, 403). 2 Die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats haben den Hergang der Gründung stets zu prüfen (§ 33 Abs. 1; zu Umfang und Inhalt des Berichts siehe § 34). Neben dieser internen Gründungsprüfung hat in bestimmten Fällen zusätzlich eine externe Gründungsprüfung zu erfolgen (§ 33 Abs. 2). Eine externe Gründungsprüfung ist insbesondere dann vorgesehen, wenn eine Interessenkollision zwischen den Gründern und den Mitgliedern der Verwaltung in Betracht kommt (§ 33 Abs. 2 Nr. 1 – 3) sowie bei Sacheinlagen und Sachübernahmen (§ 33 Abs. 2 Nr. 4; Ausnahme: § 33a). Der externe Gründungsprüfer wird im Regelfall vom Amtsgericht bestellt (§ 33 Abs. 3 Satz 2). Als Gründungsprüfer kommen nur solche Personen in Betracht, die in der Buchführung ausreichend vorgebildet und erfahren sind, wirtschaftlich unabhängig und nicht befangen sind (§ 33 Abs. 4 und 5). Die gerichtliche Bestellung eines externen Gründungsprüfers ist dann nicht erforderlich, wenn der beurkundende Notar die Gründungsprüfung übernimmt (§ 33 Abs. 3 Satz 1). Mit dieser im Jahr 2002 eingeführten Neuregelung2) wurde die Gründung erheblich vereinfacht und beschleunigt. Eine weitere Deregulierung der Gründungsprüfung ist im Jahr 2009 durch das ARUG3) erfolgt. Danach kann in bestimmten Fällen einer Gründung mit Sacheinlagen oder Sachübernahmen (§ 33 Abs. 2 Nr. 4) ganz von einer externen Gründungsprüfung abgesehen werden (§ 33a). II.

Interne Gründungsprüfung (§ 33 Abs. 1)

3 Bei jeder Gründung einer AG haben die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats den Hergang zu prüfen (§ 33 Abs. 1) und darüber einen schriftlichen Prüfungsbericht zu erstellen (siehe dazu § 34). Die Prüfungs- und Berichtspflicht obliegt allen Mitgliedern des Vorstands (einschließlich deren Stellvertretern, § 94) und des Aufsichtsrats (nicht aber noch nicht eingerückten Ersatzmitgliedern des Aufsichtsrats, siehe § 101 Abs. 3). Die Gründungsprüfung muss dabei durch die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats erfolgen, die auch die Handelsregisteranmeldung unterzeichnen (§ 36 Abs. 1). Stellvertretung ist bei der Gründungsprüfung ausgeschlossen.4) 4 Alle Organmitglieder sind zur Mitwirkung an der Gründungsprüfung verpflichtet. Diese kann allerdings nicht erzwungen werden (siehe § 888 Abs. 2 ZPO). Möglich ist aber die Abberufung und Neubestellung einzelner Organmitglieder. Eine fehlende oder unvollständige Gründungsprüfung stellt ein zwingendes Eintragungshindernis dar (§ 38 Abs. 1). _____________ 1)

2)

3) 4)

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Hölters-Solveen, AktG, § 33 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 33 Rz. 1; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 33 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 33 Rz. 1; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 33 Rz. 3 f.; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 33 Rz. 1. Änderung durch Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur weiteren Reform des Aktien- und Bilanzrechts, zu Transparenz und Publizität, Transparenz- und Publizitätsgesetz (TransPuG), BGBl. I 2002, 2681. S. dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 14/8769, S. 12. Art. 1 Nr. 1a des Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG), BGBl. I 2009, 2479. S. dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 16/11642, S. 30 ff. Hölters-Solveen, AktG, § 33 Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 33 Rz. 2; Arnold in: KölnKommAktG, § 33 Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 33 Rz. 2.

Thomas Wachter

§ 33

Gründungsprüfung. Allgemeines III.

Externe Gründungsprüfung (§ 33 Abs. 2 – 5)

1.

Erforderlichkeit der externen Gründungsprüfung (§ 33 Abs. 2)

Neben der internen Gründungsprüfung ist in bestimmten, im Gesetz abschließend aufge- 5 zählten Fällen noch zusätzlich eine externe Gründungsprüfung erforderlich (§ 33 Abs. 2 Nr. 1 – 4). Die Erforderlichkeit einer externen Gründungsprüfung ergibt sich im Allgemeinen aus dem Gründungsbericht der Gründer (siehe § 32 Abs. 2 und 3). Maßgebend sind dabei jeweils die Verhältnisse im Zeitpunkt der Eintragung im Handelsregister. Eine externe Gründungsprüfung ist erforderlich, wenn ein Mitglied des Vorstands oder 6 des Aufsichtsrats zu den Gründern (§ 28) gehört (§ 33 Abs. 2 Nr. 1).5) Bei Mitgliedern der Verwaltung, die zugleich auch Gründer sind, besteht die Gefahr, dass sie die Gründungsprüfung nicht mit der erforderlichen Unabhängigkeit und Objektivität vornehmen. Dem soll durch eine externe Gründungsprüfung vorgebeugt werden. Die Vorschrift gilt über ihren Wortlaut hinaus auch dann, wenn nicht der Gründer selbst, sondern eine den Gründer beherrschende Person zum Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsrats gehört.6) Dies ist bspw. der Fall, wenn eine Personen- oder Kapitalgesellschaft als Gründerin auftritt und eine ihrer vertretungsberechtigten Personen Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsrats der neu gegründeten AG werden soll. Bei Stellvertretung ist ohnehin der Vertretene (und nicht der Vertreter) Gründer; dies gilt sowohl bei gesetzlicher7) als auch bei rechtsgeschäftlicher8) Vertretung. Eine externe Gründungsprüfung ist dagegen nicht erforderlich, wenn ein Angehöriger eines Gründers dem Vorstand oder Aufsichtsrat angehört. Eine externe Gründungsprüfung ist darüber hinaus auch dann erforderlich, wenn bei Grün- 7 dung für Rechnung eines Mitglieds des Vorstands oder des Aufsichtsrats Aktien übernommen worden sind (§ 33 Abs. 2 Nr. 2; siehe auch § 32 Abs. 3 Alt. 1). Die Übernahme einer einzigen Aktie für ein Mitglied der Verwaltung ist ausreichend. In diesen Fällen der Strohmanngründung ist (wie bei § 33 Abs. 2 Nr. 1) zu befürchten, dass die Mitglieder der Verwaltung aufgrund eigener wirtschaftlicher Betroffenheit keine objektive Gründungsprüfung vornehmen. Eine Gründungsprüfung durch einen externen Prüfer ist ferner dann erforderlich, wenn 8 ein Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsrats sich einen besonderen Vorteil (siehe § 26 Abs. 1) oder für die Gründung oder ihre Vorbereitung eine Entschädigung oder Belohnung (siehe § 26 Abs. 2) ausbedungen hat (§ 33 Abs. 2 Nr. 3; siehe auch § 32 Abs. 3 Alt. 2).9) Eine objektive Prüfung kann nicht erwartet werden, wenn den Mitgliedern der Verwaltung entsprechende finanzielle Zusagen (gleich von wem) gemacht worden sind. Schließlich ist eine externe Gründungsprüfung bei einer Gründung mit Sacheinlagen oder 9 Sachübernahmen (§ 27) erforderlich (§ 33 Abs. 2 Nr. 4). Mit der externen Gründungsprüfung soll in diesen Fällen eine Überbewertung der Sachen verhindert werden (siehe auch § 34 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 2). Die Werthaltigkeit der Sachen soll in allen Fällen besonders geprüft werden. Dies gilt unabhängig von Art und Wert der Sachen. Eine externe Grün_____________ 5) 6) 7) 8)

9)

Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 33 Rz. 4; Hölters-Solveen, AktG, § 33 Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 33 Rz. 5; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 33 Rz. 16. Arnold in: KölnKomm-AktG, § 33 Rz. 13; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 33 Rz. 17; Spindler/ Stilz-Gerber, AktG, § 33 Rz. 8. Allg. M.: Hölters-Solveen, AktG, § 33 Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 33 Rz. 5. Ebenso Hölters-Solveen, AktG, § 33 Rz. 7; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 33 Rz. 21. – A. A. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 33 Rz. 4. Arnold in: KölnKomm-AktG, § 33 Rz. 13; Spindler/StilzGerber, AktG, § 33 Rz. 8. Hölters-Solveen, AktG, § 33 Rz. 9; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 33 Rz. 7; Pentz in: MünchKommAktG, § 33 Rz. 23 f.

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177

§ 33

Gründungsprüfung. Allgemeines

dungsprüfung kann ausnahmsweise entbehrlich sein, wenn der Wert der Sachen auf andere Weise zuverlässig ermittelt werden kann (siehe § 33a). 2.

Person des Gründungsprüfers (§ 33 Abs. 3 – 5)

a)

Gerichtlich bestellter Gründungsprüfer

10 Im Regelfall erfolgt die externe Gründungsprüfung durch einen oder mehrere vom Gericht bestellten Prüfer. Der Gründungsprüfer wird auf Antrag aller Gründer oder des Vorstands von dem für die Gesellschaft zuständigen AG bestellt (§ 33 Abs. 3 Satz 2 AktG; § 375 Nr. 3 i. V. m. §§ 376 ff. FamFG und § 14 AktG; § 23a Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 4 GVG). Das AG entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen über Person und Anzahl der Gründungsprüfer. Dabei sind sowohl die gesetzlichen Vorgaben (insbesondere § 33 Abs. 4 und 5) als auch etwaige Vorschläge der Beteiligten zu berücksichtigen.10) Gegen den Beschluss des AG ist die Beschwerde zulässig (§ 33 Abs. 3 Satz 3 AktG i. V. m. §§ 58 ff. FamFG). 11 Als Gründungsprüfer sollen grundsätzlich nur Personen bestellt werden, die in der Buchführung ausreichend vorgebildet und erfahren sind (§ 33 Abs. 4 Nr. 1). In der Regel kommen daher nur Wirtschaftsprüfer, Buchprüfer (siehe auch § 319 HGB) und Steuerberater als Gründungsprüfer in Betracht. Bei Bestellung einer Prüfungsgesellschaft muss mindestens einer von deren gesetzlichen Vertretern diese Voraussetzung erfüllen (§ 33 Abs. 4 Nr. 2). Falls die Durchführung einer Gründungsprüfung im Einzelfall andere Kenntnisse erfordert, können zusätzlich (oder alternativ) auch anderweitig qualifizierte Personen zu Prüfern bestellt werden (z. B. Immobiliensachverständige bei der Sacheinlage von Grundstücken). Die Bestellung eines Gründungsprüfers, der die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt, ist auf die Wirksamkeit der Gründungsprüfung ohne Einfluss.11) 12 Im Interesse einer neutralen und unabhängigen Prüfung sind solche Personen als Gründungsprüfer ausgeschlossen, die nicht als Sonderprüfer bestellt werden könnten (§ 33 Abs. 5 Satz 1). Damit sind Personen, die nicht Abschlussprüfer sein dürfen, auch von der Gründungsprüfung ausgeschlossen (siehe § 143 Abs. 2).12) Darüber hinaus sind von der Gründungsprüfung auch Personen und Prüfungsgesellschaften ausgeschlossen, auf deren Geschäftsführung die Gründer (oder Personen, für deren Rechnung die Gründer Aktien übernommen haben) (gleich aus welchem Grund) maßgebenden Einfluss haben (§ 33 Abs. 5 Satz 2). Für den Ausschluss genügt bereits die Möglichkeit der Einflussnahme. Ein beherrschender Einfluss (siehe § 17 Abs. 1) ist nicht erforderlich. Nach dem Normzweck kommt es auch nicht darauf an, ob und inwieweit der Einfluss im Einzelfall tatsächlich ausgeübt wird.13) Ein Verstoß gegen die gesetzlichen Ausschlussgründe (§ 33 Abs. 5) hat zur Folge, dass die Bestellung des Gründungsprüfers unwirksam ist und damit die Gründungsprüfung nicht ordnungsgemäß erfolgt ist.14) Bemerkt das Registergericht den Mangel, hat es die Eintragung abzulehnen (§ 38 Abs. 1). Andernfalls ist die AG wirksam entstanden und kann auch nicht mehr gelöscht werden (z. B. nach § 397 FamFG). _____________ 10) Hölters-Solveen, AktG, § 33 Rz. 13; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 33 Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 33 Rz. 10; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 33 Rz. 16. 11) Hölters-Solveen, AktG, § 33 Rz. 17; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 33 Rz. 14. 12) Ausführlich Arnold in: KölnKomm-AktG, § 33 Rz. 26 ff.; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 33 Rz. 12; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 33 Rz. 42 ff. 13) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 33 Rz. 9; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 33 Rz. 31; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 33 Rz. 21 ff. 14) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 33 Rz. 10; Hölters-Solveen, AktG, § 33 Rz. 17; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 33 Rz. 13.

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Thomas Wachter

Sachgründung ohne externe Gründungsprüfung b)

§ 33a

Notar als Gründungsprüfer

In bestimmten Einzelfällen kann der beurkundende Notar (§ 23 Abs. 1 Satz 1) die Grün- 13 dungsprüfung anstelle eines gerichtlich bestellten Gründungsprüfers vornehmen (§ 33 Abs. 3 Satz 1).15) Möglich ist dies in allen Fällen der Bargründung, bei denen eine externe Gründungsprüfung ausschließlich deshalb erforderlich ist, weil ein Mitglied der Verwaltung zu den Gründern gehört (§ 33 Abs. 2 Nr. 1) oder bei Gründung für Rechnung eines Mitglieds der Verwaltung Aktien übernommen worden sind (§ 33 Abs. 2 Nr. 2). In allen anderen Fällen (§ 33 Abs. 2 Nr. 3 und 4) ist die Gründungsprüfung durch einen gerichtlich bestellten Gründungsprüfer zwingend erforderlich. Zweck der notariellen Gründungsprüfung ist es, den Gründungsvorgang zu erleichtern und zu beschleunigen.16) Der Notar muss vom Amtsgericht nicht bestellt werden. Ausreichend, aber auch erfor- 14 derlich ist ein Auftrag durch die Gründer (nicht durch den Vorstand oder Aufsichtsrat) (§ 33 Abs. 3 Satz 1 AktG i. V. m. § 24 BNotO).17) Der Notar muss den Auftrag zur Gründungsprüfung nicht übernehmen. Lehnt er den Auftrag ab, muss ein Antrag auf gerichtliche Bestellung eines Gründungsprüfers gestellt werden. Nimmt er den Auftrag an, finden die Vorschriften über die Gründungsprüfung (vor allem §§ 34, 35 Abs. 1 und 2) sinngemäß Anwendung (§ 33 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2). Jedoch richtet sich die Vergütung nach dem Gerichts- und Notarkostengesetz (§ 123 GNotKG und KV Nr. 2520618), nicht § 35 Abs. 3) und die Haftung nach der Bundesnotarordnung (§ 19 BNotO, nicht § 49). _____________ 15) S. dazu Heidel-Braunfels, AktR, § 33 AktG Rz. 13 f.; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 33 Rz. 17 ff.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 33 Rz. 27a ff. 16) Begr. RegE, BT-Drucks. 14/8769, S. 12. 17) Hölters-Solveen, AktG, § 33 Rz. 11; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 33 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 33 Rz. 9. 18) Dazu Hölters-Solveen, AktG, § 33 Rz. 12; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 33 Rz. 6, sowie Rundschreiben der Bundesnotarkammer, Nr. 13/2003 v. 9.4.2003.

§ 33a Sachgründung ohne externe Gründungsprüfung Thomas Wachter

(1) Von einer Prüfung durch Gründungsprüfer kann bei einer Gründung mit Sacheinlagen oder Sachübernahmen (§ 33 Abs. 2 Nr. 4) abgesehen werden, soweit eingebracht werden sollen: 1. übertragbare Wertpapiere oder Geldmarktinstrumente im Sinne des § 2 Absatz 1 und 2 des Wertpapierhandelsgesetzes, wenn sie mit dem gewichteten Durchschnittspreis bewertet werden, zu dem sie während der letzten drei Monate vor dem Tag ihrer tatsächlichen Einbringung auf einem oder mehreren organisierten Märkten im Sinne von § 2 Absatz 11 des Wertpapierhandelsgesetzes gehandelt worden sind, 2. andere als die in Nummer 1 genannten Vermögensgegenstände, wenn eine Bewertung zu Grunde gelegt wird, die ein unabhängiger, ausreichend vorgebildeter und erfahrener Sachverständiger nach den allgemein anerkannten Bewertungsgrundsätzen mit dem beizulegenden Zeitwert ermittelt hat und wenn der Bewertungsstichtag nicht mehr als sechs Monate vor dem Tag der tatsächlichen Einbringung liegt. (2) Absatz 1 ist nicht anzuwenden, wenn der gewichtete Durchschnittspreis der Wertpapiere oder Geldmarktinstrumente (Absatz 1 Nr. 1) durch außergewöhnliche Umstände erheblich beeinflusst worden ist oder wenn anzunehmen ist, dass der beizulegende

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§ 33a

Sachgründung ohne externe Gründungsprüfung

Zeitwert der anderen Vermögensgegenstände (Absatz 1 Nr. 2) am Tag ihrer tatsächlichen Einbringung auf Grund neuer oder neu bekannt gewordener Umstände erheblich niedriger ist als der von dem Sachverständigen angenommene Wert. Literatur: Herrler/Reymann, Die Neuerungen im Aktienrecht durch das ARUG, DNotZ 2009, 815 (Teil 1) und DNotZ 2009, 914 (Teil 2); Leuering, Die vereinfachte Sacheinlage von nichtbörsengehandelten Wertpapieren nach § 33a AktG, NZG 2016, 208; Watrin/Stöver, Bewertung von Sacheinlagen im Rahmen von Sachgründung und Sachkapitalerhöhung sowie Implikationen für die Verschmelzung, Wpg. 2012, 999.

Übersicht I. Überblick ........................................... II. Entbehrlichkeit einer externen Gründungsprüfung .............................................. 1. Wertpapiere und Geldmarktinstrumente ........................................ a) Ausnahme: Marktwert (§ 33a Abs. 1 Nr. 1) ..................... I.

1

6 6 6

b) Rückausnahme: Außergewöhnliche Umstände (§ 33a Abs. 2 Alt. 1) .......................................... 11 2. Andere Vermögensgegenstände ...... 15 a) Ausnahme: Sachverständigengutachten (§ 33a Abs. 1 Nr. 2) .... 15 b) Rückausnahme: Neue Umstände (§ 33a Abs. 2 Alt. 2) .............. 17

Überblick

1 Bei Gründung einer AG mit Sacheinlagen oder Sachübernahmen (§ 27) ist im Interesse der Werthaltigkeitskontrolle regelmäßig eine externe Gründungsprüfung erforderlich (§ 33 Abs. 2 Nr. 4 ). Seit Inkrafttreten des ARUG1) im Jahre 2009 kann jedoch von einer externen Gründungsprüfung abgesehen werden, wenn bereits eine eindeutige, aktuelle und zuverlässige Bewertung der Sachen vorliegt (§ 33a). Die Neuregelung dient der Vereinfachung von Sachgründungen, indem vorhandene Werte genutzt werden und der mit einer (erneuten) Bewertung verbundene Zeit- und Kostenaufwand vermieden wird.2) Im Rahmen der Aktienrechtsnovelle 2016 wurde die Regelung (des § 33a Abs. 1 Nr. 1) redaktionell geändert.3) Bei einem Verzicht auf eine externe Gründungsprüfung bestehen darüber hinaus auch Erleichterungen für den Gründungsbericht der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats (§ 34 Abs. 2 Satz 3), die Handelsregisteranmeldung (§ 37a) sowie die gerichtliche Registerkontrolle (§ 38 Abs. 3). 2 Die Regelung gilt nicht nur für die Sachgründung, sondern auch für Nachgründungen (§ 52 Abs. 4 Satz 3, Abs. 6 Satz 3 und Abs. 7 Satz 2) und Sachkapitalerhöhungen (§§ 183a Abs. 1 Satz 1, 194 Abs. 5, 205 Abs. 5 Satz 2; zur vierwöchigen Registersperre bei Sachkapitalerhöhungen siehe § 183 Abs. 2 Satz 2).4) 3 Die Gesetzessystematik stellt sich nunmehr wie folgt dar: Bei Gründung einer AG mit Sacheinlagen oder Sachübernahmen ist grundsätzlich eine externe Gründungsprüfung erforderlich (§ 33 Abs. 2 Nr. 4). Eine Ausnahme gilt jedoch dann, wenn auf einen geeigneten _____________ 1)

2) 3) 4)

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Art. 1 Nr. 1a des Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG), BGBl. I 2009, 2479. S. dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 16/11642, S. 30 ff. – Mit der Regelung werden Art. 10a Abs. 1 und 2 (nicht aber auch die Buchwertklausel in Art. 10a Abs. 3) der Europäischen Kapitalrichtlinie umgesetzt (Richtlinie 2006/68/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates v. 6.9.2006 zur Änderung der Richtlinie 77/91/EWG des Rates in Bezug auf die Gründung von Aktiengesellschaften und die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals, ABl. (EU) L 264/32 v. 25.9.2006. Hölters-Solveen, AktG, § 33a Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 33a Rz. 1; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 33a Rz. 1. Art. 1 Nr. 4 der Aktienrechtsnovelle 2016, BGBl. I 2015, 2565. K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 33a Rz. 2 und 17 ff.

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Sachgründung ohne externe Gründungsprüfung

§ 33a

Marktwert für Wertpapiere oder Geldmarktinstrumente zurückgegriffen werden kann (§ 33a Abs. 1 Nr. 1) oder bereits ein anerkanntes Bewertungsgutachten eines Sachverständigen vorliegt (§ 33a Abs. 1 Nr. 2). Von dieser Ausnahme wird wiederum eine Rückausnahme gemacht, wenn die anderweitig ermittelten Werte aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht als verlässlich erscheinen (§ 33a Abs. 2). In diesem Fall bedarf es somit wiederum einer externen Gründungsprüfung. Die Vorschrift ist abschließend. In anderen als den gesetzlich ausdrücklich genannten 4 Fällen ist ein Verzicht auf eine externe Gründungsprüfung nicht möglich.5) Die Regelung ist nicht zwingend, sondern begründet lediglich ein Wahlrecht für die Ge- 5 sellschaft („kann“).6) Der Gesellschaft steht es somit stets offen, eine externe Gründungsprüfung vornehmen zu lassen, wenn ihr dies einfacher erscheint. In der Praxis wird von der Neuregelung bislang kaum Gebrauch gemacht.7) II.

Entbehrlichkeit einer externen Gründungsprüfung

1.

Wertpapiere und Geldmarktinstrumente

a)

Ausnahme: Marktwert (§ 33a Abs. 1 Nr. 1)

Von einer externen Gründungsprüfung kann abgesehen werden, wenn und soweit über- 6 tragbare Wertpapiere oder Geldmarktinstrumente (i. S. von § 2 Abs. 18) und Abs. 2 WpHG) in die Gesellschaft eingebracht und dabei mit dem gewichteten Durchschnittspreis bewertet werden, zu dem sie während der letzten drei Monate vor dem Tag ihrer tatsächlichen Einbringung auf einem oder mehreren organisierten Märkten (i. S. von § 2 Abs. 11 WpHG) gehandelt9) worden sind (§ 33a Abs. 1 Nr. 1).10) Die Regelung beruht auf der Vorstellung, dass der auf einem organisierten Markt ermittelte Durchschnittspreis regelmäßig dem wahren Wert entspricht und damit eine gesonderte Bewertung durch einen Sachverständigen überflüssig ist. Wertpapiere in diesem Sinne sind alle Gattungen von übertragbaren Wertpapieren mit 7 Ausnahme von Zahlungsinstrumenten, die ihrer Art nach auf den Finanzmärkten handelbar sind. Beispiele dafür sind etwa Aktien, Anteile an Unternehmen, die mit Aktien vergleichbar sind, Zertifikate, die Aktien vertreten und Schuldtitel wie etwa Genussscheine, Inhaber- und Orderschuldverschreibungen (siehe im Einzelnen § 2 Abs. 1 WpHG). Geldmarktinstrumente sind alle Gattungen von Forderungen, die (nicht unter § 2 Abs. 1 8 WpHG fallen und) üblicherweise auf dem Geldmarkt gehandelt werden, mit Ausnahme von Zahlungsinstrumenten (siehe im Einzelnen § 2 Abs. 2 WpHG). Beispiele dafür sind Schuldscheindarlehen. Organisierter Markt ist ein im Inland oder einem EU- bzw. EWR-Mitgliedsstaat betrie- 9 benes oder verwaltetes, durch staatliche Stellen genehmigtes, geregeltes oder überwachtes multilaterales System, das die Interessen einer Vielzahl von Personen am Kauf und Verkauf von dort zum Handel zugelassenen Finanzinstrumenten (§ 2 Abs. 4 WpHG) innerhalb _____________ 5) Hölters-Solveen, AktG, § 33a Rz. 3. 6) Hölters-Solveen, AktG, § 33a Rz. 3 und 6; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 33a Rz. 7; Arnold in: KölnKommAktG, § 33a Rz. 2 und 4; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 33a Rz. 4 und 16a. 7) S. dazu K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 33a Rz. 3 und 5 – zu Recht kritisch zur Komplexität des „vereinfachten Verfahrens“. 8) Die Verweisung auf § 2 Abs. 1 und 1a WpHG wurde durch Art. 1 Nr. 4 der Aktienrechtsnovelle 2016, BGBl. I 2015, 2565, angepasst. 9) Zum Erfordernis des tatsächlichen Handelns der Wertpapiere s. Leuering, NZG 2016, 208. 10) Hölters-Solveen, AktG, § 33a Rz. 4; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 33a Rz. 6 ff.; K. Schmidt/LutterBayer, AktG, § 33a Rz. 6.

Thomas Wachter

181

§ 33a

Sachgründung ohne externe Gründungsprüfung

des Systems und nach festgelegten Bestimmungen in einer Weise zusammenbringt oder das Zusammenbringen fördert, die zu einem Vertrag über den Kauf dieser Finanzinstrumente führt (siehe im Einzelnen § 2 Abs. 11 WpHG). Ein organisierter Markt ist bspw. der regulierte Markt nach dem deutschen Börsengesetz (§§ 32 ff. BörsG), nicht aber der Freiverkehr (§ 48 BörsG). 10 Bewertungsmaßstab ist der gewichtete Durchschnittspreis der letzten drei Monate (siehe auch § 5 Abs. 1 und 3 WpÜG-AngV).11) Für die an deutschen organisierten Märkten gehandelten Wertpapiere wird der gewichtete Durchschnittspreis von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ermittelt. Die Unterlagen über die Ermittlung des gewichteten Durchschnittspreises sind der Handelsregisteranmeldung als Anlage beizufügen (§ 37a Abs. 3 Nr. 1). b)

Rückausnahme: Außergewöhnliche Umstände (§ 33a Abs. 2 Alt. 1)

11 Auf eine externe Gründungsprüfung kann allerdings dann nicht verzichtet werden, wenn der gewichtete Durchschnittspreis der Wertpapiere oder Geldmarktinstrumente durch außergewöhnliche Umstände erheblich beeinflusst worden ist (§ 33a Abs. 2 Alt. 1) und damit deren wahren Wert nicht richtig wiedergibt.12) 12 Außergewöhnliche Umstände liegen etwa vor, wenn der Handel mit den entsprechenden Wertpapieren längere Zeit ausgesetzt worden ist, der Markt illiquide geworden ist oder es zu Marktmanipulationen gekommen ist. Keine außergewöhnlichen Umstände sind dagegen anzunehmen bei marktüblichem Verhalten oder erlaubten Rückkaufprogrammen bei eigenen Aktien und Maßnahmen zur Kursstabilisierung. 13 Eine erhebliche Preisbeeinflussung erfordert eine Abweichung von mindestens 5 % (siehe § 5 Abs. 4 WpÜG-AngV).13) 14 In der Handelsregisteranmeldung haben die Anmeldenden zu versichern, dass ihnen keine solchen außergewöhnlichen Umstände bekannt geworden sind (§ 37a Abs. 2 Alt. 1). Falsche Versicherungen sind strafbar (§ 399 Abs. 1 Nr. 1). 2.

Andere Vermögensgegenstände

a)

Ausnahme: Sachverständigengutachten (§ 33a Abs. 1 Nr. 2)

15 Bei anderen Vermögensgegenständen (als Wertpapieren und Geldmarktinstrumenten) kann von einer externen Gründungsprüfung abgesehen werden, wenn eine Bewertung zugrunde gelegt wird, die ein unabhängiger, ausreichend vorgebildeter und erfahrener Sachverständiger nach den allgemeinen Bewertungsgrundsätzen mit dem beizulegenden Zeitwert ermittelt hat14) und der Bewertungsstichtag nicht mehr als sechs Monate vor dem Tag der tatsächlichen Einbringung liegt (§ 33a Abs. 1 Nr. 2).15) Auf diese Weise sollen unnötige Doppelbewertungen vermieden werden. 16 Die frühere Bewertung muss zum Zeitwert (fair value) erfolgt sein. Der Sachverständige, der die Bewertung vorgenommen hat, muss persönlich unabhängig (siehe § 33 Abs. 3) und _____________ 11) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 33a Rz. 3 f. 12) Hölters-Solveen, AktG, § 33a Rz. 8; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 33a Rz. 17 ff.; K. Schmidt/ Lutter-Bayer, AktG, § 33a Rz. 8 ff. 13) Weitergehend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 33a Rz. 8 : 5 % wohl zu niedrig. 14) Zur Prüfungsbefugnis des Handelsregisters bei einem i. R. einer Sachkapitalerhöhung (§§ 183a, 33a Abs. 1 Nr. 2 AktG) ohne externe Prüfung vorgelegten Sachverständigengutachten s. KG Berlin, Beschl. v. 12.10.2015 – 22 W 77/15, ZIP 2016, 161. 15) Hölters-Solveen, AktG, § 33a Rz. 5; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 33a Rz. 12 ff.; K. Schmidt/LutterBayer, AktG, § 33a Rz. 10 ff.

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Thomas Wachter

§ 34

Umfang der Gründungsprüfung

fachlich qualifiziert sein (siehe § 33 Abs. 4).16) Im Interesse einer einigermaßen aktuellen Wertermittlung darf der Bewertungsstichtag am Tag der tatsächlichen Einbringung (nicht am Tag der Anmeldung) nicht mehr als sechs Monate zurückliegen. Das Sachverständigengutachten ist der Handelsregisteranmeldung als Anlage beizufügen (§ 37a Abs. 3 Nr. 2). b)

Rückausnahme: Neue Umstände (§ 33a Abs. 2 Alt. 2)

Eine bereits vorliegende Bewertung lässt die Notwendigkeit einer externen Gründungs- 17 prüfung aber dann nicht entfallen, wenn anzunehmen ist, dass der beizulegende Zeitwert der Vermögensgegenstände am Tag ihrer tatsächlichen Einbringung aufgrund neuer oder neu bekannt gewordener Umstände erheblich niedriger ist als der von dem Sachverständigen angenommene Wert (§ 33a Abs. 2 Alt. 2).17) Eine erneute Bewertung ist im Interesse der Sicherung der Kapitalaufbringung zwingend notwendig, wenn Zweifel an der Richtigkeit des vorliegenden Sachverständigengutachtens bestehen. Die Rückausnahme gilt nur bei einer erheblichen Wertdifferenz (siehe § 38 Abs. 2 Satz 2) 18 und erfasst nicht Abweichungen, die sich i. R. der üblichen Bewertungsdifferenzen bewegen. Eine entsprechende Überbewertung muss allerdings nicht tatsächlich vorliegen, sondern aufgrund der neuen Umstände lediglich anzunehmen sein. In zeitlicher Hinsicht gilt die Regelung für alle Umstände, die nach Erstellung des Sachverständigengutachtens, aber vor der tatsächlichen Einbringung des Vermögensgegenstandes eingetreten oder bekannt geworden sind (siehe auch § 37a Abs. 2 Alt. 2). In der Handelsregisteranmeldung haben die Anmeldenden zu versichern, dass ihnen keine 19 solchen neuen Umstände bekannt geworden sind (§ 37a Abs. 2 Alt. 2). Falsche Versicherungen sind strafbar (§ 399 Abs. 1 Nr. 1). _____________ 16) Dazu K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 33a Rz. 12. 17) Hölters-Solveen, AktG, § 33a Rz. 9; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 33a Rz. 20 ff.; K. Schmidt/LutterBayer, AktG, § 33a Rz. 14.

§ 34 Umfang der Gründungsprüfung Thomas Wachter

(1) Die Prüfung durch die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats sowie die Prüfung durch die Gründungsprüfer haben sich namentlich darauf zu erstrecken, 1. ob die Angaben der Gründer über die Übernahme der Aktien, über die Einlagen auf das Grundkapital und über die Festsetzungen nach §§ 26 und 27 richtig und vollständig sind; 2. ob der Wert der Sacheinlagen oder Sachübernahmen den geringsten Ausgabebetrag der dafür zu gewährenden Aktien oder den Wert der dafür zu gewährenden Leistungen erreicht. (2) 1Über jede Prüfung ist unter Darlegung dieser Umstände schriftlich zu berichten. 2 In dem Bericht ist der Gegenstand jeder Sacheinlage oder Sachübernahme zu beschreiben sowie anzugeben, welche Bewertungsmethoden bei der Ermittlung des Wertes angewandt worden sind. 3In dem Prüfungsbericht der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats kann davon sowie von Ausführungen zu Absatz 1 Nr. 2 abgesehen werden, soweit nach § 33a von einer externen Gründungsprüfung abgesehen wird. (3) 1Je ein Stück des Berichts der Gründungsprüfer ist dem Gericht und dem Vorstand einzureichen. 2Jedermann kann den Bericht bei dem Gericht einsehen. Thomas Wachter

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§ 34

Umfang der Gründungsprüfung Übersicht

I. Überblick ........................................... 1 II. Umfang der Gründungsprüfung (§ 34 Abs. 1) ....................................... 3 III. Prüfungsbericht (§ 34 Abs. 2, Abs. 3) ........................ 11 I.

1. Form .................................................. 11 2. Inhalt ................................................. 13 3. Offenlegung ...................................... 15

Überblick

1 Die Notwendigkeit einer (internen und ggf. auch externen) Gründungsprüfung ist in § 33 geregelt. In § 34 finden sich ergänzende Regelungen zum Umfang der Gründungsprüfung (§ 34 Abs. 1), zu Form und Inhalt des Prüfungsberichts (§ 34 Abs. 2) und zu dessen Offenlegung (§ 34 Abs. 3). Die Vorschrift dient (ebenso wie § 33) der Einhaltung der gesetzlichen Gründungsvorschriften und der Transparenz des Gründungsvorgangs.1) 2 Die Vorschrift wurde zuletzt durch das ARUG2) geändert. Dabei wurden die inhaltlichen Anforderungen an den Prüfungsbericht der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats reduziert, wenn bei einer Gründung mit Sacheinlagen oder Sachübernahmen von einer externen Gründungsprüfung abgesehen wird (§ 34 Abs. 2 Satz 3 i. V. m. § 33a; siehe aber § 37a). II.

Umfang der Gründungsprüfung (§ 34 Abs. 1)

3 Die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats (§ 33 Abs. 1) sowie etwaige externe Gründungsprüfer (§ 33 Abs. 2) haben den gesamten „Hergang der Gründung“ zu prüfen. Die Prüfung muss sich dabei auf alle (tatsächlichen und rechtlichen) Umstände erstrecken, die für die späteren Aktionäre der Gesellschaft, deren Gläubiger oder die Öffentlichkeit von Bedeutung sein können.3) Zum erforderlichen Umfang der Gründungsprüfung gehören demnach u. a. –

Anzahl und Person der Gründer (siehe § 23 Abs. 2 Nr. 1),



die Feststellung der Satzung und deren Inhalt (siehe § 23),



die Bestellung der Mitglieder des ersten Aufsichtsrats und Vorstands sowie eines etwaigen Abschlussprüfers (§ 30),



der Gründungsbericht der Gründer (§ 32) sowie



die Einhaltung von Formvorschriften und Genehmigungserfordernissen.

4 Nicht zu prüfen sind dagegen die wirtschaftlichen Umstände der Unternehmensgründung, wie etwa die Lebensfähigkeit des Unternehmens,4) die Zweckmäßigkeit der Rechtsform oder die Angemessenheit der Kapitalausstattung.5) 5 Ausdrücklich hervorgehoben wird im AktG, dass sich die Gründungsprüfung insbesondere auch („namentlich“) auf die Kapitalaufbringung und die Werthaltigkeit von Sachein_____________ 1) 2) 3) 4) 5)

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K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 34 Rz. 1. Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG), BGBl. I 2009, 2479; s. dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 16/11642, S. 32. Hölters-Solveen, AktG, § 34 Rz. 2; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 34 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 34 Rz. 2; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 34 Rz. 7 ff.; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 33 Rz. 3. BGH, Urt. v. 27.2.1975 – II ZR 111/72, BGHZ 64, 52 = NJW 1975, 974 – zur Haftung eines Gründungsprüfers. Bürgers/Körber/Lieder-Lohse, AktG, § 34 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 34 Rz. 2; K. Schmidt/ Lutter-Bayer, AktG, § 34 Rz. 3.

Thomas Wachter

Meinungsverschiedenheiten zwischen Gründern und Gründungsprüfern

§ 34

lagen bzw. Sachübernahmen erstrecken muss (§ 34 Abs. 1).6) Maßgeblicher Zeitpunkt ist der Tag der Prüfung und nicht etwa der künftige Tag der Anmeldung oder der Eintragung.7) Bei jeder Gründung einer AG muss sich die Gründungsprüfung darauf erstrecken, ob die 6 Angaben der Gründer über die Übernahme der Aktien (§ 23 Abs. 2 Nr. 2), über die Einlagen auf das Grundkapital (§ 23 Abs. 2 Nr. 3), über die Festsetzungen zu etwaigen Sondervorteilen (§ 26 Abs. 1) und zum Gründungsaufwand (§ 26 Abs. 2) und zu etwaigen Sacheinlagen oder Sachübernahmen (§ 27) richtig und vollständig sind (§ 34 Abs. 1 Nr. 1).8) Die Einlagen werden bei Prüfung meist noch nicht erbracht sein (und müssen dies auch nicht, siehe §§ 36 Abs. 2, 36a Abs. 1), so dass die wirksame Begründung der Einlageverpflichtungen ausreichend ist (siehe § 23 Abs. 2 Nr. 2). Sind die Einlagen im Zeitpunkt der Prüfung dagegen schon erbracht, muss sich die Prüfung auch darauf beziehen. Bei den Sondervorteilen, der Gründungsentschädigung und dem Gründerlohn muss die Gründungsprüfung (über den Wortlaut hinaus) nicht nur die Vollständigkeit und Richtigkeit der Festsetzungen, sondern auch deren Angemessenheit umfassen. Bei einer Gründung mit Sacheinlagen oder Sachübernahmen (§ 27) muss sich die Grün- 7 dungsprüfung zusätzlich auch darauf erstrecken, ob der Wert der Sacheinlagen bzw. Sachübernahmen den geringsten Ausgabebetrag der dafür zu gewährenden Aktien (siehe § 9 Abs. 1) oder den Wert der dafür zu gewährenden Vergütung erreicht (§ 34 Abs. 1 Nr. 2).9) Eine Ausnahme gilt lediglich dann, wenn die Gesellschaft auf eine externe Gründungsprüfung verzichtet hat (§ 34 Abs. 2 Satz 3 i. V. m. § 33a). Bei Vereinbarung eines Agios muss der Wert der Sacheinlage auch den Mehrwert umfassen 8 (siehe § 36a Abs. 2 Satz 3). Dementsprechend darf sich auch die Gründungsprüfung nicht darauf beschränken, ob der geringste Ausgabebetrag erreicht wird (siehe § 9 Abs. 1), sondern muss (über den Wortlaut des § 34 Abs. 1 Nr. 2 hinaus) auch angeben, ob der Wert der Sacheinlage den Mehrbetrag umfasst.10) Eine Unterbewertung von Sacheinlagen ist zulässig, sofern auf diese Weise nicht willkürlich 9 stille Reserven gebildet werden. Im Prüfungsbericht ist auf etwaige stille Reserven hinzuweisen.11) In zeitlicher Hinsicht erstellen zunächst die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichts- 10 rats ihren Prüfungsbericht. Grundlage von deren Gründungsprüfung sind vor allem der Gründungsbericht der Gründer (§ 32) und alle sonst schon vorliegenden Urkunden, Unterlagen und Nachweise (siehe § 37 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 4). Auf dieser Grundlage erstellen sodann die externen Gründungsprüfer ihren Prüfungsbericht. Dieser bezieht sich auch auf den Prüfungsbericht der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats (siehe § 38 Abs. 2 Satz 1).12) Die Gründungsprüfer können von den Gründern weitere Aufklärungen und Nachweise verlangen (siehe § 35 Abs. 1) und auch eigene Ermittlungen vornehmen. _____________ 6) Hölters-Solveen, AktG, § 34 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 34 Rz. 2; Arnold in: KölnKommAktG, § 34 Rz. 8. 7) K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 34 Rz. 9. 8) Hölters-Solveen, AktG, § 34 Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 34 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 34 Rz. 4 f.; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 34 Rz. 5 ff. 9) Hölters-Solveen, AktG, § 34 Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 34 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 34 Rz. 6 ff.; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 34 Rz. 8 ff. 10) BGH, Urt. v. 6.12.2011 – II ZR 149/10 (Babcock Borsig), BGHZ 191, 364 = ZIP 2012, 73 = NZG 2012, 69, dazu EWiR 2012, 129 (Vosberg/Klawa), und zuvor K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 34 Rz. 7; a. A. Hölters-Solveen, AktG, § 34 Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 34 Rz. 3; Spindler/StilzGerber, AktG, § 34 Rz. 8. 11) Arnold in: KölnKomm-AktG, § 34 Rz. 9; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 34 Rz. 17; Spindler/StilzGerber, AktG, § 34 Rz. 10. 12) K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 34 Rz. 2.

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§ 34

Umfang der Gründungsprüfung

III.

Prüfungsbericht (§ 34 Abs. 2, Abs. 3)

1.

Form

11 Über jede Gründungsprüfung ist schriftlich zu berichten (§ 34 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 126 BGB).13) Alle Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats und alle (externen) Gründungsprüfer müssen den jeweiligen Prüfungsbericht eigenhändig unterschreiben. Stellvertretung ist ausgeschlossen. Mit der Unterschrift übernehmen die Mitglieder der Verwaltung und die Gründungsprüfer die zivilrechtliche (siehe §§ 46 ff.) und strafrechtliche (siehe §§ 399 Abs. 1 Nr. 2, 403) Verantwortlichkeit für die Richtigkeit und Vollständigkeit des Prüfungsberichts. 12 Die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats erstellen in der Praxis meist einen gemeinsamen Prüfungsbericht; notwendig ist dies allerdings nicht. Die externen Gründungsprüfer müssen dagegen stets einen gesonderten Prüfungsbericht erstellen. Die beiden Berichte können schon deshalb nicht zusammengefasst werden, weil sich die Prüfung der externen Gründungsprüfer auch auf den Prüfungsbericht des Vorstands und des Aufsichtsrats erstreckt. Zudem wäre ein gemeinsamer Prüfungsbericht auch mit der Unabhängigkeit der externen Gründungsprüfer nicht zu vereinbaren (siehe auch § 33 Abs. 5).14) 2.

Inhalt

13 In dem jeweiligen Prüfungsbericht ist über die gesamte Gründungsprüfung vollständig, lückenlos und umfassend zu berichten.15) Dabei ist insbesondere auch zur Kapitalaufbringung und der Werthaltigkeit der Sacheinlagen bzw. Sachübernahmen Stellung zu nehmen (§ 34 Abs. 2 Satz 1: „diese Umstände“, d. h. die in § 34 Abs. 1 genannten Umstände). Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Prüfern sind offenzulegen (siehe auch § 35 Abs. 2). Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sind im Hinblick auf die gesetzliche Verpflichtung zur Verschwiegenheit in den Prüfungsberichten nicht anzugeben (siehe §§ 48 Satz 2, 93 Abs. 1 Satz 3, 116 und § 49 AktG i. V. m. § 323 Abs. 1 Satz 2 HGB; § 145 Abs. 6 Satz 2 AktG gilt insoweit nicht). 14 Bei Sacheinlagen oder Sachübernahmen (§ 27) ist in dem Prüfungsbericht zusätzlich der Gegenstand jeder einzelnen Sacheinlage oder Sachübernahme genau zu beschreiben (insbesondere auch unter Angabe der wertbestimmenden Faktoren) und anzugeben, welche Bewertungsmethoden bei der Ermittlung des Wertes angewendet worden sind (§ 34 Abs. 2 Satz 2).16) Diese Ausführungen sind aber dann entbehrlich, wenn die Gesellschaft auf eine externe Gründungsprüfung verzichtet hat (§ 34 Abs. 2 Satz 3 i. V. m. § 33a).17) In der Handelsregisteranmeldung sind allerdings gleichwohl entsprechende Angaben zu machen (siehe § 37a Abs. 1 Sätze 3 und 4). 3.

Offenlegung

15 Die Prüfungsberichte der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats sowie der externen Gründungsprüfer sind der Handelsregisteranmeldung als Anlage beizufügen (§ 37 Abs. 4 _____________ 13) Hölters-Solveen, AktG, § 34 Rz. 6; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 34 Rz. 4; Arnold in: KölnKommAktG, § 34 Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 34 Rz. 11; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 34 Rz. 18 ff. 14) K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 34 Rz. 10. 15) Hölters-Solveen, AktG, § 34 Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 34 Rz. 12. 16) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 34 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 34 Rz. 13. 17) Hölters-Solveen, AktG, § 34 Rz. 8; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 34 Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 34 Rz. 14.

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Thomas Wachter

Meinungsverschiedenheiten zwischen Gründern und Gründungsprüfern

§ 35

Nr. 4) und dem Registergericht elektronisch einzureichen (§ 38 Abs. 2 AktG i. V. m. § 12 HGB). Im Handelsregister sind die Berichte für jedermann einsehbar (§ 9 Abs. 1 HGB). Von dem Bericht der externen Gründungsprüfer ist zusätzlich ein Exemplar dem Vorstand 16 einzureichen (§ 34 Abs. 3 Satz 1). Die gesonderte Einreichung beim Handelsregister ist in der Praxis meist entbehrlich, weil sämtliche Prüfungsberichte der Handelsregisteranmeldung ohnehin als Anlage beigefügt werden müssen (§ 37 Abs. 4 Nr. 4). Im Interesse der Transparenz betont der Gesetzgeber nochmals ausdrücklich, dass auch der Bericht der externen Gründungsprüfer beim Registergericht von jedermann (auch ohne berechtigtes Interesse) eingesehen werden kann (§ 34 Abs. 3 Satz 2).

§ 35 Meinungsverschiedenheiten zwischen Gründern und Gründungsprüfern. Vergütung und Auslagen der Gründungsprüfer Thomas Wachter

(1) Die Gründungsprüfer können von den Gründern alle Aufklärungen und Nachweise verlangen, die für eine sorgfältige Prüfung notwendig sind. (2) 1Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Gründern und den Gründungsprüfern über den Umfang der Aufklärungen und Nachweise, die von den Gründern zu gewähren sind, entscheidet das Gericht. 2Die Entscheidung ist unanfechtbar. 3Solange sich die Gründer weigern, der Entscheidung nachzukommen, wird der Prüfungsbericht nicht erstattet. (3) 1Die Gründungsprüfer haben Anspruch auf Ersatz angemessener barer Auslagen und auf Vergütung für ihre Tätigkeit. 2Die Auslagen und die Vergütung setzt das Gericht fest. 3Gegen die Entscheidung ist die Beschwerde zulässig; die Rechtsbeschwerde ist ausgeschlossen. 4Aus der rechtskräftigen Entscheidung findet die Zwangsvollstreckung nach der Zivilprozeßordnung statt. Übersicht I. Überblick ............................................ 1 II. Aufklärungsobliegenheit der Gründer (§ 35 Abs. 1) ................................................. 2 I.

III. Meinungsverschiedenheiten (§ 35 Abs. 2) ....................................... 5 IV. Vergütung und Auslagen (§ 35 Abs. 3) ....................................... 9

Überblick

Die Vorschrift enthält ergänzende Regelungen für die externe Gründungsprüfung (nach 1 § 33 Abs. 2). Den Gründern (§ 28) obliegen gegenüber den externen Gründungsprüfern umfangreiche Aufklärungs- und Nachweispflichten (§ 35 Abs. 1). Damit soll sichergestellt werden, dass die Gründungsprüfer ihre Prüfung auf der Grundlage vollständiger Informationen ordnungsgemäß durchführen können.1) Bei etwaigen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Gründern und den Gründungsprüfern über den Umfang der Aufklärungen und Nachweise kann eine gerichtliche Entscheidung beantragt werden (§ 35 Abs. 2). Die Auslagen und die Vergütung der Gründungsprüfer werden – im Interesse von deren Unabhängigkeit gegenüber den Gründern – vom Gericht festgesetzt (§ 35 Abs. 3). _____________ 1)

Hölters-Solveen, AktG, § 35 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 35 Rz. 1; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 35 Rz. 1.

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§ 35 II.

Meinungsverschiedenheiten zwischen Gründern und Gründungsprüfern Aufklärungsobliegenheit der Gründer (§ 35 Abs. 1)

2 Die (externen) Gründungsprüfer können von den Gründern alle Aufklärungen und Nachweise verlangen, die für eine sorgfältige Prüfung erforderlich sind (§ 35 Abs. 1). Auskunftsberechtigt ist auch der Notar, wenn dieser als Gründungsprüfer tätig wird (siehe § 33 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2), nicht dagegen auch die Mitglieder des Vorstands oder des Aufsichtsrats. Die Vorschrift begründet keinen gerichtlich durchsetzbaren Auskunftsanspruch der Gründungsprüfer (§ 35 Abs. 2). Vielmehr handelt es sich um eine bloße Obliegenheit der Gründer.2) Verweigern sie die gebotene Aufklärung, kann der Prüfungsbericht nicht erstellt werden (§ 35 Abs. 2 Satz 3) und die Gesellschaft nicht im Handelsregister eingetragen werden (§§ 37 Abs. 4 Nr. 4, 38 Abs. 1). Zur Auskunft verpflichtet sind nur die Gründer (und zwar jeder), nicht auch die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats (siehe demgegenüber § 145 Abs. 2 AktG und § 320 Abs. 2 HGB). 3 Die Gründer müssen alle Auskünfte erteilen, die im jeweiligen Einzelfall für eine sorgfältige Prüfung erforderlich sind.3) Die Auskünfte müssen vollständig und richtig erteilt werden. Falsche Auskünfte können strafbar sein (§ 400 Abs. 2). 4 Die Gründungsprüfer sind darüber hinaus auch berechtigt (nicht aber verpflichtet), eigene Ermittlungen vorzunehmen.4) III.

Meinungsverschiedenheiten (§ 35 Abs. 2)

5 Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Gründern und den Gründungsprüfern über den Umfang der erforderlichen Aufklärungen und Nachweise entscheidet das am Sitz der Gesellschaft zuständige Amtsgericht (§ 35 Abs. 2 Satz 1 AktG i. V. m. §§ 375 Nr. 3, 376 ff. FamFG, § 14 AktG, § 23a Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 4 GVG).5) Eine gerichtliche Entscheidung kann sowohl von den Gründern als auch von den Gründungsprüfern (und zwar jeweils auch einzeln) beantragt werden. Das Amtsgericht entscheidet über den Antrag durch unanfechtbaren Beschluss (§ 35 Abs. 2 Satz 2). Mit diesem Verfahren soll die Eintragung der Gesellschaft nicht unnötig verzögert werden.6) 6 Entscheidet das Amtsgericht zugunsten der Gründungsprüfer und erteilen die Gründer jetzt die begehrten Auskünfte, können die Gründungsprüfer ihre Prüfung fortsetzen und den Prüfungsbericht erstellen.7) Verweigern die Gründer weiterhin die Auskünfte, muss der Prüfungsbericht nicht erstellt werden (§ 35 Abs. 2 Satz 3). In diesem Fall besteht ein dauerhaftes Eintragungshindernis (§ 38 Abs. 1). Eine Vollstreckung aus der Entscheidung des AG ist nicht möglich. 7 Entscheidet das Amtsgericht dagegen zugunsten der Gründer und lehnt den Antrag auf weitergehende Auskunftserteilung ab, müssen die Gründungsprüfer ihre Prüfung ohne die begehrten Aufklärungen und Nachweise fortsetzen.8) In ihrem Prüfungsbericht können _____________ 2) 3) 4)

5) 6) 7) 8)

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Hölters-Solveen, AktG, § 35 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 35 Rz. 2; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 35 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 35 Rz. 2; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 35 Rz. 3. Hölters-Solveen, AktG, § 35 Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 35 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 35 Rz. 3. Hölters-Solveen, AktG, § 35 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 35 Rz. 3; Arnold in: KölnKommAktG, § 35 Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 35 Rz. 5; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 35 Rz. 12; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 35 Rz. 3. Hölters-Solveen, AktG, § 35 Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 35 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 35 Rz. 6. K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 35 Rz. 6. Hölters-Solveen, AktG, § 35 Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 35 Rz. 7; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 35 Rz. 8. Hölters-Solveen, AktG, § 35 Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 35 Rz. 8.

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Meinungsverschiedenheiten zwischen Gründern und Gründungsprüfern

§ 35

die Gründungsprüfer allerdings auf die Entscheidung des Amtsgericht hinweisen (siehe § 38 Abs. 2 Satz 1).9) Darüber hinaus können die Gründungsprüfer ihr Amt auch ganz niederlegen und beim Gericht ihre Abberufung beantragen. Die Gründungsprüfer können sich aber nicht weigern, trotz der Entscheidung des AG ihren Prüfungsbericht zu erstellen. In diesem Fall würden sie sich schadensersatzpflichtig machen (§ 49 AktG i. V. m. § 323 HGB). Die Entscheidung des Amtsgericht kann nur bei Streitigkeiten über den Umfang der von 8 den Gründern zu gewährenden Aufklärungen und Nachweise beantragt werden (§ 35 Abs. 2 Satz 1). In allen anderen Fällen von Meinungsverschiedenheiten (z. B. über den Umfang der Prüfung, die Angemessenheit von Sondervorteilen oder des Gründungsaufwands oder die Bewertung von Sacheinlagen) ist das Verfahren dagegen nicht statthaft.10) Diese Meinungsverschiedenheiten haben die Gründungsprüfer in ihren Bericht aufzunehmen, damit das Registergericht darüber ggf. i. R. des Eintragungsverfahrens entscheiden kann (§ 38 Abs. 1). IV.

Vergütung und Auslagen (§ 35 Abs. 3)

Die Gründungsprüfer haben Anspruch auf Ersatz angemessener barer Auslagen und auf 9 Vergütung ihrer Tätigkeit (§ 35 Abs. 3 Satz 1). Im Interesse der Unabhängigkeit der Gründungsprüfer werden die Auslagen und die Vergütung ausschließlich von dem am Sitz der Gesellschaft zuständigen Amtsgericht festgesetzt (§ 35 Abs. 3 Satz 2 AktG i. V. m. §§ 375 Nr. 3, 376 ff. FamFG, § 14 AktG, § 23a Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 4 GVG).11) Das Amtsgericht entscheidet auf Antrag eines der Beteiligten durch Beschluss. Gegen den Beschluss ist die Beschwerde (§ 35 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 1 AktG i. V. m. §§ 58 ff. FamFG), nicht aber die Rechtsbeschwerde zulässig (§ 35 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 2 AktG i. V. m. §§ 70 ff. FamFG). Die rechtskräftige Entscheidung ist ein Vollstreckungstitel (§ 35 Abs. 3 Satz 4 AktG i. V. m. § 794 Abs. 1 Nr. 3 ZPO). Vertragliche Vereinbarungen über die Vergütung sind unzulässig.12) Die Höhe der Ver- 10 gütung ist gesetzlich nicht geregelt. Das Amtsgericht entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung von Umfang und Schwierigkeit der jeweiligen Prüfung. In der Praxis erfolgt meist eine gewisse Orientierung an den Gebührenordnungen der Wirtschaftsprüfer (siehe § 55 WPO). Schuldner des Anspruchs ist die (Vor-)AG, nicht auch die Gründer.13) Die Vergütung ist Gründungsaufwand (§ 26 Abs. 2). Wird der Notar als Gründungsprüfer tätig, richtet sich die Vergütung nach den gesetz- 11 lichen Bestimmungen des Gerichts- und Notarkostengesetzes (§ 123 GNotKG und KV Nr. 25206). Eine gerichtliche Festsetzung (nach § 35 Abs. 3) ist weder erforderlich noch möglich.14)

_____________ 9) Hölters-Solveen, AktG, § 35 Rz. 5; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 35 Rz. 12; K. Schmidt/LutterBayer, AktG, § 35 Rz. 6; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 35 Rz. 9. 10) Hölters-Solveen, AktG, § 35 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 35 Rz. 6. 11) Hölters-Solveen, AktG, § 35 Rz. 8; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 35 Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 35 Rz. 9. 12) Arnold in: KölnKomm-AktG, § 35 Rz. 19. 13) Hölters-Solveen, § 35 Rz. 9; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 35 Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 35 Rz. 11. 14) Zum Streitstand s. K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 35 Rz. 12.

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§ 36

Anmeldung der Gesellschaft

§ 36 Anmeldung der Gesellschaft Thomas Wachter

(1) Die Gesellschaft ist bei dem Gericht von allen Gründern und Mitgliedern des Vorstands und des Aufsichtsrats zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden. (2) Die Anmeldung darf erst erfolgen, wenn auf jede Aktie, soweit nicht Sacheinlagen vereinbart sind, der eingeforderte Betrag ordnungsgemäß eingezahlt worden ist (§ 54 Abs. 3) und, soweit er nicht bereits zur Bezahlung der bei der Gründung angefallenen Steuern und Gebühren verwandt wurde, endgültig zur freien Verfügung des Vorstands steht. Literatur: Attenberger, § 378 Abs. 3 FamFG n. F. und § 15 Abs. 3 GBO n. F. – Notarielle Prüfung auf Eintragungsfähigkeit als Eintragungsvoraussetzung im Register- und Grundbuchverfahren und ausschließliche Einreichung über den Notar im Handelsregisterverfahren, MittBayNot 2017, 335; Diehn/Rachlitz, Notarielle Prüfungspflichten im Grundbuch- und Registerverkehr, DNotZ 2017, 487; Güldü, Die Einlagefähigkeit von Bitcoins und anderen Kryptowährungen nach deutschem GmbH- und Aktienrecht, GmbHR 2019, 565; Heinemann, Neue Vermerkpflichten für Notare?, ZNotP 2017, 166; Kleindiek, Modalitäten ordnungsgemäßer Bareinlageleistung bei Gründung einer Aktiengesellschaft, in: Festschrift für Harm-Peter Westermann, 2008, S. 1073; Lenz, Die Prüfung von Treuhandkonten – das Fallbeispiel Wirecard AG, DB 2020, 2085; Marten, Die Prüfung von Treuhandkonten – das Fallbeispiel Wirecard AG, DB 2020, 2089; Marten, Die Prüfung von Treuhandkonten im Rahmen der Abschlussprüfung, DB 2020, 1465; Priester, Wertgleiche Deckung statt Bardepot?, ZIP 1994, 599; Seebach, Die Mitwirkung des Prokuristen bei Handelsregisteranmeldungen des Prinzipals, RNotZ 2015, 68; v. Werder/Hobuß, Handelsregisteranmeldung der Gründung einer Kapitalgesellschaft sowie späterer Kompetenzen des Notars nach § 378 FamFG, BB 2018, 1031; Zimmer, Neue Prüfungspflichten des Notars – oder alles beim Alten?, NJW 2017, 1909.

Übersicht I. Überblick ........................................... 1 II. Anmeldung (§ 36 Abs. 1) ................. 5 III. Bareinlagen (§ 36 Abs. 2) ............... 11 1. Einzahlung der eingeforderten Bareinlage (§ 36 Abs. 2 Halbs. 1) ........................................... 11 a) Überblick ................................... 11 b) Leistung der Bareinlage ........................................ 12 I.

2. Leistung zur endgültig freien Verfügung des Vorstands (§ 36 Abs. 2 Halbs. 2) ................................ 15 a) Überblick .................................... 15 b) Steuern und Gebühren ............... 20 c) Verwendungsabsprachen ........... 21 d) Verfügungen über die Einlagen vor Anmeldung ........................... 24 3. Sonderfall: Gemischte Einlage ......... 26

Überblick

1 Die Gesellschaft ist bei dem Gericht von allen Gründern und allen Mitgliedern des Vorstands und des Aufsichtsrats zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden (§ 36 Abs. 1). Die Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister erfolgt somit nicht von Amts wegen, sondern erst nach einer entsprechenden Anmeldung (siehe auch § 38 Abs. 1 Satz 1). Die Vorschrift bestimmt, wer die Anmeldung vorzunehmen hat. Mit der Anmeldung übernehmen die Gründer und die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats zugleich die zivilrechtliche (§§ 46 ff.) und strafrechtliche (§ 399 Abs. 1 Nr. 1) Verantwortung dafür, dass die Gründung der Gesellschaft ordnungsgemäß erfolgt ist. 2 Die Anmeldung darf erst erfolgen, wenn auf jede Aktie (soweit nicht Sacheinlagen vereinbart sind, siehe § 36a Abs. 2) der eingeforderte Betrag ordnungsgemäß eingezahlt worden

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§ 36

Anmeldung der Gesellschaft

ist (§ 54 Abs. 3) und (soweit er nicht bereits zur Bezahlung der bei der Gründung angefallenen Steuern und Gebühren verwandt wurde) endgültig zur freien Verfügung des Vorstands steht (§ 36 Abs. 2). Damit wird der zeitlich frühestmögliche Zeitpunkt für die Handelsregisteranmeldung festgelegt. Die Vorschrift wird durch verschiedene weitere Vorschriften ergänzt. Gesondert geregelt 3 sind Inhalt (§§ 37, 37a) und Form (§ 12 Abs. 1 HGB) der Handelsregisteranmeldung. Für Bareinlagen (§ 36 Abs. 2) sind insbesondere die Bestimmungen über die Mindesthöhe der zu erbringenden Einlage (§ 36a Abs. 2) und die Art und Weise der ordnungsgemäßen Leistung der Einlage (§ 54 Abs. 3) zu berücksichtigen. Für Sacheinlagen gelten eigene Regelungen (§ 36a Abs. 2). Die Vorschrift wurde zuletzt durch das MoMiG1) geändert (Streichung von § 36 Abs. 2 4 Satz 2 AktG a. F.: Sicherung der noch nicht eingeforderten Bareinlage bei einer Einpersonen-Gesellschaft). II.

Anmeldung (§ 36 Abs. 1)

Die AG entsteht mit Eintragung im Handelsregister (siehe § 41 Abs. 1 Satz 1). Die Ein- 5 tragung setzt einen entsprechenden Antrag aller Gründer und aller Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats voraus (siehe § 38 Abs. 1 Satz 1).2) Erst mit der Anmeldung wird das Verfahren des Registergerichts in Gang gesetzt. Ohne die Anmeldung erfolgt keine Eintragung (siehe auch § 407 Abs. 2). Die Anmeldung ist an das Amtsgericht zu richten, in dessen Bezirk die künftige Gesell- 6 schaft ihren Sitz haben wird (§ 36 Abs. 1 i. V. m. § 14 AktG, §§ 374 Nr. 1, 376 ff. FamFG, § 23a Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 3 GVG). Die Anmeldung ist elektronisch in öffentlich beglaubigter Form einzureichen (§ 12 7 Abs. 1 Satz 1 HGB, § 129 BGB, §§ 39 ff. BeurkG).3) Anlagen zur Handelsregisteranmeldung (siehe §§ 37 Abs. 4, 37a Abs. 3) sind gleichfalls elektronisch einzureichen (§ 37 Abs. 5 AktG i. V. m. § 12 Abs. 2 HGB).4) Die Anmeldung ist über einen Notar beim Registergericht einzureichen (§ 378 Abs. 3 Satz 2 FamFG). Der Notar hat die Anmeldung vorab auf ihre Eintragungsfähigkeit hin zu überprüfen und das Ergebnis in einem förmlichen Prüfvermerk festzuhalten (§ 378 Abs. 3 Satz 1 FamFG).5) Die Anmeldung ist von allen Gründern (§ 28) und allen Mitgliedern des Vorstands (siehe 8 §§ 23 Abs. 3 Nr. 6, 30 Abs. 4, 76 Abs. 2) und des Aufsichtsrats (siehe §§ 30 Abs. 1, 95; zu Besonderheiten siehe § 31 Abs. 3) zu unterzeichnen (nicht auch von Prokuristen)6).7) Die Anmeldung allein durch die Mitglieder des Vorstands genügt nicht (siehe demgegenüber § 7 Abs. 1 i. V. m. § 78 GmbHG: Anmeldung durch sämtliche Geschäftsführer). Zur An_____________ 1) 2) 3) 4) 5)

6) 7)

Art. 5 Nr. 2 des Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG), BGBl. I 2008, 2026; s. dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 16/6140, S. 52 und S. 33 f. Arnold in: KölnKomm-AktG, § 36 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 36 Rz. 3; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 36 Rz. 6. Hölters-Solveen, AktG, § 36 Rz. 5; Spindler/Stilz-Döbereiner, AktG, § 36 Rz. 4 ff. Zu den Kosten der Handelsregisteranmeldung s. Hölter-Solveen, AktG, § 36 Rz. 21. Die Änderung von § 378 Abs. 3 FamFG ist durch Art. 4 Nr. 5 lit. b des Gesetzes zur Neuordnung der Aufbewahrung von Notariatsunterlagen und zur Einrichtung des Elektronischen Urkundenarchivs bei der Bundesnotarkammer sowie zur Änderung weiterer Gesetze, v. 1.6.2017, BGBl. I 2017, 1396, erfolgt und am 9.6.2017 in Kraft getreten. Ausführlich dazu Attenberger, MittBayNot 2017, 335; Diehn/ Rachlitz, DNotZ 2017, 487; Heinemann, ZNotP 2017, 166; von Werder/Hobuß, BB 2018, 1031; Zimmer, NJW 2017, 1909. Ausführlich dazu Seebach, RNotZ 2015, 68. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 36 Rz. 3a; Hölters-Solveen, AktG, § 36 Rz. 6 ff.; K. Schmidt/LutterKleindiek, AktG, § 36 Rz. 6.

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Anmeldung der Gesellschaft

meldung verpflichtet sind auch stellvertretende Mitglieder des Vorstands (§ 94), nicht aber noch nicht nachgerückte Ersatzmitglieder des Aufsichtsrats, da diese noch keine Organmitglieder sind (siehe § 101 Abs. 3). Die Anmeldung muss nicht unbedingt gleichzeitig unterzeichnet werden. Ferner ist es auch nicht erforderlich, dass alle Anmeldenden auf ein und demselben Schriftstück unterschreiben. Die Unterzeichnung getrennter, inhaltlich aber übereinstimmender Anmeldungen ist zulässig. 9 Alle Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats müssen die Handelsregisteranmeldung wegen der damit verbundenen strafrechtlichen Verantwortlichkeit (§ 399 Abs. 1 Nr. 1) höchstpersönlich unterschreiben. Stellvertretung ist ausgeschlossen.8) Gleiches gilt auch für die Gründer. Lediglich dann, wenn ein Gründer nicht geschäftsfähig ist oder es sich bei einem Gründer um keine natürliche Person handelt, ist eine Unterzeichnung durch die gesetzlichen bzw. organschaftlichen Vertreter zulässig. 10 Auf die Wirksamkeit der Handelsregisteranmeldung ist es ohne Einfluss, wenn eine der anmeldenden Personen nach Unterzeichnung stirbt oder geschäftsunfähig wird (§ 130 Abs. 2 BGB analog).9) Die Anmeldung wird erst mit Zugang beim Handelsregister wirksam (§ 130 Abs. 3 BGB analog). Bis zur Eintragung kann die Anmeldung ohne Angabe von Gründen zurückgenommen werden.10) III.

Bareinlagen (§ 36 Abs. 2)

1.

Einzahlung der eingeforderten Bareinlage (§ 36 Abs. 2 Halbs. 1)

a)

Überblick

11 Die Einlageverpflichtung entsteht mit der Übernahme der Aktien durch die Gründer (siehe § 23 Abs. 2 Nr. 2). Die Einlagen sind nach Aufforderung durch den Vorstand einzuzahlen (siehe § 63 Abs. 1 Satz 1). Der eingeforderte Betrag muss bei Bareinlagen mindestens ein Viertel des geringsten Ausgabebetrags (§ 9 Abs. 1), und – bei Ausgabe der Aktien für einen höheren als diesen – auch den (gesamten) Mehrbetrag (Agio) umfassen (§ 36a Abs. 1). Der eingeforderte Betrag kann nur in gesetzlichen Zahlungsmitteln oder durch Gutschrift auf ein Konto bei einem Kreditinstitut11) eingezahlt werden (§ 54 Abs. 3 Satz 1). Die Handelsregisteranmeldung darf u. a. erst dann erfolgen, wenn auf jede einzelne Aktie der eingeforderte Betrag der Bareinlagen ordnungsgemäß eingezahlt worden ist (§ 36 Abs. 2 Halbs. 1). Die Einzahlung des eingeforderten Gesamtbetrags ist nicht ausreichend.12) In der Handelsregisteranmeldung ist zu erklären, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind (§ 37 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1). Ferner ist der Betrag, zu dem die Aktien ausgegeben worden sind und der darauf jeweils eingezahlte Betrag anzugeben (§ 37 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2). Erfolgt die Einzahlung durch Gutschrift auf einem Konto, ist dem Registergericht eine Bestätigung des kontoführenden Kreditinstituts als Nachweis vorzulegen (§ 37 Abs. 1 Satz 3). b)

Leistung der Bareinlage

12 Im Interesse einer ordnungsgemäßen Kapitalaufbringung kann der eingeforderte Betrag der Bareinlagen (abweichend von § 362 Abs. 2 BGB) nur durch Barzahlung oder durch Kontogutschrift wirksam geleistet werden (§ 54 Abs. 3 i. V. m. § 36 Abs. 2 Halbs. 1).13) Andere Leistungen (z. B. Zahlung an Gläubiger der Gesellschaft) haben keine Erfüllungswirkung. _____________ 8) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 36 Rz. 4; Hölters-Solveen, AktG, § 36 Rz. 9; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 36 Rz. 10. 9) K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 36 Rz. 11. 10) Hölters-Solveen, AktG, § 36 Rz. 13; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 36 Rz. 13. 11) Zu weiteren ausländischen Unternehmen s. §§ 53 Abs. 1 und 7 KWG. 12) Hölters-Solveen, AktG, § 36 Rz. 14; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 36 Rz. 36 und 44. 13) Arnold in: KölnKomm-AktG, § 36 Rz. 27 ff.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 36 Rz. 45 ff.

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§ 36

Anmeldung der Gesellschaft

Barzahlung meint Übereignung und Übergabe von inländischen Banknoten an den Vorstand 13 in entsprechender Höhe. Die Übergabe eines Schecks steht der Barzahlung nicht gleich (siehe Art. 4 ScheckG). Bitcoins und andere Kryptowährungen sind (derzeit) keine gesetzlichen Zahlungsmittel (siehe § 14 Abs. 1 BBankG) und daher keine geeignete Bareinlage.14) Kontogutschrift meint die Gutschrift der Einlage auf einem Konto der (Vor-)AG oder 14 des Vorstands der Gesellschaft (siehe § 54 Abs. 3 Satz 2). Zahlungen auf ein Konto eines Gründers oder eines Gläubigers der Gesellschaft sind nicht ausreichend.15) Mangels freier Verfügungsmöglichkeit des Vorstands sind Zahlungen auf Treuhandkonten16) (auch Notaranderkonten) nicht anzuerkennen.17) Als kontoführende Stellen werden nur inländische Kreditinstitute (§§ 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 KWG) und bestimmte ausländische Unternehmen (insbesondere solche mit inländischen Zweigniederlassungen, die Bankgeschäfte betreiben, siehe im Einzelnen §§ 53 Abs. 1 Satz 1, 53b Abs. 1 Satz 1 und Abs. 7 KWG) anerkannt. Die Kontogutschrift muss in Euro erfolgen.18) Eine Gutschrift in ausländischer Währung würde die Gesellschaft mit dem Risiko von Währungsschwankungen belasten und daher die reale Kapitalaufbringung gefährden. 2.

Leistung zur endgültig freien Verfügung des Vorstands (§ 36 Abs. 2 Halbs. 2)

a)

Überblick

Die eingezahlten Bareinlagen müssen zur endgültig freien Verfügung des Vorstands stehen 15 (§ 36 Abs. 2 Halbs. 2, § 54 Abs. 3 Satz 1). Eine Ausnahme gilt lediglich insoweit, als die Einlagen bereits für die bei der Gründung angefallenen Steuern und Gebühren verwandt worden sind (§ 36 Abs. 2 Halbs. 2 i. V. m. § 26 Abs. 2). Die Einzahlung der Einlagen hat nur dann Erfüllungswirkung, wenn sie zur endgültig 16 freien Verfügung des Vorstands stehen. Eine Leistung zur endgültig (nicht nur vorübergehenden) freien Verfügbarkeit des Vorstands liegt vor, wenn die Einlage aus dem Verfügungsbereich des Einlageschuldners vollständig ausgesondert und dem Vorstand so übertragen worden ist, dass er darüber (nach pflichtgemäßem Ermessen, siehe §§ 76, 93) rechtlich und tatsächlich uneingeschränkt verfügen kann.19) Leistungen, die nur zum Schein erfolgen, haben keine Erfüllungswirkung (siehe § 117 BGB).20) _____________ 14) Zur Einlagefähigkeit von Bitcoins und anderen Kryptowährungen im GmbH- und Aktienrecht s. Güldü, GmbHR 2019, 565. – Zu den Sorgfaltspflichten nach dem Geldwäschegesetz beim Umgang mit Kryptowährungen s. § 1 Abs. 29 und 30, § 10 Abs. 3 Nr. 2 lit. c GwG. 15) S. BGH, Urt. v. 13.7.1992 – II ZR 263/91, BGHZ 119, 177 = ZIP 1992, 1387. 16) Zu den mit Treuhandkonten unter Umständen verbundenen Risiken s. im Fall der insolventen Wirecard AG u. a. Lenz, DB 2020, 2085; Marten, DB 2020, 2089; Marten, DB 2020, 1465. 17) Pentz in: MünchKomm-AktG, § 36 Rz. 50; für weitergehende Zulässigkeit dagegen bei uneigennützigen Treuhändern und Notaren Grigoleit-Vedder, AktG, § 36 Rz. 11. 18) Großzügiger Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 54 Rz. 16, wonach grds. auch Einlagen in ausländischer Währung anzuerkennen sind. Wie hier dagegen Pentz in: MünchKomm-AktG, § 36 Rz. 70. 19) Hölters-Solveen, AktG, § 36 Rz. 15; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 36 Rz. 7; Arnold in: KölnKommAktG, § 36 Rz. 30 ff.; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 36 Rz. 19 ff.; Pentz in: MünchKommAktG, § 36 Rz. 47 ff. 20) S. etwa zum Hin- und Herzahlen bei einer GmbH (vor MoMiG) BGH, Urt. v. 12.6.2006 – II ZR 334/04, ZIP 2006, 1633; BGH, Urt. v. 9.1.2006 – II ZR 72/05, BGHZ 165, 352 = ZIP 2006, 331, dazu EWiR 2006, 307 (Naraschewski); BGH, Urt. v. 21.11.2005 – II ZR 140/04, BGHZ 165, 113 = ZIP 2005, 2203, dazu EWiR 2006, 33 (Tillmann); BGH, Urt. v. 22.3.2004 – II ZR 7/02, ZIP 2004, 1046, und BGH, Urt. v. 18.2.1991 – II ZR 104/90, BGHZ 113, 335 = ZIP 1991, 511, dazu EWiR 1991, 1213 (Frey) – nur vorübergehende Leistung der Einlage bei einer Kapitalerhöhung einer GmbH i. R. eines Ausschüttungs-Rückhol-Verfahrens; Hölters-Solveen, AktG, § 36 Rz. 16; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 36 Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 36 Rz. 21; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 36 Rz. 55.

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Anmeldung der Gesellschaft

17 Bei einer Kontogutschrift fehlt es an der freien Verfügungsmöglichkeit des Vorstands, wenn das Konto gesperrt oder gepfändet worden ist. Bei einem debitorischen Konto hat eine Einzahlung nur dann Erfüllungswirkung, wenn das Kreditinstitut i. R. einer gewährten Kreditlinie Verfügungen i. H. des eingezahlten Betrages gestattet. Dagegen fehlt es an der freien Verfügungsmacht, wenn die Kreditlinie überschritten oder der Kontokorrentkredit zur Rückzahlung fällig ist und das Kreditinstitut den eingezahlten Betrag mit dem Schuldsaldo verrechnen kann.21) 18 An der freien Verfügbarkeit fehlt es regelmäßig auch dann, wenn die zunächst einbezahlte Einlage (unmittelbar oder mittelbar) wieder an den Einleger zurückbezahlt wird. Etwas anderes gilt seit Inkrafttreten des ARUG aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung aber in den Fällen des Hin- und Herzahlens (§ 27 Abs. 4).22) 19 In den Fällen der verdeckten Sacheinlage fehlt es (trotz § 27 Abs. 3) an der freien Verfügbarkeit, da die vereinbarte Bareinlage gerade nicht erfüllt wird und (zumindest zunächst) fortbesteht.23) b)

Steuern und Gebühren

20 Von dem Erfordernis der Einlagenleistung zur endgültig freien Verfügung des Vorstands ausdrücklich ausgenommen ist der Betrag, der für die bei der Gründung angefallenen Steuern und Gebühren verwandt worden ist.24) Erfasst werden allerdings nur solche Steuern und Gebühren (einschließlich Auslagen), die von der Gesellschaft kraft Gesetzes oder aufgrund der Festsetzungen in der Satzung (§ 26 Abs. 2) zu tragen sind und für die Gründung erforderlich sind. Dazu gehören die Kosten des Notars, der Registereintragung, der Bekanntmachung, eine etwa anfallende Grunderwerbsteuer sowie die Vergütung der Gründungsprüfer. Nicht umfasst sind dagegen die sonstigen Kosten der Rechts- und Steuerberatung oder die Kosten für den Betrieb eines übernommenen Unternehmens. c)

Verwendungsabsprachen

21 Noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob und inwieweit Vereinbarungen über die künftige Verwendung der geleisteten Einlagen der freien Verfügung des Vorstands entgegenstehen. 22 Weitgehend Einigkeit besteht darüber, dass Verwendungsabsprachen für die ordnungsgemäße Kapitalaufbringung unschädlich sind, wenn die Einlagen zugunsten von Dritten verwendet werden (z. B. für Investitionen der Gesellschaft oder andere unternehmerische Zwecke).25) _____________ 21) S. BGH, Urt. v. 13.7.1992 – II ZR 263/91, BGHZ 119, 177 = ZIP 1992, 1387. Zur Einlagenleistung bei Kapitalerhöhungen einer GmbH (vor MoMiG) s. BGH, Urt. v. 8.11.2004 – II ZR 362/02, ZIP 2005, 121; BGH, Urt. v. 18.3.2002 – II ZR 363/00, BGHZ 150, 197 = ZIP 2002, 799; BGH, Urt. v. 10.6.1996 – II ZR 98/95, ZIP 1996, 1466, dazu EWiR 1996, 885 (v. Gerkan); ferner Hölters-Solveen, AktG, § 36 Rz. 16; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 36 Rz. 8; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 36 Rz. 43 ff.; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 36 Rz. 22. 22) Arnold in: KölnKomm-AktG, § 36 Rz. 37 ff.; Spindler/Stilz-Döbereiner, AktG, § 36 Rz. 20. 23) Im Ergebnis ebenso Hölters-Solveen, AktG, § 36 Rz. 16; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 36 Rz. 41 ff.; Spindler/Stilz-Döbereiner, AktG, § 36 Rz. 20. 24) Hölters-Solveen, AktG, § 36 Rz. 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 36 Rz. 10; Arnold in: KölnKommAktG, § 36 Rz. 52; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 36 Rz. 75 ff.; Spindler/Stilz-Döbereiner, AktG, § 36 Rz. 24. 25) S. dazu etwa BGH, Urt. v. 12.2.2007 – II ZR 272/05, BGHZ 171, 113 = ZIP 2007, 528, dazu EWiR 2007, 331 (Rohde); BGH, Urt. v. 2.12.2002 – II ZR 101/02, BGHZ 153, 107 = ZIP 2003, 211, dazu EWiR 2003, 223 (Blöse).

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§ 36

Anmeldung der Gesellschaft

Dagegen werden Verwendungsabsprachen überwiegend als schädlich angesehen, wenn sie 23 dazu führen, dass die Einlagen (unmittelbar oder mittelbar) wieder an den Einleger zurückfließen.26) Denn damit werden die Vorschriften über die Kapitalaufbringung umgangen. Dies erscheint jedoch spätestens seit Inkrafttreten des ARUG nicht mehr überzeugend.27) Die gesetzliche Neuregelung zum Hin- und Herzahlen zeigt gerade, dass eine Rückzahlung der Einlage einer ordnungsgemäßen Kapitalaufbringung nicht zwingend entgegensteht (siehe § 27 Abs. 4). Zudem muss die Gesellschaft mit dem Einleger in gleicher Weise wie mit einem Dritten Geschäfte abschließen können.28) Entscheidend ist somit, dass die Einlagen tatsächlich zur endgültig freien Verfügung des Vorstands geleistet werden und nicht etwa für Zahlungen an den Einleger „reserviert“ sind.29) Dann ist die Kapitalaufbringung ordnungsgemäß abgeschlossen. d)

Verfügungen über die Einlagen vor Anmeldung

Der Gesetzeswortlaut deutet darauf hin, dass die eingezahlten Einlagen (mit Ausnahme 24 der Steuern und Gebühren) auch im Zeitpunkt der Anmeldung noch unversehrt vorhanden sein müssen (siehe § 37 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2). Eine solche Thesaurierungspflicht besteht jedoch nach heute h. A. nicht. Es ist allgemein anerkannt, dass der Vorstand über die eingezahlten Einlagen bereits vor der Anmeldung zum Handelsregister verfügen darf, wenn der Gesellschaft dabei ein entsprechender Gegenwert zufließt und dieser Wert auch im Zeitpunkt der Anmeldung (nicht der Eintragung) noch vorhanden ist (Gebot der wertgleichen Deckung).30) Umstritten ist dagegen, ob auch auf das Erfordernis der wertgleichen Deckung verzichtet 25 werden kann. Die überwiegende Meinung hält daran im Interesse einer ordnungsgemäßen Kapitalaufbringung – zumindest für die Neugründung der Gesellschaft31) – fest.32) Dies erscheint indes nicht überzeugend.33) Mit der Leistung der Einlage zur endgültig freien Verfügung des Vorstands ist die Kapitalaufbringung abgeschlossen. Danach entscheidet allein der Vorstand über die Verwendung der Einlagen. Bei nicht wertgleichen Rechtsgeschäften greift die Unterbilanzhaftung (Vorbelastungshaftung) ein, so dass die ordnungsgemäße Kapitalaufbringung gesichert ist. Danach müssen die Einlagen bei der Anmeldung nicht mehr (auch nicht i. S. einer wertgleichen Deckung) vorhanden sein.

_____________ 26) S. etwa Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 36 Rz. 9, wonach Verwendungsabsprachen die vorgeschriebene freie Verfügung im Zweifel beeinträchtigen, und Pentz in: MünchKomm-AktG, § 36 Rz. 54. 27) Zutreffend K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 36 Rz. 25 f., der vor allem die Unterscheidung zwischen Mittelaufbringung und Mittelverwendung betont; ebenso Arnold in: KölnKomm-AktG, § 36 Rz. 46. 28) S. BGH, Urt. v. 1.2.2010 – II ZR 173/08 (Eurobike), BGHZ 184, 158 = ZIP 2010, 423, dazu EWiR 2010, 169 (Lieder) – „Entgeltliche Dienstverträge zwischen der Gesellschaft und dem Inferenten sind im Aktienrecht nicht verboten.“ 29) Zu dem Kriterium des „Reserviert“-Seins s. BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 120/07 (Qivive), BGHZ 180, 38 = ZIP 2009, 713, dazu EWiR 2009, 443 (Schodder). 30) Grundlegend BGH, Urt. v. 13.7.1992 – II ZR 263/91, BGHZ 119, 177 = ZIP 1992, 1387; HöltersSolveen, AktG, § 36 Rz. 18; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 36 Rz. 11a; Spindler/Stilz-Döbereiner, AktG, § 36 Rz. 23. 31) Anders aber für eine Kapitalerhöhung bei einer bereits bestehenden Gesellschaft BGH, Urt. v. 18.3.2002 – II ZR 363/00, BGHZ 150, 197 = ZIP 2002, 799 – betreffend die Kapitalerhöhung bei einer GmbH. 32) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 36 Rz. 11a; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 36 Rz. 47 ff.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 36 Rz. 79 ff. 33) Zutreffend K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 36 Rz. 29 ff.; zustimmend Henssler/StrohnWardenbach, GesR, § 36 AktG Rz. 7.

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§ 36a 3.

Leistung der Einlagen Sonderfall: Gemischte Einlage

26 Eine gemischte Einlage liegt vor, wenn der Gründer für eine von ihm übernommene Aktie sowohl eine Bareinlage als auch eine Sacheinlage zu erbringen hat. Bareinlage (§ 36 Abs. 2, § 36a Abs. 1) und Sacheinlage (§ 36a Abs. 2) sind dann jeweils nach den für sie geltenden Vorschriften zu erbringen. Die Bareinlage ist demnach zu mindestens einem Viertel und die Sacheinlage stets voll zu erbringen. Ein etwaiges Agio ist stets in voller Höhe zu erbringen. 27 Von der gemischten Einlage zu unterscheiden ist der Fall, dass ein Gründer mehrere Aktien übernimmt und für manche Aktien ausschließlich eine Bareinlage und für andere Aktien ausschließlich eine Sacheinlage vereinbart wird. In diesem Fall sind Bar- und Sacheinlage getrennt und unabhängig voneinander zu behandeln. 28 Die gemischte Einlage ist schließlich von der gemischten Sacheinlage zu unterscheiden, bei der der Gründer teils Aktien und teils eine sonstige Vergütung erhält (dazu § 27 Rz. 25).

§ 36a Leistung der Einlagen Thomas Wachter

(1) Bei Bareinlagen muß der eingeforderte Betrag (§ 36 Abs. 2) mindestens ein Viertel des geringsten Ausgabebetrags und bei Ausgabe der Aktien für einen höheren als diesen auch den Mehrbetrag umfassen. (2) 1Sacheinlagen sind vollständig zu leisten. 2Besteht die Sacheinlage in der Verpflichtung, einen Vermögensgegenstand auf die Gesellschaft zu übertragen, so muß diese Leistung innerhalb von fünf Jahren nach der Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister zu bewirken sein. 3Der Wert muß dem geringsten Ausgabebetrag und bei Ausgabe der Aktien für einen höheren als diesen auch dem Mehrbetrag entsprechen. Literatur: Hermanns, Gestaltungsmöglichkeiten bei der Kapitalerhöhung mit Agio, ZIP 2003, 788; Mayer, Der Leistungszeitpunkt bei Sacheinlageleistungen im Aktienrecht, ZHR 154 (1990) 535; Schäfer, Zur Einbeziehung des Agios in die aktienrechtliche Kapitalaufbringung, in: Festschrift für Eberhard Stilz, 2014, S. 525; Schäfer, Schuldrechtliches Agio im Aktienrecht – Kapitalaufbringung ad libitum?, ZIP 2016, 953; Schnorbus/Plassmann, Bilanzierung eines schuldrechtlichen Agio als andere Zuzahlung gem. § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB, ZIP 2016, 693.

Übersicht I. Überblick ........................................... II. Bareinlagen (§ 36a Abs. 1) ............... III. Sacheinlagen (§ 36a Abs. 2) ............. 1. Umfang der Leistung (§ 36a Abs. 2 Satz 1) ..................................... I.

1 2 8

2. Zeitpunkt der Leistung (§ 36a Abs. 2 Satz 2) ......................... 10 3. Verbot der Unterpariemission (§ 36a Abs. 2 Satz 3) ......................... 15

8

Überblick

1 Die Vorschrift regelt die Leistung der Einlagen bei Gründung der Gesellschaft und dient damit der Sicherung der effektiven Kapitalaufbringung.1) Für Bareinlagen wird der Mindestbetrag bestimmt, der vor Anmeldung der Gesellschaft geleistet sein muss (§ 36a Abs. 1 _____________ 1)

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Hölters-Solveen, AktG, § 36a Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 36a Rz. 1; Arnold in: KölnKommAktG, § 36a Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 36a Rz. 1.

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§ 36a

Leistung der Einlagen

i. V. m. §§ 36 Abs. 2, 54 Abs. 3). In Bezug auf Sacheinlagen werden Umfang und Zeitpunkt der zu erbringenden Leistung näher geregelt (§ 36a Abs. 2). II.

Bareinlagen (§ 36a Abs. 1)

Bei Bareinlagen muss der vor der Anmeldung (§ 36 Abs. 2) eingeforderte Betrag mindestens 2 ein Viertel des geringsten Ausgabebetrags (§ 9 Abs. 1) betragen (§ 36a Abs. 1 Halbs. 1). Werden die Aktien zu einem höheren Betrag ausgegeben (Überpariemission, § 9 Abs. 2) muss der eingeforderte Betrag auch den vollen Mehrbetrag (Agio) umfassen (§ 36a Abs. 1 Halbs. 2). Im Unterschied zum GmbH-Recht muss der Gesamtbetrag der Bareinlagen nicht mindestens die Hälfte des Grundkapitals der Gesellschaft erreichen (siehe § 7 Abs. 2 Satz 2 GmbHG). Die Mindestleistung muss für jede Aktie gesondert erbracht werden.2) In der Handels- 3 registeranmeldung ist dies auch entsprechend anzugeben (§ 37 Abs. 1 Satz 1). Die pauschale Leistung eines Gesamtbetrages ist selbst dann nicht ausreichend, wenn dieser die Mindestleistung erreicht. Minderzahlungen einzelner Aktionäre können nicht durch Mehrzahlungen anderer Aktionäre ausgeglichen werden. Die Satzung kann die Leistung eines höheren (nicht aber eines niedrigeren) Betrages als 4 ein Viertel des geringsten Ausgabebetrags vorsehen (siehe § 23 Abs. 5 Satz 2).3) Der Vorstand ist dann auch zur Einforderung des höheren Betrages verpflichtet. Für die Einforderung der Einlagen ist der Vorstand zuständig (siehe § 63 Abs. 1 Satz 1). 5 Der Vorstand entscheidet – innerhalb des von Gesetz und Satzung vorgesehenen Rahmens – über Zeitpunkt und Höhe der Einforderung der Einlagen. In der Satzung kann die Entscheidung des Vorstands von der Zustimmung des Aufsichtsrats abhängig gemacht werden (§ 111 Abs. 4 Satz 2). Die Gründer sind bei der Einforderung der Einlagen gleichzubehandeln (§ 53a). Im Falle einer Überpariemission (§ 9 Abs. 1) muss der eingeforderte Betrag stets das ge- 6 samte Aufgeld (Agio) umfassen.4) Damit ist das in der Satzung geregelte (korporative) Agio (und nicht auch ein schuldrechtliches Agio)5) gemeint. Für ein außerhalb der Satzung vereinbartes (schuldrechtliches) Agio gilt die gesetzliche Verpflichtung zur Zahlung des gesamten Aufgelds vor der Anmeldung der Gesellschaft nicht. Die Fälligkeit kann insoweit frei vereinbart werden. Das schuldrechtliche Agio unterliegt nicht der Registerkontrolle (siehe § 38 Abs. 1).6) Entsprechende Vereinbarungen müssen gegenüber dem Registergericht daher auch nicht offengelegt werden (siehe § 37 Abs. 4).7) Die Gründer sind berechtigt (aber nicht verpflichtet) über die geschuldeten und einge- 7 forderten Bareinlagen hinaus freiwillige Mehrleistungen zu erbringen. Solche Mehrleis-

_____________ 2) 3) 4)

5) 6) 7)

Hölters-Solveen, AktG, § 36a Rz. 3; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 36a Rz. 3; K. Schmidt/LutterKleindiek, AktG, § 36a Rz. 2. Hölters-Solveen, AktG, § 36a Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 36a Rz. 2; K. Schmidt/LutterKleindiek, AktG, § 36a Rz. 2. Zu den Angaben im Zeichnungsschein bei einer Überpariemission s. LG Frankfurt/M., Beschl. v. 3.5.1991 – 3/11 T 7/91, AG 1992, 240. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 36a Rz. 2a; Arnold in: KölnKommAktG, § 36a Rz. 4. Zur Bilanzierung eines schuldrechtlichen Agios s. Schnorbus/Plassmann, ZIP 2016, 693. Zur Einbeziehung des Agios in die Kapitalaufbringung s. Schäfer, ZIP 2016, 953; Schäfer in: FS Stilz, S. 525 ff. Hölters-Solveen, AktG, § 36a Rz. 3; a. A allerdings Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 36a Rz. 2a.

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§ 36a

Leistung der Einlagen

tungen haben auch dann Erfüllungswirkung, wenn sie im Zeitpunkt der Eintragung der Gesellschaft nicht mehr unverbraucht zur Verfügung stehen.8) III.

Sacheinlagen (§ 36a Abs. 2)

1.

Umfang der Leistung (§ 36a Abs. 2 Satz 1)

8 Sacheinlagen sind vollständig zu leisten (§ 36a Abs. 2 Satz 1). Eine nur teilweise Erbringung von Sacheinlagen ist (anders als bei Bareinlagen, § 36a Abs. 1) gesetzlich nicht vorgesehen und daher unzulässig (siehe § 266 BGB).9) In der Satzung kann eine teilweise Leistung von Sacheinlagen vorgesehen werden, sofern dies im Hinblick auf die Rechtsnatur der eingebrachten Sache möglich ist. Die letzte Teilleistung muss dann allerdings spätestens fünf Jahre nach Eintragung der Gesellschaft bewirkt sein (§ 36a Abs. 2 Satz 2). 9 Die Sacheinlagen müssen (ebenso wie die Bareinlagen, siehe § 36 Abs. 2 Halbs. 2) so geleistet werden, dass sie endgültig zur freien Verfügung des Vorstands stehen.10) In der Regel ist bei einer Sacheinlage die (vollständige und vorbehaltlose) Übertragung des Eigentums an der Sache auf die Vor-AG geschuldet. Die dingliche Erfüllung der Sacheinlageverpflichtung erfolgt dann durch Eigentumsübertragung der jeweiligen Sache nach den dafür maßgeblichen Vorschriften (z. B. bei beweglichen Sachen durch Einigung und Übergabe, §§ 929 ff. BGB, bei Grundstücken durch Auflassung und Grundbucheintragung, §§ 873, 925 BGB, bei Forderungen und sonstigen Rechten durch Abtretung bzw. Übertragung, §§ 398, 413 BGB). Die entsprechenden Verträge (z. B. Einbringungsvertrag) sind der Handelsregisteranmeldung als Anlage beizufügen (§ 37 Abs. 4 Nr. 2). Die Sacheinlageverpflichtung kann aber auch lediglich darin bestehen, der Gesellschaft eine bestimmte Sache lediglich zum Gebrauch oder zur Nutzung zu überlassen. In diesem Fall ist die Sacheinlage erbracht, wenn dem Vorstand die vereinbarte Gebrauchs- oder Nutzungsbefugnis eingeräumt worden ist. 2.

Zeitpunkt der Leistung (§ 36a Abs. 2 Satz 2)

10 Nach der gesetzlichen Regelung muss die Leistung innerhalb von fünf Jahren nach der Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister zu bewirken sein, wenn die Sacheinlage in der Verpflichtung besteht, einen Vermögensgegenstand auf die Gesellschaft zu übertragen (§ 36a Abs. 2 Satz 2). Die Vorschrift gilt allgemein als unverständlich.11) Umstritten ist dabei insbesondere, ob die Erfüllung der Sacheinlageverpflichtung bereits vor der Anmeldung der Gesellschaft erfolgt sein muss. 11 Die h. M.12) geht davon aus, dass bei Sacheinlagen die wirksame Begründung der schuldrechtlichen Einlageverpflichtung für die Anmeldung ausreichend ist. Der dingliche Vollzug der Sacheinlageverpflichtung muss vor der Anmeldung dagegen noch nicht erfolgt sein. Vielmehr genügt es, wenn die Sacheinlage spätestens innerhalb von fünf Jahren nach Eintragung der Gesellschaft bewirkt worden ist (§ 36a Abs. 2 Satz 2). Eine vollständige _____________ 8) So für GmbH – BGH, Urt. v. 24.10.1988 – II ZR 176/88, BGHZ 105, 300 = ZIP 1989, 27, dazu EWiR 1989, 55 (Schmidt), und die ganz h. M. im aktienrechtlichen Schrifttum, s. etwa Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 36a Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 36 Rz. 17. 9) Hölters-Solveen, AktG, § 36a Rz. 7; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 36a Rz. 5. 10) Hölters-Solveen, AktG, § 36a Rz. 8; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 36a Rz. 5; K. Schmidt/LutterKleindiek, AktG, § 36a Rz. 8. 11) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 36a Rz. 4; Hölters-Solveen, AktG, § 36a Rz. 5. 12) Bürgers/Körber/Lieder-Lohse, AktG, § 36a Rz. 3; Hölters-Solveen, AktG, § 36a Rz. 5; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 36a Rz. 4; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 36a Rz. 11 ff.; K. Schmidt/LutterKleindiek, AktG, § 36a Rz. 3 ff.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 36a Rz. 10 ff.

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§ 36a

Leistung der Einlagen

Leistung der Sacheinlage (so § 36a Abs. 2 Satz 1) ist nur in den (seltenen) Fällen der bloßen Gebrauchs- oder Nutzungsüberlassung einer Sache erforderlich. Nach einer Mindermeinung13) sind Sacheinlagen dagegen grundsätzlich vor der Anmel- 12 dung der Gesellschaft zu leisten (§ 36a Abs. 2 Satz 1). Eine Ausnahme gelte nur dann, wenn die Sacheinlage in der Übertragung eines Anspruchs gegen einen Dritten bestehe. In diesem Fall genügt es, dass der Dritte seiner Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft innerhalb von fünf Jahren nach Eintragung der Gesellschaft nachkommt (§ 36a Abs. 2 Satz 2). Stellungnahme: Für die h. M. spricht zweifelslos der Gesetzeswortlaut, der allgemein 13 von der Verpflichtung zur Übertragung eines Vermögensgegenstands auf die Gesellschaft spricht (§ 36a Abs. 2 Satz 2) und keine Einschränkung auf gegen Dritte gerichtete Ansprüche vorsieht. Die amtliche Gesetzesbegründung14) geht gleichfalls davon aus, dass die wirksame Begründung eines schuldrechtlichen Anspruchs auf Übertragung des Vermögensgegenstands für die Anmeldung ausreichend ist. Gleichwohl verdient die Mindermeinung Zustimmung, da sie dem Normzweck – der Sicherung der effektiven Kapitalaufbringung – besser gerecht wird. Nach der h. M. hat die Gesellschaft das Risiko zu tragen, dass die Sache in den fünf Jahren nach Eintragung der Gesellschaft an Wert verliert. Dies erscheint nicht sachgerecht. Zudem wird der dingliche Vollzug der Sacheinlage auf diese Weise der registergerichtlichen Präventivkontrolle (siehe § 38 Abs. 1) entzogen. Die Mindermeinung entspricht i. Ü. der (unstreitigen) Rechtslage zur Erbringung von Sacheinlagen im GmbH-Recht (siehe § 7 Abs. 3 GmbHG)15) und gewährleistet damit eine einheitliche Auslegung der Kapitalaufbringungsvorschriften. Das Registergericht hat die Eintragung der Gesellschaft abzulehnen, wenn die Sachein- 14 lagen vor der Anmeldung nicht ordnungsgemäß bewirkt worden sind (§ 38 Abs. 1). In den (seltenen) Fällen der Gebrauchs- oder Nutzungsüberlassung einer Sache muss die Leistung unstreitig vor Anmeldung der Gesellschaft erfolgen. Im praktischen Regelfall, bei dem der Gesellschaft das Eigentum an einer Sache übertragen wird, kommt es dagegen darauf an, welcher der beiden vorstehenden Auffassungen man folgt. Nach der h. M. ist es ausreichend (aber auch erforderlich), dass ein wirksamer Anspruch der Gesellschaft auf Übertragung der Sache begründet worden ist und dieser spätestens innerhalb von fünf Jahren nach Eintragung der Gesellschaft erfüllt wird. Die Durchsetzung dieses Anspruchs liegt allein in der Verantwortung des Vorstands der Gesellschaft (siehe §§ 76, 93). Das Registergericht ist weder berechtigt noch verpflichtet die (fristgerechte) Erfüllung des Anspruchs zu kontrollieren. Nach der Mindermeinung muss das Eigentum an der Sache dagegen bereits vor der Anmeldung dinglich auf die Vor-AG übertragen worden sein. Lediglich bei der Übertragung von Grundstücken genügt im Hinblick auf die Bearbeitungszeiten beim Grundbuchamt die Eintragung einer Auflassungsvormerkung für die Vor-AG und die formgerechte Abgabe der für die Auflassung erforderlichen Erklärungen. 3.

Verbot der Unterpariemission (§ 36a Abs. 2 Satz 3)

Der Wert der Sacheinlage muss dem geringsten Ausgabebetrag (§ 9 Abs. 1) und bei einem 15 höheren Ausgabebetrag (Überpariemission) auch dem Mehrbetrag entsprechen (§ 36a Abs. 2 Satz 3; siehe auch § 34 Abs. 1 Nr. 2).16) Die Vorschrift wiederholt somit das Verbot der Unterpariemission (§ 9 Abs. 1). Die Werthaltigkeit der Sacheinlage unterliegt der _____________ 13) 14) 15) 16)

Mayer, ZHR 154 (1990) 535, 538 ff., und zustimmend Spindler/Stilz-Döbereiner, AktG, § 36a Rz. 10. Begr. RegE, BT-Drucks. 8/1678, S. 12 ff. Grundlegend BGH, Urt. v. 2.5.1966 – II ZR 219/63, BGHZ 45, 338 = WM 1966, 571. S. BGH, Urt. v. 12.3.2007 – II ZR 302/05, BGHZ 171, 293 = ZIP 2007, 1104; Arnold in: KölnKommAktG, § 36a Rz. 22 f.; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 36a Rz. 9; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 36a Rz. 26 ff.

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§ 37

Inhalt der Anmeldung

Prüfung durch das Registergericht (§ 38 Abs. 1). Bleibt der Wert der Sacheinlagen nicht unwesentlich hinter dem Ausgabebetrag zurück, ist die Eintragung abzulehnen (§ 38 Abs. 2 Satz 2). Wird die Gesellschaft trotz Verstoßes gegen das Verbot der Unterpariemission eingetragen, ist die Gesellschaft wirksam entstanden. Der Gründer haftet gegenüber der Gesellschaft allerdings auf den Differenzbetrag.17) _____________ 17) BGH, Urt. v. 27.2.1975 – II ZR 111/72, BGHZ 64, 52 = NJW 1975, 974 – für den Fall einer erheblichen Überbewertung einer Sacheinlage in Form von Warenschuldverschreibungen; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 6.7.2010 – 5 U 205/07, AG 2010, 793 – im Zusammenhang mit einer Sachkapitalerhöhung; OLG Düsseldorf, Urt. v. 5.5.2011 – I 6 U 70/10, ZIP 2011, 1514 – zur Darlegungs- und Beweislast i. R. der Differenzhaftung.

§ 37 Inhalt der Anmeldung Thomas Wachter

(1) 1In der Anmeldung ist zu erklären, daß die Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 und des § 36a erfüllt sind; dabei sind der Betrag, zu dem die Aktien ausgegeben werden, und der darauf eingezahlte Betrag anzugeben. 2Es ist nachzuweisen, daß der eingezahlte Betrag endgültig zur freien Verfügung des Vorstands steht. 3Ist der Betrag gemäß § 54 Abs. 3 durch Gutschrift auf ein Konto eingezahlt worden, so ist der Nachweis durch eine Bestätigung des kontoführenden Instituts zu führen. 4Für die Richtigkeit der Bestätigung ist das Institut der Gesellschaft verantwortlich. 5Sind von dem eingezahlten Betrag Steuern und Gebühren bezahlt worden, so ist dies nach Art und Höhe der Beträge nachzuweisen. (2) 1In der Anmeldung haben die Vorstandsmitglieder zu versichern, daß keine Umstände vorliegen, die ihrer Bestellung nach § 76 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 und 3 sowie Satz 3 entgegenstehen, und daß sie über ihre unbeschränkte Auskunftspflicht gegenüber dem Gericht belehrt worden sind. ) 2Die Belehrung nach § 53 Abs. 2 des Bundeszentralregistergesetzes kann schriftlich vorgenommen werden; sie kann auch durch einen Notar oder einen im Ausland bestellten Notar, durch einen Vertreter eines vergleichbaren rechtsberatenden Berufs oder einen Konsularbeamten erfolgen. (3) In der Anmeldung sind ferner anzugeben: 1. eine inländische Geschäftsanschrift, 2. Art und Umfang der Vertretungsbefugnis der Vorstandsmitglieder. (4) Der Anmeldung sind beizufügen 1. die Satzung und die Urkunden, in denen die Satzung festgestellt worden ist und die Aktien von den Gründern übernommen worden sind; 2. im Fall der §§ 26 und 27 die Verträge, die den Festsetzungen zugrunde liegen oder zu ihrer Ausführung geschlossen worden sind, und eine Berechnung des der Gesellschaft zur Last fallenden Gründungsaufwands; in der Berechnung sind die Vergütungen nach Art und Höhe und die Empfänger einzeln anzuführen; _____________

)

200

§ 37 Abs. 2 Satz 1 geändert durch Art. 18 Nr. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) v. 5.7.2021, BGBl. I 2021, 3338 zum 1.8.2022; gemäß § 26m Abs. 1 EGAktG findet die Änderung ab dem 1.8.2022 Anwendung. Satz 1 in der geänderten Fassung lautet: „1In der Anmeldung haben die Vorstandsmitglieder zu versichern, daß keine Umstände vorliegen, die ihrer Bestellung nach § 76 Absatz 3 Satz 2 Nummer 2 und 3 sowie Satz 3 und 4 entgegenstehen, und daß sie über ihre unbeschränkte Auskunftspflicht gegenüber dem Gericht belehrt worden sind.“

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§ 37

Inhalt der Anmeldung 3. die Urkunden über die Bestellung des Vorstands und des Aufsichtsrats;

3a. eine Liste der Mitglieder des Aufsichtsrats, aus welcher Name, Vorname, ausgeübter Beruf und Wohnort der Mitglieder ersichtlich ist; 4. der Gründungsbericht und die Prüfungsberichte der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats sowie der Gründungsprüfer nebst ihren urkundlichen Unterlagen. (5) Für die Einreichung von Unterlagen nach diesem Gesetz gilt § 12 Abs. 2 des Handelsgesetzbuchs entsprechend. (6) (aufgehoben) Literatur: Attenberger, § 378 Abs. 3 FamFG n. F. und § 15 Abs. 3 GBO n. F. – Notarielle Prüfung auf Eintragungsfähigkeit als Eintragungsvoraussetzung im Register- und Grundbuchverfahren und ausschließliche Einreichung über den Notar im Handelsregisterverfahren, MittBayNot 2017, 335; Bayer, Die Bankbestätigung gem. § 37 Abs. 1 Satz 3 AktG im Rahmen der präventiven Kapitalaufbringungskontrolle, in: Festschrift für Norbert Horn, 2006, S. 271; Binnewies/Hertwig, Die gemeinnützige Aktiengesellschaft, AG 2020, 739; Bormann/Stelmaszczyk, Vertrauensschutz durch öffentliche Register im internationalen Rechtsverkehr, in: Festschrift 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, 2018, S. 415; Brand, Neuere Anwendungsprobleme der gesellschaftsrechtlichen Inhabilitätsvorschriften, ZNotP 2019, 321; Diehn/Rachlitz, Notarielle Prüfungspflichten im Grundbuch- und Registerverkehr, DNotZ 2017, 487; Forschner/Kienzle, Die e-Apostille – de lege lata und de lege ferenda, DNotZ 2020, 724; Freier, Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) – Überblick über die Änderungen für die notarielle Praxis, NotBZ 2021, 161; Fuchs, Der internationale Urkundenverkehr 4.0: Die elektronische Apostille, IPrax 2020, 302; Heinemann, Neue Vermerkpflichten für Notare?, ZNotP 2017, 166; Kienzle, Die Videobeurkundung nach dem DiRUG, DNotZ 2021, 590; Leitzen, Öffentlich-rechtliche Genehmigungen in GmbH-Registerverfahren nach dem MoMiG, GmbHR 2009, 480; Linke, Gesetz zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG), NZG 2021, 309; Lübke, Die Nichtigkeitsklage des Insolvenzverwalters, die Zustellung der Klageschrift und die Liste der Aufsichtsratsmitglieder als Rechtsscheinträger, ZGR 2021, 156; Preuß, Das Gesetz zur Übertragung von Aufgaben im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf Notare, DNotZ 2013, 740; Schäfer, Kapitalerhöhungen von Banken und Bankbestätigungen gem. § 37 Abs. 1 Satz 3 AktG, in: Festschrift für Uwe Hüffer, 2010, S. 877; Schmidt, J., DiRUG Auf dem Weg in ein digitale(re)s Gesellschafts- und Registerrecht, NZG 2021, 849; Schulte, Der strafrechtlich „inhabile“ GmbH-Geschäftsführer – „habil“ – „labil“ – „inhabil“, 2019, 646; Stelmaszczyk, Digitalisierung mit Augenmaß: Die Online-Gründung der GmbH kommt, EuZW 2021, 513; Stelmaszczyk/ Kienzle, Die Onlinegründung der GmbH nach dem DiRUG, GmbHR 2021, 849; Stelmaszczyk/ Kienzle, GmbH digital – Online-Gründung und Online-Verfahren für Registeranmeldungen nach dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum DiRUG, ZIP 2021, 765; Stenzel, Handelsregistereintragung von „c/o“-Adressen, NZG 2011, 851; Wastl/Pusch, Haftungsrechtliche Verantwortung des kontoführenden Kreditinstituts für die effektive Kapitalaufbringung unter Berücksichtigung strafrechtlicher Aspekte, WM 2007, 1403; Weigl, Behördliche Genehmigungen bei der GmbH-Gründung, DNotZ 2011, 169; v. Werder/Hobuß, Handelsregisteranmeldung der Gründung einer Kapitalgesellschaft sowie späterer Kompetenzen des Notars nach § 378 FamFG, BB 2018, 1031; Zimmer, Neue Prüfungspflichten des Notars – oder alles beim Alten?, NJW 2017, 1909.

Übersicht I. Überblick ............................................ 1 II. Inhalt der Anmeldung (§ 37 Abs. 1 – 3) ............................................ 7 1. Kapitalaufbringung (§ 37 Abs. 1) ...... 7

a) Erklärungen zur Kapitalaufbringung (§ 37 Abs. 1 Satz 1) ...... 7 b) Nachweis der Bareinlagen (§ 37 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3) ........... 18

Thomas Wachter

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§ 37

Inhalt der Anmeldung

c) Haftung des Kreditinstituts (§ 37 Abs. 1 Satz 4) ................... d) Nachweis über Steuern und Gebühren (§ 37 Abs. 1 Satz 5) ... 2. Versicherung bezüglich der Qualifikation der Vorstandsmitglieder (§ 37 Abs. 2) .................. a) Bestehen von Bestellungshindernissen ............................... b) Belehrung über Auskunftspflicht gegenüber dem Registergericht ........................... 3. Angabe der inländischen Geschäftsanschrift (§ 37 Abs. 3 Nr. 1) ................................................ 4. Angaben zur Vertretungsbefugnis der Vorstandsmitglieder (§ 37 Abs. 3 Nr. 2) .................................... 5. Weitere Angaben in der Handelsregisteranmeldung ........................... III. Anlagen zur Anmeldung (§ 37 Abs. 4) ..................................... I.

22 23

24 24

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38 46 49

1. Satzung (§ 37 Abs. 4 Nr. 1) ............. 49 2. Verträge über Sondervorteile, Gründungsaufwand und Sacheinlagen (§ 37 Abs. 4 Nr. 2 Halbs. 1) ... 54 3. Berechnung des Gründungsaufwands (§ 37 Abs. 4 Nr. 2 Halbs. 2) ... 57 4. Bestellung des Vorstands und des Aufsichtsrats (§ 37 Abs. 4 Nr. 3) ................................................. 58 5. Liste der Mitglieder des Aufsichtsrats (§ 37 Abs. 4 Nr. 3a) ................... 60 6. Gründungs- und Prüfungsberichte (§ 37 Abs. 4 Nr. 4) ........................... 63 7. Genehmigungen nach Gewerbeund Handwerksrecht (§ 37 Abs. 4 Nr. 5 a. F.) ......................................... 64 8. Sonstige Anlagen zur Handelsregisteranmeldung ............................ 66 IV. Form (§ 37 Abs. 5) ........................... 71 1. Form der Anmeldung ....................... 71 2. Form der Anlagen zur Anmeldung ....................................... 74

Überblick

1 Die neu errichtete AG ist bei dem örtlich zuständigen Amtsgericht zur Ersteintragung in das Handelsregister anzumelden (siehe §§ 37, 37a AktG, §§ 374 ff. FamFG). Bei der Handelsregisteranmeldung handelt es sich um einen Antrag, der auf die Eintragung der Gesellschaft gerichtet ist. Die Anmeldung muss stets durch alle Gründer und durch alle Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats in öffentlich beglaubigter Form unterzeichnet werden (§ 36 Abs. 1 AktG, § 12 Abs. 1 HGB). Die Handelsregisteranmeldung ist über einen Notar zum Registergericht einzureichen und von diesem vorab auf ihre Eintragungsfähigkeit zu prüfen (§ 378 Abs. 3 FamFG). 2 Die Vorschrift regelt die in der Handelsregisteranmeldung abzugebenden Erklärungen und Versicherungen, die dem Registergericht vorzulegenden Nachweise und die erforderlichen Anlagen. Zweck der Vorschrift ist es, dem Registergericht die Prüfung zu ermöglichen, ob die Gesellschaft ordnungsgemäß errichtet worden ist.1) 3 In der Handelsregisteranmeldung ist zu erklären, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anmeldung vorliegen und die eingeforderten Einlagen ordnungsgemäß erbracht worden sind (§ 37 Abs. 1 Satz 1 und Satz 5 i. V. m. §§ 36 Abs. 2, 36a). Bei Bareinlagen ist ein Nachweis vorzulegen, dass die Einlagen zur endgültig freien Verfügung des Vorstands stehen (§ 37 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3). Ein Kreditinstitut, das eine solche Einzahlungsbestätigung ausstellt, haftet für deren Richtigkeit (§ 37 Abs. 1 Satz 4). Die Mitglieder des Vorstands müssen persönlich versichern, dass in ihrer Person kein Bestellungshindernis besteht und sie über ihre unbeschränkte Auskunftspflicht gegenüber dem Registergericht belehrt worden sind (§ 37 Abs. 2). In der Handelsregisteranmeldung sind u. a. die inländische Geschäftsanschrift der Gesellschaft (§ 37 Abs. 3 Nr. 1) und die Vertretungsbefugnis der Vorstandsmitglieder anzugeben (§ 37 Abs. 3 Nr. 2). Der Handelsregisteranmeldung sind verschiedene _____________ 1)

202

Hölters-Solveen, AktG, § 37 Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 37 Rz. 1; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 37 Rz. 1.

Thomas Wachter

§ 37

Inhalt der Anmeldung

Unterlagen über die Gründung beizufügen, damit das Registergericht die Richtigkeit und Vollständigkeit der gemachten Angaben überprüfen kann (§ 37 Abs. 4). Alle Unterlagen müssen dem Registergericht in elektronischer Form eingereicht werden (§ 37 Abs. 5 AktG i. V. m. § 12 Abs. 2 HGB). Für den Fall der Sachgründung einer AG ohne externe Gründungsprüfung (§ 33a) sind bei der Handelsregisteranmeldung ergänzende Regelungen zu beachten (§ 37a). Falsche oder unvollständige Angaben in der Handelsregisteranmeldung können Schadensersatzansprüche begründen (u. a. §§ 46 ff.) und im Einzelfall auch strafbar sein (siehe § 399 Abs. 1 Nr. 1 und 5). Auf der Grundlage der Handelsregisteranmeldung und der von den Beteiligten eingereichten 4 Unterlagen prüft das Registergericht sodann, ob die Gesellschaft ordnungsgemäß angemeldet und errichtet ist (§ 38 Abs. 1 Satz 1). Ist dies der Fall, wird die Gesellschaft in das Handelsregister eingetragen und ist damit als juristische Person entstanden. Ergeben sich dagegen Eintragungshindernisse und werden diese trotz gerichtlicher Zwischenverfügung (§ 382 Abs. 4 FamFG, § 26 HRV) nicht behoben, ist die Eintragung der Gesellschaft abzulehnen (§ 38 Abs. 1 Satz 2). Im Jahr 2008 wurde die Vorschrift durch das MoMiG2) geändert. Dabei wurden verschiedene 5 Änderungen des GmbH-Rechts auch im Aktienrecht nachvollzogen. Dies gilt vor allem für die Anpassung der Versicherung der Vorstandsmitglieder aufgrund der erweiterten Bestellungshindernisse (§ 37 Abs. 2 Satz 1), die Pflicht zur Anmeldung einer inländischen Geschäftsanschrift (§ 37 Abs. 3 Nr. 1) und den Wegfall der Vorlage einer für die Tätigkeit der Gesellschaft erforderlichen Genehmigungsurkunde (§ 47 Abs. 4 Nr. 5 a. F.). Mit dem Gesetz zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) wurde in § 37 6 Abs. 2 Satz 1 der Verweis auf § 76 Abs. 3 Sätze 2 ff. AktG (Bestellungsverbote für den Vorstand) redaktionell angepasst.3) Die geänderte Fassung ist erstmals ab dem 1.8.2023 anzuwenden (§ 26m Abs. 1 EGAktG).4) II.

Inhalt der Anmeldung (§ 37 Abs. 1 – 3)

1.

Kapitalaufbringung (§ 37 Abs. 1)

a)

Erklärungen zur Kapitalaufbringung (§ 37 Abs. 1 Satz 1)

In der Anmeldung ist zu erklären (nicht auch zu versichern), dass die Voraussetzungen 7 des § 36 Abs. 2 und des § 36a (ordnungsgemäße Leistung der Bar- und Sacheinlagen) erfüllt sind (§ 37 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1). Diese Erklärung ist auch dann erforderlich, wenn sich die entsprechenden Tatsachen bereits aus den der Anmeldung beigefügten Unterlagen ergeben. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Richtigkeit der Erklärung ist der Zugang der Handelsre- 8 gisteranmeldung beim Registergericht (§ 130 Abs. 3 BGB analog).5) Die Erklärung ist demnach richtig, wenn sie bereits zusammen mit der Gründung der Gesellschaft unterzeichnet wird, vom Notar (aufgrund einer entsprechenden Anweisung) aber erst nach der Erbringung der Einlagen und der Vorlage der sonstigen Unterlagen und Nachweise an das Handelsregister übermittelt wird. _____________ 2) 3) 4) 5)

Art. 5 Nr. 3 des Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG), BGBl. I 2008, 2026; s. dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 16/6140, S. 52 und S. 34 ff. S. Art. 18 Nr. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) v. 5.7.2021, BGBl. I 2021, 3338. Eingefügt durch Art. 19 des Gesetzes zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) v. 5.7.2021, BGBl. I 2021, 3338. Hölters-Solveen, AktG, § 37 Rz. 4; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 37 Rz. 10; K. Schmidt/LutterKleindiek, AktG, § 37 Rz. 5.

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§ 37

Inhalt der Anmeldung

9 Bei Bareinlagen ist zunächst zu erklären, dass auf jede Aktie der eingeforderte Betrag (mindestens ein Viertel des geringsten Ausgabebetrages, § 9 Abs. 1 und bei Ausgabe der Aktien für einen höheren Betrag auch der volle Mehrbetrag, § 36a Abs. 1) ordnungsgemäß einbezahlt worden ist (§ 37 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 i. V. m. §§ 36 Abs. 2 Halbs. 1, 54 Abs. 3). Der Betrag zu dem die Aktien ausgegeben werden und der darauf eingezahlte Betrag sind jeweils ausdrücklich anzugeben (§ 37 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 i. V. m. § 23 Abs. 2 Nr. 2). Dabei ist in der Anmeldung konkret anzugeben, welcher Gründer, welche Bareinlage, in welcher Höhe (unter Angabe des Eurobetrages) auf welche Aktie erbracht hat. 10 Darüber hinaus ist in der Anmeldung zu erklären, dass die Einlagen (soweit sie nicht bereits zur Zahlung der bei der Gründung angefallenen Steuern und Gebühren verwandt worden sind) endgültig zur freien Verfügung des Vorstands stehen (§ 37 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 i. V. m. § 36 Abs. 2 Halbs. 2). 11 Nach h. M.6) ist in der Anmeldung auch anzugeben, wenn die Bareinlagen nicht mehr in der ursprünglichen Form vorhanden sind (z. B. weil der Vorstand darüber bereits unter Beachtung des Grundsatzes der wertgleichen Deckung verfügt hat). In diesem Fall ist insbesondere zu erklären, dass die angeschafften Gegenstände zur freien Verfügung des Vorstands stehen und ihr tatsächlicher Wert den Bareinlagen entspricht. Nach Aufgabe des Grundsatzes der Vorbelastungshaftung erscheint eine solche – gesetzlich zudem nicht vorgesehene – Erklärung indes nicht erforderlich.7) 12 Bei Sacheinlagen ist zu erklären, dass der Wert der Sacheinlagen dem geringsten Ausgabebetrag und bei Ausgabe der Aktien zu einem höheren Betrag auch dem vollen Mehrbetrag entspricht (§ 37 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 i. V. m. § 36a Abs. 2 Satz 3). Die Erklärung muss nicht begründet werden; vielmehr ist die bloße Wiederholung des Gesetzeswortlauts ausreichend.8) 13 Besteht die Sacheinlage in der Verpflichtung, einen Vermögensgegenstand auf die Gesellschaft zu übertragen, ist in der Anmeldung (nach h. M.; zum Streit um die Fälligkeit von Sacheinlagen siehe § 36a Rz. 10 ff.) zu erklären, dass der Gesellschaft ein wirksamer Anspruch auf dessen dingliche Übertragung zusteht. Dabei ist insbesondere auch zu erklären, wann dieser Anspruch (spätestens fünf Jahre nach Eintragung der Gesellschaft) und wie dieser Anspruch vom Gründer erfüllt werden wird (§ 37 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 i. V. m. § 36a Abs. 2 Satz 2). 14 Besteht die Sacheinlage dagegen in einer anderen Verpflichtung (z. B. der bloßen Gebrauchs- oder Nutzungsüberlassung eines Gegenstandes) ist in der Anmeldung zu erklären, dass die Sacheinlage vollständig zur endgültig freien Verfügung des Vorstands geleistet worden ist (§ 37 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 i. V. m. §§ 36 Abs. 2, 36a Abs. 2 Satz 1). 15 Unterschiede zwischen Einpersonen- und Mehrpersonen-Gesellschaften bestehen in Bezug auf die Erbringung der Einlagen nicht (mehr). Bei einer nur teilweisen Leistung der Bareinlagen muss der Gesellschafter für die restliche Einlage insbesondere keine Sicherheit mehr erbringen (siehe § 36 Abs. 2 Satz 2 a. F.).9) 16 Bei einer verdeckten Sacheinlage (§ 27 Abs. 3) darf in der Anmeldung nicht erklärt werden, dass die Bareinlagen ordnungsgemäß erbracht worden sind. Denn die Einlageverpflichtung _____________ 6) 7) 8) 9)

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Hölters-Solveen, AktG, § 37 Rz. 5; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 37 Rz. 12 und 16; Spindler/StilzDöbereiner, AktG, § 37 Rz. 3. Zutreffend K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 37 Rz. 9 ff. Hölters-Solveen, AktG, § 37 Rz. 10; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 37 Rz. 13; Spindler/StilzDöbereiner, AktG, § 37 Rz. 9. K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 37 Rz. 6; anders noch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 37 Rz. 3 und Rz. 4.

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§ 37

Inhalt der Anmeldung

des Aktionärs besteht (zunächst) fort (siehe § 27 Abs. 3 Satz 3). Frühestens im Zeitpunkt der Eintragung der Gesellschaft (nicht aber vorher) erfolgt eine Anrechnung des Werts der Sacheinlage auf die Einlageverpflichtung.10) Dementsprechend darf auch das Registergericht die Gesellschaft bei Kenntnis von der verdeckten Sacheinlage selbst dann nicht eintragen, wenn der Wert der Sache die Höhe der vereinbarten Einlage erreicht oder sogar übersteigt. Im Falle des Hin- und Herzahlens ist die Leistung an den Gesellschafter oder die entspre- 17 chende Vereinbarung in der Handelsregisteranmeldung zwingend anzugeben (§ 27 Abs. 4 Satz 2). Die Offenlegung in der Handelsregisteranmeldung ist Voraussetzung dafür, dass der Einlage des Gesellschafters Erfüllungswirkung zukommt.11) Das Registergericht ist nach überwiegender Auffassung zudem berechtigt, die Vollwertigkeit12) und jederzeitige Fälligkeit zu überprüfen und die Vorlage entsprechender Nachweise zu verlangen.13) b)

Nachweis der Bareinlagen (§ 37 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3)

Bei Bareinlagen ist stets nachzuweisen, dass der eingezahlte Betrag endgültig zur freien Ver- 18 fügung des Vorstands steht (§ 37 Abs. 1 Satz 2). Die bloße Erklärung bzw. Versicherung der Anmeldenden ist insoweit nicht ausreichend. Im Regelfall werden die Bareinlagen auf ein Konto der Vor-AG bei einem anerkannten 19 Kreditinstitut einbezahlt (siehe § 54 Abs. 3 Satz 1). In diesem Fall ist der Nachweis über die Einzahlung der Bareinlagen durch eine (nicht notwendig schriftliche14)) Bestätigung des kontoführenden Kreditinstituts zu führen (§ 37 Abs. 1 Satz 3). Theoretisch können die Bareinlagen auch in Form von gesetzlichen Zahlungsmitteln (Bar- 20 zahlung) geleistet werden (§ 54 Abs. 3 Satz 1). Die Einlagen müssen auch in diesem Fall tatsächlich und rechtlich aus dem privaten Vermögen der Gründer in das Vermögen der neu gegründeten Gesellschaft übertragen werden. Bei Bargeld ist dieser Nachweis allerdings kaum zweifelsfrei zu führen.15) In der Praxis sollten Bareinlagen daher grundsätzlich auf ein Konto der Vor-AG einbezahlt werden. Die inhaltlichen Anforderungen an die erforderliche Bestätigung des kontoführenden 21 Kreditinstituts sind (insbesondere auch im Hinblick auf die damit verbundene Haftung, § 37 Abs. 1 Satz 4) umstritten.16) Die Bank muss in jedem Fall konkret bestätigen, welcher Betrag (in Euro) auf das Konto der Vor-AG einbezahlt worden ist und dass dieser Betrag zur endgültig freien Verfügung des Vorstands steht (§ 37 Abs. 1 Satz 3, §§ 54 Abs. 3 Satz 1, 36 Abs. 2 Halbs. 2). Dabei sind sämtliche der Bank bekannten Verfügungsbeschränkungen (z. B. Pfandrechte) anzugeben.17) Nicht ausreichend ist es dagegen, wenn die Bank

_____________ 10) S. zu § 19 Abs. 4 GmbHG – BGH, Urt. v. 22.3.2010 – II ZR 12/08 (AdCoCom), ZIP 2010, 978, dazu EWiR 2010, 421 (Wenzel). 11) Zur parallelen Regelung des § 19 Abs. 5 Satz 2 GmbHG BGH, Urt. v. 20.7.2009 – II ZR 273/07 (Cash Pool II), BGHZ 182, 103 = ZIP 2009, 1561, dazu EWiR 2009, 537 (Maier-Reimer); BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 120/07 (Qivive), BGHZ 180, 38 = ZIP 2009, 713, dazu EWiR 2009, 443 (Schodder). 12) Dazu BGH, Urt. v. 1.2.2008 – II ZR 102/07 (MPS), ZIP 2009, 70, dazu EWiR 2009, 129 (Balsche). 13) So zu § 19 Abs. 5 Satz 2 GmbHG – OLG München, Beschl. v. 17.2.2011 – 31 Wx 246/10, ZIP 2011, 567. 14) Hölters-Solveen, AktG, § 37 Rz. 7; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 37 Rz. 3; Arnold in: KölnKommAktG, § 37 Rz. 17. 15) Zur gescheiterten Bareinlage durch Bargeld bei Gründung einer Einpersonen-GmbH s. KG Berlin, Beschl. v. 31.3.2021 – 22 W 39/21, ZIP 2021, 847. – Zum Nachweis durch einen Kassenprüfer s. HöltersSolveen, AktG, § 37 Rz. 9; Spindler/Stilz-Döbereiner, AktG, § 37 Rz. 4. 16) Ausführlich zuletzt BGH, Urt. v. 7.1.2008 – II ZR 283/06, BGHZ 175, 86 = ZIP 2008, 546. 17) Wie hier Arnold in: KölnKomm-AktG, § 37 Rz. 21 f.; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 37 Rz. 14; tendenziell auch Hölters-Solveen, AktG, § 37 Rz. 7; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 37 Rz. 30 ff.

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§ 37

Inhalt der Anmeldung

lediglich bestätigt, dass der Vorstand gegenüber der Bank frei über die Einlagen verfügen kann und ihr aus der Kontoführung keine Rechte Dritter bekannt sind.18) c)

Haftung des Kreditinstituts (§ 37 Abs. 1 Satz 4)

22 Das Kreditinstitut ist der Gesellschaft gegenüber für die Richtigkeit der Bestätigung verantwortlich (§ 37 Abs. 1 Satz 4).19) Die Haftung des Kreditinstituts ist verschuldensunabhängig. Der Einwand des Mitverschuldens (§ 254 BGB) ist aufgrund der gläubigerschützenden Funktion der Vorschrift ausgeschlossen. Im Schadensfall muss das Kreditinstitut die Gesellschaft so stellen, wie diese stehen würde, wenn die Bestätigung richtig gewesen wäre. Hat das Kreditinstitut fälschlicherweise bestätigt, dass die Einlagen erbracht worden sind, muss es die Einlagen selbst leisten. Der Anspruch gegen das Kreditinstitut verjährt in fünf Jahren (analog § 51). d)

Nachweis über Steuern und Gebühren (§ 37 Abs. 1 Satz 5)

23 Die eingezahlten Einlagen müssen bei Anmeldung grundsätzlich endgültig zur freien Verfügung des Vorstands stehen (§§ 36 Abs. 2, 37 Abs. 1 Satz 2). Eine Ausnahme davon gilt aber für die Steuern und Gebühren, die bereits bei der Gründung angefallen sind (§ 36 Abs. 2 Halbs. 2) und in der Satzung der Gesellschaft ordnungsgemäß als Gründungsaufwand festgesetzt worden sind (§ 26 Abs. 2). Die dafür aufgewendeten Beträge müssen daher bei der Anmeldung nicht mehr (auch nicht wertmäßig) vorhanden sein. In der Anmeldung müssen die für Steuern und Gebühren gezahlten Beträge dann allerdings nicht nur angegeben, sondern nach Art und Höhe auch nachgewiesen werden (§ 37 Abs. 1 Satz 5). 2.

Versicherung bezüglich der Qualifikation der Vorstandsmitglieder (§ 37 Abs. 2)

a)

Bestehen von Bestellungshindernissen

24 In der Handelsregisteranmeldung haben alle Vorstandsmitglieder (einschließlich der Stellvertreter, § 94) zu versichern, dass keine Umstände vorliegen, die ihrer Bestellung (nach § 76 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 3 sowie Satz 3) entgegenstehen (§ 37 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1). 25 Mitglied des Vorstands einer deutschen AG kann grundsätzlich jede natürliche, unbeschränkt geschäftsfähige Person sein (§ 76 Abs. 3 Satz 1). Mitglied des Vorstands kann dagegen nicht sein,20) wer als Betreuter bei der Besorgung seiner Vermögensangelegenheiten einem Einwilligungsvorbehalt unterliegt (§ 76 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AktG i. V. m. § 1903 BGB), einem Berufs- oder Gewerbeverbot unterliegt (§ 76 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2) oder wegen einer bestimmten Straftat verurteilt worden ist (§ 76 Abs. 3 Satz 2 Nr. 321) und _____________ 18) So aber Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 37 Rz. 3a. Ähnlich auch Spindler/Stilz-Döbereiner, AktG, § 37 Rz. 5. 19) S. dazu BGH, Urt. v. 7.1.2008 – II ZR 283/06, BGHZ 175, 86 = ZIP 2008, 546; BGH, Urt. v. 13.7.1992 – II ZR 263/91, BGHZ 119, 177 = ZIP 1992, 1387; BGH, Urt. v. 18.2.1991 – II ZR 104/90, BGHZ 113, 335 = ZIP 1991, 511, dazu EWiR 1991, 1213 (Frey). BGH, Urt. v. 26.9.2005 – II ZR 380/03, ZIP 2005, 2012, dazu EWiR 2007, 545 (Werner) – zur Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat wegen falscher Angaben bei einer Barkapitalerhöhung nach §§ 823 Abs. 2 BGB, 399 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 4 AktG; ferner Hölters-Solveen, AktG, § 37 Rz. 8; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 37 Rz. 5; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 37 Rz. 24 ff. 20) Zur Verfassungsmäßigkeit des Amtsausschlusses eines Vorstandsmitglieds aufgrund einer Verurteilung wegen einer Straftat s. OLG München, Beschl. v. 26.4.2016 – 31 Wx 117/16, ZIP 2016, 1872. 21) Die Verweisung in § 76 Abs. 3 Nr. 3 lit. e StGB auf „§§ 265b bis 266a StGB“ wurde durch das 51. Strafrechtsänderungsgesetz, v. 11.4.2017, BGBl. I 2017, 815, (nachträglich) erweitert auf die Tatbestände § 265c StGB (Sportwettbetrug), § 265d StGB (Manipulation von berufssportlichen Wettbewerben) und § 265e StGB (Besonders schwere Fälle dieser Straftaten). Zur Versicherung des GmbH-Geschäftsführers wegen Vorstrafen aufgrund Sportwettbetrugs s. OLG Oldenburg, Beschl. v. 8.1.2018 – 12 W 126/17, ZIP 2018, 278, dazu EWiR 2018, 267 (Floeth), ausführlich dazu Brand, ZNotP 2019, 321; Schulte, NZG 2019, 646.

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§ 37

Inhalt der Anmeldung

Satz 3).22) Das Registergericht hat die Einhaltung der gesetzlichen Bestellungshindernisse vor der Eintragung der Gesellschaft zu überprüfen (§ 38 Abs. 1). Dabei kann es grundsätzlich auch eine entsprechende Auskunft des Bundeszentralregisters anfordern (siehe § 41 Abs. 1 Nr. 1 BZRG). Nachdem ein solches Auskunftsersuchen bei der Vielzahl der Gesellschaftsgründungen weder praktikabel noch verhältnismäßig wäre, müssen die Mitglieder des Vorstands in der Handelsregisteranmeldung eine Art Selbstauskunft erteilen und entsprechend versichern, dass in ihrer Person keine Bestellungshindernisse vorliegen. Eine pauschale Versicherung, dass keine Bestellungshindernisse vorliegen, wird von den 26 Registergerichten oftmals als nicht ausreichend angesehen. Vielmehr wird regelmäßig verlangt, dass die Bestellungshindernisse in der Anmeldung einzeln aufgeführt und verneint werden, da nur dann eine vollständige und wahrheitsgemäße Selbstauskunft der Vorstandsmitglieder zu erwarten sei.23) Der BGH geht allerdings zu Recht davon aus, dass auch die allgemeine Versicherung, im In- und Ausland noch nie vorbestraft worden zu sein, den gesetzlichen Anforderungen entspricht.24) Die Versicherung der Vorstandsmitglieder muss sich (nach dem eindeutigen Gesetzes- 27 wortlaut des § 37 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1) nur auf die Bestellungshindernisse nach § 76 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 (Berufs- und Gewerbeverbote) und § 76 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 (Straftaten) beziehen, nicht aber auch auf § 76 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 (Einwilligungsvorbehalt bei Betreuten).25) Bei Berufs- und Gewerbeverboten genügt es zu versichern, dass im Bereich des Unter- 28 nehmensgegenstands kein solches Verbot besteht (§ 76 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 i. V. m. § 23 Abs. 3 Nr. 2). Eine weitergehende Versicherung kann nach dem Gesetzeswortlaut – entgegen der Praxis mancher Registergerichte – auch nicht unter Hinweis darauf verlangt werden, dass sonst nicht geprüft werden kann, ob ein etwaiges Berufs- oder Gewerbeverbot ganz oder teilweise mit dem Unternehmensgegenstand übereinstimmt.26) Die Abgabe einer falschen Versicherung ist strafbar (§ 399 Abs. 1 Nr. 6). Eine Verurtei- 29 lung wegen einer falschen Versicherung begründet ihrerseits für die Dauer von fünf Jahren ein Bestellungshindernis (siehe § 76 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 lit. a AktG und § 6 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 lit. a GmbHG).27) _____________ 22) S. BGH, Beschl. v. 7.6.2011 – II ZB 24/10, ZIP 2011, 1305 – zum Beginn der Fünf-Jahres-Frist mit Rechtskraft des Urteils; OLG Stuttgart, Beschl. v. 10.10.2012 – 8 W 241/11, ZIP 2013, 671 – zur Versicherung hinsichtlich der Straftatbestände; OLG München, Beschl. v. 3.3.2011 – 31 Wx 51/11, GmbHR 2011, 430 – zur Amtslöschung eines GmbH-Geschäftsführers aufgrund rechtskräftiger Verurteilung wegen Betrugs nach § 6 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 lit. e GmbHG i. V. m. § 395 Abs. 1 Satz 1 FamFG; OLG Hamm, Beschl. v. 29.12.2010 – I 15 W 659/10, ZIP 2011, 527 – Bestellung eines Geschäftsführers bei strafrechtlicher Verurteilung zu Einzelgeldstrafen. 23) S. etwa OLG Karlsruhe, Beschl. v. 20.4.2012 – 11 Wx 33/12, ZIP 2012, 1028 – zum Wortlaut der Versicherung des Geschäftsführers; OLG Hamm, Beschl. v. 14.4.2011, 27 W 27/11, GmbHR 2011, 587 = NZG 2011, 710 – zur Versicherung des Geschäftsführers hinsichtlich Vorstrafen; OLG München, Beschl. v. 22.4.2009 – 31 Wx 040/09, ZIP 2009, 1320, dazu EWiR 2009, 507 (Heßeler) – zur Versicherung des Liquidators in der Handelsregisteranmeldung nach § 67 Abs. 3 GmbHG; OLG München, Beschl. v. 20.4.2009 – 31 Wx 034/09, ZIP 2009, 1321 – zur Versicherung des Geschäftsführers in der Handelsregisteranmeldung nach § 8 Abs. 3 GmbHG. 24) BGH, Beschl. v. 17.5.2010 – II ZB 5/10, ZIP 2010, 1337, dazu EWiR 2010, 533 (Schaller) – zu der globalen Versicherung des Geschäftsleiters einer inländischen Zweigniederlassung. Dem folgend OLG Hamm, Beschl. v. 14.4.2011 – 27 W 27/11, GmbHR 2011, 587 – betreffend die Versicherung des Geschäftsführers einer GmbH. 25) Zutreffend OLG Hamm, Beschl. v. 29.9.2010 – I 15 W 460/10, ZIP 2010, 2293 – Versicherung des GmbH-Geschäftsführers muss sich nicht auf § 6 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 GmbHG beziehen. 26) A. A. aber OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 11.7.2011 – 20 W 246/11, ZIP 2012, 870; OLG Frankfurt/ M., Beschl. v. 23.3.2010 – 20 W 92/10, GmbHR 2010, 918 – zur Versicherung des Geschäftsführers einer GmbH nach §§ 6 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2, 8 Abs. 3 Satz 1 GmbHG. 27) Zur Versicherung des Nichtvorliegens von Straftaten für die Dauer von fünf Jahren seit Rechtskraft des Urteils s. BGH, Beschl. v. 7.6.2011 – II ZB 24/10, ZIP 2011, 1305, dazu EWiR 2011, 599 (Melchior).

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Inhalt der Anmeldung

30 Die Versicherung muss durch alle Mitglieder des Vorstands höchstpersönlich abgegeben werden. Stellvertretung ist ausgeschlossen.28) Der Notar kann die Versicherung gleichfalls nicht abgeben (auch nicht nach § 378 Abs. 2 FamFG). b)

Belehrung über Auskunftspflicht gegenüber dem Registergericht

31 Das Registergericht hat gegenüber dem Bundeszentralregister ein Recht auf unbeschränkte Auskunft (§ 41 Abs. 1 Nr. 1 BZRG). Der Betroffene, der sich sonst unter Umständen als unbestraft bezeichnen könnte (§ 53 Abs. 1 Nr. 1 BZRG) ist auf dieses unbeschränkte Auskunftsrecht hinzuweisen (§ 53 Abs. 2 BZRG). Die entsprechende Belehrung der Vorstandsmitglieder erfolgt in der Praxis meist durch den Notar, der die Unterschriften unter der Handelsregisteranmeldung beglaubigt (siehe § 37 Abs. 2 Satz 2).29) Die Belehrung muss nicht unbedingt persönlich erfolgen. Im Einzelfall ist auch eine schriftliche Belehrung möglich (§ 37 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1). 32 Die Belehrung kann durch einen deutschen Notar, einen im Ausland bestellten Notar, durch einen Vertreter eines vergleichbaren rechtsberatenden Berufs (z. B. einen Rechtsanwalt)30) oder einen Konsularbeamten erfolgen (§ 37 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2).31) Dagegen kann die Belehrung nicht auch durch einen Steuerberater, Wirtschaftsprüfer oder Unternehmensberater vorgenommen werden. Dem Registergericht ist nachzuweisen, dass die Belehrung erfolgt ist. 33 Alle Mitglieder des Vorstands (einschließlich der Stellvertreter, § 94) müssen persönlich32) versichern, dass sie über ihre unbeschränkte Auskunftspflicht gegenüber dem Gericht belehrt worden sind (§ 37 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2).33) Die Versicherung muss „in der Anmeldung“ erfolgen und ist in öffentlich beglaubigter Form einzureichen (§ 12 Abs. 1 Satz 1 HGB).34) Die Abgabe einer falschen Versicherung ist wiederum strafbar (§ 399 Abs. 1 Nr. 6). 3.

Angabe der inländischen Geschäftsanschrift (§ 37 Abs. 3 Nr. 1)

34 In der Handelsregisteranmeldung ist ferner eine inländische Geschäftsanschrift der Gesellschaft anzugeben (§ 37 Abs. 3 Nr. 1; siehe auch § 78 Abs. 3 Satz 3 AktG, § 15a HGB, § 185 Nr. 2 ZPO).35) Damit sollen Zustellungen an die Gesellschaft erleichtert werden. Die Geschäftsanschrift muss stets Postleitzahl, Ort, Straße und Hausnummer umfassen. _____________ 28) Hölters-Solveen, AktG, § 37 Rz. 11; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 37 Rz. 30. 29) S. dazu OLG München, Beschl. v. 23.7.2010 – 31 Wx 128/10, ZIP 2010, 1494 – betreffend die Versicherung eines Geschäftsführers einer Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt) nach § 8 Abs. 3 Satz 1 GmbHG. 30) S. BGH, Beschl. v. 15.6.2021, II ZB 25/17, Rz. 38 ff., ZIP 2021, 1488 (im Zusammenhang mit der Anmeldung der inländischen Zweigniederlassung einer englischen private limited company zum deutschen Handelsregister). 31) S. dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 16/6140, S. 35 – zum MoMiG. 32) Die Versicherung durch die belehrende Person genügt nicht. So BGH, Beschl. v. 15.6.2021 – II ZB 25/17, Rz. 41, ZIP 2021, 1488 – im Zusammenhang mit der Anmeldung der inländischen Zweigniederlassung einer englischen private limited company zum deutschen Handelsregister. 33) S. OLG Dresden, Beschl. v. 14.10.2011 – 12 W 0987/11, NotBZ 2013, 46. 34) So ausdrücklich BGH, Beschl. v. 15.6.2021 – II ZB 25/17, Rz. 42, ZIP 2021, 1488 – im Zusammenhang mit der Anmeldung der inländischen Zweigniederlassung einer englischen private limited company zum deutschen Handelsregister. 35) S. dazu OLG München, Beschl. v. 2.2.2009 – 31 Wx 09/09, DStR 2009, 599 = ZIP 2009, 619 = Rpfleger 2009, 460, dazu EWiR 2009, 439 (Schaller) und EWiR 2009, 671 (Penzlin) – zur Pflicht einer Alt-AG zur Anmeldung einer inländischen Geschäftsanschrift; LG Zwickau, Beschl. v. 15.7.2010 – 5 T 39/10, WM 2010, 2098 – öffentliche Zustellung an GmbH bei fehlender Eintragung einer inländischen Geschäftsanschrift im Handelsregister; ausführlich K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 37 Rz. 22 ff.

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§ 37

Inhalt der Anmeldung

Die Angabe einer c/o-Anschrift ist ausreichend.36) Nicht genügend ist dagegen die bloße Angabe eines Postfachs. Die Geschäftsanschrift muss stets in Deutschland liegen. Dies gilt auch dann, wenn die 35 Gesellschaft ihren Verwaltungssitz im Ausland hat. Innerhalb Deutschlands kann die Geschäftsanschrift frei gewählt werden. Die Geschäftsanschrift muss weder mit dem Satzungssitz noch mit dem Verwaltungssitz der Gesellschaft übereinstimmen. An der angegebenen Geschäftsanschrift muss die Gesellschaft auch keinen Betrieb haben. Die inländische Geschäftsanschrift wird im Handelsregister eingetragen (§ 39 Abs. 1 Satz 1 36 AktG i. V. m. § 43 Nr. 2 lit. b HRV) und bekannt gemacht (§ 10 HGB). Jede Änderung der inländischen Geschäftsanschrift ist vom Vorstand zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden (§ 31 Abs. 1 HGB i. V. m. § 78 AktG). Eine gesonderte Anmeldung der Lage der Geschäftsräume oder von deren Änderung ist 37 im Allgemeinen nicht erforderlich (§ 24 Abs. 2 und 3 HRV). 4.

Angaben zur Vertretungsbefugnis der Vorstandsmitglieder (§ 37 Abs. 3 Nr. 2)

In der Anmeldung sind darüber hinaus auch Art und Umfang der Vertretungsbefugnis 38 der Vorstandsmitglieder anzugeben (§ 37 Abs. 3 Nr. 2). Die allgemeine Vertretungsregelung der Vorstandsmitglieder ist stets zum Handelsregister 39 anzumelden (§ 37 Abs. 3 Nr. 2), einzutragen (§ 39 Abs. 1 Satz 3 AktG i. V. m. § 43 Nr. 4 lit. a HRV) und bekannt zu machen (§ 10 HGB). Maßgebend ist dabei grundsätzlich die Regelung in der Satzung der Gesellschaft. Diese lautet in der Praxis meist (aber keineswegs zwingend) wie folgt: „Die Gesellschaft hat einen Vorstand mit einem oder mehreren Mitgliedern. Ist nur ein Vorstand bestellt, so vertritt dieser die Gesellschaft allein. Sind mehrere Vorstände bestellt, so wird die Gesellschaft durch zwei Vorstände gemeinschaftlich oder durch einen Vorstand in Gemeinschaft mit einem Prokuristen vertreten.“ Enthält die Satzung (ausnahmsweise) keine Regelung zur Vertretung, gelten die gesetzlichen Bestimmungen (§ 78 Abs. 2 Satz 1). Die Anmeldung könnte dann etwa wie folgt lauten: „Die Gesellschaft hat einen Vorstand mit einem oder mehreren Mitgliedern. Ist nur ein Vorstand bestellt, so vertritt dieser die Gesellschaft allein. Sind mehrere Vorstände bestellt, so wird die Gesellschaft durch die Vorstände gemeinschaftlich vertreten.“ Darüber hinaus ist auch die besondere Vertretungsbefugnis der einzelnen Mitglieder des 40 Vorstands zum Handelsregister anzumelden und dort einzutragen, wenn diese (aber nur dann) von der allgemeinen Vertretungsbefugnis abweicht (§ 37 Abs. 3 Nr. 2 AktG i. V. m. § 43 Nr. 4 lit. b HRV). Die bloße Ermächtigung in der Satzung, wonach einzelnen, mehreren oder allen Mitgliedern des Vorstands die Befugnis zur Einzelvertretung eingeräumt werden kann (siehe § 78 Abs. 3), ist dagegen weder anzumelden noch einzutragen.37) Eine Anmeldung ist vielmehr erst dann erforderlich, wenn einem Mitglied des Vorstands tatsächlich eine (von der allgemeinen Vertretungsbefugnis abweichende) besondere Vertretungsbefugnis eingeräumt worden ist. _____________ 36) So OLG Naumburg, Beschl. v. 8.5.2009 – 5 Wx 4/09, GmbHR 2009, 832 = DB 2009, 1698 – zur Eintragung einer c/o-Geschäftsanschrift bei einer GmbH; zustimmend OLG Hamm, Beschl. v. 21.1.2011 – I 15 W 485/10, ZIP 2011, 2014 – Kanzleianschrift des Insolvenzverwalters als c/o-Anschrift der Gesellschaft; einschränkend dagegen OLG Rostock, Beschl. v. 31.5.2010 – 1 W 6/10, DStR 2010, 1999 = GmbHR 2011, 30 – Eintragung einer c/o-Adresse als inländische Geschäftsanschrift nur dann, wenn sichere und zuverlässige Zustellung an diese Adresse gewährleistet ist. – Ausführlich zum Ganzen Stenzel, NZG 2011, 851. 37) Hölters-Solveen, AktG, § 37 Rz. 17; Spindler/Stilz-Döbereiner, AktG, § 37 Rz. 12; für eine Verpflichtung zur Anmeldung der Ermächtigung des Aufsichtsrats nach § 78 Abs. 2 Satz 2 dagegen Hüffer/KochKoch, AktG, § 37 Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 37 Rz. 25.

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§ 37

Inhalt der Anmeldung

41 Die Begriffe Einzelvertretungsbefugnis und Alleinvertretungsbefugnis sind synonym.38) 42 Bei Gesamtvertretung ist nicht anzumelden, dass die Mitglieder des Vorstands für Zwecke der Passivvertretung gleichwohl einzelvertretungsberechtigt sind (§ 78 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 3).39) Ebenso ist nicht anzumelden, dass einzelne zur Gesamtvertretung befugte Vorstandsmitglieder zur Vornahme bestimmter Geschäfte ermächtigt worden sind (siehe § 78 Abs. 4).40) 43 Eine Abweichung von der allgemeinen Vertretungsbefugnis besteht auch in der Befreiung eines, mehrerer oder aller Mitglieder des Vorstands von dem Verbot der Mehrfachvertretung (§ 181 Alt. 2 BGB). Eine Befreiung von dem Verbot von Insichgeschäften (§ 181 Alt. 1 BGB) ist nicht möglich (§ 112). 44 In der Handelsregisteranmeldung sind darüber hinaus stets die Familiennamen, Vornamen, Geburtsdaten und Wohnorte (nicht unbedingt die vollständigen Wohnanschriften) aller Mitglieder des Vorstands (einschließlich deren Stellvertreter, § 94) anzugeben, da diese auch im Handelsregister eingetragen werden (§ 43 Nr. 4 lit. b HRV).41) 45 Jede Veränderung in der Person der Vorstandsmitglieder oder deren Vertretungsbefugnis ist zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden (§ 81). Dies gilt auch für Veränderungen zwischen der erstmaligen Anmeldung der Gründung der Gesellschaft und deren Eintragung im Handelsregister. 5.

Weitere Angaben in der Handelsregisteranmeldung

46 In der Handelsregisteranmeldung soll grundsätzlich auch der Unternehmensgegenstand angegeben werden (§ 24 Abs. 4 HRV). 47 Eine Zeichnung der Unterschriften der Vorstandsmitglieder ist seit Inkrafttreten des EHUG am 1.1.2007 nicht mehr erforderlich (siehe § 37 Abs. 5 a. F.). 48 Weitere Angaben in der Handelsregisteranmeldung (z. B. zu einem inländischen Empfangsbevollmächtigten, siehe § 39 Abs. 1 Satz 2, zum genehmigten Kapital, siehe auch § 39 Abs. 2 oder zu den Mitgliedern des Aufsichtsrats, siehe § 37 Abs. 4 Nr. 3) sind möglich, aber nicht zwingend. III.

Anlagen zur Anmeldung (§ 37 Abs. 4)

1.

Satzung (§ 37 Abs. 4 Nr. 1)

49 Der Anmeldung ist die Satzung der Gesellschaft (siehe § 23 Abs. 1 Satz 1) beizufügen (§ 37 Abs. 4 Nr. 1 Halbs. 1). Ferner sind der Anmeldung die Urkunden beizufügen, in denen die Satzung festgestellt worden ist (siehe § 23 Abs. 1 Satz 1) und die Aktien von den Gründern übernommen worden sind (§ 23 Abs. 2 Nr. 2). In der Praxis handelt es sich dabei regelmäßig um eine einzige Urkunde des beurkundenden Notars. 50 Bei einer Änderung der Satzung vor Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister, ist (auch) die geänderte Satzung samt notarieller Satzungsbescheinigung beim Registergericht einzureichen (§ 181 Abs. 3). 51 Die Satzung ist grundsätzlich von sämtlichen Gründern in notariell beurkundeter Form zu unterzeichnen (§ 23 Abs. 1 Satz 1). Die Unterzeichnung durch Bevollmächtigte ist nur _____________ 38) Zur GmbH BGH, Beschl. v. 19.3.2007 – II ZB 19/06, ZIP 2007, 1103, dazu EWiR 2007, 401 (Terner). 39) Hölters-Solveen, AktG, § 37 Rz. 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 37 Rz. 9; Spindler/Stilz-Döbereiner, AktG, § 37 Rz. 12; a. A. K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 37 Rz. 25. 40) So auch Hölters-Solveen, AktG, § 37 Rz. 18; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 37 Rz. 8; K. Schmidt/LutterKleindiek, AktG, § 37 Rz. 25; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 37 Rz. 57; a. A. Arnold in: KölnKommAktG, § 37 Rz. 37. 41) Der stellvertretende GmbH-Geschäftsführer wird dabei zwingend ohne den Stellvertreterzusatz in das Handelsregister eingetragen, s. BGH, Beschl. v. 10.11.1997 – II ZB 6/97, ZIP 1998, 152.

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§ 37

Inhalt der Anmeldung

aufgrund einer notariell beurkundeten oder beglaubigten Vollmacht zulässig (§ 23 Abs. 1 Satz 2 AktG i. V. m. § 129 BGB). Der Notar hat i. R. der Feststellung der Satzung etwaige Vollmachten der Gründer in formaler und inhaltlicher Hinsicht zu überprüfen. Die Vollmachtsurkunden sind dem Notar in Urschrift oder Ausfertigung vorzulegen. Die Vorlage einer (elektronisch) beglaubigten Abschrift oder einer (Fax- bzw. pdf-)Kopie genügt nicht (siehe § 172 BGB). Der Gründungsurkunde sind die Vollmachten dann grundsätzlich in Urschrift oder in beglaubigter Abschrift beizufügen (§ 12 Satz 1 BeurkG und § 21 BNotO). Eine gesonderte Vorlage der Vollmachten an das Registergericht ist dann nicht erforderlich. Beim Handeln von organschaftlichen, gesetzlichen oder rechtsgeschäftlichen42) Vertre- 52 tern ist dem Registergericht die ordnungsgemäße Vertretung gleichfalls in öffentlich beglaubigter Form nachzuweisen (siehe § 21 BNotO). Die Satzung muss dem Registergericht stets (auch) in deutscher Sprache vorgelegt werden 53 (§ 488 Abs. 3 FamFG, §§ 12 f., 184 Satz 1 GVG, § 2 EGGVG).43) Die zweisprachige Errichtung der Satzung (meist in Tabellenform, links in deutscher und rechts in englischer Sprache) ist daher ausreichend. Wurde die Satzung aber ausschließlich in einer anderen Sprache errichtet (§ 5 Abs. 2 BeurkG), ist eine Übersetzung durch einen öffentlich bestellten und allgemein vereidigten Übersetzer zu erstellen. Dies gilt auch dann, wenn der zuständige Registerrichter die andere Sprache selbst spricht. Denn die Publizitätsfunktion des deutschen Handelsregisters wäre beeinträchtigt, wenn die entsprechenden Urkunden dort nicht zumindest auch in deutscher Sprache abrufbar wären (§§ 9 Abs. 1, 11, 15 HGB). 2.

Verträge über Sondervorteile, Gründungsaufwand und Sacheinlagen (§ 37 Abs. 4 Nr. 2 Halbs. 1)

Etwaige Sondervorteile (§ 26 Abs. 1) und der Gründungsaufwand (§ 26 Abs. 2) sind in 54 der Satzung der Gesellschaft festzusetzen. Alle Verträge, die den Festsetzungen zugrunde liegen oder zu ihrer Ausführung geschlossen worden sind, müssen der Handelsregisteranmeldung als Anlage beigefügt werden (§ 37 Abs. 4 Nr. 2 Halbs. 1). Entsprechendes gilt auch im Falle der Vereinbarung von Sacheinlagen oder Sachüber- 55 nahmen (§ 27 i. V. m. § 37 Abs. 4 Nr. 2 Halbs. 1). Die Verträge, die den Festsetzungen zugrunde liegen oder zu ihrer Ausführung geschlossen worden sind (z. B. Einbringungsverträge), gehören zu den notwendigen Anlagen der Anmeldung. Dies gilt sowohl für die schuldrechtlichen Verträge als auch für die dinglichen Vollzugsgeschäfte. Für die Form der Verträge gelten jeweils die allgemeinen Vorschriften (z. B. für Grund- 56 stücke §§ 873, 925, oder für GmbH-Geschäftsanteile §§ 15 Abs. 3 und 4 GmbHG). Das Aktienrecht begründet nach allgemeiner Auffassung kein Schriftformerfordernis für Verträge, die an sich keiner Form bedürfen (z. B. die Übertragung von beweglichen Gegenständen oder die Abtretung von Rechten). Gleichwohl ist aus Gründen des Nachweises gegenüber dem Registergericht und anderen Behörden (z. B. Finanzämtern) ein schriftlicher Vertragsschluss allgemein üblich und auch empfehlenswert. 3.

Berechnung des Gründungsaufwands (§ 37 Abs. 4 Nr. 2 Halbs. 2)

Der Handelsregisteranmeldung ist (anders als im GmbH-Recht, siehe § 8 Abs. 1 GmbHG) 57 eine Berechnung des der Gesellschaft zur Last fallenden Gründungsaufwands beizufügen _____________ 42) Zur Einführung von § 21 Abs. 3 BNotO durch das Gesetz zur Übertragung von Aufgaben der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf Notare (NotAufgÜbG) v. 26.6.2013, BGBl. I 2013, 1800. Ausführlich dazu Preuß, DNotZ 2013, 740. 43) Zur Notwendigkeit einer beglaubigten Übersetzung bei dem Gesellschaftsvertrag einer englischen private limited company in Gestalt eines Memorandums of Association s. BGH, Beschl. v. 15.6.2021 – II ZB 25/17, Rz. 22 ff., ZIP 2021, 1488 – im Zusammenhang mit der Anmeldung der inländischen Zweigniederlassung einer englischen private limited company zum deutschen Handelsregister.

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§ 37

Inhalt der Anmeldung

(§ 37 Abs. 4 Nr. 2 Halbs. 2 i. V. m. § 26 Abs. 2; siehe auch § 37 Abs. 1 Satz 5). In der Berechnung sind die Vergütungen nach Art und Höhe und die Empfänger einzeln anzuführen (§ 37 Abs. 4 Nr. 2 a. E.). Stets anzugeben sind dabei die Notargebühren für die Beurkundung und Handelsregisteranmeldung sowie die Kosten für die Registereintragung und Bekanntmachung. Darüber hinaus sind im Einzelfall auch Kosten (z. B. für Rechts- und Steuerberatung) und Steuern (z. B. Grunderwerbsteuer bei der Einbringung von Grundstücken) anzugeben. Ein Nachweis der Kosten (z. B. durch Vorlage von Rechnungen) ist nicht erforderlich. Noch nicht feststehende Kosten können auch geschätzt werden. Die Schätzung muss allerdings angemessen und nachvollziehbar sein. Gründungskosten, die nicht von der Gesellschaft, sondern von den Gründern oder anderen Personen getragen werden, müssen nach Gesetzeswortlaut und Normzweck nicht angegeben werden. 4.

Bestellung des Vorstands und des Aufsichtsrats (§ 37 Abs. 4 Nr. 3)

58 Der Handelsregisteranmeldung sind die Urkunden über die Bestellung des (ersten) Vorstands (§ 30 Abs. 4) und des (ersten) Aufsichtsrats (§ 30 Abs. 1) beizufügen (§ 37 Abs. 4 Nr. 3). Die Annahme des jeweiligen Amtes ist nicht gesondert nachzuweisen, da sich diese bereits aus der Unterzeichnung der Anmeldung ergibt (siehe § 36 Abs. 1).44) 59 Ausländer können nach heute h. A. auch dann wirksam zum Vorstand einer AG bestellt werden, wenn sie nicht jederzeit nach Deutschland einreisen können.45) Dem Registergericht sind daher keine Nachweise über die Aufenthaltserlaubnis bzw. die Zulässigkeit einer Einreise mit vorzulegen. 5.

Liste der Mitglieder des Aufsichtsrats (§ 37 Abs. 4 Nr. 3a)

60 Seit Inkrafttreten des EHUG am 1.1.2007 ist der Handelsregisteranmeldung eine Liste der Mitglieder des (ersten) Aufsichtsrats (§ 30 Abs. 1) beizufügen, aus welcher Name, Vorname, ausgeübter Beruf und Wohnort (nicht unbedingt die vollständige Wohnanschrift) der Mitglieder ersichtlich ist (§ 37 Abs. 4 Nr. 3a; siehe auch § 124 Abs. 3 Satz 4). Die Liste der Aufsichtsratsmitglieder ist nach dem Gesetzeswortlaut von niemandem zu unterschreiben. Nicht zwingend notwendig anzugeben ist dabei, wer Vorsitzender und wer stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats ist (siehe § 107 Abs. 1 Satz 2). 61 Bei Änderungen in den Personen der Aufsichtsratsmitglieder muss der Vorstand unverzüglich eine aktualisierte Liste erstellen und elektronisch zum Handelsregister einreichen (§ 106 Halbs. 1).46) 62 Eine Liste der Gründer oder der Aktionäre ist dagegen (anders als im GmbH-Recht, siehe §§ 8 Abs. 1 Nr. 3, 40 GmbHG) bei AGs nicht vorgesehen (siehe aber § 67). 6.

Gründungs- und Prüfungsberichte (§ 37 Abs. 4 Nr. 4)

63 Der Handelsregisteranmeldung sind schließlich alle Berichte über die Gründung der Gesellschaft und deren Prüfung (nebst ihren urkundlichen Unterlagen) vollständig beizufügen (§ 37 Abs. 4 Nr. 4; siehe auch § 34 Abs. 3). Dies ist der Gründungsbericht der Gründer (§ 32 Abs. 1) und der (interne) Gründungsprüfungsbericht der Mitglieder des Vorstands _____________ 44) Hölters-Solveen, AktG, § 37 Rz. 22; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 37 Rz. 11. 45) Zur wirksamen Bestellung von Nicht-EU/EWR-Ausländern zu Geschäftsführern einer deutschen GmbH OLG Zweibrücken, Beschl. v. 9.9.2010 – 3 W 70/10, GmbHR 2010, 1260; OLG München, Beschl. v. 17.12.2009 – 31 Wx 142/09, ZIP 2010, 126, dazu EWiR 2010, 247 (Schodder); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.4.2009 – I 3 Wx 85/09, ZIP 2009, 1074, dazu EWiR 2009, 573 (Lamsa); ausführlich dazu Heßeler, GmbHR 2009, 759. 46) Zur Rechtsscheinwirkung der Liste (analog § 171 BGB) s. BGH, Urt. v. 21.4.2020 – II ZR 412/17, ZIP 2020, 1064, dazu EWiR 2020, 387 (Wilsing), ausführlich dazu Lübke, ZGR 2021, 156.

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§ 37

Inhalt der Anmeldung

und des Aufsichtsrats (§§ 33 Abs. 1, 34). Falls eine externe Gründungsprüfung durchgeführt worden ist, muss der Handelsregisteranmeldung auch der Bericht des (externen) Gründungsprüfers (bzw. des Notars) beigefügt werden (§§ 33 Abs. 2 und 3, 34). 7.

Genehmigungen nach Gewerbe- und Handwerksrecht (§ 37 Abs. 4 Nr. 5 a. F.)

Die Eintragung einer AG im Handelsregister ist seit Inkrafttreten des MoMiG nicht mehr 64 von der Vorlage einer Genehmigungsurkunde der zuständigen Verwaltungsbehörde abhängig (siehe § 37 Abs. 4 Nr. 5 a. F.).47) Dies hat zu einer ganz erheblichen Vereinfachung und Beschleunigung der Gründung beigetragen. Lediglich bei Kreditinstituten (§§ 32, 43 KWG), Versicherungsgesellschaften (§§ 5 Abs. 3 65 Nr. 1, 13 Abs. 1 VAG) und Investmentaktiengesellschaften (§§ 3 Abs. 5, 108 ff., 110 Abs. 4 KAGB) wird das Vorliegen der erforderlichen Genehmigung (oder eines Negativzeugnisses) von vielen Registergerichten unverändert verlangt.48) Mit der Zielsetzung des MoMiG, die Eintragung im Handelsregister zu vereinfachen und zu beschleunigen, erscheint diese Praxis aber nicht vereinbar. In der amtlichen Gesetzesbegründung49) findet sich gleichfalls keinerlei Hinweis auf eine solche Prüfungsbefugnis des Registergerichts. 8.

Sonstige Anlagen zur Handelsregisteranmeldung

Das AktG nennt (§ 37 Abs. 4 Nr. 1 bis 4) die Unterlagen, die dem Registergericht im Falle 66 der Gründung einer AG in jedem Fall vorzulegen sind. Dieser Katalog ist aber keinesfalls abschließend (siehe § 38 Abs. 1 AktG und § 26 FamFG). Je nach Einzelfall kann die Vorlage weiterer Unterlagen gesetzlich notwendig oder zumindest empfehlenswert sein. Dies gilt insbesondere für die Bestätigung des Kreditinstituts über die Einzahlung der Bareinlagen (§ 37 Abs. 1 Satz 3) sowie etwaige Stellungnahmen der Industrie- und Handelskammer, der Handwerkskammer oder sonstiger berufsständischer Organisationen (siehe § 23 HRV und § 380 FamFG). Die Zulässigkeit der Firma (§ 4 AktG, §§ 17 ff. und 30 HGB) wird vom Registergericht 67 eigenständig überprüft.50) Die Vorlage eines Gutachtens der Industrie- und Handelskammer ist daher nicht erforderlich und darf vom Registergericht im Allgemeinen auch nicht eingeholt werden (siehe § 23 Satz 2, 25 Abs. 1 Satz 2 HRV). In zweifelhaften Fällen51) kann die freiwillige Vorlage eines entsprechenden Gutachtens die Eintragung im Handelsregister aber erheblich beschleunigen. Bei Gesellschaften von Freiberuflern (z. B. Ärzten, Architekten, Rechtsanwälten, Steuer- 68 beratern und Wirtschaftsprüfern)52) verlangen viele Registergerichte die Vorlage einer Stel_____________ 47) Hölters-Solveen, AktG, § 37 Rz. 25; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 37 Rz. 14 f. 48) Zustimmend Hölters-Solveen, AktG, § 37 Rz. 25; ausführlich dazu Leitzen, GmbHR 2009, 480; Weigl, DNotZ 2011, 169. 49) Begr. RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 87 f. 50) Zur Zulässigkeit der Verwendung des Begriffs „partners“ in der Firma einer GmbH s. BGH, Beschl. v. 13.4.2021 – II ZB 13/20, ZIP 2021, 1165 = GmbHR 2021, 704 mit Anm. Römermann. 51) S. etwa OLG Dresden, Beschl. v. 21.4.2010 – 13 W 295/10, NZG 2010, 1237 – keine Irreführung durch Verwendung des auf die AG hindeutenden Firmenbestandteils „OBAG“ einer GmbH. 52) Am 1.8.2022 ist das Gesetz zur Neuregelung des Berufsrechts der anwaltlichen und steuerberatenden Berufsausübungsgesellschaften sowie zur Änderung weiterer Vorschriften im Bereich des rechtsberatenden Berufs v. 7.7.2021, BGBl. I 2021, 2363, in Kraft getreten. Danach stehen den Berufsausübungsgesellschaften von Rechtsanwälten (§§ 59b ff. BRAO), Patentanwälten (§§ 52b PatAnwO), Steuerberatern (§§ 49 ff. StBerG) und Wirtschaftsprüfern (§§ 43a ff. WPO) grundsätzlich alle europäischen Rechtsformen (und damit auch die AG) offen. S. zum Ganzen auch die Gesetzesmaterialien in RegE, BT-Drucks. 19/27670 v. 17.3.2021; Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses R/V, BT-Drucks. 19/ 30516 v. 9.6.2021; Beschluss, BR-Drucks. 519/21 v. 11.6.2021 und RegE, BR-Drucks. 55/21 v. 22.1.2021.

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§ 37

Inhalt der Anmeldung

lungnahme der zuständigen Kammer, wonach die Satzung den jeweiligen berufsrechtlichen Vorgaben entspricht.53) Entsprechendes gilt auch bei gemeinnützigen AGs.54) Im Hinblick auf die Einhaltung der steuerrechtlichen Bestimmungen der Abgabenordnung (§§ 51 ff. AO) verlangen die Registergerichte hier oftmals eine entsprechende Stellungnahme des zuständigen Finanzamts für Körperschaften. 69 Die Bezeichnung Investmentaktiengesellschaften darf nur von Investmentaktiengesellschaften i. S. des KAGB geführt werden (§§ 3, 118 KAGB); zudem darf die Bezeichnung nicht irreführen (§ 4 KAGG). Die Zulässigkeit der Firma von Investmentgesellschaften sollte vorab mit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht abgestimmt werden. 70 Das Registergericht soll die Eintragung von der Zahlung eines Kostenvorschusses abhängig machen (§§ 12 ff., 58 GNotKG). Bei einer Bargründung beträgt der Kostenvorschuss in der Regel 300 €, und bei einer Sachgründung 360 €.55) Mit der Handelsregisteranmeldung sollte dem Registergericht daher ein Nachweis über die Einzahlung der Kosten vorgelegt werden. Dies ist dann nicht erforderlich, wenn der Notar für die anfallenden Kosten die persönliche Haftung übernimmt (§ 16 Abs. 1 Nr. 3 GNotKG). IV.

Form (§ 37 Abs. 5)

1.

Form der Anmeldung

71 Die Handelsregisteranmeldung ist von allen Gründern und von allen Mitgliedern des Vorstands und des Aufsichtsrats persönlich zu unterzeichnen (§ 36 Abs. 1). Die Unterschriften müssen dabei öffentlich beglaubigt werden (§ 12 Abs. 1 Satz 1 HGB56) i. V. m. § 129 BGB und §§ 39 ff. BeurkG).57) 72 Die Beglaubigung kann ab dem 1.8.2022 auch online erfolgen (§ 12 Abs. 1 Satz 2 HGB, § 129 BGB und §§ 39a, 40a BeurkG)58).59) Dagegen ist die Beurkundung der Gründung einer AG auch künftig nicht online möglich (§ 23 Abs. 1). 73 Die öffentlich beglaubigte Anmeldung ist sodann über einen Notar zur Weiterleitung an das Registergericht einzureichen (§ 378 Abs. 3 Satz 2 FamFG).60) Der Notar hat die An-

_____________ 53) S. aber OLG Hamm, Beschl. v. 26.6.2006 – 15 W 213/05, ZIP 2006, 2034 – keine Überprüfung der Satzung einer Anwalts-AG durch das Registergericht auf die Einhaltung berufsrechtlicher Regelungen; zur (gesetzlich nicht ausdrücklich geregelten) Zulässigkeit einer Rechtsanwalts-AG BGH, Beschl. v. 14.11.2005 – AnwZ (B) 83/04, ZIP 2006, 282, dazu EWiR 2006, 365 (Römermann); BGH, Beschl. v. 10.1.2005 – AnwZ (B) 27/03 und 28/03, ZIP 2005, 944. 54) Zur gemeinnützigen Aktiengesellschaft s. Binnewies/Herwtig, AG 2020, 739; Weber, Die gemeinnützige Aktiengesellschaft, 2014. 55) Die Gebühren für die Handelsregistereintragung richten sich nach § 58 GNotKG und der Handelsregistergebührenverordnung, s. dazu D. Meyer, JurBüro 2013, 538; Schneider, notar 2011, 111. 56) Grundlegend BGH, Beschl. v. 15.6.2021 – II ZB 25/17, Rz. 14 ff., ZIP 2021, 1488 – die Anmeldung muss mit einem einfachen elektronischen Zeugnis eines Notars nach § 39a BeurkG eingereicht werden. Eine qualifizierte elektronische Signatur nach § 126a BGB genügt nicht. 57) Bei einer Beglaubigung im Ausland kann eine Überbeglaubigung in Form einer Apostile bzw. Legalisation erforderlich sein, s. www.hcch.net. Zu einer (künftigen) Online-Apostille (e-Apostille) ausführlich Forschner/Kienzle, DNotZ 2020, 724; Fuchs, IPrax 2020, 302. 58) S. die Änderungen durch Art. 1 Nr. 8 (§ 12 HGB), Art. 4 Nr. 4 (§ 39a BeurkG), Art. 4 Nr. 5 (§ 40a BeurkG) und Art. 12 Nr. 4 (§ 129 BGB) des Gesetzes zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) v. 5.7.2021, BGBl. I 2021, 3388. 59) Grundlegend zum Ganzen u. a. Freier, NotBZ 2021, 161; Kienzle, DNotZ 2021, 590; Linke, NZG 2021, 309; J. Schmidt, NZG 2021, 849; Stelmaszczyk, EuZW 2021, 513; Stelmaszczyk/Kienzle, ZIP 2021, 765. 60) Zur Anmeldung durch den Notar nach § 378 FamG s. v. Werder/Hobuß, BB 2018, 1031.

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Anmeldung bei Sachgründung ohne externe Gründungsprüfung

§ 37a

meldung vorab auf ihre Eintragungsfähigkeit hin zu überprüfen und das Ergebnis in einem förmlichen Prüfvermerk festzuhalten (§ 378 Abs. 3 Satz 1 FamFG).61) 2.

Form der Anlagen zur Anmeldung

Neben der Handelsregisteranmeldung selbst sind auch die beizufügenden Anlagen elek- 74 tronisch einzureichen (§ 37 Abs. 5 AktG i. V. m. § 12 Abs. 2 HGB).62) Dies gilt nicht nur für die Unterlagen nach dem AktG (so § 37 Abs. 5), sondern für alle gesetzlich oder freiwillig eingereichten Dokumente (so § 12 Abs. 2 Satz 1 HGB). Ist eine Urschrift oder eine einfache Abschrift eines Dokuments einzureichen oder ist für ein Dokument die Schriftform bestimmt, genügt die Übermittlung einer elektronischen Aufzeichnung (§ 12 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 HGB). Ist dagegen ein notariell beurkundetes Dokument oder eine öffentlich beglaubigte Abschrift einzureichen, so ist ein mit einem einfachen elektronischen Zeugnis versehenes Dokument zu übermitteln (§ 12 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 HGB i. V. m. § 39a BeurkG). _____________ 61) Die Änderung von § 378 Abs. 3 FamFG ist durch Art. 4 Nr. 5 lit. b des Gesetzes zur Neuordnung der Aufbewahrung von Notariatsunterlagen und zur Einrichtung des Elektronischen Urkundenarchivs bei der Bundesnotarkammer sowie zur Änderung weiterer Gesetze, v. 1.6.2017, BGBl. I 2017, 1396, erfolgt und am 9.6.2017 in Kraft getreten. Ausführlich dazu Attenberger, MittBayNot 2017, 335; Diehn/ Rachlitz, DNotZ 2017, 487; Heinemann, ZNotP 2017, 166; v. Werder/Hobuß, BB 2018, 1031; Zimmer, NJW 2017, 1909. 62) Grundlegend BGH, Beschl. v. 15.6.2021 – II ZB 25/17, Rz. 14 ff., ZIP 2021, 1488 – die Anmeldung muss mit einem einfachen elektronischen Zeugnis eines Notars nach § 39a BeurkG eingereicht werden. Eine qualifizierte elektronische Signatur nach § 126a BGB genügt nicht.

§ 37a Anmeldung bei Sachgründung ohne externe Gründungsprüfung Thomas Wachter

(1) 1Wird nach § 33a von einer externen Gründungsprüfung abgesehen, ist dies in der Anmeldung zu erklären. 2Der Gegenstand jeder Sacheinlage oder Sachübernahme ist zu beschreiben. 3Die Anmeldung muss die Erklärung enthalten, dass der Wert der Sacheinlagen oder Sachübernahmen den geringsten Ausgabebetrag der dafür zu gewährenden Aktien oder den Wert der dafür zu gewährenden Leistungen erreicht. 4Der Wert, die Quelle der Bewertung sowie die angewandte Bewertungsmethode sind anzugeben. (2) In der Anmeldung haben die Anmeldenden außerdem zu versichern, dass ihnen außergewöhnliche Umstände, die den gewichteten Durchschnittspreis der einzubringenden Wertpapiere oder Geldmarktinstrumente im Sinne von § 33a Abs. 1 Nr. 1 während der letzten drei Monate vor dem Tag ihrer tatsächlichen Einbringung erheblich beeinflusst haben könnten, oder Umstände, die darauf hindeuten, dass der beizulegende Zeitwert der Vermögensgegenstände im Sinne von § 33a Abs. 1 Nr. 2 am Tag ihrer tatsächlichen Einbringung auf Grund neuer oder neu bekannt gewordener Umstände erheblich niedriger ist als der von dem Sachverständigen angenommene Wert, nicht bekannt geworden sind. (3) Der Anmeldung sind beizufügen: 1. Unterlagen über die Ermittlung des gewichteten Durchschnittspreises, zu dem die einzubringenden Wertpapiere oder Geldmarktinstrumente während der letzten drei Monate vor dem Tag ihrer tatsächlichen Einbringung auf einem organisierten Markt gehandelt worden sind,

Thomas Wachter

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§ 37a

Anmeldung bei Sachgründung ohne externe Gründungsprüfung

2. jedes Sachverständigengutachten, auf das sich die Bewertung in den Fällen des § 33a Abs. 1 Nr. 2 stützt. Übersicht I. Überblick ........................................... 1 II. Erklärungen (§ 37a Abs. 1) .............. 4 III. Versicherungen (§ 37a Abs. 2) ........ 9 I.

IV. Anlagen zur Handelsregisteranmeldung (§ 37a Abs. 3) ............... 10

Überblick

1 Bei einer Gründung mit Sacheinlagen oder Sachübernahmen kann die Gesellschaft auf die an sich erforderliche externe Gründungsprüfung (§ 33 Abs. 2 Nr. 4) verzichten, wenn der Wert der Sachen bereits anderweitig zuverlässig festgestellt worden ist (§ 33a). In einem solchen Fall müssen in der Handelsregisteranmeldung (§ 37) allerdings zusätzliche Angaben und Versicherungen gemacht und ergänzende Unterlagen als Anlagen beigefügt werden (§ 37a). Auf diese Weise soll die Transparenz und Überprüfbarkeit der vereinfachten Sachgründung sichergestellt werden.1) Die Vorschrift wurde durch das ARUG2) in das AktG eingefügt und dient (zumindest § 37a Abs. 1 und 2) der Umsetzung der europäischen Kapitalrichtlinie.3) Ergänzende Erleichterungen gelten in diesem Fall für den Gründungsbericht der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats (§ 34 Abs. 2 Satz 3) sowie den Umfang der registergerichtlichen Kontrolle (§ 38 Abs. 3). 2 Die Regelung gilt nicht nur für die Sachgründung, sondern auch für Nachgründungen (§ 52 Abs. 6 Satz 3 und Abs. 7 Satz 2) und Sachkapitalerhöhungen (§§ 183a Abs. 2 Satz 1, 194 Abs. 5, 205 Abs. 5 Sätze 2 und 3). 3 Im Fall der vereinfachten Sachgründung (§ 33a) muss die Handelsregisteranmeldung – neben den allgemeinen Angaben (nach § 37) – bestimmte zusätzliche Inhalte aufweisen. In der Handelsregisteranmeldung ist zunächst zu erklären, dass die Gesellschaft (nach § 33a) von einer externen Gründungsprüfung abgesehen hat (§ 37a Abs. 1 Satz 1). Ferner sind Erklärungen zum Gegenstand und Wert der Sacheinlage bzw. Sachübernahme erforderlich (§ 37a Abs. 1 Satz 2 bis Satz 4). Sodann muss in der Anmeldung versichert werden, dass keine außergewöhnlichen Umstände bekannt sind, wonach die für die Bewertung zugrunde gelegten Preise bzw. Werte ihre Aussagekraft verloren haben (§ 37a Abs. 2; siehe auch § 33 Abs. 2). Schließlich müssen der Handelsregisteranmeldung auch die entsprechenden Bewertungsgrundlagen beigefügt werden (§ 37a Abs. 3), damit sie im Handelsregister für jedermann einsehbar sind (§ 9 Abs. 1 HGB). Falsche oder unvollständige Angaben können Schadensersatzansprüche begründen (siehe §§ 46 ff.) und bei vorsätzlichem Verhalten auch strafbar sein (§ 399 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 4). II.

Erklärungen (§ 37a Abs. 1)

4 Bei einer vereinfachten Sachgründung müssen in der Handelsregisteranmeldung bestimmte zusätzliche (neben § 37 Abs. 1 Satz 1) Erklärungen abgegeben werden (§ 37a Abs. 1). Die Erklärungen müssen von allen Gründern und allen Mitgliedern des Vorstands und des Aufsichtsrats (§ 36 Abs. 1) höchstpersönlich abgegeben werden. _____________ 1) 2) 3)

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Hölters-Solveen, AktG, § 37a Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 37a Rz. 1; Arnold in: KölnKommAktG, § 37a Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 37a Rz. 1. Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG) v. 30.7.2009, BGBl. I 2009, 2479, s. dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 16/11642, S. 32 f. S. Art. 10b der Richtlinie 2006/68/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates v. 6.9.2006 zur Änderung der Richtlinie 77/91/EWG des Rates in Bezug auf die Gründung von Aktiengesellschaften und die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals, ABl. (EU) L 264/32 v. 25.9.2006.

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Anmeldung bei Sachgründung ohne externe Gründungsprüfung

§ 37a

In der Anmeldung ist ausdrücklich zu erklären, dass von einer externen Gründungsprü- 5 fung (nach § 33a) abgesehen worden ist (§ 37a Abs. 1 Satz 1). Nicht erklärt werden muss dagegen, dass die Voraussetzungen für eine vereinfachte Sachgründung (nach § 33a) auch tatsächlich vorliegen.4) Sodann muss der Gegenstand der Sacheinlage oder Sachübernahme in der Handelsre- 6 gisteranmeldung beschrieben werden (§ 37a Abs. 1 Satz 2). Diese Angaben sind normalerweise im Gründungsprüfungsbericht der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats enthalten (§ 34 Abs. 2 Satz 2). Im Falle der vereinfachten Sachgründung hat der Gesetzgeber diese Angaben in dem Gründungsprüfungsbericht als entbehrlich angesehen (§ 34 Abs. 2 Satz 3) und in die Handelsregisteranmeldung verlagert (§ 37a Abs. 1 Satz 2). Sacheinlagen bzw. Sachübernahmen müssen dabei (insbesondere auch unter Angabe der jeweils wertbestimmenden Faktoren) so konkret beschrieben werden, dass die Werthaltigkeit auch für außenstehende Dritte nachvollziehbar ist.5) Die Anmeldung muss darüber hinaus die Erklärung enthalten, dass der Wert der Sach- 7 einlagen oder Sachübernahmen den geringsten Ausgabebetrag der dafür zu gewährenden Aktien (§ 9 Abs. 1) oder den Wert der dafür zu gewährenden Leistungen erreicht (§ 37a Abs. 1 Satz 3).6) Mit dieser Erklärung werden für den Fall der vereinfachten Sachgründung (§ 33a) wiederum Ausführungen aus dem Gründungsprüfungsbericht der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats (§ 34 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Satz 3) in die Handelsregisteranmeldung verlagert. Nach dem Gesetzeswortlaut muss sich die Erklärung nicht darauf beziehen, dass auch ein etwaiger Mehrbetrag (Agio) vom Wert der Sacheinlage gedeckt ist (anders § 37 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 36 Abs. 2 Satz 3). Die mit der Norm bezweckte Schaffung von Transparenz und Nachprüfbarkeit kann allerdings nur dann umfassend erreicht werden, wenn die Erklärung auch einen Mehrbetrag (Agio) umfasst. Dafür spricht i. Ü. auch eine richtlinienkonforme Auslegung (Art. 10 Abs. 1 lit. c der Richtlinie 2006/68/EG).7) Schließlich sind in der Handelsregisteranmeldung der Wert der Sachen, die Quelle der 8 Bewertung sowie die angewandte Bewertungsmethode anzugeben (§ 37a Abs. 1 Satz 4). Der Wert ist ziffernmäßig in Euro zum Stichtag der tatsächlichen Einbringung anzugeben. Als Quelle der Bewertung kommen Gutachten von Sachverständigen, Börsenkurse oder Marktpreise in Betracht. Ferner ist anzugeben, welche Bewertungsmethode im konkreten Einzelfall (z. B. IDW S 1) angewandt worden ist (siehe auch § 34 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2). III.

Versicherungen (§ 37a Abs. 2)

Ein Verzicht auf eine externe Gründungsprüfung ist nur dann zulässig, wenn die der Be- 9 wertung zugrunde gelegten Preise bzw. Werte nicht durch außergewöhnliche Umstände ihre Aussagekraft verloren haben (siehe § 33a Abs. 2). In der Handelsregisteranmeldung müssen dementsprechend alle Gründer und alle Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats höchstpersönlich versichern, dass ihnen keine solche außergewöhnlichen Um-

_____________ 4) 5) 6) 7)

Hölters-Solveen, AktG, § 37a Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 37a Rz. 2; K. Schmidt/LutterKleindiek, AktG, § 37a Rz. 2. Hölters-Solveen, AktG, § 37a Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 37a Rz. 2; K. Schmidt/LutterKleindiek, AktG, § 37a Rz. 3. Arnold in: KölnKomm-AktG, § 37a Rz. 7 ff.; Spindler/Stilz-Döbereiner, AktG, § 37a Rz. 4. So im Ergebnis auch Arnold in: KölnKomm-AktG, § 37a Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 37a Rz. 4; a. A. Hölters-Solveen, AktG, § 37a Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 37a Rz. 3.

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§ 38

Prüfung durch das Gericht

stände bekannt geworden sind (§ 37a Abs. 2).8) Bei der Versicherung ist der Gesetzeswortlaut möglichst unverändert zu übernehmen. Die Strafbarkeit einer falschen oder unvollständigen Versicherung wurde im Gesetz ausdrücklich hervorgehoben (§ 399 Abs. 1 Nr. 1 und 4). IV.

Anlagen zur Handelsregisteranmeldung (§ 37a Abs. 3)

10 Im Falle der vereinfachten Sachgründung (nach § 33a) sind der Handelsregisteranmeldung (neben den ohnehin bereits vorgesehenen Unterlagen, § 37 Abs. 4) die maßgeblichen Bewertungsgrundlagen beizufügen (§ 37a Abs. 3).9) Bei Wertpapieren und Geldmarktinstrumenten (§ 33a Abs. 1 Nr. 1) sind dabei geeignete Unterlagen über die Ermittlung des gewichteten Durchschnittspreises (z. B. Stellungnahme der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht) vorzulegen (§ 37a Abs. 3 Nr. 1). Bei allen anderen Vermögensgegenständen (§ 33a Abs. 1 Nr. 2) sind der Handelsregisteranmeldung die der Bewertung zugrunde gelegten Sachverständigengutachten beizufügen (§ 37a Abs. 3 Nr. 2). Fehlende oder unvollständige Anlagen stellen ein zwingendes Eintragungshindernis dar (§ 38 Abs. 1 Satz 2). _____________ 8)

9)

Hölters-Solveen, AktG, § 37a Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 37a Rz. 4 f.; Arnold in: KölnKommAktG, § 37a Rz. 11 ff.; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 37a Rz. 6 ff.; Spindler/Stilz-Döbereiner, AktG, § 37a Rz. 5. Hölters-Solveen, AktG, § 37a Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 37a Rz. 6; Arnold in: KölnKommAktG, § 37a Rz. 14 ff.; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 37a Rz. 9.

§ 38 Prüfung durch das Gericht Thomas Wachter

(1) 1Das Gericht hat zu prüfen, ob die Gesellschaft ordnungsgemäß errichtet und angemeldet ist. 2Ist dies nicht der Fall, so hat es die Eintragung abzulehnen. (2) 1Das Gericht kann die Eintragung auch ablehnen, wenn die Gründungsprüfer erklären oder es offensichtlich ist, daß der Gründungsbericht oder der Prüfungsbericht der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats unrichtig oder unvollständig ist oder den gesetzlichen Vorschriften nicht entspricht. 2Gleiches gilt, wenn die Gründungsprüfer erklären oder das Gericht der Auffassung ist, daß der Wert der Sacheinlagen oder Sachübernahmen nicht unwesentlich hinter dem geringsten Ausgabebetrag der dafür zu gewährenden Aktien oder dem Wert der dafür zu gewährenden Leistungen zurückbleibt. (3) 1Enthält die Anmeldung die Erklärung nach § 37a Abs. 1 Satz 1, hat das Gericht hinsichtlich der Werthaltigkeit der Sacheinlagen oder Sachübernahmen ausschließlich zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 37a erfüllt sind. 2Lediglich bei einer offenkundigen und erheblichen Überbewertung kann das Gericht die Eintragung ablehnen. (4) Wegen einer mangelhaften, fehlenden oder nichtigen Bestimmung der Satzung darf das Gericht die Eintragung nach Absatz 1 nur ablehnen, soweit diese Bestimmung, ihr Fehlen oder ihre Nichtigkeit 1. Tatsachen oder Rechtsverhältnisse betrifft, die nach § 23 Abs. 3 oder auf Grund anderer zwingender gesetzlicher Vorschriften in der Satzung bestimmt sein müssen oder die in das Handelsregister einzutragen oder von dem Gericht bekanntzumachen sind,

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§ 38

Prüfung durch das Gericht

2. Vorschriften verletzt, die ausschließlich oder überwiegend zum Schutze der Gläubiger der Gesellschaft oder sonst im öffentlichen Interesse gegeben sind, oder 3. die Nichtigkeit der Satzung zur Folge hat. Literatur: Attenberger, § 378 Abs. 3 FamFG n. F. und § 15 Abs. 3 GBO n. F. – Notarielle Prüfung auf Eintragungsfähigkeit als Eintragungsvoraussetzung im Register- und Grundbuchverfahren und ausschließliche Einreichung über den Notar im Handelsregisterverfahren, MittBayNot 2017, 335; Bormann/Stelmaszczyk, Vertrauensschutz durch öffentliche Register im internationalen Rechtsverkehr, in: Festschrift 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, 2018, S. 415; Diehn/ Rachlitz, Notarielle Prüfungspflichten im Grundbuch- und Registerverkehr, DNotZ 2017, 487; Heinemann, Neue Vermerkpflichten für Notare?, ZNotP 2017, 166; Keilbach, Die Prüfungsaufgaben der Registergerichte, MittRhNotK 2000, 365; Meyer, Die wichtigsten Änderungen durch das 2. KostRMoG im Bereich der Handelsregistergebührenverordnung, JurBüro 2013, 538; Schneider, Die neuen Gebühren im Handelsregister zum 1.1.2011, notar 2011, 111; Schulz, Informelle Abstimmungen mit dem Handelsregister, NJW 2016, 1483; v. Werder/Hobuß, Handelsregisteranmeldung der Gründung einer Kapitalgesellschaft sowie späterer Kompetenzen des Notars nach § 378 FamFG, BB 2018, 1031; Zimmer, Neue Prüfungspflichten des Notars – oder alles beim Alten?, NJW 2017, 1909.

Übersicht I. Überblick ............................................ 1 II. Eintragungsverfahren ....................... 4 III. Prüfung durch das Registergericht ................................................. 9 1. Allgemeines ........................................ 9 2. Prüfung der Errichtung .................... 14 3. Prüfung der Anmeldung .................. 15 4. Prüfung des Gründungsberichts und des Prüfungsberichts ................ 16 5. Prüfung der Bareinlagen ................... 19 I.

6. Prüfung der Sacheinlagen ................ 7. Prüfung der Satzung ........................ a) Einführung ................................. b) Zwingender Mindestinhalt der Satzung (§ 38 Abs. 4 Nr. 1) .......................................... c) Vorschriften im öffentlichen Interesse (§ 38 Abs. 4 Nr. 2) ..... d) Gesamtnichtigkeit der Satzung (§ 38 Abs. 4 Nr. 3) .....................

20 24 24

26 31 35

Überblick

Die Gründung der AG wird vor der Eintragung vom Registergericht auf ihre Rechtmä- 1 ßigkeit (nicht auch Zweckmäßigkeit) überprüft (§ 38 Abs. 1).1) Die gesetzliche Regelung ist Ausdruck des im deutschen Kapitalgesellschaftsrecht geltenden Normativsystems (siehe auch § 9c GmbHG).2) Danach ist die Entstehung einer AG von bestimmten, gesetzlich festgelegten Voraussetzungen abhängig, deren Einhaltung i. R. des Eintragungsverfahrens von einem staatlichen Gericht überprüft wird. Die Gründer haben einen Rechtsanspruch auf unverzügliche Eintragung der Gesellschaft, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen. Ein Ermessen steht dem Gericht bei seiner Entscheidung über die Eintragung nicht zu. Gesetzeswidrige Gesellschaftsgründungen sollen auf diese Weise verhindert werden. Das Registergericht hat stets zu prüfen, ob die Gesellschaft ordnungsgemäß errichtet und 2 angemeldet worden ist (§ 38 Abs. 1 Satz 1). Die Prüfung umfasst insbesondere auch die _____________ 1)

2)

Grundlegend zur besonderen Richtigkeitsgewähr des deutschen Handelsregisters und seiner Publizitäts-, Verkehrsschutz- und Informationsfunktion BGH, Beschl. v. 15.6.2021 – II ZB 25/17, Rz. 19, ZIP 2021, 1488 – im Zusammenhang mit der Anmeldung der inländischen Zweigniederlassung einer englischen private limited company zum deutschen Handelsregister. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 38 Rz. 1; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 38 Rz. 4; K. Schmidt/LutterKleindiek, AktG, § 38 Rz. 1.

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§ 38

Prüfung durch das Gericht

ordnungsgemäße Kapitalaufbringung. Die Eintragung der Gesellschaft ist daher insbesondere dann abzulehnen, wenn Sacheinlagen nicht unwesentlich überbewertet worden sind (siehe § 38 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3). Darüber hinaus bezieht sich die registergerichtliche Prüfung vor allem auch auf die Vollständigkeit und Richtigkeit des Gründungsberichts der Gründer und des Gründungsprüfungsberichts der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats (§ 38 Abs. 2 Satz 1). Mangelhafte, fehlende oder nichtige Bestimmungen der Satzung dürfen dagegen vom Registergericht nur dann beanstandet werden, wenn sie von erheblicher Bedeutung sind (§ 38 Abs. 4). Das Registergericht hat die Eintragung der Gesellschaft abzulehnen, wenn die Gesellschaft nicht ordnungsgemäß errichtet oder angemeldet worden ist (§ 38 Abs. 1 Satz 2). Im Fall einer ordnungsgemäßen Gründung ist die Gesellschaft in das Handelsregister einzutragen (siehe § 382 Abs. 1 und 2 FamFG). Mit der Eintragung entsteht die AG (siehe § 41 Abs. 1 Satz 1). 3 Die Vorschrift wurde zuletzt durch das ARUG3) ergänzt (§ 38 Abs. 3 n. F.). Dabei wurden die Prüfungsbefugnisse des Registergerichts für den Fall einer Sachgründung ohne externe Gründungsprüfung (§§ 33a, 37a) beschränkt. II.

Eintragungsverfahren

4 Das Registergericht hat vor der Eintragung zu prüfen, ob die Gesellschaft ordnungsgemäß errichtet worden ist (§ 38). Vor der Anmeldung beim Registergericht erfolgt aber bereits eine umfassende Überprüfung der gesamten Gründung durch den beurkundenden Notar (§ 23 Abs. 1). Dem Notar obliegen dabei umfangreiche Prüfungs-, Beratungs- und Aufklärungspflichten (§ 17 BeurkG), die weit über die gerichtliche Rechtmäßigkeitskontrolle hinausgehen. Die gesetzlichen Beschränkungen der gerichtlichen Prüfungsbefugnisse (insbesondere § 38 Abs. 2, 3 und 4) gelten für den Notar nicht. Der Notar hat die Eintragungsfähigkeit der Gesellschaft vor Einreichung der Unterlagen beim Registergericht zu prüfen und darüber einen förmlichen Prüfvermerk zu erstellen (§ 378 Abs. 3 FamFG).4) Der Notar koordiniert und überwacht im Zusammenhang mit der Handelsregisteranmeldung zudem den gesamten Gründungsvorgang. Für etwaige Fehler haftet der Notar persönlich, unbeschränkt und unbeschränkbar (§ 19 BNotO). Die notarielle Mitwirkung an der Gründung hat eine erhebliche Entlastung der staatlichen Registergerichte zur Folge. Insgesamt kommt es dadurch zu einer deutlichen Vereinfachung und Beschleunigung des Gründungsvorgangs. 5 Der Notar reicht die Handelsregisteranmeldung samt aller Anlagen elektronisch beim zuständigen Registergericht ein (§ 37 AktG i. V. m. § 12 HGB).5) Anhand dieser Unterlagen prüft das Registergericht sodann, ob die Gesellschaft ordnungsgemäß errichtet und angemeldet worden ist (§ 38 Abs. 1 Satz 1). Eine Stellungnahme von Kammern und berufsständischen Organisationen wird allenfalls noch in zweifelhaften Fällen eingeholt (siehe § 23 Satz 2 HRV und § 380 Abs. 2 FamFG). _____________ 3) 4)

5)

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Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG) v. 30.7.2009, BGBl. I 2009, 2479; s. dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 16/11642, S. 34. Die Änderung von § 378 Abs. 3 FamFG ist durch Art. 4 Nr. 5 lit. b des Gesetzes zur Neuordnung der Aufbewahrung von Notariatsunterlagen und zur Einrichtung des Elektronischen Urkundenarchivs bei der Bundesnotarkammer sowie zur Änderung weiterer Gesetze v. 1.6.2017, BGBl. I 2017, 1396, erfolgt und am 9.6.2017 in Kraft getreten. Ausführlich dazu Attenberger, MittBayNot 2017, 335; Diehn/ Rachlitz, DNotZ 2017, 487; Heinemann, ZNotP 2017, 166; v. Werder/Hobuß, BB 2018, 1031; Zimmer, NJW 2017, 1909. Grundlegend dazu BGH, Beschl. v. 15.6.2021 – II ZB 25/17, Rz. 14 ff. und Rz. 19, ZIP 2021, 1488 – im Zusammenhang mit der Anmeldung der inländischen Zweigniederlassung einer englischen Private Limited Company zum deutschen Handelsregister.

Thomas Wachter

§ 38

Prüfung durch das Gericht

Liegen die Eintragungsvoraussetzungen vor, trägt der Richter die Gesellschaft unver- 6 züglich in das Handelsregister ein (siehe §§ 25 ff. HRV und § 382 Abs. 1 FamFG). Dem Richter steht dabei kein Ermessen zu. Die Beteiligten haben vielmehr einen Rechtsanspruch auf Eintragung der Gesellschaft.6) Die Kosten der Eintragung richten sich nach den gesetzlichen Bestimmungen des Gerichts- und Notarkostengesetzes i. V. m. der Handelsregistergebührenverordnung (§ 58 GNotKG)7) und betragen bei einer Bargründung regelmäßig 300 € und bei einer Sachgründung 360 €.8) Liegen die Eintragungsvoraussetzungen dagegen nicht vor, muss das Registergericht 7 den Beteiligten die Möglichkeit geben, den Mangel zu beheben (§ 382 Abs. 4 FamFG und § 26 HRV). In der Zwischenverfügung muss das Gericht alle etwaigen Eintragungshindernisse klar, eindeutig und verständlich bezeichnen. Beheben die Beteiligten die vom Registergericht gerügten Eintragungshindernisse fristgerecht, ist die Gesellschaft in das Handelsregister einzutragen. Werden die Mängel dagegen nicht oder nicht fristgemäß behoben, weist das Gericht die Anmeldung (kostenpflichtig) zurück. Gegen eine gerichtliche Zwischenverfügung und gegen die Ablehnung der Eintragung 8 können die Beteiligten Beschwerde einlegen (§§ 58 ff. FamFG). Die Beschwerde ist beim Registergericht des Amtsgerichts einzulegen, dass die Zwischenverfügung bzw. die ablehnende Entscheidung erlassen hat (§ 64 Abs. 1 FamFG). Die Beschwerde ist innerhalb einer Ein-Monats-Frist einzulegen (§ 63 Abs. 1 FamFG). Beschwerdeberechtigt ist die Vorgesellschaft, die dabei durch den Vorstand in vertretungsberechtigter Zahl vertreten wird. Der Vorstand selbst ist nicht beschwerdeberechtigt. Über die Beschwerde entscheidet das OLG (§ 68 FamFG und § 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG). Gegen die ablehnende Entscheidung des OLG ist die Rechtsbeschwerde zum BGH statthaft (§§ 70 ff. FamFG und § 133 GVG). III.

Prüfung durch das Registergericht

1.

Allgemeines

Das Registergericht hat zu prüfen, ob die Gesellschaft ordnungsgemäß errichtet und an- 9 gemeldet worden ist (§ 38 Abs. 1 Satz 1). Die Prüfung umfasst alle formellen und materiellen Voraussetzungen für die Eintragung der Gesellschaft (zu Ausnahmen siehe § 38 Abs. 3).9) Diese Prüfung ist zwingend und steht nicht im Ermessen des Gerichts. Grundlage der gerichtlichen Prüfung ist die Handelsregisteranmeldung samt aller An- 10 lagen (siehe §§ 37, 37a). Ergibt sich aus diesen Unterlagen kein Anhaltspunkt dafür, dass die Errichtung und Anmeldung nicht ordnungsgemäß erfolgt ist, muss das Registergericht die Gesellschaft unverzüglich eintragen. Nur dann, wenn das Registergericht aufgrund der eingereichten Unterlagen im Einzelfall berechtigten Anlass hat, an der Ordnungsgemäßheit der Gründung zu zweifeln, kann es i. R. der Amtsermittlung (§ 26 FamFG) eine weitergehende Prüfung vornehmen.10) Dagegen ist das Registergericht nicht berechtigt, von den Beteiligten routinemäßig oder auf der Grundlage bloßer Vermutungen weitergehende Nachweise zu verlangen. _____________ 6) Zur Möglichkeit der informellen Abstimmung mit dem Handelsregister s. Schulz, NJW 2016, 1483. 7) Zu den Gebühren für die Handelsregistereintragung s. Meyer, JurBüro 2013, 538; Schneider, notar 2011, 111. 8) Zur Ablehnung der Eintragung einer GmbH wegen Nichtzahlung eines gerichtlich angeordneten Gerichtskostenvorschusses KG Berlin, Beschl. v. 15.6.2017 – 22 W 42/17, ZIP 2018, 80 = GmbHR 2017, 1337 mit Anm. Melchior. 9) Grundlegend (zum GmbH-Recht) BGH, Urt. v. 18.2.1991 – II ZR 104/90, BGHZ 113, 335 = ZIP 1991, 511, dazu EWiR 1991, 1213 (Frey). 10) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 38 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 38 Rz. 4.

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221

§ 38

Prüfung durch das Gericht

11 Das Registergericht muss einen Mangel auch dann beanstanden, wenn dieser durch die Eintragung der Gesellschaft geheilt werden würde. Bei einer verdeckten Sacheinlage (§ 27 Abs. 4) muss die Eintragung der Gesellschaft somit auch dann abgelehnt werden, wenn der Wert der Sacheinlage die Höhe der Geldeinlage nachweislich erreicht oder diese sogar übersteigt (§ 27 Abs. 3 Satz 3 und Satz 4). 12 Die gerichtliche Prüfung ist auf die Rechtmäßigkeit der Errichtung und Anmeldung beschränkt.11) Fragen der Wirtschaftlichkeit, Zweckmäßigkeit oder Gerechtigkeit liegen daher von vornherein außerhalb der Prüfungskompetenz des Registergerichts. Darüber hinaus ist auch die sprachliche und redaktionelle Fassung der Gründungsurkunden vom Registergericht nicht zu überprüfen. 13 Für die Prüfung der ordnungsgemäßen Gründung der Gesellschaft kommt es grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Anmeldung an.12) Vorbelastungen stellen somit im Allgemeinen kein Eintragungshindernis dar, sondern sind von den Gesellschaftern auszugleichen. Etwas anderes kommt nur dann in Betracht, wenn das Registergericht in einem Einzelfall aufgrund konkreter Tatsachen begründete Zweifel an der Durchsetzbarkeit der Ansprüche aus der Vorbelastungshaftung hat. 2.

Prüfung der Errichtung

14 Das Registergericht hat zunächst zu prüfen, ob die Gesellschaft ordnungsgemäß errichtet worden ist (§ 38 Abs. 1 Satz 1). Dies umfasst die gesamte Errichtung der Gesellschaft (i. S. von §§ 1 ff.) und somit insbesondere auch folgende Punkte: –

Zulässiger Gesellschaftszweck;



Feststellung der Satzung durch alle Gründer oder deren Vertreter (§ 23 Abs. 1):





bei Gesellschaftern, die keine natürliche Person sind: Nachweis der Existenz- und Vertretungsberechtigung in öffentlich beglaubigter Form (insbesondere bei ausländischen Gesellschaften);



bei Vertretung eines Gesellschafters: Vorlage einer notariell beurkundeten oder beglaubigten Vollmacht (§ 23 Abs. 1 Satz 2) oder eines sonstigen Vertretungsnachweises in öffentlich beglaubigter Form (z. B. bei gesetzlicher oder organschaftlicher Vertretung);



Vorlage etwa erforderlicher gerichtlicher Genehmigungen (z. B. des Familien- oder Betreuungsgerichts nach §§ 1643, 1822 BGB);



Vorlage von etwa notwendigen Zustimmungserklärungen von Ehegatten oder Lebenspartnern nach in- oder ausländischem Recht (z. B. §§ 1365, 1423 BGB);

Form der Satzung (§ 23 Abs. 1 Satz 1);



Wirksamkeit der Satzung (siehe §§ 134, 138 BGB);



erforderliche Angaben in der Gründungsurkunde (§ 23 Abs. 2);



Übernahme aller Aktien durch die Gründer (§ 29);



Mindestinhalt der Satzung (§ 23 Abs. 3): –

Firma (§ 4 und §§ 17 ff. und 30 HGB);

_____________ 11) Bürgers/Körber/Lieder-Lohse, AktG, § 38 Rz. 2; Hölters-Solveen, AktG, § 38 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 38 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 38 Rz. 5; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 38 Rz. 45 ff.; Spindler/Stilz-Döbereiner, AktG, § 38 Rz. 6. 12) Im Einzelnen sehr umstritten, s. Hölters-Solveen, AktG, § 38 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 38 Rz. 4 f.; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 38 Rz. 6 ff.; Spindler/Stilz-Döbereiner, AktG, § 38 Rz. 3 ff.

222

Thomas Wachter

§ 38

Prüfung durch das Gericht –

Satzungssitz der Gesellschaft im Inland (§ 5);



Gegenstand des Unternehmens;



Höhe des Grundkapitals (§§ 6 und 7);



Zerlegung des Grundkapitals in Nennbetrags- oder Stückaktien (§ 8): –

bei Nennbetragsaktien: die Nennbeträge und die Zahl der Aktien jeden Nennbetrags;



bei Stückaktien: die Zahl der Aktien;



bei Bestehen mehrerer Gattungen von Aktien (§ 11): die Gattung der Aktien und die Zahl der Aktien jeder Gattung;



Ausstellung von Inhaber- oder Namensaktien (§ 10);



Zahl der Mitglieder des Vorstands und die Regeln, nach denen diese Zahl festgelegt wird (§ 76 Abs. 2);



Satzungsbestimmung über die Form der Bekanntmachungen der Gesellschaft (§ 23 Abs. 4);



keine unzulässige Abweichung der Satzung von den Vorgaben des AktG (§ 23 Abs. 5);



ordnungsgemäße Festsetzung von etwaigen Sondervorteilen (§ 26 Abs. 1) und des Gründungsaufwands (§ 26 Abs. 2) in der Satzung;



Festsetzung von Sacheinlagen oder Sachübernahmen in der Satzung (§ 27 Abs. 1);



Vollständigkeit und Richtigkeit des Gründungsberichts der Gründer, § 32 Abs. 1, und des (internen) Prüfungsberichts der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats, § 33 Abs. 1 (§ 38 Abs. 2 Satz 1);



Werthaltigkeit von Sacheinlagen und Sachübernahmen (§ 38 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3);



sonstiger Inhalt der Satzung unter Berücksichtigung der beschränkten Prüfungsbefugnis des Registergerichts (§ 38 Abs. 4).

3.

Prüfung der Anmeldung

Das Registergericht hat ferner zu prüfen, ob die Gesellschaft ordnungsgemäß angemeldet 15 worden ist (§ 38 Abs. 1 Satz 1). Dies umfasst die gesamte Handelsregisteranmeldung samt aller Anlagen (i. S. von §§ 36, 37, 37a) und somit insbesondere auch folgende Punkte: –

Örtliche und sachliche Zuständigkeit des Registergerichts (§ 14 AktG, § 23a Abs. 2 Nr. 3 GVG und §§ 374 ff. FamFG);



Form der Anmeldung und der Anlagen (§ 12 HGB und § 37 Abs. 5);



persönliche Unterzeichnung der Anmeldung durch alle Gründer und alle Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats (§ 36 Abs. 1);



ordnungsgemäße Bestellung des (ersten) Aufsichtsrats, des (ersten) Vorstands und ggf. auch des Abschlussprüfers für das erste Voll- oder Rumpfgeschäftsjahr (§ 30 Abs. 1 und 4 i. V. m. § 37 Abs. 4 Nr. 3);



ordnungsgemäße Kapitalaufbringung (§§ 36 Abs. 2, 36a, 37 Abs. 1, 54 Abs. 3), insbesondere auch: –

Erklärung der Anmeldenden (§ 37 Abs. 1 Satz 1);



Leistung der Einlagen zur endgültig freien Verfügung des Vorstands (§ 36 Abs. 2);



bei Bareinlagen: Nachweis der Einzahlung der Bareinlagen, in der Regel durch eine Bestätigung des kontoführenden Kreditinstituts (§ 37 Abs. 1 Sätze 2 und 3);

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§ 38

Prüfung durch das Gericht



bei Sacheinlagen: Ordnungsgemäße Festsetzung der Sacheinlagen bzw. Sachübernahmen in der Satzung (§ 27 Abs. 1) und Vorlage der vorgeschriebenen Prüfungsberichte über die Sacheinlagen bzw. Sachübernahmen und deren Wert (im Regelfall der externen Gründungsprüfung nach §§ 33 Abs. 2 Nr. 4, 34 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 2, 36a Abs. 2, 37 Abs. 4 Nr. 4, 38 Abs. 2 Satz 2 bzw. Verzicht auf eine externe Gründungsprüfung nach §§ 33a, 34 Abs. 2 Satz 3, 37a, 38 Abs. 3);



Hinweise auf verdeckte Sacheinlagen (§ 27 Abs. 3);13)



Offenlegung eines Hin- und Herzahlens (§ 27 Abs. 4 Satz 2);



Bestehen von etwaigen Vorbelastungen;



Aufbringung eines etwaigen Aufgelds (Agios) (§ 36a Abs. 1 und 2);



Versicherung aller Vorstandsmitglieder über das Nichtvorliegen von Bestellungshindernissen und ihre unbeschränkte Auskunftspflicht gegenüber dem Registergericht (§ 37 Abs. 2);



Anmeldung einer inländischen Geschäftsanschrift (§ 37 Abs. 3 Nr. 1);



Anmeldung von Art und Umfang der Vertretungsbefugnis der Vorstandsmitglieder (§ 37 Abs. 3 Nr. 2);



Vorlage einer wirksamen Satzung samt etwaiger weiterer Gründungsurkunden (§ 37 Abs. 4 Nr. 1);



Vorlage aller Verträge, die den Festsetzungen von Sondervorteilen, Gründungsaufwand oder Sacheinlagen bzw. Sachübernahmen zugrunde liegen oder zu deren Ausführung geschlossen worden sind (§ 37 Abs. 4 Nr. 2 Halbs. 1);



Vorlage der Berechnung des der Gesellschaft zur Last fallenden Gründungsaufwands (§ 37 Abs. 4 Nr. 2 Halbs. 2);



Vorlage der Liste der Aufsichtsratsmitglieder (§ 37 Abs. 4 Nr. 3a);



Vorlage aller Gründungsberichte und Prüfungsberichte nebst aller Unterlagen (§ 37 Abs. 4 Nr. 4);



Vorlage aller sonst gesetzlich vorgeschriebenen Anlagen.

4.

Prüfung des Gründungsberichts und des Prüfungsberichts

16 Das Registergericht kann die Eintragung auch dann ablehnen, wenn die (externen) Gründungsprüfer (§ 33 Abs. 2 bis 5) erklären oder es offensichtlich ist, dass der Gründungsbericht der Gründer (§ 32 Abs. 1) oder der (interne) Gründungsprüfungsbericht des Vorstands und des Aufsichtsrats (§§ 33 Abs. 1, 34 Abs. 1 und 2) unrichtig oder unvollständig ist oder den gesetzlichen Vorschriften nicht entspricht (§ 38 Abs. 2 Satz 1). 17 Dem Registergericht sind der Gründungsbericht der Gründer, der (interne) Prüfungsbericht der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats sowie ein etwaiger (externer) Prüfungsbericht eines Gründungsprüfers vollständig einzureichen (§ 37 Abs. 4 Nr. 4). Diese Berichte bilden die Grundlage der registergerichtlichen Prüfung. Das Registergericht ist an diese Berichte aber in keiner Weise gebunden.14) Das Registergericht kann die Berichte vielmehr selbst überprüfen. 18 Der Gesetzgeber erwähnt insbesondere zwei Fälle, in denen Mängel des Gründungsberichts der Gründer oder des (internen) Prüfungsberichts der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats die Ablehnung der Eintragung zur Folge haben. Dies ist zum einen dann _____________ 13) K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 38 Rz. 9. 14) Hölters-Solveen, AktG, § 38 Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 38 Rz. 11.

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§ 38

Prüfung durch das Gericht

der Fall, wenn die (externen) Gründungsprüfer von sich aus erklären, dass die Berichte unrichtig oder unvollständig sind oder den gesetzlichen Vorschriften nicht entsprechen (§ 38 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1). Zum anderen muss das Gericht die Eintragung auch dann ablehnen, wenn die Mängel der Berichte zweifelsfrei feststehen und damit offensichtlich sind (§ 38 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2). 5.

Prüfung der Bareinlagen

Die Kontrolle des Registergerichts umfasst insbesondere auch die Ordnungsgemäßheit 19 der Kapitalaufbringung (§ 38 Abs. 1 Satz 1). Im Falle der Bargründung sieht der Gesetzgeber die (strafbewährte) Erklärung aller Anmeldenden über die Leistung der Einlagen nicht als ausreichenden Nachweis für die Kapitalaufbringung an (§§ 36 Abs. 1 und 2, 36a Abs. 1, 37 Abs. 1 Satz 1 und 399 Abs. 1 Nr. 1). Vielmehr ist stets nachzuweisen, dass der eingezahlte Betrag auch endgültig zur freien Verfügung des Vorstands steht (§ 37 Abs. 1 Satz 2). Im Regelfall erfolgt dieser Nachweis durch eine (nicht notwendig, aber in der Praxis gleichwohl meist) schriftliche Bestätigung des kontoführenden Kreditinstituts (§§ 37 Abs. 1 Satz 3, 54 Abs. 3). 6.

Prüfung der Sacheinlagen

Vor der Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister muss das Registergericht ins- 20 besondere auch prüfen, ob etwaige Sacheinlagen bzw. Sachübernahmen ordnungsgemäß erbracht worden sind. Grundlage der Prüfung sind dabei die Handelsregisteranmeldung und die als Anlagen eingereichten Unterlagen, und zwar vor allem: –

Die Festsetzung der Sacheinlagen bzw. Sachübernahmen in der Satzung der Gesellschaft (§ 27 Abs. 1);



die Erklärung der Anmeldenden, dass die Sacheinlagen vollständig bewirkt worden sind und sich endgültig in der freien Verfügung des Vorstands befinden (§§ 36a Abs. 2 Sätze 1 und 2, 37 Abs. 1 Satz 1);



die Verträge, die den Festsetzungen zugrunde liegen oder zu ihrer Ausführung geschlossen worden sind (§ 37 Abs. 4 Nr. 2 Halbs. 1);



der Gründungsbericht der Gründer (§§ 32 Abs. 1 und 2, 37 Abs. 4 Nr. 4, 38 Abs. 2 Satz 1);



der (interne) Gründungsprüfungsbericht der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats (§§ 33 Abs. 1, 34 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 2, 37 Abs. 4 Nr. 4, 38 Abs. 2 Satz 1);



der (externe) Gründungsprüfungsbericht der Gründungsprüfer (§§ 33 Abs. 2 Nr. 4, 34 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 2, 37 Abs. 4 Nr. 4, 38 Abs. 2 Satz 2) bzw. bei einem Verzicht auf eine externe Gründungsprüfung die entsprechenden Erklärungen und Unterlagen (§§ 33a, 34 Abs. 2 Satz 3, 37a, 38 Abs. 3).

Nach der gesetzlichen Regelung muss das Registergericht die Eintragung der Gesellschaft 21 insbesondere dann ablehnen, wenn Sacheinlagen bzw. Sachübernahmen überbewertet worden sind. Dabei kommt es darauf an, ob der Wert der Sacheinlagen oder Sachübernahmen nach Auffassung des Gerichts nicht unwesentlich hinter dem geringsten Ausgabebetrag der dafür zu gewährenden Aktien (§ 9 Abs. 1) oder dem Wert der dafür zu gewährenden Leistung zurückbleibt (§ 38 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2; siehe auch §§ 34 Abs. 1 Nr. 2, 36a Abs. 2 Satz 3, 37 Abs. 1 Satz 1). Gleiches gilt dann, wenn die (externen) Gründungsprüfer erklären, dass dies der Fall ist (§ 38 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1).

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Prüfung durch das Gericht

22 Die Eintragung der Gesellschaft kann somit nur dann abgelehnt werden, wenn die Sacheinlagen nicht unwesentlich überbewertet worden sind.15) Bei unwesentlichen Überbewertungen muss die Gesellschaft dagegen eingetragen werden.16) Mit dieser Regelung soll vor allem den vielfach bestehenden Bewertungsunsicherheiten bei Sacheinlagen in angemessener Weise Rechnung getragen werden. Als unwesentlich dürfte im Allgemeinen eine Wertabweichung von plus/minus 20 % anzusehen sein. 23 Besonderheiten bestehen im Fall der vereinfachten Sachgründung, bei der auf eine (externe) Gründungsprüfung verzichtet wird (siehe §§ 33a, 34 Abs. 2 Satz 3, 37a). Das Registergericht nimmt in diesem Fall grundsätzlich keine materielle Prüfung der Werthaltigkeit der Sacheinlagen bzw. Sachübernahmen vor.17) Vielmehr beschränkt sich die Prüfung auf die formale Kontrolle, ob die gesetzlich vorgeschriebenen Erklärungen und Versicherungen in der Handelsregisteranmeldung enthalten sind (§ 37a Abs. 1 und Abs. 2) und die vorgeschriebenen Unterlagen (§ 37a Abs. 3) der Handelsregisteranmeldung beigefügt sind (§ 38 Abs. 3 Satz 1).18) Lediglich dann, wenn die Sacheinlagen bzw. Sachübernahmen offenkundig (siehe § 291 ZPO) und erheblich überbewertet worden sind, kann das Registergericht die Eintragung ablehnen (§ 38 Abs. 3 Satz 2).19) Über den Gesetzeswortlaut hinaus ist das Registergericht auch dann zu einer Ablehnung der Eintragung verpflichtet, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Verzicht auf eine (externe) Gründungsprüfung (nach § 33a) offensichtlich überhaupt nicht vorliegen (§ 38 Abs. 3 Satz 2 analog).20) Die sonstigen Prüfungsbefugnisse des Registergerichts (siehe § 38 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4) bleiben auch bei einer vereinfachten Sachgründung unverändert. 7.

Prüfung der Satzung

a)

Einführung

24 Das Registergericht darf die Eintragung der Gesellschaft wegen einer mangelhaften, fehlenden oder nichtigen Bestimmung der Satzung nur unter engen Voraussetzungen ablehnen (§ 38 Abs. 4, siehe auch § 9c Abs. 2 GmbHG). Mit dieser Regelung sollte die gerichtliche Kontrolle der Satzung beschränkt und das Eintragungsverfahren beschleunigt werden. Die Vorschrift gilt allerdings allgemein als missglückt21) und hat in der Praxis kaum zu Veränderungen des gerichtlichen Prüfungsumfangs geführt. 25 Die möglichen Gründe für die Beanstandung der Satzung sind im Gesetz abschließend geregelt (§ 38 Abs. 4 Nr. 1 bis 3).22) Danach darf das Registergericht die Eintragung der Gesellschaft nur noch dann ablehnen, wenn die Satzung nicht den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestinhalt aufweist (§ 38 Abs. 4 Nr. 1), im öffentlichen Interesse bestehende Vorschriften verletzt (§ 38 Abs. 4 Nr. 2) oder insgesamt nichtig ist (§ 38 Abs. 4 Nr. 3). In allen anderen Fällen darf das Registergericht die Bestimmungen der Satzung weder beanstanden noch zum Anlass für weitere Nachforschungen nehmen. Die Vorschrift be_____________ 15) Hölters-Solveen, AktG, § 38 Rz. 9; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 38 Rz. 13. 16) Instruktiv zu der parallelen Regelung in § 9c Abs. 1 Satz 2 GmbHG LG Freiburg, Beschl. v. 20.2.2009 – 12 T 1/09, GmbHR 2009, 1106. 17) S. dazu KG Berlin, Beschl. v. 12.10.2015 – 22 W 77/15, ZIP 2016, 161. 18) S. dazu die Begr. RegE ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 24, und Hölters-Solveen, AktG, § 38 Rz. 11; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 38 Rz. 10a; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 38 Rz. 20 ff.; K. Schmidt/ Lutter-Kleindiek, AktG, § 38 Rz. 15. 19) Hölters-Solveen, AktG, § 38 Rz. 12; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 38 Rz. 10b; Arnold in: KölnKommAktG, § 38 Rz. 23 f.; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 38 Rz. 16. 20) K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 38 Rz. 17. 21) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 38 Rz. 11; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 38 Rz. 18. 22) Hölters-Solveen, AktG, § 38 Rz. 13; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 38 Rz. 11; Arnold in: KölnKommAktG, § 38 Rz. 25; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 38 Rz. 67.

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§ 38

Prüfung durch das Gericht

stätigt zudem, dass die Prüfungsbefugnis des Registergerichts auf eine reine Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt ist. Unklare, missverständliche oder widersprüchliche Satzungsbestimmungen stellen daher kein Eintragungshindernis dar. b)

Zwingender Mindestinhalt der Satzung (§ 38 Abs. 4 Nr. 1)

Das Registergericht darf und muss prüfen, ob die gesetzlich zwingend vorgesehenen An- 26 gaben in der Satzung korrekt enthalten sind (§ 38 Abs. 4 Nr. 1). Dazu gehört zunächst der gesetzliche Mindestinhalt der Satzung (§ 38 Abs. 4 Nr. 1 Alt. 1 27 i. V. m. § 23 Abs. 3), d. h. die Bestimmungen über: –

Die Firma der Gesellschaft (§ 23 Abs. 3 Nr. 1 AktG i. V. m. § 4 und §§ 18 ff. HGB, unter Berücksichtigung der Beschränkungen des § 18 Abs. 2 Satz 2 HGB);



den Sitz der Gesellschaft (§ 23 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 5);



den Gegenstand des Unternehmens, insbesondere seine Zulässigkeit und ausreichende Individualisierung (§ 23 Abs. 3 Nr. 2);



die Höhe des Grundkapitals (§ 23 Abs. 3 Nr. 3 und §§ 6 f.);



die Zerlegung des Grundkapitals in Nennbetrags- oder Stückaktien (§ 23 Abs. 3 Nr. 4 i. V. m. § 8): bei Nennbetragsaktien: die Nennbeträge und die Zahl der Aktien jeden Nennbetrags, und bei Stückaktien: die Zahl der Aktien;



im Fall des Bestehens mehrerer Gattungen von Aktien: die Gattung der Aktien und die Zahl der Aktien jeder Gattung (§ 23 Abs. 3 Nr. 4 i. V. m. § 11);



die Ausstellung von Inhaber- oder Namensaktien (§ 23 Abs. 3 Nr. 5 i. V. m. § 10);



die Zahl der Mitglieder des Vorstands und die Regeln, nach denen diese Zahl festgelegt wird (§ 23 Abs. 3 Nr. 6 i. V. m. § 76 Abs. 2).

Zu den vom Registergericht zu überprüfenden Satzungsbestimmungen gehören darüber 28 hinaus alle Regelungen, die aufgrund anderer zwingender gesetzlicher Vorschriften enthalten sein müssen (§ 38 Abs. 4 Nr. 1 Alt. 2). Beispiele dafür sind etwa die Bestimmung über die Form der Bekanntmachung der Gesellschaft (§ 23 Abs. 4) oder die ordnungsgemäße Festsetzung von etwaigen Sondervorteilen (§ 26 Abs. 1), des Gründungsaufwands (§ 26 Abs. 2) sowie von Sacheinlagen und Sachübernahmen (§ 27 Abs. 1). Keine zwingenden Vorschriften in diesem Sinne sind dagegen in der Satzung festgelegte Nebenleistungspflichten (§ 55). Die Prüfungsbefugnis umfasst ferner alle Bestimmungen, die in das Handelsregister ein- 29 zutragen sind (§ 39) oder vom Gericht bekannt zu machen sind (§ 10 HGB) (§ 38 Abs. 4 Nr. 1 Alt. 3). Bekannt gemacht werden jedoch nur die Eintragungen im Handelsregister, so dass die beiden vom Gesetz getrennt geregelten Fallgruppen deckungsgleich sind. Der Inhalt der Eintragungen im Handelsregister überschneidet sich zudem in weitem Umfang mit dem gesetzlichen Mindestinhalt der Satzung (§ 23 Abs. 3 und 4). Eine darüber hinausgehende Prüfungsbefugnis des Registergerichts besteht aber in Bezug auf: –

Die inländische Geschäftsanschrift (§ 39 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 37 Abs. 3 Nr. 1);



den Tag der Feststellung der Satzung (§ 39 Abs. 1 Satz 1 AktG i. V. m. § 23 Abs. 1 AktG und § 9 Abs. 2 BeurkG);



die Vorstandsmitglieder (§ 39 Abs. 1 Satz 1);



die Vertretungsbefugnis der Vorstandsmitglieder (§ 39 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 37 Abs. 3 Nr. 2);



Bestimmungen über die Dauer der Gesellschaft (§ 39 Abs. 2);

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§ 38

Prüfung durch das Gericht



Bestimmungen über ein genehmigtes Kapital (§ 39 Abs. 2 i. V. m. §§ 202 ff.);



einen inländischen Empfangsbevollmächtigten (§ 39 Abs. 1 Satz 2).

30 Allerdings sind die Geschäftsanschrift, die Personen der Vorstandsmitglieder und eines inländischen Empfangsbevollmächtigten im Allgemeinen nicht Bestandteil der Satzung, sondern der Handelsregisteranmeldung (und ggf. weiterer Beschlüsse). Der Inhalt der Handelsregisteranmeldung unterliegt aber ohnehin der uneingeschränkten Prüfungsbefugnis des Registergerichts (nach § 38 Abs. 1 Satz 1, und zwar ohne die Einschränkungen nach § 38 Abs. 4). c)

Vorschriften im öffentlichen Interesse (§ 38 Abs. 4 Nr. 2)

31 Das Registergericht darf und muss ferner prüfen, ob die Satzung Vorschriften verletzt, die ausschließlich oder überwiegend zum Schutz der Gläubiger der Gesellschaft oder sonst im öffentlichen Interesse gegeben sind (§ 38 Abs. 4 Nr. 2). Mit dieser Formulierung hat sich der Gesetzgeber an den gesetzlichen Gründen für die Nichtigkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen (§ 241 Nr. 3 Alt. 2 und 3) orientiert. Die weiteren Nichtigkeitsgründe (u. a. Unvereinbarkeit mit dem Wesen der Gesellschaft, § 241 Nr. 3 Alt. 1 und Verstoß gegen die guten Sitten, § 241 Nr. 4) wurden dagegen nicht übernommen. Bei einem Verstoß der Satzung gegen die guten Sitten dürfte das Registergericht gleichwohl berechtigt und verpflichtet sein, die Eintragung abzulehnen. 32 Zu den gläubigerschützenden Vorschriften gehören insbesondere die Regelungen zur Kapitalaufbringung und -erhaltung (z. B. §§ 26, 27, 36, 36a, 37, 38, 57). 33 Sonstige Vorschriften im öffentlichen Interesse sind bspw. das Mitbestimmungsgesetz23) und das Drittelbeteiligungsgesetz, das Strafgesetzbuch und das Ordnungswidrigkeitengesetz sowie das Steuer- und Bilanzrecht (z. B. Abweichung von den Fristen zur Aufstellung des Jahresabschlusses in § 264 Abs. 1 HGB). Das öffentliche Interesse ist darüber hinaus auch dann berührt, wenn der Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten in unzulässiger Weise eingeschränkt wird.24) 34 Dagegen bestehen Vorschriften, die dem Schutz von Minderheitsgesellschaftern dienen nicht im öffentlichen Interesse. Verstöße dagegen stellen somit kein Eintragungshindernis dar. d)

Gesamtnichtigkeit der Satzung (§ 38 Abs. 4 Nr. 3)

35 Schließlich darf und muss das Registergericht die Eintragung der Gesellschaft ablehnen, wenn die Satzung insgesamt nichtig ist (§ 38 Abs. 4 Nr. 3). Einzelne Satzungsbestimmungen können nur dann die Nichtigkeit der gesamten Satzung zur Folge haben, wenn die gesetzliche Vermutungsregelung für die Gesamtnichtigkeit (§ 139 BGB) greift. Im Allgemeinen ist der Wille der Gründer aber auch dann auf die Errichtung der Gesellschaft gerichtet, wenn eine einzelne Satzungsregelung nichtig ist. Dies zeigt sich auch daran, dass heute die meisten Satzungen ohnehin eine salvatorische Klausel enthalten, in der diese Absicht nochmals ausdrücklich zum Ausdruck gebracht wird. Die Nichtigkeit einer einzelnen Satzungsbestimmung hat damit regelmäßig nicht die Nichtigkeit des gesamten Gesellschaftsvertrages zur Folge. Die Prüfungsbefugnis des Registergerichts läuft insoweit weitgehend leer.

_____________ 23) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 123/81, BGHZ 83, 106 = ZIP 1982, 434 – zu §§ 25 ff. MitbestG. 24) S. dazu BGH, Urt. v. 6.4.2009 – II ZR 255/08 (Schiedsfähigkeit II), ZIP 2009, 1003.

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Thomas Wachter

§ 39

Inhalt der Eintragung

§ 39 Inhalt der Eintragung Thomas Wachter

(1) 1Bei der Eintragung der Gesellschaft sind die Firma und der Sitz der Gesellschaft, eine inländische Geschäftsanschrift, der Gegenstand des Unternehmens, die Höhe des Grundkapitals, der Tag der Feststellung der Satzung und die Vorstandsmitglieder anzugeben. 2Wenn eine Person, die für Willenserklärungen und Zustellungen an die Gesellschaft empfangsberechtigt ist, mit einer inländischen Anschrift zur Eintragung in das Handelsregister angemeldet wird, sind auch diese Angaben einzutragen; Dritten gegenüber gilt die Empfangsberechtigung als fortbestehend, bis sie im Handelsregister gelöscht und die Löschung bekannt gemacht worden ist, es sei denn, dass die fehlende Empfangsberechtigung dem Dritten bekannt war. 3Ferner ist einzutragen, welche Vertretungsbefugnis die Vorstandsmitglieder haben. (2) Enthält die Satzung Bestimmungen über die Dauer der Gesellschaft oder über das genehmigte Kapital, so sind auch diese Bestimmungen einzutragen. Literatur: Meyer, Die wichtigsten Änderungen durch das 2. KostRMoG im Bereich der Handelsregistergebührenverordnung, JurBüro 2013, 538; Schneider, Die neuen Gebühren im Handelsregister zum 1.1.2011, notar 2011, 111.

Übersicht I. Überblick ............................................ 1 II. Inhalt der Eintragung ....................... 4 1. Gesetzlicher Mindestinhalt der Handelsregistereintragung ................. 4 I.

2. Sonstige Eintragungen im Handelsregister ................................ 18 III. Rechtsfolgen der Eintragung ....................................... 20

Überblick

Die Vorschrift bestimmt den Inhalt der Handelsregistereintragung bei Gründung einer 1 AG. Ergänzend gelten die Regelungen der Handelsregisterverordnung über die Eintragungen in Abteilung B des Handelsregisters (§§ 3 Abs. 3, 23 ff., 43 HRV). Die Eintragungen im Handelsregister dienen der Publizität der Gesellschaftsverhältnisse (siehe § 15 HGB).1) Mit der Eintragung im Handelsregister entsteht die AG als juristische Person (siehe § 41 2 Abs. 1 Satz 1). Der Tag der Handelsregistereintragung hat aber auch in anderem Zusammenhang große praktische Bedeutung (z. B. für den Beginn der Fünf-Jahres-Frist bei Sacheinlagen, § 36a Abs. 2 Satz 2, das Ende der Handelndenhaftung, § 41 Abs. 1 Satz 2, die Verjährung von Schadensersatzansprüchen, § 51 Abs. 1 Satz 2, oder die Höchstdauer eines genehmigten Kapitals, § 202 Abs. 1).2) Die Vorschrift wurde zuletzt durch das MoMiG3) geändert. Seitdem ist stets auch eine in- 3 ländische Geschäftsanschrift im Handelsregister einzutragen (§ 39 Abs. 1 Satz 1; § 37 Abs. 3 Nr. 1). Falls die Gesellschaft eine empfangsberechtigte Person angemeldet hat, ist auch diese mit ihrer inländischen Anschrift einzutragen (§ 39 Abs. 1 Satz 2). In der Praxis wird von dieser Möglichkeit jedoch kaum Gebrauch gemacht. _____________ 1) 2) 3)

Hölters-Solveen, AktG, § 39 Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 39 Rz. 1; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 39 Rz. 3. Hölters-Solveen, AktG, § 39 Rz. 2. Art. 5 Nr. 4 des Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026; s. dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 16/6140, S. 52 und S. 36 f.

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§ 39

Inhalt der Eintragung

II.

Inhalt der Eintragung

1.

Gesetzlicher Mindestinhalt der Handelsregistereintragung

4 Bei Gründung einer AG sind die folgenden Angaben zwingend im Handelsregister einzutragen: –

Die Firma,



der Sitz,



die inländische Geschäftsanschrift,



der Gegenstand des Unternehmens,



die Höhe des Grundkapitals,



der Tag der Feststellung der Satzung,



die Personen der Vorstandsmitglieder und ihre Vertretungsbefugnis und



eine empfangsberechtigte Person mit ihrer inländischen Anschrift (§ 39 Abs. 1);



ferner sind die Zeitdauer der Gesellschaft und ein genehmigtes Kapital einzutragen, wenn die Satzung eine entsprechende Bestimmung enthält (§ 39 Abs. 2).

5 Im Handelsregister wird die Firma der AG eingetragen (§ 39 Abs. 1 Satz 1 AktG i. V. m. § 43 Nr. 2 lit. a HRV). Maßgebend ist die in der Satzung festgelegte Firma (§ 23 Abs. 3 Nr. 1). Für die Zulässigkeit der Firma gelten die allgemeinen Vorschriften (§ 4 AktG und §§ 17 ff. HGB). Eine zulässige Firma ist grundsätzlich so einzutragen, wie sie in der Satzung festgelegt worden ist. Dies gilt insbesondere auch für die konkrete Schreibweise der Firma, wie etwa Groß- und Kleinschreibung,4) Zeichenabstände und Leerzeichen. 6 Ferner ist stets auch der Sitz der Gesellschaft im Handelsregister einzutragen (§ 39 Abs. 1 Satz 1 AktG i. V. m. § 43 Nr. 2 lit. b HRV). Damit ist der Satzungssitz gemeint (§ 23 Abs. 3 Nr. 1 i. V. m. § 5). Der Verwaltungssitz ist auch dann nicht einzutragen, wenn die Satzung dazu ausnahmsweise eine Regelung enthält. Als Satzungssitz ist die jeweilige politische Gemeinde im Inland (ohne Postleitzahl) einzutragen. Bloße Orts- oder Stadtteile können nicht Sitz einer AG sein und sind daher allenfalls ergänzend einzutragen. Bei einem Doppelsitz sind beide Sitze einzutragen. 7 Seit Inkrafttreten des MoMiG ist stets auch eine inländische Geschäftsanschrift der Gesellschaft anzumelden (§ 37 Abs. 3 Nr. 1) und einzutragen (§ 39 Abs. 1 Satz 1 AktG i. V. m. § 43 Nr. 2 lit. b HRV). Die Geschäftsanschrift kann im Inland frei gewählt werden; sie muss insbesondere nicht mit dem Satzungs- und/oder Verwaltungssitz übereinstimmen. Die Geschäftsanschrift muss mindestens Postleitzahl, Ort, Straße und Hausnummer umfassen (ggf. auch weitere Angaben, die für eine problemlose Zustellung erforderlich sind, wie Vorder- oder Rückgebäude, Stockwerk, etc.). Dabei sind auch c/o-Anschriften zulässig.5) 8 Im Handelsregister ist der Gegenstand des Unternehmens einzutragen (§ 39 Abs. 1 Satz 1 AktG i. V. m. § 43 Nr. 2 lit. c HRV). Maßgebend ist dabei grundsätzlich der in der Satzung festgelegte Gegenstand des Unternehmens (§§ 3 Abs. 1, 23 Abs. 3 Nr. 2). Allgemein übliche Zusätze zum Unternehmensgegenstand (wie etwa die Berechtigung zur Errichtung von Zweigniederlassungen oder zum Erwerb von Beteiligungen an anderen _____________ 4)

5)

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S. aber OLG München, Beschl. v. 13.4.2011 – 31 Wx 79/11, GmbHR 2011, 587 – keine Bindung des Registergerichts an hochgestellte Zahl in Firma; OLG München, Beschl. v. 28.7.2010 – 31 Wx 129/10, GmbHR 2010, 1155 = DB 2010, 2164 – keine Bindung des Registergerichts an durchgehende Verwendung von Großbuchstaben in Firma. Zur GmbH OLG Naumburg, Beschl. v. 8.5.2009 – 5 Wx 4/09, GmbHR 2009, 832 = DB 2009, 1698. Einschränkend aber OLG Rostock, Beschl. v. 31.5.2010 – 1 W 6/10, GmbHR 2011, 30 = NZG 2011, 279.

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§ 39

Inhalt der Eintragung

Unternehmen), die für die konkrete Gesellschaft aber ohne konkrete Bedeutung sind, müssen aus Gründen der Übersichtlichkeit des Handelsregisters allerdings nicht mit eingetragen werden.6) Darüber hinaus wird im Handelsregister auch die Höhe des Grundkapitals eingetragen 9 (§ 39 Abs. 1 Satz 1 AktG i. V. m. § 43 Nr. 3 HRV). Einzutragen ist das Grundkapital gemäß der Satzung i. H. v. mindestens 50.000 € (§ 23 Abs. 3 Nr. 3 i. V. m. §§ 6 f.), und zwar unabhängig von der Leistung der Einlagen. Die Zerlegung des Grundkapitals in Nennbetrags- oder Stückaktien (siehe §§ 8, 23 Abs. 3 Nr. 4) wird dagegen nicht im Handelsregister eingetragen. Im Handelsregister ist sodann der Tag der Feststellung der Satzung einzutragen (§ 39 10 Abs. 1 Satz 1 AktG i. V. m. § 43 Nr. 6 lit. a HRV). Maßgeblich ist der Tag der notariellen Beurkundung der Satzung (§ 23 Abs. 1 Satz 1 AktG i. V. m. § 9 Abs. 2 BeurkG). Erfolgt vor der erstmaligen Eintragung der Gesellschaft eine Änderung der Satzung, ist sowohl der Tag der ursprünglichen Satzungsfeststellung als auch der Tag der späteren Änderung einzutragen.7) Im Handelsregister werden schließlich stets auch die Mitglieder des Vorstands und ihre 11 Vertretungsbefugnis eingetragen (§ 39 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 AktG i. V. m. § 43 Nr. 4 lit. a und b HRV). Einzutragen sind alle Mitglieder des Vorstands (siehe § 76 Abs. 2) mit Familiennamen, 12 Vornamen, Geburtsdatum (nicht Geburtsort) und Wohnort (nicht die vollständige Wohnanschrift). Der Beruf wird nicht eingetragen.8) Stellvertretende Mitglieder des Vorstands (§ 94) werden gleichfalls eingetragen, allerdings ohne Stellvertretervermerk.9) Der Vorsitzende des Vorstands wird als solcher im Handelsregister eingetragen. Ferner ist die Vertretungsbefugnis der Vorstandsmitglieder einzutragen (§ 39 Abs. 1 Satz 3 13 i. V. m. § 78). Die Vertretungsbefugnis ist dabei so einzutragen, wie sie beschlossen (§ 30 Abs. 4) und angemeldet worden ist (§ 37 Abs. 3 Nr. 2). Anzumelden und einzutragen ist demnach stets die allgemeine Regelung zur Vertretung der Vorstandsmitglieder (§ 43 Nr. 4 lit. a HRV) und eine davon abweichende besondere Vertretungsbefugnis einzelner, mehrerer oder aller Mitglieder des Vorstands (§ 43 Nr. 4 lit. b HRV). Das MoMiG hat erstmals die Möglichkeit geschaffen, neben dem Vorstand weitere emp- 14 fangsberechtigte Personen zu bestellen und im Handelsregister eintragen zu lassen (§ 39 Abs. 1 Satz 2 AktG i. V. m. § 43 Nr. 2 lit. b HRV).10) Die Neuregelung dient dem Ziel, Zustellungen an die Gesellschaft zu erleichtern (siehe auch § 78 Abs. 2 Sätze 3 und 4 AktG, § 15a HGB, § 185 Nr. 2 ZPO).11) Als empfangsberechtigte Person kommt grundsätzlich jede (natürliche oder juristische) Person in Betracht, die im Inland über eine zustellungsfähige Anschrift verfügt. Falls eine empfangsberechtigte Person zur Eintragung in das Handelsregister angemeldet worden ist (was in der Praxis bislang nur selten vorkommt) sind deren vollständiger Name bzw. Firma und Anschrift einzutragen. _____________ 6) Hölters-Solveen, AktG, § 39 Rz. 7. 7) Hölters-Solveen, AktG, § 39 Rz. 9; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 39 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 39 Rz. 3. 8) Hölters-Solveen, AktG, § 39 Rz. 10; a. A. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 39 Rz. 2. 9) S. BGH, Beschl. v. 10.11.1997 – II ZB 6/97, ZIP 1998, 152 – zum GmbH-Geschäftsführer. 10) Hölters-Solveen, AktG, § 39 Rz. 11; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 39 Rz. 3; Arnold in: KölnKommAktG, § 39 Rz. 13 ff.; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 39 Rz. 6. 11) S. LG Zwickau, Beschl. v. 15.7.2010 – WM 2010, 2098 – öffentliche Zustellung an GmbH bei fehlender Eintragung einer inländischen Geschäftsanschrift im Handelsregister.

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§ 39

Inhalt der Eintragung

15 Eine Bestimmung über die Dauer der Gesellschaft ist nur dann in das Handelsregister einzutragen, wenn die Satzung eine solche Bestimmung enthält (§ 39 Abs. 2 Halbs. 1, § 262 Abs. 1 Nr. 1 AktG i. V. m. § 43 Nr. 6 lit. b, bb HRV). Die allgemein übliche Satzungsregelung, wonach die Gesellschaft auf unbestimmte Dauer besteht, ist dagegen nicht im Handelsregister einzutragen. 16 Im Handelsregister ist ein genehmigtes Kapital einzutragen, wenn die Gründungssatzung ein solches vorsieht (§ 39 Abs. 2 Halbs. 2, §§ 202 ff. AktG i. V. m. § 43 Nr. 6 lit. b, hh HRV). Einzutragen ist die Höhe des genehmigten Kapitals und der Zeitpunkt, bis zu dem die Ermächtigung des Vorstands zur Kapitalerhöhung besteht. 17 Über den Gesetzeswortlaut hinaus ist auch ein bedingtes Kapital im Handelsregister einzutragen, wenn es bereits bei Gründung beschlossen wird (§§ 192 ff. AktG i. V. m. § 43 Nr. 6 lit. b, gg HRV). Die Eintragung muss allerdings nicht unbedingt zeitgleich mit der Neueintragung der Gesellschaft erfolgen.12) 2.

Sonstige Eintragungen im Handelsregister

18 Die allgemeinen Vorschriften über die Eintragungen im Handelsregister bleiben unberührt (siehe etwa §§ 13 ff. HGB i. V. m. § 43 Nr. 2 lit. a HRV für Zweigniederlassungen, §§ 48 ff. HGB i. V. m. § 43 Nr. 5 HRV für Prokuristen). Ansonsten regelt das AktG die Eintragungen im Handelsregister abschließend. Weitere Eintragungen sind aus Gründen der Übersichtlichkeit und Verständlichkeit des Handelsregisters somit nicht möglich. 19 Nicht im Handelsregister eingetragen werden insbesondere die Mitglieder des Aufsichtsrats.13) Der Handelsregisteranmeldung ist lediglich eine Liste der Aufsichtsratsmitglieder als Anlage beizufügen (§ 37 Abs. 4 Nr. 3a). Die Liste ist im Handelsregister für jedermann einsehbar (§ 9 Abs. 1 HGB), wird aber nicht unmittelbar in das Handelsregister selbst eingetragen. Bei jeder späteren Änderung in den Personen der Aufsichtsratsmitglieder hat der Vorstand unverzüglich eine neue Liste zum Handelsregister einzureichen (§ 106 Halbs. 1). Das Registergericht macht dann einen Hinweis bekannt, dass eine neue Liste eingereicht worden ist; die Liste selbst wird dagegen nicht bekannt gemacht (§ 106 Halbs. 2 AktG i. V. m. § 10 HGB). III.

Rechtsfolgen der Eintragung

20 Mit der Eintragung im Handelsregister (§ 27 Abs. 4 HRV, § 382 Abs. 2 FamFG) entsteht die AG als juristische Person (siehe § 41 Abs. 1 Satz 1). Dies gilt auch dann, wenn die Eintragung nicht (oder noch nicht) erfolgen hätte dürfen. Etwaige Mängel werden im Allgemeinen durch die Eintragung geheilt. Bei schwerwiegenden Mängeln ist ggf. eine Nichtigkeitsklage (§§ 275 ff.), eine Amtslöschung (§§ 395, 397 FamFG) oder eine Amtsauflösung (§ 399 FamFG) möglich.14) 21 Fehlerhafte oder unvollständige Eintragungen können vom Registergericht von Amts wegen berichtigt werden (§ 17 HRV). Die Beteiligten (und der Notar, § 378 FamFG) können durch formlosen Antrag auch auf eine entsprechende Berichtigung hinwirken. Daneben kommt auch eine Beschwerde (§§ 58 ff. FamFG) in Betracht.

_____________ 12) Für Eintragungsfähigkeit Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 39 Rz. 4; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 39 Rz. 18; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 39 Rz. 7. 13) K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 39 Rz. 5. 14) Hölters-Solveen, AktG, § 39 Rz. 15; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 39 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 39 Rz. 8.

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Handeln im Namen der Gesellschaft vor der Eintragung. Verbotene Aktienausgabe § 41 Für die Eintragung einer AG ist grundsätzlich der Registerrichter (und nicht der Rechts- 22 pfleger) zuständig (siehe §§ 25 ff. HRV und §§ 3 Nr. 2 lit. d, 17 Nr. 1 lit. a und 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 RPflG). Die Eintragung ist den Beteiligten bekannt zu machen, sofern diese darauf nicht verzich- 23 ten (§ 383 Abs. 1 FamFG). In der Praxis wird die Eintragung meist (nur) der Gesellschaft und dem die Handelsregisteranmeldung einreichenden Notar (nicht aber auch den sonstigen Beteiligten, siehe § 36 Abs. 1) bekannt gemacht. Die Eintragung wird darüber hinaus der Industrie- und Handelskammer sowie je nach Einzelfall anderen Kammern und öffentlichen Stellen mitgeteilt (siehe § 37 HRV). Die Eintragungen im Handelsregister werden vom AG zudem in dem von der Landesjustizverwaltung bestimmten elektronischen Informations- und Kommunikationssystem (siehe www.handelsregisterbekanntmachungen.de) bekannt gemacht (§ 10 HGB15) i. V. m. §§ 32 ff. HRV). Eine Bekanntmachung im Bundesanzeiger oder in Tageszeitungen erfolgt dagegen nicht mehr. Die Kosten für die Eintragung richten sich nach dem Gerichts- und Notarkostengesetz 24 i. V. m. der Handelsregistergebührenverordnung16) (§ 58 GNotKG)17).18) Die Kosten für die Ersteintragung einer AG betragen (derzeit) bei einer reinen Bargründung demnach 300 €, und falls mindestens eine Sacheinlage geleistet wird, erhöhen sich die Gebühren auf 360 €. Die Gebühren sind unabhängig von der Höhe des Grundkapitals. _____________ 15) Die Vorschrift des § 10 HGB (Bekanntmachung der Eintragungen) wurde durch Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) v. 5.7.2021, BGBl. I 2021, 3338, neugefasst. Die Änderung tritt am 1.8.2022 in Kraft. 16) Die Handelsregistergebührenverordnung wurde zuletzt durch Art. 9 des Gesetzes zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) v. 5.7.2021, BGBl. I 2021, 3338, geändert. 17) Die Vorschrift des § 58 GNotKG wurde zuletzt durch Art. 10 Nr. 4 des Gesetzes zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) v. 5.7.2021, BGBl. I 2021, 3338, geändert. 18) Zu den Gebühren für die Handelsregistereintragung s. Meyer, JurBüro 2013, 538; Schneider, notar 2011, 111.

§ 40 1) (aufgehoben) Thomas Wachter

_____________ 1)

Aufgehoben m. W. v. 1.1.2007 durch Art. 9 des Gesetzes über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister (EHUG) v. 10.11.2006, BGBl. I 2006, 2553.

§ 41 Handeln im Namen der Gesellschaft vor der Eintragung. Verbotene Aktienausgabe Thomas Wachter

(1) 1Vor der Eintragung in das Handelsregister besteht die Aktiengesellschaft als solche nicht. 2Wer vor der Eintragung der Gesellschaft in ihrem Namen handelt, haftet persönlich; handeln mehrere, so haften sie als Gesamtschuldner. (2) Übernimmt die Gesellschaft eine vor ihrer Eintragung in ihrem Namen eingegangene Verpflichtung durch Vertrag mit dem Schuldner in der Weise, daß sie an die Stelle des bisherigen Schuldners tritt, so bedarf es zur Wirksamkeit der Schuldübernahme der Zustimmung des Gläubigers nicht, wenn die Schuldübernahme binnen

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§ 41 Handeln im Namen der Gesellschaft vor der Eintragung. Verbotene Aktienausgabe drei Monaten nach der Eintragung der Gesellschaft vereinbart und dem Gläubiger von der Gesellschaft oder dem Schuldner mitgeteilt wird. (3) Verpflichtungen aus nicht in der Satzung festgesetzten Verträgen über Sondervorteile, Gründungsaufwand, Sacheinlagen oder Sachübernahmen kann die Gesellschaft nicht übernehmen. (4) 1Vor der Eintragung der Gesellschaft können Anteilsrechte nicht übertragen, Aktien oder Zwischenscheine nicht ausgegeben werden. 2Die vorher ausgegebenen Aktien oder Zwischenscheine sind nichtig. 3Für den Schaden aus der Ausgabe sind die Ausgeber den Inhabern als Gesamtschuldner verantwortlich. Literatur: Heidinger, Die Haftung und die Vertretung in der Gründungsphase der GmbH im Vergleich zur (kleinen) Aktiengesellschaft, GmbHR 2003, 189; Schwab, Handelndenhaftung und gesetzliche Verbindlichkeiten, NZG 2012, 481.

Übersicht I. Überblick ........................................... 1 II. Vorgründungsgesellschaft ............... 4 III. Vorgesellschaft .................................. 7 IV. Handelndenhaftung (§ 41 Abs. 1 Satz 2) .............................................. 17 V. Schuldübernahme (§ 41 Abs. 2) .... 22 I.

VI. Übernahmeverbot (§ 41 Abs. 3) ..... 24 VII. Übertragungs- und Ausgabeverbot (§ 41 Abs. 4) ......................... 26 1. Übertragungsverbot der Mitgliedschaft ................................................. 26 2. Verbot der Ausgabe von Aktien ...... 28

Überblick

1 Die AG entsteht als juristische Person erst mit der Eintragung im Handelsregister (§ 41 Abs. 1 Satz 1; § 39). Die Eintragung hat somit konstitutive Wirkung. 2 Bei der Gründung einer AG sind in zeitlicher Hinsicht drei Phasen zu unterscheiden:1) – Vorgründungsgesellschaft: Vor der Errichtung der Gesellschaft (§ 29) kann bereits eine Vorgründungsgesellschaft bestehen.2) Dabei handelt es sich meist um eine GbR bzw. OHG, deren Zweck auf die Gründung der AG gerichtet ist. –

Vorgesellschaft: Mit der notariellen Feststellung der Satzung und der Übernahme aller Aktien durch die Gründer (d. h. der Errichtung der Gesellschaft i. S. von § 29) entsteht die Vorgesellschaft (Vor-AG). Die Vorgesellschaft ist nicht mit der Vorgründungsgesellschaft identisch. Das Vermögen der Vorgründungsgesellschaft geht nicht kraft Gesetzes auf die Vorgesellschaft über, sondern muss auf diese ggf. im Wege der Einzelübertragung übertragen werden. Die Vorgesellschaft ist eine Rechtsform sui generis, für die bereits die Regelungen des AktG Anwendung finden, soweit sie nicht die Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister voraussetzen.



AG: Mit der Eintragung im Handelsregister entsteht die AG als juristische Person. Die Vorgesellschaft endet mit der Eintragung im Handelsregister, ohne dass es einer Liquidation bedarf. Die Rechte und Pflichten der Vorgesellschaft gehen aufgrund Gesamtrechtsnachfolge kraft Gesetzes auf die AG über.

3 Das AktG regelt die rechtlichen Verhältnisse bei Gründung der Gesellschaft nur bruchstückhaft.3) Die Vorschrift des § 41 betrifft einzelne Fragen der Vorgesellschaft (§ 41 Abs. 1 _____________ 1) 2) 3)

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Grundlegend (zur GmbH) – BGH, Urt. v. 9.3.1981 – II ZR 54/80, BGHZ 80, 129 = ZIP 1981, 394, dazu EWiR 1992, 57 (Bokelmann). Zur Rechtslage bei der GmbH zuletzt BGH, Urt. v. 15.4.2021 – III ZR 139/20, ZIP 2021, 1160. So ausdrücklich BGH, Urt. v. 23.10.2006 – II ZR 162/05, BGHZ 169, 270 = ZIP 2006, 2267, dazu EWiR 2007, 289 (Krolop). – S. ferner Arnold in: KölnKomm-AktG, § 41 Rz. 2 – gesetzliche Regelung ist lückenhaft und veraltet.

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Handeln im Namen der Gesellschaft vor der Eintragung. Verbotene Aktienausgabe § 41 und 4: „vor der Eintragung“). Die AG entsteht erst mit der Eintragung im Handelsregister (§ 41 Abs. 1 Satz 1). Wer bereits vor der Eintragung der Gesellschaft in deren Namen handelt, haftet gegenüber Dritten persönlich und gesamtschuldnerisch (Handelndenhaftung; § 41 Abs. 1 Satz 2). Für eine Schuldübernahme von Verpflichtungen der Vorgesellschaft durch die spätere AG sind gegenüber den allgemeinen Regelungen des BGB Erleichterungen vorgesehen (§ 41 Abs. 2). Verpflichtungen aus etwaigen Sondervorteilen, Gründungsaufwand oder Sacheinlagen bzw. Sachübernahmen, die in der Satzung nicht ordnungsgemäß festgesetzt worden sind, darf die Gesellschaft nicht übernehmen (§ 41 Abs. 3). In der Gründungsphase dürfen die Anteilsrechte nicht übertragen werden und keine Aktien ausgegeben werden (§ 41 Abs. 4) II.

Vorgründungsgesellschaft

In der Zeit vor Errichtung der Gesellschaft (§ 29) kann (nicht muss) bereits eine Vorgrün- 4 dungsgesellschaft entstehen. Bei der Vorgründungsgesellschaft handelt es sich um einen Zusammenschluss von Personen, die den gemeinsamen Zweck verfolgen, eine AG zu gründen. Rechtlich handelt es sich dabei regelmäßig um eine GbR (§§ 705 ff. BGB). Im Einzelfall kann auch eine offene Handelsgesellschaft (§§ 105 ff. HGB) vorliegen, insbesondere wenn bereits in dieser Phase eine geschäftliche Tätigkeit erfolgt. Die Vorschriften des Aktienrechts sind auf die Vorgründungsgesellschaft nicht (auch nicht analog) anwendbar.4) Alle Gesellschafter der Vorgründungsgesellschaft haften daher für deren Verbindlichkeiten persönlich, unbeschränkt und gesamtschuldnerisch (§§ 128 ff. HGB unmittelbar bzw. analog).5) Die Gründung einer Vorgründungsgesellschaft ist formlos möglich (und erfolgt vielfach 5 konkludent). Ein durchsetzbarer Anspruch auf Mitwirkung an der Gründung der AG besteht allerdings nur dann, wenn zugleich ein notariell beurkundeter Vorvertrag (§ 23 Abs. 1 analog) abgeschlossen wird.6) Die Vorgesellschaft endet mit Zweckerreichung (§ 726 BGB), d. h. mit Errichtung der 6 AG (§ 29). Die mit der Errichtung der AG entstehende Vorgesellschaft ist mit der Vorgründungsgesellschaft nicht identisch. Die Aktiva und Passiva der Vorgründungsgesellschaft gehen auch nicht aufgrund gesetzlicher Gesamtrechtsnachfolge auf die Vorgesellschaft über. Vielmehr bedarf es dazu einer rechtsgeschäftlichen Einzelrechtsübertragung (unter Zustimmung etwaiger Gläubiger).7) III.

Vorgesellschaft

Mit der Errichtung der AG (§ 29) entsteht zwingend die Vorgesellschaft. Dies gilt auch 7 bei einer Einpersonen-Gesellschaft (siehe § 2), da die Vorgesellschaft juristische Person und nicht Gesamthandsgemeinschaft ist.8) Bei der Vorgesellschaft handelt es sich nach überwiegender Auffassung um eine Rechtsform sui generis, für die bereits die Vorschriften des AktG Anwendung finden, soweit diese nicht schon die Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister voraussetzen. Zweck der Vorgesellschaft ist im Regelfall die Her_____________ 4) 5) 6) 7) 8)

Zur GmbH s. BGH, Urt. v. 15.4.2021 – III ZR 139/20, ZIP 2021, 1160. Hölters-Solveen, AktG, § 41 Rz. 5; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 41 Rz. 8 ff.; Pentz in: MünchKommAktG, § 41 Rz. 10 ff.; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 41 Rz. 17 ff. und Rz. 76. KG Berlin, Urt. v. 22.1.2004 – 8 U 170/03, AG 2004, 321. Hölters-Solveen, AktG, § 41 Rz. 4. S. zur GmbH BGH, Urt. v. 15.4.2021 – III ZR 139/20, ZIP 2021, 1160. K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 41 Rz. 4 f.; wohl auch Hölters-Solveen, AktG, § 41 Rz. 18 f. (s. aber auch Rz. 6). A. A. dagegen die bislang h. M., u. a. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 41 Rz. 3 und 17a ff.; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 41 Rz. 18; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 41 Rz. 24.

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§ 41 Handeln im Namen der Gesellschaft vor der Eintragung. Verbotene Aktienausgabe beiführung der Handelsregistereintragung der Gesellschaft und die Beendigung des Gründungsvorgangs.9) 8 Für das Innenverhältnis der Vorgesellschaft ist neben den Vorschriften des AktG vor allem die Satzung maßgebend, die vor Eintragung der Gesellschaft noch nach allgemeinen Grundsätzen (§§ 133, 157 BGB) auszulegen ist.10) Die Vorgesellschaft hat mit Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung bereits die gleichen Organe wie die spätere AG. Die Rechte und Pflichten der Organe richten sich im Grundsatz bereits nach den allgemeinen Bestimmungen des AktG (z. B. eigenverantwortliche Leitung der Gesellschaft durch den Vorstand nach § 76,11) Überwachung des Vorstands durch den Aufsichtsrat nach § 111, Haftung der Organe nach §§ 93, 116), wobei die Erfüllung der gründungsbezogenen Aufgaben aufgrund des Zwecks der Vorgesellschaft im Mittelpunkt steht.12) 9 Die Vorgesellschaft ist rechtsfähig, parteifähig, grundbuchfähig,13) kontofähig und insolvenzfähig.14) Die Vorgesellschaft kann sich bspw. bereits als Komplementärin an einer Kommanditgesellschaft beteiligen (z. B. AG & Co. KG) und auch schon Gründerin einer anderen AG sein. Insgesamt kann die Vorgesellschaft heute uneingeschränkt am Rechtsverkehr teilnehmen und Rechte und Pflichten begründen. Beim Auftreten nach außen sollte die Vorgesellschaft aber stets einen Hinweis auf das Gründungsstadium in die Firma aufnehmen (z. B. AG i.Gr.). 10 Die Vorgesellschaft wird im Außenverhältnis durch den Vorstand vertreten (siehe §§ 30 Abs. 4, 78 ff.). Dabei ist allerdings umstritten, ob die Vertretungsmacht des Vorstands der Vorgesellschaft auf die für die Gründung der Gesellschaft notwendigen Rechtsgeschäfte beschränkt ist oder ob dieser schon über die umfassende Vertretungsmacht des Vorstands der späteren AG verfügt (§ 82 Abs. 1). Die h. M.15) geht davon aus, dass die Vertretungsmacht des ersten Vorstands entsprechend dem Zweck der Vorgesellschaft auf die i. R. der Gründung erforderlichen Rechtsgeschäfte beschränkt ist. Weitergehende Rechtsgeschäfte bedürfen zu ihrer Wirksamkeit eines Beschlusses mit Zustimmung aller Gründer, da diese für etwaige Verluste in der Gründungsphase auch persönlich haften. Dies erscheint nicht überzeugend.16) Denn die Vertretungsmacht der Organe von Handelsgesellschaften ist im deutschen Recht grundsätzlich unbeschränkt (siehe etwa § 82 Abs. 1 AktG; § 37 Abs. 2 GmbHG, § 126 Abs. 2 HGB). Darauf muss sich der Rechtsverkehr verlassen können. Zudem wäre es für die Rechtssicherheit abträglich, wenn die Gründungsnotwendigkeit eines Rechtsgeschäfts über dessen Wirksamkeit entscheiden würde. Die Gründer sind i. Ü. nicht schutzwürdig, da sie eine Geschäftstätigkeit der Vorgesellschaft oder Handelsregistereintragung untersagen können. In der Praxis empfiehlt es sich, in entsprechenden Fällen bereits _____________ 9) S. dazu im Zusammenhang mit der Auflösung einer Vorgesellschaft BGH, Urt. v. 23.10.2006 – II ZR 162/05, BGHZ 169, 270 = ZIP 2006, 2267. 10) Hölters-Solveen, AktG, § 41 Rz. 7; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 41 Rz. 5; Arnold in: KölnKommAktG, § 41 Rz. 23 ff.; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 41 Rz. 21. 11) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 41 Rz. 20. A. A. BGH, Urt. v. 23.10.2006 – II ZR 162/05, BGHZ 169, 270 = ZIP 2006, 2267, sowie Hölters-Solveen, AktG, § 41 Rz. 8; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 41 Rz. 31; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 41 Rz. 35 und 53; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 41 Rz. 53. Differenzierend Hüffer, AktG, § 41 Rz. 6. 12) S. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 41 Rz. 6 f.; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 41 Rz. 19 f. 13) Dazu ausführlich Hölters-Solveen, AktG, § 41 Rz. 9 und Rz. 11. 14) Hölters-Solveen, AktG, § 41 Rz. 9; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 41 Rz. 10; Arnold in: KölnKommAktG, § 41 Rz. 19 ff.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 41 Rz. 51 f.; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 41 Rz. 28 ff. 15) Hölters-Solveen, AktG, § 41 Rz. 10; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 41 Rz. 11; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 41 Rz. 54 ff. 16) So auch Arnold in: KölnKomm-AktG, § 41 Rz. 32; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 41 Rz. 7; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 41 Rz. 35.

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Handeln im Namen der Gesellschaft vor der Eintragung. Verbotene Aktienausgabe § 41 in der notariellen Gründungsurkunde vorsorglich eine entsprechende Zustimmung aller Gründer mit aufzunehmen. Für die Verbindlichkeiten der Vorgesellschaft haftet den Gläubigern das Vermögen der Vor- 11 gesellschaft (siehe § 1 Abs. 1 Satz 2). Diese Haftung endet mit der Eintragung der AG im Handelsregister. Denn mit der Handelsregistereintragung gehen auch alle Verbindlichkeiten der Vorgesellschaft auf die AG über. Dafür ist keine Zustimmung der Gläubiger erforderlich (siehe auch § 41 Abs. 2). Seitdem die Rechtsprechung das frühere Vorbelastungsverbot aufgegeben hat,17) ist all- 12 gemein anerkannt, dass die Gründer zur Sicherung der gesetzlich vorgesehenen Kapitalaufbringung eine persönliche Haftung trifft. Die nähere Ausgestaltung der Haftung richtet sich insbesondere danach, ob die Gesellschaft im Handelsregister eingetragen wird oder die Eintragung scheitert. Die Unterbilanzhaftung (Vorbelastungshaftung) greift ein, wenn die Gesellschaft antrags- 13 gemäß im Handelsregister eingetragen wird, der Wert des Gesellschaftsvermögens (abzüglich des in der Satzung festgesetzten Gründungsaufwands) im Zeitpunkt der Eintragung aber hinter dem Nennbetrag des satzungsgemäßen Grundkapitals zurückbleibt.18) Mit der Unterbilanzhaftung soll gewährleistet werden, dass den Gläubigern der Gesellschaft im Zeitpunkt der Handelsregistereintragung das in der Satzung verlautbarte Grundkapital auch tatsächlich als haftendes Vermögen zur Verfügung steht. Die Ansprüche aus der Unterbilanzhaftung stehen der Gesellschaft (und nicht deren Gläubigern) zu (Innenhaftung). Die Höhe der Ansprüche ist anhand einer auf den Tag der Eintragung zu erstellenden Vermögensbilanz zu ermitteln.19) Die Haftung umfasst auch eine bereits eingetretene Überschuldung und ist somit insbesondere nicht auf die Höhe der übernommenen Einlage beschränkt. Die Ansprüche sind vom Vorstand der Gesellschaft geltend zu machen. Alle Gründer haften persönlich, es sei denn sie haben der Geschäftsaufnahme der Gesellschaft weder ausdrücklich noch konkludent zugestimmt. Mehrere Gründer haften nicht als Gesamtschuldner, sondern entsprechend dem Verhältnis ihrer Einlagen. Bei Ausfall eines Gründers haften die anderen Gründer anteilig (§ 24 GmbHG analog).20) Die Unterbilanzhaftung begründet grundsätzlich kein Eintragungshindernis. Etwas anderes gilt allenfalls dann, wenn feststeht, dass die Ansprüche gegen die Gründer (z. B. aufgrund von Vermögenslosigkeit) wertlos sind.21) Scheitert die Eintragung der Gesellschaft, kommt die Unterbilanzhaftung nicht in Be- 14 tracht, da diese die Eintragung der Gesellschaft gerade voraussetzt. Die Gründer haften in diesem Fall aber für die während des Bestehens der Vorgesellschaft entstandenen Verluste unbeschränkt und persönlich (Verlustdeckungshaftung).22) Die Haftung richtet sich auf _____________ 17) Grundlegend BGH, Urt. v. 9.3.1981 – II ZR 54/80, BGHZ 80, 129 = ZIP 1981, 394. 18) Zur Unterbilanzhaftung(bei der GmbH) u. a. BGH, Urt. v. 24.10.1988 – II ZR 176/88, BGHZ 105, 300 = ZIP 1989, 27, dazu EWiR 1989, 55 (K. Schmidt). Hölters-Solveen, AktG, § 41 Rz. 15; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 41 Rz. 8 f.; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 41 Rz. 51 ff.; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 41 Rz. 11 ff.; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 41 Rz. 77 ff. Kritisch zu dem Konzept der Innenhaftung des BGH u. a. Pentz in: MünchKomm-AktG, § 41 Rz. 55 ff. 19) Zur Bilanzierung von Vermögenswerten in der Vorbelastungsbilanz s. BGH, Urt. v. 29.9.1997 – II ZR 245/96, ZIP 2007, 2008, dazu EWiR 1998, 33 (Wilken). 20) Hölters-Solveen, AktG, § 41 Rz. 14; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 41 Rz. 9b. A. A. aber – anteilige Haftung – OLG Karlsruhe, Urt. v. 19.12.1997 – 1 U 170/97, ZIP 1998, 1961, dazu EWiR 1998, 1011 (Kort). 21) Dagegen aber K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 41 Rz. 13. 22) Grundlegend (zur GmbH) BGH, Urt. v. 27.1.2007 – II ZR 123/94, BGHZ 134, 333 = ZIP 1997, 679, dazu EWiR 1997, 849 (Goette), sowie Hölters-Solveen, AktG, § 41 Rz. 16; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 41 Rz. 9a und 9b; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 41 Rz. 14 ff.; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 41 Rz. 87 ff.

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§ 41 Handeln im Namen der Gesellschaft vor der Eintragung. Verbotene Aktienausgabe den Ausgleich der entstandenen Verluste (und nicht auf die Wiederherstellung des Grundkapitals). Die Haftung ist nicht auf die Höhe der übernommenen Einlage beschränkt. Die Verlustdeckungshaftung ist (ebenso wie die Unterbilanzhaftung) grundsätzlich eine Innenhaftung, so dass die Gründer nur gegenüber der Gesellschaft haften. Eine unmittelbare Außenhaftung der Gründer gegenüber den Gläubigern kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht (z. B. bei Vermögenslosigkeit der Vorgesellschaft oder bei Ablehnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Vorgesellschaft mangels Masse, nicht aber auch generell bei einer Einpersonen-Gesellschaft).23) 15 Eine unbeschränkte persönliche Außenhaftung aller Gründer besteht dann, wenn die Gesellschafter ihre Geschäftstätigkeit fortsetzen, obwohl sie die Eintragungsabsicht bereits aufgegeben haben24) bzw. die Eintragung endgültig gescheitert ist (sog. unechte Vorgesellschaft).25) In diesen Fällen handelt es sich richtigerweise nicht mehr um eine Vorgesellschaft, die auf die Gründung einer AG gerichtet ist, sondern um eine offene Handelsgesellschaft (§§ 128 ff. HGB). 16 Mit Eintragung der AG im Handelsregister endet die Vorgesellschaft, ohne dass es einer Liquidation bedarf (§ 41 Abs. 1 Satz 1). Alle Rechte und Pflichten der Vorgesellschaft gehen kraft Gesetzes im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auf die AG über (Kontinuität und Identität).26) Scheitert die Eintragung der AG im Handelsregister ist die Vorgesellschaft aufzulösen und abzuwickeln (§ 726 BGB analog i. V. m. §§ 262 ff. AktG).27) IV.

Handelndenhaftung (§ 41 Abs. 1 Satz 2)

17 Wer vor der Eintragung der Gesellschaft in ihrem Namen handelt, haftet persönlich; handeln mehrere, so haften sie als Gesamtschuldner (Handelndenhaftung, § 41 Abs. 1 Satz 2; siehe auch § 11 Abs. 2 GmbHG und Art. 7 der EU-Publizitätsrichtlinie). Die Handelndenhaftung greift zeitlich nur in der Phase der Vorgesellschaft ein, d. h. es muss nach Errichtung der Gesellschaft (§ 29) und vor Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister (§ 41 Abs. 1) gehandelt worden sein. Handlungen im Stadium der Vorgründungsgesellschaft können die Haftung nicht begründen.28) Mit der Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister erlischt die Handelndenhaftung. 18 Der Zweck der Handelndenhaftung wird heute überwiegend darin gesehen, die Mitglieder des Vorstands anzuhalten, die Anmeldung und Eintragung der Gesellschaft zügig zu betreiben (Druckfunktion) und die Gläubiger der Vorgesellschaft vor dem Risiko zu

_____________ 23) So auch K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 41 Rz. 17. A. A. aber h. M., s. nur Hölters-Solveen, AktG, § 41 Rz. 16 m. w. N. 24) Zur Haftung bei einer Einpersonen-Vor-AG nach endgültiger Aufgabe des Gründungswillens s. OLG München, Urt. v. 9.8.2017 – 7 U 2663/16, ZIP 2017, 2101 = BB 2017, 2003. 25) Hölters-Solveen, AktG, § 41 Rz. 17 und Rz. 19; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 41 Rz. 16; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 41 Rz. 83 ff.; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 41 Rz. 92 ff. 26) Bürgers/Körber/Lieder-Körber, AktG, § 41 Rz. 25; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 41 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 41 Rz. 18; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 41 Rz. 107 f. Einschränkend in Bezug auf die Identität Hölters-Solveen, AktG, § 41 Rz. 12; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 41 Rz. 16 f. 27) Zur Auflösung einer Vorgesellschaft durch Kündigung eines Gesellschafters aus wichtigem Grund und deren Abwicklung s. BGH, Urt. v. 23.10.2006 – II ZR 162/05, BGHZ 169, 270 = ZIP 2006, 2267. 28) Hölters-Solveen, AktG, § 41 Rz. 20 und Rz. 22; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 41 Rz. 23; Spindler/ Stilz-Heidinger, AktG, § 41 Rz. 96.

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Handeln im Namen der Gesellschaft vor der Eintragung. Verbotene Aktienausgabe § 41 bewahren, ohne Schuldner dazustehen (Sicherungsfunktion).29) Überholt ist dagegen die ursprüngliche Straffunktion, wonach eine Geschäftstätigkeit vor Eintragung gänzlich verhindert werden sollte. Handelnder ist grundsätzlich nur, wer Mitglied des Vorstands der Vorgesellschaft ist (siehe 19 § 30 Abs. 4) oder als solcher auftritt.30) Die Gründer trifft die Handelndenhaftung auch dann nicht, wenn sie der Aufnahme der Geschäfte zugestimmt haben. Aufsichtsratsmitglieder haften nicht, sofern sie die Gesellschaft nur im Innenverhältnis gegenüber den Mitgliedern des Vorstands (§ 112) vertreten.31) Die Haftung wird durch ein rechtsgeschäftliches Handeln im Namen der Vorgesellschaft 20 (und/oder der künftigen AG)32) begründet. Keine Haftung besteht daher für gesetzliche (z. B. § 25 HGB) oder deliktische Ansprüche (z. B. §§ 823 ff. BGB).33) Die Haftung besteht nur gegenüber außenstehenden Dritten, und nicht auch gegenüber Personen, die mit den internen Verhältnissen der Gesellschaft vertraut sind (wie etwa Gründer, Mitgesellschafter, Mitglieder des Vorstands oder des Aufsichtsrats). Der Handelnde haftet persönlich und gesamtschuldnerisch für die Verbindlichkeiten 21 der Gesellschaft (§ 41 Abs. 1 Satz 2 AktG i. V. m. §§ 421 ff. BGB). Der Gläubiger muss seine Ansprüche nicht erst gegen die Vorgesellschaft oder die Gesellschaft geltend machen, sondern kann unmittelbar gegen den Handelnden vorgehen. Die Handelndenhaftung ist akzessorisch (siehe §§ 128 f. HGB).34) Mit der Eintragung der Gesellschaft erlischt die Handelndenhaftung.35) In der Praxis ist die Handelndenhaftung für den Gläubiger daher vor allem dann von Interesse, wenn die Eintragung der Gesellschaft scheitert. V.

Schuldübernahme (§ 41 Abs. 2)

Nach den allgemeinen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs ist für eine befreien- 22 de Schuldübernahme grundsätzlich die Zustimmung des Gläubigers erforderlich (§§ 415 ff. BGB). Eine Ausnahme gilt jedoch für die Übernahme von Verbindlichkeiten durch die neu gegründete AG. In diesem Fall ist die Schuldübernahme schon dann wirksam, wenn dies zwischen der Gesellschaft und dem bisherigen Schuldner vereinbart und dem Gläubiger _____________ 29) S. BGH, Urt. v. 14.6.2004 – II ZR 47/02, ZIP 2004, 1409, dazu EWiR 2004, 783 (Drygala), der vor allem die Sicherungsfunktion der Handelndenhaftung betont. Im Wesentlichen wie hier HöltersSolveen, AktG, § 41 Rz. 2; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 41 Rz. 65; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 41 Rz. 126 ff.; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 41 Rz. 95. Kritisch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 41 Rz. 19 – Handelndenhaftung ohne überzeugende gedankliche Grundlage; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 41 Rz. 23. 30) Zur Handelndenhaftung im Aktienrecht s. BGH, Urt. v. 14.6.2004 – II ZR 47/02, ZIP 2004, 1409, dazu EWiR 2004, 783 (Drygala). Zur Handelndenhaftung im GmbH-Recht s. u. a. BGH, Urt. v. 15.12.1975 – II ZR 95/73, BGHZ 65, 378 = NJW 1976, 419; BGH, Urt. v. 9.2.1970 – II ZR 137/69, BGHZ 53, 210 = NJW 1970, 806; BGH, Urt. v. 9.2.1970 – II ZR 182/68, BGHZ 53, 206 = NJW 1970, 1043; BGH, Urt. v. 24.10.1968 – II ZR 216/66, BGHZ 51, 30 = NJW 1969, 509; BGH, Urt. v. 26.1.1967 – II ZR 122/64, BGHZ 47, 25 = NJW 1967, 828. Hölters-Solveen, AktG, § 41 Rz. 21; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 41 Rz. 20; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 41 Rz. 101 ff. 31) BGH, Urt. v. 14.6.2004 – II ZR 47/02, ZIP 2004, 1409, dazu EWiR 2004, 783 (Drygala). 32) S. dazu BGH, Urt. v. 15.6.1978 – II ZR 205/76, BGHZ 72, 45 = NJW 1978, 1978 mit Anm. K. Schmidt – wonach das Handeln eines Geschäftsführers im Namen der künftigen Gesellschaft im Zweifel dahin auszulegen ist, dass dieser auch für die Vorgesellschaft tätig geworden ist. 33) Hölters-Solveen, AktG, § 41 Rz. 22; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 41 Rz. 21; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 41 Rz. 25. – A. A. Schwab, NZG 2012, 481. 34) Hölters-Solveen, AktG, § 41 Rz. 23; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 41 Rz. 24; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 41 Rz. 27; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 41 Rz. 109. 35) Hölters-Solveen, AktG, § 41 Rz. 23; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 41 Rz. 25; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 41 Rz. 25 und 28; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 41 Rz. 111.

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§ 41 Handeln im Namen der Gesellschaft vor der Eintragung. Verbotene Aktienausgabe mitgeteilt wird (§ 41 Abs. 2). Eine Zustimmung des Gläubigers ist dagegen nicht erforderlich. 23 Die Vorschrift dient der erleichterten Enthaftung der vor der Eintragung der Gesellschaft in ihrem Namen handelnden Personen. Die praktische Bedeutung der Vorschrift ist heute jedoch gering, da die Handelndenhaftung mit der Eintragung der Gesellschaft erlischt und die Verbindlichkeiten der Vorgesellschaft kraft Gesetzes auf die AG übergehen.36) Eine Anwendung der Regelung kommt daher nur in den Fällen in Betracht, in denen der Handelnde seine Vertretungsmacht überschreitet (§§ 177 ff. BGB), die Vorgesellschaft demnach nicht verpflichtet wird und die Haftung somit auch nicht auf die Gesellschaft übergeht. Die Haftung des Handelnden kann dann durch Schuldübernahme (auch ohne Zustimmung des Gläubigers) auf die Gesellschaft übergeleitet werden (§ 41 Abs. 2). VI.

Übernahmeverbot (§ 41 Abs. 3)

24 Sondervorteile (§ 26 Abs. 1), Gründungsaufwand (§ 26 Abs. 2) sowie Sacheinlagen und Sachübernahmen (§ 27 Abs. 1) sind aus Gründen der Transparenz zwingend in der Satzung der Gesellschaft festzusetzen. Verpflichtungen aus solchen Verträgen, die in der Satzung nicht ordnungsgemäß festgesetzt worden sind, darf die Gesellschaft (auch mit Zustimmung des Gläubigers) nicht übernehmen (§ 41 Abs. 3). Damit soll eine Umgehung dieser Vorschriften verhindert werden. 25 Die praktische Bedeutung der Vorschrift ist gleichfalls gering. Bei ordnungsgemäßer Festsetzung in der Satzung, besteht die Verpflichtung der AG auch ohne Schuldübernahme. Bei fehlender oder mangelhafter Festsetzung in der Satzung sind die entsprechenden Verträge ohnehin unwirksam (siehe § 26 Abs. 3 Satz 1) und können daher auch nicht von der AG übernommen werden. Das Übernahmeverbot gilt daher vor allem in den Fällen, in denen die Verpflichtung trotz nicht ordnungsgemäßer Satzungsfestsetzung wirksam entstanden ist (siehe § 27 Abs. 3 Satz 2).37) VII. Übertragungs- und Ausgabeverbot (§ 41 Abs. 4) 1.

Übertragungsverbot der Mitgliedschaft

26 Vor der Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister können Anteilsrechte nicht (dinglich) übertragen werden (§ 41 Abs. 4 Satz 1 Halbs. 1). Eine gleichwohl erfolgte Übertragung (z. B. nach §§ 398 ff., 413 BGB) wäre nichtig (§ 134 BGB). Zulässig ist eine Übertragung aber dann, wenn sie unter der aufschiebenden Bedingung der Eintragung der Gesellschaft erfolgt. 27 Der Zweck der Vorschrift besteht heute vor allem darin, den Kreis der Gründer im Hinblick auf deren zivilrechtliche (§§ 46 ff.) und strafrechtliche (§ 399 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2) Verantwortlichkeit jederzeit verlässlich bestimmen zu können.38) Die (formfreie) Übertragung der Anteilsrechte zwischen einzelnen Gesellschaftern ist daher verboten. Änderungen im Mitgliederkreis sind aber immer dann möglich, wenn sie unter Berücksichtigung der für die Gründungssatzung geltenden Form- und Publizitätsvorschriften (siehe § 23) und unter Beteiligung aller Gründer erfolgen.39) _____________ 36) Hölters-Solveen, AktG, § 41 Rz. 25; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 41 Rz. 28; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 41 Rz. 30; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 41 Rz. 129. 37) Für eine Klärung des Widerspruchs zwischen § 41 Abs. 3 und § 27 Abs. 3 Satz 2 durch den Gesetzgeber Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 41 Rz. 133. 38) Ähnlich K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 41 Rz. 32. 39) BGH, Urt. v. 23.10.2006 – II ZR 162/05, BGHZ 169, 270 = ZIP 2006, 2267. Hölters-Solveen, AktG, § 41 Rz. 27; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 41 Rz. 30; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 41 Rz. 33.

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§ 42

Einpersonen-Gesellschaft 2.

Verbot der Ausgabe von Aktien

Die Ausgabe von Aktien (§ 10 Abs. 1) und Zwischenscheinen (§ 10 Abs. 3 und 4) vor Ein- 28 tragung der Gesellschaft ist aus Gründen des Verkehrsschutzes verboten (§ 41 Abs. 4 Satz 1 Halbs. 2). Gleichwohl ausgegebene Aktien oder Zwischenscheine sind nichtig (§ 41 Abs. 4 Satz 2). Die Mitgliedschaft ist dann nicht wirksam begründet. Ein gutgläubiger Erwerb solcher Wertpapiere ist ausgeschlossen. Für etwaige Schäden haften die Ausgeber (in der Regel der Vorstand) persönlich und verschuldensunabhängig als Gesamtschuldner (§ 41 Abs. 4 Satz 3). Die vorzeitige Ausgabe von Aktien oder Zwischenscheinen ist eine Ordnungswidrigkeit (§ 405 Abs. 1 Nr. 2).

§ 42 Einpersonen-Gesellschaft Thomas Wachter

Gehören alle Aktien allein oder neben der Gesellschaft einem Aktionär, ist unverzüglich eine entsprechende Mitteilung unter Angabe von Name, Vorname, Geburtsdatum und Wohnort des alleinigen Aktionärs zum Handelsregister einzureichen. Übersicht I. Überblick ............................................ 1 I.

II. Mitteilungspflicht ............................. 4

Überblick

Die Zulässigkeit der Einpersonen-AG ist heute allgemein anerkannt (siehe §§ 2, 319 1 Abs. 1).1) Für Einpersonen-AG gelten heute die gleichen Regelungen wie für Mehrpersonen-AG. Der alleinige Aktionär ist insbesondere an die zwingende Kompetenzverteilung zwischen Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung gebunden. Dies gilt auch dann, wenn der alleinige Aktionär zugleich auch Vorstand ist. Einzige Besonderheit der Einpersonen-Gesellschaft ist heute die Mitteilungspflicht bei Vereinigung aller Aktien in der Hand eines Aktionärs (§ 42). Die Notwendigkeit der Sicherheitsleistung bei nicht vollständiger Leistung der Bareinlagen wurde durch das MoMiG2) abgeschafft (§ 36 Abs. 2 Satz 2 AktG a. F.). Gehören alle Aktien allein (oder neben der Gesellschaft) einem Aktionär, ist unverzüg- 2 lich eine entsprechende Mitteilung unter Angabe von Name, Vorname, Geburtsdatum und Wohnort des alleinigen Aktionärs zum Handelsregister einzureichen (§ 42). Die Mitteilung ist im Handelsregister für jedermann einsehbar (§ 9 Abs. 1 HGB). Mit dieser besonderen Publizität soll die Öffentlichkeit darauf hingewiesen werden, dass es sich um eine Einpersonen-AG handelt.3) Auf diese Weise sollen zugleich auch die Gläubiger der Gesellschaft geschützt werden.4)

_____________ 1) 2) 3) 4)

Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 42 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 42 Rz. 3; Spindler/StilzGerber, AktG, § 42 Rz. 12 f. Art. 5 Nr. 2 des Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026. S. dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 16/6140, S. 52 und S. 33. Bürgers/Körber/Lieder-Körber, AktG, § 42 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 42 Rz. 1. Hölters-Solveen, AktG, § 42 Rz. 1; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 42 Rz. 7; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 42 Rz. 1.

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§ 42

Einpersonen-Gesellschaft

3 Die Vorschrift erscheint heute überholt5) und wird in der Praxis kaum beachtet.6) Eine Streichung der Regelung ist jedoch aufgrund der zwingenden Vorgaben der europäischen Richtlinie zu Einpersonen-Gesellschaften derzeit nicht möglich.7) II.

Mitteilungspflicht

4 Die Mitteilungspflicht besteht dann, wenn alle Aktien allein (oder neben der Gesellschaft) einem Aktionär gehören (§ 42). Die Vorschrift gilt trotz ihrer systematischen Stellung im Gründungsrecht der AG nicht nur für die Neugründung einer Einpersonen-Gesellschaft, sondern auch bei der späteren Vereinigung aller Aktien in der Hand eines Aktionärs.8) Darüber hinaus besteht eine Mitteilungspflicht aus Gründen der Publizität auch dann, wenn alle Aktien nicht mehr einem Aktionär alleine gehören und die Einpersonen-AG (wieder) zu einer Mehrpersonen-Gesellschaft geworden ist.9) 5 Die Aktien gehören derjenigen Person, die formal-rechtlich Inhaber der Mitgliedschaftsrechte ist. Aktieninhaber in diesem Sinn ist demnach auch der Treuhänder, Sicherungseigentümer oder Darlehensnehmer eines Wertpapierdarlehens. Dagegen gehören die Aktien nicht auch dem Nießbraucher, Pfandgläubiger oder sonst wirtschaftlich Berechtigten. Mittelbare Beteiligungen von Tochtergesellschaften können der Muttergesellschaft im vorliegenden Zusammenhang nicht zugerechnet werden (siehe demgegenüber §§ 20 Abs. 1 Satz 2, 21 Abs. 1 Satz 2, 328 Abs. 1 Satz 3, die – anders als § 42 – auf § 16 Abs. 4 verweisen).10) 6 Gehören alle Aktien einem einzigen Aktionär, ist dies dem Handelsregister unverzüglich mitzuteilen (§ 42 i. V. m. § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB). Inhaltlich muss sich aus der Mitteilung ergeben, dass alle Aktien allein einem Aktionär (oder daneben nur noch der Gesellschaft) gehören. Es ist konkret mitzuteilen, welcher der beiden Fälle vorliegt. Die pauschale Mitteilung, dass eine Einpersonen-AG vorliegt genügt aufgrund des Normzwecks nicht.11) Von dem Aktionär sind Name, Vorname, Geburtsdatum und Wohnort anzugeben (nicht auch Beruf bzw. die vollständige Wohnanschrift). Ist der Aktionär keine natürliche Person, sind Firma und Sitz (möglichst auch Registergericht und Nummer)12) anzugeben.13) 7 Die Mitteilung ist bei dem für die Gesellschaft zuständigen Registergericht elektronisch (§ 12 Abs. 2 HGB; siehe auch § 37 Abs. 5 AktG )14) einzureichen (nicht anzumelden). Für die Mitteilung ist keine besondere Form vorgeschrieben. Aus der gesetzlichen Regelung ergibt sich nicht, wer für die Mitteilung verantwortlich ist. Nach allgemeinen Vorschriften müssen die Mitglieder des Vorstands (in vertretungsberechtigter Zahl) die Mit_____________ 5) Anders allerdings insbesondere Pentz in: MünchKomm-AktG, § 42 Rz. 7. 6) Arnold in: KölnKomm-AktG, § 42 Rz. 4. 7) Art. 3 und 6 der Richtlinie 2009/102/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.9.2009 auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts betreffend Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter, ABl. (EU) L 258/20 v. 1.10.2009 (früher Zwölfte Richtlinie 89/667/EWG). 8) Hölters-Solveen, AktG, § 42 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 42 Rz. 3; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 42 Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 42 Rz. 1. 9) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 42 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 42 Rz. 5. A. A. unter Hinweis auf den eindeutigen Gesetzeswortlaut Hölters-Solveen, AktG, § 42 Rz. 3; Arnold in: KölnKommAktG, § 42 Rz. 12; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 42 Rz. 5 f. 10) Hölters-Solveen, AktG, § 42 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 42 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 42 Rz. 4. A. A. Bürgers/Körber/Lieder-Körber, AktG, § 42 Rz. 8. 11) Bürgers/Körber/Lieder-Körber, AktG, § 42 Rz. 10; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 42 Rz. 5. 12) Hölters-Solveen, AktG, § 42 Rz. 4; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 42 Rz. 16. 13) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 42 Rz. 5. 14) K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 42 Rz. 6. A. A. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 42 Rz. 6 – schriftliche Mitteilung.

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§ 45

Sitzverlegung

teilung beim Handelsregister einreichen (§§ 76 ff.).15) Der Vorstand kann dies aber erst dann tun, wenn ihm ein Aktionär mitgeteilt hat, dass ihm alle Aktien gehören16) (siehe § 67 Abs. 1 Satz 2). Daneben kann der Aktionär die Mitteilung aber auch selbst unmittelbar beim Registergericht einreichen.17) Bei Verletzung der Mitteilungspflicht, kann das Registergericht ein Zwangsgeldverfahren 8 einleiten (§ 14 HGB). Sonstige Sanktionen bestehen (anders als etwa bei Verstößen gegen die Mitteilungspflichten nach §§ 20, 21) nicht. Bei Neugründung einer Einpersonen-AG stellt das Fehlen der Mitteilung auch kein Eintragungshindernis dar (siehe § 38 Abs. 1 Satz 2). _____________ 15) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 42 Rz. 5. 16) K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, § 42 Rz. 6. 17) Hölters-Solveen, AktG, § 42 Rz. 5.

§ 43 1) (aufgehoben) Thomas Wachter

_____________ 1)

Aufgehoben durch Art. 3 des Gesetzes zur Durchführung der Elften gesellschaftsrechtlichen Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften und über Gebäudeversicherungsverhältnisse v. 22.7.1993, BGBl. I 1993, 1282.

§ 44 (aufgehoben)

1) Thomas Wachter

_____________ 1)

Aufgehoben durch Art. 3 des Gesetzes zur Durchführung der Elften gesellschaftsrechtlichen Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften und über Gebäudeversicherungsverhältnisse v. 22.7.1993, BGBl. I 1993, 1282.

§ 45 Sitzverlegung Thomas Wachter

(1) Wird der Sitz der Gesellschaft im Inland verlegt, so ist die Verlegung beim Gericht des bisherigen Sitzes anzumelden. (2) 1Wird der Sitz aus dem Bezirk des Gerichts des bisherigen Sitzes verlegt, so hat dieses unverzüglich von Amts wegen die Verlegung dem Gericht des neuen Sitzes mitzuteilen. 2Der Mitteilung sind die Eintragungen für den bisherigen Sitz sowie die bei dem bisher zuständigen Gericht aufbewahrten Urkunden beizufügen; bei elektronischer Registerführung sind die Eintragungen und die Dokumente elektronisch zu übermitteln. 3Das Gericht des neuen Sitzes hat zu prüfen, ob die Verlegung ordnungsgemäß beschlossen und § 30 des Handelsgesetzbuchs beachtet ist. 4Ist dies der Fall, so hat es die Sitzverlegung einzutragen und hierbei die ihm mitgeteilten Eintragungen ohne weitere Nachprüfung in sein Handelsregister zu übernehmen. 5Mit der Eintragung wird die Sitzverlegung wirksam. 6Die Eintragung ist dem Gericht des bisherigen Sitzes mitzuteilen. 7Dieses hat die erforderlichen Löschungen von Amts wegen vorzunehmen.

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§ 45

Sitzverlegung

(3) 1Wird der Sitz an einen anderen Ort innerhalb des Bezirks des Gerichts des bisherigen Sitzes verlegt, so hat das Gericht zu prüfen, ob die Sitzverlegung ordnungsgemäß beschlossen und § 30 des Handelsgesetzbuchs beachtet ist. 2Ist dies der Fall, so hat es die Sitzverlegung einzutragen. 3Mit der Eintragung wird die Sitzverlegung wirksam. Literatur: Bormann/Stelmaszcyk, Grenzüberschreitende Spaltungen und Formwechsel nach dem EU-Company Law Package, ZIP 2019, 353; Bungert/Becker, Der finale EU-Richtlinienentwurf zu grenzüberschreitenden Formwechseln, Verschmelzungen und Spaltungen, DB 2019, 1609; Heckschen, Grenzüberschreitende Sitzverlegung und grenzüberschreitender Rechtsformwechsel, GWR 2020, 449; Heckschen/Stemaszczyk, Grenzüberschreitende Umwandlungen in der Übergangszeit bis zur Transformation der neuen Umwandlungsrichtlinie, BB 2020, 1734; Kumpan/Pauschinger, Entwicklungen des Europäischen Gesellschaftsrechts 2019 und 2020, EuZW 2020, 909; Schmidt, BB-Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsreport zum Europäischen Unternehmensrecht 2019/20, BB 2020, 1794; Schmidt, Formwechsel in der EU. Eckpunkte des Rechtsrahmens und Herausforderungen bei der Umsetzung, ZEuP 2020, 564; Schollmeyer, Der Verschmelzungs-, Spaltungs- und Formwechselbericht nach der neuen Umwandlungsrichtlinie, AG 2019, 541; Schön, Zur Grundfreiheitenbindung des Unionsgesetzgebers im Europäischen Gesellschaftsrecht, in: Festschrift für Christine Windbichler, 2020, S. 1039 ff.; Schön, Missbrauchskontrolle im Europäischen Umwandlungsrecht, in: Festschrift für Gerd Krieger, 2020, S. 879 ff.; Schön, Rechtsmissbrauch im europäischen (Steuer-)Recht, EuZW 2020, 637 (Teil 1) und EuZW 2020, 685 (Teil 2); Schulte, Grenzüberschreitende Umwandlungen und Spaltungen, GmbHR 2020, 139; Stelmaszczyk, Der grenzüberschreitende Formwechsel von Kapitalgesellschaften nach geltendem und künftigem Recht, notar 2021, 107 (Teil I) und notar 2021, 147 (Teil II); Stelmaszczyk, Grenzüberschreitende Spaltungen de lege lata und de lege ferenda, Der Konzern 2021, 1 (Teil I) und Der Konzern 2021, 48 (Teil II); Stelmaszczyk, Die neue Umwandlungsrichtlinie – harmonisierte Verfahren für grenzüberschreitende Verschmelzungen, Spaltungen und Formwechsel, GmbHR 2020, 61; Stiegler, Zustimmungspflichtige Verwaltungssitzverlegung?, NZG 2021, 705.

Übersicht I. Überblick ........................................... II. Anmeldung der Sitzverlegung (§ 45 Abs. 1) ....................................... III. Sitzverlegung in einen anderen Gerichtsbezirk (§ 45 Abs. 2) ............ 1. Aufteilung der Zuständigkeiten ........ 2. Bisher zuständiges Registergericht .... I.

1 4 7 7 8

3. Neues Registergericht ...................... 12 IV. Sitzverlegung innerhalb desselben Gerichtsbezirks (§ 45 Abs. 3) ..................................... 18 V. Grenzüberschreitende Sitzverlegung .......................................... 19

Überblick

1 Sitz der Gesellschaft ist der Ort im Inland, den die Satzung bestimmt (§§ 5, 23 Abs. 3 Nr. 1). Der Sitz der Gesellschaft kann frei gewählt werden. Der Satzungssitz muss insbesondere nicht mit dem Verwaltungssitz, der inländischen Geschäftsanschrift (siehe §§ 37 Abs. 3 Nr. 1, 39 Abs. 1 Satz 1) oder der Lage der Geschäftsräume übereinstimmen (§ 24 Abs. 2 und 3 HRV).1) Der Sitz der Gesellschaft wird im Handelsregister eingetragen (§ 39 Abs. 1 Satz 1) und bekannt gemacht (§ 10 HGB). Der Satzungssitz hat vor allem Bedeutung für die Zuständigkeit von Gerichten und Behörden (siehe etwa § 14 AktG; § 17 Abs. 1 ZPO, § 3 Abs. 1 InsO oder § 20 Abs. 2 AO i. V. m. § 10 AO). Der Satzungssitz ist darüber hinaus der Ort, an dem regelmäßig die Hauptversammlung der Gesellschaft stattfindet (§ 121 Abs. 5 Satz 1). _____________ 1)

244

S. KG Berlin, Beschl. v. 20.3.2012 – 25 W 99/11, GmbHR 2012, 798 – keine Notwendigkeit der Übereinstimmung von Sitz und Geschäftsanschrift bei einer GmbH.

Thomas Wachter

§ 45

Sitzverlegung

Die Sitzverlegung der Gesellschaft ist eine Satzungsänderung (§§ 179 ff.). Der Vorstand 2 muss die Änderung des Satzungssitzes daher zur Eintragung in das Handelsregister anmelden (§ 181 Abs. 1 Satz 1). Die Änderung wird erst mit Eintragung im Handelsregister wirksam (§ 181 Abs. 3). Bei einer Sitzverlegung innerhalb ein und desselben Gerichtsbezirks gelten die allgemeinen Vorschriften (siehe auch § 45 Abs. 3). Wird der Sitz der Gesellschaft dagegen in den Bezirk eines anderen Registergerichts verlegt, sind die Zuständigkeiten des abgebenden und des aufnehmenden Registergerichts voneinander abzugrenzen. Der Gesetzgeber hat dies dahingehend geregelt, dass die Sitzverlegung noch beim bisher zuständigen Registergericht anzumelden ist (§ 45 Abs. 1), dieses dann die Akten zur weiteren (materiellen) Prüfung an das neue Registergericht übermittelt (§ 45 Abs. 2). Das neue Registergericht entscheidet dann über die Rechtmäßigkeit der Sitzverlegung. Mit Eintragung der Sitzverlegung im Handelsregister des neuen Registergerichts wird die Sitzverlegung wirksam. Das neue Registergericht informiert das bisher zuständige Registergericht über die erfolgte Eintragung, das sodann die dort noch vorhandenen Eintragungen löschen kann (siehe auch § 20 HRV). Die Vorschrift (des § 45) betrifft nur die Verlegung des Satzungssitzes im Inland. Nicht 3 geregelt sind dagegen die Verlegung des Verwaltungssitzes und die grenzüberschreitende Verlegung des Satzungs- und/oder Verwaltungssitzes.2) Die Vorschrift gilt im GmbH-Recht entsprechend. II.

Anmeldung der Sitzverlegung (§ 45 Abs. 1)

Die Verlegung des Satzungssitzes ist – wie jede andere Satzungsänderung – vom Vorstand 4 zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden (§ 181 Abs. 1 Satz 1). Dabei ist die Anmeldung an das Registergericht des bisherigen Sitzes (und noch nicht an das Registergericht des neuen Sitzes) zu richten (§ 45 Abs. 1 i. V. m. §§ 5, 14 AktG; § 8 HGB, § 23a Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 3 GVG, §§ 374 ff. FamFG, § 17 Nr. 1 lit. b RPflG). Diese Zuständigkeitsregelung erscheint auch deshalb sachgerecht, weil die Sitzverlegung erst mit Eintragung im Handelsregister wirksam wird (§ 45 Abs. 2 Satz 5 und Abs. 3 Satz 3, § 181 Abs. 3) und demnach im Zeitpunkt der Anmeldung noch nicht wirksam ist. Für die Anmeldung der Sitzverlegung gelten i. Ü. die allgemeinen Vorschriften. Die An- 5 meldung ist demnach von den Mitgliedern des Vorstands in vertretungsberechtigter Zahl zu unterzeichnen (§ 78).3) Stellvertretung bei der Anmeldung ist zulässig (siehe § 12 Abs. 1 Satz 2 HGB). Die Anmeldung muss öffentlich beglaubigt werden und elektronisch an das Handelsregister übermittelt werden (§ 12 HGB, §§ 39 ff. BeurkG, § 378 Abs. 3 FamFG). Der Anmeldung ist der satzungsändernde Beschluss der Hauptversammlung und der neue Satzungswortlaut samt Bescheinigung des Notars beizufügen (§ 181 Abs. 1 Satz 2). Die Sitzverlegung ist in der Anmeldung schlagwortartig anzugeben (siehe § 181 Abs. 2). Das weitere gerichtliche Verfahren richtet sich danach, ob sich der neue Satzungssitz in 6 demselben Gerichtsbezirk (dann § 45 Abs. 3) oder einem anderen Gerichtsbezirk (dann § 45 Abs. 2) befindet. III.

Sitzverlegung in einen anderen Gerichtsbezirk (§ 45 Abs. 2)

1.

Aufteilung der Zuständigkeiten

Bei der Verlegung des Satzungssitzes in den Bezirk eines anderen Registergerichts sind 7 die Zuständigkeiten zwischen den beiden beteiligten Registergerichten wie folgt aufge_____________ 2) 3)

K. Schmidt/Lutter-Zimmer, AktG, § 45 Rz. 2. Hölters-Solveen, AktG, § 45 Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 45 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Zimmer, AktG, § 45 Rz. 3.

Thomas Wachter

245

§ 45

Sitzverlegung

teilt: das bisherige Registergericht nimmt die Anmeldung entgegen (§ 45 Abs. 1) und prüft lediglich ihre formelle Ordnungsmäßigkeit, dem Registergericht am neuen Sitz der Gesellschaft obliegt dann die materielle Prüfung der Sitzverlegung sowie die Entscheidung über die Eintragung der Sitzverlegung (§ 45 Abs. 2). 2.

Bisher zuständiges Registergericht

8 Das Registergericht am bisherigen Sitz der Gesellschaft prüft die formelle Ordnungsmäßigkeit der Anmeldung.4) Dazu gehört bspw. die Vollständigkeit der eingereichten Unterlagen (siehe §§ 179, 181), die Einhaltung der gesetzlichen Formvorschriften (§ 12 HGB) und die Unterzeichnung der Anmeldung durch die vertretungsberechtigten Personen (§ 78). 9 Ist die Handelsregisteranmeldung formell ordnungsgemäß, hat das Registergericht des bisherigen Sitzes dem Registergericht des neuen Sitzes die beschlossene Sitzverlegung unverzüglich mitzuteilen (§ 45 Abs. 2 Satz 1). Der Mitteilung sind die vollständigen Registerakten (Eintragungen sowie aufbewahrte Urkunden) beizufügen und elektronisch zu übermitteln (§ 45 Abs. 2 Satz 2). Damit endet die Zuständigkeit des Registergerichts des bisherigen Sitzes. Das bisher zuständige Registergericht darf (und muss) insbesondere die Sitzverlegung nicht im Handelsregister eintragen (§ 45 Abs. 2 Satz 4 und Satz 5).5) 10 Das Registergericht des bisherigen Sitzes wird die Anmeldung im Regelfall auch dann unverzüglich an das Registergericht des neuen Sitzes weiterleiten, wenn in der Anmeldung neben der Sitzverlegung zugleich noch weitere eintragungspflichtige Tatsachen angemeldet werden (§ 45 Abs. 2 Satz 1 AktG; § 25 Abs. 1 Satz 2 HRV).6) Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn die Beteiligten in der Anmeldung ausdrücklich einen abweichenden Vollzug beantragen (z. B. Eintragung eines neuen Mitglieds des Vorstands noch beim bisherigen Registergericht und vor der Sitzverlegung). 11 Führt die formelle Prüfung der Handelsregisteranmeldung zu Beanstandungen wird das Registergericht des bisherigen Sitzes den Beteiligten mittels einer Zwischenverfügung eine Frist zur Behebung des Eintragungshindernisses setzen (§ 382 Abs. 4 FamFG, § 26 HRV). 3.

Neues Registergericht

12 Nach (elektronischem) Eingang der Registerakten von dem bisher zuständigen Registergericht hat das Registergericht des neuen Sitzes die materielle Ordnungsmäßigkeit der Sitzverlegung zu prüfen. Dies umfasst zum einen die Wirksamkeit der Beschlussfassung über die Sitzverlegung (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 i. V. m. §§ 179 ff.) und zum anderen die Zulässigkeit der Firma am neuen Satzungssitz (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 2 AktG i. V. m. § 30 HGB).7) Nicht zu prüfen ist dagegen, die Zulässigkeit der Firma im Übrigen (§ 45 Abs. 2 Satz 4 Halbs. 2 AktG und §§ 18 ff. HGB) und das Vorliegen einer Gewerbeummeldung.8) _____________ 4)

5) 6)

7) 8)

246

Zum GmbH-Recht OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 30.4.2002 – 20 W 137/2002, DB 2002, 2209 = NZG 2002, 1119. Hölters-Solveen, AktG, § 45 Rz. 5 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 45 Rz. 3; K. Schmidt/ Lutter-Zimmer, AktG, § 45 Rz. 5. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 45 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Zimmer, § 45 Rz. 7. So zum GmbH-Recht etwa OLG Zweibrücken, Beschl. v. 15.10.1991 – 2 AR 41/91, GmbHR 1992, 678; OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 30.7.1991 – 20 W 237/91, Rpfleger 1991, 508; OLG Hamm, Beschl. v. 25.3.1991 – 15 Sbd 4/91, GmbHR 1991, 321, dazu EWiR 1994, 1209 (Meyding). Ausführlich zum Ganzen K. Schmidt/Lutter-Zimmer, AktG, § 45 Rz. 8 m. w. N. zur Rspr. Hölters-Solveen, AktG, § 45 Rz. 7; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 45 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Zimmer, AktG, § 45 Rz. 10 ff. LG Augsburg, Beschl. v. 29.1.2008 – 2 HK T 65/08, NZG 2009, 195.

Thomas Wachter

§ 45

Sitzverlegung

Für die Wirksamkeit des Beschlusses über die Sitzverlegung kommt es u. a. darauf an, ob die 13 Hauptversammlung ordnungsgemäß einberufen worden ist (§§ 121 ff.), der Beschluss mit der erforderlichen Mehrheit gefasst (§ 179 Abs. 2) und notariell beurkundet worden ist (§ 130). Die Zulässigkeit der Firma setzt u. a. voraus, dass sie sich (auch nach der Sitzverlegung) von 14 allen an demselben Ort oder in derselben Gemeinde bereits bestehenden und in das Handelsregister oder das Genossenschaftsregister eingetragenen Firmen deutlich unterscheidet (§ 30 Abs. 1 HGB). Der Rechtsformzusatz (§ 4) ist allein kein ausreichendes Unterscheidungsmerkmal. Kommt das Registergericht zu dem Ergebnis, dass die Sitzverlegung auch materiell ord- 15 nungsgemäß ist, hat es die Sitzverlegung in das Handelsregister einzutragen (§ 45 Abs. 2 Satz 4 Halbs. 1). Die bereits vorhandenen Eintragungen, die ihm vom Registergericht des bisherigen Sitzes mitgeteilt worden sind, sind dabei ohne weitere Nachprüfung in das Handelsregister am neuen Sitz zu übernehmen (§ 45 Abs. 2 Satz 4 Halbs. 2). Dem Registergericht des neuen Sitzes steht insoweit kein Prüfungs- und Beanstandungsrecht zu. Mit der Eintragung im Handelsregister wird die Sitzverlegung wirksam (§ 45 Abs. 2 Satz 5; siehe auch § 181 Abs. 3).9) Die Eintragung ist unverändert bekannt zu machen (§ 10 HGB). Das Registergericht des neuen Sitzes hat die erfolgte Handelsregistereintragung sodann 16 dem Registergericht des bisherigen Sitzes elektronisch mitzuteilen (§ 45 Abs. 2 Satz 6). Dieses hat dann die bisherigen Eintragungen von Amts wegen zu löschen (§ 45 Abs. 2 Satz 7 AktG i. V. m. § 20 HRV). Auf das Registerblatt des neuen Registergerichts wird verwiesen. Kommt das Registergericht des neuen Sitzes zu dem Ergebnis, dass die beschlossene Sitz- 17 verlegung materiell nicht ordnungsgemäß ist, gibt es den Beteiligten mittels Zwischenverfügung auf, das Hindernis zu beseitigen (§ 382 Abs. 4 FamFG, § 26 HRV). Wird das Hindernis nicht behoben, weist das Registergericht die Anmeldung zurück.10) Die Sitzverlegung ist dann mangels Eintragung nicht wirksam geworden (§ 45 Abs. 2 Satz 5). Die Registerakten sind wieder an das bisher (und jetzt weiterhin) zuständige Registergericht zurückzugeben. Dieses ist jetzt wieder alleine zuständig. Die dortigen Eintragungen sind noch unverändert vorhanden (§ 45 Abs. 2 Satz 7 AktG i. V. m. § 20 HRV). IV.

Sitzverlegung innerhalb desselben Gerichtsbezirks (§ 45 Abs. 3)

Bei einer Sitzverlegung innerhalb ein und desselben Gerichtsbezirks bleibt die Zuständig- 18 keit unverändert, so dass eine Regelung des Zusammenwirkens mehrerer Registergerichte entbehrlich ist. Das (bisherige und neue) Registergericht hat zu prüfen, ob die Sitzverlegung ordnungsgemäß angemeldet und beschlossen worden ist und die Firma auch am neuen Satzungssitz zulässig ist (§ 45 Abs. 3 Satz 1). Ist dies der Fall, hat das Registergericht die Sitzverlegung einzutragen (§ 45 Abs. 3 Satz 2). Mit der Eintragung wird die Sitzverlegung wirksam (§ 45 Abs. 3 Satz 3; siehe auch § 181 Abs. 3 Satz 3). Bei etwaigen Mängeln der Sitzverlegung sind diese zu beseitigen (siehe § 382 Abs. 4 FamFG, § 26 HRV) bzw. die Anmeldung zurückzuweisen.

_____________ 9) OLG Hamm, Urt. v. 17.11.2003 – 8 U 7/03, AG 2004, 147 – zur örtlichen Zuständigkeit für eine Anfechtungsklage gegen die Sitzverlegung einer AG; OLG Hamm, Beschl. v. 19.8.1996 – 15 W 127/96, GmbHR 1996, 858 – zum GmbH-Recht. 10) LG Leipzig, Beschl. v. 15.3.2004 – 3 HK T 4403/03, NZG 2004, 629. K. Schmidt/Lutter-Zimmer, AktG, § 45 Rz. 14 f.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 45 Rz. 16. A. A. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 45 Rz. 5 – Zurückweisung an das Registergericht des bisherigen Sitzes.

Thomas Wachter

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§ 46 V.

Verantwortlichkeit der Gründer Grenzüberschreitende Sitzverlegung

19 Der Satzungssitz einer deutschen AG muss stets in Deutschland liegen (§ 5). Eine Verlegung des Satzungssitzes ist nur innerhalb Deutschlands möglich (§ 45 Abs. 1). Eine Verlegung des Satzungssitzes ins Ausland ist bei einer deutschen AG grundsätzlich unzulässig. Dies galt bislang auch innerhalb der Mitgliedstaaten der EU und des EWR.11) 20 Eine grenzüberschreitende Verlegung des Satzungssitzes war bzw. ist derzeit nur bei einer Europäischen Gesellschaft (SE) möglich (Art. 8 SE-VO). _____________ 11) Die Zulässigkeit eines grenzüberschreitenden Formwechsels (von Polen nach Luxemburg) wurde vom EuGH, Urt. v. 25.10.2017 – C-106/16 (Polbud-Wykonawstwo sp. z.o.o. i. L.), ZIP 2017, 2145, dazu EWiR 2018, 7 (de Raet), bejaht und ist nach Maßgabe der am 1.1.2020 in Kraft getretenen Mobilitätsrichtlinie gesetzlich zulässig (Richtlinie [EU] 2019/2121 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.11.2019 zur Änderung der Richtlinie [EU] 2017/1132 in Bezug auf grenzüberschreitende Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen, ABl. [EU] L 321/1 v. 12.12.2019). Die Richtlinie muss bis zum 31.1.2023 in deutsches Recht umgesetzt werden. – S. zum Ganzen u. a. Schmidt, ZEuP 2020, 564; Schulte, GmbHR 2020, 139; Stelmaszczyk, GmbHR 2020, 61.

§ 46 Verantwortlichkeit der Gründer Thomas Wachter

(1) 1Die Gründer sind der Gesellschaft als Gesamtschuldner verantwortlich für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben, die zum Zwecke der Gründung der Gesellschaft über Übernahme der Aktien, Einzahlung auf die Aktien, Verwendung eingezahlter Beträge, Sondervorteile, Gründungsaufwand, Sacheinlagen und Sachübernahmen gemacht worden sind. 2Sie sind ferner dafür verantwortlich, daß eine zur Annahme von Einzahlungen auf das Grundkapital bestimmte Stelle (§ 54 Abs. 3) hierzu geeignet ist und daß die eingezahlten Beträge zur freien Verfügung des Vorstands stehen. 3 Sie haben, unbeschadet der Verpflichtung zum Ersatz des sonst entstehenden Schadens, fehlende Einzahlungen zu leisten und eine Vergütung, die nicht unter den Gründungsaufwand aufgenommen ist, zu ersetzen. (2) Wird die Gesellschaft von Gründern durch Einlagen, Sachübernahmen oder Gründungsaufwand vorsätzlich oder aus grober Fahrlässigkeit geschädigt, so sind ihr alle Gründer als Gesamtschuldner zum Ersatz verpflichtet. (3) Von diesen Verpflichtungen ist ein Gründer befreit, wenn er die die Ersatzpflicht begründenden Tatsachen weder kannte noch bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes kennen mußte. (4) Entsteht der Gesellschaft ein Ausfall, weil ein Aktionär zahlungsunfähig oder unfähig ist, eine Sacheinlage zu leisten, so sind ihr zum Ersatz als Gesamtschuldner die Gründer verpflichtet, welche die Beteiligung des Aktionärs in Kenntnis seiner Zahlungsunfähigkeit oder Leistungsunfähigkeit angenommen haben. (5) 1Neben den Gründern sind in gleicher Weise Personen verantwortlich, für deren Rechnung die Gründer Aktien übernommen haben. 2Sie können sich auf ihre eigene Unkenntnis nicht wegen solcher Umstände berufen, die ein für ihre Rechnung handelnder Gründer kannte oder kennen mußte.

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Thomas Wachter

§ 46

Verantwortlichkeit der Gründer Übersicht I. Überblick ............................................ 1 II. Gläubiger und Schuldner ................. 6 III. Haftungstatbestand ........................... 9 1. Haftung für unrichtige Angaben (§ 46 Abs. 1) ....................................... 9 I.

2. Haftung für Schäden durch Einlagen (§ 46 Abs. 2) ...................... 3. Ausfallhaftung (§ 46 Abs. 4) ........... IV. Umfang der Haftung ...................... V. Varia zur Haftung ...........................

16 18 22 23

Überblick

Die Gründer und ihre Hintermänner sind für die Ordnungsgemäßheit des gesamten Grün- 1 dungsvorgangs zivilrechtlich (§ 46) und strafrechtlich (§ 399 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2) verantwortlich. Für etwaige Schäden haften sie der Gesellschaft persönlich und als Gesamtschuldner. Zweck der Vorschrift ist der Schutz der Gesellschaft vor Schäden bei der Gründung und die Sicherung der Kapitalaufbringung.1) Die Vorschrift stellt das Herzstück der gesamten Regelungen über die Gründungshaf- 2 tung (§§ 46 – 51) dar. Neben den Gründern und deren Hintermännern sind auch weitere Personen für die Einhaltung der gesetzlichen Gründungsvorschriften verantwortlich. Dazu gehören die Gründergenossen (§ 47 Nr. 1 und Nr. 2), die Emittenten von Aktien (§ 47 Nr. 3), die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats (§ 48) sowie der Gründungsprüfer (§ 49). Im Interesse der (künftigen) Aktionäre und der Gläubiger der Gesellschaft kann die Gesellschaft über die ihr zustehenden Schadensersatzansprüche (nach §§ 46 – 48) nur eingeschränkt verfügen (siehe § 50). Zudem verjähren die Ersatzansprüche (nach §§ 46 – 48) frühestens nach fünf Jahren (§ 51). Die zivilrechtliche Gründungshaftung wird durch die Strafbarkeit falscher oder unvollständiger Angaben ergänzt (insbesondere § 399 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 3). Zu den zahlreichen Rechtsfragen der gesamten Gründungshaftung gibt es bis heute kaum 3 Rechtsprechung. Dies zeigt, dass sich die präventive Kontrolle des Gründungsvorgangs durch Notar (siehe § 23 Abs. 1) und Registergericht (siehe § 38 Abs. 1) in der Praxis bestens bewährt hat. Die Haftung der Gründer (und auch der weiteren Personen) ist verschuldensabhängig 4 (siehe § 46 Abs. 3). Es handelt sich um eine spezifisch gesellschaftsrechtliche (und nicht etwa um eine deliktsrechtliche) Haftung2) aufgrund von Pflichtverletzungen bei der Gründung der Gesellschaft. Die Haftung ist zwingend.3) Neben der Gründungshaftung (nach § 46) können auch Schadensersatzansprüche nach 5 den Grundsätzen der Handelndenhaftung (siehe § 41), der Verlustdeckungshaftung oder wegen unerlaubter Handlung bestehen (z. B. nach §§ 826, 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 399 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AktG oder §§ 263, 266 StGB). §§ 46 ff. AktG sind aber selbst keine Schutzgesetze i. S. von §§ 823 ff. BGB.4) II.

Gläubiger und Schuldner

Gläubiger des Anspruchs ist die Gesellschaft, die mit Eintragung im Handelsregister als 6 juristische Person entsteht (§ 46 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 41 Abs. 1 Satz 1). Die Vor-AG _____________ 1)

2) 3) 4)

Grundlegend BGH, Urt. v. 27.2.1975 – II ZR 111/72, BGHZ 64, 52 = NJW 1975, 974. Hölters-Solveen, AktG, § 46 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 46 Rz. 1; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 46 Rz. 1; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 46 Rz. 1; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 46 Rz. 5. Hölters-Solveen, AktG, § 46 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 46 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 46 Rz. 2. Hölters-Solveen, AktG, § 46 Rz. 21; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 46 Rz. 1. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 46 Rz. 3 f.; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 46 Rz. 3.

Thomas Wachter

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§ 46

Verantwortlichkeit der Gründer

ist noch nicht anspruchsberechtigt (siehe auch § 51 Satz 2 Halbs. 1). Ansprüche Dritter können nur nach allgemeinen Vorschriften (z. B. §§ 823 ff. BGB) bestehen.5) 7 Schuldner des Anspruchs sind die Gründer (§ 28) sowie deren Hintermänner (§ 46 Abs. 5). Mit der Haftung der Hintermänner soll eine Umgehung der Gründungshaftung verhindert werden.6) Für den Gründer haften in diesem Fall zwei Personen gleichrangig: der „Vordermann“ (Strohmann, Treuhänder) (nach § 46 Abs. 1 bis Abs. 4) und der „Hintermann“ (Auftraggeber, Treugeber) (nach § 46 Abs. 5). Die Haftung des Hintermanns entfällt nur dann, wenn er nachweisen kann, dass sowohl er selbst als auch der Vordermann nicht schuldhaft gehandelt haben (siehe § 46 Abs. 5 Satz 2). Dabei gilt auch insoweit der Sorgfaltsmaßstab eines ordentlichen Geschäftsmannes. Eine Einschränkung der Haftung bei Hintermännern, die praktisch keinen Einfluss auf die Gründung genommen haben, kommt nicht in Betracht. 8 Die Regelung für Hintermänner (§ 46 Abs. 5) findet keine Anwendung auf Gründer, für die ein gesetzlicher oder rechtsgeschäftlicher Vertreter (offen) gehandelt hat. Gründer ist in diesem Fall allein der Vertretene (siehe § 28). Diesen trifft die Gründerhaftung (nach § 46 Abs. 1 bis Abs. 4). Der Vertreter ist nicht Gründer und haftet daher allenfalls nach Deliktsrecht. III.

Haftungstatbestand

1.

Haftung für unrichtige Angaben (§ 46 Abs. 1)

9 Die Gründer sind gegenüber der Gesellschaft dafür verantwortlich, dass bestimmte zum Zwecke der Gründung der Gesellschaft gemachte Angaben vollständig und richtig sind (§ 46 Abs. 1 Satz 1). Dazu gehören die Angaben über –

die Übernahme der Aktien (§ 23 Abs. 2 Nr. 2);



die Einzahlung auf die Aktien (§§ 23 Abs. 2 Nr. 3, 36 Abs. 2, 36a Abs. 1, 37 Abs. 1);



die Verwendung der eingezahlten Beträge (§§ 36 Abs. 2, 37 Abs. 1 Satz 5);



etwaige Sondervorteile (§ 26 Abs. 1);



den Gründungsaufwand (§ 26 Abs. 2) sowie



die Sacheinlagen und Sachübernahmen (§ 27, z. B. auch zu verdeckten Sacheinlagen nach § 27 Abs. 3 oder zum Hin- und Herzahlen nach § 27 Abs. 4).

10 Die Aufzählung ist abschließend.7) Andere Angaben (z. B. über den Ausgabebetrag der Aktien (§§ 23 Abs. 2 Nr. 2, 9 Abs. 1) sind nicht erfasst (siehe demgegenüber § 399 Abs. 1 Nr. 1). 11 Die Angaben müssen zum Zwecke der Gründung der Gesellschaft gemacht worden sein. Die Verantwortlichkeit der Gründer umfasst somit nur Angaben gegenüber den Gründungsprüfern, den Mitgliedern des Vorstands und des Aufsichtsrats, dem kontoführenden Kreditinstitut (siehe §§ 37 Abs. 1, 54 Abs. 3), dem beurkundenden Notar und dem Registergericht, nicht aber auch Angaben gegenüber Finanz- und Verwaltungsbehörden8) oder Kammern (siehe § 379 FamFG). _____________ 5) 6) 7) 8)

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Hölters-Solveen, AktG, § 46 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 46 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 46 Rz. 4; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 46 Rz. 78 ff.; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 46 Rz. 23. Hölters-Solveen, AktG, § 46 Rz. 20; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 46 Rz. 22; Pentz in: MünchKommAktG, § 46 Rz. 60. Hölters-Solveen, AktG, § 46 Rz. 8; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 46 Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 46 Rz. 7. K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 46 Rz. 7. A. A. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 46 Rz. 6 – unter Hinweis auf § 37 Abs. 4 Nr. 5 a. F.; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 46 Rz. 18; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 46 Rz. 4.

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§ 46

Verantwortlichkeit der Gründer

Die falschen Angaben müssen von einem Gründer gemacht werden. Dies ergibt sich 12 zwar nicht ausdrücklich aus dem Gesetzeswortlaut, folgt aber aus dem Gesamtzusammenhang. Eine Haftung für falsche Angaben Dritter (z. B. eines Gründungsprüfers) kommt – entgegen der h. M.9) – nicht in Betracht. Etwas anderes gilt nur dann, wenn sich die Gründer die falschen Angaben des Dritten zu eigen gemacht haben (z. B. in der Handelsregisteranmeldung). Die Angaben müssen objektiv unrichtig oder unvollständig sein. Unrichtig sind Angaben, 13 die mit den tatsächlichen Gegebenheiten nicht übereinstimmen (z. B. im Falle einer verdeckten Sacheinlage nach § 27 Abs. 3). Unvollständig sind Angaben, wenn sie nicht alle für die Gründung maßgeblichen Informationen enthalten (z. B. keine Offenlegung des Hinund Herzahlens nach § 27 Abs. 4 Satz 2). Maßgebend für die Richtigkeit und Vollständigkeit ist nicht der Zeitpunkt, zu dem die Angaben gemacht werden,10) sondern der Zeitpunkt, in dem die Angaben, dem jeweiligen Empfänger zugehen (siehe § 130 BGB).11) Bis zu diesem Zeitpunkt (z. B. Zugang der Handelsregisteranmeldung beim Registergericht) können die Gründer die Angaben auch noch mit haftungsbefreiender Wirkung berichtigen oder vervollständigen. Die Gründer sind darüber hinaus auch dafür verantwortlich, dass das Kreditinstitut, auf 14 dessen Konto die Bareinlagen eingezahlt werden, als Zahlstelle geeignet ist (§ 54 Abs. 3) und die eingezahlten Beträge endgültig (siehe § 36 Abs. 2 Halbs. 2) zur freien Verfügung des Vorstands stehen (§ 46 Abs. 1 Satz 2; siehe auch § 48 Satz 1 Halbs. 2). Die Gründer haften für jedes Verschulden (einschließlich leichter Fahrlässigkeit), das zudem 15 widerlegbar vermutet wird (§ 46 Abs. 3). 2.

Haftung für Schäden durch Einlagen (§ 46 Abs. 2)

Die Gründer haften weiter für Schäden, die der Gesellschaft durch Einlagen, Sachüber- 16 nahmen oder Gründungsaufwand entstehen (§ 46 Abs. 2). Beispiele dafür sind etwa bloße Scheineinzahlungen, die Überbewertung von Sacheinlagen, oder ein unangemessen hoher oder nicht ordnungsgemäß festgesetzter Gründungsaufwand. Die Haftung nach § 46 Abs. 2 ist nicht subsidiär gegenüber der Haftung nach § 46 Abs. 1.12) Die Gründer haften für vermutetes Verschulden (§ 46 Abs. 3),13) allerdings (anders als bei 17 § 46 Abs. 1) nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit (§ 46 Abs. 2). 3.

Ausfallhaftung (§ 46 Abs. 4)

Schließlich trifft die Gründer gegenüber der Gesellschaft eine Ausfallhaftung, wenn sie die 18 Beteiligung eines Gründers angenommen haben, obwohl sie wussten, dass dieser bereits bei Gründung zahlungs- bzw. leistungsunfähig war (§ 46 Abs. 4). _____________ 9) Hölters-Solveen, AktG, § 46 Rz. 8; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 46 Rz. 6; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 46 Rz. 21; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 46 Rz. 8; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 46 Rz. 4. 10) So aber zum GmbH-Recht – OLG Bremen, Urt. v. 6.5.1997 – 2 U 135/96, GmbHR 1998, 40. Zustimmend Bürgers/Körber/Lieder-Körber, AktG, § 46 Rz. 8; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 46 Rz. 23. Differenzierend – grundsätzlich Zeitpunkt der Abgabe, bei Angaben gegenüber Registergericht aber Eingang – Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 46 Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 46 Rz. 1. 11) So auch Hölters-Solveen, AktG, § 46 Rz. 8. Anders zum GmbH-Recht – maßgeblich ist Zeitpunkt der Eintragung – OLG Rostock, Urt. v. 2.2.1995 – 1 U 191/94, GmbHR 1995, 658 = BB 1995, 1920. 12) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 46 Rz. 11; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 46 Rz. 42. A. A. K. Schmidt/ Lutter-Bayer, AktG, § 46 Rz. 13. 13) Gegen die Verschuldensvermutung – K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 46 Rz. 14 und Rz. 20. Differenzierend Pentz in: MünchKomm-AktG, § 46 Rz. 43 f. und 65 f.

Thomas Wachter

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§ 46

Verantwortlichkeit der Gründer

19 Die Haftung der Gründer setzt voraus, dass die Gesellschaft einen Ausfall erleidet. Der Ausfall muss darauf beruhen, dass ein Gründer nicht in der Lage ist, die versprochene Einlage (bei Bareinlagen wegen Zahlungsunfähigkeit und bei Sacheinlagen wegen Leistungsunfähigkeit) zu erbringen. Die Ausfallhaftung setzt nicht voraus, dass gegen den leistungsunfähigen Gründer zunächst Klage erhoben wird bzw. Vollstreckungsmaßnahmen eingeleitet werden. Die vorherige Durchführung eines Kaduzierungsverfahrens (§ 64) ist gleichfalls nicht erforderlich.14) 20 Die Zahlungs- bzw. Leistungsunfähigkeit des Gründers muss bereits im Zeitpunkt der Annahme der Beteiligung, d. h. bei Feststellung der Satzung (§ 23 Abs. 1 Satz 1) bestanden haben.15) Eine nachträglich eintretende Leistungsunfähigkeit begründet somit keine Ausfallhaftung der Gründer. 21 Die Gründer trifft die Ausfallhaftung nur dann, wenn sie positive Kenntnis von der Zahlungs- bzw. Leistungsunfähigkeit hatten (siehe § 166 Abs. 1 BGB). Dies ist von der Gesellschaft darzulegen und zu beweisen. Das Verschulden der Gründer wird in diesem Fall nicht vermutet (§ 46 Abs. 3, der nur für die Haftung nach § 46 Abs. 1 und Abs. 2, nicht aber nach § 46 Abs. 4 gilt).16) IV.

Umfang der Haftung

22 Die Gründer und ihre Hintermänner sind der Gesellschaft zum Schadensersatz verpflichtet (§§ 249 ff. BGB). Die Gesellschaft ist dabei so zu stellen, wie sie bei einer ordnungsgemäßen Gründung stehen würde. Die Gründer sind insbesondere verpflichtet, fehlende Einzahlungen zu leisten und einen nicht ordnungsgemäß oder überhöht festgesetzten Gründungsaufwand zu ersetzen (§ 46 Abs. 1 Satz 3). Bei einer Überbewertung von Sacheinlagen haften die Gründer für die Differenz zwischen dem wirklichen Wert und dem festgesetzten Wert der Sache (einschließlich eines etwaigen Agios). Der Einwand des Mitverschuldens der Gesellschaft oder ihrer Organe ist aufgrund des Normzwecks allerdings ausgeschlossen (siehe §§ 254, 31 BGB).17) Mehrere Personen haften als Gesamtschuldner (§§ 421 ff. BGB).18) V.

Varia zur Haftung

23 Die Schadensersatzansprüche der Gesellschaft verjähren in fünf Jahren (§ 51). 24 Die Gesellschaft kann nur eingeschränkt auf einen begründeten Ersatzanspruch verzichten oder sich darüber vergleichen (§ 50). 25 Gerichtsstand: §§ 12, 22 ZPO, nicht § 32 ZPO.

_____________ 14) Hölters-Solveen, AktG, § 46 Rz. 18; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 46 Rz. 15; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 46 Rz. 16. 15) Bürgers/Körber/Lieder-Körber, AktG, § 46 Rz. 16; Hölters-Solveen, AktG, § 46 Rz. 18; K. Schmidt/ Lutter-Bayer, AktG, § 46 Rz. 17. 16) K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 46 Rz. 15; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 46 Rz. 57. 17) BGH, Urt. v. 27.2.1975 – II ZR 111/72, BGHZ 64, 52 = NJW 1975, 974. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 46 Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 46 Rz. 12; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 46 Rz. 67 ff. 18) Zu Regressfragen – K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 46 Rz. 23 ff.

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Thomas Wachter

Verantwortlichkeit anderer Personen neben den Gründern

§ 47

§ 47 Verantwortlichkeit anderer Personen neben den Gründern Thomas Wachter

Neben den Gründern und den Personen, für deren Rechnung die Gründer Aktien übernommen haben, ist als Gesamtschuldner der Gesellschaft zum Schadenersatz verpflichtet, 1. wer bei Empfang einer Vergütung, die entgegen den Vorschriften nicht in den Gründungsaufwand aufgenommen ist, wußte oder nach den Umständen annehmen mußte, daß die Verheimlichung beabsichtigt oder erfolgt war, oder wer zur Verheimlichung wissentlich mitgewirkt hat; 2. wer im Fall einer vorsätzlichen oder grobfahrlässigen Schädigung der Gesellschaft durch Einlagen oder Sachübernahmen an der Schädigung wissentlich mitgewirkt hat; 3. wer vor Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister oder in den ersten zwei Jahren nach der Eintragung die Aktien öffentlich ankündigt, um sie in den Verkehr einzuführen, wenn er die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der Angaben, die zum Zwecke der Gründung der Gesellschaft gemacht worden sind (§ 46 Abs. 1), oder die Schädigung der Gesellschaft durch Einlagen oder Sachübernahmen kannte oder bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes kennen mußte. Übersicht I. Überblick ............................................ 1 II. Gläubiger und Schuldner ................. 4 III. Haftungstatbestand ........................... 6 1. Haftung wegen verheimlichter Vergütung (§ 47 Nr. 1) ...................... 6 I.

2. Haftung wegen Mitwirkung bei der Schädigung (§ 47 Nr. 2) ........ 9 3. Haftung des Emittenten (§ 47 Nr. 3) ....................................... 10 IV. Varia zur Haftung ........................... 15

Überblick

Die Gründer (§ 46 Abs. 1 – 4 i. V. m. § 28) und deren Hintermänner (§ 46 Abs. 5) haften 1 gegenüber der Gesellschaft für Schäden, die dieser im Zusammenhang mit der Gründung entstehen. Daneben haften der Gesellschaft aber auch noch weitere Personen auf Schadensersatz (§ 47). Dabei handelt es sich um die sog. Gründergenossen (§ 47 Nr. 1 und Nr. 2) und die Emittenten der Aktien (§ 47 Nr. 3). Gründergenosse ist insbesondere wer eine (heimliche) Vergütung empfängt, die in der Satzung nicht als Gründungsaufwand (§ 26 Abs. 2) festgesetzt war (§ 47 Nr. 1), oder wer an der Schädigung der Gesellschaft wissentlich mitwirkt (§ 47 Nr. 2). Als Emittent der Aktien ist haftbar, wer Aktien durch öffentliche Ankündigung in den Verkehr bringt, obwohl ihm die Schädigung der Gesellschaft durch die Gründer bekannt war bzw. bekannt sein musste (§ 47 Nr. 3). Zweck der Vorschrift ist die Sicherung der ordnungsgemäßen Kapitalaufbringung durch eine Ausdehnung der Gründungshaftung. Die Haftung des Emittenten (§ 47 Nr. 3) dient darüber hinaus insbesondere auch dem Schutz der künftigen Aktionäre.1)

_____________ 1)

Hölters-Solveen, AktG, § 47 Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 47 Rz. 1; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 47 Rz. 1 f.; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 47 Rz. 1 und Rz. 8; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 47 Rz. 4.

Thomas Wachter

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§ 47

Verantwortlichkeit anderer Personen neben den Gründern

2 Die Haftung der Gründergenossen und der Emittenten ist verschuldensabhängig. Es handelt sich um eine spezifisch gesellschaftsrechtliche Haftung, die an die Mitwirkung der Beteiligten bei der Gründung der Gesellschaft anknüpft.2) 3 Neben der aktienrechtlichen Haftung (nach § 47) kommen auch Schadensersatzansprüche wegen unerlaubter Handlung (z. B. nach § 826 BGB, § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 263, 266 StGB oder § 399 Abs. 1 Nr. 3 AktG) in Betracht. Die Emittenten der Aktien können darüber hinaus auch nach zivilrechtlichen Prospekthaftungsgrundsätzen und wegen Verstoß gegen das Börsengesetz (z. B. nach §§ 44 ff. BörsG, § 13 VerkProspG) haften.3) II.

Gläubiger und Schuldner

4 Gläubiger des Anspruchs ist (wie bei der Gründungshaftung nach § 46) die Gesellschaft, die mit Eintragung im Handelsregister als juristische Person entsteht (§ 48 Satz 1 i. V. m. § 41 Abs. 1 Satz 1). Die Vor-AG ist noch nicht anspruchsberechtigt. Ansprüche Dritter können aber nach allgemeinen Vorschriften (z. B. §§ 823 ff. BGB, §§ 44 ff. BörsG) bestehen. 5 Schuldner des Anspruchs sind die Gründergenossen (§ 47 Nr. 1 und Nr. 2) und die Emittenten der Aktien. Mehrere Personen haften als Gesamtschuldner (§ 47 Halbs. 1 AktG i. V. m. §§ 421 ff. BGB). III.

Haftungstatbestand

1.

Haftung wegen verheimlichter Vergütung (§ 47 Nr. 1)

6 Die Haftung eines Gründergenossen setzt zunächst voraus, dass eine Vergütung in der Satzung nicht ordnungsgemäß als Gründungsaufwand (§ 26 Abs. 2) festgesetzt und der Öffentlichkeit demnach verheimlicht worden ist.4) 7 Die Haftung trifft zunächst dabei den Empfänger der Vergütung, der wusste oder annehmen musste, dass die Verheimlichung beabsichtigt oder erfolgt war (§ 47 Nr. 1 Alt. 1). Neben dem Empfänger der Vergütung haftet der Gesellschaft aber auch, wer an der Verheimlichung des Gründungsaufwands wissentlich mitgewirkt hat (§ 47 Nr. 1 Alt. 2). 8 Die Haftung richtet sich auf Schadensersatz (§§ 249 ff. BGB). Zum Schaden gehört zumindest die zu Unrecht (§ 26 Abs. 3) geleistete Vergütung. Schadensersatzansprüche sind allerdings ausgeschlossen, wenn der Empfänger der Vergütung nicht schuldhaft gehandelt hat. In diesem Fall kommen allerdings – entgegen der h. M. – Ansprüche wegen ungerechtfertigter Bereicherung (§§ 812 ff. BGB i. V. m. § 26 Abs. 3 AktG) in Betracht.5) 2.

Haftung wegen Mitwirkung bei der Schädigung (§ 47 Nr. 2)

9 Gründer (§ 46 Abs. 2) und deren Hintermänner (§ 46 Abs. 5), die die Gesellschaft durch Einlagen oder Sachübernahmen schädigen sind dieser zum Schadensersatz verpflichtet. Ebenso haften Gründergenossen, die an einer solchen Schädigung wissentlich mitwirken (§ 47 Nr. 2). Die Haftung setzt Vorsatz voraus; Fahrlässigkeit genügt nicht.

_____________ 2) 3) 4) 5)

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Hölters-Solveen, AktG, § 47 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 47 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 47 Rz. 2. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 47 Rz. 13 f.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 47 Rz. 36 ff. Hölters-Solveen, AktG, § 47 Rz. 7; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 47 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 47 Rz. 4; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 47 Rz. 13 ff. Pentz in: MünchKomm-AktG, § 47 Rz. 15. A. A. aber die ganz h. M., Hölters-Solveen, AktG, § 47 Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 47 Rz. 6; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 47 Rz. 16; K. Schmidt/ Lutter-Bayer, AktG, § 47 Rz. 5.

Thomas Wachter

§ 48

Verantwortlichkeit des Vorstands und des Aufsichtsrats 3.

Haftung des Emittenten (§ 47 Nr. 3)

Die Emittentenhaftung trifft denjenigen, der Aktien einer neu gegründeten Gesellschaft 10 zum Zwecke der Verkehrseinführung öffentlich ankündigt, obwohl er die objektiven Gründungsmängel (§ 46 Abs. 1 und 2) kannte oder hätte kennen müssen (§ 47 Nr. 3).6) Die Haftung setzt zunächst voraus, dass die Aktien öffentlich angekündigt werden. Die 11 Ankündigung muss sich an einen unbestimmten Personenkreis richten und kann mündlich, schriftlich oder über das Internet erfolgen. Die Ankündigung muss darauf gerichtet sein, die von den Gründern übernommenen Aktien (siehe § 23 Abs. 2 Nr. 2) käuflich zu erwerben. Haftungsbegründend ist die Ankündigung nur dann, wenn sie bereits vor der Eintragung 12 der Gesellschaft im Handelsregister oder in den ersten zwei Jahren danach erfolgt (siehe § 382 Abs. 2 FamFG, § 27 Abs. 4 HRV). Die Vorschrift gilt entsprechend für neue Aktien aus einer Kapitalerhöhung, da auch in diesem Fall erstmalig Aktien aus dem Bereich der Gesellschaft in den allgemeinen Verkehr gebracht werden.7) Für die Frist ist in diesem Fall die Eintragung der Kapitalerhöhung im Handelsregister maßgebend. Die Haftung des Emittenten erfordert darüber hinaus, dass die Gründer zum Zwecke der 13 Gründung der Gesellschaft objektiv unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht haben (§ 46 Abs. 1) oder die Gesellschaft durch Einlagen oder Sachübernahmen geschädigt worden ist (§ 46 Abs. 2). Der Emittent (und nicht unbedingt auch der Gründer) muss vorsätzlich oder fahrlässig 14 gehandelt haben. Maßstab ist dabei die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes, der mit der Emission von Aktien befasst ist. Der Emittent muss die Ordnungsgemäßheit der Gründung daher vor einer entsprechenden Ankündigung von Aktien insoweit selbst prüfen.8) IV.

Varia zur Haftung

Die Schadensersatzansprüche der Gesellschaft verjähren in fünf Jahren (§ 51).

15

Die Gesellschaft kann nur eingeschränkt auf einen begründeten Ersatzanspruch verzich- 16 ten oder sich darüber vergleichen (§ 50). Gerichtsstand: §§ 12, 22 ZPO, nicht § 32 ZPO.

17

_____________ 6) 7)

8)

Hölters-Solveen, AktG, § 47 Rz. 11; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 47 Rz. 9; Arnold in: KölnKommAktG, § 47 Rz. 22 ff.; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 47 Rz. 9 ff. Hölters-Solveen, AktG, § 47 Rz. 13; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 47 Rz. 12; Arnold in: KölnKommAktG, § 47 Rz. 29; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 47 Rz. 14; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 47 Rz. 22 ff.; Spindler/Stilz-Gerber, AktG, § 47 Rz. 11. Hölters-Solveen, AktG, § 47 Rz. 11; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 47 Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-Bayer, § 47 Rz. 12; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 47 Rz. 29.

§ 48 Verantwortlichkeit des Vorstands und des Aufsichtsrats Thomas Wachter

1

Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats, die bei der Gründung ihre Pflichten verletzen, sind der Gesellschaft zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens als Gesamtschuldner verpflichtet; sie sind namentlich dafür verantwortlich, daß eine zur Annahme von Einzahlungen auf die Aktien bestimmte Stelle (§ 54 Abs. 3) hierzu geeignet ist, und daß die eingezahlten Beträge zur freien Verfügung des Vorstands stehen. 2 Für die Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Mitglieder des Vorstands und des

Thomas Wachter

255

§ 48

Verantwortlichkeit des Vorstands und des Aufsichtsrats

Aufsichtsrats bei der Gründung gelten im übrigen §§ 93 und 116 mit Ausnahme von § 93 Abs. 4 Satz 3 und 4 und Abs. 6. Übersicht I. Überblick ........................................... 1 II. Gläubiger und Schuldner ................ 4 III. Haftungstatbestand .......................... 6 I.

IV. Umfang der Haftung ........................ 9 V. Varia zur Haftung ........................... 10

Überblick

1 Die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats haften gegenüber der Gesellschaft persönlich für etwaige Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit der Gründung (§ 48). Zweck der Vorschrift ist der Schutz der Gesellschaft vor Schäden bei der Gründung und insbesondere die Sicherstellung der ordnungsgemäßen Kapitalaufbringung (siehe dazu auch § 48 Satz 1 Halbs. 2).1) 2 Bei der Haftung der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats handelt es sich um eine verschuldensabhängige (siehe die Verweisung von § 48 Satz 2 auf § 93 Abs. 2), spezifisch gesellschaftsrechtliche Organhaftung.2) 3 Neben der Gründungshaftung (nach § 48) kommen auch Schadensersatzansprüche wegen unerlaubter Handlung (z. B. nach §§ 826, 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 399 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 AktG oder § 266 StGB) in Betracht. II.

Gläubiger und Schuldner

4 Gläubiger des Anspruchs ist die Gesellschaft, die mit Eintragung im Handelsregister als juristische Person entsteht (§ 48 Satz 1 i. V. m. § 41 Abs. 1 Satz 1). Die Vor-AG ist noch nicht anspruchsberechtigt (siehe auch § 51 Satz 2 Halbs. 1).3) Im Einzelfall können auch Gläubiger der Gesellschaft anspruchsberechtigt sein (§ 48 Satz 2 i. V. m. § 93 Abs. 5).4) Ansprüche Dritter können aber nach allgemeinen Vorschriften (z. B. §§ 823 ff. BGB) bestehen. 5 Schuldner des Anspruchs sind die Mitglieder des Vorstands (einschließlich der Stellvertreter, § 94) und des Aufsichtsrats (Ersatzmitglieder erst dann, wenn sie nachgerückt sind, § 101 Abs. 3). Der Anspruch richtet sich dabei nur gegen diejenigen Organmitglieder, die ihre Pflichten tatsächlich verletzt haben. Die Haftung trifft auch faktische Organmitglieder.5) Mehrere Personen haften als Gesamtschuldner (§ 48 Satz 1 i. V. m. §§ 421 ff. BGB). III.

Haftungstatbestand

6 Die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats haften für eine Verletzung der ihnen bei Gründung obliegenden Pflichten (§ 48 Satz 1 Halbs. 1). Das Gesetz erwähnt beispielhaft die Pflicht zur Prüfung, ob das Kreditinstitut, auf dessen Konto die Bareinlagen eingezahlt werden, als Zahlstelle geeignet ist (§ 54 Abs. 3), sowie die Verantwortung dafür, dass die eingezahlten Beträge zur freien Verfügung des Vorstands stehen (§ 48 Satz 1 Halbs. 2; siehe auch § 46 Abs. 1 Satz 2). Die allgemeinen Pflichten des Vorstands und des Aufsichts_____________ 1) 2) 3) 4) 5)

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Hölters-Solveen, AktG, § 48 Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 48 Rz. 1; Arnold in: KölnKommAktG, § 48 Rz. 1; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 48 Rz. 1; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 48 Rz. 3. Hölters-Solveen, AktG, § 48 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 48 Rz. 1; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 48 Rz. 1 und 3. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 48 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 48 Rz. 2. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 48 Rz. 7. Hölters-Solveen, AktG, § 48 Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 48 Rz. 2.

Thomas Wachter

Verantwortlichkeit der Gründungsprüfer

§ 49

rats bleiben davon unberührt. Dazu gehören insbesondere die Pflicht zur Gründungsprüfung (§§ 33, 34) und zur Handelsregisteranmeldung der Gesellschaft (§ 36).6) Hinzu kommen die allgemeine Pflicht zur Verschwiegenheit (§§ 93 Abs. 1 Satz 3, 116 Satz 2) und die Verpflichtung des Aufsichtsrats, die Geschäftsführung durch den Vorstand zu überwachen (§ 111 Abs. 1). Die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats haben ihre Pflichten mit der Sorgfalt 7 eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters zu erfüllen (§ 48 Satz 2 i. V. m. § 93 Abs. 1 Satz 1, 116).7) Ist streitig, ob sie diese Sorgfalt angewandt haben, trifft die Mitglieder des Vorstands bzw. des Aufsichtsrats die Beweislast (§ 48 Satz 2 i. V. m. § 93 Abs. 2 Satz 2). Eine Ersatzpflicht gegenüber der Gesellschaft ist ausgeschlossen, wenn die Handlung des 8 Vorstands oder Aufsichtsrats auf einem gesetzmäßigen Beschluss der Hauptversammlung beruht (§ 48 Satz 2 i. V. m. § 93 Abs. 4 Satz 1).8) IV.

Umfang der Haftung

Die schuldhaft handelnden Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats sind der Ge- 9 sellschaft zum Schadensersatz (§§ 249 ff. BGB) verpflichtet. Der Anspruch umfasst insbesondere auch solche Schäden, die aufgrund nicht oder nicht ordnungsgemäß geleisteter Einlagen entstehen (z. B. Überbewertung von Sacheinlagen). V.

Varia zur Haftung

Die Schadensersatzansprüche der Gesellschaft verjähren in fünf Jahren (§ 51; § 93 Abs. 6 10 findet dagegen gemäß § 48 Satz 2 keine Anwendung). Die Gesellschaft kann nur eingeschränkt auf einen begründeten Ersatzanspruch verzich- 11 ten oder sich darüber vergleichen (§ 50; § 93 Abs. 4 Satz 3 und Satz 4 findet dagegen gemäß § 48 Satz 2 keine Anwendung). Gerichtsstand: §§ 12, 29 ZPO, nicht § 32 ZPO.

12

_____________ 6) 7) 8)

Hölters-Solveen, AktG, § 48 Rz. 7; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 48 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 48 Rz. 4; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 48 Rz. 13 ff. Zur eingeschränkten Anwendbarkeit des Haftungsprivilegs des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG s. Spindler/ Stilz-Gerber, AktG, § 48 Rz. 5. Kritisch dazu Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 48 Rz. 3.

§ 49 Verantwortlichkeit der Gründungsprüfer Thomas Wachter

§ 323 Abs. 1 bis 4 des Handelsgesetzbuchs über die Verantwortlichkeit des Abschlußprüfers gilt sinngemäß. Literatur: Boecker/Zwirner, Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz (FISG), DB 2021, 1422; Heutz/Parameswaran, Prüfungspflichten eines Sachkapitalerhöhungsprüfers in der AG, ZIP 2011, 1650; Homborg/Landahl, FISG – Ist die Verschärfung der Abschlussprüferhaftung die richtige Antwort auf den Wirecard Skandal?, NZG 2021, 859; Krolop, Ergänzungen und Änderungen bei den Bausteinen einer Governance der Abschlussprüfung in der finalen Fassung des FISG, NZG 2021, 853; Schneider, Schutzgesetzhaftung für fehlerhafte Rechnungslegung, 2021.

Thomas Wachter

257

§ 50

Verzicht und Vergleich

1 In bestimmten Fällen muss die Gründung einer AG im Interesse der Einhaltung aller gesetzlichen Gründungsvorschriften zusätzlich von einem externen Gründungsprüfer überprüft werden (§ 33 Abs. 2). Zu Gründungsprüfern werden in der Praxis vor allem Wirtschaftsprüfer bzw. Wirtschaftsprüfungsgesellschaften bestellt (siehe § 33 Abs. 4 und 5). Die Haftung der Gründungsprüfer richtet sich nach den Vorschriften über die Verantwortlichkeit des Abschlussprüfers (§ 49 i. V. m. § 323 Abs. 1 – 4 HGB).1) Zweck der Regelung ist es, etwaige Schäden bei Gründung der AG möglichst zu vermeiden und insbesondere die ordnungsgemäße Kapitalaufbringung zu sichern.2) 2 Der Gründungsprüfer ist u. a. zur gewissenhaften und unparteiischen Prüfung und zur Verschwiegenheit verpflichtet (§ 323 Abs. 1 Satz 1 HGB i. V. m. § 34 AktG). In der Praxis ist vor allem die richtige Bewertung von etwaigen Sacheinlagen oder Sachübernahmen von entscheidender Bedeutung (siehe § 34 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 2). Im Falle einer schuldhaften Pflichtverletzung ist der Gründungsprüfer der Gesellschaft gegenüber (und auch verbundenen Unternehmen, wobei strittig ist, ob diese nach § 153) oder nach § 271 Abs. 2 HGB4) zu bestimmen sind) zum Schadensersatz verpflichtet (§ 323 Abs. 1 Sätze 3 und 4 HGB).5) Bei Vorsatz ist die Haftung unbeschränkt und unbeschränkbar (§ 323 Abs. 2 und 4 HGB). Bei (einfacher oder grober) Fahrlässigkeit kann die Haftung je nach Einzelfall betragsmäßig beschränkt sein (s. § 323 Abs. 2 HGB n. F.). Die Haftung ist zwingend (§ 323 Abs. 4 HGB). Etwaige Schadensersatzansprüche verjähren grundsätzlich in drei Jahren (§§ 195, 199 BGB, nicht § 51 AktG, da dort § 49 nicht genannt ist). Gerichtsstand: §§ 12, 29 ZPO, nicht § 32 ZPO. 3 Neben der gründungsrechtlichen Haftung können noch weitere Schadensersatzansprüche (z. B. nach §§ 826, 823 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 403, 404) gegen den Gründungsprüfer bestehen.6) 4 In Einzelfällen kann der beurkundende Notar die Prüfung anstelle eines Gründungsprüfers vornehmen (§ 33 Abs. 3). Die Verantwortlichkeit des Notars richtet sich ausschließlich nach den gesetzlichen Bestimmungen der Bundesnotarordnung (§ 19 BNotO, und nicht nach § 49). Der Notar haftet danach unbegrenzt und unbegrenzbar. _____________ 1)

2) 3) 4) 5) 6)

In der Folge des sog. Wirecard-Skandals wurde § 323 HGB zuletzt durch Art. 11 Nr. 10 des Gesetzes zur Stärkung der Finanzmarktintegrität (Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz – FISG) v. 3.6.2021, BGBl. I 2021, 1534, geändert. S. dazu Boecker/Zwirner, DB 2021, 1422; Homborg/Landahl, NZG 2021, 859; Krolop, NZG 2021, 853. Hölters-Solveen, AktG, § 49 Rz. 1 und Rz. 4; Arnold in: KölnKomm-AktG, 49 Rz. 2 und Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 49 Rz. 1. So Hölters-Solveen, AktG, § 49 Rz. 8. So Arnold in: KölnKomm-AktG, § 49 Rz. 6; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 49 Rz. 10. Dazu BGH, Urt. v. 27.2.1975 – II ZR 111/72, BGHZ 64, 52 = NJW 1975, 974. Hölters-Solveen, AktG, § 49 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 49 Rz. 3.

§ 50 Verzicht und Vergleich Thomas Wachter

1

Die Gesellschaft kann auf Ersatzansprüche gegen die Gründer, die neben diesen haftenden Personen und gegen die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats (§§ 46 bis 48) erst drei Jahre nach der Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister und nur dann verzichten oder sich über sie vergleichen, wenn die Hauptversammlung zustimmt und nicht eine Minderheit, deren Anteile zusammen den zehnten Teil des Grundkapitals erreichen, zur Niederschrift Widerspruch erhebt. 2Die zeitliche Beschrän-

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Thomas Wachter

§ 50

Verzicht und Vergleich

kung gilt nicht, wenn der Ersatzpflichtige zahlungsunfähig ist und sich zur Abwendung des Insolvenzverfahrens mit seinen Gläubigern vergleicht oder wenn die Ersatzpflicht in einem Insolvenzplan geregelt wird. Literatur: Heer, Unternehmensakquisitionen im Wege der Sachkapitalerhöhung – im Spannungsfeld zwischen Differenzhaftung und verbotenem Erwerb eigener Aktien, ZIP 2012, 2325; Verse, (Gemischte) Sacheinlagen, Differenzhaftung und Vergleich über Einlageforderungen, ZGR 2012, 875; Weng, Aktienrechtliche Differenzhaftung bei Sacheinlagen, DStR 2012, 862; Wieneke, Die Differenzhaftung des Inferenten und die Zulässigkeit eines Vergleichs über ihre Höhe, NZG 2012, 136.

Übersicht I. Überblick ............................................ 1 II. Wirksamer Verzicht und Vergleich ............................................ 2 1. Schadensersatzansprüche ............................................ 2 2. Verzicht und Vergleich ...................... 3 I.

3. Drei Jahre nach Eintragung im Handelsregister ............................. 4. Zustimmung der Hauptversammlung ....................................... 5. Kein Widerspruch der Minderheit .... 6. Wirkungen ..........................................

4 6 7 8

Überblick

Die AG kann auf Schadensersatzansprüche, die ihr im Zusammenhang mit der Gründung 1 (nach §§ 46 – 48) zustehen, nur eingeschränkt verzichten oder sich darüber vergleichen (§ 50). Zweck der Vorschrift ist die Sicherung der Kapitalaufbringung und der Schutz der Minderheiten.1) Ein Verzicht bzw. Vergleich auf Schadensersatzansprüche soll demnach erst dann möglich sein, wenn die Gründung abgeschlossen ist, der Einfluss der Gründer auf die Gesellschaft und ihre Organe durch Zeitablauf (drei Jahre) abgenommen hat und der mögliche Schaden zuverlässig absehbar ist. Die Disposition über die Schadensersatzansprüche steht allerdings auch dann nicht allein im Belieben der Mehrheit der Aktionäre, weil andernfalls die gesetzlichen Minderheitenrechte (§§ 147 f.) ausgehebelt werden könnten (insoweit anders § 9b Abs. 1 GmbHG).2) Eine Parallelvorschrift besteht für Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegen Vorstandsmitglieder (§ 93 Abs. 4 Sätze 3 und 4). II.

Wirksamer Verzicht und Vergleich

1.

Schadensersatzansprüche

Die Vorschrift gilt nur für die Schadensersatzansprüche gegen die Gründer, die neben diesen 2 haftenden Personen und gegen die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats (nach §§ 46 – 48). Schadensersatzansprüche aus anderem Rechtsgrund (z. B. § 49, oder §§ 280 ff., 823 ff. BGB) oder gegen andere Personen (z. B. die Gründungsprüfer) werden nicht erfasst. Insoweit ist ein Verzicht bzw. Vergleich nach allgemeinen Grundsätzen möglich.3) Eine

_____________ 1) 2)

3)

Hölters-Solveen, AktG, § 50 Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 50 Rz. 1; Arnold in: KölnKommAktG, § 50 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 50 Rz. 1; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 50 Rz. 7. Zu § 9b GmbHG siehe BGH, Urt. v. 20.4.2021, II ZR 387/18, ZIP 2021, 1109 = EWiR 2021, 421 (Undritz/Ruster) – Vereinbarung über Ansprüche aus § 64 Satz 1 GmbHG a. F. unterliegt auch dann dem Verzichts- und Vergleichsverbot, wenn der vorläufige Insolvenzverwalter nach Anordnung eines Zustimmungsvorbehalts zugestimmt hat. Hölters-Solveen, AktG, § 50 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 50 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 50 Rz. 2.

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§ 50

Verzicht und Vergleich

analoge Anwendung der Vorschrift auf einen Vergleich über einen Differenzhaftungsanspruch der Gesellschaft scheidet aus.4) 2.

Verzicht und Vergleich

3 Verzicht meint den Abschluss eines Erlassvertrages (§ 397 Abs. 1 BGB) oder ein negatives Schuldanerkenntnis (§ 397 Abs. 2 BGB). Vergleich ist sowohl der Vergleichsvertrag (§ 779 BGB) als auch der Prozessvergleich. Nach dem Normzweck sind auch alle sonstigen Rechtsgeschäfte erfasst, die in ihrer Wirkung einem Verzicht oder Vergleich entsprechen. Beispiele dafür sind etwa ein Klageverzicht (§ 306 ZPO), ein Anerkenntnis (§ 307 ZPO), die Annahme einer nicht werthaltigen Leistung an Erfüllungs Statt (§ 364 Abs. 1 BGB) oder die (langfristige bzw. nicht gesicherte) Stundung einer Forderung.5) 3.

Drei Jahre nach Eintragung im Handelsregister

4 Ein Verzicht oder Vergleich ist grundsätzlich erst drei Jahre nach Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister (siehe § 382 Abs. 2 FamFG, § 27 Abs. 4 HRV) möglich (§ 50 Satz 1 i. V. m. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB). Rechtsgeschäfte vor Ablauf der dreijährigen Frist sind nichtig (§ 134 BGB).6) 5 Eine Ausnahme von der Drei-Jahres-Frist (aber nur von dieser) gilt dann, wenn der Ersatzpflichtige zahlungsunfähig (§ 17 Abs. 2 InsO) (oder überschuldet, § 19 InsO)7) ist und sich zur Abwendung des Insolvenzverfahrens mit seinen Gläubigern vergleicht (§§ 213 ff. InsO), oder wenn die Ersatzpflicht in einem Insolvenzplan (§§ 217 ff. InsO) geregelt ist (§ 50 Satz 2).8) Entscheidend ist dabei stets, dass der Verzicht oder der Vergleich der Gesellschaft gegenüber der voraussichtlichen Insolvenzquote einen Mehrerlös sichert. Die Zustimmung der Hauptversammlung ist aber auch in diesem Fall erforderlich.9) Ebenso ist ein Widerspruch der Minderheit beachtlich. 4.

Zustimmung der Hauptversammlung

6 Der Verzicht bzw. Vergleich bedarf zu seiner Wirksamkeit darüber hinaus der Zustimmung der Hauptversammlung (§ 48 Satz 1 AktG i. V. m. § 182 BGB). Der Beschluss bedarf grundsätzlich der einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen (§ 133 Abs. 1), wobei dem Betroffenen kein Stimmrecht zusteht (§ 136).10) Ein ohne die Zustimmung der Hauptversammlung geschlossener Verzicht oder Vergleich ist schwebend unwirksam (§§ 177 ff. BGB). Die Vertretungsmacht des Vorstands (§ 78) ist durch den Zustimmungsvorbehalt eingeschränkt. _____________ 4) BGH, Urt. v. 6.12.2011 – II ZR 149/10 (Babcock Borsig), BGHZ 191, 364 = ZIP 2012, 73, dazu EWiR 2012, 129 (Vosberg/Klawa). – Ausführlich dazu Heer, ZIP 2012, 2325; Verse, ZGR 2012, 875; Weng, DStR 2012, 862; Wienecke, NZG 2012, 136. 5) Hölters-Solveen, AktG, § 50 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 50 Rz. 3. Zu Schiedsvereinbarungen s. Arnold in: KölnKomm-AktG, § 50 Rz. 11. 6) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 50 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 50 Rz. 4. 7) Hölters-Solveen, AktG, § 50 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 50 Rz. 5. 8) Dazu Arnold in: KölnKomm-AktG, § 50 Rz. 18 ff.; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 50 Rz. 17 ff. 9) S. zu § 9b GmbHG auch BGH, Urt. v. 20.4.2021 – II ZR 387/18, ZIP 2021, 1109 – Vereinbarung über Ansprüche aus § 64 Satz 1 GmbHG a. F. unterliegt auch dann dem Verzichts- und Vergleichsverbot, wenn der vorläufige Insolvenzverwalter nach Anordnung eines Zustimmungsvorbehalts zugestimmt hat. S. a. die Neuregelung in § 15b Abs. 4 Satz 4 InsO aufgrund des SanInsFoG (Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256). 10) Arnold in: KölnKomm-AktG, § 50 Rz. 16; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 50 Rz. 6; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 50 Rz. 22.

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Thomas Wachter

§ 51

Verjährung der Ersatzansprüche 5.

Kein Widerspruch der Minderheit

Die Wirksamkeit des Verzichts bzw. Vergleichs setzt schließlich noch voraus, dass nicht 7 eine Minderheit, deren Anteile zusammen den zehnten Teil des Grundkapitals (§ 6) erreicht, zur Niederschrift (§ 130) Widerspruch erhoben hat (§ 50 Satz 1; siehe §§ 147 f.). Ein Widerspruch ist nicht mehr möglich, wenn der Aktionär für den Beschluss gestimmt hat.11) Die Stimmabgabe gegen den Beschluss ist für sich genommen allerdings noch kein Widerspruch und daher nicht ausreichend.12) 6.

Wirkungen

Ein (nach § 50) wirksamer Verzicht oder Vergleich wirkt gegenüber jedermann.

8

_____________ 11) Arnold in: KölnKomm-AktG, § 50 Rz. 17. A. A. K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 50 Rz. 7; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 50 Rz. 23. 12) Pentz in: MünchKomm-AktG, § 50 Rz. 4 und Rz. 23.

§ 51 Verjährung der Ersatzansprüche Thomas Wachter

1

Ersatzansprüche der Gesellschaft nach den §§ 46 bis 48 verjähren in fünf Jahren. 2Die Verjährung beginnt mit der Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister oder, wenn die zum Ersatz verpflichtende Handlung später begangen worden ist, mit der Vornahme der Handlung. Die Schadensersatzansprüche der Gesellschaft (nach §§ 46 – 48 AktG, nicht aber auch 1 solche nach § 49 AktG oder nach §§ 823 ff. BGB)1) verjähren in fünf Jahren (§ 51 Satz 1 i. V. m. §§ 187 ff. BGB). Die Vorschrift soll gewährleisten, dass die Verjährung erst dann eintritt, wenn die der Gesellschaft bei der Gründung entstandenen Nachteile aufgedeckt worden sind.2) Die Verjährungsfrist beginnt grundsätzlich mit der Eintragung der Gesellschaft im Han- 2 delsregister (§ 51 Satz 1 AktG i. V. m. § 382 Abs. 2 FamFG, § 27 Abs. 4 HRV). Ist die zum Schadensersatz verpflichtende Handlung allerdings erst nach der Eintragung im Handelsregister begangen worden, beginnt auch die Verjährung erst mit der Vornahme der Handlung (§ 51 Satz 2). Im Übrigen gelten für die Verjährung die allgemeinen Vorschriften. Eine Verkürzung der Verjährung ist aufgrund des zwingenden Charakters der Haftung 3 unzulässig.3) Eine Verlängerung der Verjährung auf bis zu 30 Jahre ist dagegen möglich (siehe § 202 Abs. 2 BGB).4) Für Ausgleichsansprüche unter mehreren Gesamtschuldnern (§§ 421 ff., 426 BGB) gilt 4 die regelmäßige Verjährung von drei Jahren (§§ 195, 199 BGB).5)

_____________ 1) 2) 3) 4) 5)

Hölters-Solveen, AktG, § 51 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 51 Rz. 1; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 51 Rz. 3 f. Hölters-Solveen, AktG, § 51 Rz. 1; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 51 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 51 Rz. 2. Hölters-Solveen, AktG, § 51 Rz. 4. S. aber K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 51 Rz. 2 – zwingende Verjährungsfrist von fünf Jahren. Hölters-Solveen, AktG, § 51 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 51 Rz. 4.

Thomas Wachter

261

§ 52

Nachgründung

§ 52 Nachgründung Thomas Wachter

(1) 1Verträge der Gesellschaft mit Gründern oder mit mehr als 10 vom Hundert des Grundkapitals an der Gesellschaft beteiligten Aktionären, nach denen sie vorhandene oder herzustellende Anlagen oder andere Vermögensgegenstände für eine den zehnten Teil des Grundkapitals übersteigende Vergütung erwerben soll, und die in den ersten zwei Jahren seit der Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister geschlossen werden, werden nur mit Zustimmung der Hauptversammlung und durch Eintragung in das Handelsregister wirksam. 2Ohne die Zustimmung der Hauptversammlung oder die Eintragung im Handelsregister sind auch die Rechtshandlungen zu ihrer Ausführung unwirksam. (2) 1Ein Vertrag nach Absatz 1 bedarf der schriftlichen Form, soweit nicht eine andere Form vorgeschrieben ist. 2Er ist von der Einberufung der Hauptversammlung an, die über die Zustimmung beschließen soll, in dem Geschäftsraum der Gesellschaft zur Einsicht der Aktionäre auszulegen. 3Auf Verlangen ist jedem Aktionär unverzüglich eine Abschrift zu erteilen. 4Die Verpflichtungen nach den Sätzen 2 und 3 entfallen, wenn der Vertrag für denselben Zeitraum über die Internetseite der Gesellschaft zugänglich ist. 5In der Hauptversammlung ist der Vertrag zugänglich zu machen. 6Der Vorstand hat ihn zu Beginn der Verhandlung zu erläutern. 7Der Niederschrift ist er als Anlage beizufügen. (3) 1Vor der Beschlußfassung der Hauptversammlung hat der Aufsichtsrat den Vertrag zu prüfen und einen schriftlichen Bericht zu erstatten (Nachgründungsbericht). 2Für den Nachgründungsbericht gilt sinngemäß § 32 Abs. 2 und 3 über den Gründungsbericht. (4) 1Außerdem hat vor der Beschlußfassung eine Prüfung durch einen oder mehrere Gründungsprüfer stattzufinden. 2§ 33 Abs. 3 bis 5, §§ 34, 35 über die Gründungsprüfung gelten sinngemäß. 3Unter den Voraussetzungen des § 33a kann von einer Prüfung durch Gründungsprüfer abgesehen werden. (5) 1Der Beschluß der Hauptversammlung bedarf einer Mehrheit, die mindestens drei Viertel des bei der Beschlußfassung vertretenen Grundkapitals umfaßt. 2Wird der Vertrag im ersten Jahre nach der Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister geschlossen, so müssen außerdem die Anteile der zustimmenden Mehrheit mindestens ein Viertel des gesamten Grundkapitals erreichen. 3Die Satzung kann an Stelle dieser Mehrheiten größere Kapitalmehrheiten und weitere Erfordernisse bestimmen. (6) 1Nach Zustimmung der Hauptversammlung hat der Vorstand den Vertrag zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden. 2Der Anmeldung ist der Vertrag mit dem Nachgründungsbericht und dem Bericht der Gründungsprüfer mit den urkundlichen Unterlagen beizufügen. 3Wird nach Absatz 4 Satz 3 von einer externen Gründungsprüfung abgesehen, gilt § 37a entsprechend. (7) 1Bestehen gegen die Eintragung Bedenken, weil die Gründungsprüfer erklären oder weil es offensichtlich ist, daß der Nachgründungsbericht unrichtig oder unvollständig ist oder den gesetzlichen Vorschriften nicht entspricht oder daß die für die zu erwerbenden Vermögensgegenstände gewährte Vergütung unangemessen hoch ist, so kann das Gericht die Eintragung ablehnen. 2Enthält die Anmeldung die Erklärung nach § 37a Abs. 1 Satz 1, gilt § 38 Abs. 3 entsprechend. (8) Einzutragen sind der Tag des Vertragsschlusses und der Zustimmung der Hauptversammlung sowie der oder die Vertragspartner der Gesellschaft. 262

Thomas Wachter

§ 52

Nachgründung

(9) Vorstehende Vorschriften gelten nicht, wenn der Erwerb der Vermögensgegenstände im Rahmen der laufenden Geschäfte der Gesellschaft, in der Zwangsvollstreckung oder an der Börse erfolgt. Literatur: Florstedt, Finanzinvestoren als nahestehende Personen, ZIP 2021, 53; Florstedt, Der Aktionärsschutz bei Geschäften mit nahestehenden Personen gem. § 107 AktG und §§ 111a – c AktG, ZHR 184 (2020) 10; Guntermann, Die Publizitätspflicht gem. § 111c AktG und ihr Zusammenspiel mit Art. 17 MAR, ZIP 2020, 1290; Lieder, Rechtsfragen der aktienrechtlichen Nachgründung nach ARUG, ZIP 2010, 964; Lieder/Wernert, Grundsatz- und Anwendungsfragen zu Related-Party-Transactions nach neuem Aktienrecht, DB 2020, 882; Lotz, Der Anwendungsbereich der Regelungen zu „Related Party Transactions“ (§§ 111a ff. AktG) im faktischen Aktienkonzern, ZIP 2020, 1843; Mülbert, Die neue kapitalmarktrechtliche Dimension des AktG aufgrund der Richtlinie (EU) 2017/828 (Aktionärsrechte-Richtlinie II) betreffend Intermediäre, AG 2021, 53; Rieckers, Nachlese zur Hauptversammlungssaison 2020 und Ausblick auf 2021, DB 2021, 98; Tröger, Investorenschutz à l‘ ancienne – Bemerkung zur Regelung von Related Party Transactions im ARUG II, in: Festschrift für Klaus J. Hopt, 2020, S. 1289; Verse, Interessenkonflikte im „Related Party“-Ausschuss, in: Festschrift für Klaus J. Hopt, 2020, S. 1335; Vetter, Überlegungen zur Auslegung aufgezwungener Gesetze. Dargestellt am Beispiel der Regelungen zu Related-Party-Transactions, in: Festschrift für Klaus J. Hopt, 2020, S. 1383; Vetter, Zur Bewertung von Geschäften mit nahestehenden Personen, AG 2019, 853.

Übersicht I. Überblick ............................................ 1 II. Anwendungsbereich ......................... 6 III. Tatbestand der Nachgründung (§ 52 Abs. 1) ..................................... 11 1. Nachgründungsvertrag .................... 11 2. Vertragsparteien ............................... 13 3. Vertragsgegenstand .......................... 17 4. Zwei-Jahres-Frist .............................. 20 5. Vergütung ......................................... 22 IV. Voraussetzungen für die Wirksamkeit des Nachgründungsvertrages (§ 52 Abs. 1 – 8) ..................... 25 1. Schriftform (§ 52 Abs. 2 Satz 1) ............................................... 25 2. Publizität des Nachgründungsvertrages (§ 52 Abs. 2 Sätze 2 – 7) ......................................... 27 3. Prüfung und Berichterstattung (§ 52 Abs. 3, Abs. 4) ........................ 34 I.

4. 5.

V. 1. 2. 3.

a) Interne Nachgründungsprüfung durch den Aufsichtsrat (§ 52 Abs. 3) ................ b) Externe Nachgründungsprüfung (§ 52 Abs. 4) ................ Zustimmung der Hauptversammlung (§ 52 Abs. 5) .............. Eintragung im Handelsregister (§ 52 Abs. 6 – 8) ................................ a) Anmeldung (§ 52 Abs. 6) .......... b) Prüfung durch das Registergericht (§ 52 Abs. 7) .................. c) Eintragung im Handelsregister (§ 52 Abs. 8) ............................... Ausnahmen (§ 52 Abs. 9) ............... Laufende Geschäfte .......................... Erwerb in der Zwangsvollstreckung .................................... Erwerb an der Börse .........................

34 36 38 44 44 47 49 52 52 55 56

Überblick

Eine neu gegründete AG kann Vermögensgegenstände von ihren Gründern und Aktio- 1 nären grundsätzlich nur dann wirksam erwerben, wenn dabei die gesetzlichen Regelungen über die Nachgründung eingehalten werden (§ 52). Zu diesen Schutzvorschriften gehört u. a. eine Prüfung des gesamten Nachgründungsvertrags durch den Aufsichtsrat und externe Prüfer, die Zustimmung der Hauptversammlung mit qualifizierter Mehrheit und die Eintragung in das Handelsregister. Die Vorschrift ist zwingend.1) _____________ 1)

K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 3; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 52 Rz. 5.

Thomas Wachter

263

§ 52

Nachgründung

2 Zweck der Vorschrift ist die Sicherstellung der effektiven Kapitalaufbringung (nicht auch der Kapitalerhaltung).2) Im Interesse der Aktionäre und der Gläubiger der Gesellschaft soll insbesondere eine Umgehung der Vorschriften über die Sachgründung (§ 27) verhindert werden. Die Vertretungsmacht des Vorstands wird bewusst eingeschränkt, um ihn vor einer unzulässigen Beeinflussung durch Gründer und Aktionäre zu schützen. 3 Die Vorschriften über die Nachgründung (§ 52) und über die verdeckten Sacheinlagen (§ 27 Abs. 3) sind voneinander unabhängig und bestehen selbständig nebeneinander.3) Beide überschneiden sich in Teilbereichen, aber keineswegs vollständig. Beispielsweise können Dienstleistungen nicht Gegenstand einer verdeckten Sacheinlage (siehe § 27 Abs. 2 Halbs. 2),4) aber durchaus Gegenstand eines Nachgründungsvertrages sein. Treffen verdeckte Sacheinlage und Nachgründung im Einzelfall zusammen, sind die Nachgründungsvorschriften vorrangig. Denn eine Anrechnung des Werts einer verdeckten Sacheinlage kommt überhaupt nur dann in Betracht, wenn der Nachgründungsvertrag wirksam ist. 4 Die Vorschrift (des § 52) wurde zuletzt durch das ARUG5) geändert. Neu eingefügt wurde die Möglichkeit, die Aktionäre der Gesellschaft vor der Hauptversammlung auch über die Internetseite der Gesellschaft zu informieren (§ 52 Abs. 2 Satz 4; siehe auch §§ 179a Abs. 2 Satz 3, 293f Abs. 3). Ferner wurden die Nachgründungsvorschriften um die neue Möglichkeit einer (vereinfachten) Sachgründung ohne externe Gründungsprüfung (siehe §§ 33a, 37a, 38 Abs. 3) erweitert (§ 52 Abs. 4 Satz 3, Abs. 6 Satz 3, Abs. 7 Satz 2). Schließlich wurde die bisherige Regelung über das Verhältnis zur verdeckten Sacheinlage im Hinblick auf deren Neuregelung (§ 27 Abs. 3) ersatzlos gestrichen (§ 52 Abs. 10 AktG a. F.). Im Rahmen der Aktienrechtsnovelle 2016 wurde eine Strafbarkeitslücke, die aufgrund eines Redaktionsversehens entstanden war, geschlossen.6) 5 Das ARUG II7) hat die Zulässigkeit von Rechtsgeschäften mit nahestehenden Personen und Unternehmen (sog. Related Party Transactions, RPT) aufgrund europarechtlicher Vorgaben mit Wirkung zum 1.1.2020 neu geregelt (siehe §§ 111a ff. AktG und Art. 26j EGAktG).8) Die Vorschrift über die Nachgründung (§ 52) wurde dabei aber nicht geändert. Der deutsche Gesetzgeber hat die Umsetzung insbesondere nicht zum Anlass genommen, um den persönlichen Anwendungsbereich der Nachgründung (über Gründer und Aktionäre mit einer Beteiligung von mehr als 10 % am Grundkapital, § 52 Abs. 1 Satz 1 hinaus) zu erweitern. Beide Regelungen bestehen somit unabhängig voneinander. _____________ 2)

3) 4)

5) 6) 7)

8)

264

S. dazu (vor ARUG) BGH, Urt. v. 18.2.2008 – II ZR 132/06 (Rheinmöve), BGHZ 175, 265 = ZIP 2008, 788, dazu EWiR 2008, 513 (Weipert); BGH, Urt. v. 9.7.2007 – II ZR 62/06 (Lurgi), BGHZ 173, 145 = ZIP 2007, 1751, dazu EWiR 2009, 557 (Goslar); BGH, Urt. v. 15.1.1990 – II ZR 164/88, BGHZ 110, 47 = ZIP 1990, 156, dazu EWiR 1990, 223 (Lutter). Bürgers/Körber/Lieder-Körber, AktG, § 52 Rz. 1; Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 52 Rz. 1; Arnold in: KölnKommAktG, § 52 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 2; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 52 Rz. 5; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 52 Rz. 4 ff. Ausführlich dazu K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 52 ff.; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 52 Rz. 55, und Spindler/Stilz-Heidinger/Benz, AktG, § 27 Rz. 114 ff. BGH, Urt. v. 1.2.2010 – II ZR 173/08 (Eurobike), BGHZ 184, 158 = ZIP 2010, 423, dazu EWiR 2010, 169 (Lieder); BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 120/07 (Qivive), BGHZ 180, 38 = ZIP 2009, 713, dazu EWiR 2009, 443 (Schodder). Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG) v. 30.7.2009, BGBl. I 2009, 2479. S. dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 16/11642, S. 34 ff. Art. 1 Nr. 28 der Aktienrechtsnovelle 2016, BGBl. I 2015, 2565. Gesetz zur Umsetzung der Zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2637. S. dazu auch den RegE, BT-Drucks. 19/9739 v. 29.4.2019 = BR-Drucks. 156/19 v. 5.4.2019, die Stellungnahme des BRat, BR-Drucks. 156/19 v. 17.5.2019 und die Gegenäußerung der BReg, Drucks. 19/ 10507 v. 29.5.2019. S. zum Ganzen u. a. Florstedt, ZIP 2021, 53; Lieder, ZIP 2010, 964; Lieder/Wernert, DB 2020, 882; Vetter in: FS Hopt, S. 1383 ff.

Thomas Wachter

§ 52

Nachgründung II.

Anwendungsbereich

Die Nachgründung setzt voraus, dass die AG bereits im Handelsregister eingetragen ist 6 (§ 52 Abs. 1 Satz 1). Auf die Vorgesellschaft ist die Regelung daher nicht anwendbar.9) Für Einpersonen-Gesellschaften bestehen aufgrund des zwingenden Charakters der Vor- 7 schrift keine Ausnahmen.10) Für den Erwerb von Vorrats- und Mantelgesellschaften gilt die Vorschrift nach ihrem 8 Normzweck entsprechend.11) Erwerber einer Vorrats- oder Mantelgesellschaft müssen die Nachgründungsvorschriften daher zwei Jahre nach Offenlegung der wirtschaftlichen Neugründung12) beachten. Auf Sachkapitalerhöhungen innerhalb von zwei Jahren seit Eintragung der Gesellschaft 9 finden die Nachgründungsvorschriften aufgrund ihres Schutzzwecks entsprechende Anwendung (obwohl § 183 Abs. 3 nicht auf § 52 verweist).13) Gleiches gilt für die Ausnutzung eines genehmigten Kapitals mit Sacheinlagen und eine bedingte Sachkapitalerhöhung.14) Auf bestimmte Umwandlungsvorgänge finden die Nachgründungsvorschriften entspre- 10 chende Anwendung (siehe etwa §§ 67, 141, 197 Satz 1, 220 Abs. 3 Satz 2, 245 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 Satz 3 UmwG).15) III.

Tatbestand der Nachgründung (§ 52 Abs. 1)

1.

Nachgründungsvertrag

Eine Nachgründung liegt vor, wenn die Gesellschaft in den ersten zwei Jahren seit ihrer 11 Eintragung im Handelsregister mit den Gründern oder mit mehr als 10 % des Grundkapitals an der Gesellschaft beteiligten Aktionären einen Vertrag über den Erwerb von Vermögensgegenständen für eine 10 % des Grundkapitals übersteigende Vergütung abschließt (§ 52 Abs. 1 Satz 1; zu Ausnahmen siehe § 52 Abs. 8). Bei der Nachgründung handelt es sich somit (anders als Wortlaut und systematische Stellung der Vorschrift nahelegen) nicht um einen Gründungsvorgang, sondern um den Abschluss eines schuldrechtlichen Vertrages durch die bereits gegründete Gesellschaft, der aufgrund seiner zeitlichen und sachlichen Nähe zur Gründung und der damit verbundenen Gefährdung für die effektive Kapitalaufbringung ähnlichen Schutzvorschriften wie die eigentliche Gründung unterworfen wird.16) Die Vorschriften über die Nachgründung gelten für alle schuldrechtlichen Verträge, die 12 für die Gesellschaft entsprechende Verpflichtungen vorsehen.17) Art und Bezeichnung des _____________ 9) Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 21; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 52 Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 7; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 52 Rz. 8. Anders wohl Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 52 Rz. 3. 10) K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 10. A. A. im Zusammenhang mit einer Sachkapitalerhöhung OLG Hamm, Beschl. v. 22.1.2008 – 15 W 246/07, ZIP 2008, 1475, dazu EWiR 2008, 291 (v. Hase). 11) Arnold in: KölnKomm-AktG, § 52 Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 19. 12) Wie hier Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 21. Anders wohl K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 24 – Fristbeginn schon mit der wirtschaftlichen Neugründung. 13) OLG Oldenburg, Beschl. 20.6.2002 – 5 W 95/02, AG 2002, 620, dazu EWiR 2003, 297 (Schwab). Hölters-Solveen, § 52 Rz. 19; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 52 Rz. 11; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 52 Rz. 9 f.; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 10, Pentz in: MünchKomm-AktG, § 52 Rz. 73 ff.; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 52 Rz. 48, jeweils auch m. N. zur Gegenauffassung. 14) Arnold in: KölnKomm-AktG, § 52 Rz. 11; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 10. 15) Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 52 Rz. 46 f. 16) Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 52 Rz. 2; Arnold in: KölnKommAktG, § 52 Rz. 13. 17) Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 12; Spindler/StilzHeidinger, AktG, § 52 Rz. 11 ff.

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§ 52

Nachgründung

Vertrages sind dabei ohne Bedeutung. Erfasst werden insbesondere auch Vorverträge und Optionsverträge. Dagegen ist der Abschluss eines Unternehmensvertrages (§§ 291 ff.) kein Nachgründungsvorgang, da die konzernrechtlichen Vorschriften insoweit vorrangig sind.18) Für stille Beteiligungen ist dagegen keine generelle Ausnahme anzuerkennen.19) 2.

Vertragsparteien

13 Vertragsparteien des Nachgründungsvertrages sind zum einen die neu gegründete AG und zum anderen die Gründer oder mit mehr als 10 % am Grundkapital beteiligten Aktionäre (§ 52 Abs. 1 Satz 1). Nicht erfasst werden somit Verträge mit Dritten oder mit Aktionären, die mit weniger als 10 % am Grundkapital beteiligt sind. 14 Die AG ist mit ihrer Eintragung in das Handelsregister entstanden und wird durch ihren Vorstand (§ 78) vertreten. 15 Gründer sind die Aktionäre der Gesellschaft, die die Satzung festgestellt haben und mindestens eine Aktie übernommen haben (siehe §§ 23 Abs. 2 Nr. 2, 28). Die Nachgründungsvorschriften gelten nicht für solche Gründer, die bereits vor der Eintragung im Handelsregister wieder aus der Gesellschaft ausgeschieden sind. Umgekehrt werden auch solche Gründer erfasst, die der Gesellschaft erst später, aber noch vor Handelsregistereintragung beigetreten sind.20) 16 Neben den Gründern kommen als Vertragspartei auch Aktionäre in Betracht, die mit mehr als 10 % am Grundkapital beteiligt sind. Für die Beteiligungsquote des Aktionärs ist der Tag des Abschlusses des Nachgründungsvertrages (und nicht etwa die Gründung der Gesellschaft) maßgebend.21) Bei einer Sachkapitalerhöhung bleiben die neu erworbenen Anteile somit außer Betracht.22) Nach dem Gesetzeswortlaut müssen die Aktionäre mit mehr als 10 % am Grundkapital beteiligt sein, so dass Aktionäre mit einer Beteiligung i. H. v. genau 10 % nicht erfasst sind. Aufgrund einer richtlinienkonformen Auslegung der Vorschrift werden jedoch alle Aktionäre mit einer Beteiligungsquote von mindestens 10 % erfasst.23) Für die Bestimmung der Beteiligungsquote können dem Aktionär auch Beteiligungen Dritter (z. B. von Treuhändern, abhängigen Gesellschaften oder nahestehenden Personen) zuzurechnen sein.24) Dies ist aber nur im Einzelfall möglich, insbesondere um eine bewusste Umgehung der Nachgründungsvorschriften zu verhindern. Eine generelle Zurechnung der Beteiligung von nahestehenden Personen ist dagegen (auch mangels Verweis auf §§ 111a ff. AktG) nicht möglich (siehe oben Rz. 5). 3.

Vertragsgegenstand

17 Der Nachgründungsvertrag muss auf den Erwerb von vorhandenen oder herzustellenden Anlagen oder anderen Vermögensgegenständen gerichtet sein (§ 52 Abs. 1 Satz 1). Gegenstand eines Nachgründungsvertrages können damit alle Vermögensgegenstände (un_____________ 18) Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 5 und Rz. 20; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 13; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 52 Rz. 13; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 52 Rz. 14. 19) A. A. K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 13; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 52 Rz. 14. 20) K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 15. 21) Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 16. 22) Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 19. Ebenso, aber mit Bedenken K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 17; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 52 Rz. 42. Anders Arnold in: KölnKomm-AktG, § 52 Rz. 10; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 52 Rz. 14. 23) Zutreffend K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 6 und Rz. 11; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 52 Rz. 4, 14 und 21; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 52 Rz. 24. 24) Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 6; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 52 Rz. 16; K. Schmidt/LutterBayer, AktG, § 52 Rz. 14 und Rz. 18; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 52 Rz. 25.

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Nachgründung

abhängig von Art, Umfang und Wert) sein.25) Es kommt insbesondere nicht darauf an, ob der Vermögensgegenstand auch Gegenstand einer Sacheinlage sein könnte, so dass sich Nachgründungsverträge bspw. auch auf Dienstleistungen beziehen können (siehe § 27 Abs. 2 Halbs. 2).26) Die Vorschriften über die Nachgründung gelten insbesondere auch für den Erwerb von 18 Beteiligungen an anderen Unternehmen (gleich welcher Rechtsform). Bei der Gründung von Tochtergesellschaften ist zu unterscheiden: Gründet die AG al- 19 leine eine 100 %ige Tochtergesellschaft scheidet eine Nachgründung schon deshalb aus, weil es sich dabei um ein einseitiges Rechtsgeschäft und nicht um einen Vertrag handelt.27) Gründet die AG dagegen zusammen mit ihren eigenen Gründern bzw. wesentlich beteiligten Aktionären eine Tochtergesellschaft, handelt es sich dabei zwar um einen Vertrag, doch ist dies kein schuldrechtlicher Austauschvertrag i. S. der Nachgründungsregelung, sondern ein schuld- und organisationsrechtlicher Gründungsvertrag. Allerdings erscheint eine analoge Anwendung der Nachgründungsvorschriften geboten, um die Interessen der Aktionäre und Gläubiger sachgerecht zu schützen.28) Entsprechendes gilt auch für Kapitalerhöhungen bei Tochtergesellschaften.29) 4.

Zwei-Jahres-Frist

Eine Nachgründung liegt nur vor bei Verträgen, die in den ersten zwei Jahren seit Eintra- 20 gung der Gesellschaft in das Handelsregister geschlossen werden (§ 52 Abs. 1 Satz 1). Die Frist beginnt mit dem Tag der Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister (siehe §§ 39 Abs. 1, 41 Abs. 1 Satz 1 AktG; § 382 Abs. 2 FamFG). Für die Berechnung der Frist gelten die allgemeinen Vorschriften (§§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB). Maßgebend für die Zwei-Jahres-Frist ist der Tag des Vertragsabschlusses.30) Dies gilt auch dann, wenn der Vertrag aufgrund einer Bedingung oder Befristung erst später wirksam wird. Der Zeitpunkt des Leistungsaustauschs ist ohne Bedeutung. Ein Vertrag, der innerhalb der Zwei-Jahres-Frist ohne Einhaltung der Nachgründungs- 21 vorschriften geschlossen worden ist, wird allein durch Fristablauf nicht wirksam. Möglich ist aber eine Neuvornahme oder Bestätigung des Vertrages (§ 141 BGB) mit Wirkung ex nunc.31) Der Vorstand der Gesellschaft kann den schwebend unwirksamen Vertrag aber auch (einseitig) genehmigen, so dass dieser ex tunc wirksam wird (siehe § 108 Abs. 3 BGB analog und §§ 177 ff., 182 ff. BGB analog).32)

_____________ 25) Arnold in: KölnKomm-AktG, § 52 Rz. 18 ff.; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 20. 26) Bürgers/Körber/Lieder-Körber, AktG, § 52 Rz. 5; Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 7; Hüffer/KochKoch, AktG, § 52 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 21; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 52 Rz. 32. 27) Bürgers/Körber/Lieder-Körber, AktG, § 52 Rz. 11; Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 20; K. Schmidt/ Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 22; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 52 Rz. 18. 28) Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 20; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 22; Pentz in: MünchKommAktG, § 52 Rz. 14. A. A. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 52 Rz. 12. Differenzierend Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 52 Rz. 50 ff. 29) K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 23. A. A. (mangels Schutzlücke) Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 52 Rz. 53. 30) Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 8. 31) Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 14; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 43. 32) Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 14; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 52 Rz. 7; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 52 Rz. 44; K. Schmidt/Lutter-Bayer, § 52 Rz. 43. A. A. allerdings Pentz in: MünchKomm-AktG, § 52 Rz. 61; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 52 Rz. 87.

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§ 52 5.

Nachgründung Vergütung

22 Eine Nachgründung liegt nur dann vor, wenn die von der Gesellschaft zu leistende Vergütung mehr als 10 % des Grundkapitals beträgt (§ 52 Abs. 1 Satz 1). Maßgeblich ist die Höhe des Grundkapitals, die am Tag des Vertragsabschlusses im Handelsregister eingetragen ist (siehe §§ 6 f., 39 Abs. 1 Satz 1). Bei einer Kapitalerhöhung ist das Grundkapital erst mit der Eintragung der Durchführung im Handelsregister erhöht (§ 189). Bei der bedingten Kapitalerhöhung erfolgt die Erhöhung dagegen bereits mit der Ausgabe der Bezugsaktien (§ 200), so dass diese dem Grundkapital hinzuzurechnen sind.33) 23 Für die Beurteilung der Gegenleistung ist grundsätzlich jeder Nachgründungsvertrag gesondert zu beurteilen. Bei mehreren Verträgen, die sachlich und zeitlich miteinander zusammenhängen, ist zur Vermeidung von Umgehungen allerdings auf die Höhe der Gesamtvergütung abzustellen. Bei Dauerschuldverhältnissen (z. B. Miet- und Leasingverträgen) kommt es (unabhängig von der Zwei-Jahres-Frist) auf die Vergütung an, die bis zum Zeitpunkt der ersten ordentlichen Kündigung geschuldet ist.34) 24 Außerordentlich umstritten ist die Frage, ob eine Nachgründung nur dann vorliegt, wenn die Vergütung aus dem gebundenen Vermögen geleistet wird oder auch dann, wenn die Vergütung aus dem freien Vermögen der Gesellschaft (z. B. aus Gewinnen oder einem schuldrechtlichen Agio) stammt. Nach Gesetzeswortlaut und Normzweck kommt es indes nicht darauf an, mit welchen Mitteln die Gesellschaft die Vergütung bezahlt. Richtigerweise werden daher alle Verträge, bei denen die Vergütung die 10 % Schwelle übersteigt, von den Nachgründungsvorschriften erfasst.35) IV.

Voraussetzungen für die Wirksamkeit des Nachgründungsvertrages (§ 52 Abs. 1 – 8)

1.

Schriftform (§ 52 Abs. 2 Satz 1)

25 Ein Nachgründungsvertrag bedarf zu seiner Wirksamkeit der Schriftform (§ 52 Abs. 2 Satz 1 AktG i. V. m. § 126 BGB), soweit nicht anderweitig eine strengere Form vorgeschrieben ist (z. B. für den Erwerb von Grundstücken, § 311b Abs. 1 Satz 1 BGB, oder den Erwerb von GmbH-Geschäftsanteilen, § 15 Abs. 4 GmbHG). 26 Ein ohne Einhaltung dieser Form geschlossener Nachgründungsvertrag ist nichtig (§ 125 Satz 1 BGB). Die Formnichtigkeit wird auch nicht durch eine etwaige Eintragung im Handelsregister geheilt. 2.

Publizität des Nachgründungsvertrages (§ 52 Abs. 2 Sätze 2 – 7)

27 Der Nachgründungsvertrag bedarf zu seiner Wirksamkeit der Zustimmung der Hauptversammlung (§ 52 Abs. 1 Satz 1 und 2). Im Interesse einer umfassenden Information der Aktionäre hat der Gesetzgeber im Zusammenhang mit dem Zustimmungsbeschluss der Hauptversammlung umfangreiche Auslegungs-, Erläuterungs- und Offenlegungspflichten vorgesehen (§§ 124 Abs. 2 Satz 2, 52 Abs. 2 Sätze 2 – 7; siehe auch die parallelen Regelungen in §§ 179a Abs. 2 und 293f und 293g).36) _____________ 33) Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 9; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 25. 34) Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 9; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 52 Rz. 5; Arnold in: KölnKommAktG, § 52 Rz. 20; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 25. 35) Bürgers/Körber/Lieder-Körber, AktG, § 52 Rz. 8; Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 9; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 52 Rz. 20; K. Schmidt/Lutter-Bayer, § 52 Rz. 26 – allerdings mit rechtspolitischen Bedenken; Pentz in: MünchKomm-AktG, § 52 Rz. 23. A. A. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 52 Rz. 5a. 36) Zur Notwendigkeit der vollständigen Auslage aller Unterlagen (im Zusammenhang mit einer Umwandlung nach § 63 UmwG) s. BGH, Urt. v. 23.2.2021, II ZR 65/19 (Metro), ZIP 2019, 738 = EWiR 2021, 323 (Heckschen).

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§ 52

Nachgründung

Bereits in der Bekanntmachung der Tagesordnung für die Hauptversammlung, die über 28 die Zustimmung beschließen soll, ist der wesentliche Inhalt des Vertrages bekannt zu machen (§ 124 Abs. 2 Satz 2). Sodann hat die Gesellschaft von der Einberufung der Hauptversammlung an, den gesamten 29 Vertrag (bzw. den Vertragsentwurf) in ihren Geschäftsräumen37) zur Einsichtnahme durch die Aktionäre auszulegen (§ 52 Abs. 2 Satz 2). Auf Verlangen muss die Gesellschaft (auf ihre Kosten) zudem jedem Aktionär unverzüglich eine Abschrift des Vertrages erteilen (§ 52 Abs. 2 Satz 3). Geheimhaltungsinteressen der Vertragspartner stehen dem nicht entgegen. Die Verpflichtungen zur Auslage und Abschriftserteilung entfallen jedoch, wenn der Vertrag für denselben Zeitraum über die Internetseite der Gesellschaft zugänglich ist (§ 52 Abs. 2 Satz 4, eingefügt durch das ARUG). Börsennotierte AG müssen die Veröffentlichung im Internet allerdings stets zwingend vornehmen (§§ 3 Abs. 2, 124a Satz 1 Nr. 3; siehe auch § 243 Abs. 3 Nr. 2). Schließlich ist der Vertrag in der Hauptversammlung selbst (schriftlich oder elektronisch) 30 zugänglich zu machen (z. B. durch Auslage entsprechender Schriftstücke oder Darstellung auf Bildschirmen) (§ 52 Abs. 2 Satz 5). Dies gilt auch dann, wenn der Vertrag zuvor bereits über die Internetseite der Gesellschaft verfügbar war. Nicht notwendig, aber empfehlenswert ist es, den Aktionären in der Hauptversammlung nicht nur den Nachgründungsvertrag selbst, sondern auch den Nachgründungsbericht des Aufsichtsrats (§ 52 Abs. 3) und den Bericht des (externen) Nachgründungsprüfers zugänglich zu machen. Bei fremdsprachigen Dokumenten muss zusätzlich eine vollständige Übersetzung in deut- 31 scher Sprache ausgelegt bzw. zugänglich gemacht werden. Der Vorstand hat den Vertrag zu Beginn der Hauptversammlung zu erläutern (§ 52 Abs. 2 32 Satz 6). Eine Verlesung des Vertrages ist weder erforderlich noch ausreichend. Vielmehr muss der Vorstand in allgemein verständlicher Sprache den wesentlichen Inhalt des Vertrages und seine Bedeutung für die Gesellschaft darlegen. Dabei muss der Vorstand insbesondere auch auf die Bewertung der vertragsgegenständlichen Vermögensgegenstände eingehen. Der notariellen Niederschrift über die Hauptversammlung (§ 130) ist der Nachgründungs- 33 vertrag als Anlage beizufügen (§ 52 Abs. 2 Satz 7). Nach der Hauptversammlung wird der Vertrag als Teil der Niederschrift zum Handelsregister eingereicht (§ 130 Abs. 5) und ist dort für jedermann einsehbar (§ 9 Abs. 1 HGB). 3.

Prüfung und Berichterstattung (§ 52 Abs. 3, Abs. 4)

a)

Interne Nachgründungsprüfung durch den Aufsichtsrat (§ 52 Abs. 3)

Vor der Beschlussfassung der Hauptversammlung hat der Aufsichtsrat (nicht auch der 34 Vorstand) den Nachgründungsvertrag zu prüfen und darüber einen schriftlichen Bericht zu erstatten (Nachgründungsbericht) (§ 52 Abs. 3 Satz 1). Für den Nachgründungsbericht gelten die Vorschriften über den Gründungsbericht entsprechend (§ 52 Abs. 3 Satz 2 i. V. m. § 32 Abs. 2 und 3). Der Bericht muss insbesondere auch zum Wert des vertragsgegenständlichen Vermögensgegenstandes und der Angemessenheit der Höhe der Vergütung Stellung nehmen. Der Nachgründungsbericht muss vom Vorsitzenden des Aufsichtsrats eigenhändig unter- 35 zeichnet werden.38) Nachdem der Bericht des Aufsichtsrats auch Grundlage für seine Be_____________ 37) Zum Begriff des Geschäftsraums s. BGH, Urt. v. 22.3.2011 – II ZR 229/09, ZIP 2011, 1055 = DB 2011, 1212 – Auslage von Unterlagen nicht zwingend am rechtlichen Sitz der Gesellschaft, sondern an einem für die interessierten Aktionäre leicht zugänglichen Ort. 38) Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 52 Rz. 62.

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Nachgründung

schlussempfehlung an die Hauptversammlung ist (siehe § 124 Abs. 3 Satz 1), müssen die Prüfung und der Bericht nicht erst vor der Hauptversammlung, sondern bereits bei deren Einberufung abgeschlossen sein.39) b)

Externe Nachgründungsprüfung (§ 52 Abs. 4)

36 Darüber hinaus hat vor der Beschlussfassung der Hauptversammlung eine Prüfung des Nachgründungsvertrages durch einen oder mehrere (externe) Gründungsprüfer zu erfolgen (§ 52 Abs. 4 Satz 1). Für die Prüfung und den Bericht gelten die Vorschriften über die externen Gründungsprüfer entsprechend (§ 52 Abs. 4 Satz 2 i. V. m. §§ 33 Abs. 3 – 5, 34 und 35). Dementsprechend kann von einer externen Nachgründungsprüfung abgesehen werden, wenn der Wert der vertragsgegenständlichen Vermögensgegenstände bereits anderweitig verlässlich festgestellt worden ist (§ 52 Abs. 4 Satz 3 i. V. m. § 33a). In allen anderen Fällen ist ein Verzicht auf eine externe Nachgründungsprüfung nicht möglich (aus Gründen des Gläubigerschutzes auch nicht mit Zustimmung aller Aktionäre). 37 Der Bericht des externen Nachgründungsprüfers muss nach dem Gesetzeswortlaut spätestens vor der Beschlussfassung der Hauptversammlung vorliegen (§ 52 Abs. 4 Satz 1). Die Vorlage des Berichts nach der Hauptversammlung ist nur bei Zustimmung aller Aktionäre unschädlich. Interessen der Gläubiger werden dadurch nicht berührt, da der Bericht in jedem Fall zusammen mit der Handelsregisteranmeldung dem Handelsregister eingereicht werden muss (§ 52 Abs. 6 Satz 2) und damit für jedermann zugänglich ist. 4.

Zustimmung der Hauptversammlung (§ 52 Abs. 5)

38 Ein Nachgründungsvertrag bedarf zu seiner Wirksamkeit der Zustimmung der Hauptversammlung (§ 52 Abs. 1 Satz 1 und 2). Die Zustimmung der Hauptversammlung muss sich auf den gesamten Vertrag (einschließlich aller Nachträge, Ergänzungen und Anlagen) beziehen. 39 Im Falle einer Sachkapitalerhöhung sind zwei getrennte Beschlüsse erforderlich: der Beschluss über die Sachkapitalerhöhung (§ 183) und der Beschluss über die Zustimmung zu dem Nachgründungsvertrag. Beide Beschlüsse können in einer Hauptversammlung gefasst werden. 40 Die Zustimmung der Hauptversammlung (§ 52 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 und § 182 BGB) kann sowohl als (vorherige) Einwilligung (§ 183 BGB) als auch als (nachträgliche) Genehmigung (§ 184 BGB) erfolgen.40) Im Falle der Einwilligung ist der Vertrag später zwingend so abzuschließen, wie er von der Hauptversammlung beschlossen worden ist (§ 52 Abs. 2 Satz 7). Kommt es nach dem Beschluss der Hauptversammlung noch zu Änderungen des Vertrags, ist ein erneuter Zustimmungsbeschluss erforderlich. 41 Der Beschluss der Hauptversammlung bedarf einer Mehrheit von mindestens drei Viertel des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals (§ 52 Abs. 5 Satz 1) und zusätzlich einer einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen (§ 133 Abs. 1). Wird der Vertrag im ersten Jahr nach der Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister geschlossen, so müssen außerdem die Anteile der zustimmenden Mehrheit mindestens ein Viertel des gesamten Grundkapitals erreichen (§ 52 Abs. 5 Satz 2). Die Satzung kann für den Zustimmungsbeschluss eine größere (nicht aber eine geringere) Kapitalmehrheit vorsehen (§ 52 _____________ 39) OLG München, Beschl. v. 28.1.2002 – 7 W 814/01, ZIP 2002, 1353, dazu EWiR 2002, 1029 (Schwab). Großzügiger Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 52 Rz. 14 – lediglich Prüfung muss abgeschlossen sein. 40) Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 12; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 52 Rz. 13; Pentz in: MünchKommAktG, § 52 Rz. 33; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 52 Rz. 70. A. A. – nur nachträgliche Genehmigung möglich – Arnold in: KölnKomm-AktG, § 52 Rz. 23 und 28; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 34.

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§ 52

Nachgründung

Abs. 5 Satz 3). In der Satzung können auch weitere Erfordernisse für den Zustimmungsbeschluss geregelt werden (§ 52 Abs. 5 Satz 3). Stimmberechtigt ist jeder Aktionär. Dies gilt auch für den Aktionär, der an dem Nach- 42 gründungsvertrag als Vertragspartner beteiligt ist. Er unterliegt auch keinem Stimmverbot (auch nicht analog § 136 Abs. 1; siehe aber § 243 Abs. 2).41) Bei etwaigen Beschlussmängeln (z. B. Verletzung der Informationspflichten nach § 52 Abs. 2 43 Sätze 2 ff.) gelten die allgemeinen Regelungen über die Anfechtung und Nichtigkeit von Beschlüssen (§§ 241 ff.). Das Freigabeverfahren findet keine (auch keine analoge) Anwendung (siehe § 246a Abs. 1, der Beschlüsse nach § 52 nicht erwähnt). 5.

Eintragung im Handelsregister (§ 52 Abs. 6 – 8)

a)

Anmeldung (§ 52 Abs. 6)

Der Vorstand der Gesellschaft (und zwar in vertretungsberechtigter Zahl) hat den Nach- 44 gründungsvertrag zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden (§ 52 Abs. 6 Satz 1 AktG i. V. m. § 12 HGB). Der Aufsichtsrat muss die Handelsregisteranmeldung nicht mit unterzeichnen.42) Der Handelsregisteranmeldung sind als Anlagen beizufügen: der Nachgründungsvertrag, 45 der Nachgründungsbericht (§ 52 Abs. 3) und der Bericht des (externen) Nachgründungsprüfers (§ 52 Abs. 4), jeweils samt urkundlicher Unterlagen sowie die Niederschrift über den Zustimmungsbeschluss der Hauptversammlung (§ 52 Abs. 6 Satz 2 AktG und § 130 Abs. 5; § 12 Abs. 2 HGB). Falls die Gesellschaft auf eine externe Nachgründungsprüfung verzichtet hat (§ 52 Abs. 4 46 Satz 3 i. V. m. § 33a), müssen in die Handelsregisteranmeldung weitere Erklärungen und Versicherungen zum Wert der Vermögensgegenstände aufgenommen werden (§ 52 Abs. 6 Satz 3 i. V. m. § 37a Abs. 1 und 2). Ferner sind der Anmeldung in diesem Fall entsprechende Unterlagen über den Wert der Vermögensgegenstände beizufügen (§ 52 Abs. 6 Satz 3 i. V. m. § 37a Abs. 3) b)

Prüfung durch das Registergericht (§ 52 Abs. 7)

Das Registergericht prüft die Anmeldung und die beigefügten Unterlagen in formeller 47 und materieller Hinsicht.43) Dabei hat das Registergericht insbesondere (aber nicht nur) zu prüfen, ob der Nachgründungsbericht (§ 52 Abs. 3) richtig und vollständig ist und auch sonst den gesetzlichen Vorschriften entspricht und die von der Gesellschaft gewährte Vergütung der Höhe nach angemessen ist (§ 52 Abs. 7 Satz 1; siehe auch § 38 Abs. 2 in Bezug auf die Gründung). Bei einer vereinfachten Nachgründung, bei der auf eine (externe) Nachgründungsprü- 48 fung verzichtet wird (§ 52 Abs. 4 Satz 3, § 33a), beschränkt sich die Prüfung des Registergerichts grundsätzlich auf die formale Kontrolle, ob die gesetzlich vorgeschriebenen Erklärungen und Versicherungen in der Handelsregisteranmeldung enthalten sind (§ 37a Abs. 1 und Abs. 2) und die vorgeschriebenen Unterlagen (§ 37a Abs. 3) der Handelsregisteranmeldung beigefügt sind (§ 52 Abs. 7 Satz 2 i. V. m. § 38 Abs. 3 Satz 1). Lediglich dann, wenn die von der Gesellschaft gewährte Vergütung offenkundig und erheblich überhöht ist, kann das Registergericht die Eintragung ablehnen (§ 52 Abs. 7 Satz 2 i. V. m. § 38 Abs. 3 Satz 2). _____________ 41) Bürgers/Körber/Lieder-Körber, AktG, § 52 Rz. 15; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 35. 42) Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 25; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 37. 43) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 52 Rz. 17; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 38.

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§ 52 c)

Nachgründung Eintragung im Handelsregister (§ 52 Abs. 8)

49 Im Handelsregister sind der Tag des Abschlusses des Nachgründungsvertrages und der Zustimmung der Hauptversammlung sowie der oder die Vertragspartner der Gesellschaft einzutragen (§ 52 Abs. 8 AktG und § 43 Nr. 6 lit. b, kk HRV). Die Eintragung im Handelsregister ist für die Wirksamkeit des Nachgründungsvertrages von konstitutiver Bedeutung (§ 52 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2). 50 Mit Wirksamwerden des Nachgründungsvertrages werden auch die zu seiner Ausführung geschlossenen Rechtsgeschäfte (und zwar mit Wirkung ex nunc) wirksam (§ 52 Abs. 1 Satz 2).44) Eine erneute Vornahme der Vollzugsgeschäfte ist nicht erforderlich, auch nicht bei der Auflassung von Grundstücken (siehe § 925 BGB). 51 Vor der Eintragung im Handelsregister ist der Nachgründungsvertrag schwebend unwirksam. Allerdings steht dem anderen Vertragsteil kein Widerrufsrecht (analog § 178) zu.45) V.

Ausnahmen (§ 52 Abs. 9)

1.

Laufende Geschäfte

52 Die Nachgründungsvorschriften finden keine Anwendung auf den Erwerb von Vermögensgegenständen i. R. der laufenden Geschäfte (§ 52 Abs. 9 Alt. 1). Damit sind die Alltagsgeschäfte der Gesellschaft gemeint, bei denen die Gefährdung der effektiven Kapitalaufbringung im Allgemeinen ausscheidet.46) 53 Zu den laufenden Geschäften gehören insbesondere solche Erwerbsvorgänge, ohne die der Unternehmensgegenstand nicht sinnvoll verwirklicht werden kann (z. B. die Anschaffung von Waren für ein Handelsunternehmen, der Erwerb von Betriebsmitteln oder der Abschluss von unternehmensbezogenen Dienstleistungsverträgen). Ferner gehört zu den laufenden Geschäften regelmäßig der Erwerb von Gegenständen des Umlaufvermögens – nicht dagegen auch des Anlagevermögens (siehe § 266 Abs. 2 lit. A. und B. HGB). 54 Allein der Umstand, dass der Erwerb des Vermögensgegenstandes zum Gegenstand des Unternehmens gehört (siehe §§ 23 Abs. 3 Nr. 2, 39 Abs. 1 Satz 1), genügt nicht für die Annahme eines laufenden Geschäfts. Nicht nachgründungsfrei ist daher bspw. der Erwerb von Beteiligungen durch eine Holdinggesellschaft47) oder der Erwerb von Immobilien durch eine Immobiliengesellschaft.48) Angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung solcher Geschäfte hat in diesen Fällen unter Berücksichtigung des Normzwecks eine ordnungsgemäße Nachgründung zu erfolgen. 2.

Erwerb in der Zwangsvollstreckung

55 Die Vorschriften über die Nachgründung finden ferner dann keine Anwendung, wenn der Erwerb in der Zwangsvollstreckung erfolgt (§ 52 Abs. 9 Alt. 2).49) Erfasst ist auch der _____________ 44) Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 15 und 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 52 Rz. 9; K. Schmidt/LutterBayer, AktG, § 52 Rz. 42. 45) Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 14; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 52 Rz. 8; Arnold in: KölnKommAktG, § 52 Rz. 41; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 40. Mit Einschränkungen auch Pentz in: MünchKomm-AktG, § 52 Rz. 44 – allerdings für ein rücktrittsähnliches Gestaltungsrecht in Anlehnung u. a. an § 177 Abs. 2 BGB. 46) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 52 Rz. 18; Arnold in: KölnKomm-AktG, § 52 Rz. 47; K. Schmidt/LutterBayer, AktG, § 52 Rz. 46 ff.; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 52 Rz. 16 ff. 47) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 52 Rz. 18; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 47; Spindler/StilzHeidinger, AktG, § 52 Rz. 19. 48) A. A. Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 26; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 52 Rz. 18; K. Schmidt/LutterBayer, AktG, § 52 Rz. 48. 49) Zur Notwendigkeit einer richtlinienkonformen Auslegung – K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 6.

272

Thomas Wachter

Ersatzansprüche bei der Nachgründung

§ 53

Erwerb aufgrund einer Verwertung nach der Insolvenzordnung (§§ 165 f., 173 InsO) und bei Rückgabe eines Pfandes (§ 1223 Abs. 2 BGB). Dabei kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob die Gesellschaft die Zwangsvollstreckung aufgrund eines eigenen Titels betreibt oder lediglich Mitbieterin ist.50) Eine Ausnahme gilt insoweit aber für die Teilungsversteigerung (§ 753 BGB, §§ 180 ff. ZVG); nachgründungsfrei ist in diesem Fall nur der Erwerb aufgrund eines vollstreckbaren Titels.51) 3.

Erwerb an der Börse

Schließlich sind die Vorschriften über die Nachgründung dann nicht zu berücksichtigen, 56 wenn ein Vermögensgegenstand an einer (Wertpapier- oder Waren)Börse erworben wird (§ 52 Abs. 9 Alt. 3). Für einen Erwerb i. R. eines Übernahmeangebots (§ 31 WpÜG) gilt die Vorschrift aufgrund der Bindung an den Börsenpreis entsprechend.52) _____________ 50) Hölters-Solveen, AktG, § 52 Rz. 27. A. A. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 52 Rz. 19 – nur bei Vollstreckung aufgrund eigenen Titels der Gesellschaft. 51) K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 50; Spindler/Stilz-Heidinger, AktG, § 52 Rz. 22. 52) K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 52 Rz. 51.

§ 53 Ersatzansprüche bei der Nachgründung Thomas Wachter

1

Für die Nachgründung gelten die §§ 46, 47, 49 bis 51 über die Ersatzansprüche der Gesellschaft sinngemäß. 2An die Stelle der Gründer treten die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats. 3Sie haben die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. 4Soweit Fristen mit der Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister beginnen, tritt an deren Stelle die Eintragung des Vertrags über die Nachgründung. Bei der Nachgründung (§ 52) sind die Grundsätze der Gründungshaftung entsprechend 1 anwendbar (§ 53). Mit der Nachgründungshaftung soll die Gesellschaft vor Nachteilen im Zusammenhang mit der Nachgründung geschützt werden und damit die reale Kapitalaufbringung gewährleistet werden.1) Die Nachgründungshaftung ist zwingend. Ziel der Regelung ist es, die Haftung bei der Nachgründung nach den gleichen Grund- 2 sätzen wie die Gründerhaftung zu regeln (§ 53 Satz 1), dabei aber auch die Besonderheiten der Nachgründung angemessen zu berücksichtigen (§ 53 Sätze 2 – 4).2) Dementsprechend treten bei der Nachgründung die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats an die Stelle der Gründer (§ 53 Satz 2). Haftungsmaßstab ist dabei die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters (§ 53 Satz 3).3) Für den Beginn von Fristen wird nicht auf die Handelsregistereintragung der Gesellschaft, sondern des Vertrages über die Nachgründung abgestellt (§ 53 Satz 4; siehe §§ 47 Nr. 3, 50 Satz 1 und 51). Die Haftung der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats nach den allgemeinen 3 Vorschriften (§§ 93, 116) bleibt daneben unberührt.4) _____________ 1) 2) 3) 4)

K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 53 Rz. 2. Hölters-Solveen, AktG, § 53 Rz. 1; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 51 Rz. 2. Hölters-Solveen, AktG, § 53 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 53 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 51 Rz. 6. Hölters-Solveen, AktG, § 53 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 53 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Bayer, AktG, § 51 Rz. 5.

Thomas Wachter

273

Dritter Teil Rechtsverhältnisse der Gesellschaft und der Gesellschafter § 53a Gleichbehandlung der Aktionäre Wolfgang Servatius

Aktionäre sind unter gleichen Voraussetzungen gleich zu behandeln. Literatur: Bachmann, Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Kapitalmarktrecht, ZHR 170 (2006) 144; Burgard, Die Förder- und Treupflicht des Alleingesellschafters einer GmbH – Überlegungen zu einer gläubigerschützenden Corporate Governance bei der GmbH, ZIP 2002, 827; Cahn/Senger, Das Gesetz zur Regelung von öffentlichen Angeboten zum Erwerb von Wertpapieren und von Unternehmensübernahmen, FB 2002, 277; Dreher, Treuepflichten zwischen Aktionären und Verhaltenspflichten bei der Stimmrechtsbündelung, ZHR 157 (1993) 150; Eidenmüller, Kapitalgesellschaftsrecht im Spiegel der ökonomischen Theorie, JZ 2001, 1041; Fleischer, Vertragsschlussbezogene Aufklärungspflichten zwischen Personengesellschaftern – Zugleich ein Beitrag zur culpa in contrahendo im Gesellschaftsrecht, NZG 2000, 561; Grigoleit, Gesellschafterhaftung für interne Einflussnahme im Recht der GmbH, 1999; Henn, Die Gleichbehandlung der Aktionäre in Theorie und Praxis, AG 1985, 240; Hennrichs, Treuepflichten im Aktienrecht, AcP 195 (1995) 221; Herz, Informationelle Gleichbehandlung und Informationsprivilegien im Aktienrecht, NZG 2020, 285; Hüffer, Der korporationsrechtliche Charakter von Rechtsgeschäften – Eine hilfreiche Kategorie bei der Begrenzung von Stimmrechtsverboten im Recht der GmbH, in: Festschrift für Theodor Heinsius, 1991, S. 337; Hüffer, Zur Darlegungsund Beweislast bei der aktienrechtlichen Anfechtungsklage, in: Festschrift für Hans-Joachim Fleck, 1988, S. 151; Hüffer, Harmonisierung des aktienrechtlichen Kapitalschutzes, NJW 1979, 1065; Kindler, Die Treuepflichtklausel in der Satzung der Aktiengesellschaft, in: Festschrift für Sebastian Spiegelberger, 2009, S. 778; Kleinert/Mayer, Bestandaufnahme und anstehende Neuerungen durch die Umsetzung der EU-Aktionärsrechterichtlinie II, EuZW 2018, 314; Langner, Kapitalmarktkommunikation durch den Aufsichtsratsvorsitzenden, NZG 2015, 44; Lutter, Treupflichten und ihre Anwendungsprobleme, ZHR 162 (1998) 164; Lutter, Zur Treupflicht des Großaktionärs, JZ 1976, 225; Lutter, Theorie der Mitgliedschaft, AcP 180 (1980) 84; MarschBarner, Treuepflichten zwischen Aktionären und Verhaltenspflichten bei der Stimmrechtsbündelung, ZHR 157 (1993) 172; Martens, Die Vergleichs- und Abfindungsbefugnis des Vorstands gegenüber opponierenden Aktionären, AG 1988, 118; Martens, Der Ausschluß des Bezugsrechts: BGHZ 33, S. 175, in: Festschrift für Robert Fischer, 1979, S. 437; Paefgen, Die Gleichbehandlung beim Aktienrückerwerb im Schnittfeld von Gesellschafts- und Übernahmerecht, ZIP 2002, 1509; Priester, Schuldrechtliche Vereinbarungen zur Gewinnverteilung bei der AG, ZIP 2015, 2156; Ruthart, Abfindungsbemessung beim Squeeze out, NZG 2015, 1387; Ruthart, Angemessene Barabfindung und Gleichbehandlung von Minderheits- und Mehrheitsaktionären, NZG 2014, 972; Schäfer, Rechte und Pflichten des privaten Großaktionärs, ZHR 185 (2021) 226; Szalai, Die Treuepflicht als aktienrechtliche Schranke des Anfechtungsrechts, DStR 2008, 358; Veil, Transaktionen mit Related Parties im deutschen Aktien- und Konzernrecht, NZG 2017, 521; Voges, Zum Grundsatz der Gleichbehandlung im Aktienrecht, AG 1975, 197; Wank, Antidiskriminierungsrecht im Selbstständigenrecht und im Gesellschaftsrecht, in: Festschrift für Uwe Hüffer, 2010, S. 1051; Zetzsche, § 53a Aktiengesetz als Informationsnorm?, AG 2019, 701; Zöllner, Treupflichtgesteuertes Aktienkonzernrecht, ZHR 162 (1998) 235.

Wolfgang Servatius

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§ 53a

Gleichbehandlung der Aktionäre Übersicht

I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt ................................................. 1 II. Gleichbehandlungsgrundsatz ......... 4 1. Dogmatische Grundlegung ............... 4 2. Anwendungsbereich .......................... 7 a) Verhältnis zwischen AG und Aktionären ........................... 8 b) Verhältnis der Aktionäre untereinander ............................. 12 3. Gleichbehandlungsmaßstab ............ 14 a) Vermögensmäßige Beteiligung ................................. 15 b) Gleichbehandlung nach Köpfen ....................................... 17 4. Gebot der Gleich- bzw. Ungleichbehandlung ....................................... 19 a) Belastungen oder Vergünstigungen ........................................ 20 b) Zulässige Gruppenbildung ........ 22 5. Sachliche Differenzierung als Rechtfertigung ................................. 23 a) Grundlagen ................................ 23 b) Vorgaben der materiellen Beschlusskontrolle ......................... 25 aa) Gesellschaftsinteresse ............... 26 bb) Erforderlichkeit ......................... 27 cc) Verhältnismäßigkeit .................. 28 I.

6. Rechtsfolgen bei Verstößen ............. 29 a) Hauptversammlungsbeschlüsse ................................... 30 b) Verwaltungshandeln ................... 31 c) Beweislast .................................... 33 7. Gestaltungsfreiheit ........................... 34 8. Kasuistik zum Gleichbehandlungsgebot ......................................... 35 III. Treuepflicht der Aktionäre ............ 36 1. Allgemeines ....................................... 36 2. Dogmatische Grundlegung .............. 39 3. Funktion ........................................... 40 4. Anwendungsbereich ......................... 43 5. Treuepflicht der Mehrheit ................ 45 a) Allgemeines ................................ 45 b) Treuepflicht gegenüber der AG ........................................ 48 c) Treuepflicht gegenüber der Minderheit ............................ 51 6. Treuepflicht der Minderheit ............ 53 7. Rechtsfolgen bei Verletzung der Treuepflicht ................................ 56 a) Beschlussanfechtung .................. 57 b) Unterlassungsansprüche ............ 58 c) Schadensersatz ............................ 59 8. Gestaltungsfreiheit ........................... 60 IV. Treuepflicht der AG ....................... 61

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

1 Die Norm regelt für die AG zentral den auch im übrigen Gesellschaftsrecht anerkannten Gleichbehandlungsgrundsatz. Sie beruht auf Art. 46 der früheren Kapitalrichtlinie, nunmehr Art. 85 der Gesellschaftsrechts-Richtlinie,1) geht jedoch darüber hinaus2) und war bereits vor ihrer Einfügung ins AktG im Jahr 1979 gesellschaftsrechtliches Allgemeingut.3) Gleichwohl ist ihr eine wegen der hierüber vermittelten Rechtssicherheit und -klarheit wichtige konstitutive Bedeutung zuzusprechen.4) Die Regelung schützt die Aktionäre vor einer willkürlichen Ungleichbehandlung durch die AG.5) Im Kern muss sich hiernach das gesamte Handeln der Organe am Gleichbehandlungsgebot orientieren, soweit dieses nicht wirksam abbedungen wurde oder sachliche Gründe eine Abweichung rechtfertigen. _____________ 1) 2)

3)

4) 5)

276

Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (Gesellschaftsrechts-Richtlinie), ABl. (EU) L 169/46 v. 30.6.2017. Art. 85 der Gesellschaftsrecht-Richtlinie verlangt wie die frühere Kapitalrichtlinie eine Gleichbehandlung der Aktionäre nur im sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie; tendenziell weiter, jedoch sehr vage, EuGH, Urt. v. 15.10.2009 – C-101/08 (Audiolux), ZIP 2009, 2241 = NZG 2009, 1350. Vgl. zur Gleichbehandlung der Aktionäre i. R. der Hauptversammlung auch Art. 4 der Aktionärsrechterichtlinie. Vgl. nur RGZ 41, 97, 99; BGH, Urt. v. 11.11.1965 – II ZR 122/63, BGHZ 44, 245; BGH, Urt. v. 9.11.1992 – II ZR 230/91, ZIP 1992, 1728; Hüffer, NJW 1979, 1065, 1068; Voges, AG 1975, 197. Grundlegend zur Gleichbehandlung G. Hueck, Der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Privatrecht, 1958; Verse, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006. Abweichend Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 53a Rz. 1 – teilweise nur deklaratorische Bedeutung. BGH, Urt. v. 22.10.1992 – IX ZR 159/92, ZIP 1992, 1785 = NJW 1993, 400.

Wolfgang Servatius

§ 53a

Gleichbehandlung der Aktionäre

Praktisch ist der Gleichbehandlungsgrundsatz so vor allem ein Instrument des Minderheitenschutzes.6) Spezialgesetzliche Ausprägungen des Gleichbehandlungsgrundsatzes sind §§ 12 Abs. 1, 2 60 Abs. 1, 71 Abs. 1 Nr. 8, 131 Abs. 4 Satz 1, 186 Abs. 1, 255 Abs. 2, 271 Abs. 2. Vgl. aber auch § 243 Abs. 2, wonach eine an sich rechtswidrige Ungleichbehandlung bei vermögensmäßiger Kompensation ausdrücklich zulässig ist. Eng mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz verbunden, jedoch in der Reichweite weitergehend, ist die mitgliedschaftliche Treuebindung innerhalb der AG, der sowohl die Aktionäre wie die AG selbst unterliegen (siehe unten Rz. 61). In welchem Verhältnis Treuepflicht und Gleichbehandlungsgebot stehen, ist nach wie vor umstritten, für die praktische Anwendung jedoch letztlich unerheblich, da beide Rechtsinstitute durchaus funktional vergleichbar sind.7) Im Kapitalmarktrecht gilt der Gleichbehandlungsgrundsatz aufgrund spezieller Regelun- 3 gen gemäß § 48 WpHG8) sowie bei Übernahmen gemäß § 3 Abs. 1 WpÜG.9) Darüber hinaus wird der Gleichbehandlungsgrundsatz auch diskutiert, wenn es um die Platzierung neuer Aktien beim Going Public geht; dies kann jedoch richtigerweise nicht auf § 53a gestützt werden, soweit es um künftige Aktionäre geht.10) Das allgemeine zivilrechtliche Benachteiligungsverbot gemäß § 19 AGG kommt wegen des abweichenden Schutzzwecks der Diskriminierungsregeln im Verhältnis der Aktionäre untereinander und im Verhältnis zwischen AG und Aktionären nicht zur Anwendung.11) II.

Gleichbehandlungsgrundsatz

1.

Dogmatische Grundlegung

Für die praktische Anwendung hat der kontrovers geführte Streit über die rechtliche Be- 4 gründung des Gleichbehandlungsgrundsatzes keine unmittelbare Relevanz, zumal regelmäßig unmittelbar auf § 53a abgestellt werden kann.12) Gleichwohl sind die verschiedenen Erklärungsmuster nach wie vor bedeutsam, um Reichweite und praktische Anwendung des Gleichbehandlungsgebots auch in konkreten Einzelfällen überzeugend zu begründen. § 53a ist eine offene Regelung, die auf der Tatbestands- und Rechtsfolgenseite einer methodisch nachvollziehbaren und am Schutzzweck orientierten, inhaltlichen Präzisierung bedarf.13) Als Geltungsgrund für den Gleichbehandlungsgrundsatz werden vor allem das rechtsge- 5 schäftlich begründete Gesellschaftsverhältnis bzw. die Mitgliedschaft sowie ein überpositives Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit herangezogen.14) Wenngleich allen Ansichten letzt_____________ 6) So auch K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 5 – „Eckpfeiler des Minderheitenschutzes“. 7) So auch K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 12 m. w. N.; für den Gleichbehandlungsgrundsatz als Ausfluss der Treuepflicht – OLG Stuttgart, Urt. v. 12.5.1999 – 20 U 62/98, AG 2000, 229, 230; für einen Vorrang der Treuepflichtkontrolle in den Fällen materieller Ungleichbehandlung GrigoleitGrigoleit/Rachlitz, AktG, § 53a Rz. 13 f., was jedoch nicht überzeugt (s. unten Rz. 20 f.). 8) Vgl. hierzu auch Art. 17 Abs. 1 der Transparenzrichtlinie (Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.12.2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG, ABl. (EU) L 390/38 v. 31.12.2004). 9) Einzelheiten bei Cahn/Senger, FB 2002, 277, 281. 10) Eingehend Bachmann, ZHR 170 (2006) 144. 11) Wank in: FS Hüffer, S. 1051, 1065 ff. 12) Teilweise abweichend Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 53a Rz. 1 wegen der Einordnung als deklaratorische Norm. 13) Ähnlich K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 14 – konkretisierungsbedürftiges Rechtsprinzip; Lutter/Zöllner in: KölnKomm-AktG, § 53a Rz. 5 – Generalklausel. 14) Einzelheiten m. w. N. bei K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 13.

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277

§ 53a

Gleichbehandlung der Aktionäre

lich viel Überzeugungskraft innewohnt, ergeben sich dennoch zumindest in Einzelaspekten Unterschiede, die eine differenzierte Betrachtung erfordern. Für die praktische Anwendung bedeutsam ist hierbei zunächst, dass die vielfach angeführte rechtsgeschäftliche Anknüpfung nicht überinterpretiert werden darf. Das Gleichbehandlungsgebot folgt nicht daraus, dass die (Gründungs-)Aktionäre dies wollten oder gar zur verbindlichen Regel erhoben haben. Insoweit ist es unstreitig, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz auch gilt, wenn eine ursprüngliche Einpersonen-AG nachträglich den Mitgliederbestand erweitert. 6 Auf der anderen Seite ist die Bindung an die Mitgliedschaft ernst zu nehmen, denn es bedarf wegen Art. 9 GG der Wahlfreiheit, sich der kollektiv zu betrachtenden Gleichbehandlung zu unterwerfen oder nicht. Hieraus folgt zentral, dass sich der Gleichbehandlungsmaßstab und die Möglichkeit zur Ungleichbehandlung stets nur auf die gegenwärtigen Aktionäre beziehen und auch nur Verbands- oder ggf. auch Aktionärsinteressen zur sachlichen Rechtfertigung herangezogen werden dürfen. Es wäre mit Art. 9 GG unvereinbar, den Gleichbehandlungsgrundsatz zur Verfolgung externer Einzelinteressen oder Allgemeininteressen heranzuziehen. Insgesamt betrachtet ist es daher geboten, im Gleichbehandlungsgebot gemäß § 53a ein wesentliches, in Einzelfällen aber abdingbares objektives gesellschaftsrechtliches Strukturprinzip zu sehen, welches sowohl die Einzelinteressen der Verbandsmitglieder als auch die objektive Funktionsfähigkeit des auf Selbstregulierung beruhenden Personenverbands verwirklicht.15) Zur Abgrenzung des Gleichbehandlungsgebots vom Diskriminierungsverbot siehe sogleich Rz. 12. 2.

Anwendungsbereich

7 Das Gleichbehandlungsgebot gilt während des Bestehens einer AG, auch im Stadium der Vorgesellschaft16) und bei der Liquidation (vgl. nur § 271 Abs. 3). a)

Verhältnis zwischen AG und Aktionären

8 Die Regelung betrifft unstreitig das Verhältnis der Aktionäre zur AG, wenn für jene der Vorstand, Aufsichtsrat oder die Hauptversammlung handelt.17) Soweit der Insolvenzverwalter über § 80 Abs. 1 InsO die entsprechenden Befugnisse bei vermögensbezogenen Angelegenheiten wahrnimmt,18) ist er ebenfalls daran gebunden.19) 9 Dritte werden aus § 53a weder begünstigt noch verpflichtet. Dies gilt auch für künftige Aktionäre, selbst wenn diese bereits (rein schuldrechtlich!) Inhaber einer Wandel- oder Optionsanleihe sind.20) Bei ehemaligen Aktionären ist jedoch eine Ausnahme von der Nichtgeltung zu machen, wenn eine Rechtsbeziehung aus der Zeit der früheren Mitgliedschaft noch nicht beendet ist, z. B. im Spruchverfahren.21) Möglich und geboten ist auch, Dritte, die rechtlich oder wirtschaftlich einem Aktionär zuzurechnen sind (Einzelheiten siehe § 57 Rz. 34 ff.), in den Geltungsbereich von § 53a einzubeziehen, z. B. bei Begünstigungen durch die AG.22) _____________ Hierzu ausführlich Servatius, Strukturmaßnahmen als Unternehmensleitung, 2003, S. 183 ff. Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 53a AktG Rz. 8. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 8.6.1973 – 19 W 21/72, AG 1973, 282, 284. Vgl. z. B. bei der Einforderung von Einlagen Servatius in: BeckOGK-AktR, § 182 AktG Rz. 83 ff. Dies offenlassend OLG München, Urt. v. 26.5.2010 – 7 U 5707/09, ZIP 2010, 2153 = NZG 2010, 1233. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 17; zu einer auf Gleichbehandlungsaspekte gestützten Analogie von § 304 zugunsten der Genussscheininhaber aber BGH, Urt. v. 28.5.2013 – II ZR 67/12 (Eurohypo/Rheinhyp/Essenhyp), ZIP 2013, 1570 = WM 2013, 1550, dazu EWiR 2013, 533 (Priester). 21) Zu Vor- und Nachwirkungen eingehend Verse, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, S. 220 ff. 22) Vgl. LG Kassel, Urt. v. 24.11.1988 – 11 O 1063/88, ZIP 1989, 306, 308. 15) 16) 17) 18) 19) 20)

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§ 53a

Gleichbehandlung der Aktionäre

Der Gleichbehandlungsgrundsatz betrifft nur das gesellschaftsbezogene Verhalten der 10 AG gegenüber den Aktionären (causa societatis). Handelt es sich daher um ein sog. Drittgeschäft, welches zwischen AG und Aktionär geschlossen wird, gilt § 53a grundsätzlich nicht.23) Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass das Rechtsgeschäft – funktional betrachtet – auch mit Außenstehenden geschlossen werden könnte und würde. Verdeckte Gewinnausschüttungen an einzelne Aktionäre verstoßen daher regelmäßig gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. Sofern die Willensbildung des Vorstands durch den Aktionär beeinflusst wurde (faktische Beherrschung, Konzern), handelt es sich ebenfalls um gesellschaftsbezogenes Verhalten, so dass (u. a.) auch § 53a zu beachten ist.24) Im Konzern gilt das Gleichbehandlungsgebot stets nur bezogen auf die hieran jeweils be- 11 teiligten Rechtsträger. Hieraus folgt konsequenterweise, dass insbesondere kein konzernweites Bezugsrecht besteht.25) Im Rahmen der sachlichen Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung von Aktionären (siehe unten Rz. 23 ff.) kommt es im Konzern jedoch regelmäßig nicht auf das Gesellschaftsinteresse der jeweils beteiligten Gesellschaften an, sondern auf das höherrangige Konzerninteresse. b)

Verhältnis der Aktionäre untereinander

Umstritten ist, ob und ggf. inwieweit der Gleichbehandlungsgrundsatz auch im Verhält- 12 nis der Aktionäre untereinander Geltung beansprucht. Die h. M. lehnt dies zutreffend ab.26) Wollte man einzelne Aktionäre zur Gleichbehandlung ihrer Mitaktionäre verpflichten, müsste ihnen die Rechtsmacht eingeräumt sein, eine Maßnahme mit kollektiver Wirkung herbeizuführen („behandeln“), was anders als bei den Organen der AG nicht der Fall ist. Insofern unterscheidet sich das Gleichbehandlungsgebot vom Diskriminierungsverbot. Letzteres verbietet auch die willkürliche Benachteiligung im Einzelfall, sofern es sich nur um ein Rechtsgeschäft handelt, welches typischerweise, d. h. nicht in concreto, in einer Vielzahl von Fällen zustande kommt (vgl. § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG). Die Geltung des gesellschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes setzt demgegenüber – wie im Arbeitsrecht – voraus, dass es sich um eine rechtliche oder tatsächliche Maßnahme handelt, die aufgrund einer (verbands-)rechtlichen Identifizierung einer Gruppe konkret mehrere (potentielle) Adressaten hat. Ein allgemeines Willkürverbot gegenüber jedermann ist dem deutschen Zivilrecht fremd und trotz der zunehmenden Materialisierung (vgl. AGG und § 242 BGB) die begründungsbedürftige Ausnahme (Art. 2 Abs. 1 GG, Privatautonomie). Überträgt man dies auf die AG, fehlt es gerade an der verbandsrechtlich begründeten 13 Möglichkeit, dass ein Aktionär seine Mitgesellschafter kollektiv adressieren kann und sich dann ggf. rechtswidrig verhält, indem er sachwidrig einige Aktionäre bevorzugt. Dies gilt nicht nur bei der Ausübung seiner Mitgliedschaftsrechte (Stimmrecht, Information), sondern auch dann, wenn einem einzelnen Aktionär oder einer Aktionärsgruppe Kompetenzen außerhalb ihrer Mitwirkung in der Hauptversammlung zustehen (vgl. §§ 122, 148) oder er über die Mitgliedschaft als solche verfügt (Anteilsübertragung) bzw. Anteile anderer _____________ 23) LG Lüneburg, Entsch. v. 24.1.1961 – 4 O 403/61, DB 1961, 402; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 18. 24) Vgl. BGH, Urt. v. 14.1.1997 – KZR 30/95, ZIP 1997, 858 = AG 1997, 414; zum Ganzen ausführlich Lutter/Zöllner in: KölnKomm-AktG, § 53a Rz. 21. 25) Einzelheiten bei Servatius in: BeckOGK-AktR, § 182 AktG Rz. 90, m. N. zur Gegenmeinung. 26) Vgl. OLG München, Beschl. v. 28.7.2021 – 7 AktG 4/21, Rz. 91, NZG 2021, 1594 = BeckRS 2021, 20705; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 16; Verse, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, S. 172 ff.; abweichend aber Reul, Die Pflicht zur Gleichbehandlung der Aktionäre bei privaten Kontrolltransaktionen, 1991, S. 270 ff.

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Gleichbehandlung der Aktionäre

Aktionäre zu erwerben beabsichtigt.27) Auch der Zusammenschluss zu Aktionärsgruppen (Stimmbindungsverträge, Acting in Concert)28) ist nicht an das Gleichbehandlungsgebot gebunden.29) Die hieraus resultierende Nichtgeltung von § 53a bedeutet jedoch nicht, dass im Verhältnis der Aktionäre untereinander keine rechtlichen Schranken zu beachten wären. Hiervon abzugrenzen sind nämlich die auch den einzelnen Aktionär ggf. treffende Treuepflichtbindung (siehe unten Rz. 36 ff.) und die Zurechnung eines individuellen Aktionärshandelns zu einem Organ, insbesondere bei der Mehrheitsmacht in der Hauptversammlung. Im letztgenannten Fall unterliegt der Aktionär mittelbar ohne weiteres § 53a, indem sich die Beschlussfassung hieran messen lassen muss. Eine weitere Ausnahme besteht beim Abfindungsrecht der Minderheitsaktionäre i. R. eines Squeeze-out (§§ 327a ff.). Indem es sich hierbei um ein gesellschaftsrechtliches Rechtsinstitut handelt, gilt § 53a richtigerweise auch im Verhältnis zwischen Haupt- und Minderheitsaktionären, soweit es um die gleichmäßige, am Nennwert der Aktien orientierte Ermittlung der Abfindungshöhe geht.30) 3.

Gleichbehandlungsmaßstab

14 Die AG ist eine Kapitalgesellschaft. Der Maßstab für die Gleichbehandlung ist daher im Regelfall die über die Aktie vermittelte vermögensmäßige Beteiligung des Aktionärs und nicht seine persönliche Stellung.31) Auf der anderen Seite gibt es auch Gestaltungen, bei denen die Gleichbehandlung nach Kapitalanteilen nicht möglich ist bzw. der bezweckte Aktionärsschutz nicht hinreichend verwirklicht werden könnte. In diesen Fällen ist eine Gleichbehandlung nach Köpfen geboten. Hieraus resultiert ein differenziertes System, so dass man keineswegs pauschal sagen kann, es käme auf eine Gleichbehandlung der Aktien an und nicht der Aktionäre.32) Richtigerweise ist bei jeder in Rede stehenden Maßnahme konkret zu fragen, welcher Maßstab das gesetzgeberische Anliegen, die Aktionäre vor willkürlichen Benachteiligungen zu schützen, sachgerecht verwirklicht.33) a)

Vermögensmäßige Beteiligung

15 Ein Gebot der Gleichbehandlung anhand der vermögensmäßigen Beteiligung der Aktionäre besteht vor allem bei: Stimmrecht (§§ 12, 134 Abs. 1 Satz 1); Einlagepflicht (§ 54 Abs. 1, vgl. insofern auch explizit § 19 Abs. 1 GmbHG); Gewinnverteilung (§ 60 Abs. 1); Bezugsrecht (§ 186 Abs. 1 Satz 1); Anteil am Liquidationserlös (§ 271 Abs. 3); Rückerwerb eigener Aktien (§ 71 Abs. 1 Nr. 8); Abfindung beim Squeeze-out (§§ 327a ff.).34) Maßgebliche Bezugsgröße ist der Nennbetrag der Aktien bzw. die Zahl der gehaltenen Stückaktien; ein höherer Ausgabebetrag (korporatives oder gar schuldrechtliches Agio, vgl. § 9), ist im gesetzlichen Regelfall unerheblich (zur Satzungsautonomie siehe unten Rz. 34). 16 Auf die tatsächliche Erbringung der Einlagen kommt es grundsätzlich nicht an. Eine wichtige Ausnahme betrifft aber das Stimmrecht (vgl. § 134 Abs. 2), den Gewinnanspruch (vgl. § 60 Abs. 2) und die Verteilung des Liquidationserlöses (vgl. § 271 Abs. 3). Darüber hinaus _____________ 27) 28) 29) 30) 31) 32) 33) 34)

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OLG München, Beschl. v. 28.7.2021 – 7 AktG 4/21, Rz. 91, NZG 2021, 1594 = BeckRS 2021, 20705. Vgl. BGH, Urt. v. 14.1.1997 – KZR 30/95, ZIP 1997, 858 = AG 1997, 414. Vgl. für schuldrechtliche Vereinbarungen zur Gewinnverteilung auch Priester, ZIP 2015, 2156, 2158 f. Vgl. insofern auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 28.10.2019 – I-26W 3/17, Rz. 18, BeckRS 2019, 28536; zum Ganzen Ruthart, NZG 2015, 1387; Ruthart, NZG 2014, 972. BGH, Urt. v. 19.12.1977 – II ZR 136/76 (Mannesmann), BGHZ 70, 117 = NJW 1978, 540. So aber K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 3. Ähnlich Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 53a AktG Rz. 15 – Ermittlung im Wege der Auslegung. Vgl. hierzu auch die ökonomischen Ausführungen von Ruthart, NZG 2015, 1397, 1389 ff.; Ruthart, NZG 2014, 972.

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§ 53a

Gleichbehandlung der Aktionäre

kann es im Einzelfall aus teleologischen Aspekten auch in anderen Bereichen geboten sein, die noch nicht vollständig erbrachte Einlage als sachliches Differenzierungskriterium für eine Ungleichbehandlung heranzuziehen (siehe unten Rz. 23 ff.). b)

Gleichbehandlung nach Köpfen

Viele Individualrechte der Aktionäre (teilweise als Hilfsrechte bezeichnet),35) lassen sich 17 nicht vermögensmäßig quantifizieren, so dass als Maßstab für die Gleichbehandlung allein auf die Person des Aktionärs abzustellen ist, unabhängig davon, wie viele Aktien er hält. Ein Gebot der Gleichbehandlung aller Aktionäre ohne Ansehen der vermögensmäßigen Beteiligung besteht daher vor allem bei: –

Teilnahme an der Hauptversammlung (§§ 118 Abs. 1);



Rederecht (streitig);36)



Auskunftsrecht (§ 131);



Anfechtungsbefugnis (§ 245 Nr. 1 und 2).

Werden Aktien gemeinschaftlich gehalten, vergrößert dies die Position der Rechtsinhaber 18 nicht. 4.

Gebot der Gleich- bzw. Ungleichbehandlung

Aus § 53a folgt, dass entsprechend dem vorstehend dargelegten Maßstab Gleiches gleich 19 und Ungleiches ungleich zu behandeln ist, sofern eine Abweichung hiervon nicht sachlich gerechtfertigt ist (siehe dazu unten Rz. 23 ff.) oder im Einzelfall auf die Gleichbehandlung verzichtet wurde (siehe unten Rz. 34). a)

Belastungen oder Vergünstigungen

Als Behandlung i. S. von § 53a kommen sämtliche Belastungen oder Vergünstigungen der 20 Aktionäre in Betracht. Richtigerweise gilt hier eine materielle Betrachtung, d. h. es kommt nicht darauf an, ob Rechtspositionen formal verändert werden (Höchststimmrechte für Einzelne,37) unterschiedlich langes Rederecht auf der Hauptversammlung etc.).38) Ausreichend ist vielmehr auch eine rein wirtschaftliche Beeinflussung der Aktionärsinteressen. Letzteres ist insbesondere relevant, wenn einem einzelnen Aktionär – regelmäßig zugleich unter Verletzung von § 57 – besondere Vermögensvorteile zugewendet werden.39) Bei der materiellen bzw. wirtschaftlichen Betrachtung ist entgegen der h. M. auch nicht allein auf die in der Mitgliedschaft selbst verkörperten Interessen abzustellen.40) Die finanzielle Leistungsfähigkeit, an einer Kapitalerhöhung teilzunehmen oder nicht, ist z. B. durchaus ein (privater) Umstand, der eine Ungleichbehandlung i. S. von § 53a nach sich ziehen kann (sog. faktischer Bezugsrechtsausschluss).41) Das Gleiche gilt, wenn die rechtliche Ausge_____________ 35) Vgl. nur K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 26; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 53a Rz. 11. 36) Abweichend die h. M., vgl. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 26 m. w. N.; ähnlich Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 53a Rz. 7, der die vermögensmäßige Beteiligung als Sachgrund für eine angemessene Differenzierung ansieht; wie hier aber Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 53a AktG Rz. 18; vgl. insofern auch die gesetzgeberische Abkehr von der früher vertretenen Theorie der potentiellen Kausalität für die Ermittlung anfechtungsbegründender Verfahrensmängel in § 243 Abs. 4 Satz 1. 37) Vgl. BGH, Urt. v. 19.12.1977 – II ZR 136/76, (Mannesmann), BGHZ 70, 117 = NJW 1978, 540. 38) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 28; abweichend Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 53a Rz. 13 f., die materielle Beeinträchtigungen vorrangig als möglichen Treuepflichtverstoß behandeln. 39) Vgl. Bungeroth in: MünchKomm-AktG, § 53a Rz. 33; Martens, AG 1988, 118, 112. 40) Vgl. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 30 m. w. N. 41) Einzelheiten bei Servatius in: BeckOGK-AktR, § 186 AktG Rz. 89 ff.

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staltung der Aktien einigen Aktionären in besonderer Weise Vorteile bei der Veräußerung am Kapitalmarkt verschafft42) oder eine gesellschaftsrechtliche Maßnahme nur einen Teil der Gesellschafter steuerrechtlich begünstigt.43) Zuzugeben ist allerdings, dass eine nicht unmittelbar in der Mitgliedschaft beruhende Ungleichbehandlung der Aktionäre leichter zu rechtfertigen ist als ein unmittelbarer Eingriff. 21 Hiermit zusammenhängend ist die Frage, auf welche Weise die am Gleichbehandlungsgebot zu messenden Maßnahmen die Aktionäre treffen müssen. Auch hier gilt eine weite Auslegung, so dass alle unmittelbaren und mittelbaren Folgen in die Betrachtung miteinzubeziehen sind. Ein wichtiges Beispiel hierfür ist die Kapitalherabsetzung 10:1, bei der es sich vor allem bei den Kleinaktionären um eine Belastung handelt, die den Großen nicht zukommt, nämlich den Verlust der Mitgliedschaft.44) Insofern kann durchaus eine Parallele zu den aus dem Arbeitsrecht bekannten Fällen der mittelbaren Diskriminierung gezogen werden. Würde man in den Fällen der materiellen Belastung demgegenüber mit Teilen der Literatur allein auf die Treuepflicht rekurrieren,45) wäre das der Sache nach in § 53a weit angelegte Schutzanliegen der Gleichbehandlung wegen der höheren und wenig umrissenen Anforderungen an die Bejahung einer (subjektiven) Treuwidrigkeit unterlaufen, was auch ein Umsetzungsdefizit bei Art. 85 der Gesellschaftsrechts-Richtlinie46) begründet. b)

Zulässige Gruppenbildung

22 Es fehlt bereits an einer rechtfertigungsbedürftigen Gleich- oder Ungleichbehandlung, wenn die sich auf § 53a berufenden Aktionäre einer anderen Vergleichsgruppe angehören als der, der die Vergünstigung oder Belastung bestimmungsgemäß (objektiv!) zukommt. Wichtigster Fall sind die Vorzugsaktionäre, die in Bezug auf die rechtliche Ausgestaltung des Vorzugs und der hiermit verbundenen Belastung (§§ 139 ff.) nicht nachträglich auf Gleichbehandlung mit den Stammaktionären pochen können (für die anderen Bereiche und die nachträgliche Ausgestaltung der Vorzugsaktien besteht diese Möglichkeit jedoch ohne weiteres).47) Vgl. zu den Möglichkeiten, verschiedene Aktiengattungen zu bilden, i. Ü. § 11. 5.

Sachliche Differenzierung als Rechtfertigung

a)

Grundlagen

23 Liegt eine Ungleichbehandlung im vorbeschriebenen Sinne vor, kann die betreffende Maßnahme gleichwohl rechtmäßig sein. Wie bei Art. 3 Abs. 1 GG und beim arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz bedarf es hierfür jedoch der sachlichen Rechtfertigung. Wegen der generellen Zweckbindung der Organe gilt hierfür – abweichend vom öffentlichen Recht und Arbeitsrecht – ein strenger Maßstab. Das Gebot der Gleichbehandlung lässt eine Ungleichbehandlung der Aktionäre nur dann zu, wenn sie sachlich berechtigt ist und damit nicht den Charakter der Willkür trägt.48) 24 Eine tatbestandlich präzise Formulierung, was zulässig ist und was nicht, lässt sich jedoch ex ante betrachtet kaum rechtssicher handhabbar finden (zur Kasuistik der bisher entschie_____________ 42) Vgl. für die Möglichkeit zur Erzielung von Paketzuschlägen BGH, Urt. v. 19.12.1977 – II ZR 136/76 (Mannesmann), BGHZ 70, 117 = NJW 1978, 540, 541. 43) A. A. jedoch BGH, Urt. v. 9.5.2005 – II ZR 29/03, ZIP 2005, 1318 = NZG 2005, 722 – für eine formwechselnde Umwandlung. 44) Vgl. hierzu Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 53a AktG Rz. 27. 45) So Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 53a Rz. 13 f. 46) Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (Gesellschaftsrechts-Richtlinie), ABl. (EU) L 169/46 v. 30.6.2017. 47) Vgl. OLG Köln, Urt. v. 20.9.2001 – 18 U 125/01 (Metro), ZIP 2001, 2049 = NZG 2002, 966. 48) BGH, Urt. v. 9.11.1992 – II ZR 230/91, ZIP 1992, 1728 = NJW 1993, 400.

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denen Fälle siehe unten Rz. 35). Es bleibt daher vor allem Aufgabe der Rechtsprechung, den Gleichbehandlungsgrundsatz sorgfältig auszuformen. Gleichwohl sollte überlegt werden, dem konturenlosen § 53a in Anlehnung an die bereits bei § 186 ausdifferenzierte materielle Beschlusskontrolle Präzision zu verschaffen. Die hiernach mögliche inhaltliche Kontrolle von Beschlüssen lässt sich funktional betrachtet durchaus mit § 53a vergleichen, wenn es um den Minderheitenschutz geht, so dass eine entsprechende Heranziehung möglich ist.49) Dies betrifft vor allem die hierüber zu verwirklichende Koppelung des Gebots der sachlichen Rechtfertigung i. R. von § 53a an die Zweckbindung der Organe und die bei der materiellen Beschlusskontrolle mittlerweile etablierte strukturierte Argumentation, so dass einer allzu pauschalen Rechtfertigungsprüfung, was erlaubt ist und was nicht, Vorschub geleistet wird.50) b)

Vorgaben der materiellen Beschlusskontrolle

Wendet man die bei der materiellen Beschlusskontrolle nahezu einhellig anerkannte Recht- 25 fertigungslast auch auf § 53a i. R. der sachlichen Rechtfertigung an, ergibt sich Folgendes: In entsprechender Anwendung der insbesondere beim Bezugsrechtsausschluss allgemein anerkannten Formel ist die Ungleichbehandlung sachlich gerechtfertigt, wenn sie im Gesellschaftsinteresse liegt, zur Verwirklichung des Gesellschaftsinteresses geeignet und erforderlich ist und in einem angemessenen Verhältnis zu den Nachteilen der betroffenen Altaktionäre steht.51) Letztlich geht es bei der sachlichen Rechtfertigung somit darum, ob ein am Gesellschaftszweck zu messendes sinnvolles unternehmerisches Konzept die Mitgliedschaft der Altaktionäre in angemessener Weise beeinträchtigt oder nicht. aa)

Gesellschaftsinteresse

Das Ziel der Ungleichbehandlung muss im Gesellschaftsinteresse liegen. Maßstab ist bei der 26 gewinnorientierten AG die aus der Zweckgebundenheit von Organhandeln folgende Steigerung der Eigenkapitalrendite.52) Die Partikularinteressen einzelner Aktionäre sind unbeachtlich, sofern sich diese nicht mit dem Gesellschaftsinteresse decken.53) Erfolgt die Ungleichbehandlung bei einer durch Beherrschungsvertrag gemäß § 291 Abs. 1 Satz 1 gebundenen AG, richtet sich der Kontrollmaßstab in konsequenter Verwirklichung der §§ 308 ff. nach dem Konzerninteresse (streitig).54) Beim faktischen Konzern verbleibt es hingegen bei der Maßgeblichkeit des Gesellschaftsinteresses als unverbundene AG. Die dem Privileg des § 311 zugrunde liegende Vermögenskompensation zugunsten der Gesellschaft vermag die Nachteile des Bezugsrechtsausschlusses für die Altaktionäre nicht zu verwirklichen. bb)

Erforderlichkeit

Die Ungleichbehandlung muss weiterhin erforderlich sein, um das als Wahrung des Ge- 27 sellschaftsinteresses verstandene unternehmerische Ziel zu verwirklichen. Hierunter sind _____________ 49) Ähnlich Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 53a Rz. 10. 50) Paradigmatisch für die Konturenlosigkeit der Argumentation OLG München, Urt. v. 26.5.2010 – 7 U 5707/09, ZIP 2010, 2153 = NZG 2010, 1233 – „nicht willkürlich und nicht objektiv verfehlt“. 51) Für den Bezugsrechtsausschluss grundlegend – BGH, Urt. v. 13.3.1978 – II ZR 142/76 (Kali & Salz), NJW 1978, 1316; Einzelheiten bei Servatius in: BeckOGK-AktR, § 186 AktG Rz. 52 ff. 52) Hierzu ausführlich Servatius, Strukturmaßnahmen als Unternehmensleitung, 2003, S. 33 ff.; ähnlich Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 186 Rz. 26, und Schürnbrand in: MünchKomm-AktG, § 186 Rz. 75 – Förderung des Gesellschaftszwecks i. R. des Unternehmensgegenstands. 53) LG Kiel, Urt. v. 22.5.2008 – 15 O 49/08, BeckRS 2008, 12662. 54) A. A. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 186 Rz. 26; undeutlich Schürnbrand in: MünchKomm-AktG, § 186 Rz. 75; wie hier bereits Martens in: FS Fischer, S. 437, 449 f.

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regelmäßig die Fälle zu fassen, bei denen die bevorzugten Aktionäre zugunsten der AG etwas leisten können, wozu den Übergangenen die Fähigkeiten oder Eigenschaften fehlen. cc)

Verhältnismäßigkeit

28 Zu fragen ist schließlich, ob die das Gesellschaftsinteresse verwirklichende Ungleichbehandlung als schonendstes Mittel in einem angemessenen Verhältnis zur Beeinträchtigung der benachteiligten Aktionäre steht. Hierbei ist eine Gesamtabwägung vorzunehmen, bei der auch eine Rolle spielt, ob die aktuell unmittelbar benachteiligten Altaktionäre nicht insgesamt, d. h. nach Verwirklichung des unternehmerischen Konzepts, besserstehen würden als ohne die betreffende Maßnahme.55) Wie bei jeder Generalklausel hängt die Entscheidung sehr vom Einzelfall ab, so dass präzise Aussagen schwer möglich sind. Einen Ausgangspunkt für die Argumentation bietet aber die Formel: Je schwerer der Eingriff in die Mitgliedschaft der Altaktionäre, desto gewichtiger muss das Interesse der Gesellschaft an der Ungleichbehandlung sein. 6.

Rechtsfolgen bei Verstößen

29 Der Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz führt zur Rechtswidrigkeit der betreffenden Maßnahme. Bei den hieraus resultierenden Folgen ist danach zu unterscheiden, welches Organhandeln § 53a verletzt hat. a)

Hauptversammlungsbeschlüsse

30 Handelt es sich um einen Hauptversammlungsbeschluss, ist er gemäß § 243 Abs. 1 anfechtbar;56) ein Nichtigkeitsgrund wird hierdurch nicht begründet.57) Eine Heilung der Anfechtbarkeit ist nicht möglich, wohl aber die Bestätigung gemäß § 244. Vorrangig gilt jedoch § 243 Abs. 2. Hiernach scheidet die Anfechtbarkeit wegen der Gewährung eines Sondervorteils an Aktionäre (und Dritte) aus, wenn der Beschluss den benachteiligten Aktionären einen angemessenen Ausgleich für ihren Schaden gewährt. Diese – rechtspolitisch umstrittene – Regelung fokussiert den Aktionärsschutz stark auf die Vermögensinteressen und etabliert letztlich die Möglichkeit eines „dulde und liquidiere“.58) Wird der Ausgleich gewährt,59) entfallen die Rechtswidrigkeit und Anfechtbarkeit des an sich gleichheitswidrigen Beschlusses, was § 53a in Bezug auf nicht vermögensmäßig kompensierbare Folgenachteile erheblich einschränkt. Sind Letztere wesentlich, sollte für die Anwendung von § 243 Abs. 2 kein Raum bestehen. b)

Verwaltungshandeln

31 Bei Maßnahmen der Verwaltung begründet der Verstoß zunächst einmal die Pflichtwidrigkeit, was bei Verschulden eine Schadensersatzpflicht auslöst. Die hierfür maßgeblichen §§ 93, 116 laufen jedoch zumeist leer, weil es an einem Schaden der AG fehlt. Richtigerweise sollte man in § 53a jedoch ein Schutzgesetz i. S. von § 823 Abs. 2 BGB sehen, so _____________ 55) Hierzu im Hinblick auf die Treuepflicht bereits – BGH, Urt. v. 20.3.1995 – II ZR 205/94 (Girmes), ZIP 1995, 1415. 56) RG, Urt. v. 16.9.1927 – II 21/27, DB 1960, 880. 57) Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 53a AktG Rz. 32. 58) Hierzu grundlegend Mülbert, Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt – Die Aktionärsrechte bei Bildung und Umbildung einer Unternehmensgruppe zwischen Verbands- und Kapitalmarktrecht, 1995. 59) Vgl. etwa für die nachträgliche Umwandlung von Vorzugs- in Stammaktien OLG Köln, Urt. v. 20.9.2001 – 18 U 125/01 (Metro), ZIP 2001, 2049 = NZG 2002, 966.

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dass auch ein unmittelbarer Schadensersatzanspruch der zurückgesetzten Aktionäre gegen die Verwaltung in Betracht kommt (streitig).60) Ist eine gleichheitswidrige Maßnahme korrigierbar, haben die betreffenden Organe regel- 32 mäßig die Pflicht, dies durchzuführen.61) Darüber hinaus ist auch anerkannt, dass ein gleichheitswidriges Verhalten der Verwaltung Individualansprüche der benachteiligten Aktionäre gegen die AG auslöst, nachträglich gleichgestellt zu werden.62) Dies gilt jedoch nur dann, wenn das Verwaltungshandeln – jenseits des Problems der Gleichbehandlung – rechtmäßig ist bzw. wäre. Im Bereich der verdeckten Gewinnausschüttungen können daher die übergangenen Aktionäre nicht Gleichbehandlung im Unrecht verlangen.63) Vgl. beim Auskunftsrecht § 131 Abs. 4.64) Bei einer gleichheitswidrigen Heranziehung zu Leistungen steht dem Aktionär ein Leistungsverweigerungsrecht zu.65) c)

Beweislast

Die Aktionäre müssen darlegen und beweisen, dass sie ungleich behandelt wurden; die AG 33 muss dann darlegen und beweisen, dass die betreffende Maßnahme gerechtfertigt ist.66) 7.

Gestaltungsfreiheit

Der Gleichbehandlungsgrundsatz ist als gesellschaftsrechtliches Strukturprinzip satzungs- 34 fest.67) Gleichwohl ist es zulässig, dass die hierdurch geschützten Aktionäre auf § 53a ad hoc verzichten, ausdrücklich oder konkludent.68) Es bedarf hierfür jedoch einer eindeutigen und bestimmten Erklärung; ein pauschaler Verzicht ist wirkungslos.69) Möglich ist auch, den Maßstab der Gleichbehandlung zu ändern;70) richtigerweise ist ein derartiger Beschluss jedoch seinerseits an § 53a zumessen.71) 8.

Kasuistik zum Gleichbehandlungsgebot

Weiterleitung konkurrierender Angebote zum Erwerb von Aktien;72) nachträgliche Ein- 35 führung von Höchststimmrechten;73) Ausgabe von Genussrechten an einzelne Aktionä_____________ 60) Abweichend die h. M., vgl. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 53a Rz. 12; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 53a Rz. 20; die Frage offenlassend OLG München, Urt. v. 26.5.2010 – 7 U 5707/09, ZIP 2010, 2153 = NZG 2010, 1233. 61) Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 53a Rz. 20. 62) Vgl. Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 53a AktG Rz. 34 – für den Fall der Übergehung bei der Aktienausgabe und die Erteilung der Zustimmung zur Übertragung von Aktien bei Vinkulierung. 63) BGH, Hinweisbeschl. v. 22.10.2007 – II ZR 184/06, AG 2008, 164 = ZIP 2008, 218; Einzelheiten bei Verstößen gegen § 57 bei Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 53a AktG Rz. 35. 64) Hierzu Henn, AG 1985, 240, 244. 65) Vgl. für die Einlageleistung Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 53a Rz. 12. 66) Einzelheiten bei Hüffer in: FS Fleck, S. 151, 154 ff. 67) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 39; Henn, AG 1985, 240, 243. 68) Unstreitig, vgl. nur K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 37. 69) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 38. 70) Vgl. OLG Hamm, Urt. v. 31.3.2008 – 8 U 222/07, NZG 2008, 914, 915 = ZIP 2008, 1530, dazu EWiR 2008, 449 (Ogorek). 71) Vgl. zur nachträglichen Einführung einen disquotalen Ergebnisverteilung Servatius in: FS Thümmel, S. 859. 72) OLG Celle, Urt. v. 19.7.2006 – 9 U 15/06, ZIP 2006, 1768 = NZG 2006, 791; BGH, Hinweisbeschl. v. 22.10.2007 – II ZR 184/06, AG 2008, 164 = ZIP 2008, 218. 73) BGH, Urt. v. 19.12.1977 – II ZR 136/76 (Mannesmann), BGHZ 70, 117 = NJW 1978, 540; BGH, Urt. v. 13.3.1978 – II ZR 142/76 (Kali & Salz), NJW 1978, 1316.

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re;74) Umwandlung von Stamm- in Vorzugsaktien;75) Beschluss über Entsendungsrecht;76) Rückerwerb eigener Aktien;77) Bevorzugung von Aktionären i. R. einer Kapitalerhöhung;78) Nachschüsse;79) Zahlung zur Abwehr einer Anfechtungsklage;80) unterschiedliche Leistung der Einlagen bei Kapitalerhöhung;81) Zuteilung neuer Aktien i. R. von § 186 Abs. 3 Satz 4;82) nachträgliche Einführung eines Entsenderechts für den Aufsichtsrat;83) Information der Aktionäre;84) nachträgliche Zulassung von Aktionären zur Abstimmung;85) Abfindung beim Squeeze-out;86) Abfindung i. R. einer Umwandlung.87) III.

Treuepflicht der Aktionäre

1.

Allgemeines

36 Dass über den Gleichbehandlungsgrundsatz nicht alle Schutzbedürfnisse und Funktionsdefizite innerhalb eines Personenverbands bewältigt werden können, steht heute außer Streit. Die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht ist daher allgemein anerkannt als bewegliche Schranke der Mehrheits- und Minderheitsmacht. Dies gilt auch bei der AG, freilich unter besonderer Berücksichtigung des gesetzlichen Leitbilds als kapitalmarktorientierte Publikumsgesellschaft.88) Dies erfordert regelmäßig eine schwächere Treuepflichtbindung der Aktionäre als dies innerhalb der GmbH und insbesondere den Personengesellschaften der Fall ist. Zwingend ist dies wegen der möglicherweise personalistischen Realstruktur einer konkreten AG jedoch nicht. Allgemein gilt: Je personalistischer die Gesellschaft desto stärker sind Art und Umfang der Treuepflichtbindung.89) 37 Die Treuepflicht ist eine Generalklausel, deren tatbestandliche und rechtssichere Konkretisierung Schwierigkeiten bereitet. Einer allzu ausufernden treuepflichtgestützten Aktionärskontrolle ist jedoch Vorschub zu leisten. Vielmehr ist stets zu bedenken, dass es auch im Gesellschaftsrecht keine allgemeine Billigkeitskontrolle für das Gesellschafterverhalten gibt, sondern die rechtliche Missbilligung eines Verhaltens unter Rückgriff auf die Treuepflicht die begründungsbedürftige Ausnahme bleiben muss. Der Praxis obliegt inso_____________ 74) 75) 76) 77) 78)

79) 80) 81) 82) 83) 84) 85) 86) 87) 88) 89)

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BGH, Urt. v. 9.11.1992 – II ZR 230/91, ZIP 1992, 1728 = NJW 1993, 400. OLG Köln, Urt. v. 20.9.2001 – 18 U 125/01 (Metro), ZIP 2001, 2049 = NZG 2002, 966. LG München I, Urt. v. 19.12.2019 – 5 HK O 12082/18, BeckRS 2019, 41891. Paefgen, ZIP 2002, 1509. BGH, Beschl. v. 14.7.1960 – IV ZB 126/60 (Minimax), BGHZ 51, 354; KG Berlin, Beschl. v. 18.5.2010 – 14 AktG/10, ZIP 2010, 1849; OLG Köln, Beschl. v. 13.1.2014 – 18 U 175/13 (Solarworld), ZIP 2014, 263, dazu EWiR 2014, 515 (Niesse); vgl. für die Verteilung nicht ausgeübter Bezugsrechte auch Servatius in: BeckOGK-AktR, § 186 AktG Rz. 31. RG, Urt. v. 15.10.1902 – I 131/02, RGZ 52, 287. LG Frankfurt/M., Urt. v. 2.10.2007 – 3-5 O 177/07, ZIP 2007, 2034 = NZG 2007, 949; LG Köln, Urt. v. 12.1.1988 – 3 O 703/87, AG 1988, 349, 350. KG Berlin, Beschl. v. 18.5.2010 – 14 AktG 1/10, ZIP 2010, 1849, dazu EWiR 2010, 627 (Burg/Marx). BGH, Urt. v. 10.7.2018 – II ZR 120/16, DStR 2018, 1980. BGH, Beschl. v. 8.6.2009 – II ZR 111/08 (ThyssenKrupp), ZIP 2010, 36 = DStR 2009, 2547, dazu EWiR 2010, 103 (Nikoleyczik). LG Flensburg, Urt. v. 7.4.2004 – 6 O 17/03, NZG 2004, 677; speziell zu sog. Investor Relations Leyendecker-Langner, NZG 2015, 44. LSG Niedersachsen – Bremen, Beschl. v. 28.1.2019 – L 16 KR 324/18, Rz. 13, BeckRS 2019, 669. Vgl. Ruthart, NZG 2015, 1387, 1389; Ruthart, NZG 2014, 972; s. a. oben Rz. 15; vgl. insofern auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 28.10.2019 – I-26 W 3/17, Rz. 18, BeckRS 2019, 28536. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 2.7.2018 – I-26 W 4/19, BeckRS 2018, 18257. Überblick zur historischen Entwicklung bei Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 53a AktG Rz. 39. BGH, Urt. v. 1.2.1988 – II ZR 75/87 (Linotype), ZIP 1988, 301; grundlegend Lutter, AcP 180 (1980) 84, 105 ff.

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§ 53a

Gleichbehandlung der Aktionäre

fern eine große Argumentationslast, eine Treuepflichtbindung zu bejahen, was im konkreten Einzelfall stets nur im Ausgangspunkt auf die bisher ergangenen Gerichtsentscheidungen gestützt werden kann. Einen Verstoß gegen die europäische Gesellschaftsrechts-Richtlinie90) bedeutet die ausdifferenzierte Treuepflichtbindung im deutschen Recht nicht, denn auch das Gemeinschaftsrecht kennt den Rechtsmissbrauch.91) Zu unterscheiden sind letztlich strukturell drei Möglichkeiten der Treuepflichtbindung: 38 Die Treuepflicht der Aktionäre gegenüber der AG (vertikale Betrachtung, siehe unten Rz. 48 ff.), die Treuepflicht der Aktionäre untereinander (horizontale Betrachtung, siehe unten Rz. 51 f.) und – etwas abweichend begründet – die Treuepflicht der AG gegenüber ihren Aktionären (siehe unten Rz. 61). Ein unmittelbar gläubigerschützender Charakter ist der Treuepflicht richtigerweise nicht zuzubilligen.92) Abzugrenzen ist die hier erörterte gesellschaftsrechtliche Treuepflicht von der – erheblich strengeren – Treue- und Loyalitätspflicht der Organwalter innerhalb des Vorstands und Aufsichtsrats (vgl. hierzu §§ 93, 116).93) 2.

Dogmatische Grundlegung

Die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht lässt sich nicht auf § 242 BGB (Rechtsmissbrauch) 39 stützen.94) Der Ausnahmecharakter von §§ 138, 826 BGB verbietet zudem, hierauf die mittlerweile auf die Treuepflicht gestützten Anwendungsfälle methodenehrlich zu stützen. Dogmatische Grundlagen für die Treuepflicht im Gesellschaftsrecht sind daher vielmehr – ähnlich § 53a (siehe oben Rz. 4) – die Mitgliedschaft im Personenverband und die hieraus resultierende Zweckbindung.95) Aus beiden Aspekten resultiert bereits eine Vielzahl spezialgesetzlich ausgestalteter Rechte und Pflichten der Verbandsmitglieder. Diese sind jedoch im Hinblick auf die objektive Funktionsfähigkeit des Verbands und vor allem auch zur Verwirklichung eines sachgerechten (nicht überzogenen!) Minderheitenschutzes zumeist konkretisierungsbedürftig und teilweise auch lückenhaft.96) Insofern ist es notwendig und konsequent, das Konkretisierungsbedürfnis und die Lückenschließung durch eine systemkohärente Generalklausel zu befriedigen und mittels einer – ihrerseits konkretisierungsbedürftigen! – Treuepflichtbindung eine funktionsfähige Binnenorganisation der AG auszugestalten und fortzuentwickeln.97) Man kann insofern durchaus von einem „treuepflicht-gestützten Aktienrecht“ sprechen.98) Ein Verstoß gegen die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht ist im Ausgangspunkt rein objektiv zu bestimmen; die – ggf. rechtlich zu missbilligenden – Motive der Beteiligten können jedoch bei der Interessenabwägung bedeutsam sein.

_____________ 90) Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (Gesellschaftsrechts-Richtlinie), ABl. (EU) L 169/46 v. 30.6.2017. 91) Vgl. EuGH, Urt. v. 23.3.2000 – C-373/97 (Diamantis), AG 2000, 470, 472 = ZIP 2000, 663. 92) Teilweise abweichend Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 1 Rz. 67 ff. 93) Einzelheiten bei Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 143 ff. 94) So aber z. B. Hennrichs, AcP 195 (1995) 221, 228; ebenso die Rspr. bei der Missbilligung missbräuchlicher Anfechtungsklagen; vgl. nur BGH, Urt. v. 22.5.1989 – II ZR 206/88 (Kochs/Adler), ZIP 1989, 980. 95) Zu den verschiedenen weiteren Erklärungsmustern – allgemeiner Grundsatz des Verbandsrechts, Teil der ungeschriebenen Legalordnung, Rechtsprinzip – vgl. nur K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 42, 46; Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 53a AktG Rz. 39 m. w. N; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 1 Rz. 52 ff. 96) Ähnlich Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 53a AktG Rz. 38 – Bedürfnis nach „situationsgebundenen Verhaltensanforderungen“. 97) Rechtsvergleichender Überblick bei Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 53a AktG Rz. 48. 98) So für Konzernlagen auch Zöllner, ZHR 162 (1998) 235.

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§ 53a 3.

Gleichbehandlung der Aktionäre Funktion

40 Die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht wird vornehmlich herangezogen, wenn es darum geht, das Verhalten der Aktionäre inhaltlich zu begrenzen, insbesondere bei der Ausübung ihrer Verwaltungsrechte (rechtsbegrenzende Funktion).99) Insofern geht es zumeist darum, Interessenkonflikte dahingehend zu bewältigen, dass man von den Aktionären eine besondere Loyalität zugunsten der AG oder ihrer Mitaktionäre einfordert. In diesem Sinne ist die Treuepflicht vor allem ein Instrument des Minderheitenschutzes. 41 Darüber hinaus besteht jedoch auch die Möglichkeit, über die Treuepflicht konkrete Handlungspflichten der Minderheit bis hin zum einzelnen Aktionär zu begründen.100) Dies zielt vornehmlich darauf ab, ein Blockadepotential bei unternehmerisch sinnvollen Entscheidungen im Gesellschaftsinteresse zu überwinden, wenn die hiermit verbundenen Folgen für die Treuepflichtgebundenen nicht gravierend sind.101) Dies muss jedoch wegen der allgemein im Zivilrecht geltenden Prämisse, dass Nichtstun keine (negativen) Wirkungen nach sich zieht, eine besonders stark begründungsbedürftige Ausnahme bleiben. Vgl. insoweit auch das Belastungsverbot gemäß § 180. 42 Die Intensität der Treuepflichtbindung hängt nach einhelliger Ansicht auch von der Art des ausgeübten Rechts ab, woraus folgendes Stufenverhältnis folgt:102) Die Treuepflichtbindung ist tendenziell strenger bei der Wahrnehmung der einem Gesellschafter aufgrund Gesellschaftsvertrages eingeräumten Verwaltungsbefugnisse innerhalb der Gesellschaftsorganisation, denn hierbei handelt es sich um uneigennützige Rechte. Dies betrifft insbesondere das Stimmrecht in der Hauptversammlung bei Grundlagenentscheidungen und im Bereich von § 119 Abs. 2 sowie das Anfechtungsrecht. Das Gesellschaftsinteresse hat hier einen pflichtenbegründenden Vorrang gegenüber den Individualinteressen der Gesellschafter, was eine starke Treuepflichtbindung ermöglicht.103) Dies darf wegen der anerkennenswerten rationalen Apathie der Publikumsaktionäre jedoch nicht so weit reichen, dass die individuelle Abstimmung einer generellen Pflichtenkontrolle unterliegt.104) Schwächer ausgeprägt ist die Treuepflicht hingegen a priori bei der Wahrnehmung eigennütziger Mitgliedschaftsrechte, z. B. der Geltendmachung von Gewinnansprüchen oder dem Auskunftsrecht gemäß §§ 131, 132.105) Bei diesen Gesellschafterkompetenzen und -rechten besteht kein Vorrang der Zweckbindung, vielmehr ist die Verfolgung von Eigeninteressen grundsätzlich legitim. Die Treuepflicht kann aber auch hier wegen der Gesellschaftsbezogenheit der Rechte eine Schrankenfunktion aufweisen, insbesondere bei rücksichtslosem oder übermäßigem Vorgehen. Schließlich besteht eine aus der Zweckbindung resultierende Einschränkung der Handlungsfreiheit nur ausnahmsweise, wenn es um die Wahrneh_____________ 99) Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 53a AktG Rz. 40. 100) Henze/Notz in: GroßKomm-AktG, Anh. § 53a Rz. 82. 101) Grundlegend BGH, Urt. v. 20.3.1995 – II ZR 205/94 (Girmes), ZIP 1995, 1415; OLG München, Beschl. v. 16.1.2014 – 23 AktG 3/13, ZIP 2014, 472; im GmbH-Recht BGH, Urt. v. 12.4.2016 – II ZR 275/14, ZIP 2016, 1220; im Personengesellschaftsrecht auch BGH, Urt. v. 19.10.2009 – II ZR 240/08 (Sanieren oder Ausscheiden), ZIP 2009, 2289 = NJW 2010, 65, dazu EWiR 2009, 739 (Armbrüster). 102) Einzelheiten bei K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 55, der jedoch zutreffend darauf hinweist, dass diese Kategorisierung oftmals nur einen „ersten Anhalt“ bietet. 103) Grundlegend RG, Urt. v. 27.1.1940 – II 151/39, RGZ 163, 35 – für die Personengesellschaften, jedoch verallgemeinerungsfähig. 104) So auch Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 53a AktG Rz. 55; zum kollektiven Desinteresse und dem hieraus resultierenden Prinzip der Abstimmungsfreiheit allgemein Servatius, Strukturmaßnahmen als Unternehmensleitung, 2003, S. 196 ff. 105) Vgl. zu Letzterem LG München I, Beschl. v. 28.5.2010 – 5 HK O 14307/07, ZIP 2010, 2148, dazu EWiR 2011, 103 (Kort).

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Gleichbehandlung der Aktionäre

mung außergesellschaftsrechtlicher Befugnisse geht. Beispiele hierfür sind Abschluss und Durchführung von Drittgeschäften sowie Wettbewerbsverbote. 4.

Anwendungsbereich

Die Treuepflicht gilt bereits bei der Vorgesellschaft106) und im Liquidationsstadium.107) Sie 43 trifft nur die Aktionäre. Außenstehende können wegen der Grundlegung in der Mitgliedschaft (siehe Rz. 39) nicht einbezogen werden.108) Die AG ist wie jeder Personenverband nach deutschem Recht kein konturenloses Netzwerk von Verträgen, bei denen aufgrund einer funktionalen Betrachtung die Grenzen zwischen shareholder und stakeholder verschwimmen.109) Über § 242 BGB lässt sich zur Kontrolle Dritter jedoch vielfach ebenso ein sachgerechtes Ergebnis begründen wie über die Treuepflicht, insbesondere beim Stimmrechtsvertreter.110) Vormitgliedschaftliche Bindungen künftiger Aktionäre sind aus demselben Grund ab- 44 zulehnen.111) Umgekehrt ist es jedoch durchaus möglich, dass eine Treuepflichtbindung nach Verlust der Aktionärsstellung nachwirkt, insbesondere beim Wettbewerbsverbot. Eine Treuepflichtbindung sog. mittelbarer Gesellschafter, insbesondere Treugeber, kommt ebenfalls nicht in Betracht;112) wohl aber ist es umgekehrt möglich, bei der Treuepflichtbindung des Aktionärs – Treuhänder, Strohmann – die Stellung und die Absichten des Hintermannes miteinzubeziehen. Beim Alleinaktionär scheidet eine Treuepflichtbindung nach zutreffender Ansicht aus; die Verwirklichung des Gläubigerschutzes muss anderweitig begründet werden.113) Beim faktischen Konzern ist die Treuepflicht des herrschenden Unternehmens(-aktionärs) richtigerweise nicht aufgehoben, sondern vielmehr im Lichte von § 311 zu konkretisieren.114) 5.

Treuepflicht der Mehrheit

a)

Allgemeines

Dass der Mehrheitsaktionär einer Treuepflicht gegenüber der AG und der Minderheit un- 45 terliegt, ist heute dem Grunde nach allgemein anerkannt.115) Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass es sich um eine bewegliche Schranke der Mehrheitsmacht handelt, _____________ 106) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 53. 107) OLG Düsseldorf, Urt. v. 17.2.1994 – 6 U 44/93, NJW-RR 1995, 420. 108) BGH, Urt. v. 20.3.1995 – II ZR 205/94 (Girmes), ZIP 1995, 1415; zur Treuepflicht im Konzern ausführlich Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 53a AktG Rz. 61 ff.; Zöllner, ZHR 162 (1998) 235; Tröger, Treuepflicht im Konzern, 2000. 109) Abweichende Ansätze unter Rückgriff auf die US-amerikanische Literatur bei Eidenmüller, JZ 2001, 1041. 110) Abweichend für eine Einbeziehung in die Treuepflicht aber Marsch-Barner, ZHR 157 (1993) 172, 184; Rose, Stimmrechtsvertretung und Haftung in der Aktiengesellschaft, 2003. 111) Fleischer, NZG 2000, 561, 563; abweichend Weber, Vormitgliedschaftliche Treuebindungen, 1999. 112) Abweichend K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 51. 113) Vgl. zur GmbH – BGH, Urt. v. 28.9.1992 – II ZR 299/91, ZIP 1992, 1734; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 51; abweichend Burgard, ZIP 2002, 827, 833 ff.; ebenso Grigoleit, Gesellschafterhaftung für interne Einflussnahme im Recht der GmbH, 1999, unter Rückgriff auf das sog. „dezentrale Gewinnziel“, was de lege lata kaum der Konzeption des auf Privatautonomie und Selbstregulierung beruhenden Personenverbandes entspricht – vgl. hierzu Servatius, Strukturmaßnahmen als Unternehmensleitung, 2003, S. 15 ff. 114) Vgl. nur Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 311 Rz. 52. 115) Zur Treuepflicht gegenüber der AG bereits RG, Urt. v. 22.1.1935 – II 198/34, RGZ 146, 385; BGH, Urt. v. 9.6.1954 – II ZR 70/55, BGHZ 14, 25; zur Treuepflicht gegenüber den Mitaktionären grundlegend BGH, Urt. v. 1.2.1988 – II ZR 75/87 (Linotype), ZIP 1988, 301; zuvor bereits Zöllner, Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den privatrechtlichen Personenverbänden, 1963, S. 335; Lutter, JZ 1976, 225.

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Gleichbehandlung der Aktionäre

deren Reichweite nicht rechtssicher begrenzbar ist und daher nach wie vor viel Raum für die gerichtliche Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit bietet, vor allem auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Der hiermit verbundenen Rechtsunsicherheit kann letztlich nur durch eine überzeugende Argumentation im Einzelfall begegnet werden, die darlegt, dass die Mehrheit die gebotene Rücksichtnahme auf die Interessen der Minderheit ohne Treuepflichtbindung nicht mehr gewährleisten würde. 46 Im Kern geht es hierbei nicht zwingend darum, die konkrete Minderheit zu schützen (Individualschutz). Die Treuepflicht der Mehrheit verwirklicht vielmehr auch einen objektiven Funktionenschutz. Damit das Vertrauen der (potentiellen) Anleger insgesamt in die Aktienanlage gestärkt wird, kann unabhängig von der konkreten Schutzbedürftigkeit der aktuell vorhandenen Minderheitsaktionäre nicht jedes rücksichtslose Verhalten innerhalb der AG als kapitalmarktoffenem Verband zugelassen werden.116) Zur hiermit verbundenen Frage der Gestaltungsfreiheit bei der Treuepflicht siehe Rz. 60. 47 Umgekehrt betrachtet ist es i. R. der Treuepflicht der Mehrheit auch nicht notwendig, dem oder den einzelnen, die Beschlussfassung durch ihre Stimmabgabe herbeiführenden Aktionären ein konkretes Fehlverhalten vorzuwerfen. Insbesondere i. R. der materiellen Beschlusskontrolle (siehe Rz. 49 f.) kann auch die Zufallsmehrheit einer Treuepflichtbindung unterliegen, mithin das Beschlussergebnis eine rechtliche Missbilligung erfahren, ohne dass die Einzelnen pflichtwidrig oder gar schuldhaft gehandelt hätten.117) In der Praxis dürfte dies jedoch die Ausnahme sein, so dass die Treuepflicht der Mehrheit regelmäßig die rechtliche Missbilligung des konkreten Verhaltens eines wirkungsmächtigen Großaktionärs oder einer entsprechenden Aktionärsgruppe (Stimmbindung, Acting in Concert) ist. b)

Treuepflicht gegenüber der AG

48 Die AG hat kein von ihren Aktionären emanzipiertes Eigeninteresse. Wenn es allgemein heißt, dass die Mehrheit sich aufgrund der Treuepflicht nicht rücksichtslos über das im Gesellschaftszweck aggregierte gemeinsame Interesse am Erfolg der AG hinwegsetzen darf,118) werden hierüber letztlich allein die Interessen der Minderheit geschützt.119) Gleichwohl erfolgt die dogmatische Konstruktion dieses Schutzes „übers Eck“, indem zu fragen ist, ob das konkret in Rede stehende Verhalten der Gesellschaftermehrheit mit dem im Gesellschaftszweck vereinten gemeinsamen Interesse korrespondiert oder nicht. Insofern ist die Treuepflicht der Mehrheit gegenüber der AG untrennbar mit der Zweckbindung des Aktionärsverhaltens verbunden. Sofern sich bereits im Verhältnis zwischen Mehrheitsaktionär und AG über die Treuepflicht sachgerechte Ergebnisse erzielen lassen, die reflexiv die Minderheit ausreichend schützen, besteht für die Heranziehung der Treuepflicht gegenüber der Minderheit (horizontale Betrachtung, siehe sogleich Rz. 51 f.) kein Bedarf. Die Treuepflicht der Aktionäre gegenüber der AG hat somit einen Vorrang gegenüber der Treuepflicht der Aktionäre untereinander. In der bisherigen Rechtsprechung und Literatur wird dies nicht hinreichend deutlich. 49 Der über die Treuepflicht ermöglichte Minderheitenschutz variiert je nachdem, auf welches Recht sich die Mehrheit bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen berufen kann (zur Differenzierung von eigennützigen und uneigennützigen Rechten siehe oben Rz. 42). Die _____________ 116) Hierzu ausführlich Servatius, Strukturmaßnahmen als Unternehmensleitung, 2003, S. 183 ff. 117) Hüffer in: FS Heinsius, S. 337, 350; dies offenlassend BGH, Urt. v. 20.3.1995 – II ZR 205/94 (Girmes), ZIP 1995, 1415. 118) Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 53a AktG Rz. 51. 119) Lutter, ZHR 162 (1998) 164, 183.

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§ 53a

Gleichbehandlung der Aktionäre

bisher von der Rechtsprechung beurteilten Fälle ergeben folgende Kasuistik für eine Kontrolle der Mehrheitsmacht anhand der Treuepflicht gegenüber der AG: –

Auflösungsbeschluss;120)



Kapitalherabsetzung;121)



Wettbewerbsverbot des Mehrheitsaktionärs;122)



Wahl eines Aufsichtsratsmitglieds;123)



Wahl von Verwaltungsratsmitgliedern bei der SE;124)



Entlastung des Vorstands;125)



Bestellung eines besonderen Vertreters;126)



Entlastung des Vorstands;127)



Kapitalerhöhung ohne Bezugsrechtsausschluss;128)



Beschlussfassung über die Schaffung genehmigten Kapitals;129)



Festsetzung einer Abfindung.130)

Letztlich auf der Treuepflicht beruhend, jedoch nahezu ein geschlossenes System für die 50 Beurteilung der beweglichen Schranken der Mehrheitsmacht, ist die materielle Beschlusskontrolle. Hiernach werden bestimmte Hauptversammlungsbeschlüsse – insbesondere beim Bezugsrechtsausschluss131) – auf ihre inhaltliche Rechtmäßigkeit hin untersucht, um hierüber einen gesetzlich nicht ausreichend bedachten Minderheitenschutz zu gewährleisten (Einzelheiten bei § 243). c)

Treuepflicht gegenüber der Minderheit

Lässt sich der gebotene Funktions- und Minderheitenschutz nicht über eine Verletzung 51 der Treuepflicht gegenüber der AG begründen (siehe Rz. 48 ff.), besteht subsidiär auch die Möglichkeit, die Mehrheitsmacht durch ein Gebot zur Rücksichtnahme unmittelbar gegenüber den Mitaktionären einzuschränken (horizontale Betrachtung).132) Im Kern geht es hierbei darum, die Auswirkungen einer Maßnahme auf die individuellen, gesellschaftsbezogenen Belange der Mitaktionäre zum Gegenstand einer umfassenden Interessenabwägung zu machen. _____________ 120) BGH, Urt. v. 1.2.1988 – II ZR 75/87 (Linotype), ZIP 1988, 301; OLG Köln, Urt. v. 6.5.2021 – I-18 U 133/20, NZG 2021, 1217. 121) BGH, Urt. v. 5.7.1999 – II ZR 126/98 (Hilgers), ZIP 1999, 1444; KG Berlin, Beschl. v. 25.3.2021 – 12 AktG 1/21, BeckRS 2021, 10282. 122) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 56. 123) OLG Stuttgart, Beschl. v. 16.12.2020 – 20 U 6/17, BeckRS 2020, 47119. 124) LG Frankfurt/M., Urt. v. 3.5.2018 – 3-05 O 101/17, Rz. 30 ff., NZG 2018, 783. 125) BGH, Urt. v. 25.11.2002 – II ZR 133/01 (Macrotron), BGHZ 153, 47 = ZIP 2003, 387. 126) BGH, Urt. 30.6.2020 – II ZR 8/19, Rz. 27, NZG 2020, 1025. 127) BGH, Urt. v. 25.11.2002 – II ZR 133/01 (Macrotron), BGHZ 153, 47 = ZIP 2003, 387. 128) OLG Hamburg, Beschl. v. 12.2.2021 –11 AktG 1/20, BeckRS 2021, 4636; dazu EWiR 2021, 227 (Servatius). 129) BGH, Urt. v. 22.9.2020 – II ZR 399/18, Rz. 33, NZG 2020, 1349. 130) Vgl. zu § 305 LG Berlin, Urt. v. 13.11.1995 – 99 O 126/95, AG 1996, 230, 232. 131) Vgl. Servatius in: BeckOGK-AktR, § 186 AktG Rz. 52 ff. 132) Grundlegend BGH, Urt. v. 1.2.1988 – II ZR 75/87 (Linotype), ZIP 1988, 301; zuvor bereits Zöllner, Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den privatrechtlichen Personenverbänden, 1963, S. 335; Lutter, JZ 1976, 225; aus der Rspr. weiterhin BGH, Urt. v. 20.3.1995 – II ZR 205/94 (Girmes), ZIP 1995, 1415; BGH, Urt. v. 1.2.1988 – II ZR 75/87 (IBH), ZIP 1988, 301; BGH, Urt. v. 5.7.1999 – II ZR 126/98 (Hilgers), ZIP 1999, 1444.

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§ 53a

Gleichbehandlung der Aktionäre

52 Der über die Treuepflicht ermöglichte Minderheitenschutz variiert auch hier, je nachdem, auf welches Recht sich die Mehrheit bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen berufen kann (zur Differenzierung von eigennützigen und uneigennützigen Rechten siehe Rz. 42). Der praktische Bedarf für die Treuepflicht gegenüber der Minderheit dürfte jedoch wegen des Vorrangs der Treuepflichtkontrolle im Verhältnis zur AG gering sein, zumal bei der horizontalen Betrachtung regelmäßig auch der Gleichbehandlungsgrundsatz adäquate Lösungen bietet. 6.

Treuepflicht der Minderheit

53 Die Treuepflicht der Minderheit ist auch bei der AG allgemein anerkannt.133) Im Prinzip muss auch hier differenziert werden zwischen der Treuepflicht gegenüber der AG (vertikale Betrachtung) und der Treuepflicht gegenüber den Mitaktionären (horizontale Betrachtung). In Rechtsprechung und Literatur wird jedoch vornehmlich Letztere erörtert und ggf. bejaht, was wegen des bereits bei der Treuepflicht des Mehrheitsaktionärs erörterten Vorrangs der vertikalen Betrachtung nicht überzeugt (siehe Rz. 48). Rücksichtsloses Verhalten in Form einer Blockade muss vielmehr auch bei der Minderheit vorrangig anhand der Zweckbindung gegenüber der AG bewertet werden. Letztlich wurde dies in der Girmes-Entscheidung auch anerkannt, freilich vordergründig auf die Treuepflicht gegenüber der Mehrheit gestützt. Die Minderheit unterliegt daher nicht etwa Zustimmungspflichten, um die Interessen der Mehrheit zu wahren. Dies ist vielmehr erforderlich, damit das überindividuelle Gesellschaftsinteresse verwirklicht werden kann. 54 Weiterhin gilt wie bei der Kontrolle der Mehrheitsmacht, dass eine treuepflichtgestützte Korrektur des Verhaltens der Minderheit nicht zwingend einen einzelnen Gesellschafter oder eine durch Stimmbindungsvertrag oder lose Abstimmung (Acting in Concert) gekennzeichnete Aktionärsgruppe134) mit entsprechender Sperrminorität trifft. Auch die Zufallsblockade, d. h. die weder rechtlich noch tatsächlich konzertierte Ablehnung durch die betreffenden Aktionäre, ermöglicht es, das Beschlussergebnis durch entsprechende Zustimmungspflichten bzw. die Irrelevanz der ablehnenden Stimmen unter dem Aspekt der Treuepflicht zu korrigieren (zu den Rechtsfolgen im Einzelnen siehe Rz. 56 ff.).135) Dies rechtfertigt sich durch die Notwendigkeit der Treuepflicht als objektive Funktionsvoraussetzung für eine auch für uninformierte Anleger attraktive Aktienanlage. Immerhin wird hierüber das Risiko von Fehlentscheidungen minimiert, was letztlich allen (potentiellen) Aktionären nützt.136) Hiervon abzugrenzen ist freilich die Frage, ob sich auch diese bloß im Beschlussergebnis vereinten Aktionäre schadensersatzpflichtig machen, was regelmäßig zu verneinen ist. 55 Die Anforderungen, dass eine nach dem Vorgesagten als Minderheit zu charakterisierende Aktionärsgruppe sich treuepflichtwidrig verhält, sind sehr hoch – und wegen des gerade auf die nur kapitalmäßig beteiligten Publikumsaktionäre zugeschnittenen Prinzips der Abstimmungsfreiheit137) auch viel höher als für die Aktionärsmehrheit. Allgemein gilt in Anlehnung an die vom BGH in der Girmes-Entscheidung aufgestellte Formel, dass eine Treuepflichtbindung der Minderheit mit den korrespondierenden Rechtsfolgen nur dann _____________ 133) Grundlegend BGH, Urt. v. 20.3.1995 – II ZR 205/94 (Girmes), ZIP 1995, 1415; zur Entwicklung K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 49. 134) Hierzu BGH, Urt. v. 20.3.1995 – II ZR 205/94 (Girmes), ZIP 1995, 1415. 135) So auch K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 50; abweichend wohl Dreher, ZHR 157 (1993) 150, 158; die Frage offenlassend BGH, Urt. v. 20.3.1995 – II ZR 205/94 (Girmes), ZIP 1995, 1415. 136) Hierzu ausführlich unter Betonung der Vorstandsverantwortung Servatius, Strukturmaßnahmen als Unternehmensleitung, 2003, S. 183 ff. 137) Servatius, Strukturmaßnahmen als Unternehmensleitung, 2003, S. 219 ff.

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§ 53a

Gleichbehandlung der Aktionäre

angenommen werden kann, wenn dies für den Fortbestand der AG notwendig ist und die negativen Folgen dieser Bindung für die Minderheit in einem angemessenen Verhältnis stehen.138) Der der ökonomischen Theorie entlehnten Vorgabe, die Aktionäre dürften infolge der Treuepflichtbindung nicht schlechtergestellt werden,139) ist nicht zu folgen.140) Im Einzelfall muss es auch Raum geben, eine Schlechterstellung der Minderheitsaktionäre zum Wohl der AG zu rechtfertigen. Im Übrigen hat aber auch die Minderheit bzw. jeder einzelne Aktionär die Treuepflicht, die Binnenorganisation der AG nicht zu stören, insbesondere bei der Hauptversammlung.141) 7.

Rechtsfolgen bei Verletzung der Treuepflicht

Die Rechtsfolgen bei Verletzung der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht sind auf die be- 56 treffenden Maßnahmen abzustimmen. a)

Beschlussanfechtung

Treuepflichtwidrige Hauptversammlungsbeschlüsse sind gemäß § 243 Abs. 1 anfecht- 57 bar.142) Bei der dogmatischen Begründung dieses Ergebnisses ist jedoch zu differenzieren: Beruht der Treuepflichtverstoß auf einem individuell vorwerfbaren Abstimmungsverhalten, ist bereits die einzelne Stimmabgabe treuepflichtwidrig, was eine Nichtberücksichtigung dieser Stimmen für das Beschlussergebnis nach sich zieht.143) Dies wird regelmäßig der Fall sein, wenn eine gefestigte Aktionärsmehrheit oder -minderheit aus rechtlich zu missbilligenden Motiven rücksichtslos handelt. Der Beschluss ist in solchen Fällen regelmäßig nicht mit der erforderlichen Mehrheit zustande gekommen. In den Fällen, in denen jedoch bereits der Beschlussinhalt als solches rechtlich zu missbilligen ist, vor allem bei der materiellen Beschlusskontrolle (siehe oben Rz. 49 f.), gelangt man auch ohne Rückgriff auf das individuelle Abstimmungsverhalten Einzelner zur Anfechtbarkeit. Bestehen ausnahmsweise Zustimmungspflichten, kann die Beschlussmängelklage mit einem Antrag auf positive Beschlussfeststellung verbunden werden.144) Die Beweislast trifft denjenigen, der sich auf die Treuepflichtwidrigkeit einer Maßnahme beruft, regelmäßig also den Aktionär. Wegen seiner materiellen Beschlussverantwortung ist jedoch auch der Vorstand verpflichtet, über § 245 Nr. 4 gegen den rechtswidrig gefassten Beschluss vorzugehen.145) b)

Unterlassungsansprüche

Bei sonstigem Handeln begründet die Treuepflicht vor allem auch Unterlassungsansprü- 58 che, insbesondere bei Verletzung eines Wettbewerbsverbots.146) Diese Ansprüche können im Wege der actio pro socio auch von einzelnen Aktionären durchgesetzt werden.147) Man _____________ 138) Vgl. OLG Stuttgart, Urt. v. 23.7.2003 – 20 U 5/03, AG 2003, 588, 590 = ZIP 2003, 2024, dazu EWiR 2004, 45 (Wilhelm); OLG München, Beschl. v. 16.1.2014 – 23 AktG 3/13, ZIP 2014, 472. 139) Kritische Auseinandersetzung mit der rechtlichen Bedeutung von Pareto-Effizienz und Kaldor-/HicksKriterium im deutschen Recht bei Servatius, Gläubigereinfluss durch Covenants, 2008, S. 265 ff. 140) So aber letztlich BGH, Urt. v. 20.3.1995 – II ZR 205/94 (Girmes), ZIP 1995, 1415. 141) Vgl. LG München I, Urt. v. 19.11.2020 – 5 HK O 14532/19, Rz. 37, NJW-RR 2021, 348 = NZG 2021, 557. 142) Grundlegend BGH, Urt. v. 1.2.1988 – II ZR 75/87 (Linotype), ZIP 1988, 301; abweichend für Nichtigkeit gläubigerschädigender Beschlüsse Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 1 Rz. 75. 143) OLG Stuttgart, Urt. v. 8.10.1999 – 20 U 59/99, AG 2000, 369, 371; BGH, Urt. v. 9.11.1987 – II ZR 100/87, ZIP 1988, 22, 24 – zur GmbH. 144) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 64. 145) Einzelheiten bei Servatius, Strukturmaßnahmen als Unternehmensleitung, 2003, S. 330 ff. 146) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 69. 147) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 53a Rz. 19.

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§ 53a

Gleichbehandlung der Aktionäre

sollte jedoch überlegen, die §§ 147 f. hierauf entsprechend anzuwenden. Eine missbräuchliche, d. h. treuepflichtwidrig erhobene Anfechtungsklage, ist unbegründet.148) Der betreffende Aktionär macht sich ggf. gegenüber der AG schadensersatzpflichtig.149) c)

Schadensersatz

59 Schadensersatzansprüche einzelner Aktionäre gegenüber der AG bzw. den Mitaktionären sind über § 280 BGB grundsätzlich denkbar.150) Insofern ist jedoch heftig umstritten, welcher Verschuldensmaßstab hierfür gilt. Während einige sich für die Geltung der allgemeinen zivilrechtlichen Regeln gemäß § 276 BGB aussprechen,151) wird überwiegend eine Beschränkung der Haftung auf Vorsatz152) bzw. Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit vertreten.153) Letzterem ist zu folgen. Die Haftung bereits für leichte Fahrlässigkeit würde die Funktionsfähigkeit der AG zu sehr lähmen, weil die Aktionäre stets eine Haftung befürchten müssten (vgl. auch § 708 BGB).154) Die Beschränkung auf eine Vorsatzhaftung überzeugt nicht, weil es anders als gemäß § 117 Abs. 7 Nr. 1 a. F. hierfür keine Stütze im Gesetz gibt und die Hürde für eine effektive, d. h. abschreckende Schadensersatzhaftung wegen der Beweisprobleme zu hoch läge. Die Aktionäre haften daher bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit. Insofern gilt die Beweislastregel gemäß § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB.155) Die Aktionäre müssen sich daher bei erwiesener Pflichtwidrigkeit exkulpieren. Die Beschlussanfechtung hat regelmäßig Vorrang vor der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen.156) Auch können Aktionäre nur solche Schäden ersetzt verlangen, die nicht bereits eine Änderung des Gesellschaftsvermögens hervorgerufen haben (Reflexschadensproblematik). Vgl. zur Schadensersatzhaftung in diesem Kontext auch § 117. 8.

Gestaltungsfreiheit

60 Sieht man wie hier in der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht ein objektives Strukturprinzip der AG, welches ihre Attraktivität für künftige Anleger ausmacht, ist es konsequent, dass gemäß § 23 Abs. 5 eine Abbedingung der Treuepflichtbindung unzulässig ist.157) Dies gilt gleichermaßen für eine Abbedingung im Einzelfall (streitig).158) Eine – deklaratorische – Aufnahme der Treuepflichtbindung in die Satzung ist zulässig; etwas anderes gilt aber, wenn die Satzungsregelung geeignet ist, die Treuepflicht bereits dem Anschein nach inhaltlich zu verändern.159)

_____________ 148) BGH, Urt. v. 15.6.1992 – II ZR 173/91, ZIP 1992, 1392; zur Unzulässigkeit einer missbräuchlich erhobenen Nichtigkeitsklage aber OLG Stuttgart, Urt. v. 10.1.2001 – 20 U 91/99, AG 2001, 315, 316 = ZIP 2001, 650; zum Ganzen Szalai, DStR 2008, 358. 149) Vgl. OLG Hamburg, Urt. v. 20.10.2010 – 11 U 127/09, ZIP 2011, 126 = WM 2011, 409. 150) Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 1 Rz. 76. 151) Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 1 Rz. 78, unter Hinweis auf eine rollenspezifische Anpassung von § 276 BGB, was letztlich ebenfalls auf eine Beschränkung der Fahrlässigkeitshaftung hinausläuft. 152) Für die Stimmabgabe BGH, Urt. v. 20.3.1995 – II ZR 205/94 (Girmes), ZIP 1995, 1415. 153) Wohl Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 53a Rz. 21; Überblick über das Meinungsspektrum bei K. Schmidt/ Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 70 m. w. N. 154) Zur Abstimmungsfreiheit ausführlich Servatius, Strukturmaßnahmen als Unternehmensleitung, 2003, S. 219 ff. 155) Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 1 Rz. 76. 156) BGH, Urt. v. 20.3.1995 – II ZR 205/94 (Girmes), ZIP 1995, 1415. 157) So auch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 53a Rz. 18. 158) A. A. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 53a Rz. 19; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 53a Rz. 60. 159) Zum Ganzen Kindler in: FS Spiegelberger, S. 778, 784 ff.

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§ 54

Hauptverpflichtung der Aktionäre IV.

Treuepflicht der AG

Auch die AG unterliegt einer Treuepflicht gegenüber ihren Aktionären. Diese zielt darauf, 61 die effektive Wahrnehmung der Gesellschafterrechte zu ermöglichen.160) Der praktische Anwendungsbereich dürfte wegen des weitgehend durchorganisierten Binnenrechts jedoch gering sein, insbesondere wenn es um die Informationsgewährung geht. In Extremfällen kann sich jedoch aus der Treuepflicht der AG ein außerordentliches Informationsrecht ergeben, z. B. i. R. einer Due Diligence im Vorfeld der Aktienveräußerung.161) Im Übrigen hat die Verwaltung bei der Ausgabe neuer Aktien i. R. des genehmigten Kapitals die Treuepflicht zu beachten.162) _____________ 160) Vgl. BGH, Urt. v. 19.9.1994 – II ZR 248/92 (BMW), ZIP 1994, 1597. 161) Einzelheiten bei Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 205 f. 162) BGH, Urt. 10.7.2018 – II ZR 120/16, Rz. 43, NZG 2018, 1019 = ZIP 2018, 1586.

§ 54 Hauptverpflichtung der Aktionäre Wolfgang Servatius

(1) Die Verpflichtung der Aktionäre zur Leistung der Einlagen wird durch den Ausgabebetrag der Aktien begrenzt. (2) Soweit nicht in der Satzung Sacheinlagen festgesetzt sind, haben die Aktionäre den Ausgabebetrag der Aktien einzuzahlen. (3) 1Der vor der Anmeldung der Gesellschaft eingeforderte Betrag kann nur in gesetzlichen Zahlungsmitteln oder durch Gutschrift auf ein Konto bei einem Kreditinstitut oder einem nach § 53 Abs. 1 Satz 1 oder § 53b Abs. 1 Satz 1 oder Abs. 7 des Gesetzes über das Kreditwesen tätigen Unternehmen der Gesellschaft oder des Vorstands zu seiner freien Verfügung eingezahlt werden. 2Forderungen des Vorstands aus diesen Einzahlungen gelten als Forderungen der Gesellschaft. (4) 1Der Anspruch der Gesellschaft auf Leistung der Einlagen verjährt in zehn Jahren von seiner Entstehung an. 2Wird das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Gesellschaft eröffnet, so tritt die Verjährung nicht vor Ablauf von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt der Eröffnung ein. Literatur: Becker, Aktienrechtliches und handelsrechtliches Agio, NZG 2003, 510; Jacobsen/ Knott, Die Verpflichtung des (Belegschafts-)Aktionärs zur Rückübertragung seiner Aktie, NZG 2014, 372; Priester, Schuldrechtliche Zusatzleistungen bei Kapitalerhöhung im Aktienrecht, in: Festschrift für Volker Röhricht, 2005, S. 467; Servatius, Die besondere Zweckbindung des Stammkapitals bei Drittgeschäften mit Gesellschaftern, DStR 2004, 1176; Thiessen, Zur Neuregelung der Verjährung im Handels- und Gesellschaftsrecht, ZHR 168 (2004) 503; Voigt, Leistung der Hafteinlage des Kommanditisten in einer Fremdwährung, NZG 2008, 933; Weitnauer, Der Beteiligungsvertrag, NZG 2001, 1065.

Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt ......................................... 1 II. Die Einlagepflicht (§ 54 Abs. 1) ...... 2 1. Schuldner ............................................ 2 2. Gläubiger ............................................. 3 3. Höhe ................................................... 4

a) Ausgabe zum Nennbetrag ........... 5 b) Überpariemission ......................... 6 c) Schuldrechtliches Agio ................ 7 4. Nachschusspflicht .............................. 9 III. Vorrang der Bareinlage (§ 54 Abs. 2) ..................................... 11

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§ 54

Hauptverpflichtung der Aktionäre

IV. Erfüllung der Einlagepflicht (§ 54 Abs. 3) ..................................... 1. Regelungsbereich ............................. 2. Leistungsmodalitäten ...................... a) Barzahlung oder Kontogutschrift .................................... I.

12 12 14 14

b) Zur freien Verfügung des Vorstands .................................... 17 c) Rechtsfolgen bei Verstößen ...... 19 d) Beweislast .................................... 20 V. Verjährung der Einlagepflicht (§ 54 Abs. 4) ..................................... 21

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

1 Die Regelung gehört trotz ihrer systematischen Stellung zum Recht der Kapitalaufbringung; sie gilt auch bei einer Kapitalerhöhung. § 54 Abs. 1 begrenzt die Einlagepflicht der Aktionäre bei Übernahme von Aktien auf den Ausgabebetrag. Es besteht daher auch bei der AG keine Nachschusspflicht, was – letztlich im gesamten Kapitalgesellschaftsrecht – ein wichtiger Aspekt der gesetzlich legitimierten Risikobegrenzung ist. Freiwillige, zumeist schuldrechtliche Abweichungen hiervon sind indessen in der Praxis insbesondere bei professionellen Investoren durchaus bedeutsam (siehe hierzu unten Rz. 10 und § 55 Rz. 9). § 54 Abs. 2 begründet den Vorrang der Bareinlage, d. h. auf die übernommenen Aktien ist eine entsprechende Geldleistung zu entrichten, soweit nicht zulässig eine Sacheinlage vereinbart wurde. § 54 Abs. 3 nennt Modalitäten für die Erbringung der Bareinlagen und sichert so die reale Kapitalaufbringung. § 54 Abs. 4 regelt die Verjährung von Einlageforderungen. II.

Die Einlagepflicht (§ 54 Abs. 1)

1.

Schuldner

2 Schuldner der Einlagepflicht i. S. von § 54 sind die Aktionäre gemäß ihrer jeweiligen Aktienübernahme (§§ 23 Abs. 2 Nr. 2, 28, 29) bzw. bei der Kapitalerhöhung gemäß der Zeichnung (vgl. § 185). Die Eintragung der AG bzw. Kapitalerhöhung ins Handelsregister ist für die Wirksamkeit der rechtsgeschäftlichen Verpflichtung nicht notwendig.1) Bei der Kapitalerhöhung ist aber die Unverbindlichkeit der Zeichnung gemäß § 185 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 zu beachten (siehe § 185 Rz. 18). Bei Namensaktien gilt der im Aktienregister eingetragene Aktionär als Einlageschuldner (§ 67 Abs. 2).2) Steht eine Aktie mehreren gemeinschaftlich zu, sind sie gemäß § 69 Abs. 2 als Gesamtschuldner zur Leistung verpflichtet. Die Einlagepflicht ist untrennbar mit der Mitgliedschaft verbunden (Abspaltungsverbot, vgl. § 8 Abs. 5). Wird die Aktie übertragen, schuldet der Erwerber die hierin verkörperte (Rest-)Leistung (vgl. zur Zahlungspflicht früherer Aktieninhaber § 65).3) Schuldner der Sacheinlage ist allein der Inferent, ein späterer Erwerber schuldet entsprechend § 54 Abs. 2 nur Zahlung.4) Eine Ausfallhaftung der Mitaktionäre gibt es abweichend von der GmbH (vgl. § 24 GmbHG) nicht. Soweit die Einlagepflicht nicht vollständig erfüllt ist, hat dies Auswirkungen auf das Stimmrecht (§ 134 Abs. 2), die Gewinnverteilung (§ 60 Abs. 2), die Teilhabe an einem Liquidationsüberschuss (§ 271 Abs. 3); zudem besteht die Möglichkeit der Kaduzierung gemäß § 64.

_____________ 1) 2) 3) 4)

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K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 54 Rz. 4; vgl. auch OLG Nürnberg, Urt. v. 28.2.1967 – 7 U 169/66, AG 1967, 362, 363. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 54 Rz. 10. Ausführlich zur beschränkten Möglichkeit des gutgläubigen lastenfreien Erwerbs von Aktien Cahn/ v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 54 AktG Rz. 14 ff. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 54 Rz. 13.

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§ 54

Hauptverpflichtung der Aktionäre 2.

Gläubiger

Gläubiger der Mindesteinlagen bei Gründung ist die Vor-AG;5) § 54 Abs. 3 Satz 2 ist 3 wegen der heute anerkannten Rechtsfähigkeit der Vor-AG überholt. Die Resteinlagen bzw. die Leistung für die Übernahme von Aktien i. R. einer Kapitalerhöhung sind an die AG zu leisten. § 188 Abs. 2 Satz 2 stellt dies für die Kapitalerhöhung ausdrücklich klar. Eine Abtretung der Einlageforderung durch die AG ist möglich, nach zutreffender h. M. jedoch nur gegen den Erhalt einer vollwertigen Gegenleistung (Einzelheiten siehe bei § 66 Rz. 9). Zum Verbot der schuldbefreienden Leistung an Dritte gemäß § 54 Abs. 3 siehe unten Rz. 16. 3.

Höhe

§ 54 Abs. 1 begrenzt die Einlagepflicht der Aktionäre aus der Aktienübernahme (§ 23 Abs. 2 4 Nr. 2) bzw. Zeichnung (§ 185) auf den Ausgabebetrag gemäß § 9 Abs. 1. Dies gilt auch bei der Einbringung von Sacheinlagen.6) Im Hinblick auf die für § 54 Abs. 1 maßgebliche Höhe sind verschiedene Gestaltungen zu unterscheiden: a)

Ausgabe zum Nennbetrag

Im gesetzlichen Regelfall ist der Ausgabebetrag der Nennbetrag bzw. bei Stückaktien der 5 auf die einzelne Stückaktie entfallende anteilige Betrag am Grundkapital (sog. geringster Ausgabebetrag, vgl. § 9 Abs. 1). Die Aktienausgabe zu einem niedrigeren Betrag (Unterpari-Emission) ist unzulässig.7) Als Mindesteinlage ist auf den geringsten Ausgabebetrag – soweit keine Sacheinlagen festgesetzt sind – gemäß §§ 36 Abs. 2, 36a Abs. 1 bereits vor der Registereintragung der AG mindestens ein Viertel zu leisten; bei der Kapitalerhöhung gilt dies gleichermaßen.8) Die geleistete Einlage ist gemäß § 266 Abs. 3 A. I. HGB als „gezeichnetes Kapital“ zu passivieren; ausstehende Resteinlagen sind hiervon gemäß § 272 Abs. 1 Satz 2 HGB offen abzusetzen. Die nicht geleisteten Resteinlagen werden gemäß § 63 Abs. 1 fällig; auf sie kann die AG nicht verzichten (§ 66). b)

Überpariemission

Ein höherer Ausgabebetrag (sog. korporatives Agio) kann bei der Gründung einvernehm- 6 lich festgesetzt werden bzw. im Kapitalerhöhungsbeschluss (vgl. § 182 Abs. 3). Hierzu besteht regelmäßig beim Bezugsrechtsausschluss ein Bedürfnis (vgl. § 255 Abs. 2). Wurde ein höherer Ausgabebetrag vereinbart, haben die betreffenden Gründer bzw. Zeichner aufgrund ihrer gewollten Beteiligung diesen zwingend zu leisten (§ 66). Für die Mindesteinlagen vor Eintragung gilt jedoch eine gespaltene Lösung: Während der auf den geringsten Ausgabebetrag anfallende Teil gemäß §§ 36 Abs. 2, 36a Abs. 1 nur zu einem Viertel einzuzahlen ist, wird das korporative Agio gemäß § 36a Abs. 1 sofort vollständig fällig. Der den geringsten Ausgabebetrag übersteigende Teil der Einlage wird gemäß § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB in die Rücklagen eingestellt und unterliegt gemäß § 150 besonderen Ausschüttungssperren. c)

Schuldrechtliches Agio

Die Gründer bzw. Zeichner können darüber hinaus auch vereinbaren, dass Zuzahlungen 7 aufgrund einer besonderen Abrede an die Gesellschaft zu leisten sind (sog. schuldrecht_____________ 5) 6) 7) 8)

Vgl. BGH, Urt. v. 23.10.2006 – II ZR 162/05, ZIP 2006, 2267, dazu EWiR 2007, 289 (Krolop). K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 54 Rz. 7. Vgl. OLG Hamburg, Urt. v. 29.10.1999 – 11 U 71/99, AG 2000, 326, 327. Einzelheiten bei Servatius in: BeckOGK-AktR, § 188 AktG Rz. 44 ff.

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§ 54

Hauptverpflichtung der Aktionäre

liches Agio).9) Eine gesetzliche Pflicht hierzu besteht gemäß § 54 Abs. 1 nicht. Bilanziell handelt es sich hierbei – sofern gewollt – um Leistungen in das Eigenkapital gemäß § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB. Es kann sich hierbei jedoch auch um eine Darlehensgewährung handeln (sog. gesplittete Einlagen). Der Eigenkapitalcharakter solcher Leistungen darf nicht unterstellt werden, selbst wenn die Regelung in die Satzung aufgenommen wurde (Gefahr der unzulässigen Fiktion!).10) Derartige Abreden sind gemäß §§ 133, 157 BGB subjektiv auszulegen.11) 8 Auch eine (zwingende) gesetzliche Umqualifizierung derartiger Versprechen oder Leistungen in gebundenes Eigenkapital findet außerhalb der Insolvenz richtigerweise nicht statt (vgl. insofern auch § 57 Abs. 1 Satz 4). Hieraus folgt, dass die gesetzlichen Kapitalaufbringungsregeln und das Verbot der Einlagenrückgewähr nur (zur Lückenfüllung entsprechend) gelten, wenn die Parteien den hierfür notwendigen Eigenkapitalcharakter auch wollten.12) Lediglich in der Insolvenz der AG kommt es zum Nachrang sämtlicher Gesellschafterleistungen gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO. Einzelheiten siehe Anhang zu § 57 Rz. 8 ff. Der Praxis ist wegen der unterschiedlichen Behandlung der Gesellschafterbeiträge dringend zu raten, für die haftungsmäßige Widmung solcher besonderer Gesellschafterleistungen klare Regelungen zu treffen.13) 4.

Nachschusspflicht

9 § 54 Abs. 1 schließt wie allgemein im Gesellschaftsrecht Nachschusspflichten aus. Die Aktionäre dürfen auch nicht zu „freiwilligen Leistungen“ genötigt werden.14) Dies gilt insbesondere auch für die Abwälzung von Kosten bei der Übertragung von Namensaktien.15) Das Nachschussverbot ist zwingend und gilt auch dann, wenn die Aktionäre aufgrund der Treuepflicht zur Zustimmung zu überlebenswichtigen Strukturmaßnahmen verpflichtet sind (siehe § 53a Rz. 51 ff.). Zur Beteiligung an einer Kapitalerhöhung durch die Zuführung neuen Kapitals kann daher niemand gezwungen werden. 10 Die einzige Ausnahme vom Verbot der mitgliedschaftlichen Nachschusspflicht besteht gemäß § 55 für die dort genannten Nebenverpflichtungen (vgl. bei der nachträglichen Einführung auch § 180 Abs. 1). Vom Nachschussverbot abzugrenzen sind weiterhin – privatautonom getroffene – rechtsgeschäftliche Vereinbarungen zusätzlicher, nicht als untrennbarer Teil der Mitgliedschaft (§ 8 Abs. 1) ausgestalteter schuldrechtlicher Leistungen unter Zustimmung der hieraus Verpflichteten. Insofern besteht weitgehend Gestaltungsfreiheit. Es ist wegen § 23 Abs. 5 lediglich unzulässig, eine echte, d. h. formal mit der Ein-

_____________ 9) Eingehend Lüssow, Das Agio in GmbH- und Aktienrecht; vgl. auch K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 54 Rz. 17 f. und 29 ff. 10) Eingehend Servatius, Gläubigereinfluss durch Covenants, 2008, S. 411 ff.; zur freiwilligen Dotierung der Rücklagen gemäß § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB durch solche Leistungen Weitnauer, NZG 2001, 1065, 1067. 11) Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 54 AktG Rz. 34, möglicherweise abweichend jedoch bei Rz. 38; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 54 Rz. 8. 12) Zutreffend OLG München, Urt. v. 27.9.2006 – 7 U 1857/06 (Kirch Media), WM 2007, 123, 126 = ZIP 2007, 126; vgl. zum Unterschied zwischen gesetzlicher und rechtsgeschäftlicher Umqualifizierung grundlegend BGH, Urt. v. 28.6.1999 – II ZR 272/98, ZIP 1999, 1263 = DStR 1999, 1198, dazu EWiR 1999, 843 (Dauner-Lieb) – am Bsp. des Finanzplankredits. 13) So auch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 54 Rz. 7. 14) RG, Urt. v. 15.10.1902 – I 131/02, RGZ 52, 287; RG, Urt. v. 18.9.1912 – I 72/12, RGZ 80, 81. 15) Vgl. BGH, Urt. v. 23.10.2006 – II ZR 162/05, ZIP 2006, 2267 = AG 2007, 82; K. Schmidt/LutterFleischer, AktG, § 54 Rz. 6.

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§ 54

Hauptverpflichtung der Aktionäre

lagepflicht i. S. von § 54 Abs. 1 gleichzustellende Nachschusspflicht zu vereinbaren.16) Zulässig und in der Praxis professioneller Investoren weit verbreitet ist es daher, auf schuldoder gesellschaftsrechtlicher Ebene hiervon abzugrenzende Leistungspflichten zu vereinbaren, selbst wenn diese funktional betrachtet Nachschusspflichten nahekommen oder sogar entsprechen: Diese können aufgrund der entsprechenden Abrede als Eigenkapital gemäß § 272 Abs. 2 Nr. 1 oder 4 HGB zu bilanzieren sein oder Fremdkapitalcharakter haben (siehe oben Rz. 7 f.).17) Eine (schuldrechtliche) Verpflichtung des Aktionärs, seine entgeltlich erworbenen Aktien unentgeltlich an die AG zu übertragen, wenn sein Anstellungsvertrag beendet wird, ist indessen unzulässig.18) III.

Vorrang der Bareinlage (§ 54 Abs. 2)

Nach § 54 Abs. 2 besteht bei der Übernahme bzw. Zeichnung von Aktien grundsätzlich 11 eine Geldzahlungspflicht, soweit nicht wirksam eine Sacheinlage vereinbart wurde. Die Regelung entspricht insoweit § 27 Abs. 1 Satz 1. Die Bedeutung der Vorschrift ist gering, denn der praktisch wichtige Fall der verdeckten Sacheinlage ist nunmehr in § 27 Abs. 3 geregelt. Der Vorrang der Bareinlage ist damit vor allem eine zwingende Auslegungsregel, wenn es – im wohl nur theoretischen Fall – zum Streit kommt, was der Aktionär genau schuldet. Über § 54 Abs. 2 wird insofern eine Lücke geschlossen, so dass für eine Nichtigkeit der Zeichnung wegen fehlender Willensübereinstimmung im Hinblick auf den Leistungsgegenstand kein Raum besteht. Darüber hinaus ist der in § 54 Abs. 2 verankerte Vorrang der Bareinlage bedeutsam, wenn es Schwierigkeiten gibt, die wirksam festgesetzte Sacheinlage zu erfüllen. Im Fall der Nicht- oder Schlechtleistung der Sacheinlage kann die AG hiernach subsidiär Geldzahlung verlangen.19) IV.

Erfüllung der Einlagepflicht (§ 54 Abs. 3)

1.

Regelungsbereich

§ 54 Abs. 3 konkretisiert die Anforderungen an die Leistung des eingeforderten Betrages 12 i. S. von §§ 36 Abs. 2, 36a Abs. 1. Dieser beinhaltet bei Gründung zwingend die Mindesteinlagen (ein Viertel des Mindestausgabebetrags sowie das korporative Agio), kann jedoch auch höher liegen (Einzelheiten bei §§ 36, 36a). Für die Kapitalerhöhung gilt dies entsprechend. Wird der eingeforderte Betrag – fälschlich! – erst nach Eintragung geleistet, gilt § 54 Abs. 3 gleichermaßen (streitig).20) Auf die über §§ 36 Abs. 2, 36a hinausgehenden Resteinlagen (vgl. § 63 Abs. 1) ist die Re- 13 gelung ihrem Wortlaut nach nicht anwendbar, was rechtspolitisch zu kritisieren ist. Richtigerweise sollte das hierin angelegte Gebot der realen Kapitalaufbringung zumindest für das Merkmal der freien Verfügbarkeit des Vorstands umfassend gelten (streitig).21) Dies dürfte den Kapitalschutz auch nicht über Gebühr erweitern, da es innerhalb des Gebots _____________ 16) RG, Urt. v. 19.3.1926 – II 412/25, RGZ 113, 152; für den Fall der nachträglichen Einführung auch BGH, Urt. v. 20.9.2004 – II ZR 288/02 (EMS), BGHZ 160, 253 = ZIP 2004, 2093, dazu EWiR 2005, 49 (Noack). 17) Einzelheiten bei K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 54 Rz. 15 ff. 18) Vgl. BGH, Urt. v. 22.1.2013 – II ZR 80/10, ZIP 2013, 263 = NZG 2013, 220, dazu EWiR 2013, 131 (Seibt); hierzu im Lichte von § 54 Abs. 1 Jacobsen/Knott, NZG 2014, 372, 373. 19) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 54 Rz. 24 – Überlagerung der Geldzahlungspflicht durch die Sacheinlagenvereinbarung; vgl. zur Kapitalerhöhung auch Servatius in: BeckOGK-AktR, § 183 AktG Rz. 36. 20) LG München I, Urt. v. 30.8.2012 – 5 HK O 5699/11, Rz. 5, ZIP 2012, 2152 = BeckRS 2012, 22122; abweichend K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 54 Rz. 26. 21) Vgl. zur GmbH bereits Servatius, DStR 2004, 1176; ähnlich Bungeroth in: MünchKomm-AktG, § 54 Rz. 78; abweichend die h. M., vgl. nur Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 54 AktG Rz. 43 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 54 Rz. 11; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 54 Rz. 10.

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299

§ 54

Hauptverpflichtung der Aktionäre

der realen Kapitalaufbringung mittlerweile erhebliche Liberalisierungen von der buchstabengetreuen Anwendung gibt (Aufgabe des Gebots wertgleicher Deckung, Vorleistungen, Hin- und Herzahlen etc.). Auf die Erbringung von Sacheinlagen ist § 54 Abs. 3 nicht anwendbar; das Merkmal der freien Verfügbarkeit gilt richtigerweise analog § 7 Abs. 3 GmbHG jedoch auch hier (streitig).22) Der Zeitpunkt für die Erbringung der Sacheinlagen ergibt sich aus § 36a Abs. 2. Bei schuldrechtlich vereinbarten Mehrleistungen (z. B. schuldrechtliches Agio, siehe oben Rz. 7) gilt § 54 Abs. 3 ebenfalls nicht.23) Insofern wird der aktienrechtliche Gläubigerschutz nicht bereits durch Absicherung der schuldrechtlichen Verpflichtung verwirklicht, sondern im Rahmen der Ermittlung ausschüttungsfähiger Beträge nur auf der Grundlage der erfolgten tatsächlichen Leistung.24) 2.

Leistungsmodalitäten

a)

Barzahlung oder Kontogutschrift

14 Die in § 54 Abs. 3 genannten Leistungsmodalitäten sind zwingend.25) Bareinlagen müssen entweder in bar (§ 929 BGB) oder durch Kontogutschrift (Buchgeld) erfüllt werden; andernfalls tritt keine Erfüllungswirkung ein.26) Die Barzahlung hat gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 BBankG durch Übereignung von auf Euro lautenden Münzen und Scheinen an die AG zu erfolgen; eine Scheckzahlung wirkt nur erfüllungshalber (§ 364 Abs. 2 BGB).27) Eine Kontogutschrift erfordert bei der Gründung die Zahlung auf ein Konto der rechtsfähigen VorAG28) bzw. bei der Kapitalerhöhung auf ein Konto der AG (§ 188 Abs. 2 Satz 2 stellt dies ausdrücklich klar). Ein Privatkonto des Vorstands oder das Konto eines Gründers bzw. Aktionärs genügen nicht, selbst wenn diese treuhänderisch für die AG geführt werden.29) Vgl. für die Bestätigung des Geldeingangs durch das Kreditinstitut § 37 Abs. 1 Satz 3. 15 Das Konto muss in allen Fällen bei einem deutschen Kreditinstitut i. S. von §§ 1 Abs. 1, 3 Abs. 1 KWG, einer Zweigstelle eines ausländischen Kreditinstituts i. S. von § 53 Abs. 1 Satz 1 KWG oder einem ausländischen Kreditinstitut innerhalb der EU oder des EWR gemäß § 53b Abs. 1 Satz 1 oder Abs. 7 KWG geführt werden.30) Zumindest innerhalb der EU und des EWR kann die Einlageleistung auch in einer Fremdwährung erfolgen („gesetzliche Zahlungsmittel“).31) Für die Umrechnung in Euro ist der Tag der Einzahlung maßgebend.32) Beteiligt sich ein Kreditinstitut selbst an der AG, insbesondere auf Zeit im Rah_____________ 22) Vgl. Servatius in: BeckOGK-AktR, § 188 AktG Rz. 51 m. w. N.; abweichend K. Schmidt/LutterFleischer, AktG, § 54 Rz. 25 – nach den allg. bürgerlich-rechtlichen Regeln; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 54 Rz. 10. 23) Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 54 Rz. 10. 24) Vgl. zum Finanzplankredit bereits BGH, Urt. v. 28.6.1999 – II ZR 272/98, ZIP 1999, 1263 = DStR 1999, 1198. 25) BGH, Urt. v. 13.7.1992 – II ZR 263/91, ZIP 1993, 1387. 26) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 54 Rz. 35. 27) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 54 Rz. 28. 28) Zur „Kontofähigkeit“ der Vor-AG als Teil der Rechtsfähigkeit explizit BGH, Urt. v. 2.5.1966 – II ZR 219/63, BGHZ 45, 338, freilich noch auf der Grundlage des heute überholten Verständnisses der VorAG als Gesamthandsgemeinschaft. 29) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 54 Rz. 33; BGH, Urt. v. 29.1.2001 – II ZR 183/00, NJW 2001, 1647, 1648 = ZIP 2001, 513 – zur GmbH; abweichend unter Hinweis auf die Zurechnung dieses Kontos nach Maßgabe des unternehmensbezogenen Geschäfts Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 54 Rz. 12, was dem Deutlichkeitsgebot gemäß § 54 Abs. 3 jedoch nicht gerecht wird. 30) Einzelheiten bei Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 54 AktG Rz. 60 ff. 31) Einzelheiten bei Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 54 AktG Rz. 54, 57 f. – auch zur Behandlung von Kursrisiken; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 54 Rz. 31; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 54 Rz. 13; abweichend Voigt, NZG 2008, 933. 32) Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 54 Rz. 13.

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§ 54

Hauptverpflichtung der Aktionäre

men einer Kapitalerhöhung (Emissionskonsortium), kann dessen Einlagepflicht auf ein bei ihm geführtes, seinem Zugriff entzogenes Konto der AG geleistet werden (streitig).33) Aus § 54 Abs. 3 folgt zentral, dass eine Leistung an Dritte nicht schuldbefreiend wirkt.34) 16 Dies ist für die Mindesteinlagen bzw. den ggf. freiwillig höheren eingeforderten Betrag i. S. von § 36 Abs. 2 konsequent, denn nur bei einer Zahlung an die AG kann das Registergericht die tatsächliche Einlageleistung ohne großen Aufwand kontrollieren. Für die Resteinlagen gilt § 54 Abs. 3 gemäß seinem Wortlaut nicht. Nach der hier vertretenen Auffassung ist das Gebot der freien Verfügung durch den Vorstand jedoch auch bei den Resteinlagen anzuwenden, so dass ohne vorherige Zustimmung des Vorstands keine Schuldentilgung der Einlagepflicht erfolgt (siehe unten Rz. 18). Für die übrigen Anforderungen an die reale Kapitalaufbringung (Aufrechnungs- und Befreiungsverbot) vgl. § 66. b)

Zur freien Verfügung des Vorstands

Das zentrale Merkmal der Leistungserbringung ist gemäß § 54 Abs. 3, dass die Einlage 17 zur freien Verfügung des Vorstands eingezahlt werden muss. Hierüber wird einerseits (noch einmal) klargestellt, dass eine dingliche Vermögensaussonderung erfolgen muss; zum anderen, dass die Einlage nur erfüllt wird, wenn die AG, vermittelt über den Vorstand als Geschäftsführungsorgan, die Rechtsmacht hat, hierüber gemäß der satzungsmäßigen Zwecksetzung zu verfügen. Das Merkmal deckt sich mit den Anforderungen gemäß § 36 Abs. 2, vgl. daher für Einzelheiten dort. Auf die freie Verfügbarkeit kommt es gemäß dem Wortlaut von § 54 Abs. 3 ebenso wie 18 gemäß § 36 Abs. 2 nur beim eingeforderten Betrag an, mithin regelmäßig allein bei den Mindesteinlagen. Für die darüber hinausgehenden Resteinlagen i. S. von § 63 Abs. 1 soll dies nach h. M. nicht gelten.35) Dies führt insbesondere dazu, dass auch die Bezahlung einer vollwertigen, fälligen und liquide beweisbaren Forderung eines Gesellschaftsgläubigers durch den Aktionär die Einlagepflicht erlöschen lässt.36) Dem ist nicht zuzustimmen. Die Einlageleistung ist zweckgebundenes Betriebskapital, so dass – über die summen- oder wertmäßige Deckung hinaus – gewährleistet sein muss, dass der pflichtengebundene und nach Eintragung der AG sogar eigenverantwortlich handelnde Vorstand hierüber zur Verwirklichung des Gesellschaftszwecks verfügen kann.37) Dem würde nicht entsprochen, wenn der Aktionär selbständig entscheiden könnte, wie das Kapital verwendet wird. Insofern ist es konsequent, wenn dieser Aspekt auch bei den Resteinlagen Geltung beansprucht.38) Dies führt insbesondere dazu, dass es unzulässig ist, wenn ein Aktionär unmittelbar einen Gesellschaftsgläubiger befriedigt, um damit seine Einlagepflicht zu erfüllen, sofern der Vorstand dem nicht vorher zugestimmt hat (vgl. insofern § 362 Abs. 2 BGB). c)

Rechtsfolgen bei Verstößen

Werden die Anforderungen von § 54 Abs. 3 nicht eingehalten, entfaltet die Leistung des 19 Aktionärs keine Erfüllungswirkung. Die Einlagepflicht besteht fort; der Aktionär hat einen Bereicherungsanspruch gegen die AG gemäß Zweckverfehlungskondiktion. Eine Aufrechnung mit der Einlagepflicht ist wegen § 66 Abs. 1 nicht möglich. _____________ 33) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 54 Rz. 32; abweichend Bungeroth in: MünchKomm-AktG, § 55 Rz. 65. 34) BGH, Urt. v. 13.7.1992 – II ZR 263/91, ZIP 1993, 1387; OLG Naumburg, Beschl. v. 10.5.1999 – 7 W 24/99, NZG 2000, 152, 153. 35) Vgl. nur Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 54 Rz. 11; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 54 Rz. 25. 36) Vgl. zu den Anforderungen BGH, Urt. v. 25.11.1985 – II ZR 48/85, ZIP 1986, 161 = NJW 1986, 989 – zur GmbH. 37) Zum Ganzen für die GmbH bereits Servatius, DStR 2004, 1176. 38) So auch Bungeroth in: MünchKomm-AktG, § 54 Rz. 49.

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§ 55 d)

Nebenverpflichtungen der Aktionäre Beweislast

20 Die Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen einer Einlagepflicht trägt die AG. Die Erfüllung derselben ist vom Aktionär zu beweisen.39) V.

Verjährung der Einlagepflicht (§ 54 Abs. 4)

21 Die Einlageforderung i. S. von § 54 Abs. 1 verjährt gemäß § 54 Abs. 4 Satz 1 in zehn Jahren seit Entstehung der Einlagepflicht. Nach h. M. kommt es für den Beginn jedoch abweichend vom Wortlaut auf die Fälligkeit an.40) Das ist sachgerecht, weil die Fälligkeit der Resteinlagen vielfach aus berechtigten wirtschaftlichen Erwägungen nach hinten verschoben wird. Bei den Mindesteinlagen folgt die Fälligkeit zwingend aus § 271 Abs. 1 BGB, bei den Resteinlagen gilt für die Herbeiführung der Fälligkeit § 63 Abs. 1. Die Verjährungsfrist kann nicht verkürzt, durch Satzungsregelung aber verlängert werden.41) 22 Wird über das Vermögen der AG das Insolvenzverfahren eröffnet (§ 27 InsO), wird die Verjährung gemäß § 54 Abs. 4 Satz 2 insofern gehemmt, als sie frühestens sechs Monate danach eintritt (Ablaufhemmung). Bei der wirtschaftlichen Neugründung beginnt die Verjährung neu zu laufen.42) 23 Die Verjährung bezieht sich auf den konkret festgesetzten Ausgabebetrag, somit auch auf ein korporatives Agio. Die Regelung gilt bei Sacheinlagen entsprechend.43) Für schuldrechtliche Nebenleistungen (schuldrechtliches Agio, siehe oben Rz. 7 f.) und Nebenleistungspflichten i. S. von § 55 gelten indessen die allgemeinen Regeln gemäß §§ 195 ff. BGB. _____________ 39) Einzelheiten, auch für die ausreichenden Indizien, bei BGH, Hinweisbeschl. v. 9.7.2007 – II ZR 222/06, ZIP 2007, 1755 = NJW 2007, 3067, dazu EWiR 2007, 687 (Wagner); für Beweiserleichterungen bei lange zurückliegender Zahlung – BGH, Urt. v. 13.9.2004 – II ZR 137/02, ZIP 2005, 28 = DStR 2004, 2112, dazu EWiR 2005, 21 (Henkel); OLG Brandenburg, Urt. v. 12.9.2006 – 6 U 29/06, NZG 2006, 948; zur Auslegung einer Tilgungsbestimmung BGH, Urt. v. 17.9.2001 – II ZR 275/99, ZIP 2001, 1991, dazu EWiR 2001, 1149 (Keil). 40) OLG Hamburg, Urt. v. 2.6.2006 – 11 U 244/05, ZIP 2006, 1677 = AG 2007, 500; Bungeroth in: MünchKomm-AktG, § 54 Rz. 86 m. w. N.; abweichend aber Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 54 Rz. 21; den Unterschied zwischen Entstehen und Fälligkeit nicht erkennend – K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 54 Rz. 36; undeutlich auch Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 54 AktG Rz. 85. Einzelheiten zur Neuregelung der Verjährung bei Thiessen, ZHR 168 (2004) 503. 41) Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 54 AktG Rz. 85, bei Rz. 86 – auch zur Behandlung von Altfällen. 42) LG München I, Urt. v. 30.8.2012 – 5 HK O 5699/11, ZIP 2012, 2152 = BeckRS 2012, 22122. 43) Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 54 AktG Rz. 83.

§ 55 Nebenverpflichtungen der Aktionäre Wolfgang Servatius

(1) 1Ist die Übertragung der Aktien an die Zustimmung der Gesellschaft gebunden, so kann die Satzung Aktionären die Verpflichtung auferlegen, neben den Einlagen auf das Grundkapital wiederkehrende, nicht in Geld bestehende Leistungen zu erbringen. 2 Dabei hat sie zu bestimmen, ob die Leistungen entgeltlich oder unentgeltlich zu erbringen sind. 3Die Verpflichtung und der Umfang der Leistungen sind in den Aktien und Zwischenscheinen anzugeben. (2) Die Satzung kann Vertragsstrafen für den Fall festsetzen, daß die Verpflichtung nicht oder nicht gehörig erfüllt wird.

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Wolfgang Servatius

§ 55

Nebenverpflichtungen der Aktionäre

Literatur: Schmidt, K., Nebenleistungsgesellschaften (§ 55 AktG, § 3 Abs. 2 GmbHG) zwischen Gesellschaftsrecht, Schuldrecht und Kartellrecht – Von der Rübenzucker-AG zum Nebenleistungsnetzwerk, in: Festschrift für Ulrich Immenga, 2004, S. 705.

Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt ................................ 1 II. Nebenleistungspflicht ...................... 3 1. Begriff ................................................. 3 2. Abgrenzung ........................................ 6 a) Gegenüber der Sacheinlage .......... 7 b) Gegenüber der Sachübernahme .................................... 8 c) Schuldrechtliche Nebenabreden .......................................... 9 III. Voraussetzungen ............................. 11 1. Satzungsregelung .............................. 11 I.

2. Aktienurkunde und Zwischenscheine ............................................... 3. Vinkulierung ..................................... 4. Fehlen der genannten Voraussetzungen ............................................... IV. Rechtsfolgen .................................... 1. Mitgliedschaftliche Leistungspflicht ................................................ 2. Leistungsstörungen .......................... 3. Entgelt ............................................... 4. Abnahmepflichten der AG .............. V. Beendigung, Änderung ..................

13 14 15 16 16 17 18 20 21

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

Die Regelung ermöglicht als einzige Ausnahme zu § 54 Abs. 1 die satzungsmäßige Ein- 1 führung von Naturalleistungspflichten der Aktionäre auf mitgliedschaftsrechtlicher Grundlage und gestaltet die rechtliche Behandlung rudimentär aus. Man spricht in diesen Fällen auch von einer sog. Nebenleistungs-AG; hierdurch lassen sich genossenschaftliche Zwecke im Kleid der AG verwirklichen.1) Die praktische Bedeutung dieser ursprünglich auf die Bedürfnisse der Zuckerrübenindustrie zugeschnittenen Regelung ist bei der AG als kapitalmarktorientierter Publikumsgesellschaft wegen der Herausnahme von Geldleistungen gering;2) vgl. bei der GmbH den ähnlichen § 3 Abs. 2 Alt. 2 GmbHG. Konsequenterweise zeigen sich schuldrechtliche Alternativgestaltungen im Hinblick auf Finanzierungsfragen (siehe unten Rz. 9). Wird eine Nebenleistungspflicht satzungsmäßig vereinbart, sind der betreffende Aktieninhaber und sein Rechtsnachfolger mitgliedschaftlich (nicht nur schuldrechtlich) zur Leistungserbringung verpflichtet. § 55 Abs. 1 Satz 1 legt zwingend fest, dass eine Nebenleistungspflicht – i. S. der Vorschrift, 2 d. h. nicht auch bei anderen Gestaltungen (siehe Rz. 6 ff.) – nicht auf Geldleistung gerichtet sein darf und darüber hinaus nur bei vinkulierten Namensaktien i. S. von § 68 Abs. 2 in Betracht kommt. Die vielfach vorgebrachte Legitimierung des Verbots von Geldleistungen wegen einer ansonsten drohenden Aushöhlung der Grundkapitalbindung3) verfängt nicht, weil es bei § 55 Abs. 1 stets um zusätzliche Leistungen geht, auf die die Gläubiger keine Haftungserwartung stützen können. § 55 Abs. 1 Satz 2 stellt es den Aktionären frei, ob die Nebenleistungspflicht entgeltlich oder unentgeltlich übernommen wird, worüber in jedem Fall eine entsprechende Satzungsregelung zu treffen ist. Vgl. insoweit auch § 61. § 55 Abs. 1 Satz 3 verlangt, dass die Nebenleistungspflicht in der Aktienurkunde anzugeben ist, was vor allem dem betroffenen Aktionär Rechtssicherheit verschafft und spätere Erwerber warnt. Gemäß § 55 Abs. 2 kann die Satzung für den Fall der Nicht- oder Schlechterfüllung der Nebenleistungspflicht eine Vertragsstrafe festsetzen. Wurden Neben_____________ 1) 2)

3)

K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 2. Vgl. Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 55 AktG Rz. 5; Bungeroth in: MünchKomm-AktG, § 55 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 3 ff. – auch zu rechtsvergleichenden Aspekten – sowie bei Rz. 13 zur möglichen Bedeutung bei der REIT-AG. Vgl. etwa K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 14.

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§ 55

Nebenverpflichtungen der Aktionäre

leistungspflichten festgesetzt, bilden die betroffenen Aktien eine besondere Gattung i. S. von § 11.4) II.

Nebenleistungspflicht

1.

Begriff

3 Eine Nebenleistung i. S. von § 55 liegt nur vor, wenn sich ein Aktionär bei Gründung i. R. der Aktienübernahme (vgl. § 23 Abs. 2 Nr. 1) oder bei der Zeichnung i. R. einer Kapitalerhöhung (vgl. § 185) verpflichtet, neben (nicht anstelle!) der Einlagen i. S. von § 54 Abs. 1 wiederkehrende, nicht in Geld bestehende Leistungen an die AG zu erbringen. Als Gegenstand der Leistungspflicht kommt alles in Betracht, sofern es sich nicht um eine (zusätzliche) Geldleistung handelt, namentlich Sachleistungen, Gebrauchsüberlassungen, Dienstleistungen oder Unterlassungen.5) Umgehungen des rechtspolitisch zweifelhaften Verbots von Geldleistungen (siehe Rz. 2) durch die Verpflichtung zu Scheck-, Wechsel- oder Bürgschaftsübernahmen sind ebenfalls unzulässig.6) Eine rechtliche Kategorisierung des Leistungsbegriffs anhand des allgemeinen und besonderen Schuldrechts wird vielfach versucht, ist jedoch wegen der Vertragsfreiheit nicht notwendig, allenfalls bei der rechtlichen Behandlung von Leistungsstörungen (siehe unten Rz. 16). §§ 134, 138 BGB schränken die Gestaltungsfreiheit jedoch ein. Einen Vermögenswert muss die Leistung nicht haben,7) wohl aber einen vollstreckbaren Inhalt (Bestimmtheitsgebot). Verstöße gegen § 53a kommen wegen des Zustimmungserfordernisses zugunsten des Verpflichteten nicht in Betracht.8) 4 Das Merkmal „wiederkehrend“ ist weit auszulegen, so dass letztlich nur die punktuelle Einmalleistung ausgeschlossen ist, die zeitliche Periode und das Leistungsintervall jedoch der Satzungs- und Privatautonomie unterliegen. Von der wiederkehrenden Leistung abzugrenzen ist aber die dauernde Leistung, so dass hiernach insbesondere kein Wettbewerbsverbot zum Gegenstand von § 55 gemacht werden kann.9) 5 Nach § 55 Abs. 1 Satz 2 kann die Nebenleistung entgeltlich oder unentgeltlich zu erbringen sein. In welchem Verhältnis Leistung und Gegenleistung stehen müssen, wird durch das Gesetz unmittelbar nicht vorgegeben. Zu beachten sind freilich § 53a und § 57 im Hinblick auf das Verbot verdeckter Gewinnausschüttungen (vgl. hierzu § 61). Mischformen zwischen Entgeltlichkeit und Unentgeltlichkeit sind möglich.10) In der Satzung kann die Entgelthöhe verbindlich festgelegt werden, so dass etwaige Änderungen gemäß § 179 erfolgen müssen. Praktikabler und ebenfalls zulässig ist daher, lediglich einen Hinweis auf die Entgeltlichkeit aufzunehmen und die Konkretisierung dem Vorstand zu überlassen.11) 2.

Abgrenzung

6 Für die Abgrenzung der Nebenleistungspflicht i. S. von § 55 gegenüber anderen – gesellschafts- oder schuldrechtlich vereinbarten – Aktionärspflichten gilt Folgendes: _____________ 4) 5) 6) 7) 8) 9) 10) 11)

304

RG, Urt. v. 25.9.1912 – I 6/12, RGZ 80, 95. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 12. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 14. Heute h. M., vgl. Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 55 AktG Rz. 6; K. Schmidt/LutterFleischer, AktG, § 55 Rz. 12; abweichend noch RG, Urt. v. 25.9.1901 – I 142/01, RGZ 49, 77. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 12. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 13. Vgl. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 18. Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 61 Rz. 2 – nach billigem Ermessen gemäß §§ 315 f. BGB.

Wolfgang Servatius

Nebenverpflichtungen der Aktionäre a)

§ 55

Gegenüber der Sacheinlage

Die Verpflichtung eines Aktionärs aus der Aktienübernahme bzw. Zeichnung auf Leistung 7 eines Vermögenswertes als Bar- oder Sacheinlage auf den geringsten oder höheren Ausgabebetrag fällt allein unter §§ 54, 27, 36a. Sofern also Entsprechendes gewollt ist – objektive Auslegung! – sind die hierfür maßgeblichen Regelungen anzuwenden. Soweit dies nicht vorliegt, kann durchaus auch bei vergleichbaren Gestaltungen ein Fall des § 55 vorliegen. Die Abgrenzung ist insbesondere im Hinblick auf die bei § 55 nicht vorgesehene Registerprüfung und den hier nicht geltenden strengen Kapitalaufbringungsregeln relevant. Überschneidungen in tatsächlicher Hinsicht zu § 55 kann es insoweit einmal geben, wenn ein Vermögensgegenstand quoad usum, d. h. nutzungsweise, als Sacheinlage eingebracht wird (Einzelheiten siehe bei § 27 Rz. 10). Zum anderen kann die Abgrenzung relevant werden, wenn man bei der dinglich zu erbringenden Sacheinlage (quoad dominium) mit der fragwürdigen h. M. zu § 36a Abs. 2 annimmt, dass der betreffende Gegenstand nicht sogleich zu erbringen ist, sondern erst innerhalb eines Fünf-Jahres-Zeitraums (Einzelheiten siehe § 36a Rz. 11 f.). b)

Gegenüber der Sachübernahme

Soll der Aktionär einen Gegenstand leisten, ohne dass die hierfür anfallende Gegenleis- 8 tung der AG auf die Einlagepflicht i. S. von § 54 Abs. 1 (geringster oder höherer Ausgabebetrag) angerechnet wird, handelt es sich um eine Sachübernahme gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2. Insofern besteht zu § 55 in tatsächlicher Hinsicht eine große Ähnlichkeit. Deswegen ist die Abgrenzung wegen der unterschiedlichen Wirksamkeitsvoraussetzungen erheblich, insbesondere im Hinblick auf die Knüpfung der Nebenleistungspflicht an die Vinkulierung der hiervon betroffenen Aktien und die Nachgründung gemäß § 52, die nur bei der Sachübernahme gilt. Indem es für beide Gestaltungen – Sachübernahme und Nebenleistung – keine gesetzliche Pflicht gibt, kann zwischen beiden Möglichkeiten frei gewählt werden. Es besteht insbesondere bei periodisch zu erbringenden Aktionärsleistungen kein Vorrang der Sachübernahme oder der Nebenleistungspflicht. Maßgeblich für die Abgrenzung ist die objektive Auslegung dahingehend, was genau gewollt ist. c)

Schuldrechtliche Nebenabreden

Bedeutsam ist schließlich die Abgrenzung gesellschaftsrechtlicher Pflichten i. S. von § 55 9 gegenüber den schuldrechtlichen Rechtsgeschäften der Aktionäre mit der AG. Indem jedoch als Nebenleistungspflichten gerade keine Geldleistung vereinbart werden kann, sind die in der Praxis häufig anzutreffenden Finanzplankredite, gesplitteten Einlagen oder das schuldrechtliche Agio kein Fall des § 55, selbst wenn sie anlässlich der Satzungsfeststellung bzw. Zeichnung vereinbart wurden. Bei diesen schuldrechtlichen, ggf. bloß äußerlich mit der Satzung verbundenen Abreden besteht daher eine größere Gestaltungsfreiheit. Problematisch sind jedoch Drittgeschäfte, bei denen der Aktionär eine wiederkehrende 10 Leistung i. S. von § 55 Abs. 1 Satz 1 schuldet, meist gegen Entgelt. Als Beispiel zu nennen ist insoweit die periodisch durchzuführende Revision12) oder Rechtsberatung. Hier ist es durchaus möglich, das Geschäft als Drittgeschäft außerhalb von § 55 abzuschließen. Eine satzungsmäßige Verfestigung dürfen diese Geschäfte wegen § 23 Abs. 5 jedoch nicht erfahren.13) Letztlich kommt es für die Abgrenzung darauf an, ob die Parteien eine enge Verbindung mit dem Aktionär herstellen oder auch einen Wechsel des Geschäftspartners nach Aktienübertragung wollen. Ist Ersteres der Fall, handelt es sich um einen Schuldvertrag (höchstpersönliche Leistungserbringung gemäß § 613 BGB); ist Letzteres gewollt, liegt eine Nebenleistungspflicht i. S. von § 55 vor. _____________ 12) Vgl. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 13. 13) Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 55 AktG Rz. 9.

Wolfgang Servatius

305

§ 55

Nebenverpflichtungen der Aktionäre

III.

Voraussetzungen

1.

Satzungsregelung

11 Ist eine Nebenleistungspflicht gewollt (siehe oben Rz. 3 ff.), muss diese zwingend in die Satzung aufgenommen werden. Nachträgliche Änderungen bedürfen einer Satzungsänderung; hierbei und bei Verschärfungen bestehender Pflichten gilt zudem § 180 Abs. 1.14) Adressat der Nebenleistungspflicht muss ein Aktionär sein; die Begründung einer Nebenleistungspflicht zulasten von Nichtaktionären ist wegen des mitgliedschaftlichen Charakters nicht möglich.15) Werden Nebenleistungspflichten nur einigen Aktionären auferlegt, begründet dies eine besondere Aktiengattung i. S. von § 11.16) 12 Ausreichend ist, dass die betreffende Pflicht und ggf. das hierfür zu leistende Entgelt nach Inhalt und Umfang im Satzungstext angegeben wird;17) die weiteren Einzelheiten können in einer besonderen – entsprechend § 23 Abs. 1 notariell zu beurkundenden – Urkunde geregelt werden oder auch der Konkretisierung durch den Vorstand vorbehalten bleiben.18) Die Nebenleistungspflicht ist objektiv auszulegen. Das Gebot der satzungsmäßigen Verfestigung besteht auch für den Aspekt der Entgeltlichkeit; es bedarf nach § 55 Abs. 1 Satz 2 der ausdrücklichen Regelung, ob ein Entgelt gezahlt wird oder nicht.19) Auch Mischformen sind zulässig.20) 2.

Aktienurkunde und Zwischenscheine

13 Die Nebenleistungspflicht muss gemäß § 55 Abs. 1 Satz 3 nach Inhalt und Umfang auch in den Aktienurkunden und auf den Zwischenscheinen (§ 8 Abs. 6) angegeben werden. Hierdurch werden die künftigen Erwerber über die an die übertragene Mitgliedschaft geknüpften Leistungspflichten informiert.21) Die Entgeltlichkeit bzw. Entgelthöhe müssen nicht vermerkt werden.22) 3.

Vinkulierung

14 Die Nebenleistungspflicht ist nur bei vinkulierten Namensaktien i. S. von § 68 Abs. 2 möglich. Hierdurch wird gewährleistet, dass die der Erwartung der AG entsprechende Erfüllung der Leistungspflicht nicht durch eine Anteilsübertragung an unbekannte oder nicht leistungsfähige Dritte umgangen werden kann. 4.

Fehlen der genannten Voraussetzungen

15 Fehlen die genannten Voraussetzungen, ist die Nebenleistungspflicht nach überwiegender Meinung insgesamt nichtig.23) Dem ist zu widersprechen: Richtig ist allein, dass eine verbandsrechtliche Leistungspflicht nicht entsteht. Im Wege der Umdeutung gemäß § 140 _____________ 14) 15) 16) 17) 18)

19) 20) 21) 22) 23)

306

K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 9. Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 55 AktG Rz. 16. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 15. RG, Urt. v. 29.10.1915 – II 137/15, RGZ 87, 261 – zur GmbH. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 8; zur Möglichkeit, die Konkretisierung der Nebenleistungspflicht Dritten zu überlassen Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 55 AktG Rz. 20 sowie Bungeroth in: MünchKomm-AktG, § 55 Rz. 5. Vgl. zu vor dem AktG 1965 gegründeten AG die Übergangsregelung § 10 EGAktG. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 18. Zum gutgläubigen lastenfreien Erwerb der Mitgliedschaft ausführlich Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGKAktR, § 55 AktG Rz. 25 ff. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 19. Vgl. nur RG, Urt. v. 10.5.1912 – II ZRV 43/12, RGZ 79, 332, 335; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 55 Rz. 9; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 37.

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Nebenverpflichtungen der Aktionäre

§ 55

BGB kann es sich jedoch gleichwohl ergeben, dass die entsprechende Pflicht – inkl. korrespondierender Entgeltpflicht – als schuldrechtliches Rechtsgeschäft aufrechterhalten bleibt;24) Aktienerwerber sind hierdurch jedoch nicht gebunden. Der Bestand der Mitgliedschaft wird durch die Nichtigkeit der Nebenleistungspflicht nicht berührt; § 139 BGB ist insofern nicht anwendbar. IV.

Rechtsfolgen

1.

Mitgliedschaftliche Leistungspflicht

Die Nebenleistungspflicht trifft wegen der satzungsmäßigen Grundlage den jeweiligen 16 Inhaber der hiervon erfassten Aktien und verpflichtet ihn zur entsprechenden Leistung an die AG.25) Steht eine Aktie mehreren gemeinschaftlich zu, haften sie gemäß § 69 Abs. 2 als Gesamtschuldner. Die gesetzlichen Kapitalaufbringungsregeln finden hierauf keine Anwendung.26) Die isolierte Abtretung des Anspruchs der AG gemäß § 55 ist nicht möglich.27) Demgegenüber sind fällige, rückständige Ansprüche durchaus verkehrsfähig und damit Gegenstand von Abtretung und (Ver-)Pfändung.28) Wird die Aktie übertragen, kommt ein gutgläubiger lastenfreier Erwerb unter Ausschluss der Nebenleistungspflicht zwar in Frage. Wegen des Zustimmungserfordernisses der AG i. S. von § 68 ist dies jedoch kaum denkbar.29) 2.

Leistungsstörungen

Die Behandlung von Nicht- und Schlechtleistung richtet sich nach den Regelungen des 17 BGB.30) Wurde ein Entgelt vereinbart, liegt regelmäßig eine synallagmatische Vereinbarung i. S. von §§ 320 ff. BGB vor.31) In welchem Maße Mängel oder Störungen der Nebenleistungspflicht die Aktionärsstellung selbst betreffen, ist nicht abschließend geklärt.32) Richtigerweise ist ein Durchschlagen grundsätzlich zu verneinen, um Missbräuchen im Hinblick auf die Gleichbehandlung der Aktionäre und den Gläubigerschutz zu begegnen. Gemäß § 55 Abs. 2 wird ausdrücklich vorgesehen, dass durch Satzungsregelung auch eine Vertragsstrafe i. S. von §§ 336 ff. BGB, § 348 HGB vereinbart werden kann. Die Voraussetzungen für die Vertragsstrafe sowie deren Art und Umfang müssen ebenfalls satzungsmäßig geregelt werden.33) Die Kaduzierung wegen nicht gehöriger Leistung ist nicht möglich (streitig).34)

_____________ 24) 25) 26) 27) 28) 29) 30) 31) 32) 33) 34)

So auch Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 55 AktG Rz. 53. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 23. Bungeroth in: MünchKomm-AktG, § 55 Rz. 20. RG, Urt. v. 27.5.1932 – II 332/31, RGZ 136, 313. In diesem Sinne auch Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 55 Rz. 4. Vgl. Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 55 Rz. 3 m. w. N. RG, Urt. v. 29.10.1915 – II 137/15, RGZ 87, 261 – zur GmbH; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 55 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 20. Einzelheiten bei Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 55 AktG Rz. 38 ff.; zurückhaltender Bungeroth in: MünchKomm-AktG, § 55 Rz. 22. Einschränkend K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 24: eher großzügig Grigoleit-Grigoleit/ Rachlitz, AktG, § 55 Rz. 6. Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 55 AktG Rz. 41; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 21. Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 55 AktG Rz. 41; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 22; Bungeroth in: MünchKomm-AktG, § 55 Rz. 29; abweichend Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 55 Rz. 5.

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§ 55 3.

Nebenverpflichtungen der Aktionäre Entgelt

18 Wurde ein Entgelt für die Erbringung der Nebenleistungen satzungsmäßig (vgl. § 55 Abs. 1 Satz 2) vereinbart, steht dieser Anspruch zur Nebenleistungspflicht im Gegenseitigkeitsverhältnis gemäß §§ 320 ff. BGB.35) Es handelt sich hierbei nicht um Gewinn, sondern um einen in der GuV auszuweisenden Aufwand der AG. Der Aktionär kann daher auch dann Zahlung verlangen, wenn die AG keinen Bilanzgewinn ausweist.36) Im Rahmen von § 60 Abs. 3 können die erbrachten Gegenleistungen jedoch bei der Gewinnverteilung berücksichtigt werden. 19 Auch das Kapitalerhaltungsgebot gemäß § 57 gilt für die Gegenleistung der AG im Ausgangspunkt nicht. Gemäß § 61 wird hiervon jedoch eine Ausnahme gemacht, wenn die Gegenleistung einem Drittvergleich nicht standhält (verdeckte Gewinnausschüttung; Einzelheiten siehe dort). 4.

Abnahmepflichten der AG

20 Im Wege der Auslegung ergibt sich regelmäßig, dass die AG eine korrespondierende Abnahmepflicht trifft.37) V.

Beendigung, Änderung

21 Eine Beendigung der Nebenleistungspflicht kann durch Befristung oder auflösende Bedingung erfolgen,38) was ggf. bei der Begründung in den Satzungstext aufzunehmen ist (siehe oben Rz. 12). Das Gleiche gilt für die Ausübung eines vereinbarten Kündigungsrechts.39) Der Satzungstext ist hieran anschließend gemäß § 179 Abs. 1 Satz 2 anzupassen. 22 Eine einvernehmliche Änderung bedarf auf Seiten der AG eine entsprechende Satzungsänderung (vgl. bei unterschiedlichen Pflichten auch § 179 Abs. 3); das Gleiche gilt, wenn die AG einseitig auf die Ansprüche aus § 55 verzichten will. Mit der Beseitigung der Vinkulierung entfällt auch die Nebenleistungspflicht.40) 23 Eine einseitige Beendigung durch den Aktionär ist in Extremfällen gemäß § 314 BGB möglich.41) Letzteres kann sich in Extremfällen auch daraus ergeben, dass die Aktie infolge der Nebenleistungspflicht praktisch unveräußerlich wird (Art. 14 GG).42) Auch die Unmöglichkeit der Erbringung der Nebenleistung nach § 275 BGB führt zum Erlöschen.43) Ein darüber hinausgehendes Dereliktionsrecht besteht bei Aktien nicht.44) Auch in diesen Fällen ist der Satzungstext hieran anschließend gemäß § 179 Abs. 1 Satz 2 anzupassen. 24 Werden die entsprechenden Aktien übertragen, ist der bisherige Aktionär nicht mehr aus § 55 verpflichtet; rückständige Pflichten hat er jedoch noch zu erfüllen.45) Verpflichtet ist fortan allein der neue Aktionär. _____________ 35) 36) 37) 38) 39) 40) 41) 42)

K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 24. Bungeroth in: MünchKomm-AktG, § 55 Rz. 19. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 16. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 27. Bungeroth in: MünchKomm-AktG, § 55 Rz. 48. Bungeroth in: MünchKomm-AktG, § 55 Rz. 35. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 33. Vgl. bereits RG, Gutachten v. 7.2.1930 – II 247/29, RGZ 128, 1; BGH, Urt. v. 16.12.1991 – II ZR 58/91, ZIP 1992, 237 – bei der GmbH; Einzelheiten bei Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 55 AktG Rz. 51. 43) Vgl. RG, Urt. V. 19.5.1922 – II ZR 550/20, RGZ 104, 349, 350. 44) Bungeroth in: MünchKomm-AktG, § 55 Rz. 45; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 24. 45) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 30.

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§ 56

Keine Zeichnung eigener Aktien

Die Nebenleistungspflicht endet mit Auflösung der AG, soweit nicht der Abwicklungs- 25 zweck eine ggf. beschränkte Fortgeltung erfordert.46) In der Insolvenz des Aktionärs oder der AG bleibt die Nebenleistungspflicht ebenfalls zunächst einmal bestehen (vgl. i. Ü. § 103 Abs. 1 Satz 2 InsO).47) _____________ 46) RG, Urt. v. 27.10.1909 – I 615/o8, RGZ 72, 236, 239 f. 47) RG, Urt. v. 30.10.1923 – II 898/22, RGZ 108, 20, 23 – zur GmbH; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 55 Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 55 Rz. 35 f.

§ 56 Keine Zeichnung eigener Aktien; Aktienübernahme für Rechnung der Gesellschaft oder durch ein abhängiges oder in Mehrheitsbesitz stehendes Unternehmen Wolfgang Servatius

(1) Die Gesellschaft darf keine eigenen Aktien zeichnen. (2) 1Ein abhängiges Unternehmen darf keine Aktien der herrschenden Gesellschaft, ein in Mehrheitsbesitz stehendes Unternehmen keine Aktien der an ihm mit Mehrheit beteiligten Gesellschaft als Gründer oder Zeichner oder in Ausübung eines bei einer bedingten Kapitalerhöhung eingeräumten Umtausch- oder Bezugsrechts übernehmen. 2Ein Verstoß gegen diese Vorschrift macht die Übernahme nicht unwirksam. (3) 1Wer als Gründer oder Zeichner oder in Ausübung eines bei einer bedingten Kapitalerhöhung eingeräumten Umtausch- oder Bezugsrechts eine Aktie für Rechnung der Gesellschaft oder eines abhängigen oder in Mehrheitsbesitz stehenden Unternehmens übernommen hat, kann sich nicht darauf berufen, daß er die Aktie nicht für eigene Rechnung übernommen hat. 2Er haftet ohne Rücksicht auf Vereinbarungen mit der Gesellschaft oder dem abhängigen oder in Mehrheitsbesitz stehenden Unternehmen auf die volle Einlage. 3Bevor er die Aktie für eigene Rechnung übernommen hat, stehen ihm keine Rechte aus der Aktie zu. (4) 1Werden bei einer Kapitalerhöhung Aktien unter Verletzung der Absätze 1 oder 2 gezeichnet, so haftet auch jedes Vorstandsmitglied der Gesellschaft auf die volle Einlage. 2 Dies gilt nicht, wenn das Vorstandsmitglied beweist, daß es kein Verschulden trifft. Literatur: Büdenbender, Eigene Aktien und Aktien an der Muttergesellschaft – Zeichnung, Erwerb, Kompetenzen, DZWiR 1998, 1 (Teil I) und DZWiR 1998, 55 (Teil II); Gottschalk/Ulmer, Garantien bei der Aktiengesellschaft bei einer Kapitalerhöhung, DStR 2021, 1173; Habersack, Verdeckte Sacheinlage und Hin- und Herzahlen nach dem ARUG, AG 2009, 557; Herrler/ Reymann, Die Neuerungen im Aktienrecht durch das ARUG (Teil 2), DNotZ 2009, 914; Hettlage, Darf sich eine Kapitalgesellschaft durch die Begründung einer wechselseitigen Beteiligung an der Kapitalaufbringung ihrer eigenen Kapitalgeber beteiligen?, AG 1967, 249; Hüffer, Harmonisierung des aktienrechtlichen Kapitalschutzes, NJW 1979, 1065; Mertens, Aufteilung von Kosten gemischter Aktienplatzierungen zwischen Gesellschaft und Aktionären, AG 2015, 881; Winter, Gesellschaftsrechtliche Schranken für „Wertgarantien“ der AG auf eigene Aktien, in: Festschrift für Volker Röhricht, 2005, S. 709.

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§ 56

Keine Zeichnung eigener Aktien Übersicht

I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt ................................................. 1 II. Zeichnungsverbot (§ 56 Abs. 1) ...... 3 1. Voraussetzungen ............................... 3 2. Rechtsfolgen bei Verstößen .............. 4 3. Vorratsaktien ..................................... 6 4. Finanzielle Unterstützung des Aktienerwerbs ............................. 7 a) Kontroverse Diskussion ............. 7 b) Stellungnahme ............................. 8 III. Konzernsachverhalte (§ 56 Abs. 2) ..................................... 10 1. Umgehungsschutz ........................... 10 I.

a) Zeichnung von Aktien eines abhängigen Unternehmens ........ 11 b) Zeichnung von Aktien eines Mehrheitsgesellschafters ............ 12 c) Unternehmensvertrag ................ 13 2. Rechtsfolgen bei Verstößen ............. 14 IV. Treuhandverhältnisse, mittelbare Stellvertretung (§ 56 Abs. 3) .......... 15 1. Erfasste Gestaltungen ...................... 16 2. Rechtsfolgen bei Verstößen ............. 17 a) Aktionärspflichten ..................... 18 b) Aktionärsrechte .......................... 19 V. Vorstandshaftung (§ 56 Abs. 4) ..... 20

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

1 Die Regelung ergänzt die §§ 71 – 71e und verbietet die Zeichnung eigener Aktien durch die AG. Der Schutzzweck ist ein doppelter: Das Innehaben eigener Aktien lässt zum einen die Kapitalaufbringung leer laufen, indem die AG Gläubiger und Schuldner der Einlagepflicht ist; zudem wird die aktienrechtliche Organisationsstruktur missachtet, indem der Vorstand als Vertretungsorgan über Kompetenzen verfügt, die an sich den Aktionären zustehen (sog. Verwaltungsstimmrecht).1) Die Regelung wurde in Umsetzung der Art. 18, 24a der früheren Kapitalrichtlinie im Jahr 1979 eingeführt.2) Ihr Regelungsgehalt war jedoch in Deutschland bereits früher anerkannt;3) vgl. auch § 33 GmbHG. Insgesamt ist die Regelung rechtspolitisch betrachtet zu begrüßen, wenngleich – wie beim Erwerb eigener Aktien – in bestimmten Konstellationen beschränkte Ausnahmen vom Zeichnungsverbot zulässig sein müssen (zu den Vorratsaktien siehe unten Rz. 6). 2 § 56 Abs. 1 begründet ein Verbot, dass die AG eigene Aktien bei der Gründung oder Kapitalerhöhung zeichnet; wird hiergegen verstoßen, ist die Zeichnung nichtig. § 56 Abs. 2 erstreckt das Zeichnungsverbot zum Schutz vor Umgehungen auf Konzernsachverhalte, ordnet jedoch an, dass ein Verstoß nicht die Unwirksamkeit der Aktienübernahme nach sich zieht. § 56 Abs. 4 begründet eine Schadensersatzhaftung des Vorstands bei Missachtung der vorgenannten Verbotstatbestände. § 56 Abs. 3 regelt die unter Umgehungsaspekten typischen Treuhandverhältnisse und besagt, dass derjenige, der Aktien für Rechnung der AG oder ein mit ihr verbundenes Unternehmen erwirbt, im Verhältnis zur AG behandelt wird, als wenn er die Aktien auf eigene Rechnung hält. Erwirbt die AG bereits existierende Aktien (derivativer Erwerb), gelten hierfür allein die §§ 71 – 71e. II.

Zeichnungsverbot (§ 56 Abs. 1)

1.

Voraussetzungen

3 Aus § 56 Abs. 1 folgt das zwingende Verbot, dass die AG eigene Aktien zeichnet, sei es bei der Gründung (Aktienübernahme gemäß § 23 Abs. 2 Nr. 2) oder einer Kapitalerhö_____________ 1) 2)

3)

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Vgl. auch Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 56 AktG Rz. 2 ff.; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 56 Rz. 1 ff., auch zu rechtsvergleichenden Aspekten. Heute Art. 59, 67 der Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (Gesellschaftsrechts-Richtlinie), ABl. (EU) L 169/46 v. 30.6.2017. Vgl. BGH, Beschl. v. 9.12.1954 – II ZB 15/54, BGHZ 15, 391 – zur AG; zur Neuregelung aus damaliger Sicht Hüffer, NJW 1979, 1065, 1068.

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§ 56

Keine Zeichnung eigener Aktien

hung (§§ 185, 198). Die Zeichnung eigener Aktien i. R. einer Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln ist hingegen gemäß § 215 Abs. 1 zulässig. Dies darf jedoch entgegen der h. M. nicht allein darauf gestützt werden, dass mangels Kapitalzufuhr kein Problem der Kapitalaufbringung bestehe.4) Die ebenfalls durch das Zeichnungsverbot einzudämmenden Gefahren des Verwaltungsstimmrechts bestehen nämlich auch hier. Gleichwohl ist die Ausnahme vom Zeichnungsverbot gerechtfertigt, denn nur hierdurch lässt sich gewährleisten, dass das Veräußerungsgebot gemäß § 71c effektiv wahrgenommen werden kann. Würden die Aktien nicht an der Kapitalerhöhung partizipieren, ließen sich die von der AG gehaltenen eigenen Aktien infolge der Verwässerung schwerer veräußern. 2.

Rechtsfolgen bei Verstößen

Kommt es zum Verstoß gegen § 56 Abs. 1, ist die Aktienübernahme bzw. Zeichnung gemäß 4 § 134 BGB nichtig.5) Die Durchführung der Kapitalerhöhung darf nicht ins Handelsregister eingetragen werden (§§ 188, 189, 201); die AG wird nicht ihr eigener Aktionär. Kommt es gleichwohl zur Eintragung, wird die Nichtigkeit bei der ordentlichen Kapital- 5 erhöhung und beim genehmigten Kapital gemäß § 185 Abs. 3 analog geheilt.6) Die Regelung kann jedoch nicht unmittelbar herangezogen werden, weil bei eigenen Aktien die Leistung von Einlagen nicht möglich und die Ausübung von Aktionärsrechten gemäß § 71b nicht zulässig ist. § 185 Abs. 3 lässt sich jedoch der verallgemeinerungsfähige Rechtsgedanke entnehmen, dass eine fehlerhafte Zeichnung heilbar ist, sofern hiergegen nicht zwingende Individual- oder Allgemeininteressen sprechen. Dies ist hier nicht gegeben. Indem die Innehabung eigener Aktien durch die §§ 71 – 71e gesetzlich anerkannt ist, muss dieser Zustand auch durch eine an sich unzulässige Zeichnung ausnahmsweise möglich sein. Das auf die rechtswidrige Zeichnung entsprechend anzuwendende Veräußerungsgebot gemäß § 71c und der Ausschluss von Aktionärsrechten gemäß § 71b bieten genügend Schutz vor Umgehungen. Bei der bedingten Kapitalerhöhung tritt die Heilung nach zutreffender Ansicht ebenfalls erst mit der (deklaratorischen) Eintragung ins Handelsregister ein, damit genügend Zeit bleibt, die Aktien in rechtmäßiger Weise anderweitig zu platzieren.7) Siehe zur Vorstandshaftung gemäß § 56 Abs. 4 unten Rz. 20. 3.

Vorratsaktien

Vergleicht man § 56 Abs. 1 mit den §§ 71 – 71e, ergibt sich eine Schieflage: Der derivative 6 Erwerb eigener Aktien ist in engen Grenzen auf Zeit zulässig, der originäre Erwerb generell nicht. Insofern stellt sich die Frage, ob § 56 Abs. 1 nicht im Bereich der Kapitalerhöhungen insoweit aufzuweichen ist, als entsprechend § 71 Abs. 1 Nr. 8 eine Ausnahme für maximal 10 % des Grundkapitals aufgrund entsprechenden Hauptversammlungsbeschlusses zulässig ist. Auch die eng auszulegende Regelung gemäß § 71 Abs. 1 Nr. 1 zum Aktienerwerb, um einen schweren, unmittelbar bevorstehenden Schaden von der AG abzuwenden, sollte für Extremfälle auf die Aktienzeichnung analog angewendet werden. Teleologisch und wertungsmäßig betrachtet spricht nichts dagegen, denn es kann durchaus ein praktisches Bedürfnis dafür bestehen, dass die AG selbst für kurze Zeit die neuen

_____________ 4) 5) 6) 7)

So aber Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 56 Rz. 3; Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 56 AktG Rz. 13. Unstreitig, vgl. Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 56 AktG Rz. 16. H. M., vgl. nur Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 56 AktG Rz. 17; K. Schmidt/LutterFleischer, AktG, § 56 Rz. 10 f.; unentschieden Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 56 Rz. 4 ff. Vgl. zum Streitstand Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 56 AktG Rz. 18.

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§ 56

Keine Zeichnung eigener Aktien

Aktien hält.8) Der pauschale Hinweis auf die vom Wortlaut identischen Regelungen der Gesellschaftsrechts-Richtlinie9) vermag für sich genommen auch keine Sperre für eine behutsame Rechtsfortbildung zu begründen, denn auch im europäischen Recht ist der Wortlaut keine starre Grenze. Insbesondere für die Praxis bei Übernahmekonsortien, bei denen teilweise die AG selbst Mitglied ist,10) würde diese Sichtweise erhebliche Rechtssicherheit bedeuten. 4.

Finanzielle Unterstützung des Aktienerwerbs

a)

Kontroverse Diskussion

7 Umstritten ist, ob das Verbot der finanziellen Unterstützung beim Aktienerwerb gemäß § 71a auch bei der Gründung bzw. Kapitalerhöhung gilt. § 56 enthält hierüber gemäß seinem Wortlaut keine Regelungen. Ein Teil der Literatur sieht hiervon ausgehend keine entsprechenden Beschränkungen bei der Zeichnung neuer Aktien durch Dritte und begründet dies mittlerweile auch mit dem neu eingeführten § 27 Abs. 4.11) Hiernach ist es also zulässig, dass die AG – mittels Darlehens o. Ä. – dem Zeichner den Aktienerwerb finanziert, sei es in Form des sog. Hin- und Herzahlens oder beim umgekehrten Herund Hinzahlen. Demgegenüber spricht sich eine zunehmende Zahl von Autoren auf der Grundlage der europarechtlich geforderten effektiven Aufbringung der Mindesteinlagen dafür aus, das Verbot der Finanzierung des Anteilserwerbs bei der Aktienübernahme bzw. Zeichnung zumindest für die Mindesteinlagen gelten zu lassen.12) Im Hinblick auf das Viertel des geringsten Ausgabebetrags und das korporative Agio ist die Kapitalaufbringung mittels Hin- und Herzahlen und umgekehrt damit nicht möglich, so dass es insofern bei der vor dem ARUG geltenden Rechtslage bleibt.13) b)

Stellungnahme

8 Der letztgenannten Auffassung ist zuzustimmen. Die Änderungen der früheren Kapitalrichtlinie im Jahr 2006 im Bereich der „financial assistance“ brachten zwar eine weitgehende Liberalisierung des bis dahin strikten Verbots (Einzelheiten siehe § 71a Rz. 3). Formal betrachtet hat Deutschland von dieser Möglichkeit bislang noch keinen Gebrauch gemacht, was der unveränderte § 71a zeigt. Gleichwohl darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Liberalisierung der rechtlichen Behandlung des Hin- und Herzahlens gemäß § 27 Abs. 4 durch das ARUG funktional der europäischen Liberalisierung des Verbots der finanziellen Unterstützung entspricht. Es ist daher zumindest nicht europarechtswidrig, wenn das in § 71a begründete Verbot der finanziellen Unterstützung bei der erstmaligen Aktienzeichnung nicht gilt. 9 Auf der anderen Seite dürfen die Fälle des Hin- und Herzahlens bzw. umgekehrt nicht allein anhand des – gelockerten – europäischen Verbots der finanziellen Unterstützung beurteilt werden, sondern vor allem auch anhand der Erfordernisse für Mindesteinlagen. Insofern ist die Neuregelung gemäß § 27 Abs. 4 europarechtlich fragwürdig, da sie der Sache nach die reale Kapitalerhöhung bei Bareinlagen entwertet. § 27 Abs. 4 ist daher zumindest für _____________ 8) Vgl. aber zu Missbräuchen die historischen Ausführungen bei K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 56 Rz. 20. 9) Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (Gesellschaftsrechts-Richtlinie), ABl. (EU) L 169/46 v. 30.6.2017. 10) Vgl. Hahn, Die Übernahme von Aktien für Rechnung der Gesellschaft, 2005, S. 85. 11) Ausführlich Schroeder, Finanzielle Unterstützung des Aktienerwerbs, 1995, S. 152 ff. 12) Habersack, AG 2009, 557, 563; für eine weitergehende Anwendung auch Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 56 AktG Rz. 15. 13) Vgl. auch Servatius in: BeckOGK-AktR, § 188 AktG Rz. 86.

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§ 56

Keine Zeichnung eigener Aktien

den Bereich der Mindesteinlagen eine europarechtswidrige deutsche Regelung.14) Es darf konsequenterweise hieraus nicht der Schluss gezogen werden, dass eine finanzielle Unterstützung der Aktienübernahme durch die AG zulässig sei. Vielmehr gilt richtigerweise insofern auch in den Fällen des § 56 Abs. 1 das strikte Verbot gemäß § 71a (Einzelheiten dort). Diese Frage ist jedoch bislang noch nicht ausreichend durchdrungen worden, so dass insoweit große Rechtsunsicherheit besteht. Es bleibt abzuwarten, wann der EuGH sich hiermit beschäftigt und Klärung bringt. III.

Konzernsachverhalte (§ 56 Abs. 2)

1.

Umgehungsschutz

§ 56 Abs. 2 erweitert das Zeichnungsverbot gemäß § 56 Abs. 1 (zum Umfang siehe oben 10 Rz. 3 ff.) auf Konzernsachverhalte und gewährleistet so – rechtspolitisch nicht unumstritten15) – einen Schutz vor Umgehungen. Im Einzelnen sind drei Fälle zu unterscheiden. a)

Zeichnung von Aktien eines abhängigen Unternehmens

Dies betrifft einmal die Zeichnung von Aktien durch ein von der AG abhängiges Unterneh- 11 men. Die an Konzernbegriffe anknüpfende Regelung ist rechtstechnisch ungenau. Konkret verboten ist die Zeichnung von Aktien einer AG durch eine Gesellschaft, auf die die AG einen beherrschenden Einfluss i. S. von § 17 ausüben kann. Regelmäßig – aber nicht zwingend – fällt unter dieses Verbot, dass eine Tochtergesellschaft Aktien der Mutter zeichnet. Hierdurch wird vor allem abgesichert, dass die Einlageleistung an die Muttergesellschaft real erfolgt und nicht – wie bei Konzernsachverhalten kennzeichnend – die Muttergesellschaft über die Tochter letztlich die Einlage an sich selbst leistet.16) Der konzernrechtliche Beherrschungstatbestand ist gemäß § 17 Abs. 1 erfüllt, wenn die ihr Kapital erhöhende AG mittelbar oder unmittelbar einen beherrschenden Einfluss auf die Geschäftsführung der in Rede stehenden Zeichner-Gesellschaft ausüben kann. Adressat des Verbotstatbestands ist daher jede Gesellschaft (rechtsformneutral!), auf die die AG rechtlich oder faktisch einen Einfluss hat, der einer Mehrheitsbeteiligung entspricht.17) Zu Einzelheiten vgl. § 17. b)

Zeichnung von Aktien eines Mehrheitsgesellschafters

Weiterhin darf ein Unternehmen auch keine Aktien der an ihm mit Mehrheit beteiligten 12 AG zeichnen. Konkret bedeutet dies, dass eine Gesellschaft (rechtsformneutral!) keine Aktien der AG zeichnen darf, wenn diese AG über mindestens 50 % der Stimmrechte oder Geschäftsanteile der Gesellschaft hält (Einzelheiten bei § 16). Die Regelung geht über § 17 Abs. 2 hinaus, wonach die Innehabung einer Mehrheitsbeteiligung durch die AG lediglich die widerlegliche Vermutung für einen beherrschenden Einfluss begründet. Hält die ihr Kapital erhöhende AG weniger als 50 % der Stimmrechte oder Geschäftsanteile und verfügt auch nicht anderweitig über einen beherrschenden Einfluss i. S. von § 17 Abs. 1, greift das Zeichnungsverbot nicht.18) _____________ 14) So auch Habersack, AG 2009, 557, 561; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 27 Rz. 45; Lutter/Drygala in: KölnKomm-AktG, § 71a Rz. 21; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 56 Rz. 19; abweichend aber wohl die Gesetzesverfasser, vgl. die Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. ARUG, BT-Drucks. 16/ 13098, S. 55; ähnlich Herrler/Reymann DNotZ 2009, 914, 928 ff. 15) Vgl. Hettlage, AG 1967, 249. 16) Vgl. Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 56 AktG Rz. 22. 17) Statt anderer Bayer in: MünchKomm-AktG, § 17 Rz. 25. 18) H. M. vgl. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 56 Rz. 14.

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§ 56 c)

Keine Zeichnung eigener Aktien Unternehmensvertrag

13 Darüber hinaus gilt das Verbot auch, wenn die AG mit einem kleinbeteiligten Aktionär oder Dritten einen Beherrschungs- und/oder Gewinnabführungsvertrag eingegangen ist.19) Der Partner eines derartigen Unternehmensvertrages darf ebenso keine Aktien der AG zeichnen. 2.

Rechtsfolgen bei Verstößen

14 Nach § 56 Abs. 2 Satz 2 führen die Verstöße gegen die vorgenannten Zeichnungsverbote nicht zur Nichtigkeit der Aktienübernahme. Auch wird die Wirksamkeit der Kapitalerhöhung als solche hiervon nicht berührt.20) Das Registergericht ist hieran freilich nicht gebunden und hat die Eintragung der Kapitalerhöhung bei Zuwiderhandlung abzulehnen.21) Für die verbotswidrig gezeichneten Aktien besteht gemäß §§ 71d Satz 2, 71b kein Stimmrecht; die Aktien sind gemäß § 71c binnen Jahresfrist zu veräußern.22) Eine schuldrechtliche Verpflichtung, die auf einen verbotenen Erwerb nach § 56 Abs. 2 zielt, ist hingegen gemäß § 134 BGB nichtig.23) § 160 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 begründen eine Berichtspflicht über die verbotswidrig erworbenen Aktien. Zur Vorstandshaftung siehe unten Rz. 20. IV.

Treuhandverhältnisse, mittelbare Stellvertretung (§ 56 Abs. 3)

15 § 56 Abs. 3 begründet für bestimmte Treuhandverhältnisse zwar kein Erwerbsverbot, ordnet jedoch – an sich selbstverständlich – zwingend an, dass der formale Aktionär unbeschadet interner Abreden sämtliche Pflichten aus den übernommenen Aktien hat (§ 56 Abs. 3 Satz 2), jedoch aus den Aktien keine Rechte ableiten kann (§ 56 Abs. 3 Satz 3). Die Regelung geht zurück auf die frühere Kapitalrichtlinie.24) 1.

Erfasste Gestaltungen

16 Die Regelung knüpft gemäß § 56 Abs. 3 Satz 1 daran an, dass eine Person Aktien als Gründer oder Zeichner bei einer Kapitalerhöhung (§ 23 Abs. 2 Nr. 2 bzw. § 185) übernimmt (zum Anwendungsbereich von § 56 siehe oben Rz. 3) und aufgrund entsprechender Vereinbarung für Rechnung der AG oder eines von dieser abhängigen oder in deren Mehrheitsbesitz stehenden Unternehmens hält (§§ 16, 17).25) Dies ist ohne weiteres zu bejahen, wenn der Zeichner aufgrund der Vereinbarung verpflichtet ist, die Aktien später an die AG oder das einzubeziehende Unternehmen zu veräußern (Option)26) sowie, wenn der Aktionär zwar dauerhaft Aktionär sein soll, die Abrede das wirtschaftliche Risiko jedoch der AG oder den betreffenden Gesellschaften ganz oder zum Teil zuweist.27) Indem hiernach die Verlagerung des wirtschaftlichen Risikos auf die AG reglementiert wird, fallen konsequenterweise auch Gestaltungen unter § 56 Abs. 3, bei denen die AG i. R. einer Ka_____________ 19) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 12 Rz. 12; BGH, Urt. v. 4.3.1974 – II ZR 89/72, BGHZ 62, 193. 20) Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 56 AktG Rz. 34. 21) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 56 Rz. 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 56 Rz. 10; abweichend, lediglich Ablehnungsrecht, Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 56 AktG Rz. 35. 22) Zum Problem des Fristlaufs ausführlich Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 56 AktG Rz. 37. 23) Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 56 AktG Rz. 36; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 56 Rz. 10. 24) Zu Umsetzungsproblemen ausführlich Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 56 AktG Rz. 45. 25) Vgl. zur teilweise schwierigen Abgrenzung des Erwerbstatbestands gegenüber §§ 71 – 71f; Cahn/ v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 56 AktG Rz. 43. 26) Einzelheiten bei Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 56 AktG Rz. 47. 27) Vgl. OLG Hamm Urt. v. 24.1.2007 – 8 U 69/06, BeckRS 2007, 17939; Einzelheiten bei Vedder, Der Begriff „für Rechnung“ im AktG und im WpHG, 1999, S. 58 ff.; Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGKAktR, § 56 AktG Rz. 47 f.

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§ 56

Keine Zeichnung eigener Aktien

pitalerhöhung eine Kursgarantie für die betreffenden Aktien abgibt.28) Übernimmt ein Übernahmekonsortium die neuen Aktien, hängt die Anwendung von § 56 Abs. 3 davon ab, wer das Platzierungsrisiko übernimmt; beim „hard underwriting“ ohne überzogene Vergütungsansprüche der Banken gibt es demnach keine Einschränkungen.29) 2.

Rechtsfolgen bei Verstößen

Wie bei § 56 Abs. 2 ist der Aktienerwerb nicht unwirksam.30) Das Gleiche gilt nach zu- 17 treffender Ansicht auch für die zugrunde liegende Treuhandabrede (streitig).31) a)

Aktionärspflichten

Gemäß § 56 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 kann sich der Aktionär in Bezug auf die Pflichten 18 aus den Aktien (vor allem der Einlagepflicht nach § 54) nicht darauf berufen, aufgrund entsprechender Vereinbarung mit der AG oder einem dieser zuzurechnenden Unternehmen nicht zur Erfüllung verpflichtet zu sein. Der Aktionär hat somit keine Möglichkeit, die an sich wirksamen schuldrechtlichen Vereinbarungen in den mitgliedschaftlichen Bereich durchschlagen zu lassen. Im Ergebnis begründet § 56 Abs. 2 damit ein Aufrechnungsverbot im Hinblick auf entsprechende Aufwendungsersatzansprüche aus § 670 BGB, verbietet diesbezüglich die Geltendmachung eines Zurückbehaltungsrechts aus § 273 BGB und versagt den dolo-agit-Einwand gemäß § 242 BGB. Konsequenterweise muss dies auch nach Erfüllung der Einlagepflichten im Bereich der Kapitalerhaltung fortgelten (§ 57 Abs. 1). Hat die AG oder eines der einzubeziehenden Unternehmen aus dem Innenverhältnis Rechte gegenüber dem Aktionär, stehen ihr diese ohne weiteres zu (vor allem die Erlösherausgabepflicht nach Weiterveräußerung gemäß § 667 BGB; streitig).32) b)

Aktionärsrechte

Die wohl drastischere Sanktion begründet § 56 Abs. 3 Satz 3, wonach dem Aktionär wäh- 19 rend der Dauer der treuhänderischen Bindung keine Aktionärsrechte zustehen (Stimmrecht, Gewinn, Liquidationserlös). Hierdurch wird der Aktienerwerb für Rechnung der AG unattraktiv, was vom Gesetzgeber ausdrücklich bezweckt wurde.33) Für die entsprechende Heranziehung des Veräußerungsgebots gemäß §§ 71d Satz 2, 71c besteht daher kein Raum. Wird die interne Abrede über die treuhänderische Bindung nachträglich beendet (Auflösungsvertrag, Kündigung), stehen dem Aktionär die betreffenden Rechte mit exnunc-Wirkung zu. Der Aktionär muss hierzu die Beendigung der AG gegenüber anzeigen.

_____________ 28) Vgl. OLG Hamm, Urt. v. 24.1.2007 – 8 U 69/06, BeckRS 2007, 17939; hierzu eingehend Hahn, Die Übernahme von Aktien für Rechnung der Gesellschaft, 2005, S. 64 ff.; Winter in: FS Röhricht, S. 709, 713; Gottschalk/Ulmer, DStR 2021, 1173. 29) Zum Ganzen, auch im Hinblick auf die Bedeutung der Vergütungsstruktur, Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 56 AktG Rz. 49 f.; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 56 Rz. 23; Mertens, AG 2015, 881. 30) Unstreitig, vgl. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 56 Rz. 24. 31) H. M., vgl. nur Bungeroth in: MünchKomm-AktG, § 56 Rz. 72; abweichend mit beachtlichen Argumenten Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 56 AktG Rz. 53 ff., Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 56 Rz. 15. 32) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 56 Rz. 27; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 56 Rz. 15; abweichend für eine Gesamtnichtigkeit der internen Geschäftsbesorgungsabrede Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 56 Rz. 13. 33) Vgl. amtl. Begr. zu § 51 AktG 1937.

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§ 57 V.

Keine Rückgewähr, keine Verzinsung der Einlagen Vorstandshaftung (§ 56 Abs. 4)

20 § 56 Abs. 4 begründet eine gesonderte verschuldensabhängige Vorstandshaftung bei Verstößen gegen die Erwerbsverbote gemäß § 56 Abs. 1 und Abs. 2. Die Regelung ist an sich überflüssig, da die Haftung ohne weiteres auch aus § 93 Abs. 3 Nr. 3 folgen würde.34) Dessen rechtliche Ausgestaltung im Einzelnen (Verjährung, Durchsetzung) beansprucht auch bei § 56 Abs. 4 Geltung. Stets ist erforderlich, dass der AG ein entsprechender Schaden entstanden ist. Hieran wird es in konsequenter Anwendung der Differenzhypothese regelmäßig fehlen. Richtigerweise ist das Schadenserfordernis daher wie bei § 93 Abs. 3 Nr. 2 normativ zu bestimmen, so dass der Vorstand die Einlagepflicht der AG selbst zu erfüllen hat.35) Bei einem Verstoß gegen § 56 Abs. 1 gilt dies nur dann, wenn infolge der Registereintragung Heilung des unwirksamen Aktienerwerbs eingetreten ist (siehe oben Rz. 5).36) Wird die Einlagepflicht durch die in Anspruch genommenen Vorstandsmitglieder erfüllt, haben sie gegen die AG einen Anspruch auf Übertragung der betreffenden Aktien.37) _____________ 34) Vgl. Büdenbender, DZWiR 1998, 55, 57. 35) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 56 Rz. 29; zu Folgeschäden Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGKAktR, § 56 AktG Rz. 41. 36) Zutreffend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 56 Rz. 17. 37) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 56 Rz. 30.

§ 57 Keine Rückgewähr, keine Verzinsung der Einlagen Wolfgang Servatius

(1) 1Den Aktionären dürfen die Einlagen nicht zurückgewährt werden. 2Als Rückgewähr gilt nicht die Zahlung des Erwerbspreises beim zulässigen Erwerb eigener Aktien. 3 Satz 1 gilt nicht bei Leistungen, die bei Bestehen eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrags (§ 291) erfolgen oder durch einen vollwertigen Gegenleistungsoder Rückgewähranspruch gegen den Aktionär gedeckt sind. 4Satz 1 ist zudem nicht anzuwenden auf die Rückgewähr eines Aktionärsdarlehens und Leistungen auf Forderungen aus Rechtshandlungen, die einem Aktionärsdarlehen wirtschaftlich entsprechen. (2) Den Aktionären dürfen Zinsen weder zugesagt noch ausgezahlt werden. (3) Vor Auflösung der Gesellschaft darf unter die Aktionäre nur der Bilanzgewinn verteilt werden. Literatur: Aha, Vorbereitung des Zusammenschlusses im Wege der Kapitalerhöhung gegen Sacheinlage durch ein „Business Combination Agreement, BB 2001, 2225; Altmeppen, „Upstreamloans“, Cash Pooling und Kapitalerhaltung nach neuem Recht, ZIP 2009, 49; Altmeppen, Die Grenzen der Zulässigkeit des cash pooling, ZIP 2006, 1025; Bayer, Emittentenhaftung versus Kapitalerhaltung, WM 2013, 961; Bayer, Zentrale Konzernfinanzierung, Cash Management und Kapitalerhaltung, in: Festschrift für Marcus Lutter, 2000, S. 1011; Brandi, Gewährleistungen durch die Aktiengesellschaft bei Anteilserwerb durch Kapitalerhöhung, NZG 2004, 600; Canaris, Die Rückgewähr von Gesellschaftereinlagen durch Zuwendungen an Dritte, in: Festschrift für Robert Fischer, 1979, S. 31; Casper, Persönliche Außenhaftung der Organe bei fehlerhafter Information des Kapitalmarktes?, BKR 2005, 83; DAV (Handelsrechtsausschuss), Stellungnahme zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG), NZG 2007, 735; Drygala, Europäisches Konzernrecht: Gruppeninteresse und Related Party Transactions, AG 2013, 198; Ehmann/Walden, Rückforderung von zum Abkauf von Anfechtungsklagen geleisteten Zahlungen, NZG 2013, 806; Eidenmüller/

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Keine Rückgewähr, keine Verzinsung der Einlagen

§ 57

Engert, Insolvenzrechtliche Ausschüttungssperren, in: Festschrift für Karsten Schmidt, 2009, S. 305; Ekkenga, Einzelabschlüsse nach IFRS – Ende der aktien- und GmbH-rechtlichen Kapitalerhaltung?, AG 2006, 389; Engert, Kreditgewährung an GmbH-Gesellschafter und bilanzorientierter Kapitalschutz, BB 2005, 1951; Fleischer, Related Party Transactions bei börsennotierten Gesellschaften: Deutsches Aktien(konzern)recht und Europäische Reformvorschläge, BB 2014, 2691; Fleischer, Zweifelsfragen der verdeckten Gewinnausschüttung im Aktienrecht, WM 2007, 909; Fleischer, „Gegriffene Größen“ in der aktienrechtlichen Spruchpraxis, in: Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, 2007, Bd. II, S. 71; Fleischer/Schneider/Thaten, Kapitalmarktrechtlicher Anlegerschutz versus aktienrechtliche Kapitalerhaltung – wie entscheidet der EuGH?, NZG 2012, 801; Gottschalk/Ulmer, Garantien der Aktiengesellschaft bei einer Kapitalerhöhung, DStR 2021, 1173; Habersack, Grundfragen der freiwilligen oder erzwungenen Subordination von Gesellschafterkrediten, ZGR 2000, 384; Heerma/Bergmann, Sicherheitenbestellung an Dritte für Verbindlichkeiten des Gesellschafters als verbotene Auszahlung i. S. d. § 30 Abs. 1 GmbHG, ZIP 2017, 1261; Huber/Habersack, GmbH-Reform: Zwölf Thesen zu einer möglichen Reform des Rechts der kapitalersetzenden Gesellschafterdarlehen, BB 2006, 1; Kiefner/ Theusinger, Aufsteigende Darlehen und Sicherheitenbegebung im Aktienrecht nach dem MoMiG, NZG 2008, 801; Kleinert/Mayer, Bestandaufnahme und anstehende Neuerungen durch die Umsetzung der EU-Aktionärsrechterichtlinie II, EuZW 2018, 314; Klett/Reinhart, Die mehrmalige Ausschüttung von Dividenden, ZIP 2021, 275; Leuschner, Öffentliche Umplatzierung, Prospekthaftung und Innenregress, NJW 2011, 3275; Maidl/Kreifels, Beteiligungsverträge und ergänzende Vereinbarungen, NZG 2003, 1091; Mertens, Aufteilung von Kosten gemischter Aktienplatzierungen zwischen Gesellschaft und Aktionären, AG 2015, 881; Mülbert/Leuschner, Aufsteigende Darlehen im Kapitalerhaltungs- und Konzernrecht – Gesetzgeber und BGH haben gesprochen, NZG 2009, 281; Mylich, Die Einlage des atypisch stillen Gesellschafters und die zur Rückzahlung bestellten Sicherheiten im Insolvenzverfahren der Handelsgesellschaft, WM 2013, 1010; Nodoushani, Die neue BGH-Rechtsprechung zum Verbot der Einlagenrückgewähr, NZG 2013, 687; Pleister, Behandlung von Drittsicherheiten in der finanziellen Restrukturierung von Konzernen, ZIP 2015, 1097; Rosengarten, Die Rechtsfolgen eines „verdeckten“ Verstoßes gegen § 57 AktG: Endgültiger Abschied von der Nichtigkeit, ZHR 168 (2004) 70; Rothley/ Weinberger, Die Anforderungen an Vollwertigkeit und Deckung nach § 30 I 2 GmbHG und § 57 I 3 AktG, NZG 2010, 1001; Schäfer, Reform des GmbHR durch das MoMiG – viel Lärm um nichts?, DStR 2006, 2085; Schaefer/Grützediek, Haftung der Gesellschaft für „mangelhafte“ Gesellschaftsanteile bei Kapitalerhöhungen, NZG 2006, 204; Schmidt, K., Gesetzgebung und Rechtsfortbildung im Recht der GmbH und der Personengesellschaften – Zur Aufgabenteilung zwischen Gesetzgebung, Justiz und Wissenschaft, JZ 2009, 10; Schön, Die Zukunft der Kapitalaufbringung/-erhaltung, Der Konzern 2004, 162; Schwark, Prospekthaftung und Kapitalerhaltung in der AG, in: Festschrift für Peter Raisch, 1995, S. 269; Selzner, Related Party Transactions – Fortschritt oder Belohnung? Herausforderungen europäischer Rechtsangleichung im Bereich Corporate Governance, ZIP 2015, 753; Servatius, Covenants in der Restrukturierung, CFL 2013, 14; Servatius, Die besondere Zweckbindung des Stammkapitals bei Drittgeschäften mit Gesellschaften, DStR 2004, 1176; Servatius, Über die Beständigkeit des Erstattungsanspruchs wegen Verletzung des Stammkapitals, GmbHR 2000, 1028; Servatius, Nutzungsweise Überlassung von Betriebsmitteln der GmbH an Gesellschafter als Auszahlung i. S. v. §§ 30, 31 GmbHG, GmbHR 1998, 723; Sieger/Hasselbach, Die Übernahme von Gewährleistungen durch die Aktiengesellschaft bei Kapitalerhöhung und Aktientausch, BB 2004, 60; Stimpel, Das Auszahlungsverbot des § 30 Abs. 1 GmbHG, in: Festschrift 100 Jahre GmbHG, S. 335; Strohn, Cash-Pooling – verbotene und unwirksame Zahlungen, DB 2014, 1535; Technau, Rechtsfragen bei der Gestaltung von Übernahmeverträgen („Underwriting Agreements“) im Zusammenhang mit Aktienemissionen, AG 1998, 445; Veil, Transaktionen mit Related Parties im deutschen Aktien- und Konzernrecht, NZG 2017, 521; Vetter, Regelungsbedarf für Related Party Transactions?, ZHR 179 (2015) 273; Witt, Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen § 57 AktG, ZGR 2013, 668.

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§ 57

Keine Rückgewähr, keine Verzinsung der Einlagen Übersicht

I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt ................................................. 1 1. Kapitalbindung .................................. 1 2. Ausnahmen ........................................ 2 3. Reichweite .......................................... 3 4. Schutzzweck ...................................... 4 5. Rechtspolitische Kritik ...................... 6 6. Related Parties Transactions ............. 8 II. Verbot der Einlagenrückgewähr ..... 9 1. Geschütztes Vermögen ..................... 9 2. Erfasste Auszahlungen .................... 10 a) Art des Vermögensabflusses ..... 11 b) Vollwertige Gegenleistung ....... 12 c) Maßgeblicher Zeitpunkt ........... 15 d) Bilanzielle Betrachtung (§ 57 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2) ......... 17 aa) Grundlagen ................................ 18 bb) Vollwertiger Gegenleistungsoder Rückgewähranspruch ........ 22 cc) Fälligkeit, Beobachtungspflicht ......................................... 23 e) Bestellung von Sicherheiten ...... 25

f) Anlegerschutz, Kapitalmarkt ..... 27 3. Leistung causa societatis .................. 30 4. Aktionäre als Leistungsempfänger ......................................... 32 a) Ehemalige und künftige Aktionäre .................................... 33 b) Einbeziehung Dritter ................. 34 aa) Nähebeziehung zwischen Drittem und Aktionär bzw. Aktie ........................................... 35 bb) Nähebeziehung zwischen Drittem und Gesellschaft .......... 36 5. Subjektive Komponente ................... 37 6. Besonderheiten beim Rückerwerb eigener Aktien ................................... 38 7. Besonderheiten bei Beherrschungsund Gewinnabführungsverträgen .... 39 8. Rechtsfolgen von Verstößen, Konkurrenzen ................................... 40 9. Beweislast .......................................... 42 III. Zinsverbot (§ 57 Abs. 2) ................. 43 IV. Aktionärsdarlehen .......................... 44

I.

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

1.

Kapitalbindung

1 § 57 ist die zentrale Norm für die zwingende Kapitalbindung bei der AG.1) Sie prägt entscheidend das Wesen der AG als Kapitalgesellschaft und ist der Preis für die Haftungsbeschränkung der Aktionäre. Über den Wortlaut der „verbotenen Einlagenrückgewähr“ hinaus sind im Ausgangspunkt sämtliche finanziellen Leistungen der AG an ihre Aktionäre verboten, soweit sie causa societatis erfolgen, mithin ihre Grundlage im Gesellschaftsverhältnis haben. Wird hiergegen verstoßen, folgt eine korrespondierende Erstattungspflicht aus § 62. Das Verbot beruht auf Art. 56 der Gesellschaftsrechts-Richtlinie,2) der für alle Aktiengesellschaften innerhalb der EU das bilanzbezogene Gläubigerschutzsystem vorschreibt. Es war jedoch in Deutschland vorher bereits aktienrechtliches Allgemeingut;3) vgl. auch den weitgehend ähnlichen, jedoch allein auf die Stammkapitaldeckung bezogenen § 30 GmbHG. § 57 ist nicht Schutzgesetz i. S. von § 823 Abs. 2 BGB zugunsten der Gläubiger und Aktionäre, da die Rechtsfolge gemäß § 62 und die Organhaftung gemäß § 93 Abs. 3 Nr. 1 ausreichen.4) Im Zuge des ARUG II wird die rechtliche Beurteilung der unter § 57 zu fassenden Sachverhalte durch die im Hinblick auf Zustimmungsvorbehalte und Transparenz weitergehenden Regelungen zu Geschäften mit nahestehenden Personen gemäß §§ 111a ff. ergänzt (Einzelheiten dort). _____________ 1) 2) 3) 4)

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Eingehend Bezzenberger, Das Kapital der Aktiengesellschaft, 2005, § 57. Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (Gesellschaftsrecht-Richtlinie), ABl. (EU) L 169/46 v. 30.6.2017. Zur Entstehungsgeschichte Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 57 AktG Rz. 3, 8 f. Vgl. BGH, Urt. v. 19.2.1990 – II ZR 268/88, BGHZ 110, 342 = ZIP 1990, 578; BGH, Urt. v. 25.6.2001 – II ZR 38/99, BGHZ 148, 167, 171 = NJW 2001, 3123, 3124 = ZIP 2001, 1458, dazu EWiR 2001, 917 (Keil).

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Keine Rückgewähr, keine Verzinsung der Einlagen 2.

§ 57

Ausnahmen

Ausnahmen vom weit zu verstehenden Verbot der Einlagenrückgewähr bestehen zu- 2 nächst gemäß § 57 Abs. 3 für den tatsächlich angefallenen und förmlich ausgewiesenen Bilanzgewinn i. S. von § 174 sowie gemäß § 57 Abs. 1 Satz 2 für den Preis beim zulässigen Rückerwerb eigener Aktien (siehe unten Rz. 38). Darüber hinaus ist anerkannt, dass die Vermögensverteilung bei der Liquidation nach Gläubigerbefriedigung und Ablauf des Sperrjahres (§§ 271, 272) ebenfalls keinen Verstoß gegen § 57 begründet.5) Das Gleiche gilt für die Kapitalherabsetzung, vgl. § 225 Abs. 2. Nach § 57 Abs. 1 Satz 3 gilt seit dem MoMiG aus dem Jahr 2009 auch eine Ausnahme für Leistungen bei Bestehen eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrages (siehe unten Rz. 39) sowie – ähnlich wie bei § 27 Abs. 4 –, wenn mit der Auszahlung ein vollwertiger Gegenleistungs- oder Rückgewähranspruch korrespondiert (sog. bilanzielle Betrachtung).6) Dies ist insbesondere bei der Durchführung eines Cash Pools relevant (siehe unten Rz. 18 ff.). Schließlich gilt als bedeutende ungeschriebene Ausnahme vom Zahlungsverbot, dass marktübliche Drittrechtsbeziehungen keinen Verstoß gegen die Kapitalbindung begründen, selbst wenn der AG hierdurch Vermögen entzogen wird. 3.

Reichweite

Die Reichweite des Zahlungsverbots ist in mehrfacher Hinsicht über den Wortlaut der 3 Norm hinausgehend.7) Zum einen spielt es keine Rolle, ob die – ggf. verbotene – Rückzahlung eine Geldleistung oder den Abzug eines sonstigen Vermögenswertes darstellt (siehe Rz. 9 ff.) sowie, ob sie offen oder verdeckt erfolgt (siehe Rz. 11). Die sog. verdeckten Gewinnausschüttungen an einzelne Aktionäre sind daher vielfach nicht nur wegen der Verletzung von § 53a rechtswidrig, sondern können auch gegen das Zahlungsverbot verstoßen und müssen nach § 62 erstattet werden. Zum anderen sind nicht nur unmittelbare Leistungen an die gegenwärtigen Aktionäre erfasst. Zur Verhinderung von Umgehungen ist es geboten und allgemein anerkannt, das Verbot auch auf den Aktionären zurechenbare Dritte zu erstrecken (siehe unten Rz. 34) sowie auf ehemalige und künftige Aktionäre (siehe Rz. 33). Im Insolvenzverfahren wird § 57 durch § 199 Satz 2 InsO überlagert, der bis zur vollständigen Gläubigerbefriedigung eine weitergehende Ausschüttungssperre begründet. Aktionärsdarlehen gemäß §§ 39, 135 InsO sind seit dem MoMiG nicht mehr der materiell-rechtlichen Kapitalbindung unterstellt (§ 57 Abs. 1 Satz 4; Einzelheiten siehe Anhang zu § 57). Das Recht der Kapitalaufbringung ist vorrangig, so dass insbesondere die Fälle der verdeckten Sacheinlage und des Hin- und Herzahlens allein nach § 27 Abs. 4 und 5 beurteilt werden.8) Dies ist vor allem i. R. der Darlehensgewährung an Aktionäre wegen der nach den Kapitalaufbringungsregeln verschärften Anforderungen im Hinblick auf die Fälligkeit des Rückgewähranspruchs bedeutsam (siehe unten Rz. 22). Sondervorteile gemäß § 26 sind indessen vollumfänglich auch nach Maßgabe von § 57 zu beurteilen.9) 4.

Schutzzweck

Die Vermögensbindung gemäß § 57 verwirklicht im Wesentlichen zwei Schutzziele: Am 4 wichtigsten, jedoch rechtspolitisch derzeit auch am stärksten in der Kritik, ist der hier_____________ 5) 6) 7) 8) 9)

RG, Urt. v. 27.2.1913 – II 534/12, RGZ 81, 414, 412. Vgl. zum gesetzgeberischen Ansatz der Neuregelung Seibert, MoMiG, S. 24 ff., 28 ff. Zur methodischen Erklärung des weiten Anwendungsbereichs Fleischer, WM 2007, 909, 910. Vgl. BGH, Urt. v. 17.9.2011 – II ZR 275/99, ZIP 2001, 1997, 1998, dazu EWiR 2001, 1149 (Keil). Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 4.

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über vermittelte Gläubigerschutz. Die Aktionäre werden bis Abschluss der Liquidation einer AG über § 57 an ihrem (kollektiven) Einlageversprechen gemäß § 23 Abs. 2 Nr. 2 bzw. § 185 festgehalten, so dass das Grundkapital seine Eigenkapitalfunktion erfüllt und vorrangig die Verluste abfedert.10) Die über den Schutz des Grundkapitals hinausgehende Bindung verdeutlicht, dass es sich beim Gesellschaftsvermögen im Verhältnis zu den Aktionären insgesamt um zweckgebundenes Betriebskapital handelt, welches dem Zugriff causa societatis entzogen ist.11) 5 Da die Vermögensbindung über die Grundkapitalziffer und die gebundenen Rücklagen (vgl. §§ 150, 300) hinausgeht, verwirklicht § 57 auch den Schutz der Aktionäre (streitig).12) Die Erlaubnis gemäß § 57 Abs. 3 zur Auskehrung allein des (angefallenen) Bilanzgewinns ist nämlich an ein weitgehend zwingendes Verfahren unter Beteiligung der Hauptversammlung geknüpft (vgl. § 174). Hierdurch wird zum einen Transparenz verwirklicht, indem verdeckte Vermögenszuwendungen ausgeschlossen sind. Zum anderen wird der Gleichbehandlungsgrundsatz (§ 53a) gewahrt, indem der Gewinnverwendungsbeschluss bei Verstößen hiergegen gemäß § 243 Abs. 1 anfechtbar ist. Aus diesem Schutzzweck folgt, dass eine formal rechtswidrige Gewinnverwendung auch dann gemäß § 62 erstattungspflichtig ist, wenn die ausgezahlte Summe den Aktionären an sich gebühren würde.13) Der Anwendungsbereich von § 61 Abs. 1 erstreckt sich so letztlich auf alle Leistungen, die von einem Aktionär entgegen den Vorschriften des AktG erlangt wurden.14) Bei der Ein-PersonenAG und dem einvernehmlichen Aktionärshandeln kommt dieser Schutzzweck freilich nicht zum Tragen; vgl. insoweit aber die Ergänzung des Gläubigerschutzes durch die Existenzvernichtungshaftung gemäß § 826 BGB.15) 5.

Rechtspolitische Kritik

6 Die kompetenzrechtliche Schutzrichtung von § 57 (siehe soeben Rz. 5) ist bei der kapitalmarktorientierten Publikumsgesellschaft wegen der hierdurch vermittelten Rechtssicherheit letztlich kaum zu kritisieren. Demgegenüber mehrt sich in den letzten Jahren der rechtspolitische Druck, den bilanzbezogenen Gläubigerschutz (Balance Sheet Test) zugunsten solvenzbezogener Ausschüttungssperren (Solvency Test) aufzugeben.16) Im Kern geht es darum, dass feste Kapitalgrößen – Mindestkapital und ggf. höhere Grundkapitalziffer – nach dem Effizienzkriterium nicht geeignet sind, einen adäquaten Gläubigerschutz zu gewährleisten, der auch die Gesellschafterinteressen hinreichend berücksichtigt. Ihren Ursprung findet diese Sichtweise innerhalb Europas vor allem in Großbritannien17) und findet vor allem bei den Anhängern der Rechtsökonomik großen Widerhall. Die aktuelle Diskussion _____________ 10) Schön, Der Konzern 2004, 162, 166 ff.; Servatius, GmbHR 1998, 723; zur gesellschaftsrechtlichen Gewährleistung der Ingangsetzungsfunktion des Eigenkapitals Servatius, Gläubigereinfluss durch Covenants, 2008, S. 308 ff. 11) Servatius, DStR 2004, 1176, 1179 ff. 12) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 1; einschränkend, bloß „nicht unerwünschte Nebenfolge“, Fleischer, WM 2007, 909, 910; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 57 Rz. 3; ähnlich Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 57 AktG Rz. 6 ff. 13) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 62 Rz. 36. 14) Vgl. für die Verletzung von Mitteilungspflichten BGH, Urt. v. 5.4.2016 – II ZR 268/14, ZIP 2016, 1919, dazu EWiR 2017, 71 (Seulen). 15) Einzelheiten bei Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt-Servatius, GmbHG, Syst. Darst. 2, Rz. 370 ff. 16) Vgl. aus englischer Perspektive den sog. Rickford-Report, EBLR 2004, 919, 975 ff.; aus deutscher Perspektive statt anderer Ekkenga, AG 2006, 389; Lorys, Die Insolvenzverursachungshaftung gemäß § 64 S. 3 GmbHG als Ausschüttungssperre nach dem Vorbild des Wrongful Trading – Zugleich ein Beitrag zur zukünftigen Bedeutung von § 30 Abs. 1 GmbHG, 2016, S. 397 ff.; zum Rechtsvergleich ausführlich Lutter, Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, 2006. 17) Vgl. zum Kapitalschutzregime für die dortige Ltd. Henssler/Strohn-Servatius, GesR, IntGesR Rz. 99 ff.

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über die Konzeption der Kapitalbindung bei der geplanten Europäischen Privatgesellschaft (SPE)18) zeigt jedoch, dass über diese kapitalgesellschaftsrechtliche Grundsatzfrage bereits innerhalb der EU kaum Einigkeit zu erzielen ist. Es ist gleichwohl abzusehen, dass die derzeit noch anzutreffende europäische Harmonisierung des Gläubigerschutzes bei der AG mittelfristig gelockert und daher auch die AG Objekt des Wettbewerbs der Rechtsformen bzw. Gesellschaftsrechte sein wird. Der deutsche Gesetzgeber sieht diese Entwicklung wohl ähnlich und verfolgt derzeit bei 7 den Kapitalgesellschaften ein zweispuriges Konzept: Neben die bilanzbezogene Kapitalbindung gemäß § 30 GmbHG bzw. § 57 tritt seit dem MoMiG die Insolvenzverursachungshaftung der Geschäftsleiter gemäß § 15b Abs. 5 InsO. Diese sichert – ähnlich wie die englische Wrongful Trading Rule – die Gläubiger gegen Vermögensabflüsse, die jenseits einer bilanziellen Anknüpfung in die Insolvenz führen und ihre Befriedigung schmälern; vgl. zudem auch die nunmehr auf § 826 BGB gestützte Existenzvernichtungshaftung.19) Die parallele Geltung der bilanz- und liquiditätsbezogenen Ausschüttungssperren ist derzeit sicher eine Überregulierung, die kein schlüssiges Gesamtkonzept erkennen lässt. Sie rechtfertigt sich jedoch als Versuch, für die zu erwartende künftige Liberalisierung der europäischen Vorgaben für den Gläubigerschutz bei der AG gewappnet zu sein. So wird sich in den nächsten Jahren wohl abzeichnen, wie effektiv und aus Sicht der Aktionäre prohibitiv die genannten Ausschüttungssperren tatsächlich sind, so dass vielleicht einmal nur das eine Konzept fortbestehen bzw. Wahlfreiheit bestehen wird. Nichtsdestotrotz: Die Vermögensbindung gemäß § 57 und ihre europarechtliche Grundlegung sind derzeit geltendes Recht. Es verbietet sich daher eine schleichende Entwertung der Norm, indem der Anwendungsbereich angesichts der rechtspolitischen Kritik contra legem zurückgeschraubt wird. 6.

Related Parties Transactions

Die 2007 verabschiedete Richtlinie zur Änderung der Aktionärsrechterichtlinie verlangt 8 von den Mitgliedstaaten, Publizitäts- und Zustimmungspflichten zugunsten von Hauptversammlung oder Aufsichtsrat für wesentliche Related Party Transactions einzuführen.20) Hierdurch soll der Schutz der Gesellschaft und ihrer Aktionäre, insbesondere der Minderheitsaktionäre, bezweckt werden. Die tatbestandlich erfassten Related Parties sind neben den Organmitgliedern auch (Groß-)Aktionäre, so dass die in Aussicht stehenden Reformen des AktG zentral die aktienrechtliche Kapitalbindung bei börsennotierten Aktiengesellschaften gemäß §§ 57, 62 betreffen werden. Vor allem wegen der bislang kaum ausgeprägten Transaktionspublizität ist die erforderliche Umsetzung durchaus als begrüßenswerte Steigerung der Attraktivität des deutschen Aktienrechts zu sehen.21) II.

Verbot der Einlagenrückgewähr

1.

Geschütztes Vermögen

Abweichend von der GmbH unterliegt bei der AG nicht nur das Grundkapital und die nach 9 §§ 150, 300 gebundenen Rücklagen der Auszahlungssperre, sondern das gesamte Gesellschaftsvermögen.22) Im Übrigen gelten jedoch dieselben Erwägungen, so dass die für das GmbH-Recht vorhandene Rechtsprechung und Literatur auch bei der AG herangezogen _____________ 18) Vgl. Henssler/Strohn-Servatius, GesR, IntGesR Rz. 358 ff. 19) Einzelheiten bei Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt-Servatius, GmbHG, Syst. Darst. 2, Rz. 370 ff. 20) Zum Ganzen Veil, NZG 2017, 521; Vetter, ZHR 179 (2015) 273; Selzner, ZIP 2015, 753; Fleischer, BB 2014, 2691; Kleinert/Mayer, EuZW 2018, 314. 21) So auch Veil, NZG 2017, 521, 523 f.; Fleischer, BB 2014, 2691, 2698. 22) BGH, Urt. v. 21.6.1999 – II ZR 47/98, ZIP 1999, 1352, dazu EWiR 1999, 835 (Wilhelm); Bayer in: MünchKomm-AktG, § 57 Rz. 10 – umfassende Vermögensbindung.

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werden können. Es gilt eine funktionale Betrachtung. Die Bilanzierungsfähigkeit23) und ggf. konkrete Bilanzierung eines Vermögenswertes spielen keine Rolle, so dass das Gesellschaftsvermögen nicht durch die handelsbilanziellen Buchwerte begrenzt ist.24) Ebenso ist unerheblich, ob der betreffende Vermögensgegenstand im Wege der Zwangsversteigerung oder im Insolvenzverfahren der konkreten Gläubigerbefriedigungen dienen könnte. Es dürfen daher z. B. auch Gewinnchancen der AG nicht einem Aktionär zugewiesen werden.25) Verstöße gegen ein Wettbewerbsverbot können so regelmäßig auch Erstattungsansprüche nach § 62 auslösen. Der Vermögensbindung unterliegen ferner Nutzungswerte der von der AG zu Eigentum oder Besitz gehaltenen Gegenstände. Eine zeitweise Überlassung an den Aktionär ist daher nur gegen marktübliche Kostenerstattung zulässig, was insbesondere die Darlehensgewährung betrifft.26) Befindet sich die AG bereits im Stadium der Überschuldung (§ 19 InsO), gilt § 57 ebenfalls.27) 2.

Erfasste Auszahlungen

10 Auch beim Auszahlungsbegriff gilt eine funktionale Betrachtung. Auf den bereits in § 57 verschieden verwendeten Wortlaut – „Einlagenrückgewähr“, „Zahlung“, „Leistung“ darf nicht (begrenzend) abgestellt werden. Maßgeblich ist vielmehr, ob der Sachverhalt das durch die Kapitalbindung geschützte Gesellschaftsvermögen (siehe oben Rz. 9) entgegen der ihm im Verhältnis zu den Aktionären zwingend zukommenden Widmung als zweckgebundenes Betriebskapital schmälert (zum doppelten Schutzzweck siehe Rz. 4 f.). a)

Art des Vermögensabflusses

11 Verboten ist im Ausgangspunkt nicht nur die förmliche „Einlagenrückgewähr“, sondern jede offene oder verdeckte finanzielle Zuwendung der AG bzw. eines auf ihre Rechnung handelnden Dritten (vgl. § 56 Abs. 3) oder eines von ihr abhängigen oder in Mehrheitsbesitz stehenden Unternehmens (vgl. §§ 16, 17)28) an einen Aktionär oder diesem zurechenbaren Dritten (hierzu siehe unten Rz. 34 ff.).29) Zur notwendigen Einschränkung dieses weiten Begriffs durch das Merkmal causa societatis siehe Rz. 30 ff. Die Art des Vermögensabflusses ist unerheblich. Eine Auszahlung liegt daher nicht nur bei der aktiven dinglichen Zuwendung eines Vermögenswertes an den Aktionär vor, sondern auch in der Begründung einer Verbindlichkeit der AG,30) dem Verzicht auf eine Forderung gegen den Aktionär31) oder der Bestellung einer (ggf. nur schuldrechtlichen) Sicherheit.32) Darüber hinaus spielt es auch keine Rolle, ob die AG den Vermögenstransfer veranlasst hat oder der Aktionär eigenmächtig „in die Kasse“ greift. Verursacht das Aktionärsverhalten _____________ 23) Vgl. für selbst geschaffene immaterielle Vermögenswerte OLG Frankfurt/M., Urt. v. 30.11.1995 – 6 U 192/91, AG 1996, 324, 326. 24) BGH, Urt. v. 1.12.1986 – II ZR 306/85, ZIP 1987, 575; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 57 Rz. 13. 25) In diese Richtung BGH, Urt. v. 1.12.1986 – II ZR 306/85, ZIP 1987, 575 = NJW 1987, 1194; K. Schmidt/ Lutter-Fleischer, AktG, § 57 Rz. 18; Einzelheiten bei Servatius, GmbHR 1998, 723. 26) Vgl. Servatius, GmbHR 1998, 723; s. noch unten Rz. 20. 27) Vgl. BGH, Urt. v. 5.2.1990 – II ZR 114/89, NJW 1990, 1730, 1732 = ZIP 1990, 451 – zur GmbH. 28) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 17; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 57 Rz. 102. 29) RG, Urt. v. 19.10.1934 – II 85/34, RGZ 146, 84, 87; BGH, Urt. v. 1.3.1999 – II ZR 312/97, BGHZ 141, 79 = ZIP 1999, 708 = AG 1999, 372. 30) Vgl. für die Übernahme des Prospekthaftungsrisikos BGH, Urt. v. 31.5.2011 – II ZR 141/09 (Deutsche Telekom), ZIP 2011, 1306 = NJW 2011, 2719, dazu EWiR 2011, 517 (Theinert/Dembski); vgl. zur Schuldenübernahme i. R. eines Downstream Mergers Bayer in: MünchKomm-AktG, § 57 Rz. 93 m. w. N. 31) Vgl. BGH, Urt. v. 12.12.1983 – II ZR 14/83, ZIP 1984, 170, 171; BGH, Urt. v. 10.5.1993 – II ZR 74/92, BGHZ 122, 333 = ZIP 1993, 917. 32) RG, Urt. v. 22.4.1932 – II 349/31, RGZ 136, 260, 264; s. hierzu noch unten Rz. 25 f.

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allerdings allein Ansprüche – nicht einzubeziehender! (siehe unten Rz. 34 ff.) – Dritter gegen die AG, scheidet eine Auszahlung aus.33) b)

Vollwertige Gegenleistung

Unproblematisch als Auszahlung anzusehen sind die Fälle, bei denen der Aktionär eine 12 Leistung erhält, ohne dass er diese aufgrund eines Gegenanspruchs der AG – irgendwann – wieder zurückzahlen muss, z. B. überhöhte Dividenden,34) Schenkungen oder verlorene Zuschüsse. Bei allen anderen Gestaltungen, insbesondere den möglicherweise verdeckten Gewinnausschüttungen i. R. von Drittgeschäften, ist jedoch problematisch und vorrangig zu klären, was genau die Auszahlung darstellt. Den Ausgangspunkt hierfür bildet die Feststellung, dass es sich bei der Vermögensbindung 13 gemäß § 57 – wie bei § 30 GmbHG – allein um einen wertmäßigen Schutz des Gesellschaftsvermögens handelt und keinen gegenständlichen.35) Ein derartiges Schutzanliegen lässt sich nur bei mehrgliedrigen Gesellschaften über die Treuepflichtbindung verwirklichen. Es geht also im Hinblick auf die Kapitalbindung allein darum, die Gläubiger- und ggf. Aktionärsinteressen summenmäßig zu wahren und nicht etwa das Interesse an bestimmten Gegenständen, wie z. B. Patente oder Maschinen (vgl. insoweit jedoch die Ergänzung des Kapitalschutzes durch die nunmehr auf § 826 BGB gestützte Existenzvernichtungshaftung).36) Zum anderen folgt aus dem zwingenden Charakter der Norm, dass eine objektive Betrachtung des Sachverhalts anzustellen ist. Die an der Transaktion Beteiligten dürfen daher nicht selbst entscheiden, welchen Wert die in Rede stehenden Leistungen und Gegenleistungen haben. Es war bereits früher allgemein anerkannt, dass im komplexen Leistungsaustausch zwi- 14 schen Aktionär und AG die betreffenden Einzelakte nach der vorgeschilderten objektiven und wertmäßigen Betrachtung zu saldieren sind und dieses Ergebnis dann ggf. die Auszahlung darstellt. Die dogmatische Grundlage hierfür ist das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal, dass nur Leistungen causa societatis verboten sind (zum Drittvergleich siehe unten Rz. 31). Im Zuge des durch das MoMiG neu eingeführten § 57 Abs. 1 Satz 3 findet diese Sichtweise mittlerweile eine ausdrückliche gesetzliche Stütze, welche freilich über das Saldierungsgebot hinaus den Auszahlungsbegriff einschränkt (sog. bilanzielle Betrachtungsweise, Einzelheiten siehe unten Rz. 17 ff.). Erlangt die AG daher eine objektiv vollwertige Gegenleistung, scheidet die Auszahlung regelmäßig aus (siehe hierzu im Einzelnen unten Rz. 22).37) Dies führt z. B. dazu, dass die Tilgung einer wirksamen und werthaltigen Forderung des Aktionärs gegen die AG keine Auszahlung bedeutet; umgekehrt kann die Zahlung eines überhöhten Preises durch die AG i. R. eines Austauschgeschäfts mit dem Aktionär gleichwohl eine Auszahlung i. H. des Differenzbetrags darstellen. Das Gleiche gilt beim Abschluss eines für die AG objektiv ungünstigen Vergleichs.38) Die Rückerstattungspflicht gemäß § 62 Abs. 1 darf freilich nicht mit einbezogen werden, weil ansonsten das Zahlungsverbot praktisch leer liefe (Zirkelschluss).39) Darüber hinaus muss _____________ 33) 34) 35) 36) 37)

Vgl. BGH, Urt. v. 31.1.2000 – II ZR 189/99, ZIP 2000, 493. Vgl. zur zulässigen Gestaltung von Zwischendividenden Klett/Reinhart, ZIP 2021, 275. RG, Urt. v. 19.10.1934 – II 85/34, RGZ 146, 84, 94. Einzelheiten bei Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt-Servatius, GmbHG, Syst. Darst. 2, Rz. 370 ff. BGH, Urt. v. 31.5.2011 – II ZR 141/09 (Dritter Börsengang), Rz. 24 ff., ZIP 2011, 1306 = NJW 2011, 2719; zum früheren Recht bereits RG, Urt. v. 23.10.1931 – II 67/31, RGZ 133, 393, 395; RG, Urt. v. 15.12.1941 – II 103/41, RGZ 168, 292, 295; BGH, Urt. v. 14.12.1959 – II ZR 187/57, BGHZ 31, 258, 276. 38) Vgl. OLG Dresden, Urt. v. 25.7.2002 – 2 U 729/02, GmbHR 2002, 1245. 39) Vgl. hierzu Servatius, GmbHR 2000, 1028; Altmeppen, ZIP 2006, 1025, 1030 f.

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die Gegenleistung wertmäßig bezifferbar sein;40) die bloße Lästigkeit eines Anfechtungsklägers vermag daher eine verbotene Leistung causa societatis nicht zu legalisieren.41) Eine bilanzielle Messbarkeit dieser Gegenleistung darf indessen nicht gefordert werden.42) Wird i. R. der Aktienplatzierung eine Prospekt-Haftpflichtversicherung abgeschlossen, kann dies bei Übernahme des Prospekthaftungsrisikos durch die AG eine verbotene Einlagenrückgewähr nur ausschließen, wenn die Versicherungsprämien nicht von der AG gezahlt werden.43) Bei der Ermittlung der Gegenleistung besteht nach zutreffender Ansicht i. Ü. auch kein Ermessensspielraum; es handelt sich vielmehr um eine voll überprüfbare Rechtsfrage.44) Zur Beweislast siehe Rz. 42. c)

Maßgeblicher Zeitpunkt

15 Bei § 30 GmbHG ist der Zeitpunkt für die Bestimmung einer Auszahlung vor allem relevant, um den Angriff auf die Stammkapitaldeckung zu ermitteln. Indem dieses Kriterium bei § 57 irrelevant ist (siehe Rz. 8), kommt es beim maßgeblichen Zeitpunkt allein darauf an, wann ein Rückerstattungsanspruch gemäß § 62 konkret entsteht. Dies ist vor allem für den Beginn der Verjährung nach § 62 Abs. 4 relevant.45) 16 Handelt es sich um einen gegenständlichen Vermögensabfluss, kommt es spätestens auf den Zeitpunkt der dinglichen Vollziehung an (Zahlung einer Dividende, eigenmächtiger Griff in die Kasse). Problematisch ist indessen, ob bereits die zeitlich frühere Einräumung eines Anspruchs zugunsten des Aktionärs auf die betreffende Leistung unter den Auszahlungsbegriff fällt (zur Wirksamkeit von Rechtsgeschäften trotz Verstoßes gegen § 57 siehe unten Rz. 40). Die wohl h. M. stellt auch hier grundsätzlich erst auf die etwaige Erfüllung ab und begründet dies vor allem mit dem dafür bestehenden Leistungsverweigerungsrecht.46) Dem ist nicht zu folgen. Im Rahmen einer funktionalen Betrachtung des Auszahlungsbegriffs ist vielmehr bereits eine schuldrechtlich begründete Vermögenseinbuße als verboten anzusehen, denn nur auf diese Weise lässt sich das Verbot präventiv verwirklichen. Hiernach ist daher bereits die gegen § 57 Abs. 1 verstoßende Begründung einer Verbindlichkeit als Auszahlung zu sehen und konsequenterweise nicht erfüllbar (Leistungsverweigerungspflicht); auf die handelsrechtliche Pflicht, diese zu passivieren oder eine Rückstellung zu bilden, kommt es nicht an.47) Die dort maßgeblichen Kriterien können jedoch

_____________ 40) BGH, Urt. v. 31.5.2011 – II ZR 141/09 (Dritter Börsengang), ZIP 2011, 1306 = NJW 2011, 2719. 41) Vgl. Ehmann/Walden, NZG 2013, 806; einschränkend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 13, im Fall „notstandsähnlicher Rechtfertigungslagen“. 42) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 15; möglicherweise anders BGH, Urt. v. 31.5.2011 – II ZR 141/09 (Dritter Börsengang), Rz. 24 ff., ZIP 2011, 1306 = NJW 2011, 2719. 43) Abweichend wohl Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 15. 44) Vgl. BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, Rz. 34, ZIP 2017, 472, dazu EWiR 2017, 229 (Seibt) – „kein unternehmerischer Ermessensspielraum“; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 10; Grigoleit-Grigoleit/ Rachlitz, AktG, § 57 Rz. 12; abweichend aber Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 57 AktG Rz. 24. 45) Vgl. hierzu BGH, Urt. v. 21.3.2017 – II ZR 93/16, Rz. 27, ZIP 2017, 971, dazu EWiR 2017, 585 (K. Schmidt). 46) Grundlegend RG, Urt. v. 16.4.1926 – II 532/25, RGZ 113, 241, 244; RG, Urt. v. 23.10.1931 – II 67/31, RGZ 133, 393, 395; BGH, Urt. v. 3.1.1953 – I ZR 169/51, BB 1953, 245. 47) Vgl. für die Bestellung von Sicherheiten auch BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, Rz. 16, ZIP 2017, 472; ebenso i. R. von § 311 BGH, Urt. v. 1.12.2008 – II ZR 102/07 (MPS), BGHZ 179, 71 = ZIP 2009, 70, dazu EWiR 2009, 129 (Blasche); zur GmbH auch BGH, Urt. v. 21.3.1017 – II ZR 93/16, Rz. 16, ZIP 2017, 971.

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als Anhaltspunkte dienen. Bei der Sicherheitenbestellung (Upstream Security) gilt dies gleichermaßen.48) Siehe unten Rz. 25 f. d)

Bilanzielle Betrachtung (§ 57 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2)

Gemäß § 57 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 handelt es sich um keine verbotene Auszahlung, wenn die 17 Leistung an den Aktionär durch einen vollwertigen Gegenleistungs- oder Rückgewähranspruch gegen den Aktionär gedeckt ist. aa)

Grundlagen

Diese durch das MoMiG im Jahr 2008 eingeführte Privilegierung war eine gesetzgeberische 18 Reaktion auf das November-Urteil des BGH49) und sollte eine Rückkehr zur sog. bilanziellen Betrachtung bewirken. Im Kern geht es darum, den summen- und wertmäßigen Schutz des Gesellschaftsvermögens konsequent umzusetzen und damit nicht ausufern zu lassen. Dies beinhaltet zwei wesentliche Aspekte: Zum einen wird hierdurch gewährleistet, dass bei komplexen Transaktionen bereits bei der Ermittlung einer möglicherweise verbotenen Auszahlung eine objektive Gesamtbetrachtung maßgeblich ist, mithin eine Saldierung von Leistung und Gegenleistung zu erfolgen hat. Dies entsprach jedoch seit jeher der überwiegenden Meinung und brachte keine wesentliche Abschwächung des Kapitalschutzes (siehe oben Rz. 12). Die aus § 57 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 folgende Neuerung zielt jedoch darüber hinaus darauf ab, 19 dass nunmehr der Aktiventausch von Liquidität (Bar- oder Sachmittel der AG) gegen schuldrechtliche Forderungen gegen den Aktionär zulässig sein kann. Diese Möglichkeit wurde zwar wegen des nach überwiegender Meinung nur wertmäßigen Schutzes des Gesellschaftsvermögens (siehe Rz. 13) zwar immer schon prinzipiell anerkannt. Indem das November-Urteil des BGH jedoch berechtigten Anlass bot, das Gesellschaftsvermögen auch in seiner gegenständlichen Zusammensetzung als geschützt anzusehen,50) sah sich der Gesetzgeber auf Druck der eher gesellschafternahen Praxis veranlasst, für Klarheit zu sorgen.51) Die nunmehr weitgehend zulässige Darlehensgewährung an die Aktionäre ermöglicht zwar eine flexible Konzernfinanzierung, insbesondere i. R. eines Cash Pools, und ist als wirtschaftsfördernder Anreiz daher grundsätzlich zu billigen (vgl. auch die ähnliche, jedoch strengere Regelung zum Hin- und Herzahlen bei der Gründung gemäß § 27 Abs. 5).52) Zu beachten ist jedoch, dass die Möglichkeit, Liquidität gegen Forderungen zu tauschen, 20 ein Gefährdungspotential für die Gläubiger und Mitaktionäre auslöst.53) Dieses wird durch das Vollwertigkeitsgebot und die fortlaufende Überwachungspflicht des Vorstands nicht vollständig kompensiert. Es spricht daher nach wie vor Vieles dafür, das gebundene Kapital zwar nicht gegenständlich zu schützen und damit auch die Auskehrung von Liquidität an _____________ 48) Abweichend noch BGH, Urt. v. 18.6.2007 – II ZR 86/06, BGHZ 173, 1, 11 f. = ZIP 2007, 1705 – Auszahlung erst bei der tatsächlichen Inanspruchnahme der Sicherheit; wie hier wohl bereits RG, Urt. v. 22.4.1932 – II 349/31, RGZ 136, 260, 265 sowie nunmehr BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, Rz. 15, ZIP 2017, 472; BGH, Urt. v. 31.5.2011 – II ZR 141/09 (Dritter Börsengang), ZIP 2011, 1306 = NJW 2011, 2719; zur GmbH auch BGH, Urt. v. 21.3.1017 – II ZR 93/16, ZIP 2017, 971. Vgl. hierzu aus insolvenzrechtlicher Perspektive Pleister, ZIP 2015, 1097. 49) BGH, Urt. v. 24.11.2003 – II ZR 171/01, BGHZ 157, 72 = ZIP 2004, 263, dazu EWiR 2004, 911 (Schöne/ Stolze). 50) Hierzu Servatius, DStR 2004, 1176. 51) Vgl. Schäfer, DStR 2006, 2085, 2088 ff.; BDI/Hengeler/Mueller, Die GmbH im Wettbewerb der Rechtsformen, 2006, Rz. 59. 52) Vgl. die ausdrückliche Aufgabe der „November-Rechtsprechung“ durch BGH, Urt. v. 1.12.2008 – II ZR 102/07 (MPS), BGHZ 179, 71 = ZIP 2009, 70. 53) Grundlegend Stimpel in: FS 100 Jahre GmbHG, S. 335, 347 ff.

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die Aktionäre bei vollwertigem Gegenanspruch prinzipiell zuzulassen. Auf der anderen Seite ist nach wie vor zu berücksichtigen, dass es sich beim gesamten Gesellschaftsvermögen der AG im Verhältnis zu den Aktionären um ein besonders geschütztes zweckgebundenes Betriebsvermögen handelt, welches nicht ihrer individuellen Bedürfnisbefriedigung dient. Hieraus folgt, dass auch die Privilegierung gemäß § 57 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 unter dem ungeschriebenen Vorbehalt steht, dass die Aktionäre sie nicht causa societatis ausnutzen dürfen, sondern nur i. R. der durch die Satzung der konkreten AG vorgegeben Zweckbindung.54) Eine gewöhnliche AG ist z. B. keine Bank, die ihren Aktionären außerhalb sinnvoller Cash Pools ggf. sogar zinsgünstige Darlehen vergibt. Hiermit rechnet der Rechtsverkehr typischerweise nicht, sondern geht infolge der Publizierung des Unternehmensgegenstands (§ 39 Abs. 1 Satz 1) davon aus, dass das hierin umschriebene operative Geschäft tatsächlich betrieben wird. Auch i. R. von § 57 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 ist daher in Bezug auf das Ob und Wie der Darlehensgewährung bzw. der vergleichbaren Sachverhalte zu fordern, dass das Rechtsgeschäft im Einklang mit der Satzung bzw. dem höherrangigen Konzerninteresse betrieblich gerechtfertigt ist (streitig).55) Dies gilt auch und gesondert im Hinblick auf die Verzinsung des Darlehens (siehe hierzu auch Rz. 22 a. E.). Wird hiergegen verstoßen, liegt trotz wertmäßiger Deckung bzw. bilanzieller Betrachtung eine verbotene Auszahlung vor (streitig).56) 21 Weiterhin ist zu bedenken, dass aus der durch § 57 Abs. 1 Satz 3 maßgeblichen bilanziellen Betrachtungsweise nicht der Schluss gezogen werden darf, dass nunmehr das bilanziell ausgewiesene Gesellschaftsvermögen geschützt wäre. Stille Reserven und nicht bilanzierbare Vermögenswerte sind nach wie vor vom Schutz des § 57 umfasst und dürfen an die Aktionäre jenseits von § 57 Abs. 3 nicht causa societatis ausgeschüttet werden (siehe oben Rz. 11). bb)

Vollwertiger Gegenleistungs- oder Rückgewähranspruch

22 Die Privilegierung setzt allein voraus, dass die Leistung durch einen vollwertigen Gegenleistungs- oder Rückgewähranspruch gedeckt ist. Dass dieser Anspruch nicht der gemäß § 62 Abs. 1 ist, liegt wegen der ansonsten drohenden Entwertung des Zahlungsverbots auf der Hand. Es bedarf somit eines vertraglich eingeräumten Anspruchs der AG gegen den empfangenden Aktionär. Die klassischen hiervon erfassten Fälle sind die vertraglich geschuldete Gegenleistung i. R. eines Austauschvertrages, insbesondere die Darlehensrückerstattung gemäß § 488 Abs. 1 Satz 2 BGB. Übernimmt die AG gegenüber einem Dritten eine (dingliche) Sicherheit zugunsten eines Aktionärs, ist auf den Freistellungsanspruch gegen den Aktionär abzustellen.57) Der Gegenleistungs- oder Rückgewähranspruch muss sich dem Wortlaut nach gegen den Aktionär richten; denkbar und vom Schutzzweck des § 57 gedeckt ist es jedoch auch, wenn ein Dritter sich zur Rückgewähr verpflichtet. Im Hinblick auf die Bonität darf wegen der gebotenen Vollwertigkeit hieraus jedoch keine Schlechterstellung der AG resultieren. Das Kriterium der Vollwertigkeit ist gegeben, wenn zum Zeitpunkt der Auszahlung ein Forderungsausfall unwahrscheinlich ist.58) Im Übrigen deckt sich dieses Kriterium mit § 27 Abs. 5 Satz 1, so dass für die Einzelheiten hierauf verwiesen wird (siehe § 27 Rz. 64). Auch hier gilt eine „Alles-oder-Nichts-Lö_____________ 54) Hierzu Servatius, DStR 2004, 1176. 55) Kritisch Fleischer, WM 2007, 909, 913; abweichend auch Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 57 Rz. 12; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 8: Vollwertigkeit genügt. 56) Abweichend K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 57 Rz. 44. 57) Vgl. BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, ZIP 2017, 472 (Einzelheiten s. unten Rz. 25 ff.). 58) Vgl. BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, ZIP 2017, 472.

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sung“, so dass die Anrechnung eines bloßen Teilwerts ausscheidet.59) Auch hier kommt es auf die Vollwertigkeit im Auszahlungszeitpunkt an (siehe oben Rz. 15 f.). Die spätere Verschlechterung der Bonität verpflichtet den Vorstand jedoch zur sofortigen Geltendmachung.60) Aus dem Merkmal der Vollwertigkeit ergibt sich auch das Erfordernis einer marktüblichen Verzinsung. Die Privilegierung kommt daher nur in Betracht, wenn (nicht: und soweit) der Aktionär für die Kapitalüberlassung ein objektiv angemessenes Entgelt zahlt (streitig).61) Fehlt diese, ist der gesamte Leistungstatbestand verboten und nicht etwa nur auf der Rechtsfolgenseite zu sanktionieren (streitig).62) cc)

Fälligkeit, Beobachtungspflicht

Der entscheidende Unterschied zu § 27 Abs. 4 folgt jedoch daraus, dass der Rückgewähr- 23 anspruch i. R. von § 57 nicht jederzeit fällig sein muss oder durch fristlose Kündigung durch die Gesellschaft fällig gestellt werden kann. Die gesetzgeberische Schieflage, mithin die Abschwächung des Rechts der Kapitalerhaltung gegenüber den Kapitalaufbringungsregeln, wird verschiedentlich als nicht nachvollziehbar kritisiert.63) Letztlich trägt sie aber der allgemeinen Tendenz Rechnung, dass die Kapitalaufbringung vor allem wegen der präventiven Registerkontrolle strenger ist und auch nur dort das Gebot besteht, die Einlagen zur freien Verfügung des Vorstands zu leisten (vgl. § 37 Abs. 1 Satz 2) – Mindestkapital als „Startkapital“. Die Aussparung der zwingenden Kautelen, wonach der Rückgewähranspruch liquide ausgestaltet sein muss, fügt sich so in die allgemein nach Vollendung der Kapitalaufbringung allein maßgebliche Pflichtenbindung des Vorstands ein, die Kapitalausstattung der AG zu steuern. Erkennt man hiernach an, dass der Rückgewähranspruch aufgrund des eindeutigen Wort- 24 lauts nicht vertraglich einer Barreserve angeglichen sein muss, folgt doch aus der allgemeinen Pflichtenbindung gemäß § 93 Abs. 1 und dem nach hier vertretener Ansicht (siehe oben Rz. 20) geltenden Erfordernis, dass die Darlehensgewährung betrieblich gerechtfertigt sein muss, dass eine Flexibilität für die tatsächliche Geltendmachung des Anspruchs durchaus erforderlich ist. Konkret bedeutet dies, dass Befristungen des Darlehens oder eine vertragliche Einschränkung der Kündigungsmöglichkeiten zulasten der AG generell unzulässig sind. Im Übrigen ist der Vorstand gehalten, die Forderung gegen den Aktionär nach Maßgabe fortbestehender Vollwertigkeit und des Liquiditätsbedürfnisses der AG fortlaufend zu überwachen und die Rückzahlung ggf. sofort zu verlangen.64) Insofern versteht es sich von selbst, dass die AG sich entsprechende Covenants einräumen lassen muss, um fortlaufend über die Vermögenslage des Aktionärs informiert zu sein.65) Das MoMiG hat insofern auch eine Änderung der Konzernkultur herausgefordert; die Obergesellschaft muss die entsprechenden Informationen geben, um die Privilegien für die Konzernfinan_____________ 59) Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 57 Rz. 40. 60) Vgl. zur fortlaufenden Beobachtungspflicht BGH, Urt. v. 1.12.2008 – II ZR 102/07 (MPS), BGHZ 179, 71 = ZIP 2009, 70. 61) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 57 Rz. 171; abweichend K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 57 Rz. 52 und Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 26: Verzinsungspflicht nur bei längerfristiger Kreditgewährung, abweichend auch Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 57 Rz. 41 – eigenständige ausschüttungsrechtliche Betrachtung der Verzinsung; abweichend auch Rothley/Weinberger, NZG 2010, 1001, 1005 – keine ausschüttungsrechtliche Relevanz der Verzinsung. 62) Abweichend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 26. 63) Z. B. K. Schmidt, JZ 2009, 10, 18. 64) BGH, Urt. v. 1.12.2008 – II ZR 102/07 (MPS), BGHZ 179, 71 = ZIP 2009, 70; Strohn, DB 2014, 1535, 1539 f. 65) Kritisch Mülbert/Leuschner, NZG 2009, 281, 283; Überblick über die Möglichkeiten der vertraglichen Ausgestaltung bei Servatius, Gläubigereinfluss durch Covenants, 2008, S. 32.

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zierung zu erlangen. Die Organwalter in der Untergesellschaft können insofern durchaus selbstbewusst gegenüber der Obergesellschaft auftreten. e)

Bestellung von Sicherheiten

25 Dass die Bestellung schuldrechtlicher und dinglicher Sicherheiten durch die AG zugunsten eines Aktionärs unter den Auszahlungsbegriff fällt, ist außer Streit.66) § 57 ist daher besonders bedeutsam beim Leveraged Buy-out, wenn die Kreditfinanzierung des Aktienkäufers durch die AG besichert wird (vgl. insofern aber auch das Verbot der Financial Assistance gemäß § 71a).67) Gleiches gilt für die im Konzern häufig anzutreffenden Upstream und Sidestream Securities.68) Insofern sind verschiedene Problemkreise zu differenzieren: 26 Zum einen ist nach zutreffender Meinung im Hinblick auf den maßgeblichen Zeitpunkt für eine verbotene Auszahlung nicht auf die tatsächliche Inanspruchnahme der Sicherheit abzustellen, sondern auf die aus der dinglichen oder schuldrechtlichen Sicherheitenbestellung resultierende Vermögenseinbuße der AG (siehe bereits oben Rz. 15 f.).69) Die handelsbilanzielle Behandlung der Sicherheit ist hierfür nicht maßgeblich.70) Vielmehr ist wie allgemein i. R. des Auszahlungsbegriffs eine vermögensmäßige Beurteilung anzustellen (siehe oben Rz. 11). Zum anderen ist problematisch, ob eine hiernach als Auszahlung zu qualifizierende Sicherheitenbestellung nicht zulässig ist, weil der Sicherungsfall unwahrscheinlich und damit eine dem „vollwertigen Rückgewähranspruch“ vergleichbare Lage i. S. der Privilegierung gemäß § 57 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 vorliegt.71) Ansatzpunkt hierfür ist der aus der Befriedigung des Sicherungsnehmers regelmäßig resultierende Rückgriffsanspruch gegen den Aktionär (§ 670 BGB oder Vertrag). Soweit dieser – wie regelmäßig – gleichermaßen werthaltig oder wertlos ist, wie die durch die AG besicherte Verbindlichkeit des Aktionärs gegenüber dem Dritten, kommt eine Privilegierung gemäß § 57 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 von vornherein nicht in Betracht. Sollte dies einmal nicht gegeben sein, weil für den Rückgriffsanspruch wiederum Sicherheiten zur Verfügung stehen, auf die der Drittgläubiger nicht zugreifen kann, wäre es durchaus möglich, eine nach § 57 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 zulässige Besicherung anzunehmen.72) Bei gleichgelagerten Fällen kann eine typisierte Betrachtung der Wahrscheinlichkeit des Sicherungsfalles vorgenommen werden.73) Nachträgliche negative Veränderungen der Werthaltigkeit der Freistellungsansprüche bzw. der Wahrscheinlichkeit, dass Dritte auf die Sicherheit zugreifen, führen nicht zu einer Bejahung der im Be_____________ 66) Vgl. RG, Urt. v. 22.4.1932 – II 349/31, RGZ 136, 260, 265; BGH, Urt. v. 20.10.1975 – II ZR 214/74, NJW 1976, 751 (Überlassung einer Grundschuld); BGH, Urt. v. 19.3.1998 – IX ZR 22/97, BGHZ 138, 291 = ZIP 1998, 793 (Sicherungsabtretung von Forderungen); BGH, Urt. v. 31.5.2011 – II ZR 141/09 (Dritter Börsengang), ZIP 2011, 1306 = NJW 2011, 2719 (Übernahme des Prospekthaftungsrisikos); BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, Rz. 15, ZIP 2017, 472 (Verpfändung von Kontoguthaben der AG). 67) BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, ZIP 2017, 472; zur Bedeutung einer Limitation Language in diesem Kontext Langenbucher/Bliesener/Spindler-Castor, Bankrechts-Kommentar, Kap. 16 Rz. 105 ff. 68) Vgl. Kiefner/Theusinger, NZG 2008, 801, 804. 69) BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, Rz. 15, ZIP 2017, 472 (dingliche Sicherheit in Gestalt der Verpfändung eines Kontoguthabens); BGH, Urt. v. 31.5.2011 – II ZR 141/09 (Dritter Börsengang), ZIP 2011, 1306 = NJW 2011, 2719 (schuldrechtliche Haftungsübernahme); Grigoleit-Grigoleit/ Rachlitz, AktG, § 57 Rz. 44; zur GmbH auch BGH, Urt. v. 21.3.1017 – II ZR 93/16, ZIP 2017, 971; hierzu Heerma/Bergmann, ZIP 2017, 1261. 70) BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, Rz. 16, ZIP 2017, 472; ebenso i. R. von § 311 BGH, Urt. v. 1.12.2008 – II ZR 102/07(MPS), BGHZ 179, 71 = ZIP 2009, 70; zur GmbH auch BGH, Urt. v. 21.3.1017 – II ZR 93/16, Rz. 16, ZIP 2017, 971. 71) Vgl. hierzu bereits i. R. von § 311 BGH, Urt. v. 1.12.2008 – II ZR 102/07 (MPS), BGHZ 179, 71 = ZIP 2009, 70; zur GmbH auch BGH, Urt. v. 21.3.1017 – II ZR 93/16, Rz. 18 ff., ZIP 2017, 971. 72) So auch BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, Rz. 17 ff., ZIP 2017, 472. 73) BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, Rz. 20, ZIP 2017, 472.

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stellungszeitpunkt zunächst verneinten Annahme einer Auszahlung.74) Siehe aber zur Organhaftung Rz. 40. Eine (erstmalige) Auszahlung kommt somit in diesen Fällen nur dann in Betracht, wenn die AG nachträglich auf ihre Freistellungsansprüche gegen den Aktionär verzichtet.75) f)

Anlegerschutz, Kapitalmarkt

Im Fall von Aktienemissionen, insbesondere über den öffentlichen Kapitalmarkt, muss 27 vielfach ein sachgerechter Ausgleich zwischen Anleger- und Gläubigerschutz gefunden werden.76) Ist z. B. bei einer Kapitalerhöhung der Ausgabebetrag höher als der tatsächliche Wert der Beteiligung oder kommt es im Vorfeld der Emission zu Informations- oder Prospektmängeln, stellt sich die Frage, ob die Zeichner bzw. Erwerber gegenüber der AG Schadensersatz verlangen können. So kommen insofern vor allem Ansprüche der Aktionäre gegen die AG aus Prospekthaftung gemäß §§ 21 ff. WpPG in Betracht sowie aus §§ 97, 98 WpHG und Delikt wegen unterbliebener oder unrichtiger Kapitalmarktinformation im Vorfeld der Zeichnung bzw. des Erwerbs. In all diesen Fällen stellt sich die Frage, ob eine auf den ersten Blick unbestreitbar causa societatis erfolgende Schadensersatzleistung der AG an ihre Aktionäre § 57 unterfällt und damit aus Gründen des Gläubigerschutzes und der Aktionärsgleichbehandlung verboten ist. Das RG ging noch davon aus, dass es einem Aktionär in jedem Fall verwehrt sei, seine 28 Aktienbeteiligung in ein Gläubigerrecht umzuwandeln.77) Die heute h. A. in der Literatur räumt hingegen der Prospekthaftung und damit dem Anlegerschutz zumindest dann einen Vorrang vor § 57 ein, wenn die Anteile derivativ, vor allem von einer Emissionsbank, erworben wurden. Beim unmittelbaren Erwerb der Anteile stünde die Bestandskraft des Zeichnungsvertrages einer Ersatzpflicht entgegen.78) Die jüngere Rechtsprechung geht nunmehr davon aus, dass bei einer kapitalmarktrechtlich begründeten Ersatzpflicht wegen vorsätzlich fehlerhafter Ad-hoc-Mitteilungen die Kapitalbindung zurückzutreten habe.79) Dieser kapitalmarktrechtliche Ansatz überzeugt und ist auf die Prospekt- und allgemeine Informationshaftung zu übertragen.80) Die gesetzliche Kapitalbindung und die Bestandskraft des Zeichnungsvertrages finden ihre Grenzen in den vorrangigen gesetzlichen Haftungstatbeständen, weil diese ansonsten praktisch leer liefen. Dies gilt unabhängig davon, ob der Zeichner die Aktien unmittelbar von der AG oder von einer Emissionsbank erworben hat.81) Konsequenterweise gilt diese Privilegierung auch gegenüber einer Emissionsbank, welche die Platzierung übernimmt und sich von der AG für etwaige, von dieser verursachte _____________ 74) Zur GmbH BGH, Urt. v. 21.3.1017 – II ZR 93/16, Rz. 21 f., ZIP 2017, 971. 75) Zur GmbH BGH, Urt. v. 21.3.1017 – II ZR 93/16, Rz. 23, ZIP 2017, 971. 76) Vgl. zum Ganzen Henze in: GroßKomm-AktG, § 57 Rz. 55 f.; Casper, BKR 2005, 83, 89; zu § 826 BGB OLG München, Urt. v. 20.4.2005 – 7 U 5303/04 (Comroad), ZIP 2005, 901 = NZG 2005, 518; auch aus europarechtlicher Sicht Fleischer/Schneider/Thaten, NZG 2012, 801. 77) RG, Urt. v. 14.3.1903 – I 371/02, RGZ 54, 128, 132; RG, Urt. v. 8.11.1905 – I 154/05, RGZ 62, 29, 31. 78) Vgl. Henze in: GroßKomm-AktG, § 57 Rz. 14 f.; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 57 Rz. 19; Schwark in: FS Raisch, S. 269, 287 ff. 79) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 17.3.2005 – 1 U 149/04 (Comroad), ZIP 2005, 710; BGH, Urt. v. 9.5.2005 – II ZR 287/02 (EM.TV), NZG 2005, 672 = ZIP 2005, 1270, dazu EWiR 2005, 689 (Bayer/Weinmann). 80) So auch K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 57 Rz. 40; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 57 Rz. 19 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 5; Assmann/Schneider-Sethe, WpHG, §§ 37b, 37c Rz. 6; zurückhaltender Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 57 AktG Rz. 50. Vgl. zur europarechtlichen Zulässigkeit dieses Ansatzes auch EuGH, Urt. v. 19.12.2013 – C-174/12 (Hirmann), ZIP 2014, 121, dazu EWiR 2014, 105 (Seulen). 81) In diese Richtung auch OLG Frankfurt/M., Urt. v. 17.3.2005 – 1 U 149/04 (Comroad), ZIP 2005, 710, 713; BGH, Urt. v. 9.5.2005 – II ZR 287/02 (EM.TV), NZG 2005, 672, 674 = ZIP 2005, 1270; BGH, Hinweisbeschl. v. 28.11.2005 – II ZR 80/04 (Comroad), NZG 2007, 345 = ZIP 2007, 681.

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Prospektfehler haftungsrechtlich freizeichnen lässt.82) Bei einer Zweitplatzierung von Aktien eines Altaktionärs bedarf eine vermögenswerte Unterstützung durch die AG jedoch wie allgemein bei § 57 einer marktgerechten finanziellen Kompensation; diese kann auch in einem werthaltigen Freistellungsanspruch gegenüber dem begünstigten Aktionär liegen.83) 29 Bei einer Privatplatzierung oder beim Einsatz von Aktien als „Akquisitionswährung“ stellt sich darüber hinaus regelmäßig das Problem, ob die AG selbst gegenüber den Zeichnern eine besondere Gewährleistungsübernahme für die Werthaltigkeit der Anteile übernehmen darf.84) Die liberale, kapitalmarktorientierte Ansicht (siehe oben Rz. 28) gilt hier richtigerweise nur sehr eingeschränkt.85) Die Korrektur eines zu hohen Ausgabebetrags ist nur in begrenzten Ausnahmefällen zulässig. Um Umgehungen zu verhindern und die Kapitalbindung gemäß §§ 57, 62 nicht zu unterlaufen, ist eine Ersatzpflicht von vornherein nur für gesetzliche Ansprüche auf Schadensersatz anzuerkennen, vor allem aus Delikt.86) Die Gesellschaft hat nur in diesen Fällen regelmäßig Regressansprüche gegen die Organwalter und sonstige Erfüllungsgehilfen. Der teilweise vertretene Ansatz, die individualvertragliche Vereinbarung einer weitergehenden Gewährleistungsübernahme durch die Gesellschaft könne einem „Drittvergleich“ standhalten und eine verbotene Einlagenrückgewähr ausschließen,87) erscheint konstruiert.88) 3.

Leistung causa societatis

30 Die Kapitalbindung schützt nur Auszahlungen, die ihre Grundlage im Gesellschaftsverhältnis haben, mithin causa societatis erfolgen.89) Dieses ungeschriebene Tatbestandsmerkmal ist ohne weiteres erfüllt, wenn z. B. an die Aktionäre unberechtigt Dividenden, Abschläge oder Gründervorteile gezahlt werden oder die Leistung rechtsgrundlos durch einen eigenmächtigen bzw. vom Vorstand gebilligten „Griff in die Gesellschaftskasse“ erfolgt. Problematisch ist indessen, die prinzipiell zulässigen Drittgeschäfte abzugrenzen. Dies betrifft vornehmlich Veräußerungsgeschäfte, Gebrauchsüberlassungen,90) Vorstandstantiemen91) und Darlehensgewährungen i. R. eines Cash Pools. Anzustellen ist stets die objektive materielle bzw. funktionale Betrachtung der jeweiligen Leistung und des betreffenden Rechtsgeschäfts; die Bezeichnung durch die Aktionäre und/oder die AG hat insoweit nur eine Indizfunktion.92) 31 Maßgebliches Kriterium ist insofern nach wie vor der Drittvergleich.93) Eine verbotene Auszahlung liegt hiernach vor, wenn die AG den betreffenden Vermögenstransfer hinsichtlich Ob und Wie nicht gleichermaßen einem Nicht-Aktionär zukommen lassen würde. Entgegen der h. M. kommt es hierbei nicht allein abstrakt auf die Marktüblichkeit an, son_____________ 82) Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 57 Rz. 6. 83) BGH, Urt. v. 31.5.2011 – II ZR 141/09 (Dritter Börsengang), ZIP 2011, 1306 = NJW 2011, 2719; hierzu Leuschner, NJW 2011, 3275. 84) Sieger/Hasselbach, BB 2004, 60, 63 ff.; Brandi, NZG 2004, 600, 603; vgl. insb. im Zusammenhang von Business Combination Agreements Aha, BB 2001, 2225, 2230. 85) Dies verkennt LG Köln, Urt. v. 9.3.2017 – 91 O 47/15, BeckRS 2017, 106284. 86) In diese Richtung auch BGH, Urt. v. 31.5.2011 – II ZR 141/09 (Dritter Börsengang), ZIP 2011, 1306 = NJW 2011, 2719. 87) So Schaefer/Grützediek, NZG 2006, 204, 206 ff.; Maidl/Kreifels, NZG 2003, 1091, 1094. 88) Zutreffend Technau, AG 1998, 445, 455 f.; Sieger/Hasselbach, BB 2004, 60, 61. 89) BGH, Urt. v. 24.3.1954 – II ZR 23/53, BGHZ 13, 49, 54. 90) Vgl. Servatius, GmbHR 1998, 723. 91) Vgl. BGH, Urt. v. 13.7.1992 – II ZR 269/91, ZIP 1992, 1382 = NJW 1992, 2894. 92) Ebenso Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 13 – gleichgültig, wie die entsprechenden Zahlungen bemäntelt werden. 93) BGH, Urt. v. 1.12.2008 – II ZR 102/07 (MPS), BGHZ 179, 71 = ZIP 2009, 70.

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dern auch auf die individuelle Zielsetzung der AG gemäß satzungsmäßigem Unternehmensgegenstand und Gesellschaftszweck (streitig).94) Insbesondere die Darlehensgewährung an Aktionäre ist daher selbst bei marktüblicher Verzinsung nicht automatisch zulässig (wenn zudem die Voraussetzungen von § 57 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 vorliegen). Vielmehr ist auch hier stets zusätzlich zu fragen, ob das Geschäft betrieblich gerechtfertigt ist.95) Zudem ist stets auf die konkrete Marktsituation abzustellen, so dass nicht stets die gewinnbringende Veräußerung von Gegenständen notwendig ist.96) Im Kontext von Anfechtungsklagen besteht nur in Evidenzfällen Raum, dass eine vergleichsweise Beilegung des Rechtsstreits gegen entsprechende Zahlung zulässig ist. Die Zahlung muss in Anlehnung an gesetzlich vorgeprägte Streitwertgebühren angemessen sein sowie der AG durch die Streitbeilegung ein nur auf diese Weise erzielbarer, konkret feststellbarer Vorteil erwachsen.97) In Konzernsachverhalten tritt an die Stelle des Gesellschaftsinteresses das Konzerninteresse, so dass diese nicht allgemein gebilligte Sichtweise bei der Praxis des Cash Pools wohl keine signifikante Begrenzung der Gestaltungsfreiheit nach sich zieht. Bei der Ermittlung der Marktüblichkeit ist auf objektive Umstände abzustellen, ein Beurteilungsspielraum der Aktionäre oder Vorstandsmitglieder besteht richtigerweise nicht.98) 4.

Aktionäre als Leistungsempfänger

Unproblematisch aufgrund des Wortlauts erfasst sind Leistungen an die gegenwärtigen 32 Aktionäre der AG. Auf einen Eintrag ins Aktienregister (§ 67) kommt es nicht an. Um den Schutzzweck der Norm effektiv zu verwirklichen, sind jedoch weitere Konstellationen unter das Verbot zu fassen. a)

Ehemalige und künftige Aktionäre

Trifft die Auszahlung im maßgeblichen Zeitpunkt nicht mit der Aktionärsstellung zusam- 33 men, scheidet eine verbotene Einlagenrückgewähr nicht aus. Sobald sich die Leistung zeitlich und sachlich auf die ehemalige oder künftige Mitgliedschaft bezieht, ist sie gleichwohl verboten, um den Schutzzweck des Verbots nicht leerlaufen zu lassen.99) Wird das Leistungsversprechen noch zur Zeit der Aktionärsstellung gegeben, die Leistung aber nachträglich erst gewährt, soll dies nach h. M. der Fall sein;100) richtigerweise ist jedoch bereits auf den Zeitpunkt des Leistungsversprechens abzustellen, so dass derartige Fälle unmittelbar auf § 57 gestützt werden können (siehe oben Rz. 15 f.). b)

Einbeziehung Dritter

Die gesetzlich gewährleistete Kapitalerhaltung richtet sich in erster Linie an die Gesell- 34 schafter einer Kapitalgesellschaft. Der tragende Grund, diese Vermögensverschiebungen _____________ 94) A. A. Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 57 Rz. 12. 95) So bei § 30 GmbHG auch Baumbach/Hueck-Fastrich, GmbHG, § 30 Rz. 29. 96) Vgl. zum Verkauf unter Einstandspreis Servatius, GmbHR 1998, 723; OLG Brandenburg, Urt. v. 23.9.1998 – 7 U 78/98, GmbHR 1999, 298. 97) Großzügiger Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 13 m. w. N. 98) Vgl. BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, Rz. 34, ZIP 2017, 472 – „kein unternehmerischer Ermessensspielraum“; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 10; abweichend aber Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGKAktR, § 57 AktG Rz. 24. 99) Allg. M., vgl. nur K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 57 Rz. 33; zur Einbeziehung künftiger Aktionäre BGH, Urt. v. 13.11.2007 – XI ZR 294/07, ZIP 2008, 118 = NZG 2008, 106. 100) Vgl. BGH, Urt. v. 13.11.2007 – IX ZR 294/07, ZIP 2008, 118 = NZG 2008, 106; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 30.11.1995 – 6 U 192/91, AG 1996, 324, 325; OLG Hamburg, Urt. v. 23.5.1980 – 11 U 117/74, AG 1980, 275, 278.

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§ 57

Keine Rückgewähr, keine Verzinsung der Einlagen

als unzulässig anzusehen, liegt in der Zweckentfremdung des Gesellschaftsvermögens.101) Gleichwohl besteht Einigkeit, dass auch Leistungen an Dritte unter das Kapitalerhaltungsgebot fallen können und ggf. unzulässig sind. Vielfach, aber nicht notwendig, handelt es sich hierbei um die rechtliche Sanktionierung von Umgehungskonstruktionen. Hierbei ist zu differenzieren, ob der Zurechnungstatbestand im Verhältnis zwischen dem Dritten und einem Aktionär bzw. dessen Aktie angesiedelt ist oder unmittelbar zwischen dem Dritten und der AG. aa)

Nähebeziehung zwischen Drittem und Aktionär bzw. Aktie

35 Maßgeblich für eine Einbeziehung Dritter in das Auszahlungsverbot ist einmal, ob es sich bei der Leistung an einen Dritten um eine mittelbare Leistung an einen Aktionär handelt oder ob zwischen dem Dritten und einem Aktionär eine enge rechtliche oder persönliche Verbundenheit besteht.102) So ist eine verbotene Einlagenrückgewähr dann zu bejahen, wenn die AG an einen Dritten für Rechnung des Aktionärs leistet,103) oder für diesen als Vertreter auftritt.104) Das Gleiche gilt, wenn der Dritte mit einem Aktionär in einem engen verwandtschaftlichen Verhältnis steht (vgl. §§ 89 Abs. 3, 115 Abs. 2),105) sofern die Zahlung dem Aktionär auch wirtschaftlich zurechenbar ist,106) oder wenn der Dritte ein mit einem Aktionär verbundenes Unternehmen i. S. von § 15 ist.107) Beim Nießbrauch an einer Aktie gilt das Kapitalerhaltungsverbot auch gegenüber dem Nießbraucher,108) beim Pfandrecht hingegen nur, wenn der Dritte wesentlichen Einfluss auf die Gesellschaft ähnlich wie ein Gesellschafter hat.109) bb)

Nähebeziehung zwischen Drittem und Gesellschaft

36 Die Einbeziehung soll nach überwiegender Meinung auch für einen atypischen stillen Gesellschafter mit entsprechendem Einfluss und vermögensmäßiger Beteiligung gelten110) sowie für den atypischen Pfandgläubiger.111) Werde der stille Gesellschafter in dieser Weise in den mitgliedschaftlichen Verband der Gesellschaft einbezogen, so sei seine Einlage Teil der Eigenkapitalgrundlage. Dieser Sichtweise ist nicht zuzustimmen.112) Die Einbeziehung beruht entscheidend darauf, dass der Stille der Gesellschaft nicht als „unabhängi_____________ 101) 102) 103) 104) 105)

106) 107)

108) 109) 110)

111) 112)

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Servatius, DStR 2004, 1176, 1179. Zum Ganzen ausführlich Baumbach/Hueck-Fastrich, GmbHG, § 30 Rz. 17 ff. BGH, Urt. v. 13.11.2007 – XI ZR 294/07, ZIP 2008, 118 = NZG 2008, 106. Zutreffend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 18, gegen BGH, Urt. v. 14.5.1992 – II ZR 299/90, ZIP 1992, 1081. BGH, Urt. v. 28.9.1981 – II ZR 223/80, BGHZ 81, 365 = ZIP 1982, 1332; BGH, Urt. v. 14.10.1985 – II ZR 276/84, WM 1986, 237, 239 = ZIP 1986, 456; BGH, Urt. v. 13.11.1995 – II ZR 113/94, ZIP 1996, 68 = GmbHR 1996, 111; zum Ganzen ausführlich Canaris in: FS Fischer, S. 31 ff. So auch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 19, unter Hinweis auf BGH, Urt. v. 12.4.2011 – II ZR 17/10, Rz. 15, ZIP 2011, 1101, dazu EWiR 2011, 669 (Cramer). BGH, Urt. v. 21.0.1981 – II ZR 104/80, BGHZ 81, 311 = ZIP 1981, 1200; BGH, Urt. v. 13.11.1995 – II ZR 113/94, ZIP 1996, 68; Einzelheiten bei Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 57 AktG Rz. 80 ff. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 57 Rz. 31; Einzelheiten bei Fleischer in: FS Canaris, Bd. II, S. 71. Vgl. BGH, Urt. v. 13.7.1992 – II ZR 251/91, BGHZ 119, 191, 195 = ZIP 1992, 1300. BGH, Urt. v. 7.11.1988 – II ZR 46/88, BGHZ 106, 7 = ZIP 1989, 95; BGH, Urt. v. 13.2.2006 – II ZR 62/04, NJW-RR 2006, 760, 761 f. = ZIP 2006, 703, dazu EWiR 2006, 653 (Kort); OLG Saarbrücken, Urt. v. 1.9.1998 – 4 U 635/97, NZG 1999, 155, 156 = ZIP 1999, 2150; vgl. zum Ganzen Mylich, WM 2013, 1010. Vgl. BGH, Urt. v. 13.7.1992 – II ZR 251/91, BGHZ 119, 191, 195 = ZIP 1992, 1300. Zum Ganzen ausführlich Servatius, Gläubigereinfluss durch Covenants, 2008, S. 416 ff.

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Keine Rückgewähr, keine Verzinsung der Einlagen

§ 57

ger Dritter“ gegenüberstehe.113) Dies überzeugt wertungsmäßig durchaus für eine Einbeziehung einflussnehmender Dritter in die Vermögensbindung der AG. Im Hinblick auf die Rechtsfolge ist eine Ausweitung von § 57 auf die stille Beteiligung oder noch weitergehend die Darlehensgewährung jedoch nicht mehr passend. Für die Gesellschafterfremdfinanzierung war die gesetzliche Umqualifizierung von Fremd- in Eigenkapital früher durch das Eigenkapitalersatzrecht anerkannt, welches über die sog. „Rechtsprechungsgrundsätze“ auch im Vorfeld der Insolvenz eine materiell-rechtliche Bindung des Finanzierungsbeitrags herstellte. Indem der Gesetzgeber diese Umqualifizierung nunmehr ausdrücklich verneint (§ 57 Abs. 1 Satz 4), würde der Dritte somit schlechtergestellt als ein Aktionär, wenn man die Rückforderung eines als Fremdkapital hingegebenen Finanzierungsbeitrags der Auszahlungssperre unterstellte. Die Einbeziehung des atypischen Stillen oder sonstiger Darlehensgeber in § 57 ist damit gänzlich abzulehnen. Insofern kommt vielmehr eine Einbeziehung in das Recht der Gesellschafterdarlehen gemäß § 39 InsO in Betracht (siehe unten auch Rz. 14 ff.). 5.

Subjektive Komponente

Es ist zutreffend ganz allgemeine Meinung, dass das Zahlungsverbot objektiv begründet 37 ist und daher keine subjektiven Voraussetzungen auf Seiten des empfangenden Aktionärs voraussetzt (Kenntnis vom Zahlungsverbot, Umgehungsabsicht o. Ä.).114) Ob es sich dadurch um eine unwiderlegliche Vermutung der Bösgläubigkeit bei außerhalb des ordentlichen Gewinnbezugs angesiedelten Vermögenstransfers handelt, erscheint zweifelhaft.115) Überzeugender ist es, die tatbestandlich erfassten und verbotenen offenen oder verdeckten Ausschüttungen als objektiven Widerspruch zur privatautonom gewählten Eigenkapitalfinanzierung der Aktionäre und zu den zwingend hieran geknüpften formalen Anforderungen an den Gewinnbezug zu sehen.116) Die Privilegierung des gutgläubigen Gewinnbezugs gemäß § 62 Abs. 1 Satz 2 ist somit eine nicht verallgemeinerungsfähige Ausnahme von der ansonsten an keinerlei subjektive Tatbestandsmerkmale geknüpften Rückerstattungspflicht gemäß § 62 Abs. 1 Satz 1. 6.

Besonderheiten beim Rückerwerb eigener Aktien

Der entgeltliche Rückerwerb eigener Aktien durch die AG ist im Ausgangspunkt ein ein- 38 deutiger Verstoß gegen § 57 Abs. 1 Satz 1. Gleichwohl sind die Grenzen im Zuge der §§ 71a ff. mittlerweile recht weit gezogen, so dass es konsequent ist, einen zulässigen Rückerwerb auch im Hinblick auf die Kapitalbindung zu privilegieren (§ 57 Abs. 1 Satz 2).117) Dies gilt jedoch nur, wenn der Erwerbspreis dem Drittvergleich standhält, mithin marktgerecht und damit nicht zu hoch ist.118) In diesem Umfang erstreckt sich die Privilegierung auf die Besicherung des Aktienerwerbs gemäß § 71a.119)

_____________ 113) BGH, Urt. v. 24.3.1954 – II ZR 23/53, BGHZ 13, 49, 54. 114) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 57 Rz. 19; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 11; undeutlich, auf der Grundlage des Merkmals causa societatis, Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 57 AktG Rz. 26 ff. 115) So aber Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 62 Rz. 2. 116) Hierzu i. R. von §§ 30, 31 GmbHG bereits Servatius, DStR 2004, 1176. 117) Vgl. für die Sicherheitenbestellung BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, Rz. 25 ff., ZIP 2017, 472; für Redemption Rights Swalve, NZG 2021, 909 (911). 118) H. M., vgl. Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 57 AktG Rz. 44; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 20. 119) Vgl. BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, ZIP 2017, 472.

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§ 57 7.

Keine Rückgewähr, keine Verzinsung der Einlagen Besonderheiten bei Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen

39 Gemäß § 57 Abs. 1 Satz 3 Alt. 1 gilt das Auszahlungsverbot nicht bei Leistungen, die bei Bestehen eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrages i. S. von § 291 erfolgen. Diese durch das MoMiG im Jahr 2008 eingeführte Privilegierung brachte bei der AG letztlich nur eine Klarstellung, denn gemäß § 291 Abs. 3 waren entsprechende Leistungen bereits zuvor ohne Verstoß gegen die Kapitalbindung zulässig. Eine Erweiterung der bisher anerkannten Privilegierung erfolgte jedoch durch die weitere Fassung der Erlaubnis. Zulässig ist nunmehr auch, dass die Leistung auf Veranlassung des herrschenden Unternehmens an Dritte (insbesondere Schwestergesellschaften) erfolgen darf („bei Bestehen“ anstelle des früheren „auf Grund“ in § 291 Abs. 3 a. F.).120) Die praktische Durchsetzbarkeit der Verlustausgleichspflicht der Obergesellschaft gemäß § 302 ist für die Privilegierung gemäß § 57 Abs. 1 Satz 3 Alt. 1 unerheblich (streitig).121) Die Neuregelung sollte erklärtermaßen die Funktion eines rechtssicher handhabbaren „sicheren Hafens“ erfüllen, so dass gegenüber einer teleologischen Reduktion Zurückhaltung geboten ist.122) Etwaige Schutzlücken sind daher systemkohärent über § 826 BGB (Existenzvernichtungshaftung) oder § 15b Abs. 5 InsO (Insolvenzverursachungshaftung) zu schließen. Darüber hinaus haben die Organe der beherrschten bzw. zur Gewinnabführung verpflichteten AG zumindest bei Erkennbarkeit der Finanzschwäche der Obergesellschaft die schadensersatzbewehrte Pflicht, den Unternehmensvertrag gemäß § 297 unverzüglich zu kündigen, um so den Vermögensabfluss zu unterbinden. Im Bereich der faktischen Beherrschung wird die Vermögensbindung durch §§ 311 ff. überlagert, so dass an sich verbotene Auszahlungen auf Zeit zulässig sind, mithin nicht sogleich gemäß § 62 zurückgefordert werden müssen (streitig).123) Kommt es nicht zum rechtzeitigen Nachteilsausgleich im zeitlichen Rahmen des § 311 Abs. 2, ist der Anspruch endgültig (rückwirkend) entstanden.124) Die AG kann in diesem Fall auch Schadensersatz gemäß § 317 und § 93 Abs. 3 Nr. 1 verlangen.125) 8.

Rechtsfolgen von Verstößen, Konkurrenzen

40 Verbotene Leistungen sind nach § 62 zurückzuerstatten (Einzelheiten dort). Nach § 57 unzulässige Verträge dürfen durch die AG nicht erfüllt werden.126) Bei einem Verstoß gegen § 57 sind jedoch weder das Verpflichtungs- noch das Erfüllungsgeschäft nichtig.127) Die Regelung ist kein Verbotsgesetz i. S. von § 134 BGB. Mit § 62 steht eine scharfe Sanktionsnorm bereit, die die schuldrechtliche Nichtigkeit vollständig kompensiert, so dass für eine ohnehin schwache Rückabwicklung nach §§ 812 ff. BGB kein Bedürfnis besteht. Ein darüber hinausgehender Schutz der AG durch die Nichtigkeit des Vollzugsgeschäfts _____________ 120) Vgl. den damaligen Vorschlag des DAV (Handelsrechtsausschusses), NZG 2007, 735, 740. 121) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 57 Rz. 37; abweichend unter Hinweis auf Art. 17, 18 der früheren Kapitalrichtlinie Altmeppen, ZIP 2009, 49, 55; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 21. 122) Abweichend Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 57 Rz. 4. 123) Vgl. BGH, Urt. v. 1.12.2008 – II ZR 102/07 (MPS), BGHZ 179, 71 = ZIP 2009, 70; LG München I, Urt. v. 10.12.2009 – 5 HKO 13261/08, ZIP 2010, 283 = AG 2010, 173; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 57 Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 21; abweichend Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGKAktR, § 57 AktG Rz. 38. 124) Vgl. BGH, Urt. v. 31.5.2011 – II ZR 141/09 (Deutsche Telekom), ZIP 2011, 1306 = NJW 2011, 2719. 125) So auch Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 57 Rz. 5. 126) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 32. 127) BGH, Urt. v. 12.3.2013 – II ZR 179/12, ZIP 2013, 819 = NZG 2013, 496, dazu EWIR 2013, 297 (Wilsing/Meyer); ebenso als Vorinstanz OLG München, Urt. v. 10.5.2012 – 14 U 2175/11, ZIP 2012, 1024 = NZG 2012, 706, dazu EWiR 2012, 403 (Just); BGH, Urt. v. 5.4.2016 – II ZR 268/14, ZIP 2016, 1919.

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Keine Rückgewähr, keine Verzinsung der Einlagen

§ 57

wäre zwar bei der Insolvenz des Leistungsempfängers eine effektive Sanktion; sie fügt sich jedoch nicht in das bloß summen- bzw. wertmäßige Schutzkonzept von § 57 ein. Die insolvenzrechtlichen Anfechtungstatbestände gemäß §§ 129 ff. InsO sind durch § 62 41 nicht ausgeschlossen.128) Die vorsätzliche Verletzung von § 57 kann eine Untreuestrafbarkeit begründen.129) Der Vorstand haftet bei schuldhaften Verstößen gemäß § 93 Abs. 3 Nr. 1 auf Schadensersatz;130) das Gleiche gilt über § 116 für den Aufsichtsrat. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Organhaftung ist grundsätzlich der für die Auszahlung maßgebliche (siehe Rz. 15, 26). Scheidet indessen bei der Bestellung von Sicherheiten zugunsten eines Aktionärs ein Verstoß gegen § 57 aus, weil bei Bestellung ein Forderungsausfall unwahrscheinlich ist, trifft den Vorstand auch darüber hinaus eine fortlaufende haftungsbewehrte Beobachtungspflicht, ob die Sicherheitenbestellung noch im Einklang mit den allgemeinen Sorgfaltsanforderungen gemäß § 93 Abs. 1 Satz 1 steht.131) Ein Verstoß gegen § 57 kann zur Anfechtbarkeit eines Entlastungsbeschlusses gemäß § 120 nur unter dem Aspekt führen, dass die Aktionäre unter Verletzung des ihnen eingeräumten Ermessens und entgegen ihrer gesellschaftlichen Treuepflicht für die Entlastung gestimmt haben.132) 9.

Beweislast

Die Voraussetzungen für einen Verstoß gegen § 57 sind grundsätzlich von der AG zu be- 42 weisen, in der Insolvenz vom Verwalter.133) Die Privilegierungen gemäß § 57 Abs. 1 Satz 3 und Satz 4 hat hingegen der Aktionär zu beweisen. Dies gilt insbesondere für das Vorliegen einer wertmäßig bezifferbaren Gegenleistung (siehe Rz. 12 ff.).134) Das Gleiche soll nach h. M. für das Vorliegen eines marktüblichen Drittgeschäfts gelten.135) Dem ist nicht zu folgen. Das verbotsbegründende Merkmal der Leistung causa societatis ist ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal, so dass die AG darlegen muss, dass das betreffende Geschäft nicht in derselben Weise auch mit jedem Dritten geschlossen worden wäre. III.

Zinsverbot (§ 57 Abs. 2)

Nach § 57 Abs. 2 dürfen Aktionären Zinsen auf ihre Einlage weder zugesagt noch gezahlt 43 werden. Diese Regelung ist überflüssig, denn die erfassten Gestaltungen fallen bereits unter § 57 Abs. 1. Sie verdeutlicht aber immerhin, dass auch Dividendengarantien zugunsten von Aktionären kategorisch ausgeschlossen sind. IV.

Aktionärsdarlehen

Auf Darlehen der Aktionäre an die AG ist das Kapitalerhaltungsgebot gemäß § 57 Abs. 1 44 Satz 4 nicht mehr anwendbar. Zur insolvenzrechtlichen Lösung gemäß §§ 39 Abs. 1 Nr. 4, 135 InsO siehe nachfolgend Anhang zu § 57. _____________ 128) Eidenmüller/Engert in: FS K. Schmidt, S. 305 ff. 129) Vgl. BGH, Urt. v. 6.5.2008 – 5 StR 34/08, NStZ 2009, 153. 130) Vgl. BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, Rz. 34, ZIP 2017, 472 – „kein unternehmerischer Ermessensspielraum“; abweichend aber etwa Drygala, AG 2013, 198, 208. 131) Vgl. BGH, Urt. v. 1.12.2008 – II ZR 102/07 (MPS), BGHZ 179, 71 = ZIP 2009, 70; zur GmbH auch BGH, Urt. v. 21.3.1017 – II ZR 93/16, Rz. 22, ZIP 2017, 971. 132) Vgl. OLG Frankfurt/M., Urt. v. 29.12.2020 – 5 U 231/19, Rz. 177, BeckRS 2020, 36911 = NZG 2021, 971. 133) Vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 19.1.2006 – 6 U 2/05, GmbHR 2006, 535, 536 = ZIP 2006, 2100. 134) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 57 Rz. 15 m. w. N. 135) BGH, Urt. v. 24.11.2003 – II ZR 171/01, BGHZ 157, 72 = ZIP 2004, 263; Grigoleit-Grigoleit/ Rachlitz, AktG, § 57 Rz. 15.

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Aktionärsdarlehen

Anhang zu § 57 Aktionärsdarlehen Wolfgang Servatius

Literatur: Altmeppen, Das neue Recht der Gesellschafterdarlehen in der Praxis, NJW 2008, 3601; Bartsch/Weber, Doppelbesicherung durch Gesellschafts- und Gesellschaftersicherheit nach dem MoMiG: Hat der Gesellschaftsgläubiger weiterhin ein Wahlrecht?, DStR 2008, 1884; Bitter, Die Nutzungsüberlassung in der Insolvenz nach dem MoMiG (§ 135 Abs. 3 InsO) – Dogmatische Grundlagen und Einzelfragen der Praxis, ZIP 2010, 1; Bitter/Jochum, Kein Nachrang kapitalmarktrechtlicher Schadensersatzansprüche in der Insolvenz des Emittenten, ZIP 2021, 653; Bork, Abschaffung des Eigenkapitalersatzrechts zugunsten des Insolvenzrechts?, ZGR 2007, 250; Burg/Westerheide, Praktische Auswirkungen des MoMiG auf die Finanzierung von Konzernen, BB 2008, 62; Dahl/Schmitz, Eigenkapitalersatz nach dem MoMiG aus insolvenzrechtlicher Sicht, NZG 2009, 325; Eidenmüller, Gesellschafterdarlehen in der Insolvenz, in: Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, 2007, S. 49; Engert, Drohende Subordination als Schranke einer Unternehmenskontrolle durch Kreditgeber, ZGR 2012, 835; Felsch, Stundung, Fälligkeitsvereinbarung und Stehenlassen: Nach welchem Zeitraum sind Forderungen aus Austauschgeschäften darlehensgleich nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO?, ZIP 2021, 123; Freitag, Finanzverfassung und Finanzierung von GmbH und AG nach dem Regierungsentwurf des MoMiG, WM 2007, 1681; Gehrlein, Die Behandlung von Gesellschafterdarlehen durch das MoMiG, BB 2008, 846; Haas, Die Passivierung von Gesellschafterdarlehen in der Überschuldungsbilanz nach MoMiG und FMStG, DStR 2009, 326; Haas, Das neue Kapitalersatzrecht nach dem RegE-MoMiG, ZInsO 2007, 617; Haas/Oechsler, Missbrauch, Cash Pool und gutgläubiger Erwerb nach dem MoMiG, NZG 2006, 806; Habersack, Gesellschafterdarlehen nach MoMiG: Anwendungsbereich, Tatbestand und Rechtsfolgen der Neuregelung, ZIP 2007, 2145; Hirte/Knof, Das „neue“ Sanierungsprivileg nach § 39 Abs. 4 Satz 2 InsO, WM 2009, 1961; Huber, Finanzierungsfolgenverantwortung de lege lata und de lege ferenda, in: Festschrift für Hans-Joachim Priester, 2007, S. 259; Huber/Habersack, GmbH-Reform: Zwölf Thesen zu einer möglichen Reform des Rechts der kapitalersetzenden Gesellschafterdarlehen, BB 2006, 1; Kahlert/Gehrke, Der Rangrücktritt nach MoMiG im GmbH-Recht: Insolvenz- und steuerrechtliche Aspekte, DStR 2010, 227; Krolop, Zur Anwendung der MoMiG-Regelungen zu Gesellschafterdarlehen auf gesellschaftsfremde Dritte, GmbHR 2009, 397; Leithaus/Schaefer, Rangrücktrittsvereinbarungen zur Vermeidung der Überschuldung anno 2010 – Unter welchen Voraussetzungen lässt sich eine Rangrücktrittsvereinbarung aufheben?, NZI 2010, 844; Mock, Stille im MoMiG zur stillen Gesellschaft? – Das neue (Eigen-)Kapitalersatzrecht und seine Auswirkungen auf das Recht der stillen Gesellschaft, DStR 2008, 1645; Mylich, Probleme und Wertungswidersprüche beim Verständnis von § 135 Abs. 1 Alt. 2 Nr. 2 InsO n. F., ZGR 2009, 474; Schäfer, Eigenkapitalersatz nach „MoMiG“ – was bleibt von der Finanzierungsfolgenverantwortung?, ZInsO 2010, 1311; Schmidt, K., Gesellschafterbesicherte Drittkredite nach neuem Recht, BB 2008, 1966; Servatius, Gesellschafterdarlehen in Zeiten von COVID-19, Der Konzern 2020, 281; Servatius, Covenants in der Restruktrurierung, CFL 2013, 14; Spliedt, MoMiG in der Insolvenz – ein Sanierungsversuch, ZIP 2009, 149; Sutter/Fiedler, Rechtliche Einordnung der Rangrücktrittsvereinbarung (Intercreditor Agreement), ZInsO 2011, 552; Thiessen, Eigenkapitalersatz ohne Analogieverbot – eine Alternativlösung zum MoMiG-Entwurf, ZIP 2007, 253; Thole, Der insolvenzrechtliche Rang von kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüchen gegen den Emittenten, ZIP 2020, 2533; Wittig, Das Sanierungsprivileg für Gesellschafterdarlehen im neuen § 39 Abs. 4 Satz 2 InsO, in: Festschrift für Karsten Schmidt, 2009, S. 1473.

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Aktionärsdarlehen Übersicht I. Allgemeines, Regelungsgehalt ........ 1 II. Grundlagen des Rechts der Gesellschafterdarlehen ..................... 3 III. Erfasste Rechtsformen ...................... 7 IV. Tatbestand .......................................... 8 1. Darlehensgewährung oder vergleichbare Rechtshandlung ................ 8 2. Durch einen Aktionär ...................... 10 3. Kleinbeteiligungsprivileg ................. 11 4. Einbeziehung Dritter ....................... 14 a) Aus Gründen des Umgehungsschutzes ............................ 15 b) Wegen der Einflussnahme ......... 16 5. Sanierungsprivileg ............................. 18 a) Aktienerwerb .............................. 19 b) Zum Zweck der Sanierung ......... 20 V. Rechtsfolgen .................................... 21 1. Insolvenzrechtliche Subordination .... 21 a) Rückerstattungsanspruch .......... 21

b) Zinsen ......................................... c) Darlehensversprechen ................ 2. Anfechtbarkeit ................................. a) Wegen Gewährung einer Sicherheit (§ 135 Abs. 2 Nr. 1 InsO) ................................ b) Wegen Befriedigung (§ 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO) ......... 3. Passivierung im Vorfeld des Insolvenzverfahrens ......................... 4. Nutzungsüberlassung ...................... VI. Aktionärsbesicherte Drittdarlehen ............................................ 1. Anfechtbarkeit der Befriedigung (§ 135 Abs. 2 InsO) ......................... 2. Vorrangige Inanspruchnahme der Sicherheit (§ 44a InsO) ............. 3. Subordination der Erstattungspflicht (§ 143 Abs. 3 InsO) .............

22 23 24

25 26 27 28 30 31 32 33

Die maßgeblichen Regelungen: § 19 InsO Überschuldung (1) Bei einer juristischen Person ist auch die Überschuldung Eröffnungsgrund. (2) 1Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens in den nächsten zwölf Monaten ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich. 2 Forderungen auf Rückgewähr von Gesellschafterdarlehen oder aus Rechtshandlungen, die einem solchen Darlehen wirtschaftlich entsprechen, für die gemäß § 39 Abs. 2 zwischen Gläubiger und Schuldner der Nachrang im Insolvenzverfahren hinter den in § 39 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 bezeichneten Forderungen vereinbart worden ist, sind nicht bei den Verbindlichkeiten nach Satz 1 zu berücksichtigen. (3) 1Ist bei einer Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit kein persönlich haftender Gesellschafter eine natürliche Person, so gelten die Absätze 1 und 2 entsprechend. 2Dies gilt nicht, wenn zu den persönlich haftenden Gesellschaftern eine andere Gesellschaft gehört, bei der ein persönlich haftender Gesellschafter eine natürliche Person ist. § 39 InsO Nachrangige Insolvenzgläubiger (1) 1Im Rang nach den übrigen Forderungen der Insolvenzgläubiger werden in folgender Rangfolge, bei gleichem Rang nach dem Verhältnis ihrer Beträge, berichtigt: 1. die seit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens laufenden Zinsen und Säumniszuschläge auf Forderungen der Insolvenzgläubiger; 2. die Kosten, die den einzelnen Insolvenzgläubigern durch ihre Teilnahme am Verfahren erwachsen;

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3. Geldstrafen, Geldbußen, Ordnungsgelder und Zwangsgelder sowie solche Nebenfolgen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit, die zu einer Geldzahlung verpflichten; 4. Forderungen auf eine unentgeltliche Leistung des Schuldners; 5. nach Maßgabe der Absätze 4 und 5 Forderungen auf Rückgewähr eines Gesellschafterdarlehens oder Forderungen aus Rechtshandlungen, die einem solchen Darlehen wirtschaftlich entsprechen. 2

Satz 1 Nummer 5 ist nicht anzuwenden, wenn eine staatliche Förderbank oder eines ihrer Tochterunternehmen einem Unternehmen, an dem die staatliche Förderbank oder eines ihrer Tochterunternehmen beteiligt ist, ein Darlehen gewährt oder eine andere einer Darlehensgewährung wirtschaftlich entsprechende Rechtshandlung vorgenommen hat. (2) Forderungen, für die zwischen Gläubiger und Schuldner der Nachrang im Insolvenzverfahren vereinbart worden ist, werden im Zweifel nach den in Absatz 1 bezeichneten Forderungen berichtigt. (3) Die Zinsen der Forderungen nachrangiger Insolvenzgläubiger und die Kosten, die diesen Gläubigern durch ihre Teilnahme am Verfahren entstehen, haben den gleichen Rang wie die Forderungen dieser Gläubiger.

(4) 1Absatz 1 Nr. 5 gilt für Gesellschaften, die weder eine natürliche Person noch eine Gesellschaft als persönlich haftenden Gesellschafter haben, bei der ein persönlich haftender Gesellschafter eine natürliche Person ist. 2Erwirbt ein Gläubiger bei drohender oder eingetretener Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft oder bei Überschuldung Anteile zum Zweck ihrer Sanierung, führt dies bis zur nachhaltigen Sanierung nicht zur Anwendung von Absatz 1 Nr. 5 auf seine Forderungen aus bestehenden oder neu gewährten Darlehen oder auf Forderungen aus Rechtshandlungen, die einem solchen Darlehen wirtschaftlich entsprechen. (5) Absatz 1 Nr. 5 gilt nicht für den nicht geschäftsführenden Gesellschafter einer Gesellschaft im Sinne des Absatzes 4 Satz 1, der mit 10 Prozent oder weniger am Haftkapital beteiligt ist. § 44a InsO Gesicherte Darlehen In dem Insolvenzverfahren über das Vermögen einer Gesellschaft kann ein Gläubiger nach Maßgabe des § 39 Abs. 1 Nr. 5 für eine Forderung auf Rückgewähr eines Darlehens oder für eine gleichgestellte Forderung, für die ein Gesellschafter eine Sicherheit bestellt oder für die er sich verbürgt hat, nur anteilsmäßige Befriedigung aus der Insolvenzmasse verlangen, soweit er bei der Inanspruchnahme der Sicherheit oder des Bürgen ausgefallen ist. § 135 InsO Gesellschafterdarlehen (1) Anfechtbar ist eine Rechtshandlung, die für die Forderung eines Gesellschafters auf Rückgewähr eines Darlehens im Sinne des § 39 Abs. 1 Nr. 5 oder für eine gleichgestellte Forderung 1. Sicherung gewährt hat, wenn die Handlung in den letzten zehn Jahren vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder nach diesem Antrag vorgenommen worden ist, oder

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2. Befriedigung gewährt hat, wenn die Handlung im letzten Jahr vor dem Eröffnungsantrag oder nach diesem Antrag vorgenommen worden ist. (2) Anfechtbar ist eine Rechtshandlung, mit der eine Gesellschaft einem Dritten für eine Forderung auf Rückgewähr eines Darlehens innerhalb der in Absatz 1 Nr. 2 genannten Fristen Befriedigung gewährt hat, wenn ein Gesellschafter für die Forderung eine Sicherheit bestellt hatte oder als Bürge haftete; dies gilt sinngemäß für Leistungen auf Forderungen, die einem Darlehen wirtschaftlich entsprechen. (3) 1Wurde dem Schuldner von einem Gesellschafter ein Gegenstand zum Gebrauch oder zur Ausübung überlassen, so kann der Aussonderungsanspruch während der Dauer des Insolvenzverfahrens, höchstens aber für eine Zeit von einem Jahr ab der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht geltend gemacht werden, wenn der Gegenstand für die Fortführung des Unternehmens des Schuldners von erheblicher Bedeutung ist. 2 Für den Gebrauch oder die Ausübung des Gegenstandes gebührt dem Gesellschafter ein Ausgleich; bei der Berechnung ist der Durchschnitt der im letzten Jahr vor Verfahrenseröffnung geleisteten Vergütung in Ansatz zu bringen, bei kürzerer Dauer der Überlassung ist der Durchschnitt während dieses Zeitraums maßgebend. (4) § 39 Abs. und 5 gilt entsprechend. § 143 InsO Rechtsfolgen (1) 1Was durch die anfechtbare Handlung aus dem Vermögen des Schuldners veräußert, weggegeben oder aufgegeben ist, muß zur Insolvenzmasse zurückgewährt werden. 2 Die Vorschriften über die Rechtsfolgen einer ungerechtfertigten Bereicherung, bei der dem Empfänger der Mangel des rechtlichen Grundes bekannt ist, gelten entsprechend. 3Eine Geldschuld ist nur zu verzinsen, wenn die Voraussetzungen des Schuldnerverzugs oder des § 291 des Bürgerlichen Gesetzbuchs vorliegen; ein darüber hinausgehender Anspruch auf Herausgabe von Nutzungen eines erlangten Geldbetrags ist ausgeschlossen. (2) 1Der Empfänger einer unentgeltlichen Leistung hat diese nur zurückzugewähren, soweit er durch sie bereichert ist. 2Dies gilt nicht, sobald er weiß oder den Umständen nach wissen muß, daß die unentgeltliche Leistung die Gläubiger benachteiligt. (3) 1Im Fall der Anfechtung nach § 135 Abs. 2 hat der Gesellschafter, der die Sicherheit bestellt hatte oder als Bürge haftete, die dem Dritten gewährte Leistung zur Insolvenzmasse zu erstatten. 2Die Verpflichtung besteht nur bis zur Höhe des Betrags, mit dem der Gesellschafter als Bürge haftete oder der dem Wert der von ihm bestellten Sicherheit im Zeitpunkt der Rückgewähr des Darlehens oder der Leistung auf die gleichgestellte Forderung entspricht. 3Der Gesellschafter wird von der Verpflichtung frei, wenn er die Gegenstände, die dem Gläubiger als Sicherheit gedient hatten, der Insolvenzmasse zur Verfügung stellt. § 6 AnfG Gesellschafterdarlehen (1) 1Anfechtbar ist eine Rechtshandlung, die für die Forderung eines Gesellschafters auf Rückgewähr eines Darlehens im Sinne des § 39 Abs. 1 Nr. 5 der Insolvenzordnung oder für eine gleichgestellte Forderung 1. Sicherung gewährt hat, wenn die Handlung in den letzten zehn Jahren vor Erlangung des vollstreckbaren Schuldtitels oder danach vorgenommen worden ist, oder 2. Befriedigung gewährt hat, wenn die Handlung im letzten Jahr vor Erlangung des vollstreckbaren Schuldtitels oder danach vorgenommen worden ist. Wolfgang Servatius

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2

Wurde ein Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nach § 26 Abs. 1 der Insolvenzordnung abgewiesen, bevor der Gläubiger einen vollstreckbaren Schuldtitel erlangt hat, so beginnt die Anfechtungsfrist mit dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens.

(2) 1Die Anfechtung ist ausgeschlossen, wenn nach dem Schluss des Jahres, in dem der Gläubiger den vollstreckbaren Schuldtitel erlangt hat, drei Jahre verstrichen sind. 2 Wurde die Handlung später vorgenommen, so ist die Anfechtung drei Jahre nach dem Schluss des Jahres ausgeschlossen, in dem die Handlung vorgenommen worden ist. § 6a AnfG Gesicherte Darlehen 1

Anfechtbar ist eine Rechtshandlung, mit der eine Gesellschaft einem Dritten für eine Forderung auf Rückgewähr eines Darlehens innerhalb der in § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 genannten Fristen Befriedigung gewährt hat, wenn ein Gesellschafter für die Forderung eine Sicherheit bestellt hatte oder als Bürge haftete; dies gilt sinngemäß für Leistungen auf Forderungen, die einem Darlehen wirtschaftlich entsprechen. 2 § 39 Abs. 4 und 5 der Insolvenzordnung und § 6 Abs. 2 gelten entsprechend. § 11 AnfG Rechtsfolgen (1) 1Was durch die anfechtbare Rechtshandlung aus dem Vermögen des Schuldners veräußert, weggegeben oder aufgegeben ist, muß dem Gläubiger zur Verfügung gestellt werden, soweit es zu dessen Befriedigung erforderlich ist. 2Die Vorschriften über die Rechtsfolgen einer ungerechtfertigten Bereicherung, bei der dem Empfänger der Mangel des rechtlichen Grundes bekannt ist, gelten entsprechend. 3Eine Geldschuld ist nur zu verzinsen, wenn die Voraussetzungen des Schuldnerverzugs oder des § 291 des Bürgerlichen Gesetzbuchs vorliegen; ein darüber hinausgehender Anspruch auf Herausgabe von Nutzungen eines erlangten Geldbetrags ist ausgeschlossen. (2) 1Der Empfänger einer unentgeltlichen Leistung hat diese nur zur Verfügung zu stellen, soweit er durch sie bereichert ist. 2Dies gilt nicht, sobald er weiß oder den Umständen nach wissen muß, daß die unentgeltliche Leistung die Gläubiger benachteiligt. (3) 1Im Fall der Anfechtung nach § 6a hat der Gesellschafter, der die Sicherheit bestellt hatte oder als Bürge haftete, die Zwangsvollstreckung in sein Vermögen bis zur Höhe des Betrags zu dulden, mit dem er als Bürge haftete oder der dem Wert der von ihm bestellten Sicherheit im Zeitpunkt der Rückgewähr des Darlehens oder der Leistung auf die gleichgestellte Forderung entspricht. 2Der Gesellschafter wird von der Verpflichtung frei, wenn er die Gegenstände, die dem Gläubiger als Sicherheit gedient hatten, dem Gläubiger zur Verfügung stellt. I.

Allgemeines, Regelungsgehalt

1 Gewährt ein Aktionär seiner AG ein Darlehen, führte das früher zu einer materiell-rechtlichen Verstrickung des Finanzierungsbeitrags nach den sog. Rechtsprechungsregeln des Eigenkapitalersatzrechts sowie zu einer insolvenzrechtlichen Subordination entsprechend §§ 32a, 32b GmbHG. Im Zuge des MoMiG wurde dieses zweispurige Konzept grundlegend umgestaltet und auf eine rein insolvenzrechtliche Grundlage gestellt. Gemäß § 57 Abs. 1 Satz 4 findet eine Einbeziehung dieser Gesellschafterfremdfinanzierung in die Kapitalbindung der AG nicht mehr statt. Tatbestand und Rechtsfolgen richten sich nunmehr allein nach §§ 39, 135 InsO bzw. § 6 AnfG. Die Regelungen unterfallen Art. 7 Abs. 1 EuInsVO

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und sind daher auch auf Auslandsgesellschaften anwendbar.1) Im Zuge der COVID-19Pandemie hat der Gesetzgeber Privilegierungen für die Umqualifizierung von Gesellschafterdarlehen vorgesehen.2) Die insolvenzrechtliche Subordination von Gesellschafterdarlehen oder vergleichbarer Fi- 2 nanzierungshilfen folgt aus § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO. Hiernach sind Forderungen eines Aktionärs auf Rückzahlung nur nachrangig zu befriedigen, insbesondere im Verhältnis zu den Insolvenzgläubigern gemäß § 38 InsO. Wird ein Gesellschafterdarlehen vor Insolvenzeröffnung zurückgezahlt, ist dies gemäß § 135 Abs. 1 InsO anfechtbar; § 135 Abs. 2 InsO erweitert die Anfechtungsmöglichkeit für den Fall, dass ein Drittdarlehen zurückgezahlt wurde, welches ein Aktionär besichert hatte. Die insolvenzrechtliche Subordination von Gesellschafterdarlehen gilt gemäß § 39 Abs. 4 Satz 1 InsO für alle Gesellschaften, bei denen nicht mindestens eine natürliche Person für die Verbindlichkeiten unbeschränkt haftet. Gemäß § 39 Abs. 4 Satz 2 InsO wird ein Sanierungsprivileg begründet, gemäß § 39 Abs. 5 InsO ein Kleinbeteiligungsprivileg. Für die nutzungsweise Überlassung von Gegenständen an eine Gesellschaft schränkt § 135 Abs. 3 InsO die Geltendmachung eines Aussonderungsrechts für einen gewissen Zeitraum ein. Außerhalb des Insolvenzverfahrens sehen §§ 6, 6a AnfG entsprechende Anfechtungsrechte für die Gläubiger vor. II.

Grundlagen des Rechts der Gesellschafterdarlehen

Dass der Gesetzgeber mit der Neuregelung vor allem Rechtssicherheit gegenüber dem 3 früheren komplizierten Eigenkapitalersatzrecht schaffen wollte, steht außer Streit. Insofern ist es im Ausgangspunkt zu begrüßen, dass nunmehr sämtliche Gesellschafterfremdfinanzierungen in der Insolvenz subordiniert werden, ohne dass es auf eine wie auch immer zu kennzeichnende Krisenfinanzierung ankäme.3) Gleichwohl ist die Herausarbeitung der materiellen Legitimation der Neuregelung wichtig, um die verschiedensten Einzelprobleme auf der Grundlage eines schlüssigen und überzeugenden Regelungssystems zusammenzufassen und kohärent zu lösen. Als Grundlage für die Subordination und damit letztlich der Umqualifizierung des 4 Fremdkapitals in Eigenkapital4) werden verschiedene Ansätze vorgebracht: –

Ausgleich für das Privileg der beschränkten Haftung,5)



Gesellschafterfremdfinanzierung als Missbrauch der Haftungsbeschränkung,6)



Gesellschafterdarlehen als Mittel zur Insolvenzverschleppung,7)



Schaffung einer Gefahrenlage für den Rechtsverkehr,8)



Doppelrolle von Gesellschafter und Kreditgeber.9)

Allein Letzteres ist überzeugend. Das neue Recht der Gesellschafterdarlehen knüpft an 5 eine bereits vom Reichsgericht begründete Argumentation an, wonach niemand sein eigener _____________ 1) 2) 3)

4) 5) 6) 7) 8) 9)

BGH, Urt. v. 21.7.2011 – IX ZR 185/10, ZIP 2011, 1775. Einzelheiten bei Servatius, Der Konzern 2020, 281. BGH, Beschl. v. 30.4.2015 – IX ZR 196/13, ZIP 2015, 1130, dazu EWiR 2015, 547 (Berjasevic); BAG, Urt. v. 27.3.2014 – 6 AZR 204/12, ZIP 2014, 927, dazu EWiR 2014, 327 (Bork); dem alten Krisenbegriff anhängend jedoch Bork, ZGR 2007, 250, 257, 269; Altmeppen, NJW 2008, 3601, 3605; Thiessen, ZIP 2007, 253, 257; Mock, DStR 2008, 1645, 1647. Freilich vorrangig gegenüber dem Liquidationsüberschuss i. S. von § 199 Satz 2 InsO zurückzuzahlen. So Huber/Habersack, BB 2006, 1, 2 als die „geistigen Väter“ der Reform. So Huber in: FS Priester, S. 259, 277 f. So Haas/Oechsler, NZG 2006, 806, 808. So Schäfer, ZInsO 2010, 1311, 1313. Haas, ZInsO 2007, 617, 626.

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Gläubiger sein dürfe.10) Diese an sich überzeugende, die Eigenständigkeit der juristischen Person stark relativierende Prämisse bedarf jedoch einer wichtigen Einschränkung, die auch über das Kleinbeteiligungsprivileg gemäß § 39 Abs. 5 InsO Berücksichtigung fand: Zurückgesetzt werden nur die Forderungen derjenigen, die aufgrund ihrer – kollektiven – Herrschaftsmacht das Insolvenzrisiko steuern konnten.11) Es sind zwei miteinander unvereinbare Verhaltensweisen (gesetzliche Umqualifizierung gemäß der protestatio facto contraria-Regel), wenn die mit Herrschaftsmacht versehenen Gesellschafter sich in der Insolvenz auf die formal durchaus differenzierte Doppelrolle berufen, um auf Kosten der übrigen Gläubiger (Quotenschmälerung) wie ein den gesetzlichen Regeltypen entsprechender außenstehender und vor allem einflussloser Gläubiger behandelt zu werden. 6 Insofern ist die Neuregelung nichts anderes als die konsequente Fortentwicklung der ökonomisch sinnvollen Steuerungsfunktion des Eigenkapitalrisikos: Indem diejenigen, die unternehmerische Verantwortung übernehmen, gezwungen werden, im Umfang des selbst hingegebenen Kapitals vorrangig für die Verluste einstehen zu müssen, werden die für das unternehmerische Handeln notwendigen einflusslosen Fremdkapitalgeber und sonstigen Gläubiger geschützt und damit die Möglichkeiten für die Unternehmensfinanzierung insgesamt verbessert.12) Dieser Begründungsansatz hat nichts mit der Haftungsbeschränkung zu tun, sondern gilt über § 39 Abs. 4 Satz 1 InsO hinaus auch bei den Gesellschaftsformen, bei denen eine natürliche Person für die Verbindlichkeiten haftet.13) Eine hierauf gestützte allgemeine Finanzierungsregel ermöglicht und bedingt schließlich, auch Nichtgesellschafter in den Adressatenkreis einzubeziehen, wenn sie tatsächlich oder mittels Covenants in die verbandsinterne Willlensbildung integriert sind.14) III.

Erfasste Rechtsformen

7 Dass das Recht der Gesellschafterdarlehen für die AG gilt, folgt aus § 39 Abs. 4 Satz 1 InsO. Wegen der dahinterstehenden allgemeinen Finanzierungsregel (siehe oben Rz. 6) gilt es trotz einer etwaigen Haftung natürlicher Personen auch bei der KGaA und der Vorgesellschaft. Gemäß § 24 UBGG gilt das Recht der Gesellschafterdarlehen nicht bei Unternehmensbeteiligungsgesellschaften. Eine Bereichsausnahme für das Recht der Gesellschafterdarlehen bei Unternehmen des Finanzsektors folgt aus § 18 FMStBG. IV.

Tatbestand

1.

Darlehensgewährung oder vergleichbare Rechtshandlung

8 Ohne weiteres von § 39 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 InsO erfasst sind Gelddarlehen i. S. von § 488 BGB, auch im Cash Pool (sog. Downstream Loan).15) Ein Sachdarlehen i. S. von § 607 BGB fällt ebenfalls darunter, wird aber als Nutzungsüberlassung gemäß § 135 Abs. 3 InsO behandelt (siehe unten Rz. 28 f.). Wird über einen vom Aktionär gewährten Finanzierungsbeitrag keine rechtsgeschäftliche Abrede getroffen bzw. ist diese nicht beweisbar, ändert dies an der Einbeziehung in § 39 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 InsO nichts, um Missbräuchen vorzubeugen. Wurde ein Darlehensvertrag lediglich geschlossen, die Valuta jedoch noch nicht ausgezahlt, scheidet eine Subordination aus. Insofern kann eine Zahlungspflicht allein aufgrund einer _____________ 10) 11) 12) 13) 14) 15)

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RG, Urt. v. 16.11.1937 – II 70/337, JW 1938, 862, 864. Zum Ganzen ausführlich Servatius, Gläubigereinfluss durch Covenants, 2008, S. 426 ff. So auch Baumbach/Hueck-Hueck/Fastrich, GmbHG, Anh. § 30 Rz. 6. Servatius, Gläubigereinfluss durch Covenants, 2008, S. 567 ff. Servatius, Gläubigereinfluss durch Covenants, 2008, S. 531 ff. Zur Geltung im Cash Pool kritisch Burg/Westerheide, BB 2008, 62, 64.

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rechtsgeschäftlichen Bindung begründet werden (Ausschluss des Kündigungsrechts, Finanzplankredit).16) Einbezogen werden auch Forderungen aus Rechtshandlungen, die einem Darlehen wirt- 9 schaftlich entsprechen.17) Einer Einbeziehung zugänglich sind daher im Ausgangspunkt alle Forderungen, die entgegen § 271 Abs. 1 BGB – rechtlich oder faktisch – gestundet werden.18) Die begriffliche Weite dieses Merkmals kann indessen nur über eine teleologische Betrachtung sinnvoll eingegrenzt werden. Richtigerweise fallen nur Forderungen hierunter, die eine Kreditfunktion aufweisen. Dies ist nur dann gegeben, wenn der Aktionär oder einzubeziehende Dritte der AG die Mittel für einen längeren Zeitraum überlässt (im Regelfall mindestens drei Monate).19) Die kurzfristige Nichtgeltendmachung einer Forderung oder die Forderung aus gewöhnlichen Austauschgeschäften begründet damit für sich genommen noch keine Subordination. Dies fügt sich auch in die Rechtsentwicklung ein, denn kurzfristige Überbrückungsdarlehen waren bereits nach dem früheren Eigenkapitalersatzrecht nach allgemeiner Meinung privilegiert.20) Vgl. im Übrigen auch die zeitlichen Grenzen für die Annahme eines Bargeschäfts i. S. von § 142 InsO als anfechtungsrechtliche Privilegierung.21) Eine stille Beteiligung fällt hingegen regelmäßig unter die gesetzliche Subordination,22) ebenso stehengelassene Dividenden,23) nicht hingegen Forderungen eines Aktionärs gegen die AG wegen kapitalmarktrechtlicher Schadensersatzansprüche gemäß § 97, 98 WpHG.24) 2.

Durch einen Aktionär

Ist jemand bei der Darlehensgewährung und im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung Aktionär, 10 ist das Darlehen unproblematisch verstrickt. Auf eine Eintragung ins Aktienregister (§ 67) kommt es nicht an. Verliert der Darlehensgeber vor Insolvenzeröffnung seine Aktionärsstellung (z. B. durch Veräußerung der Aktien), bleibt das Darlehen grundsätzlich verstrickt, um Missbräuche zu verhindern.25) Erfolgt der Verlust der Aktionärsstellung hingegen außerhalb der Fristen gemäß § 135 Abs. 1 InsO, scheidet die Subordination aus.26) Wechselt die Gläubigerstellung infolge einer Abtretung, wirkt die Verstrickung gemäß § 404 BGB gegenüber dem Rechtsnachfolger fort, ohne dass es auf dessen Kenntnis hiervon ankäme; § 145 InsO ist insoweit nicht anwendbar.27) Aktionär und Zessionar haften insoweit als Ge_____________ 16) Vgl. BGH, Urt. v. 28.6.1999 – II ZR 272/98, ZIP 1999, 1263 = DStR 1999, 1198, dazu EWiR 1999, 843 (Dauner-Lieb). 17) Vgl. OLG Koblenz, Hinweisbeschl. v. 21.12.2015 – 3 U 891/15, ZIP 2016, 1133, dazu EWiR 2016, 605 (Kessler/Hagemann). 18) BGH, Urt. v. 10.7.2014 – IX ZR 192/13, Rz. 50, ZIP 2014, 1491, dazu EWiR 2014, 561 (Ries) – Stehenlassen von Gehaltsforderungen durch einen Gesellschafter; vgl. auch BAG, Urt. v. 27.3.2014 – 6 AZR 204/12, ZIP 2014, 927. 19) BGH, Urt. v. 11.7.2019 – IX ZR 210/18, NZG 2019, 1192 = ZIP 2019, 1675; vgl. auch BGH, Urt. v. 10.7.2014 – IX ZR 192/13, Rz. 50, ZIP 2014, 1491; vgl. für stehengelassene Gewinne OLG Koblenz, Urt. v. 15.10.2013 – 3 U 365/13, ZIP 2013, 2325; weitergehend Huber/Habersack, BB 2006, 1, 2; vgl. zum Ganzen auch Felsch, ZIP 2021, 123. 20) Vgl. BGH, Urt. v. 17.7.2006 – II ZR 106/05, ZIP 2006, 2130, dazu EWiR 2007, 107 (Thonfeld). 21) Hierauf abstellend OLG Schleswig, Beschl. v. 29.5.2013 – 9 U 15/13, ZIP 2013, 1485, dazu EWiR 2013, 689 (d’Avoine); in diese Richtung ebenso BGH, Urt. v. 10.7.2014 – IX ZR 192/13, Rz. 51, ZIP 2014, 1491. 22) Vgl. BGH, Beschl. v. 23.11.2017 – IX ZR 218/16, ZIP 2017, 2481, dazu EWiR 2018, 181 (Ch. Keller). 23) Vgl. BGH, Urt. v. 17.12.2020 – IX ZR 122/19, ZIP 2021, 93 = NJW-RR 2021, 119. 24) Bitter/Jochum, ZIP 2021, 653; abweichend Thole, ZIP 2020, 2533. 25) So die h. M. zum alten Recht, vgl. BGH, Urt. v. 19.9.2005 – II ZR 229/05, ZIP 2005, 2016, 2017. 26) Dahl/Schmitz, NZG 2009, 325, 326. 27) Vgl. BGH, Urt. v. 21.2.2013 – IX ZR 32/12, ZIP 2013, 582 = NZG 2013, 469, dazu EWiR 2013, 217 (Bork).

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samtschuldner.28) Auch hier gilt jedoch, dass eine Abtretung außerhalb der Anfechtungsfrist gemäß § 135 Abs. 1 InsO die Verstrickung entfallen lässt29) (vgl. aber die weitergehende Möglichkeit der Vorsatzanfechtung gemäß § 133 InsO, § 3 AnfG). Erwirbt umgekehrt ein Aktionär nachträglich von einem Dritten eine entsprechende Kreditforderung, führt dies in jedem Fall zu einer Subordination. 3.

Kleinbeteiligungsprivileg

11 Gemäß § 39 Abs. 5 InsO gilt die Subordination nicht für Darlehen von nicht geschäftsführenden Gesellschaftern, die mit 10 % oder weniger am Haftkapital beteiligt sind. Auf die AG übertragen ist auf die Beteiligung am Grundkapital abzustellen, bezogen auf den Nennwert der Aktien bzw. die Anzahl der Stückaktien (vgl. § 8 Abs. 4). Auf ein Agio oder sonstige freiwillige Zuzahlungen ist nicht abzustellen. 12 Der Begriff der Geschäftsführung ist untechnisch zu verstehen und weit auszulegen, weil der Subordination nur diejenigen entgehen sollen, die das Insolvenzrisiko nicht steuern konnten (siehe oben Rz. 4 f.). Das Kleinbeteiligungsprivileg greift daher nur, wenn der Aktionär weder rechtlich noch tatsächlich Einfluss auf die Unternehmensleitung nimmt. Die Schwelle ist nicht so hoch anzusetzen wie dies allgemein bei der Figur des faktischen Geschäftsführers erfolgt; vor allem ist kein Auftreten nach außen erforderlich. Die bloße Mitgliedschaft im Aufsichtsrat genügt hingegen nicht; wohl aber das koordinierte Vorgehen von Kleingesellschaftern.30) 13 Im Hinblick auf den maßgeblichen Zeitpunkt für die Privilegierung sind folgende Konstellationen zu unterscheiden: –

Das Kleinbeteiligungsprivileg gilt unproblematisch, wenn die Voraussetzungen sowohl bei Darlehensgewährung als auch bei Insolvenzeröffnung vorliegen.



Verliert der Darlehensgeber die Privilegierung nach Darlehensgewährung, erfolgt eine Subordination.



Erlangt ein Aktionär nach Darlehensgewährung die Privilegierung, befreit ihn das von der Subordination nur, wenn der Eintritt der Privilegierung außerhalb der Anfechtungsfristen gemäß § 135 Abs. 1 InsO erfolgte.31)

4.

Einbeziehung Dritter

14 Bereits nach dem früheren Eigenkapitalersatzrecht war die Einbeziehung Dritter möglich; hieran hat sich trotz der fehlenden ausdrücklichen Regelung in § 39 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 InsO im Grundsatz nichts geändert.32) Problematisch und wegen der grundlegenden Neuregelung des Rechts der Gesellschafterdarlehen nicht abschließend geklärt sind jedoch die dogmatische Rechtfertigung der Gleichstellung und ihre Reichweite.33) _____________ 28) BGH, Urt. v. 21.2.2013 – IX ZR 32/12, ZIP 2013, 582 = NZG 2013, 469. 29) Vgl. BGH, Urt. v. 21.2.2013 – IX ZR 32/12, ZIP 2013, 582 = NZG 2013, 469; Altmeppen, NJW 2008, 3601, 3603 f. 30) BGH, Urt. v. 9.5.2005 – II ZR 66/03, NZG 2005, 712, 713 = ZIP 2005, 1316 – zum alten Recht. 31) Altmeppen, NJW 2008, 3601, 3604 f. 32) So auch AG Hamburg, Beschl. v. 19.2.2010 – 67g IN 127/06, NZI 2010, 446; die Frage offenlassend BFH, Urt. v. 29.8.2000 – VIII R 7/99, NZG 2001, 477, 478; zum Ganzen Servatius, Gläubigereinfluss durch Covenants, 2008, S. 453 ff.; abweichend jedoch Habersack, ZIP 2007, 2145, 3148; Freitag, WM 2007, 1681, 1682. 33) Diese Frage bewusst weitgehend offenlassend BGH, Urt. v. 17.2.2011 – IX ZR 131/10, NZG 2011, 477 = ZIP 2011, 575, dazu EWiR 2011, 285 (Spliedt).

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Aktionärsdarlehen a)

Aus Gründen des Umgehungsschutzes

Im Ergebnis dem früheren Recht ähnlich ist die Einbeziehung Dritter bei Umgehungs- 15 sachverhalten. Ist der Fremdkapitalgeber einem Aktionär wegen wirtschaftlicher oder verwandtschaftlicher Verbundenheit zurechenbar, führt dies gleichermaßen zur Subordination des Finanzierungsbeitrags, als wenn der Aktionär das Darlehen selbst gewährt hätte.34) Die Einziehung erfolgt daher vor allem bei Treuhandgestaltungen35) sowie bei der Einschaltung von Zwischengesellschaften.36) Auf § 138 InsO kann jedoch nicht ohne weiteres abgestellt werden.37) Bei Familienangehörigen und verbundenen Unternehmen ist vielmehr im Einzelfall zu fragen, ob die gewährten Mittel dem Darlehensgeber von einem Aktionär wirtschaftlich zur Verfügung gestellt wurden.38) Ein gesellschaftsrechtlich begründeter Einfluss des hiernach gleichzustellenden Dritten ist richtigerweise nicht erforderlich.39) Eine hierauf gestützte Einbeziehung liegt indessen nicht vor, wenn ein außenstehender Dritter einem Aktionär und dessen Ehefrau ein Darlehen gewährt, welches dieser zur Gewährung eines Darlehens an die Gesellschaft verwendet.40) b)

Wegen der Einflussnahme

Problematisch ist auch, ob Dritte allein wegen ihrer Einflussnahme einbezogen werden 16 können, was insbesondere für Kreditinstitute relevant ist, die sich über Covenants umfangreiche Mitwirkungsrechte einräumen lassen. Hierbei ist zunächst zu bedenken, dass die Neuregelung wegen der fehlenden Anknüpfung an die Krisenfinanzierung nicht mehr als Ausprägung des Gebots zur ausreichenden Kapitalausstattung von Gesellschaften durch ihre Gesellschafter verstanden werden kann. Es handelt sich vielmehr um eine allgemeinere Finanzierungsregel, wonach niemand, der das Insolvenzrisiko steuern konnte, beim unternehmerischen Scheitern sein eigener Gläubiger sein darf (siehe oben Rz. 4 ff.). Dies bedingt, dass die Möglichkeit zur Einbeziehung Dritter gegenüber dem früheren Eigenkapitalersatzrecht sogar noch weiter möglich und geboten ist (sehr streitig).41) Im Kern fällt nunmehr jeder Kapitalgeber hierunter, der rechtlich oder tatsächlich in den verbandsinternen Willensbildungsprozess integriert ist und dadurch unternehmerische Verantwortung unternimmt.42) Maßgeblich ist allein die Einflussnahme; eine anderweitige, d. h. nicht über den Fremdfinanzierungsbeitrag vermittelte vermögensmäßige Beteiligung _____________ 34) Vgl. nur Gehrlein, BB 2008, 846, 850. 35) BGH, Urt. v. 17.2.2011 – IX ZR 131/10, NZG 2011, 477, 479 = ZIP 2011, 575; BGH, Urt. v. 25.6.2020 – IX ZR 243/18, ZIP 2020, 1468 = NZG 2020, 994; BGH, Urt. v. 5.5.2008 – II ZR 108/07, ZIP 2008, 1230 = NZG 2008, 507, dazu EWiR 2008, 463 (Jungclaus/Keller) – zum alten Recht. 36) Vgl. OLG Hamm, Urt. v. 16.2.2017 – I-27 U 83/16, ZIP 2017, 2162 = BeckRS 2017, 110875, dazu EWiR 2017, 83 (Berjasevic/Dölves); BGH, Beschl. v. 23.11.2017 – IX ZR 218/16, ZIP 2017, 2481; BGH, Urt. v. 15.11.2018 – X ZR 39/18, NZG 2019, 235 = ZIP 2019, 182. 37) BGH, Urt. v. 17.2.2011 – IX ZR 131/10, NZG 2011, 477 = ZIP 2011, 575. 38) BGH, Urt. v. 17.2.2011 – IX ZR 131/10, NZG 2011, 477, 479 = ZIP 2011, 575; BGH, Urt. v. 21.2.2013 – IX ZR 32/12, ZIP 2013, 582 = NZG 2013, 469. 39) Vgl. OLG Jena, Beschl. v. 18.11.2015 – 1 U 503/15, ZIP 2016, 1134 = ZInsO 2016, 1758. 40) Vgl. BGH, Urt. v. 27.2.2020 – IX ZR 337/18, NZG 2020, 559 = ZIP 2020, 723. 41) Abweichend Habersack, ZIP 2007, 2145, 2148 f.; Huber in: FS Priester, S. 259, 280; Freitag, WM 2007, 1681, 1682, alle im Wesentlichen darauf abstellend, dass es den Kreditgebern nur darum ginge, ihr Kreditgeberinteresse zu verwirklichen, was sich von den Gesellschafterinteressen unterscheide und damit eine Gleichstellung ausschließe; zum einflussnehmenden Fremdkapitalgeber als faktischen Unternehmenseigentümer jedoch Servatius, Gläubigereinfluss durch Covenants, 2008, S. 372 ff.; vgl. zur Mezzanin-Finanzierung auch OLG Düsseldorf, Urt. v. 20.5.2014 – I-12 U 87/13, ZIP 2015, 187 = WM 2014, 2218. 42) Servatius, Gläubigereinfluss durch Covenants, 2008, S. 481 ff.

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Anhang zu § 57

Aktionärsdarlehen

an der AG ist nicht erforderlich (streitig).43) Ein bloßer Informationsvorsprung genügt hingegen nicht.44) Indem die Einfluss nehmenden Fremdkapitalgeber sich gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 InsO in der Insolvenz nicht auf Kosten der Insolvenzgläubiger i. S. von § 38 InsO (Quotenschmälerung) auf die Rolle eines dem gesetzlichen Regeltyp der Fremdfinanzierung entsprechenden einflusslosen Kreditgebers berufen dürfen, werden die für eine Unternehmensfinanzierung ebenfalls benötigten einflusslosen Kreditgeber (Non-adjusting Creditors) geschützt und die Möglichkeiten der Unternehmensfinanzierung erleichtert. 17 Einzelfälle: Nach dem Vorgesagten einzubeziehen sind daher nicht nur Covenant-unterlegte Kredite von Kreditinstituten,45) sondern auch atypische stille Gesellschafter,46) atypische Nießbraucher und Pfandgläubiger.47) 5.

Sanierungsprivileg

18 Gemäß § 39 Abs. 4 Satz 2 InsO erfolgt keine Subordination für bestehende oder neu gewährte Kredite, wenn ein Gläubiger bei drohender oder eingetretener Zahlungsunfähigkeit (§§ 17, 18 InsO) der AG oder Überschuldung (§ 19 InsO) Aktien zum Zweck der Sanierung erwirbt.48) a)

Aktienerwerb

19 Die Regelung setzt nach zutreffender Ansicht voraus, dass der Kapitalgeber bislang nicht Adressat des Rechts der Gesellschafterdarlehen war. Dies folgt aus der zutreffenden Prämisse des neuen Rechts, wonach diejenigen, die die Krise verursacht haben, die Verluste mit ihrem investierten Kapital vorrangig tragen sollen und sich konsequenterweise auch nachträglich nicht davon befreien können (siehe oben Rz. 4 ff.). Insofern scheidet das Sanierungsprivileg aus, wenn ein bereits maßgeblich beteiligter Aktionär ein „Sanierungsdarlehen“ gibt.49) Ein bislang gemäß § 39 Abs. 5 InsO kleinbeteiligter Aktionär (siehe oben Rz. 11 f.) kann beim Hinzuerwerb von Aktien jedoch durchaus in den Genuss des Sanierungsprivilegs gelangen. Bei der Einbeziehung Dritter in das Recht der Gesellschafterdarlehen gilt das Sanierungsprivileg sinngemäß.50) b)

Zum Zweck der Sanierung

20 Die Privilegierung greift nur, wenn der Anteilserwerb (nicht: die Darlehensgewährung!) zum Zweck der Sanierung erfolgt. Dies bedeutet subjektiv Sanierungsabsicht, objektiv jedoch auch die Sanierungsfähigkeit der AG aus der ex-ante-Perspektive.51) Die Privilegierung gilt solange, bis die Sanierung nachhaltig erfolgt ist; wird das Darlehen dann nicht abgezogen, droht die Subordination.52) _____________ 43) Servatius, CFL 2013, 14, 19 f.; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 57 Rz. 52; abweichend Engert, ZGR 2012, 835, 854. 44) Servatius, Gläubigereinfluss durch Covenants, 2008, S. 526 ff.; BGH, Urt. v. 17.2.2011 – IX ZR 131/10, NZG 2011, 477, 479 = ZIP 2011, 575. 45) Zu den Voraussetzungen im Einzelnen Servatius, Gläubigereinfluss durch Covenants, 2008, S. 538 ff. 46) BGH, Urt. v. 7.11.1988 – II ZR 46/88, BGHZ 106, 7, 9 ff. = ZIP 1989, 95 – zum alten Recht. 47) BGH, Urt. v. 13.7.1992 – II ZR 251/91, BGHZ 119, 191 = ZIP 1992, 1300 – zum alten Recht. 48) Einzelheiten bei Hirte/Knof, WM 2009, 1961. 49) Abweichend Altmeppen, NJW 2008, 3601, 3605; kritisch zum engen Anwendungsbereich der Neuregelung Bork, ZGR 2007, 250, 259. 50) Einzelheiten bei Servatius, Gläubigereinfluss durch Covenants, 2008, S. 553 ff. 51) Zum alten Recht bereits BGH, Urt. v. 21.11.2005 – II ZR 277/03, ZIP 2006, 279 = NJW 2006, 1283, dazu EWiR 2006, 525 (Westpfahl/Janjuah). 52) Einzelheiten bei Wittig in: FS K. Schmidt, S. 1473, 1756 ff.

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Anhang zu § 57

Aktionärsdarlehen V.

Rechtsfolgen

1.

Insolvenzrechtliche Subordination

a)

Rückerstattungsanspruch

Wird ein Darlehen bzw. eine vergleichbare Rechtshandlung durch § 39 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 21 InsO verstrickt, folgt hieraus eine spezielle insolvenzrechtliche Subordination des Rückerstattungsanspruchs; eine materiell-rechtliche Bindung des Finanzierungsbeitrags erfolgt nicht mehr (vgl. § 57 Abs. 1 Satz 4). Der Aktionär oder gleichgestellte Dritte kann seine Forderung gemäß § 174 Abs. 3 InsO nur nach Aufforderung durch das Insolvenzgericht anmelden. Die Befriedigung erfolgt nachrangig, d. h. erst, nachdem die Insolvenzgläubiger i. S. von § 38 InsO sowie die gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 – 4 InsO nachrangigen Gläubiger befriedigt wurden (zum generellen Befriedigungsvorrang der Masseverbindlichkeiten vgl. §§ 53 ff. InsO). Im Verhältnis zur Verteilung des – noch vorhandenen! – Grundkapitals gemäß § 199 Satz 2 InsO haben die Forderungen aus Gesellschafterdarlehen jedoch Vorrang. Wurden andere Forderungen mit einem Rangrücktritt versehen (vgl. § 39 Abs. 2 InsO), ist es Auslegungsfrage, ob dieser auch die vorrangige Befriedigung der Gesellschafterdarlehen ermöglicht, einen Gleichrang oder eine vorrangige Befriedigung der mit einem Rangrücktritt versehenen Forderungen vorsieht.53) Will ein Aktionär die Passivierung beim Überschuldungsstatus verhindern, muss er jedoch einen Rangrücktritt erklären, der über die Rechtsfolgen von § 39 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 InsO hinausgeht (siehe unten Rz. 27). b)

Zinsen

Die Zinsen werden nach zutreffender Ansicht ebenfalls verstrickt (vgl. § 39 Abs. 3 InsO).54) 22 Die Begründung hierfür folgt aus der mit der Subordination der Darlehensvaluta einhergehenden Zuweisung einer Eigenkapitalfunktion. Wenngleich es sich zwar nur um eine insolvenzrechtliche Rückstufung handelt und keine materiell-rechtliche Umqualifizierung des Finanzierungsbeitrags mehr erfolgt, handelt es sich funktional betrachtet doch nach wie vor um eine Gleichstellung des Finanzierungsbeitrags mit Eigenkapital, um so dessen Ingangsetzungsfunktion auf alle Arten der mit Herrschaftsmacht versehenen Aktionäre auszudehnen (siehe bereits oben Rz. 4 ff.).55) Insofern sind die Früchte des mit Eigenkapitalfunktion versehenen Kapitals nicht anders zu beurteilen als der Kapitalstock selbst.56) Der Aktionär kann daher in der Insolvenz gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 InsO seine Zinsansprüche ebenfalls nur nachrangig geltend machen. Vor Insolvenzeröffnung geleistete Zinszahlungen sind gemäß § 135 InsO anfechtbar.57) c)

Darlehensversprechen

Wurde ein Darlehensvertrag lediglich geschlossen, jedoch die Valuta noch nicht ausge- 23 zahlt, scheidet eine Subordination aus. Insofern kann eine Zahlungspflicht allein aufgrund einer rechtsgeschäftlichen Bindung begründet werden (Ausschluss des Kündigungsrechts, Finanzplankredit).58) _____________ 53) Einzelheiten bei Sutter/Fiedler, ZInsO 2011, 552. 54) Zum Ganzen Mylich, ZGR 2009, 474, 483 ff.; abweichend zum früheren Recht jedoch BGH, Urt. v. 8.11.2004 – II ZR 300/02, ZIP 2005, 82, 84; ebenfalls ablehnend Bork/Schäfer-Thiessen, GmbHG, Anh. § 30 Rz. 10, anders jedoch bei Rz. 61; Baumbach/Hueck-Hueck/Fastrich, GmbHG, Anh. § 30 Rz. 67. 55) Hierzu ausführlich Servatius, Gläubigereinfluss durch Covenants, 2008, S. 143 ff., 426 ff. 56) In diese Richtung, jedoch sehr kritisch auch Habersack, ZIP 2007, 2145, 2150. 57) Gegen die Einschränkung der Anfechtbarkeit mittels Annahme eines Bargeschäfts i. S. von § 142 Abs. 1 InsO zutreffend Haas, ZInsO 2007, 617, 623 f. 58) Vgl. BGH, Urt. v. 28.6.1999 – II ZR 272/98, ZIP 1999, 1263 = DStR 1999, 1198.

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Anhang zu § 57 2.

Aktionärsdarlehen

Anfechtbarkeit

24 Kommt es im Vorfeld der Insolvenz binnen Jahresfrist zur Rückzahlung eines Gesellschafterdarlehens, besteht die besondere, nicht an subjektive Merkmale geknüpfte Anfechtungsmöglichkeit gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO; über § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist in einem Zeitraum von zehn Jahren auch die Sicherheitenbestellung anfechtbar. Zur Anfechtung ist der Insolvenzverwalter berechtigt;59) die Rechtsfolgen ergeben sich aus §§ 143 ff. InsO. Im Fall der masselosen Insolvenz steht den Gläubigern gemäß §§ 6, 11 AnfG ein vergleichbares Anfechtungsrecht zu (Normen oben abgedruckt). Die Anfechtbarkeit setzt eine Gläubigerbenachteiligung voraus; diese wird nicht dadurch beseitigt, dass der Aktionär eine Darlehensrückgewähr dadurch kompensiert, indem er Zahlungen an die Gesellschaft leistet, soweit ihm insofern weitere Forderungen aus Gesellschafterdarlehen gegen die Gesellschaft zustehen.60) Die allgemeinen Anfechtungstatbestände gemäß §§ 129 ff. InsO werden durch § 135 InsO nicht verdrängt. Der (ebenfalls) insolvente Aktionär kann sich gegenüber dem Rückerstattungsanspruch aber nicht umgekehrt darauf berufen, dass die Darlehensgewährung als unentgeltliche Leistung anfechtbar sei.61) a)

Wegen Gewährung einer Sicherheit (§ 135 Abs. 2 Nr. 1 InsO)

25 Anfechtbar ist zunächst, wenn die AG für ein Gesellschafterdarlehen innerhalb der letzten zehn Jahre vor dem Insolvenzantrag oder danach eine Sicherung gewährt hat. Hierunter sind sämtliche dinglichen oder schuldrechtlichen Sicherungsmittel zu fassen. Sicherheiten, die ein Dritter gewährt hat, sind hiernach hingegen nicht anfechtbar. Der Aktionär, der wegen § 39 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 InsO einen Forderungsausfall erleidet, kann daher Regress nehmen. Das Bargeschäftsprivileg gemäß § 142 InsO gilt nicht.62) b)

Wegen Befriedigung (§ 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO)

26 Praktisch relevanter ist es, die insolvenznahe Darlehensrückzahlung rückgängig zu machen. Erfasst wird jede Rechtshandlung, die den Rückzahlungsanspruch zum Erlöschen brachte (Erfüllung nach §§ 362 ff. BGB, Aufrechnung nach § 389 BGB, Verwertung einer Sicherheit gemäß §§ 1147, 1247 Satz 1 BGB). Die Anfechtungsmöglichkeit erfasst nach zutreffender Ansicht auch Zinszahlungen (siehe oben Rz. 22). Die Rechtshandlung muss im letzten Jahr vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgt sein oder danach vorgenommen worden sein (Berechnung gemäß § 139 InsO; mögliche Verjährung gemäß § 146 InsO). Die Insolvenzanfechtung binnen Jahresfrist setzt nicht voraus, dass sich die AG bei Darlehensrückgewähr in einer Krise befand.63) Konsequenterweise kann der Aktionär gegenüber der Inanspruchnahme auch nicht etwa im Wege eines Gegenbeweises einwenden, zum Zeitpunkt der Rückführung des Darlehens habe kein Insolvenzgrund vorgelegen.64) Zum vorinsolvenzlichen Gläubigerwechsel und Verlust der Aktionärsstellung siehe oben Rz. 10. Sind mehrere Aktionärsdarlehen durch eine Kontokorrentabrede miteinander verbunden, was insbesondere beim Cash Pool sachgerecht ist, ist die Anfechtbarkeit der einzelnen Darlehensrückzahlungen insgesamt auf die Kreditobergrenze begrenzt.65) _____________ 59) 60) 61) 62) 63) 64) 65)

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Vgl. BGH, Urt. v. 19.9.1988 – II ZR 255/87, BGHZ 105, 168, 187 = ZIP 1988, 1248. BGH, Urt. v. 21.11.2019 – IX ZR 223/18, ZIP 2020, 128 = NZG 2020, 393. BGH, Urt. v. 13.10.2016 – IX ZR 184/14, ZIP 2016, 2483, dazu EWiR 2017, 17 (Huber). BGH, Urt. v. 14.2.2019 – IX ZR 149/16, NZG 2019, 624 = ZIP 2019, 666. Vgl. BGH, Beschl. v. 30.4.2015 – IX ZR 196/13, ZIP 2015, 1130. BGH, Beschl. v. 30.4.2015 – IX ZR 196/13, Rz. 7, ZIP 2015, 1130. Vgl. BGH, Beschl. v. 16.1.2014 – IX ZR 116/13, ZIP 2014, 785 = WM 2014, 329, dazu EWiR 2014, 289 (Spliedt); Einzelheiten bei Cahn/v. Spangenberg, BeckOGK-AktR, § 57 AktG Rz. 131 ff.

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Anhang zu § 57

Aktionärsdarlehen 3.

Passivierung im Vorfeld des Insolvenzverfahrens

Gemäß § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO (oben abgedruckt) sind die von § 39 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 27 InsO erfassten Forderungen gegen die AG im Überschuldungsstatus grundsätzlich zu passivieren; etwas anderes gilt nur, wenn der Aktionär oder einzubeziehende Dritte einen darüber hinausgehenden Nachrang gemäß § 39 Abs. 2 InsO vereinbart haben.66) 4.

Nutzungsüberlassung

Überlässt ein Aktionär oder gleichgestellter Dritter der AG einen Gegenstand zur Nut- 28 zung (d. h. ohne dingliche Rechtsänderung), beurteilt sich dies gemäß § 135 Abs. 3 InsO (oben abgedruckt).67) Gemäß § 135 Abs. 3 Satz 1 InsO ist die Geltendmachung des Aussonderungsanspruchs (vgl. § 47 InsO) während der Dauer des Insolvenzverfahrens, höchstens für eine Zeit von einem Jahr ab Insolvenzeröffnung, ausgeschlossen, wenn der Gegenstand für die Fortführung des Unternehmens von erheblicher Bedeutung ist. Letzteres entspricht § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO und setzt voraus, dass aus der ex-ante-Perspektive eine reale Sanierungschance unter Fortbestand des Unternehmens oder Teilen hiervon besteht und die fortdauernde Belassung notwendig ist, diese Chance zu realisieren. Im Zweifel ist dies zu bejahen. Wurde der Gegenstand im Vorfeld der Insolvenz abgezogen, hat die AG keinen Anspruch auf erneute Überlassung.68) Wird der Gegenstand nach dem Vorgesagten verstrickt, hat der Aktionär gemäß § 135 Abs. 3 29 Satz 2 InsO einen Vergütungsanspruch in Anlehnung an die vertragliche Gestaltung.69) Bei fehlender oder unangemessener Gestaltung ist eine marktübliche Vergütung zu zahlen. Es handelt sich hierbei um eine Masseverbindlichkeit i. S. von § 55 InsO.70) Die Regelung hat Vorrang gegenüber § 108 InsO (streitig).71) Sie gilt auch bei verbundenen Unternehmen.72) VI.

Aktionärsbesicherte Drittdarlehen

Wird das Darlehen eines (nicht bereits in § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO einzubeziehenden) Dritten 30 (d. h. „echter Dritter“) durch einen Aktionär besichert, folgt eine konsequente Fortentwicklung des Rechts der Gesellschafterdarlehen aus §§ 44a, 135 Abs. 2, 143 Abs. 3 InsO (vgl. für die masselose Insolvenz §§ 6a, 11 Abs. 3 AnfG). Den Regelungen liegt die wertungsmäßig überzeugende Prämisse zugrunde, dass die über die Subordination herbeigeführte Zuweisung einer Eigenkapitalfunktion für die aus dem Vermögen eines Aktionärs oder einzubeziehenden Dritten geleistete Sicherheit gleichermaßen geboten ist (siehe zum Schutzzweck oben Rz. 3 ff.). 1.

Anfechtbarkeit der Befriedigung (§ 135 Abs. 2 InsO)

Gemäß § 135 Abs. 2 InsO ist die Befriedigung einer derartigen Drittforderung ebenso 31 anfechtbar, wie wenn die AG das Darlehen eines Aktionärs befriedigt hätte (siehe zu § 135 _____________ 66) Einzelheiten bei BGH, Urt. v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, ZIP 2015, 638 = NZG 2015, 1121, dazu EWiR 2015, 219 (Bork); Kahlert/Gehrke, DStR 2010, 227, 230 f.; Bitter/Heim, ZIP 2015, 644 (Urteilsanm.); Haas, DStR 2009, 326, 327; Leithaus/Schaefer, NZI 2010, 844. 67) Einzelheiten bei Bitter, ZIP 2010, 1. 68) Huber/Habersack, BB 2006, 1, 5. 69) LG Kiel, Urt. v. 25.3.2011 – 17 O 229/10, ZIP 2011, 968 = DStR 2011, 1283, dazu EWiR 2011, 543 (Knof). 70) OLG Schleswig, Urt. v. 13.1.2012 – 4 U 57/11, ZIP 2012, 885 = NZG 2012, 751, dazu EWiR 2012, 321 (Lutz). 71) LG Kiel, Urt. v. 25.3.2011 – 17 O 229/10, ZIP 2011, 968 = DStR 2011, 1283. 72) BGH, Urt. v. 29.1.2015 – IX ZR 279/13, Rz. 44 ff., ZIP 2015, 589 = NZG 2015, 440, dazu EWiR 2015, 453 (Spliedt).

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349

§ 58

Verwendung des Jahresüberschusses

Abs. 1 Nr. 2 InsO oben Rz. 26).73) Als Rechtsfolge führt diese Anfechtung zwar die Rückzahlungspflicht gemäß § 143 InsO herbei; eine Subordination des wiederauflebenden Rückzahlungsanspruchs des Dritten erfolgt jedoch nicht. Dieser kann seine Forderung weiterhin als Insolvenzgläubiger gemäß § 174 InsO anmelden und auf quotale Befriedigung hoffen. 2.

Vorrangige Inanspruchnahme der Sicherheit (§ 44a InsO)

32 Der Dritte ist gemäß § 44a InsO jedoch gehalten, sich für die Befriedigung vorrangig an den Aktionär zu halten, der die Sicherheit gestellt hat; insofern erfolgt eine Einschränkung gegenüber § 43 InsO.74) 3.

Subordination der Erstattungspflicht (§ 143 Abs. 3 InsO)

33 Die dem Aktionär aus der vorrangigen Inanspruchnahme resultierenden vertraglichen oder gesetzlichen Erstattungsansprüche gegenüber der AG werden gemäß § 143 Abs. 3 InsO subordiniert.75) Im Ergebnis erfolgt so eine Gleichstellung der Gesellschaftersicherheit mit einem Gesellschafterdarlehen. _____________ 73) Vgl. BGH, Urt. v. 13.7.2017 – IX ZR 173/16, ZIP 2017, 1632 = NZG 2017, 1111; BGH, Urt. v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, ZIP 2014, 584, dazu EWiR 2014, 215 (Spliedt); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 17.12.2015 – I-12 U 13/15, ZIP 2016, 833, dazu EWiR 2016, 443 (Rendels); OLG Hamm, Urt. v. 7.4.2011 – I-27 U 94/10, ZIP 2011, 1226, dazu EWiR 2011, 679 (Spliedt). 74) BGH, Urt. v. 13.7.2017 – IX ZR 173/16, Rz. 18, ZIP 2017, 1632 = NZG 2017, 1111; Einzelheiten bei Spliedt, ZIP 2009, 149, 155 f.; K. Schmidt, BB 2008, 1966, 1970. 75) BGH, Urt. v. 13.7.2017 – IX ZR 173/16, Rz. 17, ZIP 2017, 1632 = NZG 2017, 1111; Einzelheiten bei K. Schmidt, BB 2008, 1966, 1970.

§ 58 Verwendung des Jahresüberschusses Wolfgang Servatius

(1) 1Die Satzung kann nur für den Fall, daß die Hauptversammlung den Jahresabschluß feststellt, bestimmen, daß Beträge aus dem Jahresüberschuß in andere Gewinnrücklagen einzustellen sind. 2Auf Grund einer solchen Satzungsbestimmung kann höchstens die Hälfte des Jahresüberschusses in andere Gewinnrücklagen eingestellt werden. 3Dabei sind Beträge, die in die gesetzliche Rücklage einzustellen sind, und ein Verlustvortrag vorab vom Jahresüberschuß abzuziehen. (2) 1Stellen Vorstand und Aufsichtsrat den Jahresabschluß fest, so können sie einen Teil des Jahresüberschusses, höchstens jedoch die Hälfte, in andere Gewinnrücklagen einstellen. 2Die Satzung kann Vorstand und Aufsichtsrat zur Einstellung eines größeren oder kleineren Teils des Jahresüberschusses ermächtigen. 3Auf Grund einer solchen Satzungsbestimmung dürfen Vorstand und Aufsichtsrat keine Beträge in andere Gewinnrücklagen einstellen, wenn die anderen Gewinnrücklagen die Hälfte des Grundkapitals übersteigen oder soweit sie nach der Einstellung die Hälfte übersteigen würden. 4 Absatz 1 Satz 3 gilt sinngemäß. (2a) 1Unbeschadet der Absätze 1 und 2 können Vorstand und Aufsichtsrat den Eigenkapitalanteil von Wertaufholungen bei Vermögensgegenständen des Anlage- und Umlaufvermögens in andere Gewinnrücklagen einstellen. 2Der Betrag dieser Rücklagen ist in der Bilanz gesondert auszuweisen; er kann auch im Anhang angegeben werden.

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§ 58

Verwendung des Jahresüberschusses

(3) 1Die Hauptversammlung kann im Beschluß über die Verwendung des Bilanzgewinns weitere Beträge in Gewinnrücklagen einstellen oder als Gewinn vortragen. 2Sie kann ferner, wenn die Satzung sie hierzu ermächtigt, auch eine andere Verwendung als nach Satz 1 oder als die Verteilung unter die Aktionäre beschließen. (4) Die Aktionäre haben Anspruch auf den Bilanzgewinn, soweit er nicht nach Gesetz oder Satzung, durch Hauptversammlungsbeschluß nach Absatz 3 oder als zusätzlicher Aufwand auf Grund des Gewinnverwendungsbeschlusses von der Verteilung unter die Aktionäre ausgeschlossen ist. 2Der Anspruch ist am dritten auf den Hauptversammlungsbeschluss folgenden Geschäftstag fällig. 3In dem Hauptversammlungsbeschluss oder in der Satzung kann eine spätere Fälligkeit festgelegt werden. (5) Sofern die Satzung dies vorsieht, kann die Hauptversammlung auch eine Sachausschüttung beschließen. Literatur: Baums, Rücklagenbildung und Gewinnausschüttung im Aktienrecht, in: Festschrift für Karsten Schmidt, 2009, S. 57; Dittmar, Bildung einer Sonderrücklage gemäß § 58 Abs. 2a AktG, WPg 2018, 1224; Eckardt, Satzungsänderungen auf Grund des neuen Aktiengesetzes, NJW 1967, 369; v. Gleichenstein, Satzungsmäßige Ermächtigung der Verwaltung einer Aktiengesellschaft zur Bildung freier Rücklagen (§ 58 Abs. 2 AktG 1965), BB 1966, 1047; Hasselbach/Wicke, Sachausschüttungen im Aktienrecht, NZG 2001, 599; Hoffmann-Becking, Gesetz zur „kleinen AG“, ZIP 1995, 1; Holzborn/Bunnemann, Gestaltung einer Sachausschüttung und Gewährleistung im Rahmen der Sachdividende, AG 2003, 671; Klett/Peitsmeier, Gesellschafts- und haftungsrechtliche Konsequenzen der fehlerhaften steuerlichen Behandlung von Ausschüttungen bei Kapitalgesellschaften, BB 2011, 2121; Klühs, Präsenzbonus für die Teilnahme an der Hauptversammlung, ZIP 2006, 107; Krause, Atypische Kapitalerhöhungen im Aktienrecht, ZHR 181 (2017) 641; Lutter/Leinekugel/Rödder, Die Sachdividende – Gesellschaftsrecht und Steuerrecht, ZGR 2002, 204; Müller, Die Änderungen im HGB und die Neuregelung der Sachdividende durch das Transparenz- und Publizitätsgesetz, NZG 2002, 752; Müller-Eising, Aktienrechtsnovelle 2014 – Was bringt der Regierungsentwurf Neues?, GWR 2015, 50; Priester, Kapitalherabsetzung und Gewinnausschüttung, NZG 2021, 370; Schlitt/Kreymborg, Aktiendividende – ausgewählte gesellschafts- und kapitalmarktrechtliche Aspekte, AG 2018, 685; Schnorbus/Plassmann, Die Sonderdividende, ZGR 2015, 446; Schüppen, Dividende ohne Hauptversammlungsbeschluß? – Zur Durchsetzung des mitgliedschaftlichen Gewinnanspruchs in Pattsituationen, in: Festschrift für Volker Röhricht, 2005, S. 571; Sethe, Aktien ohne Vermögensbeteiligung? – Zur privatautonomen Beschränkung der Vermögensrechte eines Aktionärs, ZHR 162 (1998) 474.

Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt .................................................. 1 II. Rücklagenbildung gemäß § 58 Abs. 1 .................................................. 2 III. Rücklagenbildung gemäß § 58 Abs. 2 .................................................. 4 1. „Hälfteregelung“ ................................ 5 2. Weitere satzungsmäßige Vorgaben ..... 6 3. Zwingende Abzugsposten ................. 7 IV. Rücklagenbildung gemäß § 58 Abs. 2a ................................................ 8

V. Gewinnverwendungsbeschluss der Hauptversammlung (§ 58 Abs. 3) ....................................... 9 1. Gewinnrücklage ................................ 10 2. Gewinnvortrag .................................. 11 3. Andere Verwendung ........................ 12 VI. Anspruch auf Bilanzgewinn (§ 58 Abs. 4) ..................................... 13 1. Bezugsgröße ..................................... 14 2. Durchsetzung ................................... 15 VII. Sachdividende (§ 58 Abs. 5) ......... 16

Wolfgang Servatius

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§ 58 I.

Verwendung des Jahresüberschusses Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

1 Die § 58 Abs. 1 – 3 regeln in Ausschnitten die Verwaltungs- und Aktionärskompetenzen zur Verwendung des Jahresüberschusses bei der AG durch Rücklagenbildung oder Gewinnausschüttung.1) Sie beruhen auf den handelsrechtlichen Regelungen zum Jahresabschluss (§§ 264 ff. HGB) und werden ergänzt durch die §§ 150 ff., 254. Sie betreffen das Spannungsfeld von Ausschüttungs- und Thesaurierungsinteresse im Vorfeld der (nachgelagerten) Gewinnverwendung gemäß § 174, indem die Kompetenz und Reichweite bei der Ausübung von Bilanzwahlrechten geregelt werden: § 58 Abs. 1 ermöglicht satzungsmäßige Vorgaben zur Dotierung von Rücklagen in den Fällen, in denen der Jahresabschluss – ausnahmsweise – von der Hauptversammlung festgestellt wird (vgl. § 173). § 58 Abs. 2 regelt dies ähnlich für die Fälle, in denen der Jahresabschluss – wie regelmäßig – von Vorstand und Aufsichtsrat festgestellt wird (vgl. § 172). Gemäß § 58 Abs. 2a ist jedoch stets möglich, dass Vorstand und Aufsichtsrat gemäß den genannten Vorgaben bei Wertaufholungen besondere Rücklagen bilden. § 58 Abs. 3 stellt klar, dass es der Hauptversammlung beim Gewinnverwendungsbeschluss gemäß § 174 unbenommen ist, aus dem – bereits durch die Rücklagenbildung gemäß § 58 Abs. 1 bis 2a reduzierten – Bilanzgewinn weitere Rücklagen zu bilden, ihn als Gewinn vorzutragen oder an die Aktionäre auszuschütten. § 58 Abs. 4 begründet das unentziehbare kollektive Recht der Aktionäre auf den Bilanzgewinn, soweit dieser nach den vorstehenden Regeln entstanden ist und dessen Verteilung nicht zulässigerweise ausgeschlossen wurde. § 58 Abs. 5 stellt klar, dass es aufgrund entsprechender Satzungsregelung auch Sachdividenden geben kann. II.

Rücklagenbildung gemäß § 58 Abs. 1

2 § 58 Abs. 1 knüpft an den Ausnahmefall an, dass die Hauptversammlung gemäß § 173 den Jahresabschluss feststellt. An sich wäre sie – i. R. der gesetzlichen Bestimmungen – frei, wie sie die Bilanzwahlrechte im Hinblick auf das Entstehen und die Höhe eines etwaigen Bilanzgewinns ausübt, insbesondere i. R. der Rücklagenbildung und -auflösung. Gemäß § 58 Abs. 1 Satz 1 kann es insofern jedoch Satzungsvorgaben zur Bildung von Gewinnrücklagen geben, an die die bei § 173 mit einfacher Mehrheit (§ 133) beschließende Hauptversammlung gebunden ist („einzustellen sind“). Es handelt sich somit um einen Fall der Selbstbindung der (künftigen) Aktionäre. Fehlt umgekehrt eine entsprechende Satzungsregelung, kommt die Dotierung der anderen Gewinnrücklagen nicht in Betracht (§§ 173 Abs. 2 Satz 2, 256 Abs. 1 Nr. 4).2) Hierdurch wird die Minderheit davor geschützt, gleichsam ohne Vorwarnung durch die großzügige Rücklagenbildung der Mehrheit „ausgehungert“ zu werden.3) Hiervon abzugrenzen ist freilich die auch in diesem Fall bestehende Möglichkeit gemäß § 58 Abs. 3, den – entstandenen – Bilanzgewinn von der Verteilung auszuschießen (siehe unten Rz. 9 ff.).4) 3 Die satzungsmäßige Vorgabe über die Rücklagendotierung muss eindeutig sein (betragsmäßig oder prozentual) und die Hauptversammlung hierzu verpflichten.5) Eine bloße Ermächtigung der Hauptversammlung ist nicht zulässig.6) Als Obergrenze sieht § 58 Abs. 1 Satz 2 vor, dass höchstens die Hälfte des Jahresüberschusses i. S. von § 275 HGB hierdurch gebunden werden darf. Gemäß § 58 Abs. 1 Satz 3 wird zudem zwingend festgelegt, _____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6)

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Zur kontroversen rechtspolitischen Würdigung Bayer in: MünchKomm-AktG, § 58 Rz. 18 ff.; Cahn/ v. Spangenberg in: BeckOGK-AktR, § 58 AktG Rz. 5 ff. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 58 Rz. 35. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 58 Rz. 6; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 58 Rz. 24. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 58 Rz. 24. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 58 Rz. 25. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 58 Rz. 6; Cahn/v. Spangenberg in: BeckOGK-AktR, § 58 AktG Rz. 24.

Wolfgang Servatius

Verwendung des Jahresüberschusses

§ 58

dass der Jahresüberschuss vorrangig um die ggf. noch notwendige Dotierung der gesetzlichen Rücklage (§ 150) zu reduzieren und ein etwaiger Verlustvortrag (§ 266 Abs. 3 A. IV HGB, § 158 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1) abzuziehen sind. In analoger Anwendung von § 58 Abs. 1 Satz 3 sind hiervon auch die zu bildende Sonderrücklage beim bedingten Kapital gemäß § 218 Satz 2 abzuziehen sowie die nach § 232 gebotene Einstellung in die Kapitalrücklage bei der Kapitalherabsetzung.7) Die Einschränkungen gemäß § 268 Abs. 8 HGB sind ebenfalls vorrangig zu berücksichtigen.8) III.

Rücklagenbildung gemäß § 58 Abs. 2

§ 58 Abs. 2 knüpft an den Regelfall gemäß § 172 an, wonach Vorstand und Aufsichtsrat 4 nicht nur befugt sind, den Jahresabschluss gemäß § 170 aufzustellen, sondern auch festzustellen, mithin Bilanzwahlrechte auszuüben, insbesondere i. R. der Rücklagenbildung und -auflösung. Ist dies der Fall, hat die Hauptversammlung im gesetzlichen Regelfall keine Möglichkeit, hierauf Einfluss zu nehmen, sondern kann allein gemäß § 174 über das Ergebnis dieser Maßnahmen, den etwaigen Bilanzgewinn, beschließen. Zur Stärkung der Aktionärskompetenzen im Spannungsfeld zwischen Ausschüttungs- und Thesaurierungsgebot sieht § 58 Abs. 1 jedoch vor, dass die Kompetenz von Vorstand und Aufsichtsrat auch im Bereich von § 172 nicht schrankenlos ist und die Satzung darüber hinaus besondere Einschränkungen vorsehen kann. 1.

„Hälfteregelung“

Gemäß § 58 Abs. 2 Satz 1 können Vorstand und Aufsichtsrat im dispositiven (dazu so- 5 gleich) gesetzlichen Regelfall höchstens die Hälfte des Jahresüberschusses gemäß GuV i. S. von § 275 HGB in andere Gewinnrücklagen i. S. von § 266 Abs. 3 A. III. Nr. 4 HGB einstellen (siehe zu den vorrangigen Abzügen oben Rz. 3). Diese Regelung ist eine reine Kompetenznorm. Ob die Rücklagenbildung in concreto rechtmäßig ist, bestimmt sich anhand des allgemeinen Pflichtenmaßstabs gemäß §§ 93 Abs. 2, 116; ein konturenloses Ermessen besteht nicht.9) Die Verwaltung hat vielmehr im Streitfall konkret darzulegen, aus welchen Gründen die Thesaurierung gegenüber dem Ausschüttungsinteresse der Aktionäre Vorrang hat. Den (nicht unmittelbar anwendbaren) Vorgaben gemäß § 254 kommt insofern durchaus eine indizielle Bedeutung zu.10) 2.

Weitere satzungsmäßige Vorgaben

Gemäß § 58 Abs. 2 Satz 2 kann aufgrund Satzungsregelung vorgesehen werden, dass grö- 6 ßere oder kleinere Teile des Jahresüberschusses durch die Verwaltung thesauriert werden dürfen.11) Möglich ist nur eine Ermächtigung, d. h. die Verwaltung kann hierzu nicht gezwungen werden. Hieraus folgt jedoch umgekehrt, dass die konkrete Ausübung dieser Ermächtigung den Pflichtenmaßstäben gemäß §§ 93 Abs. 2, 116 unterliegt. Eine Obergrenze besteht für die Ermächtigung nicht; es kann daher vorgesehen werden, dass der gesamte Jahresüberschuss thesauriert wird (streitig);12) § 254 gilt nicht analog.13) Möglich _____________ 7) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 58 Rz. 8. 8) Cahn/v. Spangenberg in: BeckOGK-AktR, § 58 AktG Rz. 33. 9) Abweichend die wohl h. M. vgl. nur Baums in: FS K. Schmidt, S. 57, 68 ff.; Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 58 AktG Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 58 Rz. 9 f.; vgl. aber Schnorbus/Plassmann, ZGR 2015, 446, 558 f. 10) Abweichend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 58 Rz. 10. 11) Zur Formulierung ausführlich Bayer in: MünchKomm-AktG, § 58 Rz. 46. 12) BGH, Urt. v. 1.3.1971 – II ZR 53/69, BGHZ 55, 359, 360 ff.; Hoffmann-Becking, ZIP 1995, 1, 5. 13) Abweichend Eckardt, NJW 1967, 369; v. Gleichenstein, BB 1966, 1047.

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§ 58

Verwendung des Jahresüberschusses

ist auch eine gespaltene Lösung.14) Gemäß § 58 Abs. 2 Satz 3 darf von der Ermächtigung jedoch nur insoweit Gebrauch gemacht werden, bis die hierüber dotierten anderen Gewinnrücklagen (§ 266 Abs. 3 A. III. Nr. 4 HGB) die Hälfte des Grundkapitals erreichen. Der hierfür maßgebliche Zeitpunkt ist der der Feststellung des Jahresabschlusses.15) 3.

Zwingende Abzugsposten

7 § 58 Abs. 2 Satz 3 ordnet auch für die Rücklagenbildung i. R. von § 58 Abs. 2 zwingend an, dass die Dotierung der gesetzlichen Rücklage und die Berücksichtigung eines Verlustvortrags Vorrang haben (siehe Rz. 3). IV.

Rücklagenbildung gemäß § 58 Abs. 2a

8 § 58 Abs. 2a gestattet Vorstand und Aufsichtsrat unbeschadet der konkreten Kompetenz zur Feststellung des Jahresabschlusses gemäß § 58 Abs. 1 oder Abs. 2 eine besondere Rücklagendotierung für den Kapitalanteil von Wertaufholungen i. S. von § 253 Abs. 3 HGB, wodurch sich stille Reserven in offen ausgewiesene Rücklagen umwandeln lassen.16) Diese Kompetenz erweitert die Dotierungskompetenz der Verwaltung nach § 58 Abs. 1 und Abs. 2.17) Sie ist bei deren Grenzen nicht zu berücksichtigen („unbeschadet“).18) Die nach § 58 Abs. 2a Satz 1 dotierten Rücklagen sind gemäß § 58 Abs. 2a Satz 2 in der Bilanz gesondert auszuweisen („Davon-Vermerk“) oder im Anhang (§§ 284 ff. HGB) anzugeben. Vgl. zum Ausweis in der GuV § 158 Abs. 1 Nr. 4 lit. d. V.

Gewinnverwendungsbeschluss der Hauptversammlung (§ 58 Abs. 3)

9 Der Hauptversammlung obliegt gemäß § 174 die konkrete19) Beschlussfassung (§ 133) über die Verwendung des sich aus dem festgestellten Jahresabschluss ergebenden und damit verbindlichen Bilanzgewinns i. S. von § 158 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5. Im Ausgangspunkt bestehen hierbei keine Beschränkungen im Hinblick auf die Ausschüttung, ggf. weitere Rücklagendotierung oder einen Gewinnvortrag (vgl. aber stets § 254); insbesondere ist die Hauptversammlung auch nicht an etwaige Gewinnverwendungsvorschläge gebunden.20) § 58 Abs. 3 Satz 1 ergänzt diese Kompetenz und legt materiell-rechtlich fest, welche Beschlussfassungen neben der Ausschüttung i. S. von §§ 174 Abs. 2 Nr. 2, 58 Abs. 4 (siehe unten Rz. 13 ff.) zulässig sind. 1.

Gewinnrücklage

10 Gemäß § 58 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 kann die Hauptversammlung in den Grenzen von § 254 den Bilanzgewinn in die Rücklagen gemäß § 266 Abs. 3 A. III. HGB einstellen (vgl. auch § 174 Abs. 2 Nr. 3). Gibt es keine Aktionärsminderheit oder wird der Beschluss nicht gemäß § 254 angefochten, folgt aus § 58 Abs. 3 keine Obergrenze für die Rücklagendotierung.21) _____________ 14) Vgl. LG Hamburg, Beschl. v. 16.10.1968 – 26/18/68, NJW 1969, 664, 666 – Dotierung des „gesamten Jahresüberschusses abzgl. des für die Ausschüttung einer Dividende i. H. von 4 % erforderlichen Betrags“. 15) Cahn/v. Spangenberg in: BeckOGK-AktR, § 58 AktG Rz. 47. 16) Einzelheiten bei Cahn/v. Spangenberg in: BeckOGK-AktR, § 58 AktG Rz. 52 f. 17) Cahn/v. Spangenberg in: BeckOGK-AktR, § 58 AktG Rz. 57 f. 18) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 58 Rz. 20. 19) Zu den inhaltlichen Anforderungen BGH, Urt. v. 28.10.1993 – IX ZR 21/93, BGHZ 124, 27, 32 = ZIP 1993, 1886. 20) BGH, Urt. v. 28.10.1993 – IX ZR 21/93, BGHZ 124, 27 = ZIP 1993, 1886. 21) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 58 Rz. 23.

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Verwendung des Jahresüberschusses 2.

§ 58

Gewinnvortrag

Die Hauptversammlung kann gemäß § 58 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 auch beschließen, dass der Bi- 11 lanzgewinn oder Teile davon als Gewinnvortrag ausgewiesen werden (§ 158 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 174 Abs. 2 Nr. 4).22) Auch hier gilt zugunsten der (vorhandenen) Minderheit die Grenze gemäß § 254. Hiervon abzugrenzen ist, dass ein Aktionär einen konkreten Dividendenanspruch stehen lässt, was unter § 39 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 InsO fallen kann.23) 3.

Andere Verwendung

Eine andere Verwendung i. S. von § 58 Abs. 3 Satz 2 durch entsprechende Beschlussfas- 12 sung nach Maßgabe von § 184 Abs. 2 kann die Hauptversammlung nur aufgrund (vorheriger) Satzungsregelung beschließen. In Betracht kommt einmal die Zwangsthesaurierung des die gesetzliche und nach Maßgabe von § 58 Abs. 1 – 3 erfolgte, freiwillige Rücklagenbildung übersteigenden Teils des Bilanzgewinns bzw. die Verpflichtung zu einem derartigen Gewinnvortrag.24) Insbesondere bei gemeinnützigen AGs kommt auch die Zuwendung des Bilanzgewinns an Dritte in Betracht.25) Besondere Zuwendungen an einzelne Aktionäre sind ebenfalls möglich, unterliegen jedoch den Anforderungen von § 53a.26) Wegen der in § 58 Abs. 4 vorausgesetzten Bindung kann die Satzungsregelung die Hauptversammlung auch zu einer entsprechenden Beschlussfassung gemäß § 174 Abs. 2 verpflichten.27) Das Gleiche gilt umgekehrt für die Vollausschüttung.28) VI.

Anspruch auf Bilanzgewinn (§ 58 Abs. 4)

Mit Feststellung des Jahresabschlusses haben die Aktionäre zwingend das kollektive Recht 13 auf den (vorhandenen) Bilanzgewinn.29) Dieses Gewinnbezugsrecht ist wegen des Abspaltungsverbots gemäß § 717 Satz 1 BGB untrennbar mit der Mitgliedschaft verbunden30) und vom individuellen Zahlungsanspruch zu unterscheiden, der erst als Folge des Gewinnverwendungsbeschlusses i. S. von § 174 Abs. 2 Nr. 2 mit wirksamer Beschlussfassung entsteht31) und auch nach Maßgabe von § 10 verbrieft sein kann.32) Vgl. im Übrigen bei Kreditinstituten die Möglichkeit der BaFin gemäß § 45 KWG, die Ausschüttung zu untersagen. 1.

Bezugsgröße

§ 58 Abs. 4 stellt klar, dass sich das Gewinnbezugsrecht auf den Bilanzgewinn i. S. von 14 § 158 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 bezieht und sich dementsprechend vom Jahresüberschuss der GuV gemäß § 275 HGB vor allem wegen der zwingenden Rücklagenbildung gemäß § 150 und _____________ 22) 23) 24) 25) 26) 27) 28) 29) 30) 31)

32)

Einzelheiten bei Bayer in: MünchKomm-AktG, § 58 Rz. 90. Vgl. BGH, Urt. v. 17.12.2020 – IX ZR 122/19, ZIP 2021, 93 = NJW-RR 2021, 119. Heute allg. M., vgl. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 58 Rz. 25a. Vgl. BGH, Urt. v. 28.6.1982 – II ZR 69/81, BGHZ 84, 303 = ZIP 1982, 959; Einzelheiten bei Sethe, ZHR 162 (1998) 474, 478 f. Insofern bedenklich die Vorschläge zur Einführung von Präsenzboni bei der Hauptversammlung, vgl. Klühs, ZIP 2006, 107, 112, 118. H. M., vgl. nur Bayer in: MünchKomm-AktG, § 58 Rz. 91. Zum Ganzen Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 58 AktG Rz. 92 ff. Grundlegend BGH, Urt. v. 8.10.1952 – II ZR 313/51, BGHZ 7, 263, 264 = NJW 1952, 1370; aus neuerer Zeit BGH, Urt. v. 28.10.1993 – IX ZR 21/93, BGHZ 124, 27, 31 = ZIP 1993, 1886. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 58 Rz. 26. BGH, Urt. v. 24.1.1957 – II ZR 208/55, BGHZ 23, 150, 157 = NJW 1957, 588; BGH, Urt. v. 28.10.1993 – IX ZR 21/93, BGHZ 124, 27, 31 = ZIP 1993, 1886; vgl. zur steuerrechtlichen Behandlung fehlerhafter Ausschüttungen Klett/Peitsmeier, BB 2011, 2121. Einzelheiten bei Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 58 AktG Rz. 111 ff.

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§ 58

Verwendung des Jahresüberschusses

der weiteren Rücklagendotierung i. R. des § 58 Abs. 1 bis 3 unterscheidet. Auch satzungsmäßige Bindungen gemäß § 58 Abs. 3 schmälern vorrangig das Gewinnbezugsrecht. 2.

Durchsetzung

15 Als kollektives Mitgliedschaftsrecht kann der einzelne Aktionär den Anspruch aus § 58 Abs. 4 nicht durchsetzen. Er kann jedoch auf Herbeiführung eines Gewinnverwendungsbeschlusses klagen.33) Es obliegt jedoch weiterhin der Hauptversammlung, auf welche Weise genau mit dem Bilanzgewinn verfahren wird (Einzelheiten bei § 174). Der individuelle Zahlungsanspruch nach Beschlussfassung ist als bloßes Vermögensrecht i. S. von § 717 Satz 2 BGB selbständig abtretbar und verpfändbar.34) Er entfällt nicht durch nachträglich eintretende Verluste.35) Der Zahlungsanspruch ist gemäß § 58 Abs. 4 Satz 2 am dritten auf den Hauptversammlungsbeschluss folgenden Geschäftstag (Bankarbeitstag gemäß § 675 Abs. 1 Satz 4 BGB) fällig, soweit nicht im Gewinnverwendungsbeschluss oder in der Satzung eine spätere Fälligkeit festgelegt wird.36) Vgl. im Übrigen zur Gewinnverteilung im Verhältnis der Aktionäre untereinander auch § 60. VII. Sachdividende (§ 58 Abs. 5) 16 Gemäß § 58 Abs. 5 kann die Satzung auch vorsehen, dass die Hauptversammlung i. R. der Gewinnverwendung gemäß § 174 Abs. 2 Nr. 2 eine Sachausschüttung beschließt.37) Der Beschluss kann gemäß § 133 mit einfacher Mehrheit gefasst werden und unterliegt entgegen gesetzgeberischer Motive keiner Inhaltskontrolle.38) Die nachträgliche Einführung einer entsprechenden Satzungsermächtigung setzt die Zustimmung aller betroffenen Aktionäre voraus.39) 17 Art und Umfang der Sachdividende sind in der Satzungsermächtigung oder im Gewinnverwendungsbeschluss festzulegen. Die Bewertung der ausgeschütteten Gegenstände erfolgt richtigerweise nach dem objektiven Verkehrswert, denn die Aktionäre sollen ein Surrogat für die Geldausschüttung erlangen.40) Dies ist insbesondere für die Anfechtung nach § 254 relevant. 18 Der praktische Anwendungsbereich der Sachdividenden ist bislang wohl gering. Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass die sog. Scrip Dividend kein Fall von § 58 Abs. 4 ist. Bei diesen zunehmend verbreiteten Gestaltungen handelt es sich um die Einbringung eines Dividendenanspruchs auf Geldzahlung i. R. einer Kapitalerhöhung.41)

_____________ 33) Einzelheiten bei Bayer in: MünchKomm-AktG, § 58 Rz. 99. 34) RG, Urt. v. 16.4.1920 – II 398/19, RGZ 98, 318, 319. 35) Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 58 AktG Rz. 106; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 58 Rz. 28; abweichend Bayer in: MünchKomm-AktG, § 58 Rz. 102. 36) Einzelheiten bei Müller-Eising, GWR 2015, 50. 37) Einzelheiten bei Holzborn/Bunnemann, AG 2003, 671. 38) Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 58 AktG Rz. 116; Dittmar, WPg 2018, 1224. 39) Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 58 AktG Rz. 115. 40) So auch Cahn/v. Spannenberg in: BeckOGK-AktR, § 58 AktG Rz. 123; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 58 Rz. 33; abweichend Bayer in: MünchKomm-AktG, § 58 Rz. 129 ff. – auch zu Buchwerten zulässig; wohl auch Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 67 AktG Rz. 16. 41) Zum Ganzen Krause, ZHR 181 (2017) 641, 646 ff.; Schlitt/Kreymborg, AG 2018, 685.

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Wolfgang Servatius

§ 59

Abschlagszahlung auf den Bilanzgewinn

§ 59 Abschlagszahlung auf den Bilanzgewinn Wolfgang Servatius

(1) Die Satzung kann den Vorstand ermächtigen, nach Ablauf des Geschäftsjahrs auf den voraussichtlichen Bilanzgewinn einen Abschlag an die Aktionäre zu zahlen. (2) 1Der Vorstand darf einen Abschlag nur zahlen, wenn ein vorläufiger Abschluß für das vergangene Geschäftsjahr einen Jahresüberschuß ergibt. 2Als Abschlag darf höchstens die Hälfte des Betrags gezahlt werden, der von dem Jahresüberschuß nach Abzug der Beträge verbleibt, die nach Gesetz oder Satzung in Gewinnrücklagen einzustellen sind. 3Außerdem darf der Abschlag nicht die Hälfte des vorjährigen Bilanzgewinns übersteigen. (3) Die Zahlung eines Abschlags bedarf der Zustimmung des Aufsichtsrats. Literatur: Eichten/Weinmann, Beeinträchtigung von Aktionärsinteressen durch COVID-19, DStR 2020, 2314; Klett/Reinhart, Die mehrmalige Ausschüttung von Dividenden, ZIP 2021, 275; Siebel/Gebauer, Interimsdividende, AG 1999, 385; Vetter/Tielmann, Unternehmensrechtliche Gesetzesänderungen in Zeiten von Corona, NJW 2020, 1175.

Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt ................................ 1 II. Voraussetzungen für Abschlagszahlungen ........................................... 2 1. Satzungsmäßige Grundlage (§ 59 Abs. 1) ................................................. 2 I.

2. Vorstandskompetenz, Grenzen (§ 59 Abs. 2) ....................................... 3 3. Zustimmung des Aufsichtsrats (§ 59 Abs. 3) ....................................... 5 III. Rechtsfolgen ...................................... 6

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

Im Ausgangspunkt gibt es bei der AG allein die Jahresdividende (§§ 58, 174). Die Rege- 1 lung ermöglicht jedoch eine gewisse Flexibilisierung, indem den Aktionären bereits vor der Feststellung des Jahresabschlusses und der Fassung des Gewinnverwendungsbeschlusses durch die Hauptversammlung Abschläge auf den voraussichtlichen Bilanzgewinn gezahlt werden können. Nach § 59 Abs. 1 bedarf es hierfür einer entsprechenden Satzungsregelung. § 59 Abs. 2 legt die Voraussetzungen und betragsmäßigen Grenzen für die konkrete Zahlung durch den Vorstand fest. § 59 Abs. 3 verlangt hierfür zudem die Zustimmung des Aufsichtsrats. Die praktische Bedeutung dieser Norm ist gering.1) II.

Voraussetzungen für Abschlagszahlungen

1.

Satzungsmäßige Grundlage (§ 59 Abs. 1)

Erforderlich ist zunächst eine entsprechende Satzungsregelung (vgl. im Zuge der Corona- 2 Pandemie aber § 1 Abs. 4 Satz 1 COVGesMG).2) Inhaltlich muss sich diese auf einen Abschlag auf den Bilanzgewinn beziehen; die Ersetzung der Jahresdividende durch Interimsoder Quartalsdividenden ist unzulässig.3) Es besteht daher stets das Risiko, dass die als Abschlag gewährten Zahlungen nicht durch einen tatsächlichen ausschüttungsfähigen Bilanzgewinn gedeckt sind. _____________ 1) 2) 3)

Siebel/Gebauer, AG 1999, 385, 389. Hierzu Eichten/Weinmann, DStR 2020, 2314, 2318 ff.; Vetter/Tielmann, NJW 2020, 1175, 1178. Siebel/Gebauer, AG 1999, 385 – mit Vorschlägen de lege ferenda; Gestaltungshinweise bei Klett/Reinhart, ZIP 2021, 275; Einzelheiten auch bei Bayer in: MünchKomm-AktG, § 59 Rz. 3.

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§ 59 2.

Abschlagszahlung auf den Bilanzgewinn Vorstandskompetenz, Grenzen (§ 59 Abs. 2)

3 Die Satzungsregelung begründet lediglich eine Ermächtigung an den Vorstand. Dieser entscheidet pflichtgemäß (§ 93 Abs. 2), ob und in welchem Umfang er hiervon Gebrauch macht oder nicht.4) In Einzelfällen kann es zur Befriedigung von Liquiditätsinteressen der Aktionäre auch einmal eine entsprechende Pflicht zur Gewährung von Abschlagszahlungen geben. Jede Abschlagszahlung bedarf eines zuvor gefassten gesonderten Vorstandsbeschlusses.5) 4 Bedeutsam sind die verfahrensrechtlichen Vorgaben und die betragsmäßigen Grenzen gemäß § 59 Abs. 2: Erforderlich ist gemäß § 59 Abs. 2 Satz 1 zunächst die Aufstellung eines vorläufigen Jahresabschlusses durch den Vorstand für das vergangene Geschäftsjahr. Hierfür gelten die allgemeinen Regeln.6) Entbehrlich sind allein die Feststellung und Prüfung sowie die Erstellung eines Anhangs und Lageberichts.7) Ergibt dieser vorläufige Jahresabschluss einen Jahresüberschuss i. S. von § 275 HGB, kann gemäß § 59 Abs. 2 Satz 2 als Abschlag maximal die Hälfte des Betrags gezahlt werden, der von diesem nach Abzug der Beträge verbleibt, die nach Gesetz oder Satzung in Gewinnrücklagen einzustellen sind (vgl. hierzu § 58 Abs. 1 bis 3). Aus § 59 Abs. 2 Satz 3 ergibt sich zudem, dass maximal die Hälfte des vorjährigen Bilanzgewinns (§ 158 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5) ausgezahlt werden darf. Insgesamt besteht so eine doppelte Obergrenze.8) Satzungsmäßige Modifizierungen dieser Vorgaben sind nur in Gestalt weiterer Einschränkungen zulässig.9) 3.

Zustimmung des Aufsichtsrats (§ 59 Abs. 3)

5 Nach § 59 Abs. 3 bedarf die Abschlagszahlung auch der vorherigen Zustimmung des Aufsichtsrats.10) Zuständig ist zwingend der Gesamtaufsichtsrat, eine Delegation an einen Ausschuss ist nicht zulässig.11) III.

Rechtsfolgen

6 Liegen die oben genannten Voraussetzungen vor, steht den Aktionären nach Maßgabe von § 60 ein individueller Zahlungsanspruch zu. Dieser ist abtretbar und verpfändbar.12) Die erhaltenen Abschläge sind beim späteren Gewinnverwendungsbeschluss zu vermerken.13) Unzulässige, vor allem überhöhte Zahlungen sind gemäß § 62 Abs. 1 Satz 1 zurückzuerstatten (vgl. aber die Privilegierung beim gutgläubigen Gewinnbezug gemäß § 62 Abs. 1 Satz 2).14) Der Vorstand haftet bei Missachtung aus § 93 Abs. 3 Nr. 2; der Aufsichtsrat gemäß § 116 entsprechend.

_____________ 4) Abweichend die h. M.: „eigenes Ermessen“, vgl. nur Cahn in: BeckOGK-AktR, § 59 AktG Rz. 9; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 59 Rz. 9. 5) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 59 Rz. 10. 6) Einzelheiten bei Bayer in: MünchKomm-AktG, § 59 Rz. 8. 7) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 59 AktG Rz. 11 f. 8) Einzelheiten bei Bayer in: MünchKomm-AktG, § 59 Rz. 12 ff. 9) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 59 Rz. 6. 10) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 59 AktG Rz. 10. 11) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 59 Rz. 10. 12) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 59 Rz. 17. 13) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 59 Rz. 19. 14) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 59 AktG Rz. 19.

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Wolfgang Servatius

§ 60

Gewinnverteilung

§ 60 Gewinnverteilung Wolfgang Servatius

(1) Die Anteile der Aktionäre am Gewinn bestimmen sich nach ihren Anteilen am Grundkapital. (2) 1Sind die Einlagen auf das Grundkapital nicht auf alle Aktien in demselben Verhältnis geleistet, so erhalten die Aktionäre aus dem verteilbaren Gewinn vorweg einen Betrag von vier vom Hundert der geleisteten Einlagen. 2Reicht der Gewinn dazu nicht aus, so bestimmt sich der Betrag nach einem entsprechend niedrigeren Satz. 3Einlagen, die im Laufe des Geschäftsjahrs geleistet wurden, werden nach dem Verhältnis der Zeit berücksichtigt, die seit der Leistung verstrichen ist. (3) Die Satzung kann eine andere Art der Gewinnverteilung bestimmen. Literatur: Erhart/Riedel, Disquotale Gewinnausschüttung bei Kapitalgesellschaften – gesellschafts- und steuerrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten, BB 2008, 2266; Henssler/Glindemann, Die Beteiligung junger Aktien am Gewinn eines abgelaufenen Geschäftsjahres bei einer Kapitalerhöhung aus genehmigtem Kapital, ZIP 2012, 949; Horbach, Der Gewinnverzicht des Großaktionärs, AG 2001, 78; Klühs, Präsenzbonus für die Teilnahme an der Hauptversammlung, ZIP 2006, 107; Koch, Höherrangiges Satzungsrecht vs. schuldrechtliche Satzungsüberlagerung, AG 2015, 213; König, Der Dividendenverzicht des Mehrheitsaktionärs – Dogmatische Einordnung und praktische Durchführung, AG 2001, 399; Lenz, Steigerung der Hauptversammlungsteilnahme durch monetäre Anreize?, NZG 2006, 534; Priester, Schuldrechtliche Vereinbarungen zur Gewinnverteilung bei der AG, ZIP 2015, 2156; Servatius, Disquotale Ergebnisverteilung bei der GmbH – gesellschaftsrechtliche Todsünde?, in: Festschrift für Roderich Thümmel, 2020, S. 859.

Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt ......................................... 1 II. Gewinnverteilung nach Kapitalanteilen (§ 60 Abs. 1) ........................ 2 III. Besonderheiten bei rückständigen Einlagen (§ 60 Abs. 2 Satz 1, Satz 2) ................................................. 4 I.

1. Vorwegverteilung ............................... 5 2. Verteilung des Restbetrags ................ 6 IV. Besonderheiten bei unterjähriger Einlageleistung (§ 60 Abs. 2 Satz 3) ................................................. 7 V. Gestaltungsfreiheit (§ 60 Abs. 3) .... 8 VI. Rechtsfolgen bei Verstößen ........... 12

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

Die Regelung ergänzt § 58 Abs. 4 und § 174 Abs. 2 Nr. 2. Sie bestimmt, in welchem Ver- 1 hältnis die Aktionäre zueinander Gewinnansprüche geltend machen können (Gewinnverteilungsschlüssel). Hieran ist der Vorstand bei der Umsetzung des Gewinnverwendungsbeschlusses der Hauptversammlung gebunden (§§ 83 Abs. 2, 93 Abs. 2).1) § 60 Abs. 1 konkretisiert den Gleichbehandlungsgrundsatz (§ 53a) und verlangt im dispositiven gesetzlichen Regelfall eine Verteilung anhand der Beteiligung der Aktionäre am Grundkapital. Über § 60 Abs. 2 wird der Gleichbehandlungsgrundsatz bei unterschiedlicher Einlageleistung konsequent, jedoch etwas generalisierend, verwirklicht: Die Aktionäre erhalten vom Bilanzgewinn vorab einen Anteil von 4 % in Bezug auf die bereits geleisteten Einlagen und wenn es nicht ausreicht, einen geringeren Prozentsatz (sog. Vorabdividende). Der über die 4 %-Verzinsung hinaus ggf. verbleibende Bilanzgewinn wird dann nach Maßgabe von § 60 Abs. 1 gemäß dem Nennbetrag unter allen Aktionären verteilt, so dass auch die _____________ 1)

Vgl. BGH, Urt. v. 28.6.1982 – II ZR 69/81, BGHZ 84, 303 = ZIP 1982, 959.

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§ 60

Gewinnverteilung

Inhaber der nicht voll eingezahlten Aktien Dividendenansprüche haben und nicht etwa eine automatische Anrechnung auf die ausstehende Resteinlage erfolgt. Diese Mischform ist ein gesetzgeberischer Kompromiss zwischen dem Verzinsungsinteresse bei geleisteten Einlagen und dem gemeinsamen Vermögensrisiko aller Aktionäre.2) Gemäß § 60 Abs. 3 sind die vorgenannten Aufteilungsregeln satzungsdispositiv, wovon die Praxis regen Gebrauch macht. II.

Gewinnverteilung nach Kapitalanteilen (§ 60 Abs. 1)

2 Im dispositiven gesetzlichen Regelfall hängt die vermögensmäßige Beteiligung der Aktionäre grundsätzlich von den Nennbeträgen der übernommenen Aktien im Verhältnis zur Grundkapitalziffer (§ 23 Abs. 3 Nr. 3) ab, bei Stückaktien von der entsprechenden Zahl im Verhältnis zur Gesamtzahl der ausgegebenen Aktien (vgl. § 8 Abs. 4). Maßgeblicher Zeitpunkt ist die Fassung des Gewinnverwendungsbeschlusses gemäß § 174. Das korporative Agio (§ 9 Abs. 2) oder sonstige Zuzahlungen der Aktionäre bleiben bei der Berechnung außer Betracht.3) § 60 Abs. 1 kommt gemäß § 60 Abs. 2 jedoch nur eingeschränkt zur Anwendung, wenn auf die Einlageforderungen unterschiedlich viel geleistet wurde (siehe unten Rz. 4 ff.); die gleichmäßige unvollständige Erfüllung der Einlagepflichten fällt demgegenüber unter § 60 Abs. 1.4) 3 Eigene Aktien der AG bleiben gemäß §§ 56 Abs. 3, 71b, 71d Satz 4, 328 unberücksichtigt; der Gewinnanteil der übrigen Aktionäre erhöht sich entsprechend. Wird gegen die Mitteilungspflichten verstoßen, ruhen zwar die Mitgliedschaftsrechte der Aktionäre; gemäß § 20 Abs. 7 Satz 2 und § 21 Abs. 4 Satz 2 leben diese jedoch ggf. rückwirkend wieder auf. Der bis dahin nicht ausgeschüttete Betrag ist als Verbindlichkeit der AG auszuweisen.5) III.

Besonderheiten bei rückständigen Einlagen (§ 60 Abs. 2 Satz 1, Satz 2)

4 Sind die Einlagepflichten unterschiedlich erfüllt, bestimmt sich die Gewinnverteilung nach § 60 Abs. 2 Satz 1 und 2. 1.

Vorwegverteilung

5 Den Aktionären gebührt vom Jahresüberschuss gemäß § 60 Abs. 2 Satz 1 zunächst eine 4 %ige Verzinsung ihrer tatsächlich geleisteten Einlagen als Vorabdividende; Bezugspunkt für die Verteilung sind somit nicht die Nennbeträge, sondern die tatsächlich geleisteten Einlagen, auch bei Sacheinlagen. Einlageleistungen sind auch hier nur die Leistungen auf das Grundkapital.6) Aus welchen Gründen die Leistungen unterschiedlich hoch ausfielen, ist unerheblich; insbesondere werden nicht nur die fälligen Einlagen berücksichtigt (streitig).7) Reicht der Jahresüberschuss hierfür nicht aus, ist der prozentuale Anteil für alle entsprechend zu kürzen (§ 60 Abs. 2 Satz 2). Der hierbei vom Vorstand festzulegende Prozentsatz hat den Gleichbehandlungsgrundsatz zu gewährleisten.8)

_____________ 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8)

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Bayer in: MünchKomm-AktG, § 60 Rz. 11. Allg. M. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 60 AktG Rz. 8. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 60 Rz. 6; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 60 Rz. 7. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 60 Rz. 23. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 60 Rz. 3. Abweichend etwa Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 60 Rz. 3. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 60 Rz. 11.

Wolfgang Servatius

§ 60

Gewinnverteilung 2.

Verteilung des Restbetrags

Der nach Abzug der 4 %igen Verzinsung verbleibende Jahresüberschuss wird gemäß § 60 6 Abs. 2 sodann unter allen Aktionären nach Maßgabe von § 60 Abs. 1, d. h. nach den Nennbeträgen der Aktien, verteilt (siehe oben Rz. 2 f.).9) IV.

Besonderheiten bei unterjähriger Einlageleistung (§ 60 Abs. 2 Satz 3)

Wurden die Einlagen innerhalb des vergangenen Geschäftsjahres zu unterschiedlichen Zeit- 7 punkten geleistet, ist dies gemäß § 60 Abs. 2 Satz 3 zu berücksichtigen. Maßgeblich ist mithin nicht die Fälligkeit der Einlage, sondern die tatsächliche Leistung.10) Hierüber wird der Gleichbehandlungsgrundsatz konsequent verwirklicht. Anwendbar ist die Regelung nur im Fall unterschiedlich geleisteter Einlagen gemäß § 60 Abs. 2 Satz 1 und 2, indem die Berechnung der Vorabdividende pro rata temporis erfolgt. Haben alle Aktionäre indessen ihre Einlagen vollständig oder in demselben Verhältnis geleistet, richtet sich die Verteilung nach § 60 Abs. 1, ohne dass die unterschiedliche Leistungszeit beachtlich wäre. Das Gleiche gilt für die Verteilung des nach Ausschüttung der Vorabdividende gemäß § 60 Abs. 2 Satz 1 verbleibenden Gewinns. Die zeitliche Betrachtung der Vorabdividende gilt entsprechend bei Kapitalerhöhungen im letzten Geschäftsjahr, so dass die jungen Aktien unabhängig davon, ob es sich um nicht vollständige oder unterschiedliche Einlageleistungen handelt, zunächst eine auf den Leistungszeitpunkt berechnete Vorabdividende erhalten und erst der darüber hinausgehende Gewinn nach Maßgabe von § 60 Abs. 1 verteilt wird.11) V.

Gestaltungsfreiheit (§ 60 Abs. 3)

Der durch § 60 Abs. 1 und 2 vorgegebene Gewinnverteilungsschlüssel ist für den Vor- 8 stand bindend und kann auch nicht ad hoc im Gewinnverwendungsbeschluss der Hauptversammlung geändert werden.12) Eine nachrichtliche Ausweisung des Einzelbetrages schadet nicht, ändert aber auch nicht den beschlossenen Gesamtausschüttungsbetrag. Die Aufschlüsselung in Euro pro Stück hat mangels einer Hauptversammlungskompetenz zur Abänderung der gesetzlichen oder satzungsmäßigen Verteilungsschlüssel nur rechnerische, rein deklaratorische Bedeutung.13) Zulässig ist es jedoch, durch Satzungsregelung von den vorgenannten Grundsätzen abzuweichen.14) In der Praxis sind derartige Regelungen weit verbreitet.15) Schuldrechtliche Vereinbarungen der Aktionäre mit der AG genügen diesen Anforderungen nicht16) und können daher allein auf schuldrechtlicher Grundlage im Verhältnis der hieran beteiligten Aktionäre effektuiert werden. Das Gleiche gilt für den Dividendenverzicht eines Aktionärs.17) Soll die Gewinnverteilung nachträglich geändert werden, bedarf es einer Satzungsänderung sowie nach unrichtiger h. M. auch der generellen Zustimmung aller betroffenen, d. h. in ihrem Gewinnbezugsrecht zurückgesetzten Aktionäre _____________ 9) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 60 AktG Rz. 16. 10) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 60 Rz. 12; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 60 Rz. 5. 11) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 60 Rz. 11; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 60 AktG Rz. 29; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 60 Rz. 13, 22 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 60 Rz. 5. 12) BGH, Beschl. v. 29.4.2014 – II ZR 262/13, ZIP 2014, 1677, dazu EWiR 2014, 643 (Goslar); Bayer in: MünchKomm-AktG, § 60 Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 60 Rz. 6 – Nichtigkeit nach § 241 Nr. 3. 13) BGH, Beschl. v. 29.4.2014 – II ZR 262/13, ZIP 2014, 1677. 14) Vgl. BGH, Urt. v. 28.6.1982 – II ZR 69/81, BGHZ 84, 303, 311 = ZIP 1982, 959. 15) Vgl. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 60 Rz. 4. 16) Vgl. LG Frankfurt/M., Urt. v. 23.12.2014 – 3-05 O 47/14, ZIP 2015, 931, dazu EWiR 2015, 345 (Wachter); LG Marburg, Urt. v. 25.7.2014 – 5 O 47/14, BeckRS 2015, 07834; Bayer in: MünchKommAktG, § 60 Rz. 16; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 60 Rz. 6; weitergehend Koch, AG 2015, 213; Henssler/ Strohn-Lange, GesR, § 58 AktG Rz. 5; Priester, ZIP 2015, 2156. 17) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 60 Rz. 11 f.

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361

§ 60

Gewinnverteilung

(streitig).18) Praktisch anzutreffende zulässige Abweichungen vom gesetzlichen Regelfall sind insbesondere: –

Schaffung von Vorzugsaktien mit besonderem Gewinnrecht (vgl. §§ 139 ff.), insbesondere i. R. sog. Tracking Stocks;19)



Beschränkung des Gewinnrechts einzelner Aktionäre, z. B. bei nicht voll eingezahlten Aktien;20)



Gewinnverteilung unter Berücksichtigung der Nebenleistungen i. S. von § 55;21)



Schaffung einer Umsatzdividende;22)



Einführung einer Öffnungsklausel, wonach die Hauptversammlung alljährlich über eine von der satzungsmäßigen Regelung abweichende Gewinnverteilung beschließen darf.23)

9 Steuerrechtlich finden unter dem Aspekt des Rechtsmissbrauches nicht alle Abweichungen Anerkennung.24) Wird aufgrund der Satzungsregelung nur teilweise von § 60 abgewichen, gilt die Regelung zur Lückenfüllung weiter.25) Unzulässig ist demgegenüber die Delegation der Gewinnverteilung auf die Verwaltung26) oder auf Dritte;27) auch die Einführung von Präsenzboni für die auf der Hauptversammlung erschienenen Aktionäre ist nicht zulässig (streitig).28) 10 Beim genehmigten Kapital sieht die h. M. in § 204 Abs. 1 eine Spezialregelung gegenüber § 60 Abs. 3 mit der Folge, dass die Gewinnverteilung bzgl. der neuen Aktien durch die Verwaltung festgelegt werden könne.29) Dem ist nicht zu folgen. Aus § 60 Abs. 3 folgt vielmehr umgekehrt, dass die zentrale Frage der Gewinnverteilung der Aktionärskompetenz obliegt und nicht das von §§ 203 ff. delegierte Ob und Wie der Aktienausgabe. Zulässig ist es demgegenüber, im Beschluss über eine ordentliche Kapitalerhöhung zugleich auch satzungsmäßige Modifizierungen i. S. von § 60 Abs. 3 zu treffen. Entgegen der wohl h. M. können derartige Modifizierungen im Wege der qualifizierten Mehrheit (vgl. § 182 Abs. 1) allerdings nicht ohne deren gesonderte Zustimmung in die Rechte der Altaktionäre eingreifen.30) Das (ausschließbare) Bezugsrecht der Altaktionäre bietet keinen adäquaten Schutz für die Durchbrechung von § 53a. Das gilt insbesondere auch in den Fällen, in denen junge Aktien entgegen der pro-rata-temporis-Regel gemäß § 60 Abs. 2 Satz 3 (siehe oben _____________ 18) H. M., vgl. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 60 Rz. 23; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 60 Rz. 16; wohl auch BayObLG, Beschl. v. 23.8.2001 – 3Z BR 31/01, NJW-RR 2002, 248 – für die GmbH; abweichend Cahn in: BeckOGK-AktR, § 60 AktG Rz. 22 ff.; Servatius in: FS Thümmel, S. 859. 19) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 60 Rz. 18; Einzelheiten bei Bayer in: MünchKomm-AktG, § 60 Rz. 20. 20) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 60 Rz. 18. 21) RG, Urt. v. 19.5.1922 – II 550/21, RGZ 104, 349, 350. 22) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 60 Rz. 18. 23) Vgl. BayObLG, Beschl. v. 23.8.2001 – 3Z BR 31/01, NJW-RR 2002, 248 – für die GmbH. 24) Vgl. BFH, Urt. v. 28.6.2006 – I R 97/05, DStR 2006, 1938, 1942. 25) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 60 Rz. 14. 26) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 60 Rz. 16. 27) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 60 Rz. 14; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 60 Rz. 6. 28) Abweichend K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 60 Rz. 18; Klühs, ZIP 2006, 107, 111; Lenz, NZG 2006, 534; für Namensaktien auch Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 60 Rz. 11. 29) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 60 Rz. 17; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 60 Rz. 15; GrigoleitGrigoleit/Rachlitz, AktG, § 60 Rz. 12 f. 30) Abweichend K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 60 Rz. 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 60 Rz. 9, jeweils m. w. N.

362

Wolfgang Servatius

§ 61

Vergütung von Nebenleistungen

Rz. 7) begünstigt werden sollen (streitig).31) Um in diesem Kontext Rechtssicherheit zu erzielen, empfiehlt es sich, die gewünschte Regelung bereits in die Ursprungssatzung aufzunehmen.32) Will ein Aktionär dauerhaft auf den Gewinn verzichten,33) ist dies eingeschränkt möglich: Der 11 Verzicht auf das Gewinnstammrecht ist nach zutreffender Ansicht unzulässig, weil hierüber die Verkehrsfähigkeit der Aktie erheblich eingeschränkt wäre, was dem gesetzlichen Leitbild der AG widerspricht (vgl. zudem das Abspaltungsverbot gemäß § 717 Satz 1 BGB).34) Zulässig ist demgegenüber, dass ein Aktionär (ad personam) auf den jeweils aus dem Gewinnverwendungsbeschluss resultierenden individuellen Gewinnanspruch im Voraus verzichtet (verfügender Erlassvertrag).35) Gemäß § 60 Abs. 1 und Abs. 2 wird dieser zusätzliche Betrag unter den übrigen Aktionären verteilt.36) Eine vertragliche Zuweisung des Verzichtsbetrags, etwa in Gewinnrücklagen, ist wegen des Vorrangs satzungsmäßiger Modifizierungen gemäß § 60 Abs. 3 nicht möglich (streitig).37) Der Erlass bindet im Übrigen nur den betreffenden Aktionär; nachfolgende Aktienerwerber sind hieran nicht gebunden, weil dies auf einen Ausschluss des Gewinnstammrechts hinausliefe und damit das Abspaltungsverbot missachtet würde. VI.

Rechtsfolgen bei Verstößen

Bezieht ein Aktionär entgegen der Vorgaben von § 60 oder der satzungsmäßigen Modifizie- 12 rungen Gewinn, liegt eine unzulässige Einlagenrückgewähr gemäß § 57 vor, so dass vorbehaltlich des gutgläubigen Gewinnbezugs nach Maßgabe von § 62 Abs. 1 Satz 2 eine Erstattungspflicht besteht.38) Vgl. im Übrigen auch die Vorstandshaftung gemäß § 93 Abs. 3 Nr. 1. _____________ 31) Abweichend etwa Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 60 Rz. 10 m. w. N.; zum Ganzen auch Henssler/ Glindemann, ZIP 2012, 949. 32) So auch K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 60 Rz. 17. 33) Zu den Motiven Erhart/Riedel, BB 2008, 2266, 2271. 34) Horbach, AG 2001, 78, 82; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 60 Rz. 21; Bayer in: MünchKommAktG, § 60 Rz. 38. 35) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 60 Rz. 20; ähnlich Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 60 Rz. 8, 11 – vertraglicher Verzicht; zur praktischen Bedeutung Horbach, AG 2001, 78; König, AG 2001, 399. 36) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 60 Rz. 12. 37) Liberaler Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 60 Rz. 12. 38) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 60 Rz. 35.

§ 61 Vergütung von Nebenleistungen Wolfgang Servatius

Für wiederkehrende Leistungen, zu denen Aktionäre nach der Satzung neben den Einlagen auf das Grundkapital verpflichtet sind, darf eine den Wert der Leistungen nicht übersteigende Vergütung ohne Rücksicht darauf gezahlt werden, ob ein Bilanzgewinn ausgewiesen wird. Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt .................................................. 1 II. Vergütung einer Nebenleistung ...... 2 I.

III. Kein Verstoß gegen die Kapitalbindung .............................................. 3

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

Die Regelung betrifft die Nebenleistungen i. S. von § 55 und besagt, dass hierfür eine an- 1 gemessene Vergütung ohne Verstoß gegen § 57 Abs. 3 gezahlt werden darf. Die Regelung Wolfgang Servatius

363

§ 62

Haftung der Aktionäre beim Empfang verbotener Leistungen

ist überflüssig, denn der Normzweck, wonach angemessene Gegenleistungen ohne Verstoß gegen § 57 zulässig sind, ließe sich auch über die allgemeinen Lehren verwirklichen.1) Auch das Erfordernis, eine etwaige Gegenleistung in die Satzung aufzunehmen, folgt bereits aus § 55 Abs. 2 Satz 2 (siehe § 55 Rz. 5). II.

Vergütung einer Nebenleistung

2 Die genannten wiederkehrenden Leistungen beziehen sich auf die Nebenleistungen i. S. von § 55. Diese sind im Ausgangspunkt unentgeltlich zu erbringen; gleichwohl ist die Vereinbarung eines Entgelts zulässig (vgl. § 55 Abs. 1 Satz 2). Ein derartiger Anspruch des Aktionärs gegen die AG ist untrennbar mit der Mitgliedschaft verbunden.2) Indem diese Leistungsbeziehungen zudem zwingend in die Satzung aufzunehmen sind, handelt es sich bei etwaigen Vergütungen stets um Leistungen causa societatis, die der Kapitalbindung gemäß § 57 unterliegen. Sonstige einmalige Leistungen der AG an die Aktionäre sowie schuldrechtliche Drittgeschäfte beurteilen sich allein nach § 57. III.

Kein Verstoß gegen die Kapitalbindung

3 Die Privilegierung ist daran geknüpft, dass eine angemessene Gegenleistung der AG für die Leistungspflicht des Aktionärs vorliegt.3) Es ist also zu fragen, ob die AG für die Leistung des Aktionärs zu viel entrichtet und damit letztlich eine verbotene verdeckte Gewinnausschüttung vorliegt. Maßgeblich hierfür ist eine konkrete objektive Betrachtung anhand des Marktüblichen (Drittvergleich).4) Satzungsmäßige Festlegungen über die Angemessenheit sind daher insofern unbeachtlich. Würde man dies abweichend beurteilen, könnte über § 61 die Kapitalbindung unterlaufen werden. Konsequenterweise hat der Vorstand bei der Festlegung der Vergütung auch keinen Beurteilungsspielraum im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit § 57 (streitig).5) 4 Handelt es sich hiernach um eine überhöhte Gegenleistung der AG, greift die Privilegierung nicht, und der Leistungsaustausch wird nach den allgemeinen Regeln des § 57 beurteilt. Nach zutreffender Ansicht sind die Rechtsgeschäfte weder schuldrechtlich noch dinglich unwirksam (siehe § 57 Rz. 40). Leistung und überhöhte Gegenleistung sind zu saldieren; der Differenzbetrag ist nach § 62 zu erstatten.6) Der Vorstand haftet ggf. gemäß § 93 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 5 auf Schadensersatz. _____________ So auch Cahn in: BeckOGK-AktR, § 61 AktG Rz. 3; abweichend K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 61 Rz. 2, der durchaus vertretbar im Hinblick auf den sog. Drittvergleich aus § 61 Rückschlüsse auf die tatbestandliche Konkretisierung von § 57 bei verdeckten Gewinnausschüttungen zieht. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 61 AktG Rz. 5. Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 58 AktG Rz. 2. RG, Urt. v. 10.4.1901 – I 499/00, RGZ 48, 102, 104 f.; Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 58 AktG Rz. 2, Bayer in: MünchKomm-AktG, § 61 Rz. 5; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 61 AktG Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 61 Rz. 3. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 61 Rz. 2. RG, Urt. v. 19.5.1922 – II 550/21, RGZ 104, 349, 350 f.; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 61 AktG Rz. 13.

1)

2) 3) 4)

5) 6)

§ 62 Haftung der Aktionäre beim Empfang verbotener Leistungen Wolfgang Servatius

(1) 1Die Aktionäre haben der Gesellschaft Leistungen, die sie entgegen den Vorschriften dieses Gesetzes von ihr empfangen haben, zurückzugewähren. 2Haben sie Beträge als Gewinnanteile bezogen, so besteht die Verpflichtung nur, wenn sie wußten oder infolge von Fahrlässigkeit nicht wußten, daß sie zum Bezuge nicht berechtigt waren. 364

Wolfgang Servatius

Haftung der Aktionäre beim Empfang verbotener Leistungen

§ 62

(2) 1Der Anspruch der Gesellschaft kann auch von den Gläubigern der Gesellschaft geltend gemacht werden, soweit sie von dieser keine Befriedigung erlangen können. 2Ist über das Vermögen der Gesellschaft das Insolvenzverfahren eröffnet, so übt während dessen Dauer der Insolvenzverwalter oder der Sachwalter das Recht der Gesellschaftsgläubiger gegen die Aktionäre aus. (3) 1Die Ansprüche nach diesen Vorschriften verjähren in zehn Jahren seit dem Empfang der Leistung. 2§ 54 Abs. 4 Satz 2 findet entsprechende Anwendung. Literatur: Bayer/Scholz, Wirksamkeit von Verpflichtungs- und Erfüllungsgeschäft bei verbotener Einlagenrückgewähr (BGH v. 12.3.2013), AG 2013, 426; Cahn, Sekundäre Schadensersatzpflichten des Aufsichtsrats wegen unterlassener Anspruchsdurchsetzung – Nachlese zur Easy Software-Entscheidung des BGH, ZHR 184 (2020) 297; Canaris, Die Rückgewähr von Gesellschaftereinlagen durch Zuwendungen an Dritte, in: Festschrift für Robert Fischer, 1979, S. 31; Joost, Grundlagen und Rechtsfolgen der Kapitalerhaltungsregeln im Aktienrecht, ZHR 149 (1985) 419; Koch, Die Verzinsung des Rückgewähranspruchs beim Empfang verbotener Leistungen im Aktien- und GmbH-Recht, AG 2004, 20; Leuschner, Öffentliche Umplatzierung, Prospekthaftung und Innenregress, NJW 2011, 3275; Mylich, Rückgewähranspruch einer AG nach Ausschüttung oder Abführung von Scheingewinnen, AG 2011, 765; Rosengarten, Die Rechtsfolgen eines „verdeckten“ Verstoßes gegen § 57 AktG: Endgültiger Abschied von der Nichtigkeit, ZHR 168 (2004) 70; Servatius, Über die Beständigkeit des Erstattungsanspruchs wegen Verletzung des Stammkapitals, GmbHR 2000, 1028; Servatius, Nutzungsweise Überlassung von Betriebsmitteln der GmbH an Gesellschafter als Auszahlung gemäß §§ 30, 31 GmbHG, GmbHR 1998, 723; Thiessen, Zur Neuregelung der Verjährung im Handels- und Gesellschaftsrecht, ZHR 168 (2004) 503; Vetter, Geschäfte der AG mit ihren Aktionären und mit dem Vorstand nahestehenden Unternehmen, Der Konzern 2012, 437; Wiesner, Übergang des Rückgewähranspruchs nach § 62 Abs. 1 AktG auf den Aktienerwerber, in: Festschrift für Thomas Raiser, 2005, S. 471; Witt, Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen § 57 AktG, ZGR 2013, 668.

Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt .................................................. 1 II. Rückerstattungspflicht (§ 62 Abs. 1) ....................................... 3 1. Gegenstand der Rückerstattung ........ 4 2. Schuldner ............................................ 6 3. Gutgläubiger Gewinnbezug ............... 7 a) Gewinnbezug ................................ 8 b) Gutgläubigkeit .............................. 9 I.

4. Geltendmachung .............................. III. Geltendmachung durch die Gläubiger und in der Insolvenz (§ 62 Abs. 2) ..................................... 1. Verfolgungsrecht der Gläubiger ...... 2. Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Insolvenzverwalters .... IV. Verjährung (§ 62 Abs. 3) ................

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11 11 13 14

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

§ 62 beruht auf Art. 57 der Gesellschaftsrechts-Richtlinie1) und regelt zwingend die Rechts- 1 folgen bei Verstößen gegen das Auszahlungsverbot gemäß § 57. Wegen des doppelten Schutzzwecks dieser Norm (siehe § 57 Rz. 4 f.) kommt die Erstattung nicht nur in Betracht, wenn auf Kosten der Gläubiger Gesellschaftsvermögen ausgekehrt wurde, sondern auch dann, wenn nur die Formalia für die Gewinnverwendung nicht eingehalten wurden.2) Der Anwendungsbereich von § 62 Abs. 1 erstreckt sich so letztlich auf alle Leistungen, _____________ 1) 2)

Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (Gesellschaftsrechts-Richtlinie), ABl. (EU) L 169/46 v. 30.6.2017. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 62 Rz. 38.

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Haftung der Aktionäre beim Empfang verbotener Leistungen

die von einem Aktionär entgegen den Vorschriften des AktG erlangt wurden.3) Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 hat der Empfänger einer verbotenen Auszahlung diese an die AG zurückzugewähren; § 62 Abs. 1 Satz 2 schwächt die Rückzahlungspflicht insoweit ab, als der gutgläubige Gewinnbezug Bestandskraft hat. Der Rückerstattungsanspruch kann gemäß § 62 Abs. 2 Satz 1 bei Vermögenslosigkeit der AG auch von den Gesellschaftsgläubigern geltend gemacht werden; gemäß § 62 Abs. 2 Satz 2 obliegt die Geltendmachung im Insolvenzverfahren dem Verwalter. Die Rückerstattungspflicht verjährt gemäß § 62 Abs. 3 grundsätzlich in zehn Jahren. 2 Bei Aktionärsdarlehen findet die Regelung keine Anwendung mehr, seitdem der Gesetzgeber diese gemäß § 57 Abs. 1 Satz 4 im Zuge des MoMiG einer materiell-rechtlichen Verstrickung im Vorfeld der Insolvenz entzogen hat (vgl. für die Darlehensrückzahlung nunmehr §§ 39, 135 InsO, siehe hierzu Anh. zu § 57). Im Konzern ist die Rückerstattungspflicht bei verbotenen Rückzahlungen gemäß §§ 57 Abs. 1 Satz 3, 291 Abs. 3 von § 302 verdrängt, wenn ein Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrag besteht. Bei faktischen Konzernlagen geht § 311 vor, so dass die Geltendmachung insoweit zeitlich aufgeschoben ist (siehe hierzu § 57 Rz. 39). II.

Rückerstattungspflicht (§ 62 Abs. 1)

3 Die Rückerstattungspflicht ist die verschuldensunabhängige spezialgesetzliche Sanktion für Verstöße gegen § 57.4) Einzelheiten siehe bei § 57 Rz. 9 ff. Auch subjektive Merkmale haben bei § 62 Abs. 1 Satz 1 keine Bedeutung (§ 62 Abs. 1 Satz 2 e contrario, siehe § 57 Rz. 39 und unten Rz. 7 ff.). Nimmt man – mit der heute h. M. (siehe § 57 Rz. 40) – an, dass das schuldrechtliche und dingliche Geschäft trotz des Verstoßes wirksam bleiben, ist diese Erstattungspflicht die einzige Möglichkeit, den unzulässigen Vermögenstransfer rückgängig zu machen. Es handelt sich insofern um einen gesellschaftsrechtlichen Anspruch eigener Art (ebenso wie § 31 GmbHG);5) die Regelungen des Bereicherungsrechts – insbesondere die Möglichkeit der Entreicherung – finden hierauf keine Anwendung;6) vgl. aber den Schutz beim gutgläubigen Gewinnbezug gemäß § 62 Abs. 1 Satz 2 (siehe unten Rz. 9). Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, dass eine verbotene Auszahlung zugleich eine unentgeltliche Zuwendung i. S. von § 134 InsO bzw. § 4 AnfG darstellen kann und damit der Insolvenzanfechtung unterliegt.7) Das Verhältnis dieser beiden Regelungskomplexe zueinander ist nach wie vor nicht abschließend geklärt. Vgl. zur Schadensersatzhaftung des Vorstands im Übrigen § 93 Abs. 3 Nr. 1 und 2. 1.

Gegenstand der Rückerstattung

4 Gegenstand der Rückerstattung ist die verbotene Leistung (actus contrarius). Sofern dies möglich ist, richtet sich der Anspruch auf gegenständliche Rückgewähr (streitig).8) Dies _____________ 3) 4) 5) 6) 7) 8)

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Vgl. für die Verletzung von Mitteilungspflichten BGH, Urt. v. 5.4.2016 – II ZR 268/14, ZIP 2016, 1919. Zum Sanktionscharakter Servatius, GmbHR 2000, 1028 – für den vergleichbaren § 31 GmbHG. RG, Urt. v. 15.12.1941 – II 103/41, RGZ 168, 301; BGH, Urt. v. 14.12.1959 – II ZR 187/57, BGHZ 31, 265; zur ratio legis Koch, AG 2004, 20, 23. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 62 Rz. 7. Vgl. BGH, Urt. v. 22.12.2005 – IX ZR 190/02, BGHZ 165, 343, 349 = ZIP 2006, 243, 244 ff.; Mylich, AG 2011, 765, 766 ff. BGH, Urt. v. 17.3.2008 – II ZR 24/07, ZIP 2008, 922 = NZG 2008, 467; BGH, Urt. v. 31.5.2011 – II ZR 141/09 (Dritter Börsengang), ZIP 2011, 1306 = NJW 2011, 2719; BGH, Urt. v. 12.3.2013 – II ZR 179/12, ZIP 2013, 819 = NZG 2013, 496; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 62 Rz. 47; Hüffer/KochKoch, AktG, § 62 Rz. 9 („in corpore“); abweichend, für generellen Wertersatz, Joost, ZHR 149 (1985) 419, 420; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 57 Rz. 23 f.; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 62 Rz. 18; differenzierend Bayer/Scholz, AG 2013, 426, 427 f. – Wertersatz oder Rückabwicklung.

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Haftung der Aktionäre beim Empfang verbotener Leistungen

§ 62

betrifft regelmäßig die Fälle, in denen einem Aktionär seitens der AG etwas ohne Gegenleistung zugewendet wurde (z. B. überhöhte Dividende) bzw. der Aktionär sich rechtsgrundlos eigenmächtig bereichert hat (z. B. Entnahme). Die Bedeutung dieses aus dem Wortlaut folgenden Prinzips ist jedoch letztlich gering.9) In vielen Fällen folgt nämlich aus dem begrenzten Schutzzweck der Vermögensbindung lediglich ein Anspruch auf Wertersatz in Geld. Dies gilt einmal, wenn das Empfangene nicht zurückgewährt werden kann;10) zum anderen, wenn die verbotene Auszahlung sich bereits aus einer Saldierung verschiedener Leistungsvorgänge als Geldbetrag ergibt (siehe § 57 Rz. 12). Insbesondere bei verdeckten Gewinnausschüttungen ist vorrangig anhand des Auszahlungsbegriffs zu ermitteln, in welcher Höhe die verbotene Auszahlung wertmäßig erfolgt.11) Die Rückerstattungspflicht richtet sich dann originär auf diesen Geldbetrag. § 57 schützt das Gesellschaftsvermögen nicht gegenständlich, so dass auch die Rückerstattungspflicht nicht zu einer Aufbrechung des Saldierungsgebots führt. Wird daher z. B. eine Sache an einen Aktionär zu einem zu niedrigen Kaufpreis übereignet, kann über § 62 Abs. 1 keine Pflicht zur Rückübereignung begründet werden. Kommt es zwischen der Leistung an den Aktionär und der Geltendmachung des Anspruchs 5 zu Wertverlusten, hat der Zahlungspflichtige diese in Geld auszugleichen.12) Zwischenzeitliche Wertsteigerungen gebühren umgekehrt der AG. Kann eine Leistung nicht gegenständlich erstattet werden, kommen über §§ 280, 281 BGB auch Schadensersatzansprüche gegen den Aktionär in Betracht.13) Wegen der funktionalen Vergleichbarkeit von Erstattungs- und Einlagepflicht folgt eine Verzinsung des Anspruchs aus § 62 Abs. 1 in entsprechender Anwendung von § 63 Abs. 2, mithin ohne das Verzugserfordernis (streitig).14) 2.

Schuldner

Die Erstattungspflicht trifft im Ausgangspunkt den Aktionär als Leistungsempfänger. 6 Mehrere Leistungsempfänger haften als Gesamtschuldner.15) Maßgeblich ist der Zeitpunkt des Leistungsempfangs (siehe § 57 Rz. 25 ff., 32 ff.).16) Die nachfolgende Veräußerung der Aktien ändert hieran nichts; der Erwerber haftet nicht.17) Zur Einbeziehung künftiger und ehemaliger Aktionäre in das Auszahlungsverbot siehe § 57 Rz. 33. Es gibt keine Ausfallhaftung der Mitaktionäre (vgl. aber bei der GmbH § 31 Abs. 3 GmbHG). Indem das Auszahlungsverbot gemäß § 57 zum Schutz vor Umgehungen jedoch auch bei Leistungen an Dritte gilt (siehe § 57 Rz. 34 ff.), ist im Hinblick auf die Erstattungspflicht zu differenzieren: Erfolgt die Zurechnung des Dritten wegen eines besonderen Näheverhältnisses zu einem Aktionär (siehe § 57 Rz. 35), sind sowohl der Aktionär als auch der Dritte zur Rückerstattung als Gesamtschuldner verpflichtet.18) Der von der Literatur teilweise vorgenommenen Differenzierung danach, wer die Zahlung veranlasst hat, oder ob _____________ 9) 10) 11) 12) 13) 14) 15) 16) 17) 18)

Ähnlich Cahn in: BeckOGK-AktR, § 62 AktG Rz. 23. Vgl. für Nutzungsüberlassungen Servatius, GmbHR 1998, 723. Ähnlich Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 62 Rz. 10 – Ersetzungsbefugnis des Aktionärs. BGH, Urt. v. 10.5.1993 – II ZR 74/92, BGHZ 122, 333, 338 f. = ZIP 1993, 917; BGH, Urt. v. 17.3.2008 – II ZR 24/07, ZIP 2008, 922 = NZG 2008, 467. BGH, Urt. v. 31.5.2011 – II ZR 141/09 (Dritter Börsengang), ZIP 2011, 1306 = NJW 2011, 2719; kritisch Leuschner, NJW 2011, 3275, 3276. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 62 Rz. 11 m. w. N.; abweichend Bayer in: MünchKomm-AktG, § 62 Rz. 60. BGH, Urt. v. 18.6.2007 – II ZR 86/06, BGHZ 173, 1 = ZIP 2007, 1705; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 62 Rz. 9; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 62 Rz. 17. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 62 Rz. 4. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 62 Rz. 25; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 62 Rz. 12. Vgl. für den Treugeber BGH, Urt. v. 13.11.2007 – XI ZR 294/07, ZIP 2008, 118 = NZG 2008, 106.

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Haftung der Aktionäre beim Empfang verbotener Leistungen

der Dritte den Verstoß kannte oder kennen musste, ist nicht zuzustimmen.19) Die Vermögensbindung ist objektiv und lässt für derartige Einschränkungen keinen Raum. Werden Dritte unmittelbar aufgrund ihrer Nähe zur AG einbezogen (so die h. M. vor allem beim atypischen Stillen, siehe § 57 Rz. 36), sind diese konsequenterweise zur Rückerstattung verpflichtet.20) 3.

Gutgläubiger Gewinnbezug

7 Gemäß § 62 Abs. 1 Satz 2 ist die Rückerstattung beim gutgläubigen Gewinnbezug ausgeschlossen (vgl. für die GmbH insoweit § 32 GmbHG).21) a)

Gewinnbezug

8 Erforderlich ist, dass die verbotene Auszahlung Gegenstand eines Gewinnverwendungsbeschlusses gemäß § 174 oder einer Abschlagszahlung gemäß § 59 war.22) Andere Zuwendungen, insbesondere verdeckte Gewinnausschüttungen, fallen nicht hierunter, denn die Regelung schützt mittelbar die förmliche Gewinnverwendung. Praktisch bedeutsam ist daher vor allem, wenn ein Gewinnverwendungsbeschluss nichtig oder anfechtbar ist.23) b)

Gutgläubigkeit

9 Der Empfänger ist gutgläubig, wenn er im Leistungszeitpunkt weder Kenntnis noch fahrlässige Unkenntnis davon hatte, dass er zum konkreten Gewinnbezug nicht berechtigt war. Der Maßstab für fahrlässiges Handeln hängt davon ab, ob es sich um einen bloßen privaten Anlegeraktionär handelt oder um einen geschäftserfahrenen Großaktionär.24) Von Ersterem kann man kaum eine Nachforschung erwarten, um die Attraktivität der Aktienanlage nicht allzu sehr zu schmälern.25) Die Beweislast für die Bösgläubigkeit trifft die AG.26) 4.

Geltendmachung

10 Der Anspruch aus § 62 Abs. 1 steht allein der AG zu.27) Eine Geltendmachung gemäß § 147 kommt nicht in Betracht.28) Er ist im Auszahlungszeitpunkt fällig.29) Die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs obliegt grundsätzlich dem Vorstand (zu den Ausnahmen nach § 62 Abs. 2 siehe unten Rz. 11 ff.); ist der Aktionär selbst Alleinvorstand oder geht es um die Geltendmachung von Ansprüchen gegen Gesellschaften, an denen ein Vorstands_____________ 19) Gegen eine Heranziehung von Familienangehörigen vor allem Canaris in: FS Fischer, S. 31, 36 ff.; zum Ganzen K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 62 Rz. 15. 20) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 62 Rz. 14. 21) Zum Ganzen Mylich, AG 2011, 765. 22) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 62 Rz. 61; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 62 AktG Rz. 27. 23) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 62 Rz. 22. 24) OLG Stuttgart, Urt. v. 10.1.2014 – 20 U 8/13, AG 2015, 284, 285 = ZIP 2015, 378, dazu EWiR 2015, 143 (Wachter) – zum Alleinaktionär; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 62 Rz. 24; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 62 Rz. 71 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 62 Rz. 13; zum beachtlichen Rechtsirrtum RG, Urt. v. 2.10.1911 – IV 676/10, RGZ 77, 88, 92. 25) Zur gesetzgeberischen Billigung der rationalen Apathie der Publikumsaktionäre Servatius, Strukturmaßnahmen als Unternehmensleitung, 2003, S. 1906 ff. 26) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 62 Rz. 71; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 62 AktG Rz. 29; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 62 Rz. 14. 27) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 62 Rz. 3. 28) Vgl. OLG Karlsruhe, Urt. v. 14.3.2018 – 11 U 35/17, Rz. 49 ff., NZG 2018, 508 = ZIP 2018, 627. 29) BGH, Urt. v. 24.3.1980 – II ZR 213/77, BGHZ 76, 326, 333 f. = ZIP 1980, 361; BGH, Urt. v. 5.2.1990 – II ZR 114/89, NJW 1990, 1730 = ZIP 1990, 451.

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Haftung der Aktionäre beim Empfang verbotener Leistungen

§ 62

mitglied beteiligt ist, ist der Aufsichtsrat vertretungsbefugt.30) Der Vorstand ist unverzüglich nach Kenntnis von den anspruchsbegründenden Tatsachen zur Geltendmachung verpflichtet (für den Aufsichtsrat gilt nach dem Vorgesagten das Gleiche). Unterlässt er dies schuldhaft, haftet er gemäß § 93 Abs. 3 seinerseits der AG gegenüber auf Schadensersatz.31) Im Übrigen sind Vorstand und Aufsichtsrat gemäß § 93 Abs. 3 Nr. 1 (i. V. m. § 116) auch haftungsbewehrt verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, um eine verbotene Einlagenrückgewähr zu verhindern.32) Eine Befreiung des Aktionärs von der Erstattungspflicht ist gemäß § 66 Abs. 2 unzulässig. Die Aufrechnung durch den Aktionär ist entsprechend § 66 Abs. 1 Satz 2 generell unzulässig (§ 134 BGB); die Aufrechnung durch die AG nur dann, wenn der Gegenanspruch des Aktionärs vollwertig und liquide ist.33) Die Abtretung des Anspruchs an Dritte ist möglich;34) jedoch nur gegen ein dem tatsächlichen Realisationswert entsprechendes Entgelt.35) Verstöße hiergegen lassen jedoch die Wirksamkeit der Abtretung unberührt und wirken sich allenfalls als Schadensersatzpflicht der Vorstandsmitglieder aus.36) III.

Geltendmachung durch die Gläubiger und in der Insolvenz (§ 62 Abs. 2)

1.

Verfolgungsrecht der Gläubiger

Nach § 62 Abs. 2 Satz 1 kann der Anspruch auch von Gesellschaftsgläubigern geltend ge- 11 macht werden, soweit diese für ihre Forderungen gegen die AG von dieser keine Befriedigung erlangen. Voraussetzung ist die fehlende Zahlungsfähigkeit, im Regelfall also die masselose Insolvenz. Die Regelung begründet nach zutreffender Ansicht einen Fall der gesetzlichen Prozessstandschaft;37) der Gläubiger kann zwar im eigenen Namen klagen, muss jedoch Leistung in das Gesellschaftsvermögen verlangen.38) Insbesondere der letztgenannte Aspekt fügt sich zwar nahtlos in die Kapitalbindung ein, lässt jedoch möglicherweise das Verfolgungsrecht praktisch leerlaufen. Ein Gläubiger hat hiernach kaum ein Interesse, den Anspruch geltend zu machen, wenn ihm allenfalls eine Quote gebührt. Vorzugwürdig ist daher, die Anspruchsverfolgung zu belohnen, indem der betreffende Gläubiger sich vorrangig befriedigen kann und nur einen darüber hinausgehenden Erlös an das Gesellschaftsvermögen abführen muss.39) Diese Aufweichung des Prinzips der beim Personenverband aggregierten Kapitalbindung rechtfertigt sich damit, dass die Aktionäre noch mehr davon abgeschreckt werden, sich entgegen § 57 zu bedienen und die AG in die masselose Insolvenz fallen zu lassen (Firmenbestattung).

_____________ 30) Vgl. BGH, Urt. v. 15.1.2019 – II ZR 392/17, ZIP 2019, 564 = DStR 2019, 746. 31) Vgl. BGH, Urt. v. 22.12.2005 – IX ZR 190/02, BGHZ 165, 343, 349 = ZIP 2006, 243, 244 ff.; BGH, Urt. v. 18.9.2018 – II ZR 152/17, Rz. 24, NZG 2018, 1301 = NJW 2019, 596, auch im Hinblick auf den Verjährungsbeginn; zum Ganzen Cahn, ZHR 184 (2020) 297. 32) Vgl. BGH, Urt. v. 16.3.2009 – II ZR 280/07, ZIP 2009, 860 = NJW 2009, 2454. 33) Servatius, GmbHR 2000, 1028, 1033 f. 34) BGH, Urt. v. 29.5.2000 – II ZR 118/98, BGHZ 144, 336 = ZIP 2000, 1251. 35) Vgl. BGH, Urt. v. 29.9.1977 – II ZR 157/76, BGHZ 69, 274, 282; BGH, Urt. v. 7.11.1994 – II ZR 270/93, ZIP 1994, 1934, 1939. 36) Vgl. BGH, Urt. v. 29.3.1973 – II ZR 25/70, BGHZ 60, 324, 329 f. 37) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 62 Rz. 78; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 62 Rz. 13; abweichend für § 93 Abs. 5 die wohl h. M., vgl. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 32; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 62 AktG Rz. 31 ff. 38) H. M. vgl. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 62 Rz. 16, Bayer in: MünchKomm-AktG, § 62 Rz. 83 ff.; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 62 Rz. 28. 39) In diese Richtung bereits BGH, Urt. v. 29.9.1977 – II ZR 157/76, BGHZ 69, 274; wie hier auch Cahn in: BeckOGK-AktR, § 62 AktG Rz. 31 ff.; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 62 Rz. 7.

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§ 63

Folgen nicht rechtzeitiger Einzahlung

12 Von der Geltendmachung gemäß § 62 Abs. 2 Satz 1 abzugrenzen ist die ohne weiteres zulässige Möglichkeit, dass ein Gläubiger i. R. der Zwangsvollstreckung für eine Forderung gegen die AG die betreffenden Rückerstattungsansprüche verwertet (Pfändung und Überweisung gemäß §§ 829, 835 ZPO). 2.

Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Insolvenzverwalters

13 Wird über das Vermögen der AG das Insolvenzverfahren eröffnet, ist allein der Insolvenzverwalter gemäß § 80 Abs. 1 InsO zur Geltendmachung des Rückerstattungsanspruchs befugt. § 62 Abs. 2 Satz 2 bezieht sich allein auf das Verfolgungsrecht gemäß § 62 Abs. 2 Satz 1 und stellt klar, dass dieses in der Insolvenz nicht besteht. Im Fall der Eigenverwaltung gemäß §§ 270 ff. InsO obliegt die Geltendmachung allein dem Sachwalter.40) IV.

Verjährung (§ 62 Abs. 3)

14 Der Rückerstattungsanspruch i. S. von § 62 Abs. 1 verjährt gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 in zehn Jahren seit Empfang der Leistung (siehe § 57 Rz. 15 f., 25). Die Verjährungsfrist kann nicht verkürzt, durch Satzungsregelung aber verlängert werden. Wird über das Vermögen der AG das Insolvenzverfahren eröffnet, wird die Verjährung gemäß § 62 Abs. 3 Satz 2 insofern gehemmt, als sie frühestens sechs Monate danach eintritt (Ablaufhemmung). _____________ 40) Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 62 Rz. 8.

§ 63 Folgen nicht rechtzeitiger Einzahlung Wolfgang Servatius

(1) 1Die Aktionäre haben die Einlagen nach Aufforderung durch den Vorstand einzuzahlen. 2Die Aufforderung ist, wenn die Satzung nichts anderes bestimmt, in den Gesellschaftsblättern bekanntzumachen. (2) 1Aktionäre, die den eingeforderten Betrag nicht rechtzeitig einzahlen, haben ihn vom Eintritt der Fälligkeit an mit fünf vom Hundert für das Jahr zu verzinsen. 2Die Geltendmachung eines weiteren Schadens ist nicht ausgeschlossen. (3) Für den Fall nicht rechtzeitiger Einzahlung kann die Satzung Vertragsstrafen festsetzen. Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt ........................................ II. Fälligkeit der Resteinlagen (§ 63 Abs. 1) ....................................... 1. Aufforderung durch den Vorstand ............................................. a) Zuständigkeit, Adressat .............. b) Inhalt ............................................ I.

1 2 3 3 7

c) Bekanntmachung .......................... 8 2. Pfändung, Abtretung .......................... 9 3. Insolvenz ........................................... 11 III. Fälligkeitszinsen, Schadensersatz (§ 63 Abs. 2) ..................................... 12 1. Fälligkeitszinsen ............................... 12 2. Weitergehender Schaden .................. 13 IV. Vertragsstrafe (§ 63 Abs. 3) ............ 14

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

1 Die Norm regelt gemeinsam mit §§ 64, 65 die Einforderung der Resteinlagen und die Folgen der Nichtleistung. Gemäß § 63 Abs. 1 werden die Resteinlagen mit Aufforderung durch den Vorstand fällig; diese ist allein in den Gesellschaftsblättern bekannt zu machen, soweit 370

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Folgen nicht rechtzeitiger Einzahlung

§ 63

die Satzung nichts Abweichendes regelt. Die Fälligkeit ist Voraussetzung für den Beginn der Verjährung nach § 54 Abs. 4.1) Die AG darf vorzeitige Zahlungen eines Aktionärs zurückweisen.2) § 63 Abs. 2 sieht vor, dass fällige Einlageforderungen im Fall der Nichtleistung auch unabhängig vom Verzug mit 5 % zu verzinsen sind und die Geltendmachung eines weiteren Schadens durch die AG nicht ausgeschlossen ist. Gemäß § 63 Abs. 3 kann die Satzung für die Nichtleistung auch Vertragsstrafen vorsehen. II.

Fälligkeit der Resteinlagen (§ 63 Abs. 1)

Der Anwendungsbereich von § 63 Abs. 1 bezieht sich nur auf die Resteinlagen (strei- 2 tig).3) Die Mindesteinlagen sind gemäß § 36a kraft Gesetzes sofort fällig, so dass eine entsprechende Anwendung von § 63 diese Schärfe relativieren würde. Der ggf. darüber hinausgehende eingeforderte Betrag i. S. von § 36 Abs. 2 ist bei der Gründung durch die Gründungssatzung festzulegen bzw. einvernehmlich durch die Gründer außerhalb der Satzung; bei der Kapitalerhöhung obliegt die Festlegung eines die Mindesteinlagen übersteigenden eingeforderten Betrags der Hauptversammlung. Auf Nebenleistungen i. S. von § 55 oder sonstige Ansprüche der AG gegen ihre Aktionäre findet die Regelung keine Anwendung.4) Hier obliegt dem Vorstand nach den allgemeinen Regeln die Geltendmachung der vereinbarten Leistungen. Auf die Erbringung von Sacheinlagen bzw. deren Surrogate ist § 63 Abs. 1 ebenfalls nicht anwendbar, denn hier besteht gemäß § 36a Abs. 2 Satz 1 zwingend sofortige Fälligkeit.5) Auf das (korporative) Agio findet § 63 Abs. 1 auch keine Anwendung, denn hierfür besteht gemäß § 36a Abs. 1 zwingend die sofortige Fälligkeit.6) Für weitere Zuzahlungen, insbesondere ein sog. schuldrechtliches Agio, gilt § 63 Abs. 1 schließlich ebenfalls nicht. Dem Vorstand obliegt insofern jedoch wiederum nach den allgemeinen Regeln die Geltendmachung der vereinbarten Leistungen. 1.

Aufforderung durch den Vorstand

a)

Zuständigkeit, Adressat

Zuständig für die Aufforderung ist der Vorstand als Kollegialorgan (Geschäftsführungs- 3 maßnahme i. S. von § 77). Im Außenverhältnis gegenüber den Aktionären wird die Aufforderung durch Verlautbarung durch die Vorstandsmitglieder in vertretungsbefugter Zahl wirksam (§ 78).7) Im Innenverhältnis kann die Aufforderung an die Zustimmung des Aufsichtsrates gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 gebunden werden; die Hauptversammlung hat zwingend kein Recht auf Einflussnahme (anders bei der GmbH § 46 Nr. 2 GmbHG).8) Die Aufforderung hat sich gemäß § 67 Abs. 2 Satz 1 an die im jeweiligen Zeitpunkt im 4 Aktienregister ausgewiesenen Aktionäre zu richten (nicht voll eingezahlte Aktien sind gemäß § 10 Abs. 2 zwingend Namensaktien). Der Vorstand handelt i. R. seiner allgemeinen Pflichtenbindung gemäß § 93 Abs. 2; er hat kein Ermessen (streitig).9) Letztlich ent_____________ 1) 2) 3)

4) 5) 6) 7) 8) 9)

OLG Hamburg, Urt. v. 2.6.2006 – 11 U 244/05, ZIP 2006, 1677 = AG 2007, 500. Vgl. Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 63 Rz. 14. Abweichend für die Anwendung bei Mindesteinlagen, BGH, Urt. v. 5.4.1993 – II ZR 195/91, BGHZ 122, 180, 201 = ZIP 1993, 667; OLG Hamburg, Urt. v. 2.6.2006 – 11 U 244/05, ZIP 2007, 1677 = AG 2007, 500; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 63 Rz. 1. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 63 Rz. 4; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 63 AktG Rz. 7. Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 63 Rz. 5. Abweichend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 63 Rz. 2. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 63 AktG Rz. 11. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 63 Rz. 12. Abweichend die h. M., vgl. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 63 Rz. 13; Bayer in: MünchKommAktG, § 63 Rz. 28; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 63 Rz. 12.

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§ 63

Folgen nicht rechtzeitiger Einzahlung

scheidet daher der aktuelle oder anstehende Kapitalbedarf darüber, ob die Einforderung der Resteinlagen zu Recht erfolgt oder nicht. Hieraus ließe sich zwar ein individuelles Recht der Aktionäre auf schonende Heranziehung begründen, welches einer Inanspruchnahme entgegengehalten werden könnte. Hiergegen spricht jedoch, dass die Handlungsfähigkeit des Vorstands im Interesse einer adäquaten Kapitalausstattung der AG dann zu sehr eingeschränkt wäre.10) Die Pflichtenbindung hat in Bezug auf die Einforderung der Resteinlagen daher nur insoweit Bedeutung, als der Aufsichtsrat gemäß § 84 Abs. 3 personelle Konsequenzen ziehen kann. 5 Im Übrigen ist der Vorstand jedoch bei der Einforderung an den Gleichbehandlungsgrundsatz gemäß § 53a gebunden.11) Er muss daher die Aktionäre gleichbehandeln, indem er die Resteinlagen von allen anteilig einfordert, bezogen auf ihre über den Nennwert der Aktien vermittelte Beteiligung am Grundkapital. Aus sachlichen Gründen ist jedoch eine Abweichung von der gleichmäßigen Heranziehung zulässig. Dies gilt insbesondere, wenn der (akute) Kapitalbedarf nur so effektiv und schnell befriedigt werden kann. Wird gegen das Gleichbehandlungsgebot verstoßen, hat der in Anspruch genommene Aktionär ein Leistungsverweigerungsrecht.12) Etwas anderes gilt nur, wenn die Einlageforderung von einem Gesellschaftsgläubiger gepfändet wurde.13) 6 Nicht geregelt ist die Möglichkeit, dass die Fälligkeit der Resteinlagen durch Satzungsregelung herbeigeführt wird. Bei der GmbH ist dies ohne weiteres zulässig. Sieht die Satzung hier konkrete Zahlungstermine vor, tritt die Fälligkeit automatisch ein; einer besonderen Aufforderung durch den Geschäftsführer bedarf es nicht.14) Bei der AG soll diese Möglichkeit wegen der Eigenverantwortlichkeit des Vorstands gemäß § 76 nicht zulässig sein (streitig).15) Dem ist nicht zuzustimmen. Wenn die Aktionäre in der Satzung die sofortige vollständige Fälligkeit regeln dürfen, muss dies auch für spätere Zahlungstermine gelten.16) b)

Inhalt

7 Die Aufforderung ist eine geschäftsähnliche Handlung, die die Fälligkeit herbeiführt. Konsequenterweise muss sie hinreichend deutlich sein.17) Dies betrifft: Schuldner (= Inhaber der näher bezeichneten Aktien), Höhe der Forderung, Leistungsmodalitäten (AG als Zahlungsempfänger, Kontoverbindung). Um die Aktionäre nicht sogleich zur Zahlung von Fälligkeitszinsen gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1 zu verpflichten (siehe unten Rz. 12), ist es aus Gründen der Treuepflicht der AG gegenüber ihren Aktionären geboten, dass der Vorstand zumindest eine kurze Zeitspanne für die konkrete Zahlung vorsieht (regelmäßig nicht mehr als eine Woche).18) Andererseits ist auch die Angabe eines genauen Zahlungstermins _____________ 10) So im Ergebnis auch die ganz h. M., vgl. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 63 Rz. 28 m. w. N. 11) RG, Urt. v. 23.10.1914 – II 148/14, RGZ 85, 366 – zur GmbH. 12) H. M., vgl. nur Bayer in: MünchKomm-AktG, § 63 Rz. 31; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 63 Rz. 15; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 63 Rz. 6. 13) Vgl. zur GmbH BGH, Urt. v. 29.5.1980 – II ZR 142/79, ZIP 1980, 551 = NJW 1980, 2253; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 63 Rz. 6. 14) Vgl. zur GmbH: OLG Zweibrücken, Urt. v. 11.12.1994 – 8 U 158/93, GmbHR 1996, 122; OLG Celle, Urt. v. 12.5.1997 – 9 U 204/96, GmbHR 1997, 749; OLG Dresden, Urt. v. 17.7.1996 – 12 U 202/96, GmbHR 1997, 947. 15) H. M., vgl. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 63 Rz. 27; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 63 Rz. 5; K. Schmidt/ Lutter-Fleischer, AktG, § 63 Rz. 11; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 63 Rz. 1. 16) So auch die h. M. bei der Kapitalerhöhung, vgl. BGH, Urt. v. 11.5.2009 – II ZR 137/08, WM 2009, 1199, 1201 = ZIP 2009, 1155, dazu EWiR 2009, 557 (Goslar); Servatius in: BeckOGK-AktR, § 185 AktG Rz. 11. 17) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 63 AktG Rz. 14. 18) Wohl auch K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 63 Rz. 21 – Zahlungsfrist.

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Folgen nicht rechtzeitiger Einzahlung

§ 63

notwendig, damit bei Nichtleistung Schadensersatz ohne vorherige Mahnung geltend gemacht werden kann (siehe unten Rz. 13). c)

Bekanntmachung

Die nach § 63 Abs. 1 Satz 2 erforderliche Bekanntmachung ersetzt den individuellen Zu- 8 gang der Aufforderung bei den Aktionären.19) Im dispositiven gesetzlichen Regelfall bedarf es einer Bekanntmachung im Bundesanzeiger gemäß § 25. Es ist jedoch auch möglich, mittels Satzungsregelung eine andere Bekanntmachungsform vorzuschreiben, z. B. (eingeschriebener) Brief.20) Ein satzungsmäßiger Verzicht auf jegliche Bekanntmachung ist wegen des notwendigen Zugangserfordernisses jedoch unwirksam.21) 2.

Pfändung, Abtretung

Wird die Einlageforderung gemäß §§ 829, 835 ZPO gepfändet, kann der Gläubiger nach 9 Überweisung den Betrag auch ohne Aufforderung durch den Vorstand einziehen (streitig).22) Dies bedeutet zwar eine Verkürzung des Aktionärsschutzes; es ist jedoch wegen der regelmäßig bei der Pfändung bestehenden finanziellen Krise der AG hinzunehmen, um den Gläubigerschutz nicht zu beeinträchtigen (insofern gilt letztlich das Gleiche wie bei der Insolvenz, siehe unten Rz. 11). Auf eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes kann sich der in Anspruch genommene Aktionär ebenfalls nicht berufen.23) Wird die Einlageforderung lediglich abgetreten, verbleibt das Recht zur Herbeiführung der 10 Fälligkeit zwingend beim Vorstand, damit das Gebot zur schonenden und gleichmäßigen Heranziehung (siehe oben Rz. 4 f.) nicht leerläuft.24) 3.

Insolvenz

In der Insolvenz obliegt die Einforderungskompetenz gemäß § 80 Abs. 1 InsO dem Ver- 11 walter. Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats erlöschen insoweit.25) Der Verwalter muss die ausstehenden Einlagen gemäß § 271 Abs. 3 einziehen, soweit dies zur Gläubigerbefriedigung erforderlich ist. Insoweit gilt auch für ihn der Gleichbehandlungsgrundsatz gemäß § 53a.26) III.

Fälligkeitszinsen, Schadensersatz (§ 63 Abs. 2)

1.

Fälligkeitszinsen

Wird der in der Aufforderung anzugebende Zahlungstermin überschritten, haben die be- 12 treffenden Aktionäre gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1 Fälligkeitszinsen i. H. von 5 % p. a. auf den rückständigen Betrag zu zahlen. Der Anspruch ist verschuldensunabhängig und zwingend.27) Nur wenn sich die AG in Annahmeverzug befindet, besteht gemäß § 301 _____________ 19) 20) 21) 22) 23) 24) 25) 26) 27)

K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 63 Rz. 18; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 63 Rz. 6. Vgl. BGH, Urt. v. 15.1.1990 – II ZR 164/88, BGHZ 110, 47, 76 f. = ZIP 1990, 156. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 63 Rz. 36. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 63 Rz. 45; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 63 Rz. 7; abweichend GrigoleitGrigoleit/Rachlitz, AktG, § 63 Rz. 9. BGH, Urt. v. 29.5.1980 – II ZR 142/79, ZIP 1980, 551 = NJW 1980, 2253 – zur GmbH. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 63 Rz. 44; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 63 Rz. 22. RG, Urt. v. 9.12.1899 – I 334/99, RGZ 45, 153, 155. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 63 AktG Rz. 29. BGH, Urt. v. 5.4.1993 – II ZR 195/91, BGHZ 122, 180, 201 = ZIP 1993, 667; RG, Urt. v. 6.11.1917 – III 279/17, RGZ 91, 60, 64 f.

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Ausschluß säumiger Aktionäre

BGB keine Zinspflicht.28) Der Zinsanspruch ist wie die Einlageforderung gemäß § 66 analog gesichert, so dass ein Verzicht oder Erlass unwirksam und die Aufrechnung nur in Ausnahmefällen möglich ist (Einzelheiten bei § 66). Werden die Zahlungstermine zulässigerweise bereits in der Satzung oder im Zeichnungsschein angegeben (siehe oben Rz. 6), ist eine erneute Zahlungsaufforderung entbehrlich.29) 2.

Weitergehender Schaden

13 Gemäß § 63 Abs. 2 Satz 2 ist die Geltendmachung eines weiteren Schadens nicht ausgeschlossen. Dies betrifft vor allem den Verzugsschaden gemäß §§ 280, 286 BGB, der jedoch verschuldensabhängig ist und grundsätzlich eine Mahnung voraussetzt, welche den jeweiligen Aktionären individuell zugehen muss;30) um Letzteres zu vermeiden, ist der Vorstand zur kalendermäßig bestimmten Zahlungsaufforderung gehalten (siehe oben Rz. 7). Der Verzugsschaden ist vor allem deswegen relevant, weil über § 288 Abs. 4 BGB auch weitergehende Schäden ersatzfähig sind, insbesondere ein entgangener Gewinn (§ 252 BGB). Soweit die AG infolge einer Vertragsstrafe gemäß § 63 Abs. 3 keinen Schaden erlitten hat, ist die Ersatzpflicht entsprechend zu kürzen.31) IV.

Vertragsstrafe (§ 63 Abs. 3)

14 Gemäß § 63 Abs. 3 kann die Satzung eine Vertragsstrafe für den Fall nicht rechtzeitiger Leistung vorsehen. Im Einzelnen gelten hierfür die §§ 339 ff. BGB, § 348 HGB. Wegen des Vorrangs der §§ 64, 65 darf die Verwirkung der Vertragsstrafe nicht den Verlust der Mitgliedschaft nach sich ziehen.32) Der Ausschluss vom Gewinnbezug ist hingegen zulässig.33) Die Vertragsstrafe kann neben den Ansprüchen gemäß § 63 Abs. 2 geltend gemacht werden.34) _____________ 28) 29) 30) 31) 32) 33) 34)

K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 63 Rz. 23. BGH, Urt. v. 11.5.2009 – II ZR 137/08, WM 2009, 1199, 1201 = ZIP 2009, 1155. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 63 Rz. 8. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 63 Rz. 25. RG, Urt. v. 25.9.1901 – I 142/01, RGZ 49, 77. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 63 Rz. 56. BGH, Urt. v. 25.3.1963 – II ZR 83/62, NJW 1963, 1197.

§ 64 Ausschluß säumiger Aktionäre Wolfgang Servatius

(1) Aktionären, die den eingeforderten Betrag nicht rechtzeitig einzahlen, kann eine Nachfrist mit der Androhung gesetzt werden, daß sie nach Fristablauf ihrer Aktien und der geleisteten Einzahlungen für verlustig erklärt werden. (2) 1Die Nachfrist muß dreimal in den Gesellschaftsblättern bekanntgemacht werden. 2 Die erste Bekanntmachung muß mindestens drei Monate, die letzte mindestens einen Monat vor Fristablauf ergehen. 3Zwischen den einzelnen Bekanntmachungen muß ein Zeitraum von mindestens drei Wochen liegen. 4Ist die Übertragung der Aktien an die Zustimmung der Gesellschaft gebunden, so genügt an Stelle der öffentlichen Bekanntmachungen die einmalige Einzelaufforderung an die säumigen Aktionäre; dabei muß eine Nachfrist gewährt werden, die mindestens einen Monat seit dem Empfang der Aufforderung beträgt.

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§ 64

Ausschluß säumiger Aktionäre

(3) 1Aktionäre, die den eingeforderten Betrag trotzdem nicht zahlen, werden durch Bekanntmachung in den Gesellschaftsblättern ihrer Aktien und der geleisteten Einzahlungen zugunsten der Gesellschaft für verlustig erklärt. 2In der Bekanntmachung sind die für verlustig erklärten Aktien mit ihren Unterscheidungsmerkmalen anzugeben. (4) 1An Stelle der alten Urkunden werden neue ausgegeben; diese haben außer den geleisteten Teilzahlungen den rückständigen Betrag anzugeben. 2Für den Ausfall der Gesellschaft an diesem Betrag oder an den später eingeforderten Beträgen haftet ihr der ausgeschlossene Aktionär. Literatur: Becker, Der Ausschluss aus der Aktiengesellschaft, ZGR 1986, 383; Rubner/Leuering, Die Kaduzierung von Namensaktien, NJW-Spezial 2021, 335.

Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt ................................ 1 II. Anwendungsbereich ......................... 2 III. Nachfrist, Androhung der Kaduzierung (§ 64 Abs. 1, Abs. 2) ................................................. 3 I.

IV. Kaduzierung (§ 64 Abs. 3) ................ 8 1. Ausschlusserklärung .......................... 8 2. Bekanntmachung ................................ 9 3. Rechtsfolgen ..................................... 10 V. Aktienurkunden (§ 64 Abs. 4 Satz 1) ............................................... 12

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

Die Norm ist zwingend1) und ergänzt die §§ 63, 65. Sie regelt die möglichen Folgen, wenn 1 ein Aktionär seine eingeforderte bzw. fällige Einlageforderung nicht leistet. Das hiernach mögliche Kaduzierungsverfahren verwirklicht mittelbar die effektive Kapitalaufbringung, indem die Aktionäre im Fall der Nichtleistung ihrer Einlagen den Verlust der Aktien befürchten müssen (vgl. darüber hinaus die hiervon abzugrenzende Zwangseinziehung gemäß §§ 237 ff.). Vgl. bei der GmbH die Parallelregelung § 21 GmbHG. Die Durchführung des Kaduzierungsverfahrens obliegt zwingend dem Vorstand (streitig).2) Gemäß § 64 Abs. 1 kann den Aktionären bei Nichtleistung ihrer fälligen Einlagen eine Nachfrist gesetzt werden, mit der die Androhung verbunden ist, dass die Aktien nach erfolglosem Fristablauf für verlustig erklärt werden. Diese Erklärung ist gemäß § 64 Abs. 2 dreimal in den Gesellschaftsblättern bekannt zu machen. Leistet der betreffende Aktionär hierauf nicht, verliert er gemäß § 64 Abs. 3 seine Mitgliedschaft durch entsprechende Erklärung (Kaduzierung), bleibt jedoch gemäß § 64 Abs. 4 Satz 2 subsidiär zur Leistung der Einlage verpflichtet. Gemäß § 64 Abs. 4 Satz 1 sind für die betreffenden Aktien neue Urkunden auszustellen. II.

Anwendungsbereich

Das Kaduzierungsverfahren knüpft gemäß § 64 Abs. 1 an die nicht rechtzeitige Zahlung des 2 eingeforderten Betrags an. Dies betrifft alle Einlageforderungen i. S. von § 54, einschließlich eines korporativen Agios, unabhängig davon, ob es sich um die (ggf. höheren) Mindesteinlagen (vgl. § 36 Abs. 2) oder die Resteinlagen i. S. von § 63 handelt. Letztere müssen freilich nach Maßgabe von § 63 fällig gestellt worden sein. Kommt es i. R. einer wirtschaftlichen Neugründung zu erneuten Einlagepflichten, gilt die Regelung insoweit ebenfalls.3) Auf Sach_____________ 1) 2)

3)

BGH, Urt. v. 28.1.2002 – II ZR 259/00, ZIP 2002, 478 = NZG 2002, 333, dazu EWiR 2002, 413 (Milde); Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 64 Rz. 1. H. M., vgl. nur Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 64 Rz. 2; abweichend Bayer in: MünchKomm-AktG, § 64 Rz. 28 f. – Zuständigkeit der Hauptversammlung satzungsmäßig begründbar, was allerdings nicht mit § 23 Abs. 5 in Einklang zu bringen ist. LG München I, Urt. v. 30.8.2012 – 5 HK O 5699/11, ZIP 2012, 2152 = BeckRS 2012, 22112.

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§ 64

Ausschluß säumiger Aktionäre

einlagen ist die Regelung wegen des eindeutigen Wortlauts nicht unmittelbar anwendbar. Stellt sich jedoch z. B. nachträglich heraus, dass die an sich sofort fällige Leistung gemäß § 36a Abs. 2 tatsächlich nicht erbracht wurde oder nicht werthaltig ist, schuldet der Aktionär entsprechend § 9 Abs. 1 GmbHG den Differenzbetrag in Geld, so dass wegen der Nichtleistung auf diese Forderung das Kaduzierungsverfahren eingeleitet werden kann.4) Für Ansprüche aus Vorbelastungshaftung nach Eintragung der AG (siehe § 41 Rz. 11) gilt die Regelung wegen der Vergleichbarkeit mit der Einlagepflicht entsprechend, nicht jedoch für Schadensersatzansprüche gegen die Gründer gemäß § 46. Auf Nebenleistungspflichten i. S. von § 55 und Ansprüche aus § 63 Abs. 2 und 3 (Fälligkeitszinsen, Vertragsstrafe) findet die Regelung ebenfalls keine Anwendung.5) Im Insolvenzverfahren obliegt die Möglichkeit, ein Kaduzierungsverfahren durchzuführen, dem Verwalter.6) III.

Nachfrist, Androhung der Kaduzierung (§ 64 Abs. 1, Abs. 2)

3 Nicht rechtzeitige Zahlung bedeutet das Verstreichenlassen des Fälligkeitstermins gemäß § 36a bzw. bei den Resteinlagen das Ausbleiben der Zahlung nach Aufforderung des Vorstands gemäß § 63 Abs. 1; auf ein Verschulden des betreffenden Aktionärs kommt es nicht an. Der Vorstand muss – in vertretungsberechtigter Zahl (§ 78) – gemäß § 64 Abs. 1 eine Nachfrist setzen und hierbei androhen, dass die Aktien nach erfolglosem Fristablauf für verlustig erklärt werden. Die Nachfrist darf nicht mit der Einforderung gemäß § 63 verbunden werden.7) Die Nachfrist muss hinreichend deutlich die betroffenen Aktionäre und Einlageforderungen bezeichnen.8) 4 Ob der Vorstand das Kaduzierungsverfahren einleitet oder nicht, entscheidet er auf der Grundlage seiner allgemeinen Pflichtenbindung gemäß § 93 Abs. 2. Er hat hierbei insbesondere kein Ermessen (streitig).9) Gründe, warum bei Nichtleistung ein Kaduzierungsverfahren ausscheidet, dürfte es bei der werbenden AG kaum geben; insbesondere besteht aus Gründen der Schonung der Aktionäre kein Vorrang der Kapitalherabsetzung. Im Liquidationsstadium und in der Insolvenz besteht für die Kaduzierung nur insoweit Raum, als die betreffenden Einlagen nach Maßgabe von § 271 Abs. 3 zur Gläubigerbefriedigung benötigt werden. Beachtlich ist stets § 53a, so dass der Vorstand unter Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht willkürlich die Anteile einiger Aktionäre kaduzieren darf.10) Die zurückgesetzten Aktionäre können insofern ggf. auf Einstellung des Verfahrens klagen. 5 Bei Ausgestaltung der Länge des Kaduzierungsverfahrens besteht demgegenüber durchaus die Möglichkeit, die Interessen der AG und der betroffenen Aktionäre gegeneinander abzuwägen. So muss die Nachfrist ausreichend lang sein, dass der Aktionär sich erneut um die entsprechenden Mittel bemühen kann; siehe zur Mindestfrist gemäß § 64 Abs. 2 Satz 2 unten Rz. 8. Zeichnet sich von Anfang an ab, dass der Aktionär seine Einlage alsbald leisten wird, ist die Einleitung des Kaduzierungsverfahrens missbräuchlich. Aus der Treuepflicht der AG gegenüber ihren Aktionären folgt zudem, dass das Verfahren zu unterbre_____________ 4) Ähnlich Cahn in: BeckOGK-AktR, § 64 AktG Rz. 8. 5) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 64 Rz. 11. 6) Vgl. LG München I, Urt. v. 30.8.2012 – 5 HK O 5699/11, ZIP 2012, 2152, 2154 = BeckRS 2012, 22122; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 64 Rz. 2. 7) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 64 Rz. 4. 8) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 64 Rz. 5 – Angabe von Serie und Nummer der Aktien sowie Höhe des Zahlungsrückstands. 9) Abweichend die wohl h. M., vgl. nur Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 64 Rz. 2 – unter Bezugnahme auf RG, Urt. v. 3.4.1912 – I 178/11, RGZ 79, 174, 178 – „pflichtgemäßes Ermessen“; ebenso Cahn in: BeckOGKAktR, § 64 AktG Rz. 20. 10) RG, Urt. v. 23.10.1914 – II 148/14, RGZ 85, 366, 368; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 64 Rz. 2.

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§ 64

Ausschluß säumiger Aktionäre

chen bzw. gänzlich einzustellen ist, wenn der Aktionär glaubhaft und nachvollziehbar alsbaldige Leistungsbereitschaft angibt.11) Die Nachfrist und Androhung der Kaduzierung müssen gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 drei- 6 mal in den Gesellschaftsblättern bekannt gemacht werden, mithin gemäß § 25 im Bundesanzeiger. Aus den Mindestzeiträumen gemäß § 64 Abs. 2 Satz 2 folgt, dass eine Mindestnachfrist von drei Monaten zu setzen ist. Eine zu kurze Frist ist unheilbar unwirksam.12) Bei vinkulierten Namensaktien (§ 68) genügt gemäß § 64 Abs. 2 Satz 4 die einmalige 7 Zahlungsaufforderung an die säumigen Aktionäre (diese ist von der Aufforderung i. S. von § 63 Abs. 1 abzugrenzen); die Nachfrist beträgt hier mindestens einen Monat nach Empfang der Zahlungsaufforderung gemäß § 64 Abs. 1. Aus Beweisgründen ist es ratsam, die Zahlungsaufforderung mittels eingeschriebenen Briefes zuzusenden.13) IV.

Kaduzierung (§ 64 Abs. 3)

1.

Ausschlusserklärung

Gemäß § 64 Abs. 3 Satz 1 sind die Aktionäre, die den eingeforderten Betrag nach Ablauf 8 der Nachfrist nicht zahlen, vom Vorstand – in vertretungsberechtigter Zahl (vgl. § 78) – ihrer Aktien und der geleisteten Einzahlungen zugunsten der AG für verlustig zu erklären. Aufgrund des Wortlauts ist der Vorstand hierzu verpflichtet (streitig).14) Die Treuepflicht der AG gegenüber ihren Aktionären kann es jedoch auch hier gebieten, das Verfahren abzubrechen, wenn der Aktionär glaubhaft alsbaldige Zahlungsbereitschaft signalisiert und die Ausschlusserklärung noch nicht bekannt gemacht wurde (siehe unten Rz. 9). Die Erklärung muss die betreffenden Aktien gemäß § 64 Abs. 3 Satz 2 genau bezeichnen und in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Fristablauf erfolgen.15) Wird länger als ein Monat gewartet, ist erneut eine Nachfrist mit entsprechender Androhung zu setzen.16) 2.

Bekanntmachung

Die Ausschlusserklärung muss in den Gesellschaftsblättern bekannt gemacht werden, mithin 9 gemäß § 25 im Bundesanzeiger. Eine andere Form der Erklärung ist nicht zulässig.17) 3.

Rechtsfolgen

Die wirksame Kaduzierung führt zu einem nicht umkehrbaren Verlust der Mitgliedschaft 10 der betreffenden Aktionäre. Sie haben fortan keine mitgliedschaftlichen Rechte oder Pflichten mehr; die bereits geleisteten Einlagen können sie nicht zurückfordern. Nicht geltend gemachte Gewinnansprüche aus der Vergangenheit können zwar noch geltend gemacht werden; die AG kann gegen sie jedoch bis zur Kaduzierung aufrechnen, wozu der Vorstand regelmäßig verpflichtet ist. Gemäß § 64 Abs. 4 Satz 2 bleibt der ausgeschlossene Aktionär Ausfallschuldner für die rückständige Einlage, falls sie i. R. der Verwertung gemäß § 65 nicht aufgebracht wird. Die Ausfallhaftung ist zwingend und durch § 66 abgesichert.18) Die _____________ 11) 12) 13) 14) 15) 16) 17) 18)

RG, Urt. v. 7.6.1902 – I 61/02, RGZ 51, 416, 417 – zur GmbH. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 64 Rz. 5. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 64 Rz. 23. Abweichend die h. M., vgl. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 64 AktG Rz. 30 – pflichtgemäßes Ermessen; ebenso Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 64 Rz. 5. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 64 Rz. 48. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 64 Rz. 24. BGH, Urt. v. 28.1.2002 – II ZR 259/00, ZIP 2002, 478 = NZG 2002, 333. Vgl. RG, Urt. v. 26.3.1920 – II 413/19, RGZ 98, 277 – zur GmbH.

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§ 65

Zahlungspflicht der Vormänner

Mitaktionäre haften anders als die Gesellschafter gemäß § 24 GmbHG nicht für den Ausfall. Leistet der Ausfallschuldner den rückständigen Betrag, hat er einen Anspruch auf Wiedereinräumung der Mitgliedschaft ex nunc (streitig).19) 11 Die Aktie bzw. die Mitgliedschaft als solche geht nach zutreffender h. M. jedoch nicht unter, sondern wird bis zur Verwertung gemäß § 65 von der AG treuhänderisch gehalten.20) Insofern unterscheidet sich die Kaduzierung von der Zwangseinziehung gemäß § 237 Abs. 1. Es handelt sich um eigene Aktien i. S. von §§ 71 ff., was im Jahresabschluss gemäß § 160 Abs. 1 Nr. 2 zu erläutern ist. Bis zur Verwertung gemäß § 65 Abs. 3 ruhen gemäß § 71b die Mitgliedschaftsrechte. Die kaduzierten Aktien sind bei §§ 71 ff. zu berücksichtigen (streitig).21) Rechte Dritter an den Aktien (Pfandrecht, Nießbrauch) erlöschen infolge der Kaduzierung, um die Verwertung nach § 65 zu ermöglichen.22) V.

Aktienurkunden (§ 64 Abs. 4 Satz 1)

12 Mit der Kaduzierung werden alle alten Aktienurkunden nichtig, ohne dass es einer besonderen Kraftloserklärung bedürfte.23) Ein gutgläubiger Erwerb ist fortan nicht mehr möglich.24) Gemäß § 64 Abs. 4 Satz 1 sind neue Urkunden auszugeben, auf denen außer den vom ausgeschlossenen Aktionär geleisteten Teilzahlungen der rückständige Betrag anzugeben ist. _____________ 19) Abweichend die h. M. unter Präventionsaspekten, vgl. Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 63 Rz. 10. 20) Statt anderer Bayer in: MünchKomm-AktG, § 64 Rz. 73; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 64 Rz. 8; abweichend noch BGH, Urt. v. 13.7.1964 – II ZR 110/62, BGHZ 42, 89, 92 = NJW 1964, 1954 – subjektlose Rechte. 21) Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 64 Rz. 8. 22) Allg. M., Cahn in: BeckOGK-AktR, § 64 AktG Rz. 41. 23) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 64 AktG Rz. 46; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 64 Rz. 7. 24) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 64 Rz. 7.

§ 65 Zahlungspflicht der Vormänner Wolfgang Servatius

(1) 1Jeder im Aktienregister verzeichnete Vormann des ausgeschlossenen Aktionärs ist der Gesellschaft zur Zahlung des rückständigen Betrags verpflichtet, soweit dieser von seinen Nachmännern nicht zu erlangen ist. 2Von der Zahlungsaufforderung an einen früheren Aktionär hat die Gesellschaft seinen unmittelbaren Vormann zu benachrichtigen. 3Daß die Zahlung nicht zu erlangen ist, wird vermutet, wenn sie nicht innerhalb eines Monats seit der Zahlungsaufforderung und der Benachrichtigung des Vormanns eingegangen ist. 4Gegen Zahlung des rückständigen Betrags wird die neue Urkunde ausgehändigt. (2) 1Jeder Vormann ist nur zur Zahlung der Beträge verpflichtet, die binnen zwei Jahren eingefordert werden. 2Die Frist beginnt mit dem Tage, an dem die Übertragung der Aktie zum Aktienregister der Gesellschaft angemeldet wird. (3) 1Ist die Zahlung des rückständigen Betrags von Vormännern nicht zu erlangen, so hat die Gesellschaft die Aktie unverzüglich zum Börsenpreis und beim Fehlen eines Börsenpreises durch öffentliche Versteigerung zu verkaufen. 2Ist von der Versteigerung am Sitz der Gesellschaft kein angemessener Erfolg zu erwarten, so ist die Aktie an einem geeigneten Ort zu verkaufen. 3Zeit, Ort und Gegenstand der Versteigerung sind öffentlich bekanntzumachen. 4Der ausgeschlossene Aktionär und seine Vormän-

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§ 65

Zahlungspflicht der Vormänner

ner sind besonders zu benachrichtigen; die Benachrichtigung kann unterbleiben, wenn sie untunlich ist. 5Bekanntmachung und Benachrichtigung müssen mindestens zwei Wochen vor der Versteigerung ergehen. Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt .................................................. 1 II. Zahlungspflicht der Vormänner (§ 65 Abs. 1, Abs. 2) ........................... 2 1. Adressaten .......................................... 3 2. Umfang ............................................... 5 I.

3. Geltendmachung ................................ 6 4. Rechtsfolgen ....................................... 8 a) Erwerb der Mitgliedschaft ........... 8 b) Regress .......................................... 9 III. Verkauf der Aktien (§ 65 Abs. 3) ..................................... 10

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

Die Norm regelt zwingend1) den Abschluss des Kaduzierungsverfahrens und sichert die 1 reale Kapitalaufbringung. Leistet ein Aktionär seine Resteinlage nicht nach Aufforderung gemäß § 63, kann seine Mitgliedschaft gemäß § 64 kaduziert werden mit der Folge, dass er aus der AG ausscheidet. Vgl. bei der GmbH die Parallelregelung § 22 GmbHG. Gemäß § 65 Abs. 1 und Abs. 2 haftet fortan jeder im Aktienregister verzeichnete frühere Aktieninhaber für die ausstehende Resteinlage. Der Vorstand ist im Interesse der Kapitalaufbringung zur Geltendmachung dieser Ansprüche verpflichtet.2) Ist von den Verpflichteten keine Zahlung zu erlangen, hat sich die AG gemäß § 65 Abs. 3 um einen Verkauf der Aktien zu bemühen. Der Vorstand ist zur Eintreibung der rückständigen Einlage gemäß dem Vorgesagten verpflichtet.3) Die ausgeschlossenen Aktionäre haften gemäß § 64 Abs. 4 Satz 2 weiterhin subsidiär für die im Verlauf des Kaduzierungsverfahrens nicht aufgebrachten Einlagen. II.

Zahlungspflicht der Vormänner (§ 65 Abs. 1, Abs. 2)

Die Zahlungspflicht der Vormänner kommt nur bei Namensaktien in Betracht; bei Inha- 2 beraktien gibt es gemäß § 10 Abs. 2 keine offenen Resteinlagen. Etwas anderes gilt nur, wenn fälschlich Inhaberaktien ausgegeben wurden.4) Voraussetzung für eine Inanspruchnahme früherer Aktionäre ist die wirksame Durchführung des Kaduzierungsverfahrens gemäß § 64.5) 1.

Adressaten

Zur Zahlung rückständiger Einlagen verpflichtet ist gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 jeder im Ak- 3 tienregister (§ 67) verzeichnete Vormann des gemäß § 64 Abs. 3 ausgeschlossenen Aktionärs. Vgl. zum gemeinschaftlichen Halten von Aktien bei § 69. Gibt es keinen Vormann, ist sogleich nach § 65 Abs. 3 vorzugehen (siehe unten Rz. 10 ff.). War jemand Aktionär ohne den betreffenden Eintrag ins Aktienregister, trifft ihn die Haftung grundsätzlich nicht.6) Etwas anderes gilt nur dann, wenn die AG unverkörperte Mitgliedschaftsrechte ausgegeben hat oder überhaupt kein Aktienregister angelegt wurde (streitig).7) War die _____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7)

Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 65 Rz. 1. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 65 Rz. 2. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 64 Rz. 24. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 64 Rz. 3. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 64 Rz. 24. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 65 Rz. 8. H. M., vgl. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 65 Rz. 23; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 65 Rz. 2; offenlassend BGH, Urt. v. 28.1.2002 – II ZR 259/00, ZIP 2002, 478 = NZG 2002, 333.

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Zahlungspflicht der Vormänner

AG selbst Vormann, kann sie wegen Konfusion nicht in Anspruch genommen werden, richtigerweise aber weitere Vormänner (streitig).8) 4 Die Haftung ist keine gesamtschuldnerische; vielmehr erfolgt ein Staffelregress: Die AG hat sich zunächst an den Rechtsvorgänger des ausgeschlossenen Aktionärs zu wenden, um Vollbefriedigung zu erlangen; ist von diesem keine vollständige Befriedigung zu erlangen, haftet der Vormann des Rechtsvorgängers usw.; ein Sprungregress (vgl. Art. 44 WG) ist nicht möglich.9) Gemäß § 65 Abs. 1 Satz 3 wird die Zahlungsunfähigkeit eines Vormanns widerleglich vermutet, wenn der Betreffende nicht innerhalb eines Monats seit der Zahlungsaufforderung und Benachrichtigung geleistet hat. Der unmittelbare Vormann des ausgeschlossenen Aktionärs haftet ohne weiteres nach der wirksamen Kaduzierung; auf die Zahlungsunfähigkeit des ausgeschlossenen Aktionärs kommt es hier nicht an.10) 2.

Umfang

5 Die Haftung erstreckt sich auf den Betrag der rückständigen Einlage i. S. von § 54;11) die Sicherung der realen Aufbringung gemäß § 66 gilt entsprechend. Haben der Ausgeschlossene oder ein früherer Vormann bereits einen Teil geleistet, ist dies in Abzug zu bringen. Auf Fälligkeitszinsen oder Verzugsschaden (vgl. § 63 Abs. 2) erstreckt sich die Zahlungspflicht nicht; das Gleiche gilt für die Kosten des Kaduzierungsverfahrens.12) Die Leistung hat gemäß § 65 Abs. 1 Satz 4 nur Zug um Zug gegen Aushändigung einer neuen Urkunde zu erfolgen (vgl. § 64 Abs. 4 Satz 1).13) 3.

Geltendmachung

6 Die Zahlungspflicht entsteht nur aufgrund einer entsprechenden Zahlungsaufforderung durch die AG, vertreten durch den Vorstand (§ 65 Abs. 2 Satz 1); im Insolvenzverfahren liegt die Zuständigkeit bei dem Verwalter.14) Diese entspricht inhaltlich den Anforderungen gemäß § 63 Abs. 1 und muss daher den rückständigen Betrag genau angeben. Gemäß § 65 Abs. 2 ist jeder Vormann jedoch nur zur Zahlung der Beträge verpflichtet, die innerhalb von zwei Jahren nach der jeweiligen Aktienveräußerung fällig werden i. S. von § 63 Abs. 1. Hierbei handelt es sich um eine von der Verjährung abzugrenzende und von Amts wegen zu berücksichtigende Ausschlussfrist. Konkret bedeutet dies, dass der frühere Inhaber einer teileingezahlten Aktie nicht mehr haftet, wenn der Vorstand länger als zwei Jahre seit der Veräußerung mit der Einforderung zuwartet. War die Fälligstellung gemäß § 63 Abs. 1 hingegen im Veräußerungszeitpunkt bereits erfolgt, haftet der frühere Aktieninhaber bis zur zehnjährigen Verjährung gemäß § 54 Abs. 4 auch über den Zwei-JahresZeitraum hinaus (streitig).15) 7 Gemäß § 65 Abs. 1 Satz 2 hat der Vorstand mit der Zahlungsaufforderung an den Vormann auch dessen unmittelbaren Vormann zu benachrichtigen. Diese Benachrichtigung _____________ 8) H. M., vgl. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 65 Rz. 4; abweichend Grigoleit/Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 65 Rz. 3. 9) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 65 AktG Rz. 20. 10) OLG Köln, Urt. v. 23.1.1987 – 20 U 148/86, WM 1987, 537. 11) Zur Anwendung bei der wirtschaftlichen Neugründung LG München I, Urt. v. 30.8.2012 – 5 HK O 5699/11, ZIP 2012, 2152 = BeckRS 2012, 22122. 12) Allg. M., vgl. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 65 Rz. 17. 13) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 65 Rz. 6. 14) LG München I, Urt. v. 30.8.2012 – 5 HK O 5699/11, ZIP 2012, 2152 = BeckRS 2012, 22112. 15) Für die dreijährige Verjährung gemäß §§ 195, 199 BGB die wohl h. M., vgl. nur K. Schmidt/LutterFleischer, AktG, § 65 Rz. 25; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 65 Rz. 7; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 65 Rz. 5.

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Zahlungspflicht der Vormänner

ist keine Voraussetzung für die Inanspruchnahme des aktuell Haftenden; sie dient vielmehr bloß der Information des subsidiär haftenden Vormanns, damit dieser den aktuell Haftenden zwecks Vermeidung der eigenen Inanspruchnahme zur Leistung drängt.16) 4.

Rechtsfolgen

a)

Erwerb der Mitgliedschaft

Leistet ein zur Zahlung verpflichteter Vormann die rückständige Einlage, erwirbt er die 8 Mitgliedschaft kraft Gesetzes, einschließlich der bereits geleisteten Einlagen.17) § 68 gilt insofern nicht. Gemäß § 65 Abs. 1 Satz 4 ist ihm eine neue Aktienurkunde auszuhändigen. Die mit der Kaduzierung erloschenen Rechte Dritter an der Aktie (siehe § 64 Rz. 11) leben mit dem Rechtserwerb des Ausfallschuldners nicht wieder auf. b)

Regress

Derjenige, der nach dem Vorgesagten Inhaber einer volleingezahlten Aktie wird, soll nach 9 h. M. Erstattungsansprüche gegen seine Nachmänner und den ausgeschlossenen Aktionär nach bürgerlichem Recht haben.18) Dies dürfte jedoch regelmäßig nur im Verhältnis zum unmittelbaren Nachmann aufgrund einer entsprechenden vertraglichen Abrede der Fall sein. Jenseits dieser Konstellation ist es im Staffelregress angelegt, dass letztlich nur derjenige die Aktien erwirbt, der die Einlage vollständig aufbringt. Indem die Vormänner dies – entgegen § 65 – nicht zu leisten vermochten, ist es nicht geboten, ihnen jetzt Regressansprüche gegen den Ausfallschuldner zuzubilligen. III.

Verkauf der Aktien (§ 65 Abs. 3)

Ist der rückständige Betrag nach den § 65 Abs. 1 und Abs. 2 von keinem der Vormänner 10 vollständig zu erlangen, ist der Vorstand unverzüglich19) zum bestmöglichen Verkauf nach Maßgabe von § 65 Abs. 3 verpflichtet. Dies erfolgt zuvörderst durch einen Verkauf über die Börse zum Börsenpreis (vgl. § 24 BörsG) oder i. R. einer öffentlichen Versteigerung am satzungsmäßigen Sitz der AG (vgl. § 383 Abs. 3 BGB), falls sich kein marktgerechter Börsenpreis ermitteln lässt. Zeit, Ort und Gegenstand der Versteigerung sind gemäß § 65 Abs. 3 Satz 3 öffentlich bekannt zu machen, gemäß § 65 Abs. 3 Satz 4 sind der ausgeschlossene Aktionär und seine Vormänner im Regelfall ebenfalls zu informieren. Sofern dies nicht erfolgversprechend ist, kann gemäß § 65 Abs. 3 Satz 2 auch eine andere Verwertungsart gewählt werden, regelmäßig der freihändige Verkauf.20) Der Erwerber wird Aktionär. Bleibt der Kaufpreis hinter der rückständigen Einlage zu- 11 rück, gilt diese als getilgt.21) Die Kaufpreisschuld des Erwerbers aus § 433 Abs. 2 BGB wird wegen ihrer Ähnlichkeit mit der Einlageforderung entsprechend § 66 abgesichert.22) Die subsidiäre Haftung des ausgeschlossenen Aktionärs und die Ausfallhaftung der Vormänner sollen selbst dann erlöschen, wenn der Kaufpreis hinter der rückständigen Einlagefor_____________ 16) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 65 Rz. 33. 17) Allg. M., vgl. nur Cahn in: BeckOGK-AktR, § 65 AktG Rz. 33; abweichend aber Grigoleit-Grigoleit/ Rachlitz, AktG, § 65 Rz. 3. 18) Vgl. nur Cahn in: BeckOGK-AktR, § 66 AktG Rz. 39 ff. 19) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 65 Rz. 8. 20) Vgl. zur Behandlung von Verfahrensmängeln Cahn in: BeckOGK-AktR, § 65 AktG Rz. 68 ff. 21) Allg. M., vgl. nur K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 65 Rz. 34. 22) Mit teilweise abweichender Begründung auch Bayer in: MünchKomm-AktG, § 65 Rz. 96; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 65 AktG Rz. 65; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 65 Rz. 10; vgl. zur GmbH auch BGH, Urt. v. 17.7.1964 – II ZR 110/62, NJW 1964, 1954.

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§ 66

Keine Befreiung der Aktionäre von ihren Leistungspflichten

derung zurückbleibt.23) Dem ist nur in Bezug auf die Vormänner zuzustimmen. Die Haftung des ausgeschlossenen Aktionärs bleibt wegen des eindeutigen Wortlauts von § 64 Abs. 4 Satz 2 auch über den Abschluss des Kaduzierungsverfahrens hinaus bestehen, um diesen bis zur Verjährung gemäß § 54 Abs. 4 zur Leistung zu verpflichten.24) 12 Sind die betreffenden Aktien unverkäuflich, bleibt die AG Inhaberin;25) der Vorstand hat wegen des Gebots der realen Kapitalaufbringung jedoch bis zur Verjährung gemäß § 54 Abs. 4 ggf. erneut zu versuchen, vom ausgeschlossenen Aktionär oder den Vormännern Zahlung zu verlangen oder die Aktien an Dritte zu veräußern.26) Praktisch geboten ist, für derartige Fälle eine Satzungsregelung zur Zwangseinziehung gemäß § 237 vorzusehen. _____________ 23) 24) 25) 26)

Vgl. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 65 Rz. 36. So auch Cahn in: BeckOGK-AktR, § 65 AktG Rz. 61; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 65 Rz. 10. RG, Urt. v. 11.6.1915 – II 105/15, RGZ 86, 421. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 65 Rz. 20, 98; teilweise abweichend Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 65 Rz. 3 – Erlöschen wegen Konfusion.

§ 66 Keine Befreiung der Aktionäre von ihren Leistungspflichten Wolfgang Servatius

(1) 1Die Aktionäre und ihre Vormänner können von ihren Leistungspflichten nach den §§ 54 und 65 nicht befreit werden. 2Gegen eine Forderung der Gesellschaft nach den §§ 54 und 65 ist die Aufrechnung nicht zulässig. (2) Absatz 1 gilt entsprechend für die Verpflichtung zur Rückgewähr von Leistungen, die entgegen den Vorschriften dieses Gesetzes empfangen sind, für die Ausfallhaftung des ausgeschlossenen Aktionärs sowie für die Schadenersatzpflicht des Aktionärs wegen nicht gehöriger Leistung einer Sacheinlage. (3) Durch eine ordentliche Kapitalherabsetzung oder durch eine Kapitalherabsetzung durch Einziehung von Aktien können die Aktionäre von der Verpflichtung zur Leistung von Einlagen befreit werden, durch eine ordentliche Kapitalherabsetzung jedoch höchstens in Höhe des Betrags, um den das Grundkapital herabgesetzt worden ist. Literatur: Hentzen, Zulässigkeit der Verrechnung des Verlustausgleichsanspruchs aus § 302 Abs. 1 AktG im Cash Pool, AG 2006, 133; Fleischer, Vergleiche über Organhaftungs-, Einlageund Drittansprüche der Aktiengesellschaft, AG 2015, 133; Habersack/Weber, Die Einlageforderung als Gegenstand von Aufrechnung, Abtretung, Verpfändung und Pfändung, ZGR 2014, 509; Kersting, Verdeckte Sacheinlage in der Aktiengesellschaft: Erleichterungen durch das MoMiG, AG 2008, 883; Müller, Zur Pfändung der Einlageforderung der AG, AG 1971, 1; Müller, Zur Abtretung der Einlageforderung der GmbH, GmbHR 1970, 57; Priester, Vergleich über Einlageforderungen – Zustimmungserfordernis der Hauptversammlung, AG 2012, 525; Stobbe, Die Durchsetzung gesellschaftsrechtlicher Ansprüche der insolventen GmbH im Gläubigerinteresse, 2000; Verse, (Gemischte) Sacheinlagen, Differenzhaftung und Vergleich über Einlageforderungen, ZGR 2012, 875.

Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt ........................................ 1 II. Umfassendes Befreiungsverbot (§ 66 Abs. 1, Abs. 2) .......................... 3 1. Erfasste Verbindlichkeiten ................ 4 382

2. Unzulässige Befreiung ........................ 7 3. Besonderheiten bei der Aufrechnung ....................................... 8 a) Aufrechnung durch den Aktionär ........................................ 8

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Keine Befreiung der Aktionäre von ihren Leistungspflichten b) Aufrechnung durch die AG ....... 10 4. Rechtsfolgen bei Verstößen ............. 14 I.

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III. Vorrang der Kapitalherabsetzung (§ 66 Abs. 3) ............. 15

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

Die zwingende Norm sichert – dem Wortlaut nach unvollständig – die reale Kapitalauf- 1 bringung, indem die Aktionäre gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 von ihrer Einlagepflicht i. S. von § 54 und der Ausfallhaftung gemäß § 65 nicht befreit werden können.1) § 66 Abs. 1 Satz 2 verbietet zusätzlich die Aufrechnung durch den Aktionär gegen die genannten Forderungen der AG. § 66 Abs. 2 dehnt die Absicherung auf die Erstattungspflicht gemäß § 62, die Ausfallhaftung des ausgeschlossenen Aktionärs gemäß § 64 Abs. 4 Satz 2 und die Schadensersatzpflicht wegen nicht gehöriger Erbringung von Sacheinlagen aus. § 66 Abs. 3 stellt klar, dass eine Befreiung von den Einlagepflichten der Aktionäre nur durch eine Kapitalherabsetzung herbeigeführt werden kann. Die Norm fügt sich mittlerweile nicht mehr bruchlos in ein geschlossenes System der re- 2 alen Kapitalaufbringung ein. Indem gemäß § 27 Abs. 4 nunmehr der Austausch der über § 66 gesicherten Einlageforderung gegen eine ungesicherte schuldrechtliche Forderung möglich ist (sog. Hin- und Herzahlen), ist problematisch, ob der über § 66 vermittelte Schutz nicht insgesamt als überzogen erscheint. Die gesetzgeberische Entscheidung, die Kapitalaufbringung zu liberalisieren, ist ernst zu nehmen und darf konsequenterweise nicht durch die Hintertür konterkariert werden. Insoweit ist es konsequent, § 66 da zurückzunehmen, wo es aufgrund jüngerer Neuregelungen einer gesellschafterfreundlicheren Betrachtung bedarf, insbesondere i. R. von § 27 Abs. 4 und § 57 Abs. 1 Satz 4.2) Gleichwohl darf nicht verkannt werden, dass es hierdurch zu einer Verkürzung des Gläubigerschutzes kommt. Es bleibt daher abzuwarten, welche Folgen die Liberalisierung für den Gläubigerschutz und damit die Akzeptanz der Kapitalgesellschaften am Markt letztlich bringt und ob ggf. weitere Korrekturen notwendig sind. II.

Umfassendes Befreiungsverbot (§ 66 Abs. 1, Abs. 2)

Der Wortlaut von § 66 Abs. 1 ist nach allgemeiner Meinung zu eng. Die Norm regelt (ge- 3 meinsam mit § 66 Abs. 2) ein umfassendes Befreiungsverbot für sämtliche der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung zurechenbare Leistungspflichten der Aktionäre. Vgl. auch die Parallelregelung in § 19 Abs. 2 GmbHG. 1.

Erfasste Verbindlichkeiten

Unter § 66 Abs. 1 Satz 1 fallen nicht nur Bareinlagepflichten i. S. von § 54 Abs. 1 (Nenn- 4 betrag und korporatives Agio)3), sondern auch die Pflicht zur Erbringung von Sacheinlagen gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 und Satz 2; nicht aber Forderungen aus Sachübernahmen gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2, weil diese nicht auf die Einlagepflicht angerechnet werden sollen (streitig)4). Es spielt keine Rolle, ob die entsprechenden Pflichten aus der Gründung stammen oder anlässlich einer Kapitalerhöhung begründet wurden. Die Differenzhaftung für die Nichtleistung oder Überbewertung von Sacheinlagen entsprechend

_____________ 1) 2) 3) 4)

Nach K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 66 Rz. 1 ist die Norm ein „Eckpfeiler der aktienrechtlichen Finanzverfassung“. So bereits Kersting, AG 2008, 883; vgl. auch Habersack/Weber, ZGR 2014, 509, 517 f. BGH, Urt. v. 6.12.2011 – II ZR 149/10 (Babcock), NZG 2012, 69, 72 = ZIP 2012, 73, dazu EWiR 2012, 129 (Vosberg/Klawa). Abweichend BGH, Urt. v. 20.11.2006 – II ZR 176/05, ZIP 2007, 178.

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§ 66

Keine Befreiung der Aktionäre von ihren Leistungspflichten

§ 9 Abs. 1 GmbHG,5) die Verlustdeckungshaftung und die Vorbelastungshaftung (siehe hierzu § 41 Rz. 14) fallen wegen ihrer funktionalen Nähe zur Einlagepflicht ebenfalls hierunter. 5 Gemäß § 66 Abs. 2 gilt die Regelung entsprechend für die Ersatzpflicht wegen unzulässiger Einlagenrückgewähr gemäß § 62 und die Ausfallhaftung der Vormänner gemäß § 65. Auf Nebenleistungspflichten i. S. von § 55 findet die Regelung indessen keine Anwendung; ebenso wenig die Ansprüche auf Schadensersatz und Vertragsstrafen gemäß § 63 Abs. 3.6) Eine Ausnahme hiervon macht indessen § 66 Abs. 2 für Schadensersatzansprüche wegen nicht gehöriger Leistung von Sacheinlagen, z. B. wegen Unmöglichkeit, Verzug oder Sachmängeln.7) Eine analoge Anwendung kommt auch bei der Haftung des Kreditinstituts gemäß § 37 Abs. 1 Satz 3 in Betracht.8) 6 Auf die konzernrechtliche Verlustübernahmepflicht gemäß § 302 findet die Regelung keine unmittelbare Anwendung; die h. M. lässt die Aufrechnung auch dort jedoch nur zu, wenn der Gegenanspruch des herrschenden Unternehmens vollwertig ist.9) 2.

Unzulässige Befreiung

7 Das Befreiungsverbot ist nach traditionell vorherrschender Ansicht weit auszulegen.10) Erfasst sind sämtliche Gestaltungen, die darauf hinauslaufen, die Einlagepflicht rechtlich oder faktisch zu entwerten. Erforderlich ist jedoch, dass die in Rede stehende Befreiung durch privatautonomes Handeln erfolgt, mithin nicht kraft Gesetzes eintritt.11) Erfasst werden insbesondere: –

Der Erlass und ein negatives Schuldanerkenntnis (§ 397 BGB) sowie hiermit vergleichbare Rechtsgeschäfte;12)



die befreiende Schuldübernahme;13)



ein pactum de non petendo;14)



die Annahme einer Leistung an Erfüllungs statt (§ 364 Abs. 1 BGB)15) – die Leistung erfüllungshalber gemäß § 364 Abs. 2 BGB ist indessen zulässig;



die Stundung ist traditionell unzulässig,16) was wegen der Liberalisierung gemäß § 27 Abs. 4 mittlerweile jedoch abweichend zu beurteilen sein dürfte (siehe oben Rz. 2);



die befreiende Schuldübernahme durch einen Dritten ist ebenfalls nach allgemeiner Meinung unzulässig,17) sollte wegen der Liberalisierung gemäß § 27 Abs. 4 mittlerweile jedoch ebenfalls zulässig sein (siehe oben Rz. 2);

_____________ 5) BGH, Urt. v. 6.12.2011 – II ZR 149/10 (Babcock), NZG 2012, 69, 72 = ZIP 2012, 73; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 6.7.2010 – 5 U 205/07, AG 2010, 793; Servatius in: BeckOGK-AktR, § 183 AktG Rz. 69. 6) Allg. M., vgl. nur Cahn in: BeckOGK-AktR, § 66 AktG Rz. 4. 7) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 66 Rz. 63; kritisch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 66 Rz. 10; ablehnend K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 66 Rz. 20. 8) OLG Hamburg, Urt. v. 2.6.2006 – 11 U 244/06, ZIP 2006, 1677 = DStR 2006, 1713. 9) Vgl. BGH, Urt. v. 10.7.2006 – II ZR 238/04, ZIP 2006, 1488 = NJW 2006, 3279, dazu EWiR 2006, 577 (Lenz). 10) Vgl. nur Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 66 Rz. 3. 11) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 66 Rz. 3. 12) OLG Köln, Urt. v. 13.10.1988 – 1 U 37/88, ZIP 1989, 174, 177 – zur GmbH. 13) Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 66 Rz. 3. 14) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 66 Rz. 5. 15) OLG Köln, Urt. v. 13.10.1988 – 1 U 37/88, ZIP 1989, 174, 177 – zur GmbH. 16) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 66 Rz. 21. 17) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 66 AktG Rz. 9.

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Wolfgang Servatius

Keine Befreiung der Aktionäre von ihren Leistungspflichten

§ 66



das Gleiche gilt für die Novation;18)



unzulässig sind weiter die Bestellung einer Sicherheit zur Finanzierung der Einlageleistung durch den Aktionär,19)



die Beteiligung der AG an einem Insolvenzplan20) und



die Geltendmachung eines Zurückbehaltungsrechts durch den Aktionär.21)



Ein Vergleich gemäß § 779 BGB kann jedoch ausnahmsweise wirksam geschlossen werden, wenn – gerichtlich nachprüfbar – eine erhebliche Unsicherheit über Bestand und Umfang der erfassten Verbindlichkeiten des Aktionärs bestand.22) Ist dies gegeben, bedarf der Vergleich nicht der Zustimmung der Hauptversammlung.23) Auf die Aktionärspflichten aus dem Vergleich ist indessen § 66 wiederum entsprechend anwendbar, so dass insbesondere keine Aufrechnung zulässig ist (siehe unten Rz. 8 ff.).24) Zu bedenken ist ferner, dass der Vergleich den insolvenzrechtlichen Anfechtungstatbeständen (§§ 129 ff. InsO) unterliegt.25)



Der Erwerb nicht voll eingezahlter Aktien durch die AG selbst ist nur gemäß § 71 Abs. 2 Satz 3 zulässig (streitig).26)

3.

Besonderheiten bei der Aufrechnung

a)

Aufrechnung durch den Aktionär

Die Aufrechnung eines Aktionärs bzw. Vormanns i. S. von § 65 ist gemäß dem Wortlaut 8 von § 66 Abs. 1 Satz 2 generell unzulässig,27) auch im Insolvenzverfahren.28) Der Anrechnungslösung gemäß § 27 Abs. 3 steht dies nicht entgegen;29) der Widerspruch verdeutlicht jedoch besonders die zunehmende Entwertung des Gebots der realen Kapitalaufbringung (siehe oben Rz. 2). Gleichwohl rechtfertigt sich der generelle Ausschluss der Aufrechnung seitens des Aktionärs nach wie vor.30) Es soll allenfalls die AG die Dispositionsfreiheit über die Aufrechnung haben, was in engen Grenzen durchaus zulässig ist (siehe sogleich Rz. 10). Das Aufrechnungsverbot gilt selbst dann, wenn der Aktionär vermögenslos ist und die Einlageforderung nicht erfüllen kann; die AG hat sodann das Kaduzierungsverfahren gemäß §§ 64, 65 einzuleiten. _____________ 18) 19) 20) 21) 22)

23)

24) 25) 26) 27) 28) 29) 30)

Abweichend die bisher allg. M., vgl. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 66 AktG Rz. 11. Vgl. OLG Köln, Urt. v. 18.11.1983 – 20 U 71/83, ZIP 1984, 176 = WM 1984, 740 – zur GmbH. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 66 Rz. 5; abweichend Cahn in: BeckOGK-AktR, § 66 AktG Rz. 18. RG, Urt. v. 7.11.1913 – II 370/13, RGZ 83, 266, 268 – zur GmbH. BGH, Urt. v. 6.12.2011 – II ZR 149/10 (Babcock), NZG 2012, 69, 72 = ZIP 2012, 73; RG, Urt. v. 23.4.1912 – II 19/12, RGZ 79, 271, 274 – zur GmbH; BGH, Urt. v. 19.7.2004 – II ZR 65/03, ZIP 2004, 1616, dazu EWiR 2005, 239 (Kuhne) – zur GmbH; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 6.7.2010 – 5 U 205/07, AG 2010, 793; vgl. auch Verse, ZGR 2012, 875. BGH, Urt. v. 6.12.2011 – II ZR 149/10 (Babcock), NZG 2012, 69, 72 = ZIP 2012, 73; Hüffer/KochKoch, AktG, § 66 Rz. 4; abweichend – für Analogie zu §§ 50 Abs. 1, 93 Abs. 4 Satz 3, 117 Abs. 4 – Cahn in: BeckOGK-AktR, § 66 AktG Rz. 17; Priester, AG 2012, 525, 526 ff. BGH, Urt. v. 6.12.2011 – II ZR 149/10 (Babcock), NZG 2012, 69, 74 = ZIP 2012, 73. Für eine Bindung des Verwalters aber Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 66 Rz. 4. H. M., vgl. nur Bayer in: MünchKomm-AktG, § 66 Rz. 35; abweichend für ein generelles Verbot noch RG, Urt. v. 26.3.1920 – II 413/19, RGZ 98, 276, 278 – zur GmbH. RG, Urt. v. 27.9.1918 – II 55/18, RGZ 93, 330; BGH, Urt. v. 18.11.1969 – II ZR 83/68, BGHZ 53, 72 – jeweils zur GmbH. BGH, Urt. v. 13.10.1954 – II ZR 182/53, BGHZ 15, 56; OLG Köln, Urt. v. 18.11.1983 – 20 U 71/83, ZIP 1984, 176 = WM 1984, 742 – jeweils zur GmbH. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 66 Rz. 8; grundlegend anders Habersack/Weber, ZGR 2014, 509, 517 f. Abweichend Habersack/Weber, ZGR 2014, 509, 527 ff.; wie hier Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 66 Rz. 5.

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§ 66

Keine Befreiung der Aktionäre von ihren Leistungspflichten

9 Die Abtretung der Einlageforderung an einen Dritten ist zulässig,31) ebenso die Abtretung der Erstattungspflicht gemäß § 62.32) Lässt man beides richtigerweise nur zu, wenn der AG ein vollwertiges Entgelt zufließt,33) beansprucht das Aufrechnungsverbot gemäß § 66 Abs. 1 Satz 2 gegenüber Dritten konsequenterweise keine Geltung.34) b)

Aufrechnung durch die AG

10 § 66 Abs. 1 Satz 2 verbietet dem Wortlaut nach nicht die Aufrechnung durch die AG. Um die Kapitalaufbringung effektiv zu verwirklichen und Umgehungen vorzubeugen, bestehen insofern jedoch gleichwohl Einschränkungen: Die Aufrechnung ist nach zutreffender h. M. nur zulässig, wenn die Gegenforderung des Aktionärs bzw. Vormanns i. S. von § 65 vollwertig, fällig und liquide ist.35) Maßgeblich ist eine objektive Beurteilung im Zeitpunkt der Aufrechnungserklärung;36) die Beweislast trägt der Aktionär bzw. Vormann (streitig).37) 11 Das Merkmal der Vollwertigkeit deckt sich zwar mittlerweile mit § 27 Abs. 4 und § 57 Abs. 1 Satz 3, ist hier jedoch umgekehrt anzuwenden: Maßgeblich ist, ob der Anspruch des Aktionärs bzw. Vormanns gegen die AG in voller Höhe realisierbar ist und nicht, ob der Aktionär das entsprechende Vermögen hat, um die Einlageforderung zu begleichen. Die Forderung ist liquide, wenn sie in Grund und Höhe unbestritten ist und der AG keine Einreden zustehen.38) Die Einstellung der Einlageforderungen in ein Kontokorrent gemäß § 355 HGB ist unzulässig.39) Fehlt die Vollwertigkeit, ist wegen der funktionalen Vergleichbarkeit mit der verdeckten Sacheinlage die durch § 27 Abs. 3 legitimierte Anrechnungslösung anzuwenden, so dass das Erlöschen der Einlageforderung i. H. des vollwertigen Anteils der Hauptforderung gegen die AG eintritt.40) 12 Eine weitere Ausnahme unabhängig von den vorgenannten Anforderungen soll nach h. M. dann gelten, wenn der Aktionär vermögenslos ist und die Verwertung gemäß § 65 keinen oder nur wenig Ertrag verspricht.41) Dem ist nicht zuzustimmen, weil das Kaduzierungsverfahren hierdurch gesetzeswidrig umgangen werden könnte (Prognoserisiko!). Bleiben die Verkaufsmöglichkeiten gemäß § 65 zunächst erfolglos, hat die AG die Aktien vielmehr weiter als eigene zu halten und innerhalb der Verjährung nach § 54 Abs. 4 später erneut zu versuchen, die rückständige Einlage gemäß § 65 einzutreiben. _____________ 31) RG, Urt. v. 7.6.1929 – II 592/28, RGZ 124, 380, 382; BGH, Urt. v. 18.11.1969 – II ZR 83/68, BGHZ 53, 71, 72 – jeweils zur GmbH. 32) BGH, Urt. v. 29.9.1977 – II ZR 157/76, BGHZ 69, 274, 283 f. – zur GmbH. 33) Vgl. BGH, Urt. v. 15.6.1992 – II ZR 229/91, ZIP 1992, 992. 34) Einzelheiten bei Cahn in: BeckOGK-AktR, § 66 AktG Rz. 39 ff. 35) BGH, Urt. v. 6.12.2011 – II ZR 149/10 (Babcock), NZG 2012, 69, 74 = ZIP 2012, 73; RG, Urt. v. 22.10.1918 – II 158/18, RGZ 94, 61, 63; BGH, Urt. v. 26.3.1984 – II ZR 14/84, BGHZ 90, 370, 372 = ZIP 1984, 689 – zur GmbH. 36) BGH, Urt. v. 6.12.2011 – II ZR 149/10 (Babcock), NZG 2012, 69, 74 = ZIP 2012, 73; RG, Urt. v. 7.12.1909 – II 101/09, RGZ 72, 266, 268 – zur GmbH. 37) BGH, Urt. v. 6.12.2011 – II ZR 149/10 (Babcock), NZG 2012, 69, 74 f. = ZIP 2012, 73; OLG Stuttgart, Urt. v. 19.12.1986 – 2 U 57/86, NJW 1987, 1032 – zur GmbH; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 66 Rz. 7; abweichend Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 66 Rz. 10, und Cahn in: BeckOGK-AktR, § 66 AktG Rz. 35 – Vermutung des Nominalwerts. 38) RG, Urt. v. 20.10.1914 – II 219/14, RGZ 85, 351, 354 – zur GmbH. 39) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 66 AktG Rz. 37. 40) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 66 Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 66 Rz. 10; Habersack/ Weber, ZGR 2014, 509, 515; abweichend Cahn in: BeckOGK-AktR, § 66 AktG Rz. 32 ff.; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 66 Rz. 60. 41) Vgl. K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 66 Rz. 13, unter Rückgriff auf BGH, Urt. v. 13.10.1954 – II ZR 182/53, BGHZ 15, 52, 57 – zur GmbH; ebenso wohl BGH, Urt. v. 6.12.2011 – II ZR 149/10 (Babcock), NZG 2012, 69, 74 = ZIP 2012, 73.

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§ 67

Eintragung im Aktienregister

Die Abtretung der Einlageforderung an einen Dritten ist zulässig,42) ebenso die Abtre- 13 tung der Erstattungspflicht gemäß § 62.43) Lässt man beides richtigerweise nur zu, wenn der AG ein vollwertiges Entgelt zufließt,44) ist die Aufrechnung durch die AG auch dann zulässig, wenn die Gegenforderung des Dritten nicht vollwertig, fällig und liquide ist. 4.

Rechtsfolgen bei Verstößen

§ 66 Abs. 1 ist ein Verbotsgesetz i. S. von § 134 BGB. Die entsprechenden Rechtshand- 14 lungen – schuldrechtlich und dinglich – sind hiernach nichtig,45) siehe aber zur Anrechnungslösung bei der Aufrechnung gegen teilweise vollwertige Forderungen oben Rz. 11. Ein etwaiger Hauptversammlungsbeschluss gemäß § 241 Nr. 3. Im Rahmen der ggf. notwendigen Rückabwicklung eines Leistungsaustauschs gemäß §§ 812 ff. BGB gilt § 66 in Bezug auf die erfassten Forderungen weiter, so dass eine automatische Saldierung oder sonstige Erfüllungssurrogate oder Entwertungen unzulässig sind.46) III.

Vorrang der Kapitalherabsetzung (§ 66 Abs. 3)

§ 66 Abs. 3 stellt klar, dass die Befreiung von den unter § 66 Abs. 1 und Abs. 2 zu fassen- 15 den Leistungspflichten nur durch eine ordnungsgemäß durchgeführte Kapitalherabsetzung zulässig ist. Diese Möglichkeit ist indessen in concreto ebenfalls an besondere Voraussetzungen geknüpft: Im Rahmen einer vereinfachten Kapitalherabsetzung gemäß §§ 229 – 236 ist die Befreiung gemäß § 230 generell unzulässig.47) Bei der ordentlichen Kapitalherabsetzung gemäß §§ 222 – 228 bedarf es zusätzlich eines – gemäß § 66 Abs. 3 – zulässigen Erlassvertrages zwischen der AG und dem betreffenden Aktionär.48) Die Kapitalherabsetzung zur Einziehung von Aktien gemäß §§ 237 – 239 führt demgegenüber ohne weiteres zum Erlöschen der Einlagepflicht.49) _____________ 42) RG, Urt. v. 7.6.1929 – II 592/28, RGZ 124, 380, 382; BGH, Urt. v. 18.11.1969 – II ZR 83/68, BGHZ 53, 71, 72 – jeweils zur GmbH. 43) BGH, Urt. v. 29.9.1977 – II ZR 157/76, BGHZ 69, 274, 283 f. – zur GmbH. 44) Vgl. BGH, Urt. v. 15.6.1992 – II ZR 229/91, ZIP 1992, 992. 45) RG, Urt. v. 7.6.1929 – II 592/28, RGZ 124, 380, 383; RG, Urt. v. 22.5.1931 – II 299/30, RGZ 133, 81, 83 – zur GmbH. 46) Vgl. OLG Zweibrücken, Urt. v. 17.9.1965 – 1 U 110/65, NJW 1966, 840 f. – zur GmbH. 47) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 66 Rz. 21. 48) Einzelheiten bei Bayer in: MünchKomm-AktG, § 66 Rz. 30; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 66 AktG Rz. 49. 49) K. Schmidt/Lutter-Fleischer, AktG, § 66 Rz. 23.

§ 67 Eintragung im Aktienregister Wolfgang Servatius

(1) 1Namensaktien sind unabhängig von einer Verbriefung unter Angabe des Namens, Geburtsdatums und einer Postanschrift sowie einer elektronischen Adresse des Aktionärs sowie der Stückzahl oder der Aktiennummer und bei Nennbetragsaktien des Betrags in das Aktienregister der Gesellschaft einzutragen. 2Der Aktionär ist verpflichtet, der Gesellschaft die Angaben nach Satz 1 mitzuteilen. 3Die Satzung kann Näheres dazu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen Eintragungen im eigenen Namen für Aktien, die einem anderen gehören, zulässig sind. 4Aktien, die zu einem inländischen, EU- oder ausländischen Investmentvermögen nach dem Kapitalanlagegesetzbuch gehören, dessen Anteile oder Aktien nicht ausschließlich von professionellen oder semiWolfgang Servatius

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§ 67

Eintragung im Aktienregister

professionellen Anlegern gehalten werden, gelten als Aktien des inländischen, EU- oder ausländischen Investmentvermögens, auch wenn sie im Miteigentum der Anleger stehen; verfügt das Investmentvermögen über keine eigene Rechtspersönlichkeit, gelten sie als Aktien der Verwaltungsgesellschaft des Investmentvermögens. (2) 1Im Verhältnis zur Gesellschaft bestehen Rechte und Pflichten aus Aktien nur für und gegen den im Aktienregister Eingetragenen. 2Jedoch bestehen Stimmrechte aus Eintragungen nicht, die eine nach Absatz 1 Satz 3 bestimmte satzungsmäßige Höchstgrenze überschreiten oder hinsichtlich derer eine satzungsmäßige Pflicht zur Offenlegung, dass die Aktien einem anderen gehören, nicht erfüllt wird. 3Ferner bestehen Stimmrechte aus Aktien nicht, solange ein Auskunftsverlangen gemäß Absatz 4 Satz 2 nach Fristablauf und Androhung des Stimmrechtsverlustes nicht erfüllt ist. (3) 1Löschung und Neueintragung im Aktienregister erfolgen auf Mitteilung und Nachweis. 2Die Gesellschaft kann eine Eintragung auch auf Mitteilung nach § 67d Absatz 4 vornehmen. (4) 1Die bei Übertragung oder Verwahrung von Namensaktien mitwirkenden Intermediäre sind verpflichtet, der Gesellschaft die für die Führung des Aktienregisters erforderlichen Angaben gegen Erstattung der notwendigen Kosten zu übermitteln. 2 Der Eingetragene hat der Gesellschaft auf ihr Verlangen unverzüglich mitzuteilen, inwieweit ihm die Aktien, für die er im Aktienregister eingetragen ist, auch gehören; soweit dies nicht der Fall ist, hat er die in Absatz 1 Satz 1 genannten Angaben zu demjenigen zu übermitteln, für den er die Aktien hält. 3Dies gilt entsprechend für denjenigen, dessen Daten nach Satz 2 oder diesem Satz übermittelt werden. 4Absatz 1 Satz 4 gilt entsprechend; für die Kostentragung gilt Satz 1. 5Wird der Inhaber von Namensaktien nicht in das Aktienregister eingetragen, so ist der depotführende Intermediär auf Verlangen der Gesellschaft verpflichtet, sich gegen Erstattung der notwendigen Kosten durch die Gesellschaft an dessen Stelle gesondert in das Aktienregister eintragen zu lassen. 6Wird ein Intermediär im Rahmen eines Übertragungsvorgangs von Namensaktien nur vorübergehend gesondert in das Aktienregister eingetragen, so löst diese Eintragung keine Pflichten infolge des Absatzes 2 aus und führt nicht zur Anwendung von satzungsmäßigen Beschränkungen nach Absatz 1 Satz 3. 7§ 67d bleibt unberührt. (5) 1Ist jemand nach Ansicht der Gesellschaft zu Unrecht als Aktionär in das Aktienregister eingetragen worden, so kann die Gesellschaft die Eintragung nur löschen, wenn sie vorher die Beteiligten von der beabsichtigten Löschung benachrichtigt und ihnen eine angemessene Frist zur Geltendmachung eines Widerspruchs gesetzt hat. 2Widerspricht ein Beteiligter innerhalb der Frist, so hat die Löschung zu unterbleiben. (6) 1Der Aktionär kann von der Gesellschaft Auskunft über die zu seiner Person in das Aktienregister eingetragenen Daten verlangen. 2Bei nichtbörsennotierten Gesellschaften kann die Satzung Weiteres bestimmen. 3Die Gesellschaft darf die Registerdaten sowie die nach Absatz 4 Satz 2 und 3 mitgeteilten Daten für ihre Aufgaben im Verhältnis zu den Aktionären verwenden. 4Zur Werbung für das Unternehmen darf sie die Daten nur verwenden, soweit der Aktionär nicht widerspricht. 5Die Aktionäre sind in angemessener Weise über ihr Widerspruchsrecht zu informieren. (7) Diese Vorschriften gelten sinngemäß für Zwischenscheine. Literatur: Altmeppen, Abschied von der „unwiderlegbar vermuteten“ Mitgliedschaft des Scheingesellschafters in der Kapitalgesellschaft?, ZIP 2009, 345; Baums, Der Eintragungsstopp bei Namensaktien, in: Festschrift für Uwe Hüffer, 2010, S. 15; Bayer, Aktienrechtsnovelle 2012 – Kritische Anmerkungen zum Regierungsentwurf, AG 2012, 141; Bayer/Lieder, Umschreibungs-

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§ 67

Eintragung im Aktienregister

stopp bei Namensaktien vor Durchführung der Hauptversammlung, NZG 2009, 1361; Blasche, Zulässigkeit und Rechtswirkungen der Eintragung eines gemeinschaftlichen Vertreters im Aktienregister, AG 2015, 342; Drygala, Nur noch Namensaktien für die nicht börsennotierten Aktiengesellschaften?, ZIP 2011, 798; Drygala, Namensaktien in freiem Meldebestand, NZG 2004, 893; Grigoleit/Rachlitz, Beteiligungstransparenz aufgrund des Aktienregisters, ZHR 174 (2010) 12; Grumann/Soehlke, Namensaktie und Hauptversammlung, DB 2001, 576; Grunewald, Die Rechtsstellung des Legitimationsaktionärs, ZGR 2015, 347; Happ, Vom Aktienbuch zum elektronischen Aktionärsregister, in: Festschrift für Gerold Bezzenberger, 2000, S. 111; Harnos/Piroth, Gesetzgeberische Maßnahmen zur Steigerung der Hauptversammlungspräsenzen in Namensaktiengesellschaften, ZIP 2015, 456; Huep, Die Renaissance der Namensaktie – Möglichkeiten und Probleme im geänderten aktienrechtlichen Umfeld, WM 2000, 1623; Hüther, Namensaktien, Internet und die Zukunft der Stimmrechtsvertretung, AG 2001, 68; Kindler, Der Aktionär in der Informationsgesellschaft, NJW 2001, 1678; Kort, Die Errichtung eines Aktienregisters nach § 67 AktG – Leitungsaufgabe, einfache Geschäftsführungsaufgabe oder Vertretungsmaßnahme?, NZG 2005, 963; Lieder, Der Namensaktionär im gesellschaftsrechtlichen Spruchverfahren, NZG 2005, 159; Marsch-Barner, Zur neueren Entwicklung im Recht der Namensaktie, in: Festschrift für Uwe Hüffer, 2010, S. 627; Müller-v. Pilchau, Zur Offenlegungspflicht des Namensaktionärs nach § 67 Abs. 4 AktG – Auskunftsverlangen ohne Sanktionsfolgen?, AG 2011, 775; Noack, Neues Recht für Namensaktionäre, NZG 2008, 721; Noack, Namensaktie und Aktienregister: Einsatz für Investor Relation und Produktmarketing, DB 2001, 27; v. Nussbaum, Zu Nachweisstichtag (record date) und Eintragungssperre bei Namensaktien, NZG 2009, 456; Quass, Nichtigkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen wegen eines Umschreibestopps im Aktienregister?, AG 2009, 432; Reul, Aktuelle Änderungen des Aktienrechts aus notarieller Sicht – Teil 1, ZNotP 2010, 12; Schneider, Die reformierte Namensaktie, in: Festschrift für Klaus J. Hopt, 2010, S. 1327; Schneider/Müller-v. Pilchau, Vollrechtstreuhänder als Namensaktionäre – die Pflicht zur Offenlegung und deren Auslandswirkung, WM 2011, 721; Seibert, Aktienrechtsnovelle NaStraG tritt in Kraft – Übersicht über das Gesetz und Auszüge aus dem Bericht des Rechtsausschusses, ZIP 2001, 53; Wiersch, Relative Gesellschafterstellung im Kapitalgesellschaftsrecht und Gesamtrechtsnachfolge, NZG 2015, 1336; Wiersch, Die Vermutungswirkung von Gesellschafterliste und Aktienregister, ZGR 2015, 591; Wiersch, Korrektur unrichtiger Gesellschafterlisten, GWR 2014, 117; Zetzsche, Die Aktionärslegitimation durch Berechtigungsnachweis – von der Verkörperungs- zur Registertheorie, Der Konzern 2007, 180, 251.

Übersicht I. Bedeutung der Norm ........................ 1 II. Regelungsgehalt ................................ 2 III. Aktienregister (§ 67 Abs. 1) ............. 3 1. Pflichtangaben .................................... 4 2. Freiwillige Angaben ........................... 6 3. Mitteilungspflicht ............................... 7 IV. Wirkung der Eintragung (§ 67 Abs. 2) ....................................... 8 V. Übertragung von Aktien (§ 67 Abs. 3) ..................................... 10

VI. Mitwirkungspflichten der Intermediäre, Auskunftsrecht (§ 67 Abs. 4) ..................................... VII. Löschung unrichtiger Daten (§ 67 Abs. 5) ..................................... VIII. Informationsrecht der Aktionäre, Verwendung von Daten (§ 67 Abs. 6) ..................................... 1. Auskunftsanspruch .......................... 2. Verwendung der Daten ....................

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§ 67 I.

Eintragung im Aktienregister Bedeutung der Norm

1 Die Norm regelt zentral die über das Aktienregister vermittelte Beteiligungstransparenz bei Namensaktien und Zwischenscheinen i. S. von § 10. Insgesamt betrachtet ist das gesetzgeberische Anliegen, die AG über die Zusammensetzung des Aktionärskreises zu informieren und dadurch in größerem Maße sinnvolle Investor Relations zu pflegen, zu begrüßen. Gleichwohl darf nicht verkannt werden, dass § 67 wie auch die §§ 123 ff. Ausdruck der zunehmenden Komplizierung des Aktienrechts ist, was die Herausarbeitung allgemeiner Lehren behindert. Die mittlerweile bei der Binnenorganisation und verbandsinternen Willensbildung einzuhaltenden Formalia sind kaum noch überschaubar und machen die AG als Investitionsform wegen der hieraus resultierenden Rechtsunsicherheit für viele Bereiche auch unattraktiv. Man muss sich daher schon fragen, ob die vor allem auf EUEbene auftretenden Tendenzen, den Aktionärsschutz und die Kapitalverkehrsfreiheit durch detailreiche, dem öffentlichen Recht entlehnte Regeln zu stärken, nicht letztlich das Gegenteil bewirken. Die eigenverantwortliche Direktanlage eines Publikumsaktionärs ohne professionelle Hilfe durch Finanzintermediäre kann daher kaum (noch) als das gesetzgeberisch wünschenswertes Ziel ausgemacht werden. § 67 wurde i. R. des ARUG II1) erheblich mit Wirkung ab 3.9.2020 (§ 26j Abs. 4 EGAktG) modifiziert. Im Übrigen ergeben sich umfangreiche Transparenzanforderungen gemäß §§ 18 – 26 GwG durch das elektronische Transparenzregister. II.

Regelungsgehalt

2 § 67 Abs. 1 bestimmt, dass Namensaktien und ihre Inhaber in das Aktienregister der Gesellschaft einzutragen sind. Seit der Aktienrechtsnovelle 20162) wird ausdrücklich klargestellt, dass dies auch unabhängig von der Verbriefung gilt. Über § 67 Abs. 2 wird dies effektuiert, denn im Verhältnis zur AG ist nur der eingetragene Aktionär zur Geltendmachung von Rechten legitimiert. § 67 Abs. 3 verlangt von den Aktionären den Nachweis der Übertragung von Aktien, damit das Aktienregister berichtigt werden kann. § 67 Abs. 4 regelt die Umsetzung der Eintragungserfordernisse für den praktisch wichtigen Fall, dass die Aktien bei Kreditinstituten verwahrt werden. Nach § 67 Abs. 5 kann die AG unrichtige Eintragungen im Aktienregister löschen. § 67 Abs. 6 regelt das Informationsrecht der Aktionäre über die Eintragungen und die Möglichkeit der Verwendung dieser Daten durch die AG. Nach § 67 Abs. 7 gilt das Vorgesagte entsprechend für Zwischenscheine i. S. von § 10 Abs. 3. III.

Aktienregister (§ 67 Abs. 1)

3 Das Aktienregister ist von der AG zu führen, i. d. R. elektronisch (vgl. § 239 Abs. 4 HGB). Die Pflicht ist daran geknüpft, dass Namensaktien oder Zwischenscheine bestehen (§ 10 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2) sowie bei Inhaberaktien, wenn die Sammelurkunde noch nicht hinterlegt ist (§ 10 Abs. 1 Satz 3). Dies gilt seit der Aktienrechtsnovelle 2016 auch dann, wenn die Aktienurkunden nicht verbrieft sind.3) Verantwortlich für die ordnungsgemäße Führung ist der Vorstand als Kollegialorgan.4) Er kann sich hierbei jedoch (auch externer) Hilfe bedienen, ohne hierdurch freilich seine Gesamtverantwortung zu verlie_____________ 1) 2) 3) 4)

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Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2637. Gesetz zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2016) v. 22.12.2015, BGBl. I 2015, 2565. Davor bereits h. M., vgl. K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 67 Rz. 4 f.; Cahn in: BeckOGKAktR, § 67 AktG Rz. 10, 5, 12; Bayer, AG 2012, 141. OLG München, Urt. v. 4.5.2005 – 23 U 5121/04, NZG 2005, 756, 757 = ZIP 2005, 1070, dazu EWiR 2005, 525 (Bayer/Lieder); OLG Jena, Urt. v. 25.2.2004 – 2 U 635/03, ZIP 2004, 563, 564 f.

Wolfgang Servatius

§ 67

Eintragung im Aktienregister

ren.5) Die Aktionäre haben einen einklagbaren Anspruch auf Einrichtung und Führung des Aktienregisters.6) 1.

Pflichtangaben

Einzutragen sind gemäß § 67 Abs. 1 Satz 1 Name, Geburtsdatum und Postanschrift sowie 4 elektronische Adresse des Aktionärs der betreffenden Namensaktie, individualisiert nach Aktiennummer und ggf. Nennbetrag der betreffenden Aktie. Die alleinige Angabe einer E-Mail-Adresse genügte vor ARUG II nicht (streitig);7) hieran hat auch die Neufassung von Absatz 1 Satz 1 nichts geändert, denn die elektronische Adresse ist hiernach nur zusätzlich zur realen Postanschrift vorgesehen.8) Bei juristischen Personen und Gesellschaften sind Firma und Sitz (= Ort der Registrierung) anzugeben. Der gemeinsame Vertreter gemäß § 69 Abs. 1 ist nicht einzutragen.9) Bei Investmentvermögen sieht § 67 Abs. 1 Satz 4 vor, dass trotz der dinglichen Mitberechtigung der Anteilsinhaber an den Aktien (vgl. § 69) nur die (ggf. rechtsfähige) Fondsgemeinschaft bzw. die Verwaltungsgesellschaft eingetragen werden muss. Diese sinnvolle Vereinfachung gilt indessen nur, wenn mindestens ein Anleger eine natürliche Person ist.10) Werden Aktien von einer rechtsfähigen Außen-GbR gehalten, ist neben deren genauer Bezeichnung auch deren jeweils aktueller Gesellschafterkreis einzutragen (streitig);11) auf die Adresse und das Geburtsdatum dieser bloß mittelbar relevanten Umstände erstreckt sich die Eintragungspflicht indessen nicht. Bestehen Unklarheiten über den Aktienbesitz, hat der Vorstand gemäß § 67 Abs. 4 Satz 5 entsprechende Platzhalter zu setzen, um der Vollständigkeit des Aktienregisters Rechnung zu tragen.12) Wird ein Intermediär als Platzhalter eingetragen, begründet dies gemäß Absatz 4 Satz 6 für diesen keine Pflichten. Gemäß § 67 Abs. 1 Satz 3 kann die Satzung bestimmen, unter welchen Voraussetzungen 5 Dritteintragungen zulässig und verpflichtend sind.13) Dies betrifft vornehmlich die Fälle der Legitimationsübertragung des Stimmrechts gemäß § 129 Abs. 3, bei der ein anderer im eigenen Namen die Aktionärsrechte für Rechnung des Aktionärs ausübt.14) Weitere Fälle siehe sogleich Rz. 6. Die Satzung kann die betreffende Eintragungspflicht auch an bestimmte Schwellenwerte knüpfen.15) 2.

Freiwillige Angaben

Keine Eintragungspflicht besteht für Nießbrauch, Pfandrecht, Testamentsvollstreckung 6 sowie die Nachlass- und Insolvenzverwaltung. Gleichwohl ist die Eintragung der Gestaltungen zulässig und wegen § 67 Abs. 2 Satz 1 praktisch geboten, damit z. B. der Gewinn an den konkret Berechtigten gezahlt wird.16) Bevollmächtigte und Treugeber können eben_____________ 5) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 5; Kindler, NJW 2001, 1678, 1679. 6) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67 AktG Rz. 12. 7) Wie hier Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67 AktG Rz. 16; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 67 Rz. 43; abweichend die h. M., vgl. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 67 Rz. 25 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 7. 8) So auch Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 67 Rz. 44. 9) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67 AktG Rz. 19. 10) Hierzu zutreffend kritisch Schneider in: FS Hopt, S. 1327, 1334. 11) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 7; abweichend K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 67 Rz. 14. 12) Unstreitig, vgl. nur Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 21. 13) Einzelheiten bei Schneider in: FS Hopt, S. 1327, 1339. 14) Einzelheiten bei K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 67 Rz. 16 ff.; Grigoleit/Rachlitz, ZHR 174 (2010) 12, 13 ff.; Schneider/Müller-v. Pilchau, WM 2011, 721; Grunewald, ZGR 2015, 347, 356. 15) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 8a. 16) Einzelheiten bei Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67 AktG Rz. 23 f.

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§ 67

Eintragung im Aktienregister

falls eingetragen werden, was jedoch nicht über § 67 Abs. 2 Satz 1 effektuiert wird.17) Der gemeinschaftliche Vertreter gemäß § 69 kann – neben den Aktionären der Gemeinschaft – ebenfalls ins Aktienregister eingetragen werden und ist dann gegenüber der AG gemäß § 67 Abs. 2 besonders legitimiert.18) 3.

Mitteilungspflicht

7 Gemäß § 67 Abs. 1 Satz 3 ist der Inhaber der Aktie („Aktionär“) verpflichtet, der AG die notwendigen Angaben mitzuteilen, was zugleich einen konkludenten Eintragungsantrag beinhaltet.19) Dies gilt auch, wenn das Stimmrecht auf einen anderen übertragen wurde oder die Aktie dinglich belastet ist.20) Gemäß § 67 Abs. 4 Satz 1 haben die depotführenden Kreditinstitute die betreffenden Mitteilungen zu machen (siehe unten Rz. 11). Bei widersprechenden Erklärungen geht die Äußerung des Aktionärs vor (streitig).21) IV.

Wirkung der Eintragung (§ 67 Abs. 2)

8 Die wichtigste Effektuierung der durch das Aktienregister vermittelten Beteiligungstransparenz folgt aus § 67 Abs. 2 Satz 1. Hiernach gilt im Verhältnis zur AG nur der Eingetragene als Aktionär. Die textliche Neufassung von Absatz 2 durch das ARUG II („Rechte und Pflichten“) stellt dies noch einmal deutlicher als bislang klar.22) Die Regelung entfaltet aber lediglich eine Legitimationswirkung;23) die Wirksamkeit der dinglichen Übertragung der Aktien richtet sich nach den allgemeinen Regeln (siehe § 68 Rz. 2 ff.). Die Wirkung von § 67 Abs. 2 Satz 1 ist gleichwohl sehr einschneidend: Ist jemand nicht im Aktienregister eingetragen, kann er keine Aktionärsrechte geltend machen; ist jemand zu Unrecht eingetragen, stehen ihm auch die betreffenden Aktionärsrechte zu.24) Dies gilt selbst dann, wenn die Beteiligten Kenntnis von der – formal ordnungsgemäß erfolgten – unrichtigen Eintragung haben.25) Im Kern begründet die ordnungsgemäße Eintragung somit eine unwiderlegliche Vermutung.26) Wird jemand zu Unrecht eingetragen, entbindet dies den wahren Aktieninhaber indessen nicht von seinen mitgliedschaftlichen Pflichten.27) 9 § 67 Abs. 2 Satz 2 sanktioniert die Verstöße gegen die satzungsmäßigen Vorgaben für besondere Eintragungen mit einem Stimmverlust. Nach § 67 Abs. 2 Satz 3 gilt das Gleiche, wenn ein Auskunftsverlangen gemäß § 67 Abs. 4 Satz 2 oder Satz 3 nicht erfüllt wird.28) Voraussetzung für beide Sanktionen ist richtigerweise ein Verschulden des betreffenden _____________ 17) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 67 Rz. 103; zum Ganzen Drygala, ZIP 2011, 798. 18) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 69 Rz. 7; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 69 Rz. 2; Einzelheiten bei Blasche, AG 2015, 342. 19) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 8; vgl. zur Gesamtrechtsnachfolge Wiersch, NZG 2015, 1336. 20) Reul, ZNotP 2010, 12, 14. 21) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67 AktG Rz. 88, 83; abweichend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 8. 22) Vgl. auch Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 67 Rz. 62 – keine inhaltliche Änderung. 23) Vgl. bereits RG, Urt. v. 27.3.1912 – I 349/11, RGZ 79, 162, 164; nach OLG Jena, Urt. v. 25.2.2004 – 2 U 635/03, ZIP 2004, 563, handelt es sich um eine unwiderlegliche Vermutung. 24) Diese Wirkung relativierend, indem die AG bei unrichtiger Eintragung stets einen Löschungsanspruch der Legitimation entgegen halten könne – Altmeppen, ZIP 2009, 345. 25) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 67 Rz. 39 f. 26) H. M., vgl. nur Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67 Rz. 32; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 67 Rz. 27 – jeweils m. w. N.; abweichend Altmeppen, ZIP 2009, 345, 351; zum Ganzen Wiersch, ZGR 2015, 591. 27) Vgl. OLG Hamburg, Beschl. v. 1.9.2003 – 11 W 30/03, ZIP 2003, 2301 = NZG 2004, 45, dazu EWiR 2003, 1165 (Leuering); abweichend Wiersch, ZGR 2015, 591, 604 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 15. 28) Vgl. zur satzungsmäßigen Verlängerung der Auskunftsfrist Müller-v. Pilchau, AG 2011, 775, 777.

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§ 67

Eintragung im Aktienregister

Aktionärs (streitig).29) Die Beweislast für die Voraussetzungen des Stimmverlusts trägt derjenige, der sich darauf beruft.30) V.

Übertragung von Aktien (§ 67 Abs. 3)

§ 67 Abs. 3 stellt klar, dass das Aktienregister beim Aktionärswechsel nur auf entsprechende 10 Mitteilung und Nachweis i. S. von § 67 Abs. 1 Satz 2 hin oder auf Mitteilung nach § 67d Absatz 4 hin zu korrigieren ist. Der Vorstand ist nur in den Fällen der Ersteintragung bei Gründung und Kapitalerhöhung zur Eintragung gleichsam von Amts wegen verpflichtet.31) In der nachfolgenden Zeit besteht eine doppelte Mitteilungspflicht: die des Veräußerers zwecks Eintragung seiner Löschung und die des Erwerbers zwecks Neueintragung.32) Der Nachweis des Übertragungsvorgangs hängt von der jeweiligen Gestaltung ab; anzugeben sind die Tatsachen und Nachweise, aus denen sich der Erwerbsübergang konkret ergibt.33) Der Vorstand hat die Wirksamkeit der Übertragung nur in Hinblick auf evidente Übertragungshindernisse hin zu überprüfen.34) Im Fall ordnungsgemäßer (doppelten) Mitteilung haben sowohl der Veräußerer als auch der Erwerber einen klagbaren Anspruch gegen die AG auf Umschreibung.35) Siehe zur nachträglichen Löschung unrichtiger Daten gemäß § 67 Abs. 5 unten Rz. 13 f. Um die Durchführung einer Hauptversammlung nach Maßgabe von § 129 Abs. 1 Satz 2 zu ermöglichen (Konkordanz von Teilnehmerverzeichnis und Aktienregister), kann der Vorstand einen Eintragungsstopp verhängen;36) dieser darf kaum länger als sieben Tage andauern und sollte sich auf den Ablauf des Anmeldetages beziehen.37) Satzungsmäßige Vorgaben hierzu sind dringend anzuraten. Vgl. im Übrigen aber zum sog. Record Date § 129 Abs. 4 Satz 2.38) VI.

Mitwirkungspflichten der Intermediäre, Auskunftsrecht (§ 67 Abs. 4)

Gemäß § 67 Abs. 4 sind die Intermediäre, mithin insbesondere Wertpapierfirmen, Kredit- 11 institute und Zentralverwahrer (vgl. § 67a Abs. 4) zur Übermittlung der betreffenden Daten an die AG gegen Kostenerstattung verpflichtet.39) Es handelt sich um eine zwingende gesetzliche Pflicht, die nicht an die Einwilligung des Aktionärs gebunden ist.40) Bei widersprechenden Mitteilungen von Aktionär und Kreditinstitut hat die Äußerung des Aktionärs indessen wegen Art. 14 GG Vorrang (streitig).41) Im Übrigen besteht das Auskunftsrecht gemäß Abs. 4 unabhängig neben dem Identifikationsrecht gemäß § 67d Abs. 4.42) _____________ 29) 30) 31) 32) 33) 34) 35) 36) 37)

38) 39) 40) 41) 42)

H. M., vgl. nur Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 15b. K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 67 Rz. 32. OLG Jena, Urt. v. 25.2.2004 – 2 U 635/03, ZIP 2004, 563. Gegen die Annahme einer Pflicht Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 17; Einzelheiten bei Bayer in: MünchKomm-AktG, § 67 Rz. 79 ff. Vgl. BGH, Urt. v. 20.9.2004 – II ZR 288/02 (EMS), BGHZ 160, 253, 257 f. = ZIP 2004, 2093, dazu EWiR 2005, 49 (Noack); Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 18. Vgl. BGH, Urt. v. 20.9.2004 – II ZR 288/02 (EMS), BGHZ 160, 253, 257 f. = ZIP 2004, 2093. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 20. BGH, Urt. v. 21.9.2009 – II ZR 174/08, ZIP 2009, 2051 = NZG 2009, 1270. Vgl. v. Nussbaum, NZG 2009, 456, 457; Müller-v. Pilchau, AG 2011, 775; für maximal sechs Tage aufgrund von § 123 Abs. 2: Bayer/Lieder, NZG 2009, 1361; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 20; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 67 Rz. 43. Einzelheiten zum Verhältnis von Umschreibestopp und record date bei Harnos/Piroth, ZIP 2015, 456, 458 ff. Vgl. zur Höhe der Kosten § 128 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. § 3 VO über den Ersatz von Aufwendungen der Kreditinstitute v. 17.6.2003, BGBl. I 2003, 885. Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 67 AktG Rz. 12. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67 AktG Rz. 88; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 67 Rz. 31; abweichend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 21. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 22a.

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Eintragung im Aktienregister

12 § 67 Abs. 4 Satz 2 – 4 begründet ein gesetzliches Auskunftsrecht, wonach der im Aktienregister eingetragene Aktionär der AG auf deren Verlangen mitzuteilen hat, inwieweit ihm die betreffenden Aktien auch gehören.43) Die Auskunft ist seit ARUG II unverzüglich zu erteilen. Die schuldhafte Nicht- oder Späterteilung der Auskunft sowie unwahre Angaben können die betreffenden Aktionäre aus § 280 BGB wegen Verletzung ihrer mitgliedschaftlichen Treuepflicht schadensersatzpflichtig machen. Die Auskunftspflicht richtet sich beim Treuhänder indessen nicht auf den Hintermann.44) Die Kosten der Auskunft sind von der AG zu tragen (§ 67 Abs. 4 Satz 1 und 4 Halbs. 2). Vgl. auch die Ordnungswidrigkeit gemäß § 405 Abs. 2a. Das Auskunftsrecht besteht gemäß § 67 Abs. 4 Satz 7 unabhängig vom Identifikationsrecht gemäß § 67d Abs. 4. VII. Löschung unrichtiger Daten (§ 67 Abs. 5) 13 § 67 Abs. 5 begründet bei unrichtigen Eintragungen ins Aktienregister45) eine Löschungsmöglichkeit. Die Regelung gilt, wenn die Eintragung nicht ordnungsgemäß herbeigeführt wurde oder nicht der materiellen Rechtslage entspricht. Der Wortlaut billigt der AG ein Ermessen zu („kann“). Dem ist nicht zu folgen. Im Regelfall ist der Vorstand vielmehr verpflichtet, das Verfahren nach § 67 Abs. 5 einzuleiten und damit eine Klärung der unrichtigen Registerlage herbeizuführen. Jeder, der durch die unrichtige Eintragung in seinen Rechtspositionen beeinträchtigt wird, hat gegen die AG einen klagbaren Anspruch auf Einleitung des Verfahrens.46) 14 Derjenige, dessen Eintragung gelöscht werden soll, und diejenigen, die die Löschung ebenfalls betrifft, sind gemäß § 67 Abs. 5 Satz 1 zuvor anzuhören, und ihnen ist eine angemessene Frist zum Widerspruch zu geben.47) Die Frist beträgt regelmäßig einen Monat.48) Ergeht fristgerecht ein Widerspruch, muss die Löschung zunächst unterbleiben. In diesem Fall hat der Vorstand eine gerichtliche Klärung der Rechtslage herbeizuführen (Feststellungsklage gemäß § 256 ZPO), wenn keine einvernehmliche Lösung zu erzielen ist.49) Kommt es zu keinem Widerspruch oder ergibt die gerichtliche Klärung die Unrichtigkeit der Eintragung, hat der Vorstand diese zu löschen. Diese hat i. R. von § 67 Abs. 2 Satz 1 ex-nunc-Wirkung.50) Der Vormann tritt ab jetzt wieder an die Stelle des gelöschten Aktionärs. VIII. Informationsrecht der Aktionäre, Verwendung von Daten (§ 67 Abs. 6) 1.

Auskunftsanspruch

15 Gemäß § 67 Abs. 6 Satz 1 hat jeder – gemäß § 67 Abs. 2 Satz 1 eingetragene – Aktionär einen Anspruch gegen die AG auf Auskunft über die über ihn gespeicherten Daten.51) _____________ 43) Einzelheiten bei Marsch-Barner in: FS Hüffer, S. 672, 642 f.; Schneider/Müller-v. Pilchau, WM 2011, 721. 44) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 21a – mit rechtspolitischer Kritik. 45) Gegen eine analoge Anwendung bei der GmbH: BGH, Urt. v. 30.12.2013 – II ZR 21/12, ZIP 2014, 216, dazu EWiR 2014, 205 (Paefgen/Franke); hierzu Wiersch, GWR 2014, 117; dafür aber OLG München, Beschl. v. 17.7.2015 – 14 W 1132/15, ZIP 2015, 2420, dazu EWiR 2015, 763 (Kleefass). 46) Vgl. OLG Jena, Urt. v. 25.2.2004 – 2 U 635/03, ZIP 2004, 563, 565; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 27; enger, nur Aktionäre, Bayer in: MünchKomm-AktG, § 67 Rz. 105. 47) Vgl. OLG Zweibrücken, Urt. v. 3.12.1996 – 3 W 171/96, AG 1997, 140; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 67 Rz. 38. 48) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67 AktG Rz. 104. 49) Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 67 AktG Rz. 26; ähnlich Bayer in: MünchKomm-AktG, § 67 Rz. 115; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 25 – Klage auf Rücknahme des Widerspruchs. 50) OLG Jena, Urt. v. 25.2.2004 – 2 U 635/03, ZIP 2004, 563, 566; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 26. 51) Einzelheiten zur Übermittlung bei Kindler, NJW 2001, 1678.

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§ 67a

Übermittlung von Informationen über Unternehmensereignisse

Wer nicht als Aktionär eingetragen ist, hat einen Anspruch auf Mitteilung der Fehlanzeige (streitig).52) Die Satzung kann bei nicht börsennotierten AGs dieses Auskunftsrecht gemäß § 67 Abs. 6 Satz 2 erweitern, insbesondere im Hinblick auf die Daten anderer Aktionäre.53) Ohne eine derartige satzungsmäßige Erweiterung erstreckt sich das Auskunftsrecht nicht auf die Beteiligungsverhältnisse der AG.54) 2.

Verwendung der Daten

§ 67 Abs. 6 Satz 3 stellt sachgerecht klar, dass die AG die Daten zur effektiven Ausgestaltung 16 der Binnenorganisation auch verwenden darf, einschließlich sachlich gebotener InvestorRelations-Maßnahmen.55) § 67 Abs. 6 Satz 4 ermöglicht jedoch in datenschutzrechtlich bedenklicher Weise auch die Verwendung zu Werbezwecken, was nur durch einen Widerspruch gemäß § 67 Abs. 6 Satz 5 abgewendet werden kann (Opting-out).56) Die Regelung ist im Hinblick auf Art. 6, 7 DSGVO kritisch so sehen.57) Auf die Weitergabe der Informationen an Dritte, etwa zur Marktforschung, sowie an andere Aktionäre erstreckt sich die Erlaubnis gemäß § 67 Abs. 3 Satz 4 indessen nicht.58) _____________ 52) 53) 54) 55) 56)

Abweichend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 29. Vgl. Seibert, ZIP 2001, 53, 54. Vgl. BGH, Urt. v. 21.6.2010 – II ZR 219/09, ZIP 2010, 2397, 2398. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 31; Noack, DB 2001, 27, 28. Wenig überzeugend ein generelles Aktionärsinteresse an einer derartigen Verwendung unterstellend Noack, DB 2001, 27, 29. 57) Vgl. Zetzsche, AG 2020, 233, 238. 58) Vgl. BGH, Hinweisbeschl. v. 22.10.2007 – II ZR 184/06, Rz. 4, AG 2008, 164, 165 = ZIP 2008, 218; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 67 Rz. 69; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 31.

§ 67a Übermittlung von Informationen über Unternehmensereignisse; Begriffsbestimmungen Sascha Stiegler

(1) 1Börsennotierte Gesellschaften haben Informationen über Unternehmensereignisse gemäß Absatz 6, die den Aktionären nicht direkt oder von anderer Seite mitgeteilt werden, zur Weiterleitung an die Aktionäre wie folgt zu übermitteln: 1. an die im Aktienregister Eingetragenen, soweit die Gesellschaft Namensaktien ausgegeben hat, 2. im Übrigen an die Intermediäre, die Aktien der Gesellschaft verwahren. 2

Für Informationen zur Einberufung der Hauptversammlung gilt § 125.

(2) 1Die Informationen können durch beauftragte Dritte übermittelt werden. 2Die Informationen sind den Intermediären elektronisch zu übermitteln. 3Format, Inhalt und Frist der Informationsübermittlung nach Absatz 1 richten sich nach der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 der Kommission vom 3. September 2018 zur Festlegung von Mindestanforderungen zur Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie 2007/36/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die Identifizierung der Aktionäre, die Informationsübermittlung und die Erleichterung der Ausübung der Aktionärsrechte (ABl. L 223 vom 4.9.2018, Satz 1) in der jeweils geltenden Fassung. 4 Die Übermittlung der Informationen kann gemäß den Anforderungen nach Artikel 8

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§ 67a

Übermittlung von Informationen über Unternehmensereignisse

Absatz 4 in Verbindung mit Tabelle 8 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 beschränkt werden. (3) 1Ein Intermediär in der Kette hat Informationen nach Absatz 1 Satz 1, die er von einem anderen Intermediär oder der Gesellschaft erhält, innerhalb der Fristen nach Artikel 9 Absatz 2 Unterabsatz 2 oder 3 und Absatz 7 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 dem nächsten Intermediär weiterzuleiten, es sei denn, ihm ist bekannt, dass der nächste Intermediär sie von anderer Seite erhält. 2Dies gilt auch für Informationen einer börsennotierten Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union. 3Absatz 2 Satz 1 gilt entsprechend. (4) Intermediär ist eine Person, die Dienstleistungen der Verwahrung oder der Verwaltung von Wertpapieren oder der Führung von Depotkonten für Aktionäre oder andere Personen erbringt, wenn die Dienstleistungen im Zusammenhang mit Aktien von Gesellschaften stehen, die ihren Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum haben. (5) 1Intermediär in der Kette ist ein Intermediär, der Aktien der Gesellschaft für einen anderen Intermediär verwahrt. 2Letztintermediär ist, wer als Intermediär für einen Aktionär Aktien einer Gesellschaft verwahrt. (6) Unternehmensereignisse sind Ereignisse gemäß Artikel 1 Nummer 3 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212. Literatur: Bayer/Schmidt, BB-Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsreport zum Europäischen Unternehmensrecht 2018/19 (Teil II), BB 2019, 2178; Böcking/Bundle, Erhöhte Transparenz für Aktionäre durch den RefE zu ARUG II?, Der Konzern 2018, 496; Bork, Die Regelungen zu „know-your-shareholder“ im Regierungsentwurf des ARUG II, NZG 2019, 738; Cahn, Der Aktionär als Mittel zum Zweck, in: Festschrift für Gerd Krieger, 2020, S. 156; Cichy/Krawinkel, „Know Your Shareholder“ nach ARUG II – Inpflichtnahme der Intermediäre bei der Aktionärsidentifizierung und Informationsübermittlung, DB 2020, 602; Claussen, Der Aktionär – das unbekannte Wesen, in: Festschrift für Karsten Schmidt, 2009, S. 217; Decher, Aktionärsinformation, ZGR 2020, 238; Eggers/de Raet, Das Recht börsennotierter Gesellschaften zur Identifikation Ihrer Aktionäre gemäß der EU-Aktionärsrechterichtlinie, AG 2017, 464; Florstedt, Die wesentlichen Änderungen des ARUG II nach den Empfehlungen des Rechtsausschusses, ZIP 2020, 1; Foerster, Identifizierung der Aktionäre nach der Änderungsrichtlinie zur Aktionärsrichtlinie (2. ARRL) und dem Referentenentwurf ARUG II, AG 2019, 17; Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (VGR), Stellungnahme zum Referentenentwurf des BMJV eines Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II), AG 2019, 920; Grobecker, Der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrichtlinie im Überblick, Der Konzern 2018, 419; Hoppe, Zeitpunkt, Inhalt und Form von Mitteilungen gemäß § 125 AktG nach ARUG II, NZG 2022, 110; Hopt, Bedeutungswandel, Konvergenz, unternehmerische Mitverantwortung, Pflichten- und Haftungszuwachs, ZGR 2019, 507; Kalss, Gedanken zu einem neuen Recht der Aktionärsinformation, GesRZ 2020, 225; Kalss, Aktionärsinformation, ZGR 2020, 217; Kessler, Zuständigkeit für die Vollziehung einer einstweiligen schiedsrichterlichen Maßnahme in Bezug auf verbriefte Aktien einer deutschen SE, GWR 2021, 75; Koch, Informationsweitergabe und Informationsasymmetrien im Gesellschaftsrecht, ZGR 2020, 183; Kuntz, Digitale Kommunikation mit Aktionären und Investoren, ZHR 183 (2019) 190; Kuntz, Kommunikation mit Aktionären nach ARUG II, AG 2020, 18; Kuthe/Lingen, CB-Beitrag: Neue Compliance-Anforderungen durch das ARUG II, CB 2019, 378; Leyens, System der Aktionärsinformation – Auskunft, Sonderprüfung, Sondervertretung, Investorendialog und horizontale Kommunikation, ZGR 2019, 544; Leyens, Intermediäre: Bedeutung, Regulierung und Zukunftsfragen, in: Festschrift 25 Jahre WpHG, 2019, S. 345; Mülbert, Die neue kapitalmarktrechtliche Dimension des AktG aufgrund der Richtlinie (EU) 2017/828 (Aktionärsrichtlinie II) betref-

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Übermittlung von Informationen über Unternehmensereignisse

§ 67a

fend Intermediäre, AG 2021, 53; Noack, Identifikation der Aktionäre, neue Rolle der Intermediäre – zur Umsetzung der Aktionärsrichtlinie II, NZG 2017, 561; Noack/Zetzsche, Vom Aktienbankrecht zum Aktienintermediärsrecht, in: Festschrift für Klaus J. Hopt, 2020, S. 863; Pälicke, Die Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie in Bezug auf Geschäfte börsennotierter Unternehmen mit deren Großaktionär, Der Konzern 2018, 369; Paschos/Goslar, Der Regierungsentwurf des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II), AG 2019, 365; Paschos/Goslar, Der Referentenentwurf des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) aus Sicht der Praxis, AG 2018, 857; Pospiech/Reichenberger, Aktionärsidentifikation und Interaktion, NJW-Spezial 2020, 655; Redenius-Hövermann/Henkel, Eine empirische Bestandsaufnahme zur Aktionärsklage nach § 148 AktG, AG 2020, 349; Rieckers, Umsetzung der geänderten Aktionärsrechterichtlinie, BOARD 2018, 87; Schick, Gespräche des Aufsichtsrats mit Investoren, WPg 2018, 1379; Schilha/Theusinger, Aufsichtsratskommunikation – insbesondere in der Unternehmenskrise: Aktienrechtsdogmatik trifft auf Praxiserwartung, NZG 2019, 521; Schmidt, J., Die Umsetzung der Aktionärsrechte-Richtlinie 2017: der Referentenentwurf für das ARUG II, NZG 2018, 1201; Schön, Informationspflichten der Unternehmensleitung zwischen Aktionärsinteresse, Kapitalmarktinformation und sozialer Verantwortung, in: Festschrift für Karsten Schmidt, 2019, S. 391; Seibert, ARUG II – Die Stellungnahmen, in: Festschrift für Eberhard Vetter, 2019, S. 749; Seibt/Danwerth, Aktionärskommunikation und (Online-)Hauptversammlung: Das Vorfeld ist das Hauptfeld, AG 2021, 369; Stiegler, Shareholder Identification and Transmission of Information – Imbalance between Shareholders’ Anonymity and Engagement?, EBLR 30 (2019) 763; Stiegler, Aktionärsidentifizierung nach ARUG II, WM 2019, 620; Stöber, Neuerungen im Aktienrecht durch das ARUG II, DStR 2020, 391; Süßmann, Die richtlinienkonforme Auslegung der Mitteilungspflichten nach § 30b I WpHG, NZG 2015, 467; Teichmann, Die Anwendbarkeit des ARUG II auf die KGaA, in: Festschrift für Gerd Krieger, 2020, S. 993; Wentz, Offene Fragen der Informationsübermittlung nach §§ 67a ff. AktG, WM 2020, 957; Wentz, Das Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie – von der Aktionärsrechterichtlinie über den Referentenentwurf zum Regierungsentwurf, WM 2019, 906; Zetzsche, Aktionärsidentifikation, Aktionärslegitimation und das Hauptversammlungsverfahren nach ARUG II, AG 2020, 1; Zetzsche, Know Your Shareholder, der intermediärsgestützte Aktionärsbegriff und das Hauptversammlungsverfahren, ZGR 2019, 1; Zimmermann, Begutachtungsentwurf zur Aktionärsrechte-Richtlinie veröffentlicht, ecolex 2019, 431; Zipperle/Lingen, Das Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie im Überblick, BB 2020, 131.

Übersicht I. 1. 2. 3. 4.

Grundlagen ........................................ 1 Europäischer Hintergrund ................. 1 Entstehungsgeschichte ....................... 6 Regelungsgegenstand und -zweck ..... 9 Verhältnis zu § 67b, § 67c und § 67d .................................................. 12 II. Anwendungsbereich ....................... 16 1. Sachlicher Anwendungsbereich ....... 16 2. Örtlicher Anwendungsbereich ........ 19 3. Zeitlicher Anwendungsbereich ........ 21 III. Begriffsbestimmungen ................... 22 1. Intermediär ....................................... 22 2. Intermediär in der Kette .................. 30 3. Letztintermediär ............................... 33 4. Unternehmensereignis ..................... 36 5. Aktionär ............................................ 41

IV. Übermittlungspflicht der Gesellschaft (§ 67a Abs. 1) ........................ 1. Pflicht zur Informationsübermittlung ............................................ 2. Keine direkte oder indirekte Mitteilung ......................................... 3. Adressat der Informationsübermittlung ............................................ a) Namensaktionäre ....................... b) Inhaberaktionäre ........................ 4. Einberufung der Hauptversammlung .................................................... V. Art und Weise der Informationsübermittlung (§ 67a Abs. 1, 2) ....... 1. Informationsübermittlung durch die Gesellschaft .................................

Sascha Stiegler

43 43 45 48 49 50 52 53 53

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§ 67a

Übermittlung von Informationen über Unternehmensereignisse

2. Informationsübermittlung durch beauftragte Dritte ............................ 3. Beschränkung der Informationsübermittlung .................................... VI. Form, Inhalt und Frist der Informationsübermittlung (§ 67a Abs. 2 Satz 2, 3) ............................... 1. Elektronische Übermittlung ........... 2. Sprache der Informationsübermittlung ............................................ 3. Inhalt der Informationsübermittlung ............................................ 4. Frist zur Informationsübermittlung ............................................ I.

Grundlagen

1.

Europäischer Hintergrund

54 58

62 62 66 69

VII. Weiterleitung zwischen Intermediären (§ 67a Abs. 3) .................. 74 1. Weiterleitungspflicht ........................ 74 2. Form, Inhalt und Frist der Weiterleitungspflicht ................................... 78 3. Beauftragung Dritter ........................ 82 4. Weiterleitungspflicht bei EUGesellschaften ................................... 83 VIII. Rechtsfolgen bei Verstößen ........ 85 1. Beschlussanfechtung ........................ 85 2. Ordnungswidrigkeit ......................... 86 3. Schadensersatz .................................. 88

71

1 Die §§ 67a ff. wurden mit Wirkung vom 1.1.2020 neu in das AktG eingefügt.1) Sie basieren auf den diesbezüglich neuen Bestimmungen in der europäischen Aktionärsrechterichtlinie (ARRL).2) Die ARRL wurde im Jahr 2017 durch die zweite Aktionärsrechterichtlinie (ARRL II)3) umfassend reformiert und neben der Informationsübermittlung der Gesellschaft an Aktionäre und dem Recht auf Aktionärsidentifizierung u. a. um Aspekte der langfristigen Mitwirkungspolitik (vgl. § 134b als deutsche Umsetzungsnorm), das Recht der Aktionäre auf Abstimmung über die Vergütungspolitik (vgl. § 87a als deutsche Umsetzungsnorm) sowie die Regelung von Transaktionen mit nahestehenden Unternehmen und Personen (vgl. §§ 111a ff. als deutsche Umsetzungsnorm) erweitert.4) Übergeordnete Zielvorgabe der reformierten Aktionärsrechte ist dabei eine verbesserte Transparenz bei börsennotierten AGs innerhalb der EU.5) 2 Die Reform der bestehenden ARRL im Jahr 2017 hat dabei zur Einführung eines neuen Kapitals Ia geführt, worin insbesondere die Identifizierung von Aktionären durch die Gesellschaft (vgl. Art. 3a ARRL II; zur Umsetzung in deutsches Recht siehe vor allem § 67d), die Informationsübermittlung von der Gesellschaft an ihre Aktionäre (vgl. Art. 3b ARRL II) sowie die Erleichterung der Ausübung von Aktionärsrechten (vgl. Art. 3c ARRL II).6) § 67a im Speziellen basiert dabei materiell – vorbehaltlich der Begriffsbestimmungen in den Absätzen 4, 5 und 6 – primär auf der Regelung des Art. 3b ARRL II.7) _____________ 1) 2)

3)

4) 5) 6) 7)

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Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2015, 2637. Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften (Aktionärsrechterichtlinie – ARRL), ABl. (EU) L 184/17 v. 14.7.2007. Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre (Zweite Aktionärsrechterichtlinie – ARRL II), ABl. (EU) L 132/1 v. 20.5.2017. Zum Gesetzgebungsprozess bis zur Verabschiedung der Richtlinie (EU) 2017/828 s. Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 7 ff. Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 10; vgl. auch Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 2. S. dazu nur Lutter/Bayer/J. Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, Rz. 29.24 ff.; Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 26 ff. Vgl. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67a Rz. 2; Hirte/ Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67a Rz. 4.

Sascha Stiegler

Übermittlung von Informationen über Unternehmensereignisse

§ 67a

Die europäische Regelung des Art. 3b ARRL II beabsichtigt in erster Linie, dass die 3 Aktionäre auch die erforderlichen Informationen erhalten, wenn die Gesellschaft nicht direkt mit ihnen kommuniziert.8) Im Fall der Zwischenschaltung von einem oder mehreren Intermediären sind diese daher ebenfalls bzgl. der Kommunikation in die Pflicht zu nehmen, um die Ausübung der Aktionärsrechte zu verbessern. Hierzu statuiert Art. 3b ARRL II sowohl eine Weiterleitungs- bzw. Übermittlungspflicht in Richtung des Aktionärs als auch eine Weiterleitungs- bzw. Übermittlungspflicht in Richtung der Gesellschaft.9) Art. 3b Abs. 1 ARRL II beschreibt dabei im Konkreten die Verpflichtung für Intermediäre, die von der Gesellschaft erhaltenen Informationen unverzüglich an den Aktionär oder einen von ihm benannten Dritten zu übermitteln. Art. 3b Abs. 2 ARRL II bestimmt in diesem Zusammenhang ferner, dass die übermittelten Informationen rechtzeitig und in standardisierter Form von der Gesellschaft zu liefern sind. Schließlich enthält Art. 3b Abs. 3 ARRL II eine Verbotsnorm für die umsetzenden Mitgliedstaaten.10) Diese dürfen weder die Gesellschaft noch die Intermediäre verpflichten, die Informationen zu übermitteln bzw. weiterzuleiten, wenn die Gesellschaft den entsprechenden Inhalt direkt an den betroffenen Aktionär übermittelt. Die Europäische Kommission hatte gemäß Art. 3b Abs. 6 Satz 2 ARRL II bis zum 4 10.9.2018 einen Durchführungsrechtsakt zur Konkretisierung der in Art. 3b ARRL II statuierten Anforderungen zu erlassen. Der zu erlassende Durchführungsrechtsakt hatte sich dabei auf die „Präzisierung der Mindestanforderungen“ und auf die Art und das Format der zu übermittelnden Informationen zu beziehen. Im April 2018 veröffentlichte die Europäische Kommission den ersten Entwurf einer entsprechenden Durchführungsverordnung. Anfang September 2018 wurde sodann die Durchführungsverordnung (EU) 2018/121211) (DVO (EU) 2018/1212) erlassen. Sie gilt als unmittelbar geltendes Recht auch für die betroffenen Gesellschaften, weshalb der Verweis hierauf in den §§ 67a ff. lediglich klarstellenden Charakter hat.12) Gleichwohl ist es schon betreffend die Verständlichkeit nachvollziehbar und zu begrüßen, dass der deutsche Gesetzgeber in § 67a Abs. 2 (siehe dazu Rz. 62 ff.) direkt auf die DVO (EU) 2018/1212 verweist. Der europäische Hintergrund des § 67a fordert insofern insbesondere stets eine richtlinien- 5 konforme Auslegung der Norm, d. h. bei Auslegungszweifeln sind die zugrunde liegenden Richtlinienbestimmungen zu betrachten und bei der Ermittlung des Auslegungsergebnisses vorrangig heranzuziehen. Die entsprechend europarechtskonforme Interpretation umfasst dabei ebenfalls die unmittelbare Geltung der DVO (EU) 2018/1212. Einzelne Aspekte des § 67a dürfen daher nicht im materiellen Widerspruch zu dieser stehen. 2.

Entstehungsgeschichte

Basierend auf der Umsetzungsverpflichtung der reformierten ARRL bis spätestens 10.6.2019, 6 wurde der RefE zum u. a. die Neueinfügung der §§ 67a ff. beabsichtigenden ARUG II vom

_____________ 8) Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 65. 9) Lutter/Bayer/J. Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, Rz. 29.30; Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 65. 10) Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 68. 11) Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 der Kommission v. 3.9.2018 zur Festlegung von Mindestanforderungen zur Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die Identifizierung der Aktionäre, die Informationsübermittlung und die Erleichterung der Ausübung der Aktionärsrechte, ABl. (EU) L 223/1 v. 4.9.2018. 12) K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 9.

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§ 67a

Übermittlung von Informationen über Unternehmensereignisse

BMJV am 11.10.2018 veröffentlicht.13) Anders als der darauffolgende RegE sowie die schlussendlich verabschiedete Fassung sah der RefE des § 67a noch keine Beschränkung des persönlichen Anwendungsbereichs der Norm (siehe dazu Rz. 16) auf börsennotierte Unternehmen vor, sondern umfasste allgemein „die Gesellschaft“.14) Tatsächlich wurde eine, vom Mindestnormcharakter der ARRL durchaus umfasste, Erweiterung des Anwendungsbereichs auch auf nicht-börsennotierte Gesellschaften nicht einheitlich begrüßt.15) 7 Der im März 2019 veröffentlichte RegE zum ARUG II sah daher insbesondere eine Beschränkung auf Börsengesellschaften i. S. des § 3 Abs. 2 vor.16) Dies erscheint auch nachvollziehbar, da zumindest im Zuge der Änderung des § 10 durch die Aktienrechtsnovelle 201617) Aktien von nicht-börsennotierten Gesellschaften überwiegend als Namensaktien gehalten werden und damit aufgrund der Mitteilungspflicht nach § 67 Abs. 1 Satz 2 das tatsächlich-praktische Bedürfnis einer Erweiterung auf nicht-börsennotierte Gesellschaft wohl nur gering wäre.18) Weiterhin differenzierte der RegE noch detaillierter zwischen Namens- und Inhaberaktien und verwies häufiger auf die einschlägigen Regelungen der DVO (EU) 2018/1212.19) 8 Abgesehen von einer Anpassung des Intermediärsbegriffs in Abs. 4 (siehe dazu Rz. 22 ff.),20) wurde materiell unverändert zum RegE betreffend den § 67a am 12.12.2019 – und damit etwa um ein halbes Jahr verspätet im Vergleich zu den Vorgaben der ARRL II – das „Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie“ (ARUG II) verabschiedet und am 19.12.2019 im BGBl. verkündet (zum Inkrafttreten der Vorschrift siehe Rz. 21).21) Insgesamt sind die Regelungen der §§ 67a ff. sehr technisch und vor allem auch im Hinblick auf deren Verzahnung mit den speziellen Rechtsgebieten wenig eingängig.22) 3.

Regelungsgegenstand und -zweck

9 In der Praxis werden Aktien börsennotierter Gesellschaften häufig über Verwahrketten von Intermediären gehalten. Hierbei sind regelmäßig auch mehrere Intermediäre innerhalb einer Kette beteiligt und die Identität des tatsächlichen Aktionärs bleibt der Gesellschaft grundsätzlich verborgen. Eine unmittelbare Kommunikation zwischen Gesellschaft und Aktionär ist damit nicht bzw. nur schwer möglich,23) was insofern zu Informationsa_____________ 13) RefE ARUG II v. 11.10.2018, abrufbar unter https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/Aktionaersrechterichtlinie_II.html (Abrufdatum: 23.6.2022); dazu etwa Böcking/Bundle, Der Konzern 2018, 496; Foerster, AG 2019, 17; Grobecker, Der Konzern 2018, 419; J. Schmidt, NZG 2018, 1201. 14) Vgl. auch Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 12; Cahn in: BeckOGKAktR, § 67a AktG Rz. 3. 15) Eine Erweiterung auf nichtbörsennotierte Gesellschaften bereits befürwortend Eggers/de Raet, AG 2017, 464, 469; Noack, NZG 2017, 561, 562; Kunthe/Lingen, CB 2019, 378, 380; für eine Beschränkung auf Börsengesellschaften hingegen Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67a Rz. 14; Bork, NZG 2019, 738, 741; J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1216; Stiegler, WM 2019, 620, 621. 16) RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739; dazu Bork, NZG 2019, 738; Paschos/Goslar, AG 2019, 365; speziell bzgl. § 67d AktG Stiegler, WM 2019, 620. 17) Gesetz zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2016) v. 22.12.2015, BGBl. I 2015, 2565. 18) Stiegler, WM 2019, 620, 621. 19) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 14. 20) Speziell dazu Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 3. 21) Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2637; dazu im Hinblick auf die §§ 67a ff. Kuntz, AG 2020, 18; Pospiech/Reichenberger, NJW-Spezial 2020, 655; Stöber, DStR 2020, 391, 392; Zetzsche, AG 2020, 1; Zipperle/Lingen, BB 2020, 131, 134. 22) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67a Rz. 2; Seibert in: FS Vetter, S. 749, 752. 23) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 1.

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Sascha Stiegler

Übermittlung von Informationen über Unternehmensereignisse

§ 67a

symmetrien und damit einer mangelhaften Corporate Governance führen kann.24) Dies erkannte der europäische Gesetzgeber und beabsichtigte durch seine Neuregelungen, die mit den §§ 67a ff. in deutsches Recht umgesetzt wurden, die entsprechende Kommunikation und Interaktion zwischen der Gesellschaft und ihren Aktionären zu verbessern.25) Dies spielt dabei vor allem im Verhältnis der Gesellschaft zu Inhaberaktionären, die nur eine Kleinstbeteiligung unterhalb der kapitalmarktrechtlichen Mitteilungsschwelle des § 33 Abs. 1 Satz 1 WpHG halten, eine Rolle.26) Im Zusammenhang mit der Möglichkeit der Aktionärsidentifizierung (siehe dazu § 67d) 10 steht die spiegelbildliche Rechtewahrung durch den Aktionär selbst. Die Regelungen der § 67a Abs. 1 bis 3 bezwecken insofern die effektive Ausübung der Aktionärsrechte. Hierfür hat die Gesellschaft Informationen über Unternehmensereignisse (zum Begriff siehe Rz. 36 ff.) entweder direkt dem Aktionär selbst (sofern dieser bekannt ist) oder dem zuständigen Intermediär (zum Begriff siehe Rz. 22 ff.) zu übermitteln. Regelungszweck des § 67a ist daher ebenfalls die entsprechende Weiterleitungsverpflichtung des betroffenen Intermediärs bzw. der Intermediäre und die damit verbundene erleichterte Rechtewahrnehmung des Aktionärs.27) Bezweckt wird damit zusammenhängend letztlich auch eine verbesserte Corporate Governance i. S. einer verantwortungsvolleren Unternehmensführung mittels Interaktion der Gesellschaft mit ihren Eigentümern.28) Regelungsgegenstand des § 67a ist als Eingangsnorm zu den nachfolgenden Paragrafen 11 ferner die Legaldefinition maßgebender Begriffe. So wird in § 67a Abs. 4 der Begriff des „Intermediärs“ definiert (siehe dazu Rz. 22 ff.), in § 67a Abs. 5 der Begriff des „Intermediärs in der Kette“ (siehe dazu Rz. 30 ff.) und in § 67a Abs. 6 der Begriff des „Unternehmensreignisses“ (siehe dazu Rz. 36 ff.). Auf die entsprechenden Begriffsdefinitionen wird sodann in den nachfolgenden Regelungen verwiesen. Ein solcher allgemeiner Definitionsteil ist für das Verständnis und die Anwendung der Normen ohne Frage hilfreich. 4.

Verhältnis zu § 67b, § 67c und § 67d

Die Neuregelungen der §§ 67a bis 67f, neben § 67a also insbesondere die materiellen 12 Bestimmungen über die Übermittlung von Informationen durch den Letztintermediär an die Aktionäre gemäß § 67b, die Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Gesellschaft gemäß § 67c sowie den Anspruch der Gesellschaft auf Aktionärsidentifizierung gemäß § 67d, sind nicht losgelöst voneinander zu betrachten, sondern stehen in einer gewissen Verbindung bzw. einem Verhältnis zueinander. Dies schon allein aufgrund dessen, dass die in den § 67a Abs. 3 bis 5 legaldefinierten Begriffe des „Intermediärs“ (siehe unten Rz. 22 ff.), des „Intermediärs in der Kette“ (siehe unten Rz. 30 ff.) und des „Unternehmensereignisses“ (siehe unten Rz. 36 ff.) in den nachfolgenden Paragrafen unter Zugrundelegung dieses Verständnisses verwendet und vorausgesetzt werden. Unabhängig von den gesetzlichen Begriffsbestimmungen ist § 67a in Bezug auf § 67b auch 13 aus materieller Sicht als Generalnorm zu betrachten. Der Grundsatz, dass die betroffenen _____________ 24) Koch, ZGR 2020, 183, 190; vgl. auch Schön in: FS K. Schmidt, S. 391, 401. 25) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 4; Cahn in: FS Krieger, S. 156, 160; Schön in: FS K. Schmidt, 2020, S. 391, 403; Hopt/Leyens in: Hopt/Binder/Böcking, Hdb. Corporate Governance, § 1 Rz. 49 – „gehaltvolle Aktionärsbeteiligung“; Schön in: FS K. Schmidt, S. 391, 403; Teichmann in: FS Krieger, S. 993, 996. 26) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 3; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 4. 27) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 12. 28) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67a Rz. 1; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 6.

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§ 67a

Übermittlung von Informationen über Unternehmensereignisse

Gesellschaften (zum persönlichen Anwendungsbereich siehe unten Rz. 16 ff.) ihren Aktionären Informationen über bestimmten Unternehmensereignisse zur Verfügung zu stellen haben, wird durch die Weiterleitungspflicht des Intermediärs, der für einen Aktionär der Gesellschaft Aktien verwahrt, durch die Regelung des § 67b Abs. 1 konkretisiert.29) 14 In Bezug auf § 67c spiegelt sich das Verhältnis zu § 67a im Regelungszweck der Neuregelungen bzw. den zugrunde liegenden europäischen Normen (siehe oben Rz. 3 f.) wider. Denn unter der Prämisse einer zu verbessernden Kommunikation zwischen Gesellschaften und Aktionär und damit der Ausübung von Aktionärsrechten, ist § 67c als notwendige Ergänzung zu § 67a zu betrachten,30) indem die Bedeutung und Auswirkung der Informationsübermittlung von der Gesellschaft an den Aktionär (Bottom-up)31) durch die Informationsübermittlung des Aktionärs an die Gesellschaft (Top-down)32) bestärkt wird bzw. überhaupt erst ihren tatsächlichen Zweck entfaltet. 15 Auch das Verhältnis zwischen der Informationsübermittlung gemäß § 67a und der Identifizierung der Aktionäre durch die Gesellschaft gemäß § 67d ist in diesem Zusammenhang einzuordnen. Für eine intendierte Kommunikation zwischen Gesellschaft und Aktionär bedarf nicht nur Letzterer entsprechende Informationen von der Gesellschaft, sondern auch die Gesellschaft Informationen i. S. von Identifizierungsmerkmalen über den Aktionär.33) II.

Anwendungsbereich

1.

Sachlicher Anwendungsbereich

16 In sachlich-persönlicher Hinsicht gelten die Regelungen des § 67a grundsätzlich nur für börsennotierte Gesellschaften i. S. des § 3 Abs. 2.34) Die Börsennotierung der Gesellschaft muss dabei nicht zwingend an einem deutschen geregelten Markt bestehen, sondern eine Notierung an einer vergleichbaren ausländischen Börse ist ausreichend.35) Für Gesellschaften, deren Aktien lediglich im Freiverkehr i. S. des § 48 BörsG gehandelt werden, sind die Regelung der §§ 67a ff. hingegen nicht unmittelbar anwendbar.36) 17 Hinsichtlich insbesondere der Begriffsbestimmung des Intermediärs in § 67a Abs. 4 besteht aus systematischen Gesichtspunkten jedoch keine Beschränkung auf Börsengesellschaften.37) Der Begriff des Intermediärs ist insofern normübergreifend legaldefiniert und auch für Regelungen heranzuziehen (z. B. § 67 Abs. 4, § 118 Abs. 1, § 125 Abs. 1, 2), die in gleicher Weise für börsennotierte wie für nicht-börsennotierte Gesellschaften Anwendung finden.

_____________ 29) In diesem Sinne Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 22; vgl. auch Cahn in: FS Krieger, S. 156, 163. 30) In diesem Sinne Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 23. 31) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 5; Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 71. 32) Lutter/Bayer/J. Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, Rz. 29.32; Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 71. 33) Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 65. 34) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 16; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 7; Teichmann in: FS Krieger, S. 993, 996. 35) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 16. 36) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 16; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 7; Stiegler, WM 2019, 620, 621. 37) Vgl. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 7.

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Sascha Stiegler

Übermittlung von Informationen über Unternehmensereignisse

§ 67a

Über Art. 9 Abs. 1 lit. c Ziff. ii SE-VO gilt § 67a darüber hinaus für börsennotierte euro- 18 päische Aktiengesellschaften (SE) mit Sitz in Deutschland38) sowie über § 278 Abs. 3 für die börsennotierte KGaA.39) 2.

Örtlicher Anwendungsbereich

In örtlicher Hinsicht gelten die Regelungen des § 67a im Grundsatz für Gesellschaften 19 mit Satzungssitz im Inland und damit notwendigerweise für alle inländischen AGs und deren Aktionäre.40) Die Nationalität bzw. Herkunft des Aktionärs selbst ist hingegen unerheblich. Alles andere wäre wohl auch nicht mit der europäischen Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit in Einklang zu bringen. Ebenfalls unerheblich für die Anwendbarkeit der Regelungen des § 67a ist, ob der betroffene Aktionäre seine Aktien an der deutschen Börsengesellschaften an einem geregelten Markt in einem Drittstaat (EU oder NichtEU) erworben hat und in welchem Staat ein etwaiger Intermediär ansässig ist.41) Unbenommen der grundsätzlichen Geltung des § 67a für inländische Börsengesellschaf- 20 ten, gilt speziell die Regelung des § 67a Abs. 3 Satz 1 auch für börsennotierte Gesellschaften mit (Satzungs-)Sitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat (§ 67a Abs. 3 Satz 2, siehe dazu auch Rz. 83 f.). 3.

Zeitlicher Anwendungsbereich

Gemäß § 26j Abs. 4 EGAktG finden die Regelungen des § 67a zur Informationsübermitt- 21 lung von Unternehmensereignisses sowie die dazugehörigen Begriffsbestimmungen seit dem 3.9.2020 für die betroffenen Gesellschaften Anwendung. Gleiches gilt für die insofern in Bezug genommenen Regelungen der DVO (EU) 2018/1212. III.

Begriffsbestimmungen

1.

Intermediär

Verschiedene, für die Anwendung der §§ 67a ff. immanente Begriffe werden in § 67a als 22 eine Art Generalnorm legaldefiniert. Hierzu zählt zunächst der maßgebende Begriff des Intermediärs. Nach § 67a Abs. 4 ist ein Intermediär „eine Person, die Dienstleistungen der Verwahrung oder der Verwaltung von Wertpapieren oder der Führung von Depotkonten für Aktionäre oder andere Personen erbringt, wenn die Dienstleistungen im Zusammenhang mit Aktien von Gesellschaften stehen, die ihren Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum haben“. Die Begriffsbestimmung basiert insofern sprachlich und inhaltlich auf der einschlägigen Definition des Art. 1 Abs. 5 und Art. 2 lit. d der ARRL II.42) Vom Begriff des Intermediärs sind daher Wertpapierfirmen i. S. des Art. 4 Abs. 1 Nr. 1 MiFID II43), _____________ 38) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 17; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 62; Zetzsche, ZGR 2019, 1, 9. 39) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67a Rz. 3; Teichmann in: FS Krieger, S. 993, 996; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 62. 40) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 17; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 8. 41) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 17; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 8. 42) Stiegler, WM 2019, 620, 622. 43) Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.5.2014 über Märkte für Finanzinstrumente sowie zur Änderung der Richtlinien 2002/92/EG und 2011/61/EU (MiFiD II), ABl. (EU) L 173/349 v. 12.6.2014.

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Kreditinstitute i. S. des Art. 4 Abs. 1 Nr. 1 Verordnung (EU) 575/2013 sowie Zentralverwahrer i. S. des Art. 2 Abs. 1 Nr. 1 Zentralverwahrerverordnung (EU) 909/2014 umfasst.44) 23 Die Begriffsbestimmung des Intermediärs gilt dabei normübergreifend als grundsätzliche, allgemeine Definition des Intermediärsbegriffs innerhalb des AktG.45) Anders als die materiellen Bestimmungen des § 67a gilt er daher sowohl für börsennotierte als auf für nicht-börsennotierte Gesellschaften.46) 24 Anhand der genannten Definition eines Intermediärs ergibt sich daraus sowohl ein sachliches als auch ein örtliches Tatbestandsmerkmal.47) Aus sachlicher Sicht ist ein Intermediär eine Person, die entweder Dienstleistungen der Verwahrung oder der Verwaltung von Aktien oder der Führung von Depotkonten für Aktionäre oder andere Personen in Bezug auf Gesellschaften erbringt. Dabei kommt es vielmehr auf die konkrete Tätigkeit des Intermediärs als auf dessen Bezug zu der von den §§ 67a ff. erfassten Gesellschaften an.48) Dies ist auch nachvollziehbar, um den Regelungszweck der Vorschrift (siehe oben Rz. 9 ff.) nicht durch einen eingeschränkten Intermediärsbegriff zu beeinträchtigten.49) 25 Nicht vom Intermediärsbegriff des § 67a Abs. 4 umfasst sind hingegen Notare, die gemäß § 23 BNotO Aktien für einen Dritten aufbewahren oder abliefern, da dies keine von der Norm umfasste Dienstleistung darstellt.50) Weiterhin nicht erfasst sind Rechtsanwälte und Steuerberater,51) Stimmrechtsberater52) (sofern sie keine Intermediärstätigkeiten vollziehen)53), Stimmrechtsvertreter54) sowie zur Führung des Aktienregisters nach § 67 oder zur Vorbereitung einer Hauptversammlung beauftragte Personen.55) 26 Als territoriale (örtliche) Voraussetzung muss die vom Intermediär ausgeübte Dienstleistung bezogen auf eine Gesellschaft aus der EU oder des EWR erfolgen. Die Herkunft des Intermediärs selbst ist dabei unerheblich.56) Dieser kann daher auch seinen Sitz bzw. seine Hauptverwaltung in einem Drittstaat haben.57) Gleichwohl wird in diesem Fall, und _____________ 44) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 62; zur zugrunde liegenden Richtlinie Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 45. 45) Ferner zum kapitalmarktrechtlichen Intermediärsbegriff Leyens in: FS 25 Jahre WpHG, S. 345 ff; im Hinblick auf § 125 auch Hoppe, NZG 2022, 110. 46) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 25; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 46; Kuntz, AG 2020, 18, 23; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67a Rz. 55. 47) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 47 f. 48) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 44; Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 28; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 132; Zetzsche, ZGR 2019, 1, 9. 49) Zur zugrunde liegenden europäischen Norm Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 45. 50) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 62. 51) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 30; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 47; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 136. 52) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 62; Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 31; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 47; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 138. 53) Mülbert, AG 2021, 53, 56. 54) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 31; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 138. 55) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 31; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 139. 56) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 33; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 49; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67a Rz. 8. 57) Auch wenn § 67a Abs. 4 von der „Person“ des Intermediärs spricht, sind damit faktisch nur juristische Personen bzw. Personenvereinigungen angesprochen, da nur diese in der Praxis als entsprechender Verwahrer (z. B. Depotbank) auftreten.

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diese wird insofern auch zu Recht gelegentlich kritisiert,58) die Durchsetzbarkeit vor allem des § 67a Abs. 3 im Hinblick auf die Verpflichtung von Intermediären nur schwer umzusetzen sein. Vieles hängt daher auch von der (freiwilligen) Mitwirkungspflicht der Intermediäre ab. Da aber auch der europäische Gesetzgeber bewusst einen diesbezüglich extraterritorialen Ansatz wählte, blieb dem deutschen Gesetzgeber für eine richtlinienkonforme Umsetzung auch grundsätzlich keine andere Wahl.59) Anknüpfungspunkt für die EU- bzw. EWR-Gesellschaft ist dabei deren Sitz. Aus Sicht 27 der deutschen AG ist damit der Satzungssitz i. S. des § 5 zu verstehen. In Bezug auf ausländische Gesellschaften ist dies jedoch nicht zwingend. Maßgebend ist für diese vielmehr das tatsächliche Gesellschaftsstatut, dem sie unterfallen, also das auf die entsprechende Gesellschaft anwendbare nationale Gesellschaftsrecht.60) Das Vereinigte Königreich und Nordirland sind seit dem 1.2.2020 weder EU noch – 28 nach derzeitigem Stand – EWR-Mitglied. Dies gilt insofern auch für britische Gesellschaften. Ein Intermediär, dessen Dienstleistungen lediglich im Zusammenhang mit Aktien von einer oder mehreren britischen Gesellschaften stehen, sind daher vom Wortlaut der Intermediärsbestimmung des § 67a Abs. 4 nicht erfasst. Eine zumindest zeitweise analoge Anwendung könnte sich in diesem Fall jedoch anbieten, da sowohl zum Zeitpunkt des Erlasses der zugrunde liegenden Richtlinie als auch der Verabschiedung und Verkündigung des ARUG II das Vereinigte Königreich und Nordirland noch EU-Mitgliedstaaten waren. Obgleich § 67a Abs. 4 von Dienstleistungen in Bezug auf „Gesellschaften“ spricht, ist es bei 29 der zugrunde liegenden Ratio der Norm ebenfalls bereits ausreichend, wenn der Intermediär seine Dienste bisher nur einer EU-/EWR-Gesellschaft angeboten hat bzw. zukünftig plant, anzubieten.61) 2.

Intermediär in der Kette

Neben dem Begriff des Intermediärs wird auch der Begriff des „Intermediärs in der 30 Kette“ legaldefiniert. Nach § 67a Abs. 5 Satz 1 handelt es sich bei einem Intermediär in der Kette um einen Intermediär, „der Aktien der Gesellschaft für einen anderen Intermediär verwahrt“. Unmittelbar in Bezug genommen wird der Intermediär in der Kette in § 67a Abs. 3 Satz 1, § 67c Abs. 1 Satz 1 und § 67d Abs. 4 Satz 2. Typischerweise beginnt die Intermediärskette dabei mit einem Zentralverwahrer als „Erstintermediär“ und endet mit dem Letztintermediär (zum Begriff siehe Rz. 33 ff.), der die Aktien für einen Aktionär verwahrt.62) Im RefE zum ARUG II wurde für die Begriffsbestimmung noch nicht explizit auf die Eigen- 31 schaft als Intermediär i. S. des § 67a Abs. 4 abgestellt, sondern vielmehr auf eine „Person“.63) Die entsprechende Unklarheit wurde jedoch i. R. des RegE beseitigt. Anders und insofern spezifischer ist die Definition des Intermediärs in der Kette vom 32 Begriff des Intermediärs nach § 67a Abs. 4 in dem Sinne, dass das entsprechende Kettenmitglied als Intermediär im konkreten Bezug auf die von den Verpflichtungen der § 67a _____________ 58) So Cichy/Krawinkel, DB 2020, 602, 603; Kuntz, AG 2020, 18, 26; Noack, NZG 2017, 561, 563; Zetzsche, ZGR 2019, 1, 11. 59) Vgl. auch K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 145. 60) K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 144; Stiegler, WM 2019, 620, 622. 61) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 48. 62) Dies ist jedoch nicht zwingend, vgl. nur Noack/Zetzsche in: FS Hopt, S. 863, 877; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67a Rz. 3. 63) K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 148.

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Abs. 1, 2 betroffene Gesellschaft Aktien verwahren muss. Intermediär in der Kette ist daher vor allem nicht derjenige, der zwar den Intermediärsbegriff des § 67a Abs. 4 erfüllt, jedoch über die Kette keine Verwahrtätigkeiten für den Aktionär der (nicht: einer) Gesellschaft erbringt.64) Zudem bezieht sich die Begriffsbestimmung des § 67a Abs. 5 Satz 1 nur auf die Verwahrung von Aktien für einen anderen Intermediär und –

nicht auf andere Intermediärsdienstleistungen und



nicht auf die Verwahrtätigkeit für den tatsächlichen Aktionär, da letzterer vielmehr der Letzintermediär gemäß § 67a Abs. 5 Satz 2 ist.

3.

Letztintermediär

33 Der Begriff des Letzintermediärs wird in § 67a Abs. 5 Satz 2 definiert. Letztintermediär ist danach, „wer als Intermediär für einen Aktionär Aktien einer Gesellschaft verwahrt“. Die Begriffsbestimmung war im RefE zum ARUG II noch nicht enthalten und wurde erst i. R. des RegE hinzugefügt. 34 Wie auch bei der Definition des Intermediärs in der Kette wird dabei lediglich auf die Verwahrtätigkeit des Intermediärs abgestellt und nicht, wie nach § 67a Abs. 4, auf andere Dienstleistungen im Zusammenhang mit Aktien.65) Voraussetzung des Letzintermediärsbegriffs ist gleichwohl, dass es sich um einen Intermediär i. S. des Absatz 4 handelt.66) Im Zusammenhang mit einer Intermediärskette bedeutet dies, dass zwar jeder Letztintermediär in einer Kette ein Intermediär i. S. des Absatzes 4 zu sein hat, jedoch ein Intermediär i. S. des Absatzes 4 auch als letztes Kettenmitglied kein Letztintermediär ist, wenn er keiner Verwahrtätigkeit nachgeht (z. B. das bloße Bereitstellen eines Depotkontos).67) 35 Ferner muss der Letztintermediär wie auch der Intermediär in der Kette (siehe Rz. 30 ff.) die Aktien in Bezug auf eine konkrete Gesellschaft verwahren.68) Weiterhin kann auch derjenige Letztintermediär sein, der Aktien für einen anderen Intermediär hält, der als solcher die Aktien nicht selbst als Intermediär, sondern als materiell berechtigter Aktionär hält.69) 4.

Unternehmensereignis

36 Weiterhin wird der Begriff des Unternehmensereignisses definiert. Die entsprechende Begriffsbestimmung wird dabei vor allem für die Übermittlungspflicht der Gesellschaft nach § 67a Abs. 1 benötigt. Gemäß § 67a Abs. 6 sind Unternehmensereignisse „Ereignisse gemäß Artikel 1 Nummer 3 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212“. Ohne eine eigene Definition niederzulegen, bedient sich der deutsche Gesetzgeber daher eines schlichten Verweises auf die einschlägige europäische Durchführungsverordnung.70) Gemäß Art. 1 Nr. 3 der DVO (EU) 2018/1212 ist ein Unternehmensereignis „eine vom Emittenten oder einem Dritten initiierte Maßnahme, die die Ausübung der mit den Aktien verbundenen Rechte beinhaltet und die zugrunde liegende Aktie beeinflussen kann, z. B. die Gewinnausschüttung _____________ 64) K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 149. 65) Problematisierend auch Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 51. 66) K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 151; a. A. Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 35. 67) Vgl. auch Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 51. 68) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 35; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 151. 69) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 35; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 152. 70) Vgl. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 63; Bungert in: MünchHdb. GesR, § 36 Rz. 96; kritisch dazu Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67a Rz. 42.

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oder eine Hauptversammlung“. Dabei ist auch die Einberufung der Hauptversammlung (ordentlich oder außerordentlich) als Unternehmensereignis einzustufen. Der deutsche Gesetzgeber entschied sich jedoch für eine spezielle Erfassung über § 67a Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 125. Die entsprechende Verortung ist jedoch vielmehr systematischer als materieller Natur, sodass diese auch verordnungskonform ist. Die materiellen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Unternehmensereignisses nach 37 Art. 1 Nr. 3 der DVO (EU) 2018/1212 –

Ausübung der mit den Aktien verbundenen Rechte;



Beeinflussung der zugrunde liegenden Aktie

müssen kumulativ vorliegen.71) Es reicht daher nicht aus, wenn eine Maßnahme bzw. ein Ereignis lediglich die Aktien allgemein bzw. die Aktien eines Aktionärs beeinflussen könnte ohne jedoch einen tatsächlichen Bezug zur Ausübung der mit den Aktien verbundenen Rechte zu haben.72) Keine Unternehmensereignisse i. S. des Abs. 6 i. V. m. Art. 1 Nr. 3 der DVO (EU) 2018/1212 sind daher insbesondere kapitalmarktbezogene Unternehmensnachrichten, Gewährung von Options- und Wandelanleihen sowie Genussscheine73) oder Aspekte der Hauptversammlungsleitung, des hauptversammlungsbezogenen Rede- und Fragerechts sowie Anfechtungs- und Schadensersatzklagen eines Aktionärs.74) Unternehmensereignisse i. S. des § 67a Abs. 6 i. V. m. Art. 1 Nr. 3 der DVO (EU) 2018/ 38 1212 stellen jedoch grundsätzlich dar: Gewinnausschüttungen, Umtausch-, Bezugs-, Einziehungs- und Zeichnungsrechte sowie Wahlrechte bei Dividenden.75) Auch eine Änderung der Wertpapierkennnummer oder der ISIN der Gesellschaft stellt ein Unternehmensereignis dar.76) Auch Übernahmeangebote oder ein Squeeze-out kann die Ausübung der mit den Aktien verbundenen Rechte tangieren und die zugrunde liegende Aktie beeinflussen und stellt daher grundsätzlich ein Unternehmensereignis dar.77) Allgemein nicht erforderlich für das Vorliegen eines Unternehmensereignisses ist ferner, dass die Maßnahme bzw. die Information zwingend hauptversammlungsbezogen sein muss.78) Hinsichtlich Konzernsachverhalten ist bislang noch offen, ob diese ebenfalls ein Unter- 39 nehmensereignis i. S. des § 67a Abs. 6 darstellen können.79) Generell hat im Zweifel eine diesbezügliche Letztentscheidung aber auf europäischer Ebene zu fallen. Allgemein wird man jedoch zunächst konstatieren können, dass sich das Unternehmensereignis nur auf die konkret von § 67a Abs. 1 verpflichtete Gesellschaft bezieht. Dass die Maßnahmen, Ereignisse oder Informationen dabei jedoch nicht zwingend von der Gesellschaft selbst auszugehen haben, ergibt sich schon aus dem Wortlaut der Definition („oder einem Dritte _____________ 71) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 36; Reichert-Reichert/Balke, ArbHdb. HV, § 5 Rz. 13; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 159. 72) A. A. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 14 – insofern für eine richtlinienkonforme Auslegung des Art. 1 Nr. 3 der DVO (EU) 2018/1212; Cichy/Krawinkel, DB 2020, 602, 606. Über eine entsprechende richtlinienkonforme Auslegung könnten jedoch nicht deutsche Gerichte, sondern vielmehr allein der EuGH entscheiden. 73) Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67a Rz. 58. 74) Kuntz, AG 2020, 18, 21 f.; Redenius-Hövermann/Henkel, AG 2020, 349, 363; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 159. 75) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 63. 76) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 63; für das Klagezulassungsverfahren nach § 148 auch Redenius-Hövermann/Henkel, AG 2020, 349, 363. 77) Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67a Rz. 58. 78) K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 158; a. A. Kuntz, AG 2020, 18, 22. 79) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 37; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67a Rz. 43.

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initiierte Maßnahme“). Maßnahmen, Ereignisse oder Informationen auf Ebene eines Konzernunternehmens (z. B. einer Tochtergesellschaft) können daher allenfalls dann als Unternehmensereignis i. S. des § 67a Abs. 6 i. V. m. Art. 1 Nr. 3 der DVO (EU) 2018/1212 zu charakterisieren sein, wenn diese die Ausübung der mit den Aktien der Gesellschaft verbundenen Rechte beinhaltet und die zugrunde liegende Aktie des Aktionärs der Gesellschaft beeinflussen kann.80) Tatsächlich wird es dabei jedoch regelmäßig vor allem nicht der Fall sein, dass Maßnahmen, Ereignisse oder Informationen auf Ebene eines Konzernunternehmens konkret die Ausübung der mit den Aktien verbundenen Rechte beinhaltet bzw. diese Rechte (nicht: die Werthaltigkeit der Aktie als solches) beeinflusst. Die praktische Relevanz für Konzernsachverhalte dürfte daher eher gering sein. 40 Welche Informationen über ein Unternehmensereignis im Einzelnen von der Gesellschaft bzw. einem Intermediär (in der Kette) zu übermitteln sind, bestimmt Art. 8 i. V. m. Tabelle 8 des Anhangs der DVO (EU) 2018/1212. 5.

Aktionär

41 Adressat der Informationen über Unternehmensereignisse gemäß § 67a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 6 sind die Aktionäre der Gesellschaft. Anders als bspw. der Intermediärsbegriff wird der Begriff des Aktionärs in § 67a jedoch nicht legaldefiniert. Auch die zugrunde liegende ARRL bestimmt materiell nicht, was unter einem Aktionär zu verstehen sein soll und überlässt die Begriffsbestimmung vielmehr dem nationalen Recht.81) 42 Wie aus der Regierungsbegründung zum ARUG II ersichtlich wird, bestimmt das deutsche Recht i. R. der §§ 67a ff. den Aktionär als den „wahren“82) bzw. „wirklichen“83) Anteilsinhaber.84) Für die Zwecke der §§ 67a ff. ist daher auf die dingliche Rechtsinhaberschaft85) abzustellen.86) Auch ein Intermediär kann daher grundsätzlich ein so verstandener Aktionär sein.87) Insbesondere nicht maßgebend für die Bestimmung der Aktionärseigenschaft ist hingegen die Eintragung eines Namensaktionärs im Aktienregister gemäß § 67,88) etwaige Treuhandschaften des Anteilsinhabers89) oder wer wirtschaftlich Berechtigter i. S. z. B. des Geldwäschegesetzes90) ist. Auch ein speziell intermediärsbezogener Aktionärsbegriff ist im Ergebnis abzulehnen.91) _____________ 80) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 12. 81) Lutter/Bayer/J. Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, Rz. 29.13; Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 21. 82) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 60. 83) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 58; a. A. Noack/Zetzsche in: FS Hopt, S. 863, 864. 84) Vgl. auch Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 38; Cahn in: BeckOGKAktR, § 67a AktG Rz. 10; Kuntz, AG 2020, 18, 21. 85) Und damit grundsätzlich auf Depotbücher des Letztintermediärs, vgl. Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67a Rz. 20. 86) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 38; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 155; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67a Rz. 20. 87) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 11; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 132. 88) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 38; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 10; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67a Rz. 20. 89) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 10; Zetzsche, AG 2020, 1, 2. 90) Hopt/Leyens in: Hopt/Binder/Böcking, Hdb. Corporate Governance, § 1 Rz. 49. 91) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 38; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 154 f.; a. A. Eggers/de Raet, AG 2017, 464, 471; Foerster, AG 2019, 17, 22; Noack, NZG 2017, 561, 567; Noack/Zetzsche in: FS Hopt, S. 863, 878; Zetzsche, ZGR 2019, 1, 6; Zetzsche, AG 2020, 1, 3.

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Übermittlung von Informationen über Unternehmensereignisse IV.

Übermittlungspflicht der Gesellschaft (§ 67a Abs. 1)

1.

Pflicht zur Informationsübermittlung

§ 67a

Nach § 67a Abs. 1 Satz 1 haben börsennotierte Gesellschaften (zum sachlichen Anwen- 43 dungsbereich siehe Rz. 16) Informationen über Unternehmensereignisse (zum Begriff siehe Rz. 36 ff.), die den Aktionären nicht direkt oder von anderer Seite mitgeteilt werden, zur Weiterleitung an die Aktionäre zu übermitteln. Die Übermittlung hat dabei im Falle von Namensaktien an die im Aktienregister Eingetragenen (§ 67a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1) oder in Bezug auf Inhaberaktionäre an die Intermediäre, die Aktien der Gesellschaft verwahren (§ 67a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2)92) zu erfolgen. Aufgrund der Verpflichtung der Gesellschaft durch § 67a Abs. 1 Satz 1 wird damit faktisch auch der Vorstand der Gesellschaft als handelndes Organ verpflichtet.93) Die ordnungsgemäße Informationsübermittlung ist insofern Bestandteil des Pflichtenmaßstabs des § 93. Neben der Pflicht zur Informationsübermittlung durch die Gesellschaft wird in § 67a Abs. 1 44 Satz 1 auch bereits die Verpflichtung sowohl der im Aktienregister Eingetragenen als auch des jeweiligen (Erst-)Intermediärs zur Weiterleitung der von der Gesellschaft an sie übermittelten Informationen über Unternehmensereignisse an die Aktionäre statuiert. Andernfalls würde die bloße Übermittlungspflicht der Gesellschaft ins Leere laufen und damit ihren Zweck (siehe dazu Rz. 10) verfehlen. So ist bspw. auch der im Aktienregister eingetragene Nominee durch die Norm des § 67a Abs. 1 unmittelbar angesprochen, die entsprechenden Informationen nach den Vorgaben des § 67a Abs. 2 Satz 3 i. V. m. der DVO (EU) 2018/1212 weiterzuleiten.94) Bei Nicht-Beachtung dieser Verpflichtung wird allerdings zumindest expressis verbis kein Ordnungswidrigkeitentatbestand ausgelöst (siehe auch Rz. 86 f.) und auch ein Schadensersatz unmittelbar aus der Norm heraus ist wohl nicht möglich. In Betracht kommt daher allenfalls ein vertraglicher Schadensersatz, der jedoch im vertraglichen Verhältnis zwischen Aktionär und Nominee angelegt zu sein hat. 2.

Keine direkte oder indirekte Mitteilung

Gemäß § 67a Abs. 1 Satz 1 besteht die Verpflichtung zur Informationsübermittlung über 45 Unternehmensereignisse durch die Gesellschaft nicht, wenn die Informationen dem Aktionär „direkt oder von anderer Seite mitgeteilt werden“. Eine entsprechend direkte Mitteilung stellt dabei die unmittelbare Kommunikation der Gesellschaft mit ihrem (wahren) Aktionär dar. Nicht befreiend ist damit insbesondere der sonstige (faktische) Informationserhalt über Unternehmensereignisse i. S. des § 67a Abs. 6 durch den Aktionär. Dies betrifft z. B. auch eine (ggf. informelle) Informationserlangung durch einen anderen Aktionär oder durch ein Aufsichtsratsmitglied.95) Voraussetzung ist vielmehr, dass die Informationen direkt von der Gesellschaft oder einem von ihr beauftragten Dritten kommt. Obgleich so nicht explizit im Wortlaut des § 67a Abs. 1 Satz 1 wiederzufinden, wird die 46 Gesellschaft unter Berücksichtigung der zugrunde liegenden europäischen Wertungen des Art. 3 Abs. 3 ARUG II auch dann von der Verpflichtung zur Informationsübermittlung nach § 67a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 oder Nr. 2 befreit, wenn die Informationen direkt oder von anderer Seite eines vom Aktionär beauftragen Dritten mitgeteilt werden.96) Praktische _____________ 92) Zu den unterschiedlichen Fassung im Gesetzgebungsprozess s. ferner Bayer/Illhardt in: MünchKommAktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 41; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 19. 93) Reichert-Reichert/Balke, ArbHdb. HV, § 5 Rz. 13. 94) Vgl. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67a Rz. 3. 95) Vgl. dazu Hopt, ZGR 2019, 507, 525; Hopt/Leyens in: Hopt/Binder/Böcking, Hdb. Corporate Governance, § 1 Rz. 86; Schick, WPg 2018, 1379; Schilha/Theusinger, NZG 2019, 521; s. a. A. 3 DCGK. 96) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 46; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 18.

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§ 67a

Übermittlung von Informationen über Unternehmensereignisse

Voraussetzung hierfür ist freilich, dass sowohl ein tatsächliches Auftragsverhältnis zwischen dem Aktionär und dem Dritten besteht als auch, dass die Gesellschaft hiervon gesicherte Kenntnis hat. Beauftragter Dritte kann dabei allerdings nicht gleichzeitig der für den jeweiligen Aktionär verwahrende Intermediär sein, da andernfalls eine unzulässige Umgehung insbesondere der formalen Anforderungen des § 67a Abs. 2 eintreten würde.97) 47 Unter einer indirekten Informationsmitteilung der Gesellschaft an die Aktionäre, d. h. „von anderer Seite“, ist nach der Regierungsbegründung insbesondere die Einschaltung eines von der Gesellschaft „beauftragten Dritten“ (z. B. eine Abwicklungsstelle) zu verstehen.98) Voraussetzung dafür ist wiederum, dass sowohl ein tatsächliches Auftragsverhältnis zwischen der Gesellschaft und dem Dritten besteht,99) als auch, dass der die Informationen erhaltende Aktionär erkennen kann, dass der Dritte im Auftrag der Gesellschaft handelt.100) Mitteilungen durch Dritte, die nicht im Auftrag der Gesellschaft tätig werden, reichen hingegen nicht aus, um eine Übermittlung durch die Gesellschaft entbehrlich zu machen.101) Andernfalls könnte keine Gleichwertigkeit der Informationsquelle gewährleistet werden und es bestünde die Gefahr des nicht-vollständigen (mangelhaften) Informationserhalts durch den Aktionär. 3.

Adressat der Informationsübermittlung

48 Im Hinblick auf die Adressaten, die die Informationen über Unternehmensereignisse von der Gesellschaft erhalten sollen, unterscheidet § 67a Abs. 1 Satz 1 zwischen den im Aktienregister Eingetragenen bei Namensaktien i. S. des § 67 (siehe Rz. 49) und Intermediären, die die Aktien der Gesellschaft für einen Aktionär verwahren (siehe Rz. 50 f.). a)

Namensaktionäre

49 Hat die Gesellschaft Namensaktien i. S. des § 10 Abs. 1 Satz 1 ausgegeben, hat die Informationsübermittlung an die im Aktienregister als (natürliche oder juristische) Personen oder Personenvereinigungen Eingetragenen zu erfolgen (§ 67a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1). Dabei wird aus dem Wortlaut ersichtlich, dass die im Aktienregister gemäß § 67 eingetragene Person nicht zwangsläufig der in der Norm so verstandene Aktionär der Gesellschaft sein muss.102) Der in Bezug genommene wahre Aktionär muss daher nicht im Aktienregister eingetragen sein.103) Andernfalls wäre auch die Regelung des § 67a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 partiell obsolet, da eine Pflicht zur Weiterleitung an den Aktionär ins Leere laufen würde, wenn es sich dabei bereits notwendigerweise um den im Aktienregister Eingetragenen handelt. b)

Inhaberaktionäre

50 Nach § 67a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 hat die Informationsübermittlung durch die Gesellschaft „im Übrigen an die Intermediäre, die Aktien der Gesellschaft verwahren“, zu erfolgen.

_____________ 97) In diesem Sinne wohl auch K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 91. 98) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 60; zur Vereinbarkeit mit der zugrunde liegenden Richtlinienbestimmung auch Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 16. 99) K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 88. 100) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 16. 101) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 16. 102) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 42; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 9; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67a Rz. 3. 103) Vgl. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 60.

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Übermittlung von Informationen über Unternehmensereignisse

§ 67a

Dies ist der Fall bei Aktionären, die Inhaberaktien i. S. des § 10 Abs. 1 Satz 2 halten.104) Die Informationsübermittlung hat dabei von der Gesellschaft jedoch nicht an alle beteiligten verwahrenden Intermediäre einer potenziellen Intermediärskette zu erfolgen (was faktisch auch kaum möglich wäre), sondern nur an den Erstintermediär (zum Begriff siehe auch Rz. 22 ff.) in der Kette.105) Bei sammelverbrieften Aktien ist der entsprechende Erstintermediär nach § 48 Abs. 2 Nr. 7 lit. a BörsZulV der Zentralverwahrer, in Deutschland also regelmäßig die Clearstream Banking AG.106) Die Informationsübermittlung an den verwahrenden Erstintermediär ist im Verhältnis zur 51 Informationsübermittlung nach § 67a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 an die im Aktienregister Eingetragenen nachrangig. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des § 67a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, der in seiner verabschiedeten Fassung eindeutig ein entsprechendes Rangverhältnis statuiert („im Übrigen“). Gleichwohl ist es zumindest nicht schädlich, wenn die Gesellschaft auch im Falle eines Namensaktionärs einem etwaigen Intermediär die Unternehmensinformationen übermittelt.107) Eine Informationsübermittlung an die im Aktienregister Eingetragenen wird dadurch jedoch nicht ersetzt bzw. obsolet. 4.

Einberufung der Hauptversammlung

Gemäß § 67a Abs. 1 Satz 2 gilt in Bezug auf Informationen zur Einberufung der Haupt- 52 versammlung der Gesellschaft nicht die Übermittlungspflicht der Gesellschaft nach Satz 1 und der damit zusammenhängenden Weiterleitungspflicht der im Aktienregister Eingetragenen bzw. Intermediäre, sondern die Vorgaben des § 125. In Bezug auf Aspekte der Einberufung der Hauptversammlung sind die einschlägigen Regelungen des § 125 daher lex specialis.108) § 125 wurde dabei ebenfalls im Zuge des ARUG II angepasst bzw. aktualisiert. Die grundlegend reformierte Regelung des § 125 Abs. 5 verweist dabei ihrerseits wiederum sowohl auf die Bestimmungen der DVO (EU) 2018/1212 als auch auf § 67a Abs. 2 Satz 1. Zudem werden in § 125 Abs. 5 Satz 3 für Intermediäre die annähernd gleichen Verpflichtungen aufgestellt, wie nach der maßgebenden Norm des § 67a Abs. 3.109) V.

Art und Weise der Informationsübermittlung (§ 67a Abs. 1, 2)

1.

Informationsübermittlung durch die Gesellschaft

§ 67a Abs. 1 Satz 1 statuiert die Pflicht der Gesellschaft zur Übermittlung von Informati- 53 onen über Unternehmensereignisse (siehe bereits Rz. 43 ff.). Der Gesetzgeber sieht dabei die direkte Informationsübermittlung durch die Gesellschaft als den Normalfall an. Rechtliche Unterschiede, ob die Informationsübermittlung durch die Gesellschaft selbst oder einen beauftragten Dritten (siehe dazu Rz. 54 ff.) erfolgt, bestehen allerdings grundsätzlich nicht. Maßgebend ist im Hinblick auf den Zweck der Vorschrift allein, dass der Aktionär am Ende ungehindert die entsprechenden Informationen über Unternehmensereignisse erhält. _____________ 104) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 44; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 20; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67a Rz. 3. 105) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 44; vgl. auch K. Schmidt/ Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 66. 106) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 20; vgl. auch Kessler, GWR 2021, 75. 107) In diesem Sinne Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 43. 108) Bork, NZG 2019, 738, 741; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 21; Reichert-Reichert/Balke, ArbHdb. HV, § 5 Rz. 13. 109) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 45; ausführlich zur zeitlichen Dimension der Übermittlungspflicht nach § 125 Abs. 3 auch K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 80 ff.; vgl. auch Hoppe. NZG 2022, 110, 111.

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§ 67a 2.

Übermittlung von Informationen über Unternehmensereignisse Informationsübermittlung durch beauftragte Dritte

54 Gemäß § 67a Abs. 2 Satz 1 können die Informationen über Unternehmensereignisse gemäß Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 6 auch „durch beauftragte Dritte übermittelt werden“. Die Übermittlung würde dabei insbesondere auf Basis der sich bereits eingebürgerten Market Standards for Corporate Actions Processings erfolgen,110) obgleich dies kein zwingendes Muss ist. In der Praxis wird die entsprechende Beauftragung eines Dritten (z. B. entsprechende Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute) durch die Gesellschaft wohl der Regelfall sein, da der organisatorische Aufwand zur Informationsübermittlung jedes im Aktienregister Eingetragenen und/oder Intermediärs vor allem bei Börsengesellschaften mit einem sehr großen Anlegerkreis durchaus hoch ist bzw. sein kann. Auch Intermediäre selbst könnten dabei grundsätzlich als entsprechend beauftragte Dienstleister fungieren.111) Zu beachten ist dabei allerdings, dass dadurch nicht einzelne Intermediäre in einer Intermediärskette übersprungen werden.112) Zudem ist der Einsatz von Medien oder Mediendienstleistern, etwa des Bundesanzeigers oder des WM-Service, als insofern Beauftragter möglich.113) 55 Die Beauftragung durch Dritte gemäß § 67a Abs. 2 Satz 1 bezieht sich auf alle Arten der Informationsübermittlung, d. h. sie erfasst auch die Weiterleitung zwischen Intermediären im Fall von Intermediärsketten gemäß § 67a Abs. 3 und beschränkt sich insofern nicht auf die Informationsübermittlung durch die Gesellschaft als Ausgangspunkt der Informationsübermittlung. Auch eine Beauftragung durch einen Intermediär (in der Kette) ist daher zulässig und möglich.114) 56 Rechtliche Grundlage der Beauftragung eines Dritten durch die Gesellschaft im Hinblick auf die Informationsübermittlung wird dabei – zumindest aus deutscher Sicht – ein zugrunde liegendes Auftragsverhältnis zwischen beiden Parteien sein. Dieses bestimmt sodann die entsprechenden Pflichten des Beauftragten und etwaige Folgen der Nichtbeachtung. Eine Informationsübermittlung durch Dritte, die nicht im Auftrag der Gesellschaft tätig werden, reicht hingegen grundsätzlich nicht aus, um der Alternative des § 67a Abs. 2 Satz 1 Genüge zu tun. § 67a Abs. 2 Satz 1 spricht insofern ausdrücklich von einer zugrunde liegenden Beauftragung. 57 Anders als bei der Ausnahmebestimmung in § 67a Abs. 1 Satz 1, wonach keine Übermittlungspflicht der Gesellschaft besteht, wenn die Aktionäre die erforderlichen Informationen bereits von einer anderen Seite mitgeteilt bekommen haben (siehe dazu Rz. 47), bezieht sich die Beauftragung eines Dritten nach § 67a Abs. 2 Satz 1 auf die Übermittlungspflicht der Gesellschaft an die im Aktienregister Eingetragenen bzw. Intermediäre als solches und ist damit nachgelagert zur Überprüfung, ob diese nicht aufgrund einer vorherigen (gleichwertigen) Mitteilung an die Aktionäre entbehrlich ist. Zugegeben wäre eine diesbezüglich etwas trennschärfere Unterscheidung des Gesetzgebers wünschenswert gewesen. _____________ 110) Vgl. Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 47; Cahn in: BeckOGKAktR, § 67a AktG Rz. 22; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 91. 111) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 47; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67a Rz. 27; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 67. 112) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 23. 113) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 61; Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 47; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 22; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67a Rz. 5; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67a Rz. 27; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 93; Stiegler, WM 2019, 620, 625; a. A. Kuntz, AG 2020, 18, 30. 114) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 22; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67a Rz. 5.

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Übermittlung von Informationen über Unternehmensereignisse 3.

§ 67a

Beschränkung der Informationsübermittlung

Nach § 67a Abs. 2 Satz 4 kann die Übermittlung der Informationen gemäß den Anforde- 58 rungen nach Art. 8 Abs. 4 i. V. m. Tabelle 8 der DVO (EU) 2018/1212 beschränkt werden. Tabelle 8 des Anhangs zur DVO (EU) 2018/1212 enthält die Mindestinformationen und -datenelemente, die in Bezug auf Unternehmensereignisse bereitzustellen und zu übermitteln sind, sofern sie für die entsprechende Kapitalmaßnahme relevant sind. Die entsprechende Tabelle 8 sagt dabei zunächst aus, dass, wenn die Gesellschaft ihre Aktionäre auf ihrer Website über Unternehmensereignisse informiert, so muss die Übermittlung der Informationen der Unternehmensereignisse nach § 67a Abs. 1, 2 nur den sog. Block A (siehe dazu sogleich bei Rz. 60 f.) sowie den URL-Hyperlink zu der Website enthalten, auf der die Information zu finden ist. Diese Beschränkungsmöglichkeit des § 67a Abs. 2 Satz 4 steht nur der Gesellschaft und 59 dem Letztintermediär zu, nicht hingegen den Intermediären in der Kette, denn § 67a Abs. 3 Satz 3 verweist nur auf Absatz 2 Satz 1, nicht hingegen auf Absatz 2 Satz 4.115) Die Gesellschaft muss dabei alle erforderlichen Angaben zur Verfügung stellen.116) Die 60 entsprechenden „Block A“-Informationen sind dabei die Angaben über das konkrete Unternehmensereignis, wie –

die eindeutige Kennung des Unternehmensereignisses,



die Art des Unternehmensereignisses,



die ISIN der zugrunde liegenden Aktie bzw. des Intermediärsscheins und



den URL-Hyperlink zu der Website, auf der Aktionäre Zugang zu den vollständigen Informationen zum Unternehmensereignis haben.

Im Falle, dass die Informationen über Unternehmensereignisse bereits über die Website 61 der Gesellschaft verfügbar sind, bedarf es i. S. der Beschränkung des § 67a Abs. 2 Satz 4 keiner – weiteren – Informationen u. a. über den letzten Teilnahmetag, das Ausgabedatum der Information, verschiedene Emittenten- sowie Kaufschutzfristen und über alternative Optionen für die Aktionäre. VI.

Form, Inhalt und Frist der Informationsübermittlung (§ 67a Abs. 2 Satz 2, 3)

1.

Elektronische Übermittlung

Nach § 67a Abs. 2 Satz 2, 3 hat die Gesellschaft die Informationen über Unternehmens- 62 ereignisse den Intermediären elektronisch zu übermitteln, wobei sich Format, Inhalt und Frist der Informationsübermittlung nach der DVO (EU) 2018/1212 richten. Die einschlägigen Normen der DVO (EU) 2018/1212 sind dabei Art. 2 Abs. 2, 3. Danach haben die von der Gesellschaft an die Intermediäre zu übermittelten Informationen, die über die Intermediärskette an die Aktionäre zu übermitteln sind, ein Format, das eine Verarbeitung gemäß Art. 2 Abs. 3 DVO (EU) 2018/1212 ermöglicht, darzustellen. Nach Art. 2 Abs. 3 DVO (EU) 2018/1212 erfolgen die Übermittlungen zwischen den Intermediären in elektronischen und maschinenlesbaren Formaten, die die Interoperabilität und vollautomatisierte Abwicklung ermöglichen und international geltenden Industriestandards wie ISO oder mit ISO-kompatiblen Methoden entsprechen. § 67a Abs. 2 Satz 2 ist zwar aufgrund mangelnden Verweises in § 125 Abs. 2 Satz 2 nicht 63 explizit auf Informationen betreffend die Einladung zur Hauptversammlung der Ge_____________ 115) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 54; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 32; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 106. 116) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 54; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 31; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67a Rz. 30.

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§ 67a

Übermittlung von Informationen über Unternehmensereignisse

sellschaft anwendbar, jedoch gebietet die insofern vorrangige DVO (EU) 2018/1212 Entsprechendes.117) 64 Anders als aus deutscher Perspektive zunächst vermuten lässt, ist mit einem „elektronischen und maschinenlesbaren Format“ allerdings nicht die elektronische Form i. S. des § 126a BGB gemeint.118) Vielmehr ist eine Übermittlung gemäß dem bereits bekannten Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication-System (SWIFT) beabsichtigt.119) 65 Für die Übermittlung von Informationen an den Aktionär bestehen, basierend auf Art. 17 Abs. 3 der Transparenzrichtlinie120),121) mit § 49 Abs. 3 Nr. 1 WpHG122) zudem besondere kapitalmarktrechtliche Voraussetzungen für die Form der Informationsübermittlung.123) Praktisch muss im Ergebnis daher bei der Informationsübermittlung an im Aktienregister eingetragenen Intermediäre einerseits und die im Aktienregister eingetragenen Aktionäre andererseits differenziert werden.124) An die „wahren“ Aktionäre darf die Gesellschaft Informationen nur unter Einhaltung der Voraussetzungen des § 49 Abs. 3 Nr. 1 WpHG in elektronischer Form übermitteln, wohingegen für die im Aktienregister eingetragenen Intermediäre die elektronische Form i. S. des § 67a Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Art. 2 Abs. 2, 3 der DVO (EU) 2018/1212 vorgeschrieben und einzuhalten ist.125) 2.

Sprache der Informationsübermittlung

66 Das Format der Informationsübermittlung bestimmt sich ebenfalls nach den Bestimmungen der DVO (EU) 2018/1212, wozu auch die Sprache zählt, in der die Informationen zu übermitteln sind. Hierzu statuiert Art. 2 Unterabs. 2 der DVO (EU) 2018/1212, dass die Gesellschaft die Informationen in der Sprache zur Verfügung zu stellen hat, in der sie ihre Finanzinformationen gemäß der Transparenzrichtlinie veröffentlicht, sowie in einer in internationalen Finanzkreisen gebräuchlichen Sprache, es sei denn, dies ist aufgrund der Aktionärsstruktur der Gesellschaft nicht gerechtfertigt (i. S. von erforderlich). _____________ 117) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 24; wohl auch Seibt/Danwerth, AG 2021, 369, 372; a. A. Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 51; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 76. 118) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 48; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 96. 119) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 48; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67a Rz. 5. 120) Richtlinie 2013/50/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 zur Änderung der Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, der Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist, sowie der Richtlinie 2007/14/EG der Kommission mit Durchführungsbestimmungen zu bestimmten Vorschriften der Richtlinie 2004/109/EG (Transparenzrichtlinie), ABl. (EU) L 294/13 v. 6.11.2013. 121) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 48; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67a Rz. 5. 122) Zur entsprechend richtlinienkonformen Auslegung der Vorgängernorm des § 30b WpHG a. F. s. a. Süßmann, NZG 2015, 467. 123) Vgl. auch Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 105. 124) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 52; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 25; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67a Rz. 28; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 101. 125) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 52; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 25.

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Übermittlung von Informationen über Unternehmensereignisse

§ 67a

Aufgrund des Verweises auf die einschlägigen Bestimmungen der Transparenzrichtlinie 67 ist hinsichtlich der Sprache der Informationsübermittlung grundsätzlich die Landessprache des Mitgliedstaates maßgebend, in dem die Wertpapiere der Gesellschaft zum Handel zugelassen sind.126) Für Gesellschaften mit Sitz in Deutschland ist demnach eine Übermittlung zumindest dann in deutscher Sprache erforderlich, wenn die von ihr ausgegebenen Wertpapiere lediglich zum Handel an einem organisierten Markt in Deutschland zugelassen sind.127) Ansonsten reicht eine Informationsübermittlung in englischer Sprache aus, welche zudem regelmäßig die in internationalen Finanzkreisen gebräuchliche Sprache sein wird.128) Nach den Vorgaben des Art. 2 Unterabs. 2 der DVO (EU) 2018/1212 wäre eine (ggf. 68 zusätzliche) Informationsübermittlung in englischer Sprache dann entbehrlich, wenn dies mit Blick auf den Aktionärskreis der Gesellschaft nicht erforderlich ist.129) Wann eine solche Erforderlichkeitsschwelle jedoch überschritten ist, ist unklar und aus den Materialien zur DVO (EU) 2018/1212 nicht unmittelbar ersichtlich. Im Zweifel sollte sich die Gesellschaft daher nicht auf diesen Ausnahmetatbestand verlassen und vorsorglich die Informationen auch in englischer Sprache übermitteln. Dies gilt auch für die Informationen, auf die die Gesellschaft in zulässiger Weise auf ihrer Website verweist.130) 3.

Inhalt der Informationsübermittlung

Der Inhalt der Informationsübermittlung bestimmt sich nach den einschlägigen Vorgaben 69 der DVO (EU) 2018/1212. Der Mindestinhalt der zu übermittelnden Information ergibt sich dabei aus Art. 8 Abs. 4 i. V. m. Tabelle 8 des Anhangs zur DVO (EU) 2018/1212. Anzugeben sind demnach die eindeutige Bezeichnung und Art des Unternehmensereignisses, die ISIN der zugrunde liegenden Aktie bzw. des Zwischenscheins, sowie ein URLHyperlink zu der Webseite, auf der Aktionäre Zugang zu den vollständigen Informationen zum Unternehmensereignis erhalten. Gegebenenfalls sind zusätzlich weitere Informationen anzugeben, wie sie in Tabelle 8 Block B des Anhangs zur DVO (EU) 2018/1212 genannt sind. Hierauf kann jedoch unter Umständen verzichtet werden (siehe dazu Rz. 58 ff.). Wie Art. 8 Abs. 4 zur DVO (EU) 2018/1212 bestimmt, gelten die Anforderungen an den 70 Inhalt der Informationsmitteilung auch im Falle einer Aktualisierung oder Annullierung einer Mitteilung über Unternehmensereignisse. Gleiches gilt für die Berichtigung bereits ursprünglich fehlerhafter oder unvollständiger Informationen.131) 4.

Frist zur Informationsübermittlung

Auch die Frist hinsichtlich der Informationsübermittlung bestimmt sich gemäß den Vorga- 71 ben der DVO (EU) 2018/1212. Einschlägig ist insofern die Bestimmung des Art. 9 Abs. 1 der DVO (EU) 2018/1212. Danach hat die Gesellschaft die Informationen über das Unternehmensereignis dem ihm bekannten Intermediär rechtzeitig und spätestens am Geschäftstag zur Verfügung zu stellen, an dem er das Unternehmensereignis bekannt gibt. _____________ 126) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 27. 127) Vgl. § 3b Abs. 2 Satz 1 WpAV; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 28. 128) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 53a; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 28; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 56. 129) Kritisch zur entsprechenden Regelung Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 29 f. 130) So auch Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 30; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 56. 131) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 55; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 34.

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§ 67a

Übermittlung von Informationen über Unternehmensereignisse

72 Wie Art. 9 Abs. 7 der DVO (EU) 2018/1212 bestimmt, gelten die Fristanforderungen auch im Falle einer Aktualisierung oder Annullierung einer Mitteilung über Unternehmensereignisse. Gleiches gilt für die Berichtigung bereits ursprünglich fehlerhafter oder unvollständiger Informationen.132) 73 Die Fristenregelung des § 67a Abs. 2 Satz 3 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 der DVO (EU) 2018/1212 gilt nur für die zu übermittelnde Gesellschaft. Für Intermediäre in der Kette besteht mit § 67a Abs. 3 i. V. m. Art. 9 Abs. 2 der DVO (EU) 2018/1212 eine Sonderregel. Für Letztintermediäre gilt § 67b.133) VII. Weiterleitung zwischen Intermediären (§ 67a Abs. 3) 1.

Weiterleitungspflicht

74 Gemäß § 67a Abs. 1 Satz 1 hat ein Intermediär in der Kette (zum Begriff siehe Rz. 30 ff.) die Informationen über Unternehmensereignisse, die er entweder direkt von der Gesellschaft oder einem anderen (vorgelagerten) Intermediär erhält, an den nächsten Intermediär in der Kette weiterzuleiten. Für die betroffenen Intermediäre wird daher eine Pflicht zur Informationsweiterleitung statuiert. Adressat der Weiterleitungspflicht ist der „nächste“ Intermediär der Kette. Die Informationsweiterleitung hat daher, auch wenn die zugrunde liegende europäische Norm des Art. 3b Abs. 5 ARRL II dies nicht explizit vorgibt,134) entlang dieser stattzufinden und es darf grundsätzlich kein Kettenmitglied übersprungen werden.135) Von § 67a Abs. 1 nicht erfasst ist somit der Letztintermediär (zum Begriff siehe Rz. 33 ff.), da dieser die Informationen naturgemäß nicht an einen anderen Intermediär, sondern an den Aktionär weiterleitet.136) Für den Letzintermediär gilt insofern die Regelung des § 67b. 75 Aufgrund dessen, dass § 67a Abs. 3 Satz 1 sich für die Informationsweiterleitungspflicht nur auf Absatz 1 Satz 1 bezieht, besteht intermediärsseitig keine Pflicht zur Weiterleitung bzw. Übermittlung auch von Hauptversammlungseinladungen und anderen Aspekten hinsichtlich der Einberufung der Hauptversammlung.137) Gleichwohl haben die Intermediäre über den Verweis in § 125 Abs. 5 Satz 3 auf § 67a wiederum ebenfalls die Pflicht zur Weiterleitung von Informationen betreffend der Einberufung der Hauptversammlung der Gesellschaft. 76 Die Weiterleitungsverpflichtung eines Intermediärs in der Kette besteht gemäß des Wortlauts des § 67a Abs. 3 Satz 1 grundsätzlich nur dann, wenn er die entsprechenden Informationen „von einem anderen Intermediär oder der Gesellschaft erhält“.138) Im Hinblick auf den Zweck des § 67a Abs. 3, dass auch bei Vorliegen von Intermediärsketten der am Ende stehende Aktionäre vollumfänglich die Informationen über Unternehmensereignisse von der Gesellschaft erhalten können soll, ist die entsprechende Passage der Norm jedoch weit auszulegen. Ein betroffener Intermediär wird also insbesondere auch dann nicht von seiner Weiterleitungspflicht befreit, wenn er die tatsächliche Möglichkeit _____________ 132) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 56; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 35. 133) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 36. 134) Vgl. Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 70. 135) Aufgrund des Mindestcharakters der zugrunde liegenden europäischen Vorschrift ist § 67a Abs. 3 diesbezüglich gleichwohl richtlinienkonform; zweifelnd hingegen Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 38 – „setzt […] nur unzureichend um“. 136) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 58; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 38; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 109. 137) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 58. 138) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 62.

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Übermittlung von Informationen über Unternehmensereignisse

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der Kenntnisnahme der Informationen über ein marktübliches Medium (z. B. WM-Service) besitzt.139) Um die Möglichkeit der (zeitnahen) Informationserlangung durch einen Aktionär umfassend zu gewährleisten, wird man wohl auch bei sonstiger (ggf. zufälliger) Kenntnisnahme des Intermediärs von einer Weiterleitungspflicht ausgehen können.140) Gemäß § 67a Abs. 3 Satz 1 kann die Informationsweiterleitung eines Intermediärs unter- 77 bleiben, wenn diesem bekannt ist, dass der nächste Intermediär in der Kette die Information von anderer Seite erhält. Wird dem Intermediär die Information über das Unternehmensereignis z. B. durch einen Informationsdienstleister wie dem WM-Service übermittelt und hat der Intermediär positive Kenntnis, dass der nächste Intermediär in der Kette dieses Angebot ebenfalls wahrnimmt, kann er davon ausgehen, dass dieser nächste Intermediär die Information auf diesem Wege erhalten hat und auf eine Weiterleitung an diesen nächsten Intermediär kann verzichtet werden.141) Eine Weiterleitung durch den Intermediär kann dabei auch dann unterbleiben, wenn dieser weiß, dass zwar nicht der nächste Intermediär in der Kette, aber der Aktionär selbst die Information direkt von anderer Seite erhält.142) Hierzu zählt auch eine direkte Informationsübermittlung von der Gesellschaft. Diesbezüglich schreibt Art. 3b Abs. 3 ARRL II sogar vor, dass die Mitgliedstaaten in diesem Fall keine Informationsweiterleitungspflicht für die Intermediäre aufstellen dürfen.143) Für die Praxis ist dies gleichwohl mit einer gewissen Unsicherheit behaftet, sodass eine vorsorgliche Weiterleitung der sicherere Weg ist. 2.

Form, Inhalt und Frist der Weiterleitungspflicht

Hinsichtlich der Frist, innerhalb der die Intermediäre in der Kette die ihnen zur Verfü- 78 gung gestellten Informationen über Unternehmensereignisse an das nächste Kettenmitglied weiterzuleiten haben, verweist § 67a Abs. 3 Satz 1 auf Art. 9 Abs. 2 Unterabs. 2 bzw. 3 und Abs. 7 der DVO (EU) 2018/1212. Danach müssen die betroffenen Intermediäre jeweils die erhaltenen Informationen unverzüglich und spätestens bis zum Ende des Geschäftstags, an dem sie die Informationen erhalten haben, an den nächsten Intermediär in der Kette übermitteln. Erhält der Intermediär die Informationen während eines Geschäftstags nach 16:00 Uhr, so muss er sie unverzüglich und spätestens bis 10:00 Uhr am folgenden Geschäftstag übermitteln. Ändert sich nach der ersten Übermittlung die Position in der betreffenden Aktie, so haben der erste Intermediär und alle anderen Intermediäre in der Kette die Informationen bis zum Nachweisstichtag auch an die neuen Aktionäre in ihren Büchern zu übermitteln. Nach Art. 9 Abs. 7 der DVO (EU) 2018/1212 gelten die Fristen nach § 67a Abs. 2 auch für 79 Annullierungen oder Aktualisierungen der Informationen. Entsprechendes gilt für Berichtigungen und Vervollständigungen ursprünglich unzutreffender oder unvollständiger Informationen.144) Hinsichtlich der formellen Anforderungen an die Informationsweiterleitung bestehen 80 grundsätzlich keine Unterschiede zur Informationsübermittlung der Gesellschaft an den

_____________ 139) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 62 f.; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 111. 140) A. A. Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 63; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 111. 141) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 39. 142) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 39, K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 114. 143) Vgl. dazu Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 68. 144) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 43.

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Erstintermediär nach § 67a Abs. 2 Satz 2 (siehe dazu Rz. 62 ff.).145) Es hat daher insbesondere ebenso eine elektronische Übermittlung bzw. Weiterleitung zu erfolgen. 81 Aus inhaltlicher Sicht haben die erhaltenen Informationen ohne (materielle) Abweichungen, Veränderungen oder Auslassungen dem nächsten Intermediär in der Kette weitergeleitet zu werden. 3.

Beauftragung Dritter

82 § 67a Abs. 3 Satz 3 verweist im Hinblick auf eine potenzielle Beauftragung Dritter zur Informationsweitergabe auf § 67a Abs. 2 Satz 1. Es besteht damit auch für Intermediäre die Möglichkeit, ihre Weiterleitungspflicht durch eine Beauftragung Dritter gerecht zu werden (siehe dazu auch Rz. 54 ff.). 4.

Weiterleitungspflicht bei EU-Gesellschaften

83 Nach § 67a Abs. 3 Satz 2 treffen die Intermediäre die gleichen Pflichten, wenn die Informationen über Unternehmensereignisse nicht von einer deutschen Gesellschaft, sondern von einer börsennotierten Gesellschaft mit Sitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat kommen. Damit soll sichergestellt werden, dass das Informationssystem EU-weit funktionsfähig ist.146) Aufgrund der Umsetzungsverpflichtung der zugrunde liegenden EU-Norm haben die anderen EU-Mitgliedstaaten dabei materiell ähnliche Normen in ihren nationalen Gesetzen erlassen.147) 84 § 67a Abs. 3 Satz 2 spricht ausdrücklich nur von EU-ausländischen Gesellschaften.148) Gesellschaften die dem Recht eines EWR-Staates, Drittstaaten oder im Zuge des Brexit dem Vereinigten Königreich angehören, sind hingegen nicht umfasst, sodass in diesem Fall für die Intermediäre keine Weiterleitungspflicht besteht. Dies ist im Hinblick auf die praktische Wirksamkeit der Informationserlangung durch die Aktionäre zwar misslich, jedoch fehlte es dem europäischen Gesetzgeber an einer diesbezüglichen Regelungsermächtigung und auch der deutsche Gesetzgeber fühlte sich nicht berufen hier überschießend tätig zu werden. VIII. Rechtsfolgen bei Verstößen 1.

Beschlussanfechtung

85 Gemäß § 243 Abs. 3 Nr. 2 kann die Anfechtung eines Hauptversammlungsbeschlusses nicht auf die Verletzung einer Pflicht des § 67a gestützt werden. Der RefE zum ARUG II hat einen solchen Ausschluss noch nicht vorgesehen,149) was im Zuge des RegE jedoch revidiert wurde. Obgleich die einschlägige Begründung zum RegE diesbezüglich nur auf eine Verletzung der Weiterleitungspflicht durch die Intermediäre verweist, findet sich eine entsprechende Beschränkung in § 243 Abs. 3 Nr. 2 nicht wieder. Zumindest der insofern eindeutige Wortlaut der Norm spricht daher dafür, dass auch die Verletzung der Übermittlungspflicht der Gesellschaft nach § 67a Abs. 1 Satz 1 nicht zur Anfechtung eines _____________ 145) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 64; Bungert in: MünchHdb. GesR, § 36 Rz. 97; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 119. 146) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 62; Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 68; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 44; Reichert-Schlitt, ArbHdb. HV, § 4 Rz. 293. 147) Diesbezüglich Bedenken äußernd Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67a Rz. 35; K. Schmidt/ Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 146. 148) Entscheidend ist insofern der für das Gesellschaftsstatut maßgebende Sitz der Gesellschaft. 149) Kritisch insofern zum RefE Zetzsche, ZGR 2019, 1, 35.

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Hauptversammlungsbeschlusses berechtigt.150) Vollkommen unkritisch ist dies allerdings nicht zu sehen. 2.

Ordnungswidrigkeit

Ein (intermediärsseitiger) Verstoß gegen § 67a Abs. 3 stellt eine Ordnungswidrigkeit 86 nach dem neuen § 405 Abs. 2a dar. Dieser kann mit einer Geldbuße von bis zu 25.000 € sanktioniert werden. Ein Intermediär handelt dabei ordnungswidrig, wenn er entgegen § 67a Abs. 3 eine dort genannte Information nicht, nicht richtig, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig weiterleitet. Keine Ordnungswidrigkeit stellt es jedoch dar, wenn der Intermediär unrichtige oder unvollständige Informationen so weiterleitet, wie sie ihm übermittelt worden sind.151) Eine fälscherlicherweise vorgenommene Abweichung löst wiederum jedoch den Ordnungswidrigkeitentatbestand aus.152) Die Pflichtverletzung der Gesellschaft zur Informationsübermittlung nach § 67a Abs. 1 87 Satz 1 ist hingegen nicht von § 405 Abs. 2a erfasst.153) Im Hinblick auf die Forderung der zugrunde liegenden Richtlinie nach einer effektiven und spürbaren Sanktionierung im Falle von Verstößen ist dies jedoch durchaus kritisch zu betrachten.154) 3.

Schadensersatz

Verletzt die Gesellschaft ihre Übermittlungspflicht, steht dem betroffenen Aktionär grund- 88 sätzlich ein Schadensersatzanspruch nach § 280 Abs. 1 BGB zu.155) Problematisch ist gleichwohl der Nachweis eines konkret entstandenen Schadens, welchen prozessual der Aktionär nachzuweisen hätte. Ob daneben § 67a Abs. 1 ein ebenfalls zum Schadensersatz führendes Schutzgesetz i. S. des § 823 Abs. 2 BGB darstellt, ist bislang umstritten.156) Die besseren Gründe sprechen wohl dafür. Daneben stellt sich die Frage, ob Aktionäre auch gegen die ihre Pflichten nach § 67a 89 Abs. 2, 3 verletzenden Intermediäre einen Schadensersatzanspruch (aus § 823 Abs. 2 BGB als Schutzgesetz) gelten machen können. Dies wird man wohl ebenfalls zu bejahen haben.157) Weiterhin haftet bei einer (Organisations-)Pflichtverletzung der Vorstand nach § 93 90 Abs. 2.158)

_____________ 150) Vgl. Cahn in: FS Krieger, S. 156, 162; Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67a Rz. 11; a. A. Hirte/HeidelMock, Das neue Aktienrecht, § 67a Rz. 47; wohl auch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67a Rz. 44a. 151) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 72; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 55; Wittig in: MünchKomm-AktG, § 405 Rz. 112. 152) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 72; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 55. 153) Offenbar a. A. Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67b Rz. 48. 154) So auch Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 56; Cahn in: FS Krieger, S. 156, 162; Wentz, WM 2020, 957, 963. 155) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 74; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67a Rz. 11; a. A. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 53. 156) Dafür: Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 74; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67a Rz. 11; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67a Rz. 46; Kuntz, AG 2020, 18, 32; wohl auch Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67a Rz. 11; dagegen: Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 58 ff. 157) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 74; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67a Rz. 11; Wittig in: MünchKomm-AktG, § 405 Rz. 100; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 127; Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67a Rz. 11; a. A. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67a AktG Rz. 64. 158) Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67a Rz. 11.

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§ 67b

Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Aktionäre

§ 67b Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Aktionäre Sascha Stiegler

(1) 1Der Letztintermediär hat dem Aktionär die nach § 67a Absatz 1 Satz 1 erhaltenen Informationen nach Artikel 2 Absatz 1 und 4, Artikel 9 Abs. 2 Unterabsatz 1 sowie Absatz 3 und 4 Unterabsatz 3 sowie Artikel 10 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 zu übermitteln. 2§ 67a Abs. 2 Satz 1 und 4 gilt entsprechend. (2) Absatz 1 gilt auch für Informationen einer börsennotierten Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union. Literatur: Bayer/Schmidt, BB-Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsreport zum Europäischen Unternehmensrecht 2018/19 (Teil II), BB 2019, 2178; Böcking/Bundle, Erhöhte Transparenz für Aktionäre durch den RefE zu ARUG II?, Der Konzern 2018, 496; Bork, Die Regelungen zu „know-your-shareholder“ im Regierungsentwurf des ARUG II, NZG 2019, 738; Claussen, Der Aktionär – das unbekannte Wesen, in: Festschrift für Karsten Schmidt, 2009, S. 217; Decher, Aktionärsinformation, ZGR 2020, 238; Florstedt, Die wesentlichen Änderungen des ARUG II nach den Empfehlungen des Rechtsausschusses, ZIP 2020, 1; Kalss, Aktionärsinformation, ZGR 2020, 217; Koch, Informationsweitergabe und Informationsasymmetrien im Gesellschaftsrecht, ZGR 2020, 183; Kuntz, Digitale Kommunikation mit Aktionären und Investoren, ZHR 183 (2019) 190; Kuntz, Kommunikation mit Aktionären nach ARUG II, AG 2020, 18; Leyens, System der Aktionärsinformation – Auskunft, Sonderprüfung, Sondervertretung, Investorendialog und horizontale Kommunikation, ZGR 2019, 544; Mülbert, Die neue kapitalmarktrechtliche Dimension des AktG aufgrund der Richtlinie(EU) 2017/828 (Aktionärsrechte-Richtlinie II) betreffend Intermediäre, AG 2021, 53; Paschos/Goslar, Der Regierungsentwurf des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II), AG 2019, 365; Paschos/Goslar, Der Referentenentwurf des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) aus Sicht der Praxis, AG 2018, 857; Pospiech/Reichenberger, Aktionärsidentifikation und Interaktion, NJW-Spezial 2020, 655; Rieckers, Umsetzung der geänderten Aktionärsrechterichtlinie, BOARD 2018, 87; Schmidt, J., Die Umsetzung der Aktionärsrechte-Richtlinie 2017: der Referentenentwurf für das ARUG II, NZG 2018, 1201; Seibert, ARUG II – Die Stellungnahmen, in: Festschrift für Eberhard Vetter, 2019, S. 749; Stiegler, Aktionärsidentifizierung nach ARUG II, WM 2019, 620; Teichmann, Die Anwendbarkeit des ARUG II auf die KGaA, in: Festschrift für Gerd Krieger, 2020, S. 993; Wentz, Das Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie – von der Aktionärsrechterichtlinie über den Referentenentwurf zum Regierungsentwurf, WM 2019, 906; Zetzsche, Aktionärsidentifikation, Aktionärslegitimation und das Hauptversammlungsverfahren nach ARUG II, AG 2020, 1; Zetzsche, Know Your Shareholder, der intermediärsgestützte Aktionärsbegriff und das Hauptversammlungsverfahren, ZGR 2019, 1.

Übersicht I. Grundlagen ....................................... 1 1. Europäischer Hintergrund ................ 1 2. Entstehungsgeschichte ...................... 5 3. Regelungsgegenstand und -zweck .... 6 II. Anwendungsbereich ........................ 8 III. Begriff des Letztintermediärs ....... 10 IV. Übermittlungspflicht des Letztintermediärs (§ 67b Abs. 1 Satz 1) .... 11 V. Modalitäten der Informationsübermittlung ................................... 14

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VI. Beauftragung Dritter und Beschränkung der Übermittlungspflicht (§ 67b Abs. 1 Satz 2) ............ 18 1. Beauftragung Dritter ........................ 18 2. Beschränkung der Übermittlungspflicht ................................................ 19 VII. Übermittlungspflicht bei EUGesellschaften (§ 67b Abs. 2) ......... 20 VIII. Rechtsfolgen bei Verstößen ........ 22

Sascha Stiegler

Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Aktionäre I.

Grundlagen

1.

Europäischer Hintergrund

§ 67b

§ 67b wurde durch das ARUG II mit Wirkung vom 1.1.2020 neu ins AktG eingefügt1) und 1 basiert insofern ebenfalls auf den zugrunde liegenden Bestimmungen der Aktionärsrechterichtlinie (ARRL).2) Europäische Zielvorgabe ist daher – wie bei § 67a – eine verbesserte Transparenz bei börsennotierten Gesellschaften innerhalb der EU.3) Wie § 67a basiert § 67b dabei auf der Regelung des Art. 3b der zweiten Aktionärsrechte- 2 richtlinie (ARRL II).4) Zweckrichtung ist dabei ebenfalls, dass die Aktionäre die erforderlichen Informationen über Unternehmensereignisse erhalten, wenn die Gesellschaft nicht direkt mit ihnen kommuniziert (siehe § 67a Rz. 10). § 67b verweist auf einzelne Bestimmungen der von der Europäischen Kommission im 3 September 2018 erlassenen Durchführungsverordnung (EU) 2018/12125) (DVO (EU) 2018/1212). Dies sind als unmittelbar geltendes europäisches Recht folglich umfassend zu beachten. Der europäische Hintergrund des § 67b fordert somit stets eine richtlinienkonforme 4 Auslegung der Norm, d. h. bei Auslegungszweifeln sind die zugrunde liegenden Richtlinienbestimmungen zu beachten und bei der Ermittlung des Auslegungsergebnisses vorrangig zu betrachten. Die entsprechend europarechtskonforme Interpretation umfasst dabei ebenfalls die unmittelbare Geltung der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212. Einzelne Aspekte des § 67b dürfen daher nicht im materiellen Widerspruch zu dieser stehen. 2.

Entstehungsgeschichte

§ 67b wurde im Zuge der Verabschiedung des ARUG II am 12.12.2019 mit Wirkung zum 5 1.1.2020 in das AktG eingefügt (ausführlich zur Entstehungsgeschichte auch § 67a Rz. 6 ff.) Gemäß § 26j Abs. 4 EGAktG sind die Bestimmungen des § 67b ab dem 3.9.2020 anzuwenden. 3.

Regelungsgegenstand und -zweck

Nach § 67b Abs. 1 Satz 1 hat der Letztintermediär (zum Begriff siehe Rz. 10) die seiner- 6 seits erhaltenen Informationen an den Aktionär der Gesellschafter zu übermitteln. Damit wird das letzte Kettenmitglied einer Intermediärskette gesondert in die Pflicht genommen, was auch die separate Stellung des § 67b als eigenständige Norm unterstreicht. Zweck ist damit in erster Linie das tatsächliche Ankommen der Informationen über Unternehmensereignisse von der Gesellschaft beim Aktionär zu kodifizieren und damit sicher-

_____________ 1) 2)

3) 4)

5)

Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2015, 2637. Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften, ABl. (EU) L 184/17 v. 14.7.2007. Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 10. Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre (Zweite Aktionärsrechterichtlinie – ARRL II), ABl. (EU) L 132/1 v. 20.5.2017. Dazu Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67b Rz. 1; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67b AktG Rz. 2. Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 der Kommission v. 3.9.2018 zur Festlegung von Mindestanforderungen zur Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die Identifizierung der Aktionäre, die Informationsübermittlung und die Erleichterung der Ausübung der Aktionärsrechte, ABl. (EU) L 223/1 v. 4.9.2018.

Sascha Stiegler

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§ 67b

Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Aktionäre

zustellen.6) § 67b dient daher der Verwirklichung des materiellen Regelungsgegenstands und -zwecks des § 67a und der zugrunde liegenden europäischen Vorgaben (siehe insofern § 67a Rz. 9 ff.). 7 § 67b steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den Regelungen des § 67a. Zum einen wird in § 67a Abs. 5 Satz 2 der Begriff des Letztintermediärs legaldefiniert (siehe auch Rz. 10, § 67a Rz. 33 ff.), wonach dieser der Intermediär ist, der für einen Aktionär Aktien einer Gesellschaft verwahrt. Zum anderen knüpft die Übermittlungspflicht des Letztintermediärs gemäß § 67b Abs. 1 Satz 1 direkt an die Informationsweiterleitungspflicht eines jeden Intermediärs in der Kette an. Der in § 67b Abs. 1 Satz 1 verpflichtete Letztintermediär ist somit Bestandteil und letztes Glied dieser Kette.7) Insbesondere § 67b und § 67a Abs. 3 – 5 sind daher stets zusammen zu lesen. Zuletzt wird i. R. des § 67b Abs. 1 Satz 2 unmittelbar auf § 67a Abs. 2 Satz 1, 4 verwiesen und für entsprechend anwendbar erklärt. II.

Anwendungsbereich

8 Wie § 67a gilt die Regelung des § 67b nur in Bezug auf Informationen über Unternehmensereignisse von börsennotierten Gesellschaften i. S. des § 3 Abs. 2 (generell zum sachlichen Anwendungsbereich siehe § 67a Rz. 16 ff.; zur Anwendbarkeit in Bezug auf EU-Gesellschaften siehe Rz. 20 f.).8) Über Art. 9 Abs. 1 lit. c Ziff. ii SE-VO gilt § 67b darüber hinaus für börsennotierte europäische Aktiengesellschaften (SE) mit Sitz in Deutschland9) sowie über § 278 Abs. 3 für die börsennotierte KGaA.10) 9 Betreffend des örtlichen sowie des zeitlichen Anwendungsbereichs des § 67b kann auf die Ausführungen zu § 67a verwiesen werden (siehe § 67a Rz. 19 ff.). III.

Begriff des Letztintermediärs

10 Der Begriff des in § 67b Abs. 1 Satz 1 verpflichteten Letztintermediärs ist in § 67a Abs. 5 Satz 2 legaldefiniert. Es kann daher auf die entsprechenden Ausführungen zu § 67a verwiesen werden (siehe § 67a Rz. 33 ff.). Letztintermediär ist danach, „wer als Intermediär für einen Aktionär Aktien einer Gesellschaft verwahrt“. Dabei wird lediglich auf die Verwahrtätigkeit des Letztintermediärs abgestellt und nicht auf andere Dienstleistungen im Zusammenhang mit Aktien. Weiterhin kann auch derjenige Letztintermediär sein, der Aktien für einen anderen Intermediär hält, der als solcher die Aktien nicht selbst als Intermediär, sondern als materiell berechtigter Aktionär hält.11)

_____________ 6) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 63; Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67b Rz. Rz. 1; Bork, NZG 2019, 738, 742; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67b AktG Rz. 2; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67b Rz. 2; Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67b Rz. 1. 7) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67b Rz. 1; Bork, NZG 2019, 738, 742. 8) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67b Rz. 2; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67b AktG Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67b Rz. 1; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67b Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67b Rz. 1. 9) Zu § 67a: Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 17; K. Schmidt/ Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 62; Zetzsche, ZGR 2019, 1, 9. 10) Teichmann in: FS Krieger, S. 993, 996; zu § 67a: Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 17; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 62. 11) Zu § 67a: Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 35; K. Schmidt/ Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 152.

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Sascha Stiegler

Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Aktionäre IV.

§ 67b

Übermittlungspflicht des Letztintermediärs (§ 67b Abs. 1 Satz 1)

Gemäß § 67b Abs. 1 Satz 1 hat der Letztintermediär dem Aktionär die nach § 67a Abs. 1 11 Satz 1 erhaltenen Informationen unter Beachtung der Vorgaben der einschlägigen Normen der DVO (EU) 2018/1212 zu übermitteln. Empfänger der Informationen über Unternehmensereignisse ist dabei der Aktionär der Gesellschaft als materiell Berechtigter.12) Dies gilt dabei grundsätzlich unabhängig davon, ob es sich um einen Namens- oder Inhaberaktionär handelt.13) Bei der Übermittlungsverpflichtung des Letztintermediärs handelt es sich um zwingen- 12 des Recht, welches grundsätzlich nicht zwischen Letztintermediär und Aktionär abbedungen werden kann bzw. einen aktionärsseitigem Verzicht zugänglich ist.14) Neben der aktienrechtlichen Verpflichtung des § 67b Abs. 1 Satz 1 kann jedoch zudem eine individualvertragliche Informationsweiterleitungspflicht z. B. i. R eines Depotvertrags etabliert werden,15) welcher wiederum einem Verzicht durch den Aktionär zugänglich ist. Die Verpflichtung des Letztintermediärs gilt jedoch dann nicht, wenn der Aktionär die 13 entsprechenden Informationen bereits direkt von der Gesellschaft erhalten hat. Aufgrund europäischer Vorgaben darf der deutsche Gesetzgeber in diesem Fall keine Informationsübermittlungspflicht für den Letztintermediär aufstellen.16) V.

Modalitäten der Informationsübermittlung

Der Inhalt der Informationsübermittlung durch den Letztintermediär an den Aktionär 14 ergibt sich, auch wenn dies so explizit in § 67b nicht statuiert ist, aus den Informationen, die der Letztintermediär seinerseits von den davorstehenden Intermediären in der Kette erhalten hat. Sofern der materielle Kerngehalt nicht geändert wird, ist es dem Letztintermediär jedoch möglich, die erhaltenen Informationen für die Übermittlung an den Aktionär sachgerecht aufzubereiten. Hinsichtlich der formalen Anforderungen an die Informationsübermittlung verweist § 67b 15 Abs. 1 Satz 1 insbesondere auf Art. 2 Abs. 4 der DVO (EU) 2018/1212. Danach haben die Intermediäre den Aktionären Zugang zu allen Informationen sowie zu allen Verfahren für Aktionärsmaßnahmen durch allgemein verfügbare Instrumente und Fazilitäten zu gewähren, sofern die Aktionäre nichts anderes vereinbart haben. Anders als bei der Informationsübermittlung der Gesellschaft an Intermediäre nach § 67a Abs. 2 Satz 2 (siehe dazu § 67a Rz. 62 ff.) ist für die Informationsübermittlung des Letztintermediärs an den Aktionär nicht ausdrücklich bestimmt, dass diese in elektronischer Form zu erfolgen hat. Welche Übermittlungsform der Letztintermediär verwendet, um entsprechend mit dem Aktionär zu kommunizieren, lässt die DVO (EU) 2018/1212 und damit auch § 67b vielmehr offen.17) Denkbar sind daher sowohl eine elektronische als auch eine schriftliche Informationsübermittlung.18) In der Praxis wird gleichwohl die elektronische Übermitt_____________ 12) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67b Rz. 5. 13) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67b Rz. 5. 14) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67b Rz. 20; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67b AktG Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67b Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67b Rz. 3. 15) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67b Rz. 18. 16) Vgl. Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 68. 17) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67b Rz. 7; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67b AktG Rz. 4; Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67b Rz. 2; Reichert-Schlitt, ArbHdb. HV, § 4 Rz. 298. 18) Vgl. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 63; vgl. auch Mülbert, AG 2021, 53, 57; Seibert in: FS Vetter, S. 749, 753.

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§ 67b

Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Aktionäre

lung (zukünftig) überwiegen. Dies zum einen aufgrund der einfacheren Möglichkeit der Fristwahrung (siehe dazu sogleich bei Rz. 16) als auch aus Sicht des Aktionärs, da bei einer bloß schriftlichen Übermittlung die dadurch entstandenen Kosten dem Aktionär gemäß § 67f Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 weitergeleitet werden können.19) 16 Hinsichtlich der Frist, innerhalb der die Informationsübermittlung vom Letztintermediär an den Aktionär zu erfolgen hat, verweist § 67b Abs. 1 auf Art. 9 Abs. 2 Unterabs. 1, Abs. 3 der DVO (EU) 2018/1212. Hiernach hat der Letztintermediär dem Aktionär die Informationen über das Unternehmensereignis grundsätzlich unverzüglich und spätestens bis zum Ende des Geschäftstags zu übermitteln, an dem er die Informationen erhalten hat. Soweit der Letztintermediär die Information an einem Geschäftstag erst nach 16:00 Uhr erhält, hat er sie unverzüglich, spätestens jedoch bis 10:00 Uhr des folgenden Geschäftstags an den Aktionär zu übermitteln. Anders als bei der Form der Informationsübermittlung (siehe Rz. 15), sind die Vorgaben zur Frist zwingendes Recht und nicht zwischen Letztintermediär und Aktionär abdingbar.20) Dies erscheint vor allem bei einer schriftlichen Informationsübermittlung problematisch, da es schon in der Natur der Sache liegt, das eine postalische Zustellung mindestens einen Tag dauern wird.21) Da es jedoch insofern für die Rechtzeitigkeit der Übermittlung auf den Zeitpunkt ankommt, in dem der Letztintermediär die Informationen auf den Weg zum Empfänger bringt,22) stellt eine etwaige Verspätung aufgrund Postversands zumindest kein schuldhaftes Zögern i. S. des § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB des Letztintermediärs dar.23) 17 Gemäß Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 3 der DVO (EU) 2018/1212 darf der Letztintermediär keine Frist für die Ausübung von Aktionärsrechten setzen, die weniger als drei Geschäftstage vor der Emittentenfrist gemäß Art. 1 Nr. 14 der DVO (EU) 2018/1212 oder dem Nachweisstichtag gemäß Art. 1 Nr. 7 der DVO (EU) 2018/1212 liegt.24) VI.

Beauftragung Dritter und Beschränkung der Übermittlungspflicht (§ 67b Abs. 1 Satz 2)

1.

Beauftragung Dritter

18 Die Informationen über Unternehmensereignisse der Gesellschaft können auch anstatt durch den Letztintermediär selbst durch einen von diesem beauftragten Dritten an den Aktionär übermittelt werden (siehe auch § 67a Rz. 54 ff.). § 67b Abs. 1 Satz 2 verweist insofern unmittelbar auf § 67a Abs. 2 Satz 1. Insbesondere professionelle Dienstleister können daher, auf Anweisung des Letztintermediärs, dem Aktionär die benötigten Informationen zukommen lassen.25) In der Praxis wird dies jedoch eher die Ausnahme darstellen.26) _____________ 19) Vgl. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67b AktG Rz. 4; thematisierend auch Zetzsche, ZGR 2019, 1, 23. 20) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67b AktG Rz. 8; Reichert-Schlitt, ArbHdb. HV, § 4 Rz. 299. 21) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67b Rz. 13; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67b AktG Rz. 8; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67b Rz. 9; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67b Rz. 9. 22) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67b AktG Rz. 8; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67b Rz. 3; Noack, DB 2019, 2785, 2789; Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67b Rz. 3. 23) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67b Rz. 13; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67b AktG Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67b Rz. 9; wohl a. A. Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67b Rz. 9. 24) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67b AktG Rz. 10. 25) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67b AktG Rz. 11. 26) So auch Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67b Rz. 15.

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Sascha Stiegler

Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Aktionäre 2.

§ 67b

Beschränkung der Übermittlungspflicht

Nach § 67a Abs. 2 Satz 4 kann die Übermittlung der Informationen gemäß den Anforde- 19 rungen nach Art. 8 Abs. 4 i. V. m. Tabelle 8 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 beschränkt werden. Die entsprechende Beschränkung der Übermittlungspflicht gilt über § 67b Abs. 1 Satz 2 unmittelbar auch für die Übermittlung des Letztintermediärs an den Aktionär (siehe insofern § 67a Rz. 58 ff.). Dies gilt – wenngleich bislang umstritten – auch dann, wenn der Letztintermediär seinerseits keine beschränkten und damit umfassendere Informationen vom vorherigen Kettenmitglied bzw. der Gesellschaft erhalten hat.27) VII. Übermittlungspflicht bei EU-Gesellschaften (§ 67b Abs. 2) Wie für andere Intermediäre in der Kette gemäß § 67a Abs. 3 Satz 2 (siehe dazu § 67a 20 Rz. 83 f.), bestimmt auch § 67b Abs. 2, dass die Informationsübermittlungsverpflichtung des Letztintermediärs auch dann gilt, wenn es sich um eine ausländische börsennotierte Gesellschaft aus einem anderen EU-Mitgliedstaat als Informationsherausgeber handelt. Zweck dieser Regelung ist wiederum die Sicherstellung der EU-weiten Funktionsfähigkeit des Übermittlungssystems. Da von § 67b Abs. 2 nur Gesellschaften mit (Register-)Sitz in einem anderen EU-Mit- 21 gliedstaat erfasst sind, sind Gesellschaften die dem Recht eines EWR-Staaten, Drittstaaten oder im Zuge des Brexit dem Vereinigten Königreich angehören, nicht umfasst, sodass in diesem Fall für den Letztintermediär keine Übermittlungspflicht besteht.28) VIII. Rechtsfolgen bei Verstößen Gemäß § 243 Abs. 3 Nr. 2 kann die Anfechtung eines Hauptversammlungsbeschlusses nicht 22 auf eine Verletzung der Pflicht des § 67b durch den Letztintermediär gestützt werden. Dies macht auch Sinn, da nicht die betroffene Gesellschaft für ein etwaiges Fehlverhalten eines Letztintermediärs bestraft werden kann.29) Gemäß § 405 Abs. 2a Nr. 3 stellt eine fehlende, nicht richtige, nicht vollständige oder 23 nicht rechtzeitige Informationsübermittlung des Letztintermediärs an den Aktionär eine bußgeldbewährte Ordnungswidrigkeit des Letztintermediärs dar. Das zuständige Bundesamt für Justiz kann dabei eine Geldbuße von bis zu 25.000 € verhängen. Bei einem Verstoß gegen die Übermittlungsverpflichtung kann sich der Letztintermdiär 24 zudem gegenüber dem Aktionär schadensersatzpflichtig machen.30) Dies dabei grundsätzlich sowohl i. R. des Depotvertrags gemäß § 280 Abs. 1 BGB sowie aufgrund Schutzgesetzcharakters des § 67b gemäß § 823 Abs. 2 BGB.31) _____________ 27) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67b AktG Rz. 9; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67b Rz. 8; a. A. Bayer/ Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67b Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67b Rz. 10; wohl auch Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67b Rz. 2. 28) So auch Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67b Rz. 16; Hirte/HeidelMock, Das neue Aktienrecht, § 67b Rz. 13. 29) Vgl. auch Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 115. 30) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67b Rz. 23; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67b Rz. 6; Kuntz, AG 2020, 18, 33; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67b Rz. 15; Henssler/ Strohn-Paul, GesR, § 67b Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67b Rz. 13; Zetzsche, ZGR 2019, 1, 36; bzgl. der Verletzung vertraglicher Pflichten auch Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67b AktG Rz. 18. 31) Zum Charakter als Schutzgesetz auch Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67b Rz. 23; Kuntz, AG 2020, 18, 33; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67b Rz. 15; Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67b Rz. 5; Wittig in: MünchKomm-AktG, § 405 Rz. 100; K. Schmidt/ Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67b Rz. 13; a. A. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67b AktG Rz. 17.

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§ 67c

Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Gesellschaft

§ 67c Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Gesellschaft; Nachweis des Anteilsbesitzes Sascha Stiegler

(1) 1Der Letztintermediär hat die vom Aktionär einer börsennotierten Gesellschaft erhaltenen Informationen über die Ausübung seiner Rechte als Aktionär entweder direkt an die Gesellschaft oder an einen Intermediär in der Kette zu übermitteln. 2 Intermediäre haben die nach Satz 1 erhaltenen Informationen entweder direkt an die Gesellschaft oder an den jeweils nächsten Intermediär weiterzuleiten. 3Die Sätze 1 und 2 gelten entsprechend für die Weiterleitung von Weisungen des Aktionärs zur Ausübung von Rechten aus Namensaktien börsennotierter Gesellschaften an den im Aktienregister eingetragenen Intermediär. (2) 1Der Aktionär kann Anweisungen zur Informationsübermittlung nach Abs. 1 erteilen. 2§ 67a Absatz 2 Satz 1 gilt entsprechend. 3Format, Inhalt und Frist der Informationsübermittlung nach Absatz 1 richten sich nach den Anforderungen in Artikel 2 Absatz 1 und 3, Artikel 8 und 9 Absatz 4 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212. 4Eine rechtzeitige gesammelte Informationsübermittlung und -weiterleitung ist möglich. 5Die Absätze 1 und 2 gelten auch für Informationen einer börsennotierten Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union. (3) Der Letztintermediär hat dem Aktionär für die Ausübung seiner Rechte in der Hauptversammlung auf Verlangen über dessen Anteilsbesitz unverzüglich einen Nachweis in Textform gemäß den Anforderungen nach Artikel 5 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 auszustellen oder diesen nach Absatz 1 der Gesellschaft zu übermitteln. Literatur: Bork, Die Regelungen zu „know-your-shareholder“ im Regierungsentwurf des ARUG II, NZG 2019, 738; Butzke, Bestandsnachweis für Inhaberaktien, AG 2020, R 57; Cichy/Krawinkel, „Know Your Shareholder“ nach ARUG II – Inpflichtnahme der Intermediäre bei der Aktionärsidentifizierung und Informationsübermittlung, DB 2020, 602; Koch, Informationsweitergabe und Informationsasymmetrien im Gesellschaftsrecht, ZGR 2020, 183; Kuntz, Kommunikation mit Aktionären nach ARUG II, AG 2020, 18; Mutter, Zur Ehrenrettung des Nachweises nach § 67c Abs. 3 AktG, AG 2020, R 58; Mutter, § 123 Abs. 4 Satz 1 AktG – treffen wir 2021 in Hauptversammlungen Buridians Esel?, AG 2021, R 5; Paschos/Goslar, Der Regierungsentwurf des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II), AG 2019, 365; Paschos/Goslar, Der Referentenentwurf des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrichtlinie (ARUG II) aus Sicht der Praxis, AG 2018, 857; Pospiech/ Reichenberger, Aktionärsidentifikation und Interaktion, NJW-Spezial 2020, 655; RedeniusHövermann/Henkel, Eine empirische Bestandsaufnahme zur Aktionärsklage nach § 148 AktG, AG 2020, 349; Seibert, ARUG II – Die Stellungnahmen, in: Festschrift für Eberhard Vetter, 2019, S. 749; Stiegler, Shareholder Identification and Transmission of Information – Imbalance between Shareholders’ Anonymity and Engangement?, EBLR 2019, 763; Stiegler, Aktionärsidentifizierung nach ARUG II, WM 2019, 620; Teichmann, Die Anwendbarkeit des ARUG II auf die KGaA, in: Festschrift für Gerd Krieger, 2020, S. 994; Wentz, Offene Fragen der Informationsübermittlung nach §§ 67a ff. AktG, WM 2020, 957; Zetzsche, Aktionärsidentifikation, Aktionärslegitimation und das Hauptversammlungsverfahren nach ARUG II, AG 2020, 1.

Übersicht I. Grundlagen ....................................... 1 1. Europäischer Hintergrund ................ 1 2. Entstehungsgeschichte ...................... 2 426

3. Regelungsgegenstand und -zweck ..... 3 II. Anwendungsbereich ......................... 5 III. Begriffsbestimmungen ..................... 7

Sascha Stiegler

Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Gesellschaft IV. Informationsübermittlung an die Gesellschaft (§ 67c Abs. 1) ............... 9 1. Übermittlungspflicht des Letztintermediärs ........................................ 9 a) Erfasste Informationen .............. 12 b) Übermittlungsweg ..................... 15 2. Weiterleitungspflicht der Intermediäre in der Kette ......................... 16 3. Sonderbestimmungen für Namensaktien ................................................. 18 V. Modalitäten der Informationsübermittlung (§ 67c Abs. 2) ........... 21 I.

Grundlagen

1.

Europäischer Hintergrund

§ 67c

1. Weisungsrecht des Aktionärs .......... 2. Beauftragung Dritter ........................ 3. Form, Inhalt und Frist der Informationsübermittlung ........................ 4. Gesammelte Informationsübermittlung und Weiterleitung ............. 5. Übermittlungspflicht bei EUGesellschaften ................................... VI. Nachweis des Anteilsbesitzes (§ 67c Abs. 3) ................................... VII. Rechtsfolgen von Verstößen ........

22 24 25 29 30 32 36

§ 67c basiert ebenfalls auf den zugrunde liegenden Bestimmungen der Aktionärsrechte- 1 richtlinie (ARRL).1) § 67c im Konkreten liegt den Regelungen des Art. 3b Abs. 4, Abs. 5 und Art. 3c Abs. 1 lit. a ARRL II2) zugrunde.3) Die Norm verweist weiterhin auf einzelne Bestimmungen der von der Europäischen Kommission im September 2018 erlassenen Durchführungsverordnung (EU) 2018/12124) (DVO (EU) 2018/1212). Diese sind als unmittelbar geltendes europäisches Recht folglich umfassend zu beachten (zur diesbezüglichen richtlinien- bzw. verordnungskonformen Auslegung siehe auch § 67a Rz. 5). 2.

Entstehungsgeschichte

§ 67c wurde im Zuge der Verabschiedung des ARUG II5) am 12.12.2019 mit Wirkung 2 zum 1.1.2020 ins AktG eingefügt (ausführlich zur Entstehungsgeschichte auch § 67a Rz. 6 ff.). Nach § 26j Abs. 4 EGAktG sind die Bestimmungen des § 67c ab dem 3.9.2020 anzuwenden und gelten somit erstmals für Hauptversammlungen, die nach diesem Datum einberufen werden. 3.

Regelungsgegenstand und -zweck

Der Regelungsgegenstand des § 67c ist dem Grunde nach zweiteilig. Zum einen betrifft er 3 die Informationsübermittlung bzw. -weiterleitung durch die beteiligten Intermediäre zurück an die Gesellschaft. Zum anderen wird in § 67c Abs. 3 die Verpflichtung des Letztintermediärs statuiert, entweder dem Aktionär einen Nachweis über seinen Anteilsbesitz für die Zwecke der Rechtewahrnehmung in der Hauptversammlung auszustellen, oder einen solchen an die Gesellschaft zu übermitteln. Zweck des entsprechenden Nach_____________ 1)

2)

3) 4)

5)

Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften (Aktionärsrechterichtlinie – ARRL), ABl. (EU) L 184/17 v. 14.7.2007. Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre (Zweite Aktionärsrechterichtlinie – ARRL II), ABl. (EU) L 132/1 v. 20.5.2017. Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 1; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 1. Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 der Kommission v. 3.9.2018 zur Festlegung von Mindestanforderungen zur Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die Identifizierung der Aktionäre, die Informationsübermittlung und die Erleichterung der Ausübung der Aktionärsrechte, ABl. (EU) L 223/1 v. 4.9.2018. Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2015, 2637.

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§ 67c

Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Gesellschaft

weises des Anteilsbesitzes ist dabei, dass der Aktionär auch tatsächlich die ihm zustehenden Rechte innerhalb der Hauptversammlung der Gesellschaft per Legitimation ausüben kann.6) 4 Die Regelungen betreffend der Informationsübermittlung vom Letztintermediär an die Gesellschaft oder an einen Intermediär in der Kette, § 67c Abs. 1 Satz 1 (siehe dazu Rz. 9) sowie die Informationsweiterleitung7) durch einen Intermediär (in der Kette) an die Gesellschaft bzw. das darüberliegende Kettenmitglied dienen der Sicherstellung des Informationsflusses vom Aktionär zurück an die Gesellschaft.8) Es handelt sich also um den Übermittlungsweg „Top-down“9) und damit umgekehrt zu den Vorgaben der § 67a und § 67b. Es besteht somit ein unmittelbarer Wirkungszusammenhang zwischen den Verpflichtungen aus § 67c Abs. 1 und den Pflichten der §§ 67a f. II.

Anwendungsbereich

5 Ebenso wie § 67a und § 67b gelten die Vorgaben des § 67c nur in Bezug auf Informationen über Unternehmensereignisse von börsennotierten Gesellschaften i. S. des § 3 Abs. 2 (generell zum sachlichen Anwendungsbereich siehe § 67a Rz. 16 ff.; zur Anwendbarkeit in Bezug auf EU-Gesellschaften siehe Rz. 10).10) Über Art. 9 Abs. 1 lit. c Ziff. ii SE-VO gilt § 67c darüber hinaus für börsennotierte europäische Aktiengesellschaften (SE) mit Sitz in Deutschland11) sowie über § 278 Abs. 3 für die börsennotierte KGaA.12) 6 Anders als insbesondere § 67a (siehe dazu § 67a Rz. 52) umfasst § 67c jedoch auch Informationen, die im Zusammenhang mit der Einberufung der Hauptversammlung der Gesellschaft stehen.13) Der materielle Anwendungsbereich der Norm ist insofern weiter,14) was aber aufgrund der bloßen Übermittlungs- bzw. Weiterleitungsverpflichtung der beteiligten Intermediäre grundsätzlich keinen spürbaren Mehraufwand für diese impliziert. III.

Begriffsbestimmungen

7 In § 67c sind wiederum vor allem die Begriffe des Aktionärs, des Intermediärs (in der Kette) und die des Letztintermediärs maßgebend. Aufgrund der inhaltlichen wie systematischen Verbindung zu § 67a sind dabei jeweils die Legadefinitionen innerhalb des § 67a einschlägig.

_____________ 6) Vgl. Art. 5 Abs. 1 DVO (EU) 2018/1212; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 1; GrigoleitRachlitz, AktG, § 67c Rz. 4. 7) Materiell besteht kein Unterschied zwischen „Übermittlung“ und „Weiterleitung“. 8) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67c Rz. 1; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67c Rz. 2; aus europäischer Sicht auch Stiegler, EBLR 2019, 763, 782. 9) Aus europäischer Sicht Lutter/Bayer/J. Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, Rz. 29.32; Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 71. 10) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 1; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67c Rz. 2. 11) Zu § 67a: Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 17; K. Schmidt/ Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 62. 12) Teichmann in: FS Krieger, S. 993, 996; zu § 67a: Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 17; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 62. 13) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 64; Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 1. 14) Vgl. Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67c Rz. 4.

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Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Gesellschaft

§ 67c

Gemäß § 67a Abs. 4 ist ein Intermediär dabei „eine Person, die Dienstleistungen der Ver- 8 wahrung oder der Verwaltung von Wertpapieren oder der Führung von Depotkonten für Aktionäre oder andere Personen erbringt, wenn die Dienstleistungen im Zusammenhang mit Aktien von Gesellschaften stehen, die ihren Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum haben“ (siehe zum Begriff auch § 67a Rz. 22 ff.). Gemäß § 67a Abs. 5 Satz 1 handelt es sich bei einem Intermediär in der Kette um einen Intermediär, „der Aktien der Gesellschaft für einen anderen Intermediär verwahrt“ (siehe zum Begriff auch § 67a Rz. 30 ff.). Gemäß § 67a Abs. 5 Satz 1 ist Letztintermediär, „wer als Intermediär für einen Aktionär Aktien einer Gesellschaft verwahrt“ (siehe zum Begriff auch § 67a Rz. 33 ff.). Beim Aktionär handelt es sich um den „wahren“ Anteilsinhaber der Gesellschaft (siehe zum Begriff auch § 67a Rz. 41 ff.).15) IV.

Informationsübermittlung an die Gesellschaft (§ 67c Abs. 1)

1.

Übermittlungspflicht des Letztintermediärs

Gemäß § 67c Abs. 1 Satz 1 hat ein Letztintermediär die Pflicht, vom Aktionär einer 9 börsennotierten Gesellschaft erhaltene Informationen über die Ausübung seiner Rechte entweder direkt an die Gesellschaft oder an einen Intermediär in der Kette zu übermitteln. Verpflichtet wird damit der Letztintermediär (siehe zum Begriff Rz. 8), der seinerseits die Informationen über Unternehmensereignisse von der Gesellschaft an den Aktionär übermittelt hat.16) Die Weiterleitungspflicht der Intermediäre in der Kette hoch zur Gesellschaft bestimmt sich hingegen nach § 67c Abs. 1 Satz 2. Eine Übermittlungspflicht seitens des Aktionärs an den Letztintermediär wird mit Abs. 1 10 Satz 1 darüber hinaus nicht begründet.17) Da es sich um seine eigenen Rechte handelt, steht es dem Aktionär insofern frei, inwiefern er diese verfolgt. Zwar gilt § 67c Abs. 1 Satz 1 formal sowohl für Informationen von Inhaber- als auch von 11 Namensaktionären,18) jedoch ist sie für Namensaktionäre faktisch nur von Bedeutung, wenn der wahre Aktionär im Aktienregister eingetragen ist und dieser die Informationen über die Ausübung seiner Rechte nicht direkt, sondern mittelbar über den Letztintermediär an die Gesellschaft übermitteln lässt.19) a)

Erfasste Informationen

Die Übermittlungspflicht des Letztintermediärs nach § 67c Abs. 1 Satz 1 umfasst grund- 12 sätzlich alle Informationen über Aktionärsrechte in Bezug auf Unternehmensereignisse.20) _____________ 15) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 2. 16) Vgl. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 64. 17) Anders als z. B. der Aktionärsidentifizierungspflicht der Gesellschaft gemäß § 67d Abs. 1; s. aus europäischer Sicht dazu Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 34 f.; Stiegler, EBLR 2019, 763, 767 f. 18) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 64; Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 2; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 2; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67c Rz. 9; Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67c Rz. 1; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67c Rz. 8. 19) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 64; Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 2; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67c Rz. 2; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67c Rz. 9; Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67c Rz. 3; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67c Rz. 8. 20) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 64; Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67c Rz. 5; s. a. Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67c Rz. 4.

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§ 67c

Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Gesellschaft

Für die Bestimmung des Begriffs des Unternehmensereignisses gilt die Legaldefinition des § 67a Abs. 6 (siehe dazu § 67a Rz. 36 ff.). Zudem umfasst dies auch Informationen im Zusammenhang mit der Einberufung der Hauptversammlung.21) 13 Informationen über Aktionärsrechte gemäß § 67c Abs. 1 Satz 1 sind insbesondere –

das gesetzliche Bezugsrecht (§ 186),



das Recht, auf Verlangen einer Minderheit die Hauptversammlung einzuberufen oder die Tagesordnung zu ergänzen (§ 122),



das Recht Gegenanträge zur Tagesordnung zu stellen (§ 126),



das Vorschlagsrecht zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern oder Abschlussprüfern (§ 127) sowie



das Stimmrecht in der Hauptversammlung.22)



Auch die Anmeldung des Aktionärs zur Hauptversammlung (§ 123 Abs. 2) ist von der Übermittlungspflicht des Letztintermediärs umfasst.23)



Gleiches gilt – umstritten – für eine etwaige Vollmacht zur Ausübung des Stimmrechts in der Hauptversammlung.24)

14 Nach derzeitigem Meinungsstand keine Informationen über Aktionärsrechte sind insbesondere die Rechte, die der Aktionär nur persönlich oder durch einen anwesenden Vertreter wahrnehmen kann,25) wie bspw. das Rede- und Fragerecht in der Hauptversammlung, das Recht auf Einsichtnahme in die in der Hauptversammlung ausgelegten Unterlagen, das Recht auf Einsichtnahme in das Teilnehmerverzeichnis oder das Recht zur Erklärung von Widerspruch zu Protokoll.26) b)

Übermittlungsweg

15 Hinsichtlich des Weges der Übermittlung der Informationen über Aktionärsrechte gemäß § 67c Abs. 1 Satz 1 bestehen für den betroffenen Letztintermediär grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder kann eine Übermittlung der Informationen direkt an die Gesellschaft erfolgen, oder an einen Intermediär in der Kette.27) Dem Letztintermediär steht dabei allerdings kein Wahlrecht zwischen einer der beiden Varianten zur Verfügung. Vielmehr ist er den entsprechenden Weisungen des Aktionärs hinsichtlich des Übermittlungswegs unterworfen.28) Aber auch wenn der Aktionär diesbezüglich keine Anweisung _____________ 21) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 64; Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67c Rz. 5; Redenius-Hövermann/ Henkel, AG 2020, 349, 363. 22) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 64; Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67c Rz. 6. 23) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 4; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67c Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67c Rz. 12; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67c Rz. 4 – „wichtigster Anwendungsfall“; Zetzsche, ZGR 2019, 1, 27. 24) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 5; Kuntz, AG 2020, 18, 20; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67c Rz. 12; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67c Rz. 8; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67c Rz. 4; Zetzsche, ZGR 2019, 1, 28; a. A. Cahn in: BeckOGKAktR, § 67c AktG Rz. 6; Paschos/Goslar, AG 2018, 857, 861. 25) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67c Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67c Rz. 9. 26) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67c Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 9. 27) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 64. 28) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 7; Bork, NZG 2019, 738, 743; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 7.

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Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Gesellschaft

§ 67c

gibt, ist der Letztintermediär nicht frei in seiner Entscheidung auf welchen Weg er die Informationsübermittlung vollzieht. Eine richtlinienkonforme Auslegung erfordert vielmehr den Vorrang der direkten Informationsübermittlung an die Gesellschaft.29) In der Praxis dürfe dies allerdings ohnehin der Regelfall sein. 2.

Weiterleitungspflicht der Intermediäre in der Kette

Für den, insofern in der Praxis wohl eher seltenen,30) Fall der Informationsübermittlung 16 entlang der Intermediärskette bis hin zur Gesellschaft sieht § 67c Abs. 1 Satz 2 eine eigenständige Weiterleitungspflicht für die betroffenen Intermediäre, die nicht Letztintermediär sind, vor. Damit soll sichergestellt werden, dass auch in diesem Fall eine reibungslose Informationsübermittlung vom Aktionär an die Gesellschaft gewährleistet ist. Obgleich ebenso wie die Übermittlungspflicht für Letztintermediäre (siehe Rz. 9) auch die Weiterleitungspflicht der übrigen Intermediäre grundsätzlich sowohl in Bezug auf Inhaber- als auch Namensaktionäre gilt, kommt der Regelung in erster Linie Intermediären von Inhaberaktionären Bedeutung zu.31) Ebenso wie der Letztintermediär gemäß § 67c Abs. 1 Satz 1 (siehe Rz. 15) sind auch die 17 von § 67c Abs. 1 Satz 2 erfassten Intermediäre aufgrund richtlinienkonformer Auslegung verpflichtet, die erhaltenen Informationen über Aktionärsrechte primär direkt an die Gesellschaft und somit nur dann an den nächsten Intermediär in der Kette weiterzuleiten, wenn eine direkte Weiterleitung an die Gesellschaft nicht möglich ist.32) 3.

Sonderbestimmungen für Namensaktien

Gemäß § 67c Abs. 2 Satz 1 bestehen die Rechte und Pflichten aus Namensaktien im Ver- 18 hältnis zur Gesellschaft nur für und gegen den im Aktienregister Eingetragenen. Bei börsennotierten Gesellschaften sind allerdings regelmäßig die für die wahren Aktionäre handelnden Intermediäre anstelle von diesen im Aktienregister eingetragen.33) Rechteausübung und Rechtsinhaberschaft fallen insofern auseinander.34) In der Praxis wird daher der im Aktienregister eingetragene Intermediär grundsätzlich nach den Anweisungen des wahren Aktionärs als Rechteinhaber tätig.35) In diesem Zusammenhang können zwischen dem wahren Aktionär und dem im Aktienregister eingetragenen Intermediär auch weitere Intermediäre als Kettenmitglieder zwischengeschaltet sein. Für diesen Fall bestimmt § 67c Abs. 1 Satz 3 als Sonderregelung, dass die voranstehenden Sätze 1 und 2 auch für die Weiterleitung von Weisungen des Aktionärs zur Ausübung von Rechten aus Namensaktien börsennotierter Gesellschaften an den im Aktienregister eingetragenen Intermediär gelten.36)

_____________ 29) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 7; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 7; Wentz, WM 2020, 957, 960; a. A. Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67c Rz. 7. 30) So auch Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 8. 31) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 8. 32) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 8; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 8; Wentz, WM 2020, 957, 960; a. A. Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67c Rz. 9; wohl auch Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67c Rz. 2. 33) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 9; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67c Rz. 17. 34) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 9. 35) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 9; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67c Rz. 17. 36) Vgl. auch Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 65.

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Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Gesellschaft

19 Mangels europäischer Vorgaben besteht – anders als bei der Übermittlungs- bzw. Weiterleitungspflicht des Letztintermediärs bzw. des Intermediärs in der Kette nach § 67c Abs. 1 Satz 1 und 2 – keine Pflicht zur vorrangigen Direktübermittlung an den Aktionär aufgrund richtlinienkonformer Auslegung.37) Der Intermediär hat also die Wahl, ob er direkt an den Aktionär übermittelt oder indirekt entlang der Intermediärskette.38) 20 § 67c Abs. 3 Satz 1 gilt nur in Bezug auf einen Intermediär i. S. des § 67a Abs. 4 (siehe dazu Rz. 8); nicht hingegen für sonstige Dritte oder Treuhänder.39) V.

Modalitäten der Informationsübermittlung (§ 67c Abs. 2)

21 Wie bereits bei § 67a und § 67b statuiert auch bei § 67c der Gesetzgeber Vorgaben hinsichtlich der Art und Weise der Informationsübermittlung bzw. -weiterleitung. Hierfür bedient er sich vor allem im Hinblick auf Form, Inhalt und Frist der Informationsübermittlung den einschlägigen, ohnehin geltenden, Bestimmungen der DVO (EU) 2018/1212. 1.

Weisungsrecht des Aktionärs

22 Gemäß § 67c Abs. 2 Satz 1 kann der Aktionär dem Intermediär Anweisungen zur Informationsübermittlung nach § 67c Abs. 1 erteilen. Dem Aktionär, der die Informationen über die Ausübung seiner Rechte an den Letztintermediär bzw. den im Aktienregister eingetragenen Intermediär übergibt, steht diesen gegenüber somit ein Weisungsrecht zu. Ihm steht es jedoch frei, ob er von diesem auch Gebrauch macht. Aufgrund des Verweises in § 67c Abs. 2 Satz 1 auf Abs. 1 als Ganzes, umfasst das Weisungsrecht dabei sowohl den Letztintermediär im Hinblick auf § 67c Abs. 1 Satz 1 als auch den im Aktienregister eingetragenen Intermediär im Hinblick auf § 67c Abs. 1 Satz 3 als Weisungsempfänger.40) 23 Das Weisungsrecht des Aktionärs umfasst dabei sowohl den Übermittlungsweg (siehe Rz. 15) als auch den Inhalt der Informationsübermittlung an die Gesellschaft.41) Auch der Vorrang der Direktübermittlung von Informationen an die Gesellschaft besteht nur vorbehaltlich anderslautender Anweisungen durch den Aktionär.42) 2.

Beauftragung Dritter

24 Aufgrund des Verweises von § 67c Abs. 2 Satz 2 auf die Regelung des § 67a Abs. 2 Satz 1 (siehe dazu § 67a Rz. 54) können sich die beteiligten Intermediäre bei der Informationsübermittlung bzw. -weiterleitung zurück an die Gesellschaft jeweils beauftragter Dritter bedienen. Dies gilt sowohl für den Letztintermediär als auch die sonstigen Intermediäre in der Kette. Obgleich als solches von § 67c Abs. 2 Satz 2 nicht unmittelbar angespro_____________ 37) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 9; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 19. 38) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 9. 39) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 10; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 10. 40) Vgl. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 13. 41) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 65; Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 12; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 12; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67c Rz. 4; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67c Rz. 12; Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67c Rz. 4; kritisch Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67c Rz. 13; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67c Rz. 25. 42) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 12; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 12.

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chen, kann sich selbstverständlich auch der Aktionär bei der Informationsübermittlung insbesondere an den Letztintermediär Dritter bedienen, d. h. sich entsprechend vertreten lassen. Dies gilt auch im Hinblick auf das Weisungsrecht gemäß § 67c Abs. 2 Satz 1.43) 3.

Form, Inhalt und Frist der Informationsübermittlung

Hinsichtlich der Anforderungen an das Format, den Inhalt und die Frist der Informati- 25 onsübermittlung bzw. -weiterleitung verweist § 67c Abs. 2 Satz 3 auf einzelne Bestimmungen der DVO (EU) 2018/1212. Es gelten aber nicht nur diese in § 67c Abs. 2 Satz 3 in Bezug genommenen Regelungen der DVO (EU) 2018/1212, sondern grundsätzlich die dort jeweils einschlägigen Vorgaben.44) Im Hinblick auf die formellen Vorgaben an die Informationsweiterleitung zwischen den 26 Intermediären bestimmt Art. 2 Abs. 3 der DVO (EU) 2018/1212, dass diese elektronisch stattzufinden hat. Bezüglich der Informationsübermittlung vom Aktionär an den Letztintermediär enthält die DVO (EU) 2018/1212 hingegen keine Vorgaben. Diesbezüglich wäre daher auch eine schriftliche Übermittlung (was eher die Ausnahme sein wird) oder eine Übermittlung in Textform möglich.45) Der Inhalt der Übermittlung bestimmt sich in erster Linie nach der Art des jeweiligen 27 Ereignisses, zu welchem Informationen übermittelt bzw. weitergeleitet werden sollen.46) Dabei ist zwingend das Weisungsrecht des Aktionärs (siehe Rz. 22) vorrangig zu beachten.47) Zwar hat zeitlich die Informationsübermittlung bzw. -weiterleitung grundsätzlich unver- 28 züglich vom Letztintermediär bzw. Intermediär in der Kette zu erfolgen, jedoch sieht Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 der DVO (EU) 2018/1212 insofern eine Erleichterung in den Fällen vor, in denen die erhalten Informationen nicht maschinenlesbar oder vollautomatisch abwickelbar sind, dass eine entsprechende Informationsauswertung kein schuldhaftes Zögern darstellt.48) Allerdings kann ein ausschließendes schuldhaftes Zögern nur angenommen werden, wenn die Verzögerung nicht allein auf der Auswertung der postalischen Information beruht.49) 4.

Gesammelte Informationsübermittlung und Weiterleitung

Gleiches gilt, wenn die Informationen der Aktionäre zur Abwicklung von Unternehmens- 29 ereignissen zunächst gesammelt und dann konsolidiert übermittelt bzw. weitergeleitet werde.50) § 67c Abs. 2 Satz 4 stellt diesbezüglich klar, dass auch in diesem Fall grundsätz_____________ 43) Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67c Rz. 15. 44) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 14; bzgl. § 67d Abs. 2 Satz 1 auch Stiegler, WM 2019, 620, 624. 45) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 65; Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 15; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 16. 46) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 16; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67c Rz. 34. 47) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 16; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 17. 48) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 17; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 19; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67c Rz. 4. 49) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 65; Bork, NZG 2019, 738, 743; Cahn in: BeckOGKAktR, § 67c AktG Rz. 19. 50) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 65 f.; Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 18; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 19; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67c Rz. 31; vgl. auch Cichy/Krawinkel, DB 2020, 602, 608; Paschos/Goslar, AG 2019, 365, 368.

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Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Gesellschaft

lich kein schuldhaftes Zögern seitens des Letztintermediärs oder des jeweiligen Intermediärs in der Kette besteht. 5.

Übermittlungspflicht bei EU-Gesellschaften

30 Gemäß § 67c Abs. 2 Satz 5 gilt die Informationsübermittlungs- und weiterleitungsverpflichtung des Letztintermediärs bzw. der Intermediäre in der Kette auch dann, wenn es sich um eine ausländische börsennotierte Gesellschaft aus einem anderen EU-Mitgliedstaat handelt (siehe bereits § 67a Rz. 83; § 67b Rz. 20). Zweck dieser Regelung ist wiederum die Sicherstellung der EU-weiten Funktionsfähigkeit des Übermittlungs- und Weiterleitungssystems. 31 Da von § 67c Abs. 2 Satz 5 nur Gesellschaften mit (Register-)Sitz in einem anderen EUMitgliedstaat umfasst sind, sind Gesellschaften die dem Recht eines EWR-Staaten, Drittstaaten oder im Zuge des Brexit dem Vereinigten Königreich angehören, nicht umfasst, sodass in diesem Fall für den Letztintermediär bzw. die Intermediäre in der Kette keine Übermittlungs- bzw. Weiterleitungspflicht besteht.51) VI.

Nachweis des Anteilsbesitzes (§ 67c Abs. 3)

32 Gemäß § 67c Abs. 3 hat der Letztintermediär dem Aktionär für die Ausübung seiner Rechte in der Hauptversammlung auf Verlangen über dessen Anteilsbesitz unverzüglich einen Nachweis in Textform gemäß den Anforderungen nach Art. 5 der DVO (EU) 2018/1212 auszustellen oder diesen nach § 67c Abs. 1 der Gesellschaft zu übermitteln. Dies gilt sowohl in Bezug auf Namens- als auch Inhaberaktionäre.52) Verpflichtet zur Ausstellung und/oder Übermittlung an die Gesellschaft ist der Letztintermediär; nicht hingegen die sonstigen Intermediäre in der Kette.53) Wie § 67c Abs. 3 explizit bestimmt, entsteht die entsprechende Verpflichtung jedoch erst auf Anfrage des Aktionärs hin. Diese muss dabei jedoch nicht zwingend ausdrücklich, sondern kann bspw. auch konkludent erfolgen.54) 33 Bei Namensaktionären ist der Nachweis des Anteilsbesitzes grundsätzlich ohne praktische Relevanz.55) Ist der materiell berechtigte Aktionär in das Aktienregister eingetragen, hat er schon aus der Aktienregistereintragung die Legitimation zur Ausübung der Aktionärsrechte gegenüber der Gesellschaft, sodass es eines Nachweises nicht bedarf.56) Auch umgekehrt ist der Anteilsbesitznachweis nach § 67c Abs. 3 noch kein Eintragungsrecht ins Aktienregister.57) Für Inhaberaktionäre ist der Anteilsbesitznachweis allerdings insofern von Bedeutung, als damit u. a. das Teilnahme-, Frage- und Stimmrecht in der Hauptver_____________ 51) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 19; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67c Rz. 18. 52) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 66;¸Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 20; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 22. 53) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 66;¸Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 20; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67c Rz. 38. 54) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 21; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67c Rz. 39. 55) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 22; Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67c Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67c Rz. 39; vgl. auch RedeniusHövermann/Henkel, AG 2020, 349, 363. 56) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 22; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 23; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67c Rz. 6; Kuntz, AG 2020, 18, 29; Paschos/Goslar, AG 2018, 857, 862; Paschos/Goslar, AG 2019, 365, 367; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67c Rz. 41. 57) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 22.

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Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Gesellschaft

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sammlung begründet und der Nachweis der Anfechtungsbefugnis erbracht werden kann.58) Nicht hingegen wird damit das Dividendenauszahlungsrecht oder das Bezugsrecht bei Kapitalerhöhungen begründet.59) Hinsichtlich des Inhalts des auszustellenden bzw. zu übermittelnden Anteilsnachweises 34 gilt die Regelung des Art. 5 der DVO (EU) 2018/1212. Danach ist mit dem Anteilsbesitz die ausgewiesene berechtigte Position i. S. des Art. 1 Nr. 8 der DVO (EU) 2018/1212 für jedes Depotkonto nachzuweisen. Der Mindestinhalt der Bestätigung des Anteilsbesitzes ergibt sich aus Art. 5 Abs. 2 i. V. m. Tabelle 4 des Anhangs der DVO (EU) 2018/1212 und umfasst Angaben zur entsprechenden Hauptversammlung, Angaben zur berechtigten Position in Aktien sowie Angaben zum Aktionär selbst. Der Anteilsbesitznachweis hat gemäß § 67c Abs. 3 in Textform i. S. des § 126b BGB zu 35 erfolgen. Dabei genügt insofern auch die Übersetzung in einem SWIFT-gängigen Datensatz im ISO-Format.60) Da an die Textform i. S. des § 126b BGB nur die geringsten Anforderungen gestellt werden, erfüllen bspw. auch die Schriftform und die elektronische Form die Vorgaben des § 67c Abs. 3.61) Zudem muss die Ausstellung bzw. Übermittlung des Anteilsbesitznachweises unverzüglich, d. h. ohne schuldhaftes Zögern, erfolgen.62) Der Letztintermediär kann sich jedoch eines beauftragten Dritten zur Ausstellung bzw. Übermittlung bedienen.63) VII. Rechtsfolgen von Verstößen Anders als die Informationsübermittlung bzw. -weiterleitung hin zum Aktionär nach § 67a 36 und § 67b, ist die Anfechtung eines Hauptversammlungsbeschlusses wegen einer Pflichtverletzung aus § 67c nicht expressiv verbis gemäß § 243 Abs. 3 ausgeschlossen. Kritisiert wird daran jedoch zu Recht, dass eine intermediärsseitige Pflichtverletzung nicht zulasten der – unbeteiligten – Gesellschaft gehen dürfe.64) Diese, ebenfalls in der Gesetzesbegründung aufgeführte,65) Betrachtung rechtfertigt dabei bereits de lege lata das Vorliegen einer planwidrigen Lücke innerhalb des § 243 Abs. 3 Nr. 2 und damit eine analoge Anwendung auf Pflichtverletzungen gemäß § 67c.66) Ein Verstoß gegen eine der Pflichten aus § 67c kann eine Ordnungswidrigkeit mit einer 37 Geldbuße bis zu 25.000 € darstellen. Die jeweiligen Ordnungswidrigkeitstatbestände werden dabei innerhalb des § 405 Abs. 2a getrennt nach Intermediären in der Kette und dem Letztintermediär behandelt. Gemäß § 405 Abs. 2a Nr. 2 stellt eine fehlende, nicht _____________ 58) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 23; Bungert in: MünchHdb. GesR, § 36 Rz. 98;¸K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67c Rz. 46; Reichert-Reichert/Balke, ArbHdb. HV, § 4 Rz. 90; zur aktuellen Problematik bei Satzungen von Börsengesellschaften, die den geänderten § 123 Abs. 4 Satz 1 i. V. m. § 67c Abs. 3 (noch) nicht entsprechen Mutter, AG 2021, R 5. 59) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 23; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67c Rz. 46. 60) K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67c Rz. 47. 61) Generell zu § 126b BGB Einsele in: MünchKomm-BGB, § 126b Rz. 10. 62) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 25; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 24; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67c Rz. 48. 63) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 25; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 24. 64) So Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 26; Cahn in: BeckOGKAktR, § 67c AktG Rz. 25. 65) Vgl. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 115. 66) Dass es sich bei den Tatbeständen des § 243 Abs. 3 jeweils um Ausnahmebestimmungen handelt, steht einer analogen Anwendung ebenfalls nicht zwingend entgegen; vgl. allgemein nur Wank, Juristische Methodenlehre, § 15 Rz. 173.

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Informationsanspruch der Gesellschaft gegenüber Intermediären

richtige, nicht vollständige oder nicht rechtzeitige Informationsweiterleitung durch den einen Intermediär in der Kette gemäß Abs. 1 Satz 2 eine Ordnungswidrigkeit des jeweiligen Kettenmitglieds dar. Entsprechendes gilt nach § 405 Abs. 2a Nr. 3 für eine Verletzung der Pflicht aus § 67c Abs. 1 Satz 1 des Letztintermediärs sowie nach § 405 Abs. 2a Nr. 4 für eine Verletzung der Pflicht aus § 67c Abs. 3 desselben. 38 Bei einem Verstoß gegen die Übermittlungsverpflichtung kann sich insbesondere der Letztintermediär zudem gegenüber dem Aktionär schadensersatzpflichtig machen.67) Dies dabei grundsätzlich sowohl i. R. vertraglicher Pflichtverletzungen gemäß § 280 Abs. 1 BGB sowie aufgrund Schutzgesetzcharakters des § 67c Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 gemäß § 823 Abs. 2 BGB.68) _____________ 67) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 29; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 31; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67c Rz. 23; Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67c Rz. 7. 68) Zum Charakter als Schutzgesetz auch Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67c Rz. 23; Wittig in: MünchKomm-AktG, § 405 Rz. 100; Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67c Rz. 7; a. A. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67c AktG Rz. 30.

§ 67d Informationsanspruch der Gesellschaft gegenüber Intermediären Sascha Stiegler

(1) 1Die börsennotierte Gesellschaft kann von einem Intermediär, der Aktien der Gesellschaft verwahrt, Informationen über die Identität der Aktionäre und über den nächsten Intermediär verlangen. 2Format und Inhalt dieses Verlangens richten sich nach der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212. (2) 1Informationen über die Identität der Aktionäre sind die Daten nach Artikel 3 Absatz 2 in Verbindung mit Tabelle 2 Buchstabe C der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212. 2Bei nicht eingetragenen Gesellschaften sind deren Gesellschafter mit den Informationen nach Satz 1 zu nennen. 3Steht eine Aktie mehreren Berechtigten zu, sind diese mit den Informationen nach Satz 1 zu nennen. (3) Das Informationsverlangen der Gesellschaft ist von einem Intermediär innerhalb der Frist nach Artikel 9 Absatz 6 Unterabsatz 1, 2 oder 3 Satz 3 und Absatz 7 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 an den jeweils nächsten Intermediär weiterzuleiten, bis der Letztintermediär erreicht ist. (4) 1Der Letztintermediär hat die Informationen zur Beantwortung des Informationsverlangens der Gesellschaft zu übermitteln. 2Das gilt nicht, wenn die Gesellschaft die Übermittlung von einem anderen Intermediär in der Kette verlangt; in diesem Fall sind Intermediäre verpflichtet, die Informationen unverzüglich diesem Intermediär oder dem jeweils nächsten Intermediär weiterzuleiten. 3Der Intermediär, von dem die Gesellschaft die Übermittlung verlangt, ist verpflichtet, der Gesellschaft die erhaltenen Informationen unverzüglich zu übermitteln. 4Format, Inhalt und Frist der Antwort auf das Informationsverlangen richten sich nach den Artikeln 2, 3, 9 Absatz 6 Unterabsatz 2 und 3 und Absatz 7 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212. (5) 1Die Absätze 1 bis 4 gelten auch für das Informationsverlangen einer börsennotierten Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union. 2 § 67a Absatz 2 Satz 1 gilt für die Absätze 1 bis 5 Satz 1 entsprechend.

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Literatur: Bayer/Schmidt, BB-Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsreport zum Europäischen Unternehmensrecht 2018/19 (Teil II), BB 2019, 2178; Böcking/Bundle, Erhöhte Transparenz für Aktionäre durch den RefE zu ARUG II?, Der Konzern 2018, 496; Bork, Die Regelungen zu „know-your-shareholder“ im Regierungsentwurf des ARUG II, NZG 2019, 738; Diekmann, Identifizierung von Aktionären – Eine Bestandsaufnahme unter Berücksichtigung der Aktionärsrechte-RL, in: Festschrift für Reinhard Marsch-Barner, 2018, S. 145; Cichy/Krawinkel, „Know Your Shareholder“ nach ARUG II – Inpflichtnahme der Intermediäre bei der Aktionärsidentifizierung und Informationsübermittlung, DB 2020, 602; Eggers/de Raet, Das Recht börsennotierter Gesellschaften zur Identifikation Ihrer Aktionäre gemäß der EU-Aktionärsrechterichtlinie, AG 2017, 464; Einsele, Inhaberaktien vs. Namensaktien: Publizität und Legitimation der Aktionäre, JZ 2019, 121; Eisenschmidt, Die Deanonymisierung der „Société Anonyme“ in Europa, 2020; Florstedt, Digitalisierung und Straffung des Verfahrens zur Entlastung von KapErtrSt, BB 2021, 1757; Foerster, Identifizierung der Aktionäre nach der Änderungsrichtlinie zur Aktionärsrechterichtlinie (2. Aktionärsrechte-RL) und dem Referentenentwurf ARUG II, AG 2019, 17; Florstedt, Die wesentlichen Änderungen des ARUG II nach den Empfehlungen des Rechtsausschusses, ZIP 2020, 1; Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (VGR), Stellungnahme zum Referentenentwurf des BMJV eines Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II), AG 2019, 920; Kalss, Gedanken zu einem neuen Recht der Aktionärsinformation, GesRZ 2020, 225; Kalss, Aktionärsinformation, ZGR 2020, 217; Kuntz, Kommunikation mit Aktionären nach ARUG II, AG 2020, 18; Kuntz, Digitale Kommunikation mit Aktionären und Investoren, ZHR 183 (2019) 190; Leyens, System der Aktionärsinformation – Auskunft, Sonderprüfung, Sondervertretung, Investorendialog und horizontale Kommunikation, ZGR 2019, 544; Merkt, „Know your shareholder“ oder: Vom schleichenden Ende der Inhaberaktie, in: Festschrift für Eberhardt Vetter, 2019, S. 447; Möslein/Omlor/Urbach, Grundfragen eines BlockchainKapitalgesellschaftsrechts, ZIP 2020, 2149; Noack, Organisationspflichten und -strukturen kraft Digitalisierung Inhalt, ZHR 183 (2019) 105; Noack, Identifikation der Aktionäre, neue Rolle der Intermediäre – zur Umsetzung der Aktionärs-Richtlinie II, NZG 2017, 561; Noack/Zetzsche, Vom Aktienbankrecht zum Aktienintermediärsrecht, in: Festschrift für Klaus J. Hopt, 2020, S. 863; Pälicke, Die Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie in Bezug auf Geschäfte börsennotierter Unternehmen mit deren Großaktionär, Der Konzern 2018, 369; Paschos/Goslar, Der Regierungsentwurf des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II), AG 2019, 365; Paschos/Goslar, Der Referentenentwurf des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) aus Sicht der Praxis, AG 2018, 857; Pospiech/Reichenberger, Aktionärsidentifikation und Interaktion, NJW-Spezial 2020, 655; Rieckers, Umsetzung der geänderten Aktionärsrechterichtlinie, BOARD 2018, 87; Schmidt, J., Die Umsetzung der Aktionärsrechte-Richtlinie 2017: der Referentenentwurf für das ARUG II, NZG 2018, 1201; Spindler, Gesellschaftsrecht und Digitalisierung, ZGR 2018, 17; Stiegler, Pflicht zur Aktionärsidentifizierung durch die Hintertür?, AG 2021, R 86; Stiegler, Shareholder Identification and Transmission of Information – Imbalance between Shareholders’ Anonymity and Engagement?, EBLR 30 (2019) 763; Stiegler, Aktionärsidentifizierung nach ARUG II, WM 2019, 620; Teichmann, Die Anwendbarkeit des ARUG II auf die KGaA, in: Festschrift für Gerd Krieger, 2020, S. 993; Wentz, Das Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie – von der Aktionärsrechterichtlinie über den Referentenentwurf zum Regierungsentwurf, WM 2019, 906; Zetzsche, Aktionärsidentifikation, Aktionärslegitimation und das Hauptversammlungsverfahren nach ARUG II, AG 2020, 1; Zetzsche, Know Your Shareholder, der intermediärsgestützte Aktionärsbegriff und das Hauptversammlungsverfahren, ZGR 2019, 1; Zimmermann, Begutachtungsentwurf zur Aktionärsrechte-Richtlinie veröffentlicht, ecolex 2019, 431; Zipperle/Lingen, Das Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie im Überblick, BB 2020, 131.

Übersicht I. Grundlagen ........................................ 1 1. Europäischer Hintergrund ................. 1

2. Entstehungsgeschichte ....................... 2 3. Regelungsgegenstand und -zweck ..... 3

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Informationsanspruch der Gesellschaft gegenüber Intermediären

II. Anwendungsbereich ........................ 6 III. Begriffsbestimmungen ..................... 9 IV. Recht auf Aktionärsidentifizierung (§ 67d Abs. 1, Abs. 2) ............ 12 1. Grundlage ......................................... 12 2. Informationsanspruch der Gesellschaft ...................................... 15 3. Informationsverpflichtete ............... 21 V. Weiterleitungspflicht der Intermediäre (§ 67d Abs. 3) ................... 29 I.

Grundlagen

1.

Europäischer Hintergrund

VI. Informationsübermittlung durch den Letztintermediär (§ 67d Abs. 4) ................................... 35 VII. Weiterleitungs- und Übermittlungspflicht bei EU-Gesellschaften (§ 67d Abs. 5) .................... 40 VIII. Beauftragung Dritter ................... 41 IX. Rechtsfolgen von Verstößen .......... 42

1 § 67d basiert ebenfalls auf den zugrunde liegenden Bestimmungen der Aktionärsrechterichtlinie (ARRL).1) § 67d im Konkreten liegt den Regelungen des Art. 3a der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARRL II)2) zugrunde.3) Die Norm verweist weiterhin auf einzelne Bestimmungen der von der Europäischen Kommission im September 2018 erlassenen Durchführungsverordnung (EU) 2018/12124) (DVO (EU) 2018/1212). Diese sind als unmittelbar geltendes europäisches Recht folglich umfassend zu beachten (zur diesbezüglich richtlinien- bzw. verordnungskonformen Auslegung siehe auch § 67a Rz. 5). 2.

Entstehungsgeschichte

2 § 67d wurde im Zuge der Verabschiedung des ARUG II5) am 12.12.2019 mit Wirkung zum 1.1.2020 ins AktG eingefügt (ausführlich zur Entstehungsgeschichte auch § 67a Rz. 6 ff.) Nach § 26j Abs. 4 EGAktG sind die Bestimmungen des § 67d ab dem 3.9.2020 anzuwenden und gelten somit erstmals für Hauptversammlungen, die nach diesem Datum einberufen werden. 3.

Regelungsgegenstand und -zweck

3 Die Wahrnehmung von Aktionärsrechten setzt die eindeutige Aktionärsidentifikation voraus.6) Da Aktien in der Regel nicht direkt, sondern über eine Kette von Intermediären gehalten werden, erschwerte die bisher vorherrschende Verwahrpraxis diese Identifikation häufig.7) Die Gesellschaft hat daher meist keinen unmittelbaren Kontakt zu ihrem Aktionär, wodurch ein Anspruch gegen diesen auf Identifikation nicht ohne Weiteres umzusetzen ist. Um insofern die Kommunikation der Gesellschaft mit ihren Aktionären zu ver_____________ 1)

2)

3) 4)

5) 6) 7)

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Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften (Aktionärsrechterichtlinie – ARRL), ABl. (EU) L 184/17 v. 14.7.2007. Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre (Zweite Aktionärsrechterichtlinie – ARRL II), ABl. (EU) L 132/1 v. 20.5.2017. Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 1; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67d AktG Rz. 2. Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 der Kommission v. 3.9.2018 zur Festlegung von Mindestanforderungen zur Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die Identifizierung der Aktionäre, die Informationsübermittlung und die Erleichterung der Ausübung der Aktionärsrechte, ABl. (EU) L 223/1 v. 4.9.2018. Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2015, 2637. Zweifelnd jedoch zum Regelungsansatz Noack, ZHR 183 (2019) 105, 139. Vgl. nur Möslein/Omlor/Urbach, ZIP 2020, 2149, 2154.

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Informationsanspruch der Gesellschaft gegenüber Intermediären

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bessern und damit letztlich deren unternehmerisches Engagement zu fördern,8) sieht die zugrunde liegende ARRL das Recht9) der Gesellschaft vor, ihre Aktionäre zu identifizieren („know your shareholder“)10) und Intermediäre zur Mitwirkung bei der Durchsetzung dieses Rechts zu verpflichten.11) Der Aktionärsidentifikation kommt dabei vor allem bei Inhaberaktionären Bedeutung zu, da (abgesehen von den Mitteilungspflichten der §§ 33 ff. WpHG) diese anders als die im Aktienregister eingetragen Namensaktionäre der Gesellschaft grundsätzlich unbekannt sind.12) In Umsetzung des Art. 3a ARRL II sieht § 67d dabei u. a. vor, dass eine börsennotierte 4 Gesellschaft von einem Intermediär, der Aktien der Gesellschaft verwahrt, Informationen über die Identität der Aktionäre verlangen kann.13) Der Informationsanspruch der Gesellschaft erstreckt sich dabei gemäß § 67d Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 ggf. auch auf die Identität der einzelnen Intermediäre und damit die Verwahrkette als solche (siehe auch Rz. 17). Nach der Gesetzesbegründung soll damit von der Mitgliedstaatenoption des Art. 3a Abs. 3 Unterabs. 3 ARRL II Gebrauch gemacht werden.14) Obgleich eine entsprechende Mitteilungspflicht des betroffenen Intermediärs aus praktischer Sicht nicht zwingend erforderlich erscheint, könnte es dennoch der Gesellschaft im Zweifel helfen, durch unmittelbare Nachfrage bei mehreren Intermediären ihren Aktionär zu identifizieren. Faktisch stellt es sich jedoch als ein nur ergänzendes Instrumentarium der Gesellschaft dar, da nach § 67d Abs. 3 ohnehin bereits eine Weiterleitungsverpflichtung des betreffenden Intermediärs besteht. Dennoch kann das Informationsverlangen bezogen auf das nächsten Kettenmitglied für die Gesellschaft nützlich sein, insbesondere wenn ein gewisser Zeitdruck besteht und der betroffene Intermediär seine Pflicht zur fristgerechten Weiterleitung an das nächste Kettenmitglied nicht nachgekommen ist. Obgleich bislang weder auf europäischer noch auf nationaler Ebene angelegt, könnten in 5 Zukunft auch blockchainbasierte Systeme die eindeutige Aktionärsidentifizierung durch die Gesellschaft vereinfachen.15) Derzeit fehlen allerdings noch entsprechende gesetzliche Vorgaben bzw. Vorhaben. II.

Anwendungsbereich

Ebenso wie § 67a, § 67b und § 67c gelten die Vorgaben des § 67d nur für börsennotierten 6 Gesellschaften i. S. des § 3 Abs. 2 (generell zum sachlichen Anwendungsbereich siehe § 67a Rz. 16 ff.; zur Anwendbarkeit in Bezug auf EU-Gesellschaften siehe Rz. 40). Über Art. 9 Abs. 1 lit. c Ziff. ii SE-VO § 67d darüber hinaus für börsennotierte europäische _____________ 8) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 1; Foerster, AG 2019, 17, 19; Einsele, JZ 2019, 121; Kalss, ZGR 2020, 217, 236; Stiegler, WM 2019, 620. 9) Kritisch zum Vorliegen eines „allgemeines Rechts“ der Gesellschaft Bayer/Illhardt in: MünchKommAktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 1; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67d Rz. 5. 10) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67d Rz. 1.; Cichy/Krawinkel, DB 2020, 602; Noack, ZHR 183 (2019) 105, 139; Pospiech/Reichenberger, NJW-Spezial 2020, 655. 11) Zur Neuregelung des Art. 3a Aktionärsrechte-Richtlinie Eggers/de Raet, AG 2017, 464; Lutter/Bayer/ J. Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, Rz. 29.24 ff.; Noack, NZG 2017, 561; Foerster, AG 2019, 17. 12) Vgl. auch Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67d AktG Rz. 2; Leyens, ZGR 2019, 544, 585; Merkt in: FS Vetter, 2019, S. 447, 458. 13) Vgl. dazu J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1214; Grobecker/Wagner, Der Konzern 2018, 419; Paschos/ Goslar, AG 2018, 857, 858; Foerster, AG 2019, 17 ff.; Zetzsche, ZGR 2019, 1, 14; Einsele, JZ 2019, 121, 124. 14) Vgl. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 75; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67d Rz. 49; Stiegler, WM 2019, 620, 627. 15) Noack, ZHR 183 (2019) 105, 139; Spindler, ZGR 2018, 17, 50; Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 13; Möslein/Omlor/Urbach, ZIP 2020, 2149, 2154.

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Informationsanspruch der Gesellschaft gegenüber Intermediären

Aktiengesellschaften (SE) mit Sitz in Deutschland16) sowie über § 278 Abs. 3 für die börsennotierte KGaA.17) 7 Nicht von § 67d erfasst sind Gesellschaften, die als solche zwar börsenfähig sind, jedoch ihre Aktien (bislang) nur im Freiverkehr und damit nicht am geregelten Markt anbieten.18) Im RefE zum ARUG II19) wurde es nicht-börsennotierten Gesellschaften noch freigestellt, ob sie in ihre Satzung ebenfalls ein Auskunftsrecht der Gesellschaft gegenüber den Intermediären aufnehmen. § 67d Abs. 6 AktG-RefE sah insofern ein entsprechendes Opt-in-Recht für nicht-börsennotierte Gesellschaften vor. Dies ist allerdings im RegE20) und damit auch in der verabschiedeten Gesetzesfassung ersatzlos gestrichen wurden. Für nicht-börsennotierte Gesellschaften besteht daher auch nicht die Möglichkeit, den Informationsanspruch nach § 67d Abs. 1 durch eine entsprechende Satzungsregelung zu begründen.21) 8 Auf sachlicher Ebene gilt § 67d sowohl für Namens- als auch Inhaberaktien.22) Eine Beschränkung insbesondere des Identifikationsrechts der Gesellschaft (siehe dazu Rz. 13) auf Inhaberaktien wäre auch nicht mit den Vorgaben der ARRL II vereinbar gewesen, da diese in gleicher Weise Namens- wie Inhaberaktien umfasst.23) III.

Begriffsbestimmungen

9 In § 67d sind wiederum vor allem die Begriffe des Aktionärs, des Intermediärs (in der Kette) und die des Letztintermediärs maßgebend. Aufgrund der inhaltlichen wie systematischen Verbindung zu § 67a sind dabei jeweils die Legaldefinitionen innerhalb des § 67a einschlägig. 10 Der Aktionärsbegriff ist nicht gesetzlich definiert. Im Rahmen der §§ 67a ff. handelt es sich jedoch um den „wahren“24) bzw. „wirklichen“25) Anteilsinhaber (siehe bereits § 67a Rz. 42). Für die Zwecke des § 67d ist daher auf die dingliche Rechtsinhaberschaft abzustellen.26) Gemäß der Gesetzesbegründung sind auch Kapitalverwaltungsgesellschaften ggf. als Aktionäre anzusehen (nicht jedoch deren Anleger)27).28) Insbesondere Treugeber

_____________ 16) Zu § 67a: Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 17; K. Schmidt/ Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 62. 17) Teichmann in: FS Krieger, 2020, S. 993, 996; zu § 67a: Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 17; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 62. 18) Stiegler, WM 2019, 620, 621; allgemein auch OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 19.6.2017 – 5 U 150/16, ZIP 2017, 1714, 1715. 19) RefE ARUG II v. 11.10.2018, abrufbar unter https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/ DE/Aktionaersrechterichtlinie_II.html (Abrufdatum: 23.6.2022). 20) RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739. 21) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 4. 22) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 4; J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1214; Foerster, AG 2019, 17, 20; Paschos/Goslar, AG 2018, 857, 858; Stiegler, WM 2019, 620, 621. 23) Eggers/de Raet, AG 2017, 464, 469; Noack, NZG 2017, 561, 567; Stiegler, WM 2019 620, 621. 24) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 60. 25) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 58; a. A. Noack/Zetzsche in: FS Hopt, 2020, S. 863, 864. 26) Zu § 67a: Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 38; Cahn in: BeckOGKAktR, § 67a AktG Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 155; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67a Rz. 20. 27) K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67d Rz. 19. 28) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 67; Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 18.

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Informationsanspruch der Gesellschaft gegenüber Intermediären

§ 67d

sind ebenfalls nicht als Aktionäre zu betrachten.29) Dies gilt insofern generell für wirtschaftliche Eigentümer (beneficial owner) der Aktien.30) Intermediär ist „eine Person, die Dienstleistungen der Verwahrung oder der Verwaltung von 11 Wertpapieren oder der Führung von Depotkonten für Aktionäre oder andere Personen erbringt, wenn die Dienstleistungen im Zusammenhang mit Aktien von Gesellschaften stehen, die ihren Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum haben“ (§ 67a Abs. 4; siehe dazu § 67a Rz. 22 ff.). Intermediär in der Kette ist ein Intermediär, „der Aktien der Gesellschaft für einen anderen Intermediär verwahrt“ (§ 67a Abs. 5 Satz 1; siehe dazu § 67a Rz. 30 ff.). Letztintermediär ist, „wer als Intermediär für einen Aktionär Aktien einer Gesellschaft verwahrt“ (§ 67a Abs. 5 Satz 2; siehe dazu § 67a Rz. 33 ff.). IV.

Recht auf Aktionärsidentifizierung (§ 67d Abs. 1, Abs. 2)

1.

Grundlage

Gemäß Art. 3a Abs. 1 Satz 1 der zugrunde liegenden ARRL II müssen börsennotierte Ge- 12 sellschaften „das Recht haben, ihre Aktionäre zu identifizieren“ (sog. „know your shareholder“).31) Die Mitgliedstaaten dürfen daher grundsätzlich keine nationalen Maßnahmen und Rechtsvorschriften vorsehen oder beibehalten, die diesen Auskunftsanspruch der Gesellschaft unmittelbar oder mittelbar einschränken. Im Sinne der Verleihung praktischer Wirksamkeit der Regelung müssen die Mitgliedstaaten vielmehr den ihrem Recht unterfallenden Börsengesellschaften nicht nur eine gesetzliche Grundlage für das Recht auf Aktionärsidentifizierung bereitstellen, sondern auch die mögliche Ausübung dieses Rechts gewährleisten.32) § 67d sieht in seiner verabschiedeten Fassung ein entsprechendes, gesetzlich verankertes 13 Recht der Gesellschaft gegenüber ihren Aktionären allerdings nicht explizit vor.33) § 67d bezieht sich nur auf den Informationsanspruch der Gesellschaft gegenüber den Intermediären (vgl. § 67d Abs. 1, dazu Rz. 15 ff.), die Aktien für natürliche oder juristische Personen verwahren. Der Fall, in dem kein vermittelnder Intermediär vorhanden ist und das Informationsrecht direkt gegenüber dem Aktionär ausgeübt werden soll, ist insofern nicht angesprochen.34) Bei Namensaktien ist dies in der Praxis allerdings problemlos, da nach § 67 Abs. 1 Satz 1, 2 Namensaktien ins Aktienregister einzutragen sind und die Aktionäre eine entsprechende Mitteilungspflicht gegenüber der Gesellschaft trifft. Obgleich der praktische Anwendungsbereich daher gering ist, muss das Recht der Gesellschaft auf Aktionärsidentifizierung auch gegenüber Besitzern von Inhaberaktien, die nicht durch einen Intermediär verwahrt werden, sichergestellt sein.35)

_____________ 29) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 18; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67d AktG Rz. 8; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67d Rz. 8. 30) Einsele, JZ 2019, 121, 124; Stiegler, WM 2019, 620, 622; Zetzsche, ZGR 2019, 1, 11. 31) Vgl. in Bezug auf das ARUG II Einsele, JZ 2019, 121; Zetzsche, ZGR 2019, 1, 14. 32) Stiegler, WM 2019, 620, 622. 33) Anders explizit nach österreichischem Recht: „Gesellschaften haben das Recht“ (§ 179 Abs. 1 öBörseG), dazu Kalss, ZGR 2020, 217, 236; Kalss in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 109; Kalss, GesRZ 2020, 225. 34) Stiegler, WM 2019, 620, 622. 35) Stiegler, WM 2019, 620, 622.

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§ 67d

Informationsanspruch der Gesellschaft gegenüber Intermediären

14 Obgleich weder nach § 67d noch den zugrunde liegenden europäischen Vorgaben eine Pflicht zur Aktionärsidentifikation der Gesellschaft begründet wird,36) wurde durch die Einfügung des § 45b Abs. 9 EStG durch das sog. Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetz (AbzStEntModG)37) das entsprechende Recht der Gesellschaft in eine faktische Pflicht zur Aktionärsidentifizierung umgewandelt.38) Die neue Vorschrift soll erstmals für Erträge gelten, die den Aktionären nach dem 31.12.2024 zufließen. Rechtspolitisch ist die demnächst bestehende Verpflichtung zur Aktionärsidentifizierung nach § 45b Abs. 9 EStG allerdings im Ergebnis kritisch zu betrachten, da sie sich ohne weiteres nicht in das aktienrechtliche Gefüge eingliedern lässt.39) 2.

Informationsanspruch der Gesellschaft

15 In der Praxis werden Aktien an börsennotierten Gesellschaften in der Regel von Intermediären verwaltet. Die Gesellschaft hat daher meist keinen unmittelbaren Kontakt zu ihrem Aktionär, wodurch ein Anspruch gegen diesen auf Identifikation nicht ohne weiteres umzusetzen ist. Insofern befasst sich § 67d mit dem „Informationsanspruch der Gesellschaft gegenüber Intermediären“ i. R. der Aktionärsidentifizierung.40) Nach partieller Neugestaltung der Norm i. R. des RegE umfasst dies sowohl Informationen über den betroffenen Aktionär als auch über den nächsten Intermediär in einer Verwahrkette (zu Intermediärsketten siehe Rz. 29 ff.). 16 Gemäß § 67d Abs. 1 Satz 1 kann eine börsennotierte Gesellschaft von einem Intermediär, der Aktien der Gesellschaft verwahrt, Informationen über die Identität der Aktionäre und über den nächsten Intermediär verlangen. Die entsprechende Gesellschaft besitzt somit die Befugnis, von einem Intermediär, der Aktien dieser Gesellschaft verwahrt, bestimmte Informationen von den Aktionären zu verlangen, für den die Aktien von dem Intermediär verwahrt werden. Die Regelung dient dabei der Umsetzung von Art. 3a Abs. 2 ARRL II, wonach die Mitgliedstaaten sicherzustellen haben, dass die Intermediäre auf Antrag der Gesellschaft unverzüglich die Informationen über die Identität von Aktionären zu übermitteln haben.41) Sowohl nach deutschem Aktienrecht als auch europäischem Recht wird dabei keine Pflicht für die Gesellschaft statuiert, Aktionärsinformationen über Intermediäre einzuholen (siehe aber Rz. 14). Auch besteht kein Alternativverhältnis zur Regelung des § 67 Abs. 4 Satz 1, wonach die mitwirkenden Intermediäre in Bezug auf Namensaktien verpflichtet sind, der Gesellschaft die für die Führung des Aktienregisters erforderlichen Angaben zu übermitteln.42) 17 Im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens wurde § 67d Abs. 1 Satz 1 weiterhin dahingehend geändert, dass die Gesellschaft von einem Intermediär nicht nur Informationen über den betreffenden Intermediär, sondern auch über den nächsten Intermediär im Fall des dies_____________ 36) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 6; Kuntz, AG 2020, 18, 27; Cichy/Krawinkel, DB 2020, 602, 603; zum österreichischen Recht auch Kalss, ZGR 2020, 217, 236; Kalss in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 109; Kalss, GesRZ 2020, 225 ff. 37) Gesetz zur Modernisierung der Entlastung von Abzugsteuern und der Bescheinigung der Kapitalertragsteuer, BGBl. 2021, I Nr. 28 v. 8.6.2021. 38) Stiegler, AG 2021, R 86; Florstedt, BB 2021, 1757, 1759; Leuering/Rübner, NJW-Spezial 2021, 369. 39) DAI, Referentenentwurf eines Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetzes, Stellungnahme v. 23.12.2020, abrufbar unter https://die-dk.de/themen/stellungnahmen/dk-stellungnahme-zum-regierungsentwurf-des-abzugssteuerentlastungsmodernisierungsgesetzes/ (Abrufdatum: 15.3.2022); Stiegler, AG 2021, R 86, R 87; Florstedt, BB 2021, 1757, 1759. 40) Vgl. auch Zetzsche, ZGR 2019, 1, 5. 41) Offenbar auch auf die diesbezügliche Umsetzung von Art. 3a Abs. 1 Satz 1 ARRL II abstellend Paschos/ Goslar, AG 2018, 857, 858; zu Recht a. A. Foerster, AG 2019, 17, 18. 42) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 66; Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 4; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67d Rz. 12; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67d Rz. 13.

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Informationsanspruch der Gesellschaft gegenüber Intermediären

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bezüglichen Bestehens einer Verwahrkette verlangen kann. Ein generelles Recht der Gesellschaft auf anlassunabhängige Erfragung aller Verwahrketten über den Zentralverwahrer ist davon jedoch nicht gedeckt.43) Vertragliche Vertraulichkeitsvereinbarungen und/oder das sog. Bankgeheimnis können 18 dem Informationsanspruch der Gesellschaft aufgrund der Regelungen des § 67e Abs. 3 ebenfalls nicht entgegenstehen (siehe dazu auch § 67e Rz. 19 f.).44) Das Format und der Inhalt des Informationsverlangens richten sich gemäß § 67d Abs. 1 19 Satz 2 nach den Bestimmungen der DVO 2018/1212, d. h. nach den dortigen Art. 3 Abs. 1 DVO i. V. m. dessen Tabelle 1. Einem direkten Verweis auf die DVO 2018/1212 ist grundsätzlich nichts entgegenzuhalten, da die Verordnung als unmittelbar geltendes Recht in Bezug auf die Betroffenen gilt. Eine bestimmte Form ist für das Informationsverlangen der Gesellschaft betreffend der Aktionärsidentifizierung in den einschlägigen Passagen der DVO 2018/1212 nicht vorgesehen. Auch die Formvorschrift des Art. 2 Abs. 2 und Abs. 3 der DVO 2018/1212 ist diesbezüglich nicht anwendbar.45) Von der Mitgliedstaatenoption des Art. 3a Abs. 1 Satz 2 ARRL II, wonach die Mitglied- 20 staaten festlegen können, dass das Recht der Gesellschaft auf Aktionärsidentifikation nur bei einem Mindestprozentsatz, der 0,5 % nicht überschreitenden darf, an Aktien oder Stimmrechten eines Aktionärs an der Gesellschaft ausgeübt werden darf, hat der deutsche Gesetzgeber, anders als bspw. der österreichische Gesetzgeber,46) keinen Gebrauch gemacht.47) Insofern kann die Gesellschaft unabhängig von einem gesetzlich normierten Schwellenwert selbst entscheiden, ob sie bei Aktionären unter einer bestimmten Beteiligungsoder Stimmrechtshöhe von sich aus auf das Informationsverlangen verzichtet. Gleiches gilt in Bezug auf die Identifikation des nächsten Verwahrkettenmitglieds i. S. des § 67d Abs. 1 Satz 1 Alt. 2. 3.

Informationsverpflichtete

Gemäß § 67d Abs. 1 Satz 1 ist Verpflichteter des Informationsverlangens der Gesellschaft 21 der bzw. die beteiligte(n) Intermediär(e) i. S. des § 67a Abs. 5. Eine Beschränkung auf den ersten Intermediär in einer etwaigen Verwahrkette oder nur den Letztintermediär besteht nicht und die Gesellschaft als solches ist auch nicht vorab verpflichtet, den Intermediär zu ermitteln, der tatsächlich Aktien der Gesellschaft für einen Aktionär verwahrt.48) Andernfalls würde auch die Regelung des § 67d Abs. 1 Satz 1 Alt. 2, wonach bezüglich des nächsten Intermediärs als Kettenmitglied ein Informationsanspruch besteht, wenig Sinn ergeben. Unter Berücksichtigung von § 67a Abs. 4 ist ein Intermediär jedoch nur insofern _____________ 43) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 4; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67d Rz. 20. 44) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 12; Stiegler, WM 2019, 620, 628; zudem aus europäischer Sicht Eggers/de Raet, AG 2017, 464, 469; Noack, NZG 2017, 561 562; Zetzsche, ZGR 2019, 1, 11. 45) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 12; für eine entsprechende Anwendung jedoch K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67d Rz. 8; i. E. wohl auch Merkt, in: FS Vetter, S. 447, 456. 46) Dazu Kalss, ZGR 2020, 217, 236; Kalss in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 110; s. überblicksartig zur entsprechend Umsetzung in der EU ESMA, National thresholds for shareholder identification under the Revised Shareholder Rights Directive, v. 31.8.2020, ESMA32-380-143, abrufbar unter https://www.esma.europe.eu/document/national-thresholds-shareholder-identification-underrevised-srd (Abrufdatum: 15.3.2022). 47) Insofern befürwortend J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1215; Noack, NZG 2017, 561, 563; Stiegler, WM 2019, 620, 623; Zetzsche, ZGR 2019, 1, 16. 48) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 66; Kuntz, AG 2020, 18, 27; Zetzsche, ZGR 2019, 1, 15.

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Informationsanspruch der Gesellschaft gegenüber Intermediären

verpflichtet, wie er Aktien eines dem deutschen Recht unterliegenden Emittenten verwahrt.49) Der Sitz bzw. das Gesellschaftsstaut des Intermediärs selbst ist unerheblich. 22 Der tatsächliche Aktionär (sofern dieser seinerseits nicht ebenfalls Intermediär ist), wird dem Wortlaut des § 67d nach nicht verpflichtet, die von der Gesellschaft angeforderten Informationen an die Gesellschaft zu übermitteln.50) Gleiches wird insofern für die Informationsübermittlung an den beteiligten Letztintermediär angenommen.51) In der Tat gibt dies weder der Wortlaut noch die einschlägige Regierungsbegründung her. Unklar ist in diesem Zusammenhang allerdings, ob nicht die zugrunde liegenden europäischen Wertungen eine solche Aktionärsverpflichtung vorsehen und damit auch auf nationaler Ebene gebieten. Dies ist, wenngleich bislang nicht abschließend geklärt und auch der Wortlaut des zugrunde liegenden Art. 3a ARRL II dies nicht explizit vorgibt,52) im Ergebnis durchaus zu bejahen.53) Insofern kommt auch das deutsche Recht dieser Verpflichtung nicht vollständig nach.54) 23 Die Übermittlungs- bzw. im Fall von Intermediärsketten Weiterleitungspflicht des (Letzt-)Intermediärs ist von dem Informationsrecht der Gesellschaft nach § 67d Abs. 1 zu unterscheiden, auch wenn beide miteinander verbunden sind (ohne Antrag der Gesellschaft auf Information, keine Übermittlungspflicht des betroffenen Intermediärs). Der Informationsantrag der Gesellschaft ist dabei sowohl situations- als auch stichtagsunabhängig, so dass grundsätzlich jederzeit die entsprechenden Informationen vom Intermediär verlangt werden können und er diese zu übermitteln hat.55) Grenzen bestehen grundsätzlich nur i. R. der allgemeinen Treuepflicht.56) 24 Die Informationsübermittlungspflicht des Intermediärs besteht generell nur dann, wenn vorab eine entsprechende Anfrage durch die Gesellschaft erfolgte. Welche Informationen von dem betroffenen Intermediär dabei an die Gesellschaft auf Anfrage zu übermitteln sind, ergibt sich aus § 67d Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 2 DVO 2018/1212 i. V. m. Tabelle 2 C. Dies umfasst insofern den Namen bzw. die eindeutige Kennung des Aktionärs sowie die Anschrift und ggf. die E-Mail-Adresse des Aktionärs. Steht dabei eine Aktie mehreren Berechtigten zu, sind diese mit den entsprechenden Informationen zu nennen (§ 67d Abs. 2 Satz 3). Handelt es sich beim Aktionär um eine nicht im Handelsregister eingetragene Gesellschaft, aus deutscher Sicht also insbesondere ggf. die GbR, sind gemäß § 67d Abs. 2 Satz 2 deren Gesellschafter mit den Informationen nach § 67d Abs. 2 Satz 1 zu nennen. Sollte es sich bei diesen wiederum um nicht eingetragene Gesellschaften handeln, sind ebenfalls jeweils deren Gesellschafter anzugeben.57) In Bezug auf sonstige (ausländische) nichtrechtsfähige und/oder nicht eingetragene Rechtsgebilde (z. B. ggf. Stiftungen, Trusts etc.) sind zumindest solche Angaben zu machen, die eine zweifelsfreie Identifizierung ermöglichen.58) _____________ 49) Zetzsche, AG 2020, 1, 4. 50) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 9; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67d Rz. 5; Kuntz, AG 2020, 18, 27; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67d Rz. 5. 51) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 9, Rz. 35. 52) Eggers/de Raet, AG 2017, 464, 472; Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 34. 53) Stiegler, EBLR 2019, 763, 768. 54) Foerster, AG 2019, 17, 18; Stiegler, WM 2019, 620, 622; a. A. Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67d Rz. 5. 55) Kritisch insofern zum deutschen Recht Foerster, AG 2019, 17, 18; Stiegler, WM 2019, 620, 622. 56) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 6; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67d Rz. 14; Noack, NZG 2017, 561, 564. 57) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 21. 58) Vgl. auch Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 67.

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Informationsanspruch der Gesellschaft gegenüber Intermediären

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Nach dem RefE zum ARUG II waren noch allgemeine Informationen zur Person des 25 Aktionärs sowie zu den gehaltenen Aktien zu übermitteln. Anstelle von „Informationen“ war im RefE noch von „Angaben“ die Rede. Die diesbezügliche Anpassung an die DVO 2018/1212 im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens hatte jedoch keine materielle Relevanz und war nur formaler Natur.59) Der Gesetzeswortlaut listet nunmehr nicht mehr die konkreten Aktionärsinformationen auf, sondern es wird vielmehr auf Art. 3 Abs. 2 i. V. m. Tabelle 2 C. der DVO 2018/1212 direkt verwiesen. Weiterhin hatte nach dem RefE noch der Intermediär Angaben zu den gehaltenen Aktien 26 des betroffenen Aktionärs gegenüber der Gesellschaft zu übermitteln. Dies ist ebenfalls durch den Verweis auf die DVO 2018/1212 ersetzt wurden. Auf europäischer Ebene wird in diesem Zusammenhang differenziert, welche Angaben hierzu zwingend gehören. Obligatorisch ist nach Art. 2 lit. j Ziff. ii ARRL II die Übermittlung der Anzahl der gehaltenen Aktien des betroffenen Aktionärs. Dies spiegelt auch Tabelle 2 C. Nr. 11 der DVO 2018/ 1212 wider. Der prozentuale Stimmrechts- oder Kapitalanteil ist jedoch nicht zu übermitteln.60) Ferner waren im RefE noch die Angabe der Gattung der gehaltenen Aktien oder das 27 Datum, ab dem die Aktien gehalten werden, anzugeben. Deutschland hätte dies jedoch nicht gesetzlich vorschreiben dürfen,61) denn die entsprechenden Informationen sind nur dann von dem Intermediär an die Gesellschaft zu übermitteln, wenn die Gesellschaft die entsprechenden Informationen anfordert (Art. 2 lit. j Ziff. iii ARRL II). Insofern wurde nunmehr lediglich auf die DVO 2018/1212 verwiesen.62) Fraglich ist, ob die Gesellschaft selbst noch weitere, über § 67d Abs. 2 i. V. m. Art. 3 28 Abs. 2 i. V. mit Tabelle 2 C. der DVO 2018/1212 hinausgehende Angaben über ihre Aktionäre verlangen darf. Im Ergebnis ist dies zu verneinen.63) Das Recht der Gesellschaft beschränkt sich im Grundsatz auf die in § 67d Abs. 2 genannten Angaben. Dies intendieren auch die europäischen Vorgaben,64) da die in Bezug genommenen DVO 2018/ 1212 unmittelbar verbindlich ist. Faktisch könnte die Gesellschaft entsprechend weitergehende Informationen natürlich trotzdem abfragen, eine Weiterleitung/Übermittlung durch den Intermediär bzw. Letztintermediär wäre dann jedoch freiwillig.65) V.

Weiterleitungspflicht der Intermediäre (§ 67d Abs. 3)

Aktien von börsennotierten Gesellschaften werden häufig über Verwahrketten von 29 Intermediären gehalten.66) Damit die Gesellschaft ihre Aktionäre auch bei entsprechenden Verwahrketten hinreichend identifizieren kann, bedarf es weitreichender Pflichten sowohl des ersten Intermediärs in der Kette als auch der übrigen beteiligen Intermediäre. § 67d Abs. 3 sieht in diesem Zusammenhang vor, dass das Informationsverlangen einer Gesellschaft auf Aktionärsidentifikation von einem Intermediär an den jeweils nächsten Intermediär weiterzuleiten ist, bis der Letztintermediär erreicht ist. _____________ Stiegler, WM 2019, 620, 624. Zetzsche, ZGR 2019, 1, 19. Kritisch im Hinblick auf ErwG 5 ARRL II; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67d Rz. 27. Stiegler, WM 2019, 620, 624. Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 17; Bork, NZG 2019, 738, 740; Stiegler, WM 2019, 620, 624; Stiegler, EBLR 2019, 763, 768. 64) Vgl. Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 37. 65) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 17; Stiegler, WM 2019, 620, 624. 66) Vgl. ErwG 4 ARRL II; J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1214; Paschos/Goslar, AG 2018, 857, 858.

59) 60) 61) 62) 63)

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Informationsanspruch der Gesellschaft gegenüber Intermediären

30 Ein zur Weiterleitung verpflichteter Intermediär wird dabei auch dann nicht von der entsprechenden Pflicht befreit, wenn der betroffene Aktionär die erforderlichen Daten nicht zur Verfügung stellt oder auch einer Weiterleitung dieser widerspricht.67) Ist dies der Fall, hat der Intermediär dies entsprechend zu vermerken bzw. dem nächsten Intermediär oder der Gesellschaft zumindest mitzuteilen. 31 Die Weiterleitungspflicht eines Intermediärs hat dabei nur auf Antrag („Informationsverlangen“) der Gesellschaft zu erfolgen.68) Der erste Intermediär ist daher nicht verpflichtet, von sich aus die Informationen über den betreffenden Aktionär vom nachfolgenden Intermediär in der Kette bzw. vom Letztintermediär zu verlangen.69) Die Antragsweiterleitung hat solange innerhalb der Verwahrkette zum nächsten Intermediär zu erfolgen, bis der Antrag den Intermediär erreicht, der die verlangten Aktionärsinformationen aufgrund der Verwahrung der Aktien des betreffenden Aktionärs besitzt. Ist ein Intermediär gleichzeitig sowohl Kettenmitglied als auch zusätzlich Letztintermediär, weil er bspw. Aktien sowohl für Aktionäre als auch für andere Intermediäre verwahrt, hat er die Anfrage der Gesellschaft isoliert zu betrachten und insofern bezüglich des Aktionärs zu beantworten und ansonsten die Anfrage in der Verwahrkette entsprechend weiterzuleiten.70) 32 Weiterhin bestimmt § 67d Abs. 3, dass das Informationsverlangen der Gesellschaft „an den jeweils nächsten Intermediär“ weiterzuleiten ist. Die ARRL II sieht eine solche Weiterleitung nicht zwingend vor. Vielmehr spricht der Richtlinientext lediglich von der Übermittlung „zwischen den Intermediären“ und setzt nicht zwingend voraus, dass die Weiterleitung entlang der Verwahrkette zu erfolgen hat.71) Gemäß europäischer Vorgaben könnte daher auch ein Intermediär innerhalb der Kette bei der Antragsweiterleitung übersprungen werden, solange der übermittelnde Intermediär sicherstellen kann, dass dadurch die Antragsweiterleitung an den Intermediär, der die von der Gesellschaft verlangten Informationen besitzt, nicht gefährdet wird. Aus praktischer Sicht wird die Weiterleitung des Informationsverlangens entlang der Kette jedoch der Regelfall sein, sodass eine Weiterleitung an das jeweils nächste Kettenmitglied, wie sie in § 67d Abs. 3 geregelt ist, sowohl nachvollziehbar als auch richtlinienkonform ist, um den Informationserhalt der Gesellschaft angemessen sicherstellen zu können.72) 33 Hinsichtlich der für die Weiterleitung des Informationsverlangens einzuhaltenden Frist verweist § 67d Abs. 3 auf Art. 9 Abs. 6 der DVO 2018/1212. Danach ist der Antrag der Gesellschaft von einem Intermediär unverzüglich und spätestens bis zum Ende des Geschäftstags, an dem der Antrag eingegangen ist, zu übermitteln. Sofern der Antrag nach 16:00 Uhr eines Geschäftstags eingegangen ist, übermittelt der Intermediär die Information unverzüglich, spätestens aber bis 10:00 Uhr des folgenden Geschäftstags. Formell hat die Weiterleitung ferner gemäß Art. 2 Abs. 3 der DVO 2018/1212 in einem elektroni_____________ 67) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 20; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67d AktG Rz. 15; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67d Rz. 41; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67d Rz. 16. 68) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 25; Stiegler, WM 2019, 620, 625; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67d Rz. 27. 69) Zur zugrundeliegenden europäischen Regelung vgl. Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 51. 70) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 20; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67d AktG Rz. 15; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67d Rz. 27. 71) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 27; Jung/Stiegler in: Jung/ Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 51; Stiegler, EBLR 2019, 763, 774. 72) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67d Rz. 6; Stiegler, WM 2019, 620, 625; kritisch hingegen Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67d AktG Rz. 24.

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Informationsanspruch der Gesellschaft gegenüber Intermediären

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schen und maschinenlesbaren Format zu erfolgen, welches die Interoperabilität und vollautomatisierte Abwicklung ermöglicht und international geltenden Industriestandards entspricht.73) Hinsichtlich der Art der Weiterleitung des Informationsverlangens der Gesellschaft sah 34 § 67d Abs. 3 Satz 2 des RefE noch vor, dass eine Zuleitung über Medien genügt, bei denen davon ausgegangen werden kann, dass sie die Informationen in der gesamten EU und dem gesamten EWR verbreitet. § 67d Abs. 3 Satz 2 RefE wurde jedoch i. R. des Gesetzgebungsprozesses gestrichen. Die entsprechende Streichung erfolgte jedoch nicht ersatzlos. Vielmehr wurde § 67d Abs. 5 Satz 2 neu eingefügt, der u. a. bezüglich des Informationsverlangens der Gesellschaft § 67a Abs. 2 Satz 1 zur Anwendung bringt. Nach § 67a Abs. 2 Satz 1 können die Informationen auch durch beauftragte Dritte übermittelt werden. In Bezug auf die Weiterleitung des Informationsverlangens der Gesellschaft zwischen den Intermediären bedeutet dies, dass diese auch über Medien oder Mediendienstleister wie etwa den Bundesanzeiger oder den WM-Service bzw. vergleichbare Dienstleistungsangebote erfolgen kann.74) VI.

Informationsübermittlung durch den Letztintermediär (§ 67d Abs. 4)

Die zweite Säule, damit die Gesellschaft ihre Aktionäre identifizieren kann, ist die Pflicht 35 von Intermediären, die besitzenden Aktionärsinformationen an die Gesellschaft zu übermitteln. Andernfalls würde die Weiterleitungspflicht des Informationsverlangens gemäß § 67d Abs. 3 (siehe dazu Rz. 29 ff.) faktisch ins Leere laufen. Insofern sieht § 67d Abs. 4 Satz 1 vor, dass der Letztintermediär die Informationen zur Beantwortung des Informationsverlangens der Gesellschaft zu übermitteln hat. § 67d Abs. 4 Satz 1 soll dabei offenbar der Umsetzung von Art. 3a Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 1 Halbs. 2 ARRL II dienen, wonach die Mitgliedstaaten sicherzustellen haben, dass die Informationen über die Identität von Aktionären von demjenigen Intermediär direkt an die Gesellschaft übermittelt wird, der über die angeforderten Informationen verfügt.75) Anders als noch im RefE vorgesehen, hat die Übermittlung nicht mehr unverzüglich zu erfolgen, aber gemäß den Fristen der DVO 2018/1212; im Ergebnis also gleichwohl unverzüglich. Der Unterschied zwischen der europäischen Vorgabe und der deutschen Umsetzungs- 36 norm ist, dass § 67d Abs. 4 Satz 1 den Letztintermediär verpflichtet, der die Aktien für den Aktionär verwahrt. Die europäische Regelung stellt hingegen auf den Intermediär ab, der – als erster Intermediär – über die entsprechenden Aktionärsinformationen verfügt. Die Pflicht der Übermittlung von Aktionärsinformationen an die Gesellschaft kann daher prinzipiell jeden Intermediär treffen und nicht nur den, der die Aktien für den in Rede stehenden Aktionär hält.76) Verfügt ein Intermediär als Kettenmitglied daher anderweitig über die angefragten Aktionärsinformationen, obwohl er keine Aktien der anfragenden Gesellschaft für den Aktionär hält, besteht aus europäischer Sicht dennoch eine Übermittlungspflicht an die Gesellschaft. § 67d Abs. 4 Satz 1 ist insofern europarechtskonform auszulegen bzw. auszugestalten.77) _____________ 73) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 28; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67d AktG Rz. 26; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67d Rz. 29. 74) Vgl. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 66. 75) Vgl. auch Zetzsche, ZGR 2019, 1, 14. 76) Vgl. Zetzsche, ZGR 2019, 1, 15. 77) Kuntz, AG 2020, 18, 28; Stiegler, WM 2019, 620, 626; Paschos/Goslar, AG 2018, 857, 859; a. A. K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67d Rz. 38; wohl auch Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67d AktG Rz. 29; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67d Rz. 49.

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Informationsanspruch der Gesellschaft gegenüber Intermediären

37 Gemäß § 67d Abs. 4 Satz 2 ist der Letztintermediär nicht zur Informationsübermittlung an die Gesellschaft verpflichtet, wenn diese die Übermittlung der Aktionärsinformationen von einem anderen Intermediär in der Kette verlangt. Ausweislich der Gesetzesbegründung dient diese Regelung der Umsetzung von Art. 3a Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 ARRL II, wonach die Gesellschaft die Möglichkeit haben soll, von jedem Intermediär in der Kette Informationen über die Identität des betreffenden Aktionärs übermittelt zu bekommen.78) Tatsächlich unterscheidet sich jedoch die nationale Umsetzungsnorm von der europäischen Vorgabe. Zunächst betrifft Art. 3a Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 ARRL II als solches nicht das Recht der Gesellschaft, von uneingeschränkt jedem Intermediär in der Kette die Aktionärsinformationen zu verlangen. Dies umfasst partiell vielmehr die Mitgliedstaatenoption des Art. 3a Abs. 3 Unterabs. 2 ARRL II. Zudem sieht Art. 3a Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 ARRL II nur vor, dass die Gesellschaft die Aktionärsinformationen von den Intermediären erhalten können muss, die auch „über die Informationen verfüg[en]“. Diese Einschränkung sieht § 67d Abs. 4 Satz 2 nicht vor und geht damit weiter als aus europäischer Sicht gefordert.79) Gleichwohl ist die so verabschiedete Regelung im Grundsatz richtlinienkonform.80) Zum einen ist Art. 3a Abs. 3 ARRL II nur als Mindeststandard ausgestaltet und die Mitgliedstaaten können grundsätzlich strengere Anforderungen stellen. Zum anderen wird damit gleichzeitig von der Möglichkeit der Mitgliedstaatenoption des Art. 3a Abs. 3 Unterabs. 2 ARRL II Gebrauch gemacht, wonach die Mitgliedstaaten vorsehen können, dass die Gesellschaft auch von einem anderen Intermediär verlangen kann, die Aktionärsinformationen einzuholen und der Gesellschaft zu übermitteln. 38 Nach § 67d Abs. 4 Satz 2 müssen im Fall, dass die Gesellschaft einen bestimmten Intermediär in der Kette für die Informationsübermittlung bestimmt hat, alle nachfolgenden Intermediäre in der Kette die entsprechenden Aktionärsinformationen „die Kette hoch“ bis zu diesen Intermediär weiterleiten. Alternativ wurde durch den RegE ergänzt, dass der verpflichtende Intermediär auch den die Informationen fordernde Intermediär, wenn dieser nicht das vorherige Kettenmitglied ist, zu übermitteln hat. Im Zweifel trifft ein Kettenmitglied daher sowohl die Pflicht zur Weiterleitung des Informationsverlangens der Gesellschaft nach § 67d Abs. 3 als auch die Weiterleitung der Aktionärsinformation an den nächsthöheren Intermediär.81) 39 Der Gesetzgeber sieht die Regelung des § 67d Abs. 4 Satz 2 als Ausnahmebestimmung zur unmittelbaren Übermittlungspflicht nach § 67d Abs. 4 Satz 1 vor („[d]as gilt nicht“). Die ARRL II bestimmt dies in dieser Form jedoch nicht, sondern gibt unbenommen von der Mitgliedstaatenoption des Art. 3a Abs. 3 Unterabs. 2 ARRL II und der Möglichkeit des Informationserhalts nach Art. 3a Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 ARRL II vor, dass der die Aktionärsinformationen besitzende Intermediär diese direkt an die Gesellschaft zu übermitteln hat. Eine optionale Ausnahmebestimmung sieht die ARRL II insofern nicht vor.82) Es ist jedoch ebenfalls zu berücksichtigen, dass § 67d Abs. 4 Satz 3 eine Übermittlungspflicht des Intermediärs vorsieht, der von der Gesellschaft als übermittelnder Intermediär gewählt wurde, sobald er die entsprechenden Aktionärsinformationen von einem anderen Kettenmitglied erhalten hat. Im Ergebnis ist die Regelung des § 67d Abs. 4 Satz 2 daher dennoch insofern richtlinienkonform.83) _____________ 78) 79) 80) 81)

Vgl. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 75. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67d AktG Rz. 29; Stiegler, WM 2019, 620, 626. Stiegler, WM 2019, 620, 626. Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67d Rz. 6; Stiegler, WM 2019, 620, 626; wohl auch Cahn in: BeckOGKAktR, § 67d AktG Rz. 29. 82) Jung/Stiegler in: Jung/Krebs/Stiegler, Gesellschaftsrecht in Europa, § 30 Rz. 58. 83) Stiegler, WM 2019, 620, 627.

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Informationsanspruch der Gesellschaft gegenüber Intermediären

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VII. Weiterleitungs- und Übermittlungspflicht bei EU-Gesellschaften (§ 67d Abs. 5) Gemäß § 67d Abs. 5 Satz 1 gelten die voranstehenden Absätzen 1 bis 4 auch in Bezug auf 40 das Informationsverlangen einer börsennotierten Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der EU. Die Regelung entspricht insofern denen des § 67b Abs. 2 (siehe dazu § 67b Rz. 19 f.) und § 67c Abs. 2 Satz 5 (siehe dazu Rz. 31 f.)84) und zeigt den beabsichtigten weiten Anwendungsbereich der Regelungen, indem inländische Intermediäre unabhängig vom Sitz der betroffenen Gesellschaft und damit deren Aktionäre verpflichtet werden.85) Zweck davon ist wiederum die Sicherstellung der EU-weiten Funktionsfähigkeit des Übermittlungssystems. Da allerdings nur EU-Gesellschaften erfasst sind, sind Gesellschaften die dem Recht eines EWR-Staaten, Drittstaaten oder im Zuge des Brexit auch dem Vereinigten Königreich unterliegen, nicht umfasst. VIII. Beauftragung Dritter Gemäß § 67d Abs. 5 Satz 2 gilt die Regelung des § 67a Abs. 2 Satz 1 (siehe dazu § 67a 41 Rz. 54 ff.) für die einschlägigen Bestimmungen des § 67d entsprechend. Die Informationsanfrage der Gesellschaft sowie die Informationenübermittlung der Intermediäre kann daher jeweils auch durch beauftragte Dritte erfolgen.86) IX.

Rechtsfolgen von Verstößen

Gemäß § 405 Abs. 2a Nr. 2, 3 handelt jeder Intermediär ordnungswidrig mit der Konse- 42 quenz einer Geldbuße i. H. von bis zu 25.000 €, der die entsprechenden Information nicht, nicht richtig, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig weiterleitet oder übermittelt. Gleiches gilt gemäß § 405 Abs. 2a Nr. 5 für einen Intermediär, der ein Informationsverlangen nach § 67d Abs. 3 nicht, nicht richtig, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig weiterleitet. Darüberhinausgehende etwaige Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegenüber den Intermediär, der seinerseits Weiterleitungs- oder Übermittlungspflichten verletzt hat, würden allenfalls über § 823 Abs. 2 BGB in Betracht kommen und auch nur, sofern man die Regelungen der § 67d Abs. 3, 4 insofern als Schutzgesetz betrachten würde, was allerdings eher fernliegend erscheint.87) Dem Aktionär werden Verstöße der Intermediäre gegen ihre Pflichten aus § 67d jeweils 43 nicht zugerechnet.88) Einzig, sofern man wie hier eine gewisse Informationsbereitstellungspflicht der Aktionäre bejaht, ein Treupflichtverletzung gegenüber der die Informationen anfragenden Gesellschaft wäre denkbar, wenngleich unwahrscheinlich. Dadurch, dass zumindest aus aktienrechtlicher Sicht das Informationsverlangen der Ge- 44 sellschaft nur als Recht und nicht als Pflicht ausgestaltet ist, zieht eine mangelndes Informationsverlangen auch grundsätzlich keine straf- oder ordnungswidrigkeitsrechtlichen Folgen nach sich. Aber auch aus steuerrechtlicher Perspektive sind mit der Aktionärsidentifizierungspflicht gemäß des neuen § 45b Abs. 9 EStG (siehe dazu Rz. 14) in der Fassung des AbzStEntModG derzeit keine ordnungswidrigkeitsrechtlichen Konsequenzen für die betroffene Gesellschaft verbunden. _____________ 84) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 34; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67d AktG Rz. 33. 85) Stiegler, WM 2019, 620, 621; Zetzsche, ZGR 2019, 1, 11. 86) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 34; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67d AktG Rz. 34; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67d Rz. 53; Stiegler, WM 2019, 620, 625; K. Schmidt/ Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67d Rz. 53. 87) In diesem Sinne Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67d Rz. 8. 88) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67d AktG Rz. 35; Eggers/de Raet, AG 2017, 464, 472.

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Verarbeitung und Berichtigung personenbezogener Daten der Aktionäre

§ 67e Verarbeitung und Berichtigung personenbezogener Daten der Aktionäre Sascha Stiegler

(1) Gesellschaften und Intermediäre dürfen personenbezogene Daten der Aktionäre für die Zwecke der Identifikation, der Kommunikation mit den Aktionären, den Gesellschaften und den Intermediären, der Ausübung der Rechte der Aktionäre, der Führung des Aktienregisters und für die Zusammenarbeit mit den Aktionären verarbeiten. (2) 1Erlangen Gesellschaften oder Intermediäre Kenntnis davon, dass ein Aktionär nicht mehr Aktionär der Gesellschaft ist, dürfen sie dessen personenbezogene Daten vorbehaltlich anderer gesetzlicher Regelungen nur noch für höchstens zwölf Monate speichern. 2Eine längere Speicherung durch die Gesellschaft ist zudem zulässig, solange dies für Rechtsverfahren erforderlich ist. (3) Mit der Offenlegung von Informationen über die Identität von Aktionären gegenüber der Gesellschaft oder weiterleitungspflichtigen Intermediären nach § 67d verstoßen Intermediäre nicht gegen vertragliche oder gesetzliche Verbote. (4) Wer mit unvollständigen oder unrichtigen Informationen als Aktionär identifiziert wurde, kann von der Gesellschaft und von dem Intermediär, der diese Informationen erteilt hat, die unverzügliche Berichtigung verlangen. Literatur: Bork, Die Regelungen zu „know-your-shareholder“ im Regierungsentwurf des ARUG II, NZG 2019, 738; Cichy/Krawinkel, „Know Your Shareholder“ nach ARUG II – Inpflichtnahme der Intermediäre bei der Aktionärsidentifizierung und Informationsübermittlung, DB 2020, 602; Einsele, Inhaberaktien vs. Namensaktien: Publizität und Legitimation der Aktionäre, JZ 2019, 121; Foerster, Identifizierung der Aktionäre nach der Änderungsrichtlinie zur Aktionärsrechterichtlinie (2. Aktionärsrechte-RL) und dem Referentenentwurf ARUG II, AG 2019, 17; Illner/Hoffmann, Regierungsentwurf zum ARUG II: Bußgeld- und Haftungsrisiken und Folgen für die Hauptversammlung, ZWH 2019, 81; Koschmieder, Datenschutzrechtliche Vorgaben für die Verarbeitung von Aktionärsdaten, DB 2019, 2113; Kuntz, Kommunikation mit Aktionären nach ARUG II, AG 2020, 18; Kuntz, Digitale Kommunikation mit Aktionären und Investoren, ZHR 183 (2019) 190; Löschhorn, Notwendigkeit einer Datenschutzerklärung bei der Einladung zur Hauptversammlung von Aktiengesellschaften, AG 2018, R 319; Noack, Organisationspflichten und -strukturen kraft Digitalisierung Inhalt, ZHR 183 (2019) 105; Paschos/Goslar, Der Regierungsentwurf des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II), AG 2019, 365; Stiegler, Shareholder Identification and Transmission of Information – Imbalance between Shareholders’ Anonymity and Engagement?, EBLR 30 (2019) 763; Stiegler, Aktionärsidentifizierung nach ARUG II, WM 2019, 620; Teichmann, Die Anwendbarkeit des ARUG II auf die KGaA, in: Festschrift für Gerd Krieger, 2020, S. 993; Wentz, Offene Fragen der Informationsermittlung nach §§ 67a f. AktG, WM 2020, 957; Wentz, Das Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie – von der Aktionärsrechterichtlinie über den Referentenentwurf zum Regierungsentwurf, WM 2019, 906; Zetzsche, Aktionärsidentifikation, Aktionärslegitimation und das Hauptversammlungsverfahren nach ARUG II, AG 2020, 1; Zetzsche, Datenschutz und Hauptversammlung, AG 2019, 233.

Übersicht I. Grundlagen ....................................... 1 1. Europäischer Hintergrund und Entstehungsgeschichte ...................... 1 2. Regelungsgegenstand und -zweck .... 3 450

II. Anwendungsbereich ......................... 5 III. Begriffsbestimmungen ..................... 9 IV. Zulässigkeit der Datenverarbeitung (§ 67e Abs. 1) .......................... 11

Sascha Stiegler

Verarbeitung und Berichtigung personenbezogener Daten der Aktionäre V. Löschung personenbezogener Daten (§ 67e Abs. 2) ........................ 14 VI. Kein Verstoß gegen gesetzliche oder vertragliche Verbote (§ 67e Abs. 3) .................................... 19

§ 67e

VII. Berichtigungsanspruch (§ 67e Abs. 4) ................................... 21 VIII. Rechtsfolgen von Verstößen ...... 22

I.

Grundlagen

1.

Europäischer Hintergrund und Entstehungsgeschichte

§ 67e basiert ebenfalls auf den zugrunde liegenden Bestimmungen der Aktionärsrechte- 1 richtlinie1) (ARRL). § 67e im Konkreten liegt den Regelungen des Art. 3a Abs. 4 ARRL II2) zugrunde.3) § 67e wurde im Zuge der Verabschiedung des ARUG II4) am 12.12.2019 mit Wirkung zum 2 1.1.2020 ins AktG eingefügt5) (ausführlich zur Entstehungsgeschichte siehe auch § 67a Rz. 6 ff.). 2.

Regelungsgegenstand und -zweck

§ 67e regelt die Rechte und Pflichten der Gesellschaft und der beteiligten Intermediäre im 3 Zusammenhang mit der Verwendung personenbezogener Aktionärsdaten, die im Zusammenhang mit der Identifikation, der Kommunikation mit den Aktionären, den Gesellschaften und den Intermediären, der Ausübung der Rechte der Aktionäre, der Führung des Aktienregisters und für die Zusammenarbeit mit den Aktionären erhoben und verarbeitet werden. Dabei soll § 67e zum einen die datenschutzrechtliche Zulässigkeit der Verarbeitung der aktionärsbezogenen Daten sicherstellen.6) Zum anderen soll in diesem Zusammenhang und damit verbunden der entsprechende Schutz der persönlichen Daten der Aktionäre gewährleistet werden.7) Aus datenschutzrechtlicher Perspektive liegt der Bedeutungsschwerpunkt des § 67e un- 4 zweifelhaft auf persönlichen Daten von natürlichen Personen als Aktionären. Gleichwohl ist weder die deutsche noch die europäische Norm hierauf explizit beschränkt, sodass sie grundsätzlich auch für juristische Personen oder sonstige Personenvereinigungen gilt.8) Indes hat § 67e in Bezug vor allem auf juristische Personen als Aktionäre aufgrund der regelmäßig bereits öffentlichen Bekanntheit der entsprechenden Daten so gut wie keine _____________ 1)

2)

3) 4) 5) 6) 7) 8)

Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften (Aktionärsrechterichtlinie – ARRL), ABl. (EU) L 184/17 v. 14.7.2007. Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre (Zweite Aktionärsrechterichtlinie – ARRL II), ABl. (EU) L 132/1 v. 20.5.2017. Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 1; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 2. Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2637. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67e Rz. 1; Henssler/ Strohn-Paul, GesR, § 67e Rz. 1; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67e Rz. 2. Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67d Rz. 1; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 2. Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67e Rz. 1; Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67e Rz. 1. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67e Rz. 2; Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67e Rz. 2; Stiegler, WM 2019, 620, 627; Stiegler, EBLR 2019, 763 (779); a. A. Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67e Rz. 8; Zetzsche, AG 2019, 233, 234.

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Verarbeitung und Berichtigung personenbezogener Daten der Aktionäre

Relevanz. Zur Erhebung und Verarbeitung von persönlichen Daten des ggf. hinten dem Aktionär stehenden wirtschaftlich Berechtigten bildet § 67e indes (abgesehen etwaiger geldwäscherechtlichen Bestimmungen) keinesfalls eine einschlägige Rechtsgrundlage.9) II.

Anwendungsbereich

5 Ebenso wie die voranstehenden Bestimmungen der §§ 67a ff. gilt § 67e zunächst in Bezug auf börsennotierten Gesellschaften i. S. des § 3 Abs. 2. Im Unterschied zu den §§ 67a ff. gilt § 67e jedoch darüber hinaus auch für nicht-börsennotierte AGs.10) Dies gibt der RegE zum ARUG II explizit vor.11) Über Art. 9 Abs. 1 lit. c Ziff. ii SE-VO gilt § 67e ferner für die europäische Aktiengesellschaften (SE) mit Sitz in Deutschland12) sowie über § 278 Abs. 3 für die KGaA (jeweils unabhängig von einer Börsennotierung).13) 6 Obwohl dem Wortlaut des § 67e nach nur „Gesellschaften und Intermediäre“ berechtigt bzw. verpflichtet sind, sind die entsprechenden Vorgaben auch auf ggf. beauftragte Dritte, die personenbezogene Daten im Auftrag der Gesellschaft oder eines Intermediärs verarbeiten, entsprechend anzuwenden.14) Entsprechende Dritte sind dabei Auftragsverarbeiter i. S. des Art. 4 Nr. 8 DS-GVO.15) Insofern unterliegen diese aber insbesondere auch den Vorgaben des Art. 28 DS-GVO, sodass u. a. eine „allgemeine schriftliche Genehmigung“ zur Datenverarbeitung von der Gesellschaft bzw. dem Intermediär vorliegen muss.16) 7 Obgleich die Regelung des § 67e in einen systematischen Zusammenhang mit den anderen Normen der §§ 67a ff. steht, beschränkt sie sich (abgesehen von § 67e Abs. 3, der sich konkret auf die Aktionärsidentifikation gemäß § 67d bezieht) nicht nur auf die Verarbeitung personenbezogener Aktionärsdaten i. R. der jeweiligen Regelungsgehalte der §§ 67a – 67d. Vielmehr gilt sie generell in Bezug auf die in § 67e Abs. 1 genannten Aspekte.17) Dem Wortlaut der Norm zufolge also auch bezüglich „der Führung des Aktienregisters und für die Zusammenarbeit mit den Aktionären“. 8 Die Rechte und Pflichten der Gesellschaft, der Intermediäre und etwaiger Dritter als Auftragsverarbeiter gemäß den Vorgaben des § 67e gelten im Grundsatz unabhängig von den einschlägigen Vorschriften vor allem der DS-GVO in Bezug auf die betroffenen Aktionäre.18) Diese gelten daher grundsätzlich unvermindert fort.19) Insofern gelten auch

_____________ 9) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 4; Einsele, JZ 2019, 121, 124; Foerster, AG 2019, 17, 19; Stiegler, WM 2019, 620, 622. 10) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 1; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67e Rz. 8; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 2; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67e Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67e Rz. 1. 11) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 68. 12) Zu § 67a: Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 17; K. Schmidt/ Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 62. 13) Teichmann in: FS Krieger, S. 993, 996; zu § 67a: Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 17; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 62. 14) Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67e Rz. 2; Stiegler, WM 2019, 620, 627. 15) Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67e Rz. 2. 16) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67e Rz. 2. 17) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 4; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67e Rz. 2; Zetzsche, AG 2019, 233, 238. 18) Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67e Rz. 4; Zetzsche, AG 2019, 233, 234; aus europäischer Perspektive auch Stiegler, EBLR 2019, 763, 779. 19) Vgl. auch K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67e Rz. 5.

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Verarbeitung und Berichtigung personenbezogener Daten der Aktionäre

§ 67e

für die Art und Weise der Datenverarbeitung die Bestimmungen des allgemeinen Datenschutzrechts, insbesondere also die der DS-GVO.20) III.

Begriffsbestimmungen

Hinsichtlich der Bestimmung der in § 67e genutzten Begriffe bzw. in Bezug genommenen 9 Verwendungen kann zunächst auf die Definitionen in § 67a verwiesen werden (siehe § 67a Rz. 22 ff.). Dies ergibt sich bereits aus § 67e Abs. 1, der die entsprechenden Regelungspunkte der §§ 67a ff. und damit die einschlägigen Begriffsbestimmungen in Bezug nimmt. Weiterhin maßgebend für die Zwecke des § 67e (siehe zum Regelungszwecks auch Rz. 3 f.) 10 ist, was konkret unten den „personenbezogenen Daten“ der Aktionäre zu verstehen ist. Eine Legaldefinition findet sich dazu im AktG nicht. Aufgrund dessen, dass § 67e allerdings auch im Kontext der allgemeinen Bestimmungen der DS-GVO steht, erscheint es angebracht und auch zweckdienlich hier die dortige Begriffsbestimmung heranzuziehen.21) Gemäß Art. 4 Nr. 1 DS-GVO sind personenbezogene Daten alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person beziehen. Als identifizierbar wird eine natürliche Person angesehen, die direkt oder indirekt, insbesondere mittels Zuordnung zu einer Kennung wie einem Namen, zu einer Kennnummer, zu Standortdaten, zu einer Online-Kennung oder zu einem oder mehreren besonderen Merkmalen, die Ausdruck der physischen, physiologischen, genetischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität dieser natürlichen Person sind, identifiziert werden kann. IV.

Zulässigkeit der Datenverarbeitung (§ 67e Abs. 1)

§ 67e Abs. 1 gibt vor, dass personenbezogene Aktionärsdaten für die Zwecke der Identi- 11 fikation, der Kommunikation mit den Aktionären, den Gesellschaften und den Intermediären, der Ausübung der Rechte der Aktionäre, der Führung des Aktienregisters und für die Zusammenarbeit mit den Aktionären verarbeitet werden dürfen. Dies stellt eine Datenverarbeitungserlaubnis i. S. des Art. 6 Abs. 1 lit. c DS-GVO dar.22) Der Begriff der Datenverarbeitung bestimmt sich dabei ebenfalls gemäß der DS-GVO (Art. 4 Nr. 2 DSGVO).23) Daraus kann allerdings nicht geschlussfolgert werden, dass darüber hinaus zu anderen Zwecken grundsätzlich keine personenbezogenen Aktionärsdaten ohne Zustimmung des Betroffenen i. R. des § 67e erhoben und verarbeitet werden dürfen. Vielmehr kommt die Norm auch als Grundlage für die Verarbeitung von Aktionärsdaten durch die Gesellschaft in anderen Zusammenhängen in Betracht.24) So sind vor allem personenbezogene Aktionärsdaten im Zusammenhang mit der Einberufung und Vorbereitung der Hauptversammlung sowie damit verbundene Maßnahmen ebenfalls von § 67e Abs. 1 erfasst.25) _____________ 20) Vgl. ErwG 52 ARRL II; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 2; Zetzsche, AG 2019, 233, 234; s. a. Koschmieder, DB 2019, 2113 ff. 21) Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67e Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67e Rz. 1. 22) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67e Rz. 2; GrigoleitRachlitz, AktG, § 67e Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67e Rz. 3; Zetzsche, AG 2019, 233, 238. 23) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 3; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67e Rz. 2; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67e Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67e Rz. 14. 24) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 4; einschränkend hingegen Wentz, WM 2020, 957, 961. 25) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 9; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 4; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67e Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67e Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67e Rz. 14; Zetzsche, AG 2019, 233, 238.

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Verarbeitung und Berichtigung personenbezogener Daten der Aktionäre

12 In diesem Zusammenhang muss aber gleichwohl stets eine bestimmte Zweckbindung hinsichtlich der Erhebung und Verarbeitung der entsprechenden Daten vorliegen.26) Dies erfordert schon die DS-GVO. Die Datenverarbeitung zu einem Zweck, der nicht in § 67e Abs. 1 benannt ist, ist daher grundsätzlich verboten. Insbesondere die Datenerhebung und -verarbeitung zu werblichen Zwecken oder zur Kundengewinnung ist daher von § 67e Abs. 1 nicht erfasst.27) 13 In Bezug auf die Führung des Aktienregisters ergänzt § 67e Abs. 1 zudem die Regelung des § 67 Abs. 6 Satz 3, wonach die Gesellschaft die Registerdaten sowie andere mitgeteilten Daten für ihre Aufgaben im Verhältnis zu den Aktionären verwenden darf.28) V.

Löschung personenbezogener Daten (§ 67e Abs. 2)

14 Erlangt die Gesellschaft oder Intermediäre Kenntnis davon, dass ein Aktionär nicht mehr Aktionär der Gesellschaft ist, dürfen sie dessen personenbezogene Daten grundsätzlich nur noch für höchstens zwölf Monate speichern (§ 67e Abs. 2 Satz 1). Eine längere Speicherung durch die Gesellschaft ist zudem zulässig, solange dies für Rechtsverfahren erforderlich ist (§ 67e Abs. 2 Satz 1). Im Umkehrschluss ist eine längere Speicherfrist für betroffene Intermediäre diesbezüglich nicht zulässig. Die Regelungen zur Speicherdauer von Aktionärsdaten basiert auf Art. 3a Abs. 4 Unterabs. 2 ARRL II, wonach die Gesellschaft und Intermediäre die Aktionärsdaten nicht länger als zwölf Monate speichern dürfen, nachdem sie erfahren haben, dass die betreffende Person nicht mehr Aktionär ist.29) 15 Zeitlich maßgebend ist nach dem eindeutigen Wortlaut des § 67e Abs. 2 Satz 1 nicht der tatsächliche Verlust der Aktionärsstellung, sondern wann die Gesellschaft bzw. der Intermediär Kenntnis davon erlangt hat, dass der betreffende Aktionär kein solcher mehr ist.30) Nach h. A. ist dabei auch Kennenmüssen noch nicht ausreichend für den Fristbeginn31) und es besteht auch keine Nachforschungspflicht.32) 16 Die Löschung der Aktionärsdaten hat spätestens bis zum Ablauf der Zwölf-Monats-Frist zu erfolgen.33) Die teilweise vertretene Ansicht,34) dass die Löschung nur bis zum Ablauf der Frist eingeleitet werden muss, findet weder im Wortlaut der insofern eindeutigen europäischen wie deutschen Norm eine Stütze. 17 Die zwölfmonatige Speicherfrist gilt nicht ausnahmslos. Etwaige, auf europäischem Recht basierenden, längeren Speicherfristen beanspruchen weiterhin Geltung. Wie aus dem Wortlaut des zugrunde liegenden Art. 3a Abs. 4 Unterabs. 2 ARRL II jedoch erkennbar wird, sind rein nationale Regelungen im Hinblick auf eine längere Speicherfrist von _____________ 26) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 6. 27) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 12; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67e Rz. 3. 28) Bayer in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67 Rz. 165; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 67 Rz. 69. 29) Stiegler, WM 2019, 620, 627. 30) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 15; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 7; Stiegler, WM 2019, 620, 627. 31) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 16; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 8; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67e Rz. 3; Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67e Rz. 3; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67e Rz. 13; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67e Rz. 22; Wentz, WM 2020, 957, 962; kritisch hingegen (aus europäischer Sicht) Stiegler, WM 2019, 620, 627; Stiegler, EBLR 2019, 763, 779. 32) Vgl. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 69. 33) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 6; wohl auch Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67e Rz. 3. 34) So Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 15; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67e Rz. 26.

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Verarbeitung und Berichtigung personenbezogener Daten der Aktionäre

§ 67e

personenbezogenen (Aktionärs-)Daten hiervon grundsätzlich nicht erfasst.35) Der Wortlaut der europäischen Regelung bezieht sich ausdrücklich auf sektorspezifische Rechtsakte der Union. § 67e Abs. 2 Satz 1 ist nach diesem Verständnis daher nicht richtlinienkonform, da darin generell ein Vorbehalt zugunsten „anderer gesetzlicher Regelungen“ bestimmt ist.36) Vielmehr muss die gesetzliche Regelung, die eine längere Speicherfrist vorsieht, auf europäischem Recht beruhen, d. h. im Grundsatz entweder eine unmittelbar geltende Verordnung oder eine Umsetzungsnorm zu einer europäischen Richtlinie sein.37) Insbesondere handelsrechtliche Speicherfristen wie die der §§ 239 Abs. 1, 257 HGB sind als solches daher nicht von der Ausnahmeregelung des § 67e Abs. 2 Satz 1 umfasst.38) Praktisch mögen daher vor allem Streichungen oder Schwärzungen der persönlichen Daten ein probates Mittel sein, um insofern allen diesbezüglichen gesetzlichen Regelungen zu entsprechen. Eine über zwölf Monate hinausgehende Datenspeicherung ist gemäß § 67e Abs. 2 Satz 2 18 dann zulässig und möglich, wenn und solange dies für Rechtsverfahren erforderlich ist. Die Löschung hat in diesem Fall spätestens dann zu erfolgen, wenn der zugrunde liegende Zweck der Datenspeicherung i. S. des Art. 17 Abs. 1 lit. a DS-GVO weggefallen ist.39) Rechtsverfahren sind dabei alle Verfahren, die auf der Grundlage von Rechtsnormen vor Gerichten oder Behörden geführt werden.40) Dazu gehören insbesondere Spruchverfahren und Beschlussmängelklagen, oder aber die Geltendmachung von Schadensersatz- und sonstigen Zahlungsansprüchen.41) Diese haben sich allerdings auf die konkrete Gesellschaft zu beziehen, da andernfalls der Bedeutungsgehalt der Norm im Hinblick auf seinen Charakter als Ausnahmebestimmung sowie den generellen Wertungen der DS-GVO zu weitreichend wäre.42) VI.

Kein Verstoß gegen gesetzliche oder vertragliche Verbote (§ 67e Abs. 3)

Gemäß § 67e Abs. 3 verstoßen Intermediäre i. R. der Offenlegung von Informationen 19 über die Identität von Aktionären gegenüber der Gesellschaft oder weiterleitungspflichtigen Intermediären gemäß § 67d nicht gegen vertragliche oder gesetzliche Verbote. Damit ist insbesondere das sog. Bankgeheimnis angesprochen.43) Insofern sind vertragliche Vereinbarungen (z. B. Vertraulichkeitsvereinbarungen),44) welche die Offenlegung beschränken oder verbieten, gegenüber dem zur Offenlegung verpflichteten Intermediär unan_____________ 35) Stiegler, WM 2019, 620, 628; in diesem Sinne auch Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 14. 36) Stiegler, WM 2019, 620, 628. 37) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 14; Stiegler, WM 2019, 620, 628; Stiegler, EBLR 2019, 763, 779. 38) So jedoch die h. M., vgl. Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 21; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67e Rz. 3; Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67e Rz. 3; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67e Rz. 22; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67e Rz. 29. 39) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 27; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 15; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67e Rz. 14; Zetzsche, AG 2019, 233, 240. 40) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 24; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 16; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67e Rz. 34. 41) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 24; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 16; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67e Rz. 34; vgl. auch Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 69. 42) In diesem Sinne Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 15; a. A. Bayer/Illhardt in: MünchKommAktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 26; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67e Rz. 35. 43) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67e Rz. 5; Henssler/ Strohn-Paul, GesR, § 67e Rz. 5; Stiegler, WM 2019, 620, 628. 44) Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67e Rz. 24; Stiegler, WM 2019, 620, 628.

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§ 67f

Kosten; Verordnungsermächtigung

wendbar.45) Gleiches gilt für entsprechende gesetzliche Verbote.46) Dort aber aus kollisionsrechtlicher Sicht grundsätzlich nur in Bezug auf Vorschriften des deutschen Rechts.47) 20 Die Befreiung von entsprechenden Verbotsbestimmungen gilt jeweils nur in Bezug auf die intermediärsseitigen Verpflichtungen aus § 67d (siehe dazu § 67d Rz. 21 ff.). Unberührt bleiben daher die darüber hinausgehenden Vorgaben der DS-GVO.48) VII. Berichtigungsanspruch (§ 67e Abs. 4) 21 Im Einklang mit Art. 16 f. DS-GVO49) sieht § 67e Abs. 4 vor, dass bei unrichtiger oder unvollständiger Informationserteilung der betroffene Aktionär unverzüglich die Berichtigung der falschen bzw. unvollständigen Angaben gegenüber der Gesellschaft und von dem die Information erteilenden Intermediär verlangen kann. Der Berichtigungsanspruch des (vermeintlichen) Aktionärs bezieht sich insofern sowohl gegen die Gesellschaft als auch den Intermediär, der die falsche bzw. unrichtige Information erteilt hat. Da die DSGVO bereits für natürliche Personen eine entsprechende Anspruchsgrundlage bestimmt, kommt der Berichtsanspruch des § 67e Abs. 4 in erster Linie Gesellschaften bzw. anderen Rechtsgebilden als Aktionäre zugute.50) Der Berichtigungsanspruch steht dabei nicht nur Aktionären zu, sondern auch Personen, die fälschlicherweise als Aktionäre identifiziert wurden.51) Die entsprechende Berichtigung hat unverzüglich i. S. des § 121 BGB zu erfolgen, also ohne schuldhaftes Zögern.52) VIII. Rechtsfolgen von Verstößen 22 Verstöße gegen die Verpflichtungen aus § 67e ergeben sich in erster Linie aus den allgemeinen datenschutzrechtlichen Sanktionsgefüge i. R. der DS-GVO.53) Verstöße gegen die Vorgaben der DS-GVO können dabei mit Geldbußen gemäß Art. 83 DS-GVO geahndet werden und Schadensersatzansprüche gemäß Art. 82 DS-GVO begründen.54) _____________ 45) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67e Rz. 5; Henssler/ Strohn-Paul, GesR, § 67e Rz. 5; Stiegler, WM 2019, 620, 628. 46) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 30; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67e Rz. 39; Stiegler, WM 2019, 620, 628. 47) Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67e Rz. 16; Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67e Rz. 5; Zetzsche, ZGR 2019, 1, 11. 48) Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67e Rz. 25. 49) Vgl. Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 32; Cahn in: BeckOGKAktR, § 67e AktG Rz. 25; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67e Rz. 6; Stiegler, WM 2019, 620, 628. 50) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 32; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 25; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67e Rz. 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67e Rz. 6; Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67e Rz. 6. 51) Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67e Rz. 6. 52) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67e Rz. 6; Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67e Rz. 6. 53) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 41; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 26. 54) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67e Rz. 41; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67e AktG Rz. 26; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67e Rz. 7; Illner/Hoffmann, ZWH 2019, 81, 88.

§ 67f Kosten; Verordnungsermächtigung Sascha Stiegler

(1) 1Vorbehaltlich der Regelungen in Satz 2 trägt die Gesellschaft die Kosten für die nach den §§ 67a bis 67d, auch in Verbindung mit § 125 Absatz 1, 2 und 5, und nach 456

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§ 67f

Kosten; Verordnungsermächtigung

§ 118 Absatz 1 Satz 3 bis 5 sowie Absatz 2 Satz 2 notwendigen Aufwendungen der Intermediäre, soweit diese auf Methoden beruhen, die dem jeweiligen Stand der Technik entsprechen. 2Die folgenden Kosten sind hiervon ausgenommen: 1. die Kosten für die notwendigen Aufwendungen der Letztintermediäre für die nichtelektronische Übermittlung von Informationen an den Aktionär gemäß § 67b Absatz 1 Satz 1 und 2. bei der Gesellschaft, die Namensaktien ausgegeben hat, die Kosten für die notwendigen Aufwendungen der Intermediäre für die Übermittlung und Weiterleitung von Informationen vom im Aktienregister eingetragenen Intermediär an den Aktionär nach § 125 Absatz 2 und 5 in Verbindung mit den §§ 67a und 67b. 3

Die Intermediäre legen die Entgelte für die Aufwendungen für jede Dienstleistung, die nach den §§ 67a bis 67e, § 118 Absatz 1 Satz 3 bis 5 sowie Absatz 2 Satz 2, § 125 Absatz 1 Satz 1, Absatz 2 und 5 und § 129 Absatz 5 erbracht wird, offen. 4Die Offenlegung erfolgt getrennt gegenüber der Gesellschaft und denjenigen Aktionären, für die sie die Dienstleistung erbringen. 5Unterschiede zwischen den Entgelten für die Ausübung von Rechten im Inland und in grenzüberschreitenden Fällen sind nur zulässig, wenn sie gerechtfertigt sind und den Unterschieden bei den tatsächlichen Kosten, die für die Erbringung der Dienstleistungen entstanden sind, entsprechen. (2) Unbeschadet sonstiger Regelungen nach diesem Gesetz sind für die Pflichten nach den §§ 67a bis 67e, 125 Absatz 1 Satz 1, Absatz 2 und 5 sowie für die Bestätigungen nach § 118 Absatz 1 Satz 3 bis 5 sowie Absatz 2 Satz 2 und § 129 Absatz 5 die Anforderungen der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 zu beachten. (3) 1Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz wird ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und dem Bundesministerium der Finanzen durch Rechtsverordnung die Einzelheiten für den Ersatz von Aufwendungen der Intermediäre durch die Gesellschaft für die folgenden Handlungen zu regeln: 1. die Übermittlung der Angaben gemäß § 67 Absatz 4, 2. die Übermittlung und Weiterleitung von Informationen und Mitteilungen gemäß den §§ 67a bis 67d, 118 Absatz 1 Satz 3 bis 5 sowie Absatz 2 Satz 2 und § 129 Absatz 5 und 3. die Vervielfältigung, Übermittlung und Weiterleitung der Mitteilungen gemäß § 125 Absatz 1, 2 und 5 in Verbindung mit den §§ 67a und 67b. 2

Es können Pauschbeträge festgesetzt werden. 3Die Rechtsverordnung bedarf nicht der Zustimmung des Bundesrates. Literatur: Cichy/Krawinkel, „Know Your Shareholder“ nach ARUG II – Inpflichtnahme der Intermediäre bei der Aktionärsidentifizierung und Informationsübermittlung, DB 2020, 602; Foerster, Identifizierung der Aktionäre nach der Änderungsrichtlinie zur Aktionärsrechterichtlinie (2. Aktionärsrechte-RL) und dem Referentenentwurf ARUG II, AG 2019, 17; Kuthe/Lingen, Neue Compliance-Anforderungen durch das ARUG II, CB 2019, 37; Paschos/Goslar, Der Referentenentwurf des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrichtlinie (ARUG II) aus Sicht der Praxis, AG 2018, 857; Stiegler, Shareholder Identification and Transmission of Information – Imbalance between Shareholders’ Anonymity and Engagement?, EBLR 30 (2019) 763; Stiegler, Aktionärsidentifizierung nach ARUG II, WM 2019, 620; Teichmann, Die Anwendbarkeit des ARUG II auf die KGaA, in: Festschrift für Gerd Krieger, 2020, S. 993; Wentz, Das Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie – von der Aktionärsrechterichtlinie über den Referentenentwurf zum Regierungsentwurf, WM 2019, 906; Zetzsche, Aktionärsidentifikation, Aktionärslegitimation und das Hauptversammlungsverfahren nach

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§ 67f

Kosten; Verordnungsermächtigung

ARUG II, AG 2020, 1; Zetzsche, Datenschutz und Hauptversammlung, AG 2019, 233; Zetzsche, Know Your Shareholder, der intermediärsgestützte Aktionärsbegriff und das Hauptversammlungsverfahren, ZGR 2019, 1.

Übersicht I. Grundlagen ....................................... 1 1. Europäischer Hintergrund und Entstehungsgeschichte ...................... 1 2. Regelungsgegenstand und -zweck .... 3 II. Anwendungsbereich ........................ 5 III. Begriffsbestimmungen ..................... 7 IV. Kostenverteilung (§ 67f Abs. 1) ...... 8 1. Kostentragung durch die Gesellschaft .................................................. 8 2. Beschränkung auf notwendige Aufwendungen ................................. 10

3. Ausnahmen von der Kostentragung durch die Gesellschaft ........ 11 4. Offenlegung von Entgelten ............. 13 5. Diskriminierungsfreie Erbringung ................................................... 15 V. Geltung der Durchführungsverordnung 2018/1212 (§ 67f Abs. 2) .................................... 16 VI. Verordnungsermächtigung (§ 67f Abs. 3) .................................... 17

I.

Grundlagen

1.

Europäischer Hintergrund und Entstehungsgeschichte

1 § 67f basiert ebenfalls auf den zugrunde liegenden Bestimmungen der Aktionärsrechterichtlinie (ARRL)1). § 67f im Konkreten basiert auf den Regelungen des Art. 3d ARRL II2).3) 2 § 67f wurde im Zuge der Verabschiedung des ARUG II4) am 12.12.2019 mit Wirkung zum 1.1.2020 ins Aktiengesetz eingefügt5) (ausführlich zur Entstehungsgeschichte auch § 67a Rz. 6 ff.). 2.

Regelungsgegenstand und -zweck

3 Die Übermittlung und Weiterleitung von Informationen gemäß den §§ 67a ff. ist sowohl für die Gesellschaft als insbesondere auch für die betroffenen Intermediäre mit Kosten verbunden. Es stellt sich daher unweigerlich die Frage, wer diese und in welcher Höhe jeweils zu tragen hat. In diesem Zusammenhang regelt § 67f, basierend auf der zugrunde liegenden europäischen Norm (siehe Rz. 1), die Kostenverteilung zwischen der Gesellschaft und den betroffenen Intermediären.6) § 67f Abs. 1 Satz 1 bestimmt dabei im Ausgangspunkt als Grundregel, dass die Kosten für die notwendigen Aufwendungen grundsätzlich von der Gesellschaft zu tragen sind (siehe auch Rz. 8). Dadurch soll in erster Linie

_____________ 1)

2)

3) 4) 5) 6)

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Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften (Aktionärsrechterichtlinie – ARRL), ABl. (EU) L 184/17 v. 14.7.2007. Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre (Zweite Aktionärsrechterichtlinie – ARRL II), ABl. (EU) L 132/1 v. 20.5.2017. Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67f Rz. 1; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67f AktG Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67f Rz. 1. Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2637. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67f AktG Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67f Rz. 1; K. Schmidt/ Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67f Rz. 2. Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67f Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67f Rz. 1.

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§ 67f

Kosten; Verordnungsermächtigung

eine umfangreiche Inanspruchnahme des Informationsrechts gegenüber den Intermediären eingedämmt werden.7) Von der Möglichkeit, es den Intermediären zu untersagen, Entgelte für die Informations- 4 übermittlung oder zum Zweck der Aktionärsidentifizierung von Aktionären zu verlangen, hat der deutsche Gesetzgeber darüber hinaus keinen Gebrauch gemacht.8) Die Intermediäre müssen aber zumindest ihre erhobenen Entgelte offenlegen (siehe dazu Rz. 13 f.). II.

Anwendungsbereich

Ebenso wie die voranstehenden Bestimmungen der §§ 67a ff. gilt § 67f hinsichtlich der 5 Verpflichtungen nach den §§ 67a ff. in Bezug auf börsennotierten Gesellschaften i. S. des § 3 Abs. 2. Über Art. 9 Abs. 1 lit. c Ziff. ii SE-VO gilt § 67f ferner für die europäische AGs (SE) mit Sitz in Deutschland9) sowie über § 278 Abs. 3 für die KGaA (jeweils unabhängig von einer Börsennotierung).10) Die betroffenen Intermediäre sind diese, wie sie in § 67a Abs. 4, 5 definiert sind. Wird i. R. des § 67f jedoch auf anderen Normen außerhalb der §§ 67a ff. verwiesen (z. B. § 118), gilt § 67f insofern auch für die davon erfassten nicht-börsennotierten Gesellschaften. Zudem beziehen sich die Kostentragungsregelungen des § 67f nur auf die in § 67f Abs. 1 6 Satz 1 in Bezug genommen Aspekte, also betreffend der §§ 67a ff. (ggf. i. V. m. § 125 Abs. 1, 2, 5) und § 118 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 2. Darüber hinausgehend wird keine Kostenverteilung i. R. der Norm bestimmt. Einzig i. R. der Verordnungsermächtigung des § 67f Abs. 3 (siehe dazu Rz. 17) können durch Rechtsverordnung die Einzelheiten für den Ersatz von Aufwendungen der Intermediäre durch die Gesellschaft in Bezug auf § 67 Abs. 4 und § 129 Abs. 5 zusätzlich bestimmt werden. III.

Begriffsbestimmungen

Hinsichtlich der Bestimmung der in § 67f verwendeten Begriffe kann auf die Definitionen 7 in § 67a verwiesen werden (siehe § 67a Rz. 22 ff.). Dies ergibt sich bereits aus § 67f Abs. 1 Satz 1, der die entsprechenden Regelungspunkte der §§ 67a ff. und damit die einschlägigen Begriffsbestimmungen in Bezug nimmt. IV.

Kostenverteilung (§ 67f Abs. 1)

1.

Kostentragung durch die Gesellschaft

§ 67f Abs. 1 Satz 1 bestimmt als Grundregel, dass die Gesellschaft die Kosten für die 8 notwendigen Aufwendungen der Intermediäre trägt, soweit diese auf Methoden beruhen, die dem jeweiligen Stand der Technik entsprechen. Dies ist im Grundsatz auch nachvollziehbar, da es ja gerade in der Regel die Gesellschaft ist, die die entsprechenden Informationen verlangt.11) Insofern normiert § 67f Abs. 1 Satz 1 einen Aufwendungsersatzan-

_____________ 7) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67f Rz. 2; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67f Rz. 2. 8) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67f Rz. 1. 9) Zu § 67a: Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 17; K. Schmidt/ Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 62. 10) Teichmann in: FS Krieger, S. 993, 996; zu § 67a: Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67a Rz. 17; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67a Rz. 62. 11) Paschos/Goslar, AG 2018, 857, 859; Stiegler, WM 2019, 620, 628.

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§ 67f

Kosten; Verordnungsermächtigung

spruch der Intermediäre gegenüber der Gesellschaft,12) womit auch die Aktionäre zumindest mittelbar an den Kosten beteiligt werden.13) Darüber hinaus besteht für die Beteiligten die Möglichkeit, einen Aufwendungsersatz der Intermediäre auch individualvertraglich zu regeln.14) 9 Von der Kostentragungspflicht des § 67f Abs. 1 Satz 1 sind in erster Linie die erforderlichen Aufwendungen zur Erfüllung der Übermittlungs- und Weiterleitungspflichten aus den § 67a bis § 67d erfasst. Nicht erfasst von § 67f Abs. 1 Satz 1 sind hingegen Aufwendungen, die den Intermediären im Zusammenhang mit der Verarbeitung personenbezogener Aktionärsdaten entstehen.15) Weiterhin werden in § 67f Abs. 1 Satz 1 die Aspekte der Weiterleitung von Informationen zur Hauptversammlung gemäß § 125 Abs. 1, 2, 5, die Weiterleitung von Bestätigungen über die Abgabe der Stimmen nach § 118 Abs. 1 Satz 3 – 5 sowie § 118 Abs. 2 Satz 2 in Bezug genommen, deren Kosten insofern ebenfalls die Gesellschaft zu tragen hat. Streitig ist darüber hinaus jedoch, ob mangels expliziten Verweises in § 67f Abs. 1 Satz 1 auch die Kosten im Zusammenhang mit dem Nachweis der Stimmzählung gemäß § 129 Abs. 5 erfasst sind.16) Einbezogen ist § 129 Abs. 5 jedoch von der Verordnungsermächtigung gemäß § 67f Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, sodass die praktische Relevanz der Streitentscheidung wohl eher gering sein dürfte. 2.

Beschränkung auf notwendige Aufwendungen

10 § 67f Abs. 1 Satz 1 beschränkt die Kostentragungspflicht der Gesellschaft zum einen auf „notwendige Aufwendungen“ der Intermediäre und zum anderen müssen diese auf Methoden beruhen, die dem jeweiligen Stand der Technik entsprechen. Insbesondere Kosten, die insofern aufgrund „veralteter“ Technik oder Mittel entstanden sind, müssen daher grundsätzlich nicht von der Gesellschaft ersetzt werden.17) Nachzuweisen hat dies insofern jedoch die Gesellschaft. Notwendig sind ferner Aufwendungen durch den Intermediär nur dann, wenn ein Intermediär diese bei Anwendung angemessener Sorgfalt für erforderlich halten darf.18) Dies ist insbesondere der Fall, wenn es keine kostengünstigere Möglichkeit für die Vornahme der jeweiligen Informationsübermittelung besteht.19) Als Beispiel für eine fehlende Notwendigkeit führt die Gesetzesbegründung vermeidbare Mehrfachmitteilungen, Mitteilungen trotz Kenntnis anderweitiger Übermittlung sowie unverhältnismäßig lange Intermediärsketten an.20)

_____________ 12) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67f Rz. 4; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67f Rz. 6. 13) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67f Rz. 4; K. Schmidt/Lutterv. Nussbaum, AktG, § 67f Rz. 1. 14) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67f Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67f Rz. 5. 15) Befürwortend Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67f Rz. 5; K. Schmidt/ Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67f Rz. 6. 16) Dafür (Redaktionsversehen) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67f AktG Rz. 3; dagegen Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67f Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67f Rz. 5. 17) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67f Rz. 10; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67f AktG Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67f Rz. 2. 18) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67f Rz. 7; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67f AktG Rz. 5. 19) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67f Rz. 7. 20) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 71.

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Sascha Stiegler

§ 67f

Kosten; Verordnungsermächtigung 3.

Ausnahmen von der Kostentragung durch die Gesellschaft

Gemäß § 67f Abs. 1 Satz 2 bestehen zwei Ausnahmen, bei deren Vorliegen die Gesell- 11 schaft in Abweichung zur Grundregelung des § 67f Abs. 1 Satz 1 nicht zur Kostenerstattung verpflichtet ist. Zum einen muss gemäß § 67f Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 die Gesellschaft solche Kosten nicht tragen, die darauf beruhen, dass der Letztintermediär i. R. von § 67b Abs. 1 Satz 1 mit dem Aktionär in nicht-elektronischer Form zu kommunizieren hat. Gleichwohl können in diesem Fall die für den Intermediär anfallenden Kosten grundsätzlich an den Aktionär weitergegeben werden, der insofern eine schriftliche anstelle einer elektronischen Kommunikation wünscht.21) Zum anderen besteht gemäß § 67f Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 keine Kostentragungspflicht der 12 Namensaktien ausgebenden Gesellschaft in Bezug auf Kosten für die notwendigen Aufwendungen der Intermediäre für die Übermittlung und Weiterleitung von Informationen von im Aktienregister eingetragenen Intermediären an den Aktionär gemäß § 125 Abs. 2, 5 i. V. m. §§ 67a f. Die Gesellschaft soll insofern nicht mit den Kosten belastet werden, die dadurch entstehen, dass der Intermediär den wahren Aktionär über die Einberufung informieren muss. Die Kostentragungspflicht der Gesellschaft endet insofern bei dem im Aktienregister Eingetragenen.22) § 67f Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 bezieht sich allerdings explizit nur auf die Informationsübermittlung gemäß § 67a f. i. V. m. § 125 Abs. 2, 5, sodass es bzgl. aller anderen Übermittlungen und Weiterleitungen bei der Grundregelung der Kostentragung durch die Gesellschaft bleibt.23) 4.

Offenlegung von Entgelten

Im Zusammenhang mit der Kostentragung durch die Gesellschaft steht die Offenlegung 13 der bei dem jeweiligen Intermediär entstandenen Kosten. Hierzu haben gemäß § 67f Abs. 1 Satz 3 die betroffenen Intermediäre die Entgelte für die Aufwendungen für jede Dienstleistung offenzulegen. Dies dient der Transparenz gegenüber der Gesellschaft, damit diese Kenntnis davon hat, für welche Aufwendungen genau und in welcher Höhe sie dem Intermediär die entstandenen Kosten zu erstatten hat.24) Die Offenlegung hat dabei getrennt gegenüber der Gesellschaft und denjenigen Aktio- 14 nären, für die sie die Dienstleistung erbringen, zu erfolgen (§ 67f Abs. 1 Satz 4). Es hat dabei eine Aufsplittung sowohl nach Dienstleistung als auch nach Aktionär zu erfolgen. Eine Gesamtdarstellung der erhobenen Entgelte ist daher nicht ausreichend.25) 5.

Diskriminierungsfreie Erbringung

Bereits die zugrunde liegende ARRL II bestimmt, dass die Entgelte stets diskriminierungs- 15 frei durch den Intermediär zu erheben sind.26) Dies gilt im Grundsatz auch in Bezug auf _____________ 21) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 70; Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67f Rz. 11; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67f AktG Rz. 7; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67f Rz. 3. 22) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67f Rz. 12; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67f AktG Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67f Rz. 20; vgl. auch Reichert-Schlitt, ArbHdb. HV, § 4 Rz. 300. 23) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67f Rz. 12; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67f AktG Rz. 8. 24) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67f AktG Rz. 12; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67f Rz. 7; Stiegler, WM 2019, 620, 628; Zetzsche, ZGR 2019, 1, 20. 25) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67f Rz. 15; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67f AktG Rz. 13; Henssler/Strohn-Paul, GesR, § 67f Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67f Rz. 7; Stiegler, WM 2019, 620, 628. 26) Vgl. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67f AktG Rz. 10; Stiegler, WM 2019, 620, 628.

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Kosten; Verordnungsermächtigung

das Verhältnis von inländischen und grenzüberschreitenden Sachverhalten. Da in Auslandsfällen die Informationsübermittlung für die Intermediäre jedoch im Zweifel mit mehr Aufwand bzw. Kosten verbunden sein kann, sieht insofern § 67f Abs. 1 Satz 5 vor, dass Unterschiede zwischen den Entgelten für die Ausübung von Rechten im Inland und in grenzüberschreitenden Fällen nur zulässig sind, wenn sie gerechtfertigt und den Unterschieden bei den tatsächlichen Kosten, die für die Erbringung der Dienstleistungen entstanden sind, entsprechen. Dabei kommt es grundsätzlich nicht auf die tatsächlich angefallenen, sondern auf die Kosten an, die bei Einhaltung des aktuellen technischen Standards für die notwendigen Aufwendungen entstehen.27) V.

Geltung der Durchführungsverordnung 2018/1212 (§ 67f Abs. 2)

16 Gemäß § 67f Abs. 2 gelten generell für die einschlägigen gesetzlichen Verpflichtungen die einschlägigen Bestimmungen der Durchführungsverordnung 2018/121228) (DVO 2018/ 1212). Der Verweis auf die ohnehin unmittelbar anwendbare DVO (siehe auch § 67a Rz. 5) hat dabei im Ergebnis lediglich deklaratorischen Charakter und ist insofern materiell ohne weitergehende Bedeutung.29) Zudem steht sie nur bedingt in einem tatsächlichen Zusammenhang mit den übrigen Kostentragungs- und Offenlegungsregelungen des § 67f, sondern begnügt sich mit einen pauschalen Verweis auf die DVO.30) VI.

Verordnungsermächtigung (§ 67f Abs. 3)

17 Gemäß § 67 Abs. 3 Satz 1 wird das BMJV ermächtigt, im Einvernehmen mit dem BMWi und dem BMF durch Rechtsverordnung die Einzelheiten für den Ersatz von Aufwendungen der Intermediäre durch die Gesellschaft zu regeln. Die Rechtsverordnung bedarf nicht der Zustimmung des Bundesrates (§ 67f Abs. 3 Satz 3). Für die Übergangszeit bis zum Inkrafttreten einer solchen Verordnung gilt die bisherige KredAufwErsVO 200331) bis einschließlich zum 3.9.2025 fort.32) Die Verordnungsermächtigung bezieht sich dabei auf –

die Übermittlung der Angaben gemäß § 67 Abs. 4,



die Übermittlung und Weiterleitung von Informationen und Mitteilungen gemäß den §§ 67a – 67d, 118 Abs. 1 Satz 3 – 5, Abs. 2 Satz 2 sowie § 129 Abs. 5 und



die Vervielfältigung, Übermittlung und Weiterleitung der Mitteilungen gemäß § 125 Abs. 1, 2, 5 i. V. mit den §§ 67a f.

18 Gemäß § 67f Abs. 3 Satz 2 können in der Rechtsverordnung zudem Kostensätze für Aufwendungen der Intermediäre pauschalisiert festgesetzt werden. _____________ 27) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67f Rz. 16; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67f AktG Rz. 10. 28) Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 der Kommission v. 3.9.2018 zur Festlegung von Mindestanforderungen zur Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die Identifizierung der Aktionäre, die Informationsübermittlung und die Erleichterung der Ausübung der Aktionärsrechte, ABl. (EU) L 223/1 v. 4.9.2018. 29) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67f Rz. 18; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67f AktG Rz. 14; Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67f Rz. 16; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67f Rz. 35; ferner Hoppe, NZG 2022, 110, 114. 30) Insofern zu Recht kritisch Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67f Rz. 18; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67f AktG Rz. 14; Hirte/Heidel-Mock, Das neue Aktienrecht, § 67f Rz. 13. 31) Verordnung über den Ersatz von Aufwendungen der Kreditinstitute (KredAufwErsVO) v. 17.6.2003, BGBl. I 2003, 885. 32) Bayer/Illhardt in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 67f Rz. 20; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 67f AktG Rz. 15; K. Schmidt/Lutter-v. Nussbaum, AktG, § 67f Rz. 42.

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Übertragung von Namensaktien. Vinkulierung

§ 68

§ 68 Übertragung von Namensaktien. Vinkulierung Wolfgang Servatius

(1) 1Namensaktien können auch durch Indossament übertragen werden. 2Für die Form des Indossaments, den Rechtsausweis des Inhabers und seine Verpflichtung zur Herausgabe gelten sinngemäß Artikel 12, 13 und 16 des Wechselgesetzes. (2) 1Die Satzung kann die Übertragung an die Zustimmung der Gesellschaft binden. 2 Die Zustimmung erteilt der Vorstand. 3Die Satzung kann jedoch bestimmen, daß der Aufsichtsrat oder die Hauptversammlung über die Erteilung der Zustimmung beschließt. 4Die Satzung kann die Gründe bestimmen, aus denen die Zustimmung verweigert werden darf. (3) Bei Übertragung durch Indossament ist die Gesellschaft verpflichtet, die Ordnungsmäßigkeit der Reihe der Indossamente, nicht aber die Unterschriften zu prüfen. (4) Diese Vorschriften gelten sinngemäß für Zwischenscheine. Wechselgesetz (WG) (Auszug) Artikel 12 WG [Bedingungsfeindlichkeit; Teilindossament; Indossament an den Inhaber]

(1) 1Das Indossament muß unbedingt sein. 2Bedingungen, von denen es abhängig gemacht wird, gelten als nicht geschrieben. (2) Ein Teilindossament ist nichtig. (3) Ein Indossament an den Inhaber gilt als Blankoindossament. Artikel 13 WG [Form; Blankoindossament]

(1) 1Das Indossament muß auf den Wechsel oder auf ein mit dem Wechsel verbundenes Blatt (Anhang) gesetzt werden. 2Es muß von dem Indossanten unterschrieben werden. (2) 1Das Indossament braucht den Indossatar nicht zu bezeichnen und kann selbst in der bloßen Unterschrift des Indossanten bestehen (Blankoindossament). 2In diesem letzteren Fall muß das Indossament, um gültig zu sein, auf die Rückseite des Wechsels oder auf den Anhang gesetzt werden. Artikel 16 WG [Wechselvermutung]

(1) 1Wer den Wechsel in Händen hat, gilt als rechtmäßiger Inhaber, sofern er sein Recht durch eine ununterbrochene Reihe von Indossamenten nachweist, und zwar auch dann, wenn das letzte ein Blankoindossament ist. 2Ausgestrichene Indossamente gelten hierbei als nicht geschrieben. 3Folgt auf ein Blankoindossament ein weiteres Indossament, so wird angenommen, daß der Aussteller dieses Indossaments den Wechsel durch das Blankoindossament erworben hat. (2) Ist der Wechsel einem früheren Inhaber irgendwie abhanden gekommen, so ist der neue Inhaber, der sein Recht nach den Vorschriften des vorstehenden Absatzes nachweist, zur Herausgabe des Wechsels nur verpflichtet, wenn er ihn in bösem Glauben erworben hat oder ihm beim Erwerb eine grobe Fahrlässigkeit zur Last fällt. Literatur: Barthelmeß/Braun, Zulässigkeit schuldrechtlicher Verfügungsbeschränkungen über Aktien zugunsten der Aktiengesellschaft, AG 2000, 172; Bayer, Gesetzliche Zuständigkeit der Hauptversammlung zur Übertragung vinkulierter Namensaktien auf einen zukünftigen Mehrheitsaktionär, in: Festschrift für Uwe Hüffer, 2009, S 35; Becker, Der Ausschluß aus der Ak-

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§ 68

Übertragung von Namensaktien. Vinkulierung

tiengesellschaft, ZGR 1986, 383; Blasche, Zulässigkeit und Rechtswirkungen der Eintragung eines gemeinschaftlichen Vertreters im Aktienregister, AG 2015, 342; Burgi, Die vinkulierte Namensaktie und das EU-Beihilferecht, in: Festschrift für Uwe Hüffer, 2010, S. 63; Heckschen/ Weitbrecht, Überfremdungsschutz im GmbH- und Aktienrecht, NZG 2019, 721; Heller/Timm, Übertragung vinkulierter Namensaktien in der Aktiengesellschaft, NZG 2006, 257; Iversen, Außerbörsliche Übertragung von Aktien und sachenrechtlicher Bestimmtheitsgrundsatz, AG 2008, 736; Kiefner/Happ, Zulässigkeit von Standstill und Lock-up Agreements bei der Aktiengesellschaft, ZIP 2015, 1811; Lieder, Staatliche Sonderrechte in Aktiengesellschaften, ZHR 172 (2008) 306; Lutter, Die Rechte und Pflichten des Vorstands bei der Übertragung vinkulierter Namensaktien, AG 1992, 369; Nodoushani, Die Pauschalzustimmung zur Übertragung vinkulierter Anteile, ZGR 2014, 809; Perwein, Übergabe der Aktienurkunde als Wirksamkeitsvoraussetzung bei der Abtretung von Namensaktien kleiner Publikums-Aktiengesellschaften, AG 2012, 611; Schockenhoff/Culmann, Shareholder Activism in Deutschland, ZIP 2015, 297; Schroeter, Vinkulierte Namensaktien in der europäischen Aktiengesellschaft, AG 2007, 854; Schubert/Hageböke, Auswirkungen einer verweigerten Zustimmung zur Übertragung von vinkulierten GmbH-Geschäftsanteilen und Namensaktien, ZIP 2021, 783; Wilhelmi, Übertragung vinkulierter Namensaktien durch den Alleinaktionär, NJW 1952, 324.

Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt ........................................ II. Übertragung von Aktien (§ 68 Abs. 1) ....................................... 1. Inhaberaktien ..................................... 2. Namensaktien .................................... 3. Prüfungspflicht der AG .................... 4. Besonderheiten bei der Girosammelverwahrung ............................ III. Vinkulierung (§ 68 Abs. 2) .............. I.

1 2 3 5 7 8 9

1. Erfasste Erwerbsvorgänge ................ 10 2. Satzungsregelung .............................. 12 3. Erklärung der Zustimmung bzw. Verweigerung .................................... 13 4. Verweigerungsgründe ....................... 15 a) Fehlen einer Satzungsregelung ...................................... 15 b) Satzungsmäßige Vorgaben ......... 16 5. Rechtsfolgen ..................................... 17 IV. Zwischenscheine (§ 68 Abs. 4) ....... 18

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

1 Die Regelung ordnet die Namensaktie i. S. von § 10 in wertpapierrechtliche Kategorien ein und begründet die Möglichkeit der Vinkulierung. § 68 Abs. 1 regelt die Übertragung von Namensaktien und stellt klar, dass diese neben der Übertragung gemäß §§ 398, 413 BGB auch durch Indossament übertragen werden können. Die AG hat dann gemäß § 68 Abs. 3 die Ordnungsmäßigkeit der Reihe der Indossamente zu überprüfen. Nach § 68 Abs. 2 kann die Übertragung von Namensaktien aufgrund Satzungsregelung an die Zustimmung der AG gebunden werden (Vinkulierung). Gemäß § 68 Abs. 4 gilt das Vorgesagte auch für Zwischenscheine i. S. von § 10 Abs. 3. II.

Übertragung von Aktien (§ 68 Abs. 1)

2 Bei der Übertragung der Aktien ist danach zu unterscheiden, um welche Arten es sich handelt – Inhaber- oder Namensaktien – sowie nach der Art der Verbriefung. 1.

Inhaberaktien

3 Inhaberaktien i. S. von § 10 Abs. 1 Alt. 1 werden entsprechend §§ 793 ff. BGB behandelt.1) Sind sie unverbrieft, richtet sich die Übertragung gemäß §§ 413, 398 BGB.2) Ein gutgläu_____________ 1) 2)

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OLG Oldenburg, Urt. v. 25.6.1998 – 1 U 34/98, AG 2000, 367. BGH, Urt. v. 5.4.1993 – II ZR 195/91, BGHZ 122, 180, 196 = ZIP 1993, 667; LG Berlin, Urt. v. 27.8.1993 – 85 O 140/93, AG 1994, 378, 379.

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Übertragung von Namensaktien. Vinkulierung

§ 68

biger (lastenfreier) Aktienerwerb ist nicht möglich.3) Eine Eintragung des Erwerbs ins Aktienregister ist nicht möglich und nötig. Wird die Inhaberaktie einzeln verbrieft (vgl. § 10 Abs. 5), kann die Mitgliedschaft auf 4 unterschiedliche Weise übertragen werden: Zum einen durch Übereignung der Urkunde gemäß §§ 929 ff. BGB, so dass die Mitgliedschaft der Übereignung akzessorisch folgt („Das Recht aus dem Papier folgt dem Recht am Papier“);4) ein gutgläubiger bzw. lastenfreier Erwerb der Mitgliedschaft ist gemäß §§ 932 ff. BGB möglich.5) Zum anderen ist es möglich, die Mitgliedschaft als solches gemäß §§ 413, 398 BGB zu übertragen, so dass das Eigentum an der Urkunde entsprechend § 952 BGB dem Erwerber zufällt („Das Recht am Papier folgt dem Recht aus dem Papier“). Bei dieser Übertragungsart scheidet ein gutgläubiger bzw. lastenfreier Erwerb der Mitgliedschaft aus. 2.

Namensaktien

Sind die Namensaktien i. S. von § 10 Abs. 1 Alt. 2 unverbrieft, richtet sich die Übertra- 5 gung ebenfalls nach §§ 413, 398 BGB. Vgl. zur Wirksamkeit der Übertragung im Verhältnis zur AG das Erfordernis der Eintragung ins Aktienregister gemäß § 67. Ein gutgläubiger (lastenfreier) Aktienerwerb ist nicht möglich.6) Das gilt auch bei einer Eintragung ins Aktienregister.7) Sind die Namensaktien einzeln verbrieft (vgl. § 10 Abs. 5), kann die Übertragung eben- 6 falls auf unterschiedliche Weise erfolgen: –

Möglich ist zum einen die Übertragung der Mitgliedschaft selbst gemäß §§ 413, 398 BGB, so dass das Eigentum an der Urkunde entsprechend § 952 BGB dem Erwerber zufällt („Das Recht am Papier folgt dem Recht aus dem Papier“);8) die Übergabe des Papiers ist jedoch Wirksamkeitsvoraussetzung (streitig).9) Insbesondere kann zur Begründung einer anderen Ansicht auch nicht auf das Aktienregister abgestellt werden, weil dieses andere Funktionen als den Gutglaubensschutz bei Erwerb erfüllt. Bei dieser Übertragungsart scheidet ein gutgläubiger bzw. lastenfreier Erwerb der Mitgliedschaft aus.10)



Zum anderen ist es gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 möglich, die Aktien durch Indossament zu übertragen.11) Dies setzt neben der schriftlichen Übertragungserklärung auf der Urkunde gemäß Art. 12, 13 WG nach zutreffender Ansicht auch die Übereignung der Urkunde gemäß §§ 929 ff. BGB voraus.12) Bei dieser Übertragungsart folgt die Mitgliedschaft der Übereignung akzessorisch („Das Recht aus dem Papier folgt dem Recht am Papier“); ein gutgläubiger bzw. lastenfreier Erwerb der Mitgliedschaft ist gemäß

_____________ 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9)

K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 68 Rz. 5. BGH, Urt. v. 5.4.1993 – II ZR 195/91, BGHZ 122, 180, 196 = ZIP 1993, 667. K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 68 Rz. 6. K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 68 Rz. 5. Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 68 Rz. 2. RG, Urt. v. 8.11.1911 – I 461/10, RGZ 77, 268, 276. RG, Urt. v. 6.6.1916 – II 62/15, RGZ 88, 290, 292; BGH, Urt. v. 12.12.1957 – II ZR 43/57, NJW 1958, 302, 303; Perwein, AG 2012, 611; abweichend Bayer in: MünchKomm-AktG, § 68 Rz. 30; GrigoleitGrigoleit/Rachlitz, AktG, § 68 Rz. 3. 10) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 68 Rz. 8. 11) Zum fakultativen Charakter der Norm BGH, Urt. v. 20.9.2004 – II ZR 288/02 (EMS), BGHZ 160, 253, 257 = ZIP 2004, 2093, dazu EWiR 2005, 49 (Noack). 12) BGH, Urt. v. 12.12.1957 – II ZR 43/57, NJW 1958, 302; Einzelheiten zur wechselrechtlichen Übertragung bei Cahn in: BeckOGK-AktR, § 68 AktG Rz. 8.

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§ 68

Übertragung von Namensaktien. Vinkulierung

Art. 16 WG möglich. Vgl. auch hier zur Wirksamkeit der Übertragung im Verhältnis zur AG das Erfordernis der Eintragung ins Aktienregister gemäß § 67. 3.

Prüfungspflicht der AG

7 Gemäß § 68 Abs. 3 hat der Vorstand i. R. der Eintragung des Aktionärswechsels ins Aktienregister gemäß § 67 die Ordnungsmäßigkeit der Reihe der Indossamente zu überprüfen, nicht aber die Unterschriften. Es handelt sich im Ausgangspunkt um eine rein formale Prüfung; bei konkreten Anhaltspunkten muss jedoch auch die Wirksamkeit der Übertragung geprüft werden.13) 4.

Besonderheiten bei der Girosammelverwahrung

8 Die Aktienurkunden werden bei Inhaber- und Namensaktien regelmäßig bei einer Wertpapiersammelbank verwahrt (vgl. § 5 Abs. 1 DepotG). Oftmals gibt es sogar lediglich eine Sammel- oder Globalurkunde, ohne dass die individuellen Mitgliedschaften einzeln verbrieft sind (vgl. § 10 Abs. 5). Die Aktionäre werden sodann Miteigentümer an der Sammel- bzw. Globalurkunde bzw. am Sammelbestand (vgl. §§ 6 Abs. 1, 9a Abs. 2, 24 Abs. 2 DepotG). Die dingliche Übertragung der Aktienurkunde ist hiernach eine Übertragung des Bruchteilseigentums an der Urkunde gemäß §§ 929, 934 BGB, ggf. ergänzt durch ein Blankoindossament.14) III.

Vinkulierung (§ 68 Abs. 2)

9 Aktien sind im Grundsatz frei übertragbar.15) Gleichwohl sieht § 68 Abs. 2 vor, dass die dingliche Wirksamkeit der Übertragung von Namensaktien i. S. von § 10 aufgrund einer entsprechenden Satzungsklausel an die Zustimmung der AG geknüpft werden kann. Europarechtlich sind diese Gestaltungen solange unbedenklich, als damit nicht der Einfluss des Staates gesichert werden soll.16) Gemäß § 55 Abs. 1 ist die Begründung von Nebenleistungspflichten von der Vinkulierung abhängig; das Gleiche gilt gemäß § 102 Abs. 2 Satz 2, wenn ein Entsendungsrecht für den Aufsichtsrat bestehen soll. Eine Vinkulierungsklausel ist bereits vor der Aktienverbriefung gültig.17) Von der Vinkulierung abzugrenzen sind schuldrechtliche Nebenabreden der Aktionäre untereinander, insbesondere im Hinblick auf ein Vorkaufsrecht oder eine Andienungspflicht18) sowie Standstill- und Lock-up-Agreements.19) Derartige Aktionärsvereinbarungen können nicht Satzungsbestandteil werden; § 68 Abs. 2 ist insofern vorrangig (streitig).20)

_____________ 13) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 68 AktG Rz. 22. 14) Zum Ganzen m. w. N. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 68 AktG Rz. 5; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 68 Rz. 5 ff. 15) BGH, Urt. v. 20.9.2004 – II ZR 288/02 (EMS), BGHZ 160, 253, 256 ff. = ZIP 2004, 2093; BVerfG, Beschl. v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, BVerfGE 100, 289, 305 ff. = ZIP 1999, 1436, dazu EWiR 1999, 751 (Neye). 16) Einzelheiten bei Burgi in: FS Hüffer, S. 63, 77 f.; Lieder, ZHR 172 (2008) 306, 308 ff. 17) OLG Celle, Urt. v. 24.11.2004 – 9 U 119/04, NZG 2005, 279. 18) Vgl. hierzu BGH, Urt. v. 22.1.2013 – II ZR 80/10, ZIP 2013, 263 = NZG 2013, 220, dazu EWiR 2013, 131 (Seibt); s. oben § 23 Rz. 69 ff. 19) Einzelheiten bei Kiefner/Happ, ZIP 2015, 1811. 20) Wie hier RG, Urt. v. 25.9.1901 – I 142/01, RGZ 49, 77, 79 ff.; abweichend Becker, ZGR 1986, 383, 392 ff.; die Frage offenlassend BGH, Urt. v. 22.1.2013 – II ZR 80/10, Rz. 9, 14, ZIP 2013, 263 = NZG 2013, 220.

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Wolfgang Servatius

Übertragung von Namensaktien. Vinkulierung 1.

§ 68

Erfasste Erwerbsvorgänge

§ 68 Abs. 2 gilt nur bei der rechtsgeschäftlichen Übertragung, einschließlich der Legiti- 10 mationsübertragung.21) Die Vererbung von Aktien, der gesetzliche Erwerb und die Gesamtrechtsnachfolge i. R. von Umwandlungsvorgängen fallen nicht hierunter.22) Auf schuldrechtliche Vereinbarungen bezieht sich die Vinkulierung i. S. von § 68 Abs. 2 nicht;23) dies kann auch nicht durch Satzungsregelung vereinbart werden. Die Aktionäre können sich jedoch ohne weiteres untereinander oder Dritten gegenüber schuldrechtlich im Hinblick auf die Übertragung der Aktien binden (vgl. aber § 137 Satz 1 BGB).24) Die Vinkulierung kann auch die Bestellung eines Pfandrechts oder Nießbrauchs umfas- 11 sen.25) Dies muss jedoch in der Satzung hinreichend deutlich gemacht werden.26) Aus Gründen des Umgehungsschutzes sind ferner die Übertragung der Ausübungsbefugnisse für die Mitverwaltungsrechte hierunter zu fassen, insbesondere die Legitimationsübertragung und Bevollmächtigung zur Stimmrechtsausübung.27) Auch hier ist die Vinkulierungsklausel im Hinblick auf ihre Reichweite (objektiv) auszulegen. Beim Alleinaktionär beansprucht die Vinkulierung keine Geltung.28) Eine etwaige Satzungsregelung kann im Hinblick auf spätere Aktionäre gleichwohl bedeutsam sein. 2.

Satzungsregelung

Einschränkungen der freien Übertragbarkeit bedürfen einer eindeutigen Satzungsrege- 12 lung; bei der nachträglichen Einführung müssen gemäß § 180 Abs. 2 die betroffenen Aktionäre zustimmen.29) Die Satzung kann die Vinkulierung auf bestimmte Erwerbsvorgänge beschränken.30) Die Vinkulierung ist bei Namensaktien bereits vor ihrer Verbriefung möglich.31) Bestehen bei einer AG bislang nur vinkulierte Namensaktien, erstreckt sich dies auch ohne besondere Festsetzung im Kapitalerhöhungsbeschluss auf die neuen Aktien (streitig).32) 3.

Erklärung der Zustimmung bzw. Verweigerung

Die Zuständigkeit für die Erteilung oder Versagung der Zustimmung obliegt gemäß § 68 13 Abs. 2 Satz 2 dem Vorstand (interne Willensbildung gemäß § 77, Willensäußerung gemäß _____________ 21) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 68 Rz. 21. 22) Zum Ganzen Cahn in: BeckOGK-AktR, § 68 AktG Rz. 32 ff.; vgl. für Treuhandgestaltungen OLG Köln, Beschl. v. 26.3.2008 – 18 U 7/07, NZG 2008, 839 = ZIP 2008, 1683; zu Umgebungssachverhalten vgl. OLG Naumburg, Urt. v. 22.1.2004 – 7 U 133/03, NZG 2004, 775. 23) RG, Urt. v. 31.3.1931 – II 222/30, RGZ 132, 149, 157; für ein Vorkaufsrecht ebenso LG Offenburg, Urt. v. 8.11.1988 – 2 O 220/88, AG 1989, 134, 137 = ZIP 1988, 1562; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 68 Rz. 11. Vgl., zu den schuldrechtlichen Folgen bei Leistungsstörungen K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 68 Rz. 26. 24) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 68 AktG Rz. 39; vgl. zur Bindung von Investorenvereinbarungen aber Schockenhoff/Culmann, ZIP 2015, 297, 305. 25) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 68 Rz. 20. 26) Abweichend wohl Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 68 Rz. 11. 27) RG, Urt. v. 31.3.1931 – II 220/30, RGZ 132, 149, 158 f.; OLG Naumburg, Urt. v. 22.1.2004 – 7 U 133/03, NZG 2004, 775; Einzelheiten zu möglichen Umgehungen bei Cahn in: BeckOGK-AktR, § 68 AktG Rz. 76 ff. 28) So wohl auch OLG München, Urt. v. 4.5.2005 – 23 U 5121/04, NZG 2005, 756 = ZIP 2005, 1070, dazu EWiR 2005, 525 (Bayer/Lieder); abweichend Wilhelmi, NJW 1952, 324. 29) BGH, Urt. v. 20.9.2004 – II ZR 288/02 (EMS), BGHZ 160, 253 = ZIP 2004, 2093. 30) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 68 Rz. 19; Bayer in: MünchKomm-AktG, § 68 Rz. 57 f. 31) OLG Celle, Urt. v. 24.11.2004 – 9 U 119/04, NZG 2005, 279. 32) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 68 Rz. 47; abweichend Cahn in: BeckOGK-AktR, § 68 AktG Rz. 43.

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Übertragung von Namensaktien. Vinkulierung

§ 78).33) Nach § 119 Abs. 2 kann der Vorstand die Zustimmung der Hauptversammlung einholen, um sich vor einer etwaigen Pflichtwidrigkeit zu schützen (streitig).34) Eine Vorlagepflicht in Anlehnung an die Holzmüller-Doktrin besteht indessen richtigerweise nicht, da es in diesem Bereich an der Gefahr eines Mediatisierungseffekts fehlt (streitig).35) Die Satzung kann die Kompetenz gemäß § 68 Abs. 2 Satz 3 dem Aufsichtsrat oder der Hauptversammlung zuweisen. Innerhalb des Aufsichtsrats kann die Entscheidung dann wiederum einem Ausschuss übertragen werden (vgl. § 107 Abs. 3);36) die Hauptversammlung entscheidet mit einfacher Mehrheit (§ 133). Die Übertragung der Entscheidungskompetenz auf Dritte oder einzelne Aktionäre ist unzulässig. Ein Zustimmungsvorbehalt gemäß § 111 Abs. 4 ist nach zweifelhafter h. M. ebenfalls unzulässig.37) Dasselbe soll für die satzungsmäßige Begründung einer anderen kumulativen Zuständigkeit gelten.38) Beides überzeugt wegen der zumeist bloß pauschalen Berufung auf die hieraus resultierende unzulässige Erschwerung indessen kaum, so dass auch derartige Gestaltungen zulässig sein sollten. 14 Entscheiden der Aufsichtsrat oder die Hauptversammlung über die Zustimmung, bedarf es gleichwohl stets der (formlosen)39) Erklärung gegenüber dem betreffenden Aktionär durch den Vorstand (§ 78).40) Der betroffene Aktionär darf bei der Hauptversammlung mitstimmen.41) In der Insolvenz obliegt diese Kompetenz bei nicht voll eingezahlten Aktien dem Verwalter.42) Es bedarf einer ausdrücklichen oder konkludenten Erklärung der Zustimmung, andernfalls ist sie nicht erteilt.43) Eine Satzungsregelung, wonach das Schweigen nach Fristablauf als Zustimmung gilt, birgt Rechtsunsicherheit und verstößt daher gegen § 23 Abs. 5 (streitig).44) Eine konkludente Zustimmung kann jedoch regelmäßig in der Umschreibung des Aktienregisters gesehen werden.45) Die Zustimmung kann im Voraus (Einwilligung) und nachträglich (Genehmigung) erfolgen und ist bis zur Übertragung widerruflich.46) Eine Pauschalzustimmung zur Übertragung ist unzulässig.47) 4.

Verweigerungsgründe

a)

Fehlen einer Satzungsregelung

15 Enthält die Satzung keine Vorgaben, unter welchen Voraussetzungen die Zustimmung zu erteilen bzw. versagen ist, entscheidet das zur Entscheidung berufene Organ nach pflicht_____________ 33) Zum Ganzen Nodoushani, ZGR 2014, 809. 34) Lutter/Drygala in: KölnKomm-AktG, § 68 Rz. 67; abweichend Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 68 Rz. 23. 35) Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 68 Rz. 23; Lutter/Drygala in: KölnKomm-AktG, § 68 Rz. 68. 36) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 68 Rz. 27. 37) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 68 Rz. 65; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 68 Rz. 23; K. Schmidt/ Lutter-Bezzenberger, AktG, § 68 Rz. 27. 38) Vgl. LG München I, Beschl. v. 27.2.2017 – 5 HK O 14747/16, Rz. 16 ff., ZIP 2017, 1326 m. w. N. – Zuständigkeit von Vorstand und Hauptversammlung. 39) KG Berlin, Urt. v. 20.12.2002 – 14 U 514/00, AG 2003, 568. 40) OLG Schleswig, Urt. v. 27.2.2014 – 5 U 127/12, ZIP 2014, 1937; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 68 AktG Rz. 63; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 68 Rz. 15. 41) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 68 Rz. 15. 42) RG, Urt. v. 15.12.1909 – I 252/09, RGZ 72, 290, 292 f. 43) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 68 Rz. 15; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 68 Rz. 34. 44) A. A. Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 68 Rz. 25. 45) Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 68 Rz. 25. 46) Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 68 Rz. 26. 47) Einzelheiten m. w. N. bei Nodoushani, ZGR 2014, 809, 816 ff., auf 838 ff. – auch zu börsenrechtlich relevanten Fungibilitätserklärungen.

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Übertragung von Namensaktien. Vinkulierung

§ 68

gemäßem Ermessen.48) Hierbei hat eine Abwägung zu erfolgen zwischen dem Interesse des Aktionärs an der Verkehrsfähigkeit der Aktie und dem Gesellschaftsinteresse an der Person des gegenwärtigen und künftigen Aktionärs.49) Ein genereller Vorrang des Gesellschaftsinteresses lässt sich wegen Art. 14 GG nicht begründen (streitig).50) Vielmehr gilt umgekehrt, dass die AG konkret darlegen muss, warum eine Veräußerung dem Gesellschaftsinteresse zuwider läuft.51) Das Gleichbehandlungsgebot (§ 53a) ist stets zu beachten und kann unter dem Aspekt der Selbstbindung einen Anspruch des Aktionärs auf Zustimmung begründen.52) Der Vorstand hat den betreffenden Aktionären analog § 626 Abs. 2 Satz 2 BGB die Verweigerungsgründe auf deren Verlangen mitzuteilen (streitig).53) b)

Satzungsmäßige Vorgaben

Gemäß § 68 Abs. 2 Satz 4 möglich und aus Gründen der Rechtssicherheit praktisch ge- 16 boten, sind satzungsmäßige Vorgaben für die Verweigerung der Zustimmung. Der generelle Ausschluss der Veräußerung ist jedoch unzulässig;54) ebenso die Formulierung, dass die Verweigerung bei bestimmten Gestaltungen zwingend zu erfolgen hat (vgl. „darf“).55) Zulässig ist es aber, z. B. bestimmte (wichtige) Verweigerungsgründe katalogartig aufzunehmen oder die Vinkulierung auf andere Weise zu beschränken.56) Auch hier handelt das entscheidende Organ jedoch stets nach pflichtgemäßem Ermessen und hat trotz der satzungsmäßigen Vorgaben im Einzelfall das Interesse des Aktionärs an der Verkehrsfähigkeit der Aktie und das Gesellschaftsinteresse an der Person des gegenwärtigen und künftigen Aktionärs gegeneinander abzuwägen. Auch hier kann das Ermessen trotz eines satzungsmäßigen Versagungsgrundes auf null reduziert und die AG zur Zustimmung verpflichtet sein.57) Wer geltend macht, dass der Vorstand pflichtwidrig handelte, hat dies darzulegen und ggf. zu beweisen; die Erklärung über die Verweigerung bedarf grundsätzlich keiner vom Vorstand darzulegenden sachlichen Rechtfertigung.58) Etwas anderes gilt nur, wenn in der Satzung Vorgaben für die Erteilung der Zustimmung gemacht werden; in diesem Fall muss die AG darlegen und beweisen, dass die dort genannten Verweigerungsgründe vorliegen.59) 5.

Rechtsfolgen

Erteilt die AG die Zustimmung, können die Aktien ohne weiteres übertragen werden. Ver- 17 weigert sie die Zustimmung, ist die Übertragung unwirksam.60) Eine nachträglich erteilte _____________ 48) LG Aachen, Urt. v. 19.5.1992 – 41 O 30/92, AG 1992, 410, 411 = ZIP 1992, 924. 49) BGH, Urt. v. 1.12.1986 – II ZR 287/85, NJW 1987, 1019, 1020 = ZIP 1987, 291; Einzelheiten bei K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 68 Rz. 31 ff. 50) Abweichend Lutter, AG 1992, 369, 373. 51) Unter dem Aspekt der Beweislast unstreitig, vgl. nur K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 68 Rz. 38. 52) Vgl. LG Aachen, Urt. v. 19.5.1992 – 41 O 30/92, AG 1992, 410, 412 ff. = ZIP 1992, 924; zur gerichtlichen Durchsetzung, LG Düsseldorf, Urt. v. 17.11.1988 – 32 O 226/87, AG 1989, 332 – zur GmbH. 53) Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 68 Rz. 26: abweichend Lutter/Drygala in: KölnKomm-AktG, § 68 Rz. 67. 54) H. M., vgl. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 68 Rz. 62. 55) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 68 AktG Rz. 53. 56) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 68 Rz. 14. 57) Vgl. BGH, Urt. v. 1.12.1986 – II ZR 287/85, NJW 1987, 1019, 1020 = ZIP 1987, 291. 58) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 68 Rz. 15. 59) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 68 Rz. 38. 60) BGH, Urt. v. 28.4.1954 – II ZR 8/53, NJW 1954, 1155; BGH, Urt. v. 20.9.2004 – II ZR 288/02 (EMS), BGHZ 160, 253 = ZIP 2004, 2093.

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Zustimmung wirkt zurück.61) Im Fall einer rechtswidrigen Verweigerung kann der betreffende veräußerungswillige Aktionär die AG auf Zustimmung verklagen.62) Wegen Verletzung der Treuepflicht der AG gegenüber ihren Aktionären sind auch Schadensersatzansprüche möglich.63) Im Übrigen richten sich die Folgen der Unwirksamkeit im Verhältnis zwischen Veräußerer und Erwerber nach den Regeln des BGB.64) IV.

Zwischenscheine (§ 68 Abs. 4)

18 Die Regelung gilt sinngemäß für Zwischenscheine i. S. von § 10 Abs. 3. _____________ 61) Vgl. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 68 AktG Rz. 71. 62) Vgl. LG Düsseldorf, Urt. v. 17.11.1988 – 32 O 226/87, AG 1989, 332 – zur GmbH; Hüffer/KochKoch, AktG, § 68 Rz. 16a; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 68 Rz. 36 ff. 63) H. M., vgl. nur Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 68 Rz. 16a; zurückhaltend OLG München, Urt. v. 28.7.2008 – 7 U 3004/08, NZG 2009, 25 – zur Publikums-KG. 64) Einzelheiten bei Schubert/Hageböke, ZIP 2021, 783.

§ 69 Rechtsgemeinschaft an einer Aktie Wolfgang Servatius

(1) Steht eine Aktie mehreren Berechtigten zu, so können sie die Rechte aus der Aktie nur durch einen gemeinschaftlichen Vertreter ausüben. (2) Für die Leistungen auf die Aktie haften sie als Gesamtschuldner. (3) 1Hat die Gesellschaft eine Willenserklärung dem Aktionär gegenüber abzugeben, so genügt, wenn die Berechtigten der Gesellschaft keinen gemeinschaftlichen Vertreter benannt haben, die Abgabe der Erklärung gegenüber einem Berechtigten. 2Bei mehreren Erben eines Aktionärs gilt dies nur für Willenserklärungen, die nach Ablauf eines Monats seit dem Anfall der Erbschaft abgegeben werden. Literatur: Apfelbaum, Gütergemeinschaft im Gesellschaftsrecht, MittBayNot 2006, 185; Bayer/ Sarakinis, Der gemeinschaftliche Vertreter der Erbengemeinschaft im Aktienrecht, NZG 2018, 561; Blasche, Zulässigkeit und Rechtswirkungen der Eintragung eines gemeinschaftlichen Vertreters im Aktienregister, AG 2015, 342; Mentz/Fröhling, Die Formen der rechtsgeschäftlichen Übertragung von Aktien, NZG 2002, 201.

Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt ........................................ 1 II. Anwendungsbereich ........................ 2 III. Aktivvertretung (§ 69 Abs. 1) ......... 3 I.

IV. Gesamtschuldnerische Haftung (§ 69 Abs. 2) ....................................... 6 V. Passivvertretung (§ 69 Abs. 3) ......... 7

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

1 Die Norm gewährleistet die Unteilbarkeit von Aktien und Mitgliedschaftsrechten gemäß § 8 Abs. 5 in den Fällen, in denen die Aktien von mehreren Personen gemeinschaftlich gehalten werden (vgl. für die GmbH § 18 GmbHG). Gemäß § 69 Abs. 1 können diese Personen die aus der Aktie resultierenden Mitgliedschaftsrechte nur durch einen gemeinschaftlichen Vertreter ausüben. Diese Regelung bezweckt Rechtssicherheit, steht jedoch auch im Widerspruch zu § 134 Abs. 3 Satz 2, wonach mehrere Vertreter durchaus zulässig sind, und die AG ein Zurückweisungsrecht hat. Gemäß § 69 Abs. 2 haften sie für die Ein-

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lageforderungen als Gesamtschuldner. § 69 Abs. 3 ordnet an, dass Erklärungen der AG lediglich gegenüber einem Mitglied der Personengemeinschaft abgegeben werden müssen, sofern hierfür kein gemeinschaftlicher Vertreter bestellt wurde. II.

Anwendungsbereich

Die Regelung gilt sowohl bei Inhaber- als auch bei Namensaktien. Voraussetzung ist, dass 2 die Aktien von mehreren Personen gemeinschaftlich gehalten werden, mithin die jeweilige Personengemeinschaft im Verhältnis zur AG keine Rechtsfähigkeit besitzt. Dies sind Bruchteilsgemeinschaften (§§ 741 ff. BGB), insbesondere die eheliche Gütergemeinschaft (§§ 1415 ff. BGB),1) sowie die Erbengemeinschaft (§§ 2032 ff. BGB)2). Beim (offenen) Investmentfonds gilt die Regelung indessen nicht, denn §§ 92 ff. KAGB regeln die Befugnisse der Kapitalverwaltungsgesellschaft (streitig).3) Die Anwendung auf juristische Personen, Personenhandelsgesellschaften und die Außen-GbR scheidet wegen deren Rechtsfähigkeit aus (streitig).4) Dies gilt selbst dann, wenn diese Gesellschaften mehrere Vertreter haben (streitig).5) Die AG ist in diesem Fall über § 134 Abs. 3 Satz 2 ausreichend vor widersprüchlichen Erklärungen geschützt. Werden die Aktien von rechtsfähigen Personen in Girosammelverwahrung gehalten, ist die Regelung konsequenterweise ebenfalls nicht anwendbar.6) Liegt eine tatbestandlich erfasste Personengemeinschaft vor, läuft § 69 praktisch leer, wenn ein Beteiligter gegenüber der AG durch die Urkunde oder einen Eintrag im Aktienregister legitimiert ist.7) III.

Aktivvertretung (§ 69 Abs. 1)

Wollen die Personen zur wirksamen Ausübung ihrer gemeinschaftlich gehaltenen Mit- 3 gliedschaftsrechte gegenüber der AG rechtsgeschäftlich handeln, müssen sie hierzu einen gemeinschaftlichen Vertreter bestellen.8) Ihre eigenen Willenserklärungen entfalten insoweit keine Wirkung – weder bei einvernehmlichem Handeln aller noch beim Handeln Einzelner unter dem Aspekt der Notgeschäftsführung (streitig).9) Eine Vollversammlung i. S. von § 121 Abs. 6 liegt jedoch auch dann vor, wenn alle betreffenden Personen ohne den von ihnen bestellten Vertreter anwesend sind.10) Als gemeinschaftlicher Vertreter kann auch eine rechtsfähige Personengesellschaft oder eine juristische Person bestellt werden.11) Die Bestellungserfordernisse richten sich nach dem Recht der jeweiligen Gemeinschaft.12) Bei der Erbengemeinschaft ist der Testamentsvollstrecker, sofern vorhanden, zwingend _____________ 1) Vgl. hierzu Apfelbaum, MittBayNot 2006, 185. 2) Hierzu ausführlich Bayer/Sarakinis, NZG 2018, 561. 3) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 69 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 69 Rz. 4; abweichend Cahn in: BeckOGK-AktR, § 69 AktG Rz. 7. 4) Für eine Anwendung auf die GbR jedoch Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 69 Rz. 4; wie hier Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 69 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 69 Rz. 8. 5) Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 69 Rz. 4; abweichend Lutter/Drygala in: KölnKomm-AktG, § 68 Rz. 11 f. 6) Vgl. Mentz/Fröhling, NZG 2002, 201, 204; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 69 Rz. 3; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 69 Rz. 2. 7) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 69 Rz. 2. 8) Die Regelung begründet insofern nur eine Obliegenheit, vgl. Bayer/Sarakinis, NZG 2018, 561. 9) H. M., vgl. nur K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 69 Rz. 9; Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 70 AktG Rz. 4; abweichend Bayer in: MünchKomm-AktG, § 69 Rz. 26; Bayer/Sarakinis, NZG 2018, 561, 568 f. 10) KG Berlin, Urt. v. 8.11.1972 – 4 U 698/72, AG 1972, 49, 50. 11) Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 70 AktG Rz. 4; Einzelheiten zur möglichen Interessenkollision bei Bayer/Sarakinis, NZG 2018, 561, 565. 12) Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 70 AktG Rz. 4.

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der gemeinschaftliche Vertreter.13) Eine zeitliche Befristung der Bestellung ist zulässig.14) Der Vertreter kann – neben den Aktionären der Gemeinschaft – ins Aktienregister eingetragen werden und ist dann gegenüber der AG gemäß § 67 Abs. 2 besonders legitimiert.15) Die Art und Weise der Vertreterbestellung richtet sich nach dem betreffenden bürgerlichen Recht. Aus dem Erfordernis einer Benennung in § 69 Abs. 2 folgt jedoch, dass es sich zwingend um eine Außenvollmacht handeln muss (streitig).16) Über den Umfang der Vertretungsmacht besagt § 69 Abs. 1 nichts.17) Richtigerweise sind daher inhaltliche Beschränkungen zulässig (streitig).18) Die AG wird insofern über § 174 BGB geschützt (vgl. auch das Erfordernis der Urkundsvorlage gemäß § 134 Abs. 3 Satz 3). Die mit der Bestellung des Vertreters einhergehende Bevollmächtigung ist gemäß § 168 Satz 2 BGB frei widerruflich.19) 4 § 69 Abs. 1 ist nach zutreffender Ansicht in Teilen dispositiv. Die Satzung einer AG kann daher für die betreffenden Personenzusammenschlüsse auch zulassen, dass deren Mitglieder ihren Willen gemeinschaftlich nach den jeweils maßgeblichen Regeln bilden und gegenüber der AG erklären (streitig).20) Unzulässig ist es indessen, wenn die Person oder persönlichen Eigenschaften des Vertreters durch Satzungsregelung festgelegt werden; diese richten sich zwingend nach dem jeweiligen Recht der Personengemeinschaften.21) Es ist indessen auch ohne entsprechende Satzungsregelung zulässig, mehrere Personen als gemeinschaftliche Vertreter zu bestellen, was jedoch zwingend deren Gesamtvertretungsmacht nach sich zieht (streitig).22) 5 Der gemeinschaftliche Vertreter ist kraft seiner Bevollmächtigung befugt, die Rechte aus der Aktie mit Wirkung für und gegen die Mitglieder der Gemeinschaft auszuüben. Dies betrifft vor allem die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Verwaltungsrechte (vor allem Stimmrecht und Fragerecht, Geltendmachung von Beschlussmängeln, Antragsrechte zugunsten der Minderheit).23) Der Vertreter kann einem eigenen Stimmverbot gemäß § 136 Abs. 1 unterliegen.24) Die dingliche und schuldrechtliche Rechtszuständigkeit wird von § 69 Abs. 1 nicht geregelt. Der Gewinnanspruch steht daher z. B. den beteiligten Personen gemäß ihrer zivilrechtlichen Verbundenheit gemeinschaftlich zu, ohne dass es hierfür eines Vertreters bedürfte; die Ausübung dieser Ansprüche erfolgt indessen durch den gemeinschaftlichen Vertreter.25) Das Gleiche gilt für das Bezugsrecht. Auch ist der gemein-

_____________ 13) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 69 Rz. 3; Einzelheiten bei Bayer/Sarakinis, NZG 2018, 561, 570 f. 14) Bayer/Sarakinis, NZG 2018, 561, 564. 15) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 69 Rz. 7; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 69 Rz. 2; Einzelheiten bei Blasche, AG 2015, 342; Bayer/Sarakinis, NZG 2018, 561, 566. 16) Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 69 Rz. 6; abweichend Bayer/Sarakinis, NZG 2018, 561, 563 – auch nach außen kundgegebene Innenvollmacht. 17) Einzelheiten bei Cahn in: BeckOGK-AktR, § 69 AktG Rz. 16. 18) Abweichend Bayer/Sarakinis, NZG 2018, 561, 564, unter Hinweis auf die Praktikabilität, was jedoch wegen der vielen Schutzmechanismen zugunsten der Gegenseite nicht überzeugt. 19) Bayer/Sarakinis, NZG 2018, 561, 564. 20) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 69 AktG Rz. 19; abweichend Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 69 AktG Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 69 Rz. 6; Bayer/Sarakinis, NZG 2018, 561, 562, 569 f. 21) So für die Erbengemeinschaft auch Bayer/Sarakinis, NZG 2018, 561, 566. 22) Wie hier Bayer/Sarakinis, NZG 2018, 561, 565 f.; abweichend unter Hinweis auf § 134 Abs. 3 Satz 2 Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 69 Rz. 4. 23) Bayer/Sarakinis, NZG 2018, 561, 567. 24) Bayer/Sarakinis, NZG 2018, 561, 567. 25) Etwas undeutlich Bayer/Sarakinis, NZG 2018, 561, 567.

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§ 70

Berechnung der Aktienbesitzzeit

schaftliche Vertreter nicht befugt, die Aktie zu übertragen oder zu belasten (Verpfändung, Nießbrauch).26) IV.

Gesamtschuldnerische Haftung (§ 69 Abs. 2)

Gemäß § 69 Abs. 2 haften die Mitglieder einer erfassten Rechtsgemeinschaft für die Leis- 6 tungen auf die Aktie zwingend gesamtschuldnerisch. Dies betrifft die Einlagepflichten i. S. von § 54 sowie sämtliche sonstigen, hiermit mittelbar zusammenhängenden Leistungspflichten (vgl. §§ 63 Abs. 2, 65) und Nebenleistungspflichten i. S. von § 55. Die Rückerstattungspflicht gemäß § 62 trifft hingegen nur den konkreten Leistungsempfänger (streitig).27) Die erbrechtlichen Haftungsbeschränkungen haben jedoch Vorrang, so dass sich jeder Erbe über §§ 1975 ff. BGB von einer Inanspruchnahme befreien kann (streitig).28) V.

Passivvertretung (§ 69 Abs. 3)

Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 ist im Fall der Passivvertretung zwingend (streitig)29) jedes Mit- 7 glied der betreffenden Personengemeinschaft mit Wirkung für und gegen die übrigen empfangsbefugt, wenn kein gemeinschaftlicher Vertreter bestellt wurde (vgl. z. B. für die Nachfrist gemäß § 64 Abs. 2). § 69 Abs. 3 Satz 2 schränkt dies bei Erben jedoch für Willenserklärungen innerhalb des ersten Monats nach dem Erbfall ein.30) _____________ 26) Bayer/Sarakinis, NZG 2018, 561, 567. 27) Wie hier Cahn in: BeckOGK-AktR, § 69 AktG Rz. 20; abweichend die wohl h. M., vgl. nur K. Schmidt/ Lutter-Bezzenberger, AktG, § 69 Rz. 10; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 69 Rz. 8. 28) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 69 AktG Rz. 22; abweichend K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 69 Rz. 10, wenn die Erben ins Aktienregister eingetragen sind; ebenso Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 69 Rz. 7. 29) Abweichend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 69 Rz. 8. 30) Einzelheiten bei Cahn in: BeckOGK-AktR, § 69 AktG Rz. 25.

§ 70 Berechnung der Aktienbesitzzeit Wolfgang Servatius

1

Ist die Ausübung von Rechten aus der Aktie davon abhängig, dass der Aktionär während eines bestimmten Zeitraums Inhaber der Aktie gewesen ist, so steht dem Eigentum ein Anspruch auf Übereignung gegen ein Kreditinstitut, ein Finanzdienstleistungsinstitut, ein Wertpapierinstitut oder ein nach § 53 Absatz 1 Satz 1 oder § 53b Absatz 1 Satz 1 oder Absatz 7 des Kreditwesengesetzes tätiges Unternehmen gleich. 2Die Eigentumszeit eines Rechtsvorgängers wird dem Aktionär zugerechnet, wenn er die Aktie unentgeltlich, von seinem Treuhänder, als Gesamtrechtsnachfolger, bei Auseinandersetzung einer Gemeinschaft oder bei einer Bestandsübertragung nach § 13 des Versicherungsaufsichtsgesetzes oder § 14 des Gesetzes über Bausparkassen erworben hat. Literatur: Grunewald, Die Rechtsstellung des Legitimationsaktionärs, ZGR 2015, 347.

Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt ................................ 1 II. Aktienbesitzzeit ................................. 2

III. Hinzurechnung gemäß § 70 Satz 1 ........................................... 4 IV. Hinzurechnung gemäß § 70 Satz 2 ........................................... 6

Wolfgang Servatius

473

§ 70 I.

Berechnung der Aktienbesitzzeit Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

1 Die Norm ergänzt die Regelungen, bei denen es auf eine bestimmte Aktienbesitzzeit ankommt, und führt zur Anrechnung bestimmter Vorerwerbszeiten des Aktionärs. Gemäß § 70 Satz 1 werden zugunsten des Inhabers bzw. des im Aktienregister eingetragenen Aktionärs (vgl. § 67 Abs. 2 Satz 1) dem Aktieneigentum bzw. der Inhaberschaft an Aktien bestimmte Aktienverschaffungsansprüche gegen Kreditinstitute gleichgestellt. § 70 Satz 2 bezieht insofern auch Treuhandgestaltungen und vergleichbare Rechtsverhältnisse ein. Die beiden Hinzurechnungen können auch gestaffelt hintereinander zur Anwendung kommen.1) II.

Aktienbesitzzeit

2 Die von § 70 geregelte Aktienbesitzzeit ist vor allem bei bestimmten Minderheitenrechten relevant. Folgende Regelungen setzen etwa einen Aktienbesitz von mindestens drei Monaten voraus: –

§ 142 Abs. 2 Satz 2 (Antrag auf gerichtliche Bestellung von Sonderprüfern zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen),



§ 258 Abs. 2 Satz 4 (Antrag auf gerichtliche Bestellung von Sonderprüfern im Hinblick auf den Jahresabschluss),



§ 265 Abs. 3 Satz 2 (Antrag auf gerichtliche Bestellung oder Abberufung von Abwicklern),



§ 315 Satz 2 (Antrag auf gerichtliche Bestellung von Sonderprüfung beim faktischen Konzern),



§ 318 Abs. 3 Satz 3 und 4 HGB (Antrag auf Ersetzung des von der Hauptversammlung gewählten Abschlussprüfers).

3 Die Regelung gilt aber entsprechend in den Fällen, in denen es auf einen bestimmten Zeitpunkt der Aktieninhaberschaft ankommt, so dass die tatbestandlich erfassten Hinzurechnungen die jeweilige Aktivlegitimation zu begründen vermögen.2) Relevant ist dies etwa in folgenden Fällen: –

§ 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 (Antrag auf gerichtliche Ermächtigung zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen),



§ 245 Nr. 1 (Anfechtungsbefugnis),3)



§ 246a Abs. 2 Nr. 2 (Freigabeverfahren).

III.

Hinzurechnung gemäß § 70 Satz 1

4 Die Hinzurechnung gemäß § 70 Satz 1 erfasst die Fälle, in denen dem Aktionär gegen eine Verwahrstelle Verschaffungsansprüche auf die betreffenden Aktien zustanden bzw. zustehen.4) Dies betrifft vor allem die Ansprüche gemäß §§ 383 ff. HGB und §§ 18 ff. DepotG, sofern es zum Zwischenerwerb des betreffenden Aktionärs kam oder kommen

_____________ 1) 2) 3) 4)

474

Vgl. Bayer in: MünchKomm-AktG, § 70 Rz. 23; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 70 Rz. 7. K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 70 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 70 Rz. 5; abweichend Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 70 Rz. 2. Vgl. hierzu im Hinblick auf die Hinzurechnung eines Legitimationsaktionärs Grunewald, ZGR 2015, 347, 358 f. Einzelheiten bei K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 70 Rz. 4.

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§ 70

Berechnung der Aktienbesitzzeit

soll.5) Erfasst sind diese jedoch nur, soweit sie fällig sind bzw. waren6) und sich gegen die genannten Institute oder Unternehmen richten: –

Kreditinstitute (§§ 1 Abs. 1 Satz 1, 2 Abs. 1 KWG),



Finanzdienstleistungsinstitute (§§ 1 Abs. 1a, 2 Abs. 6 KWG),



Wertpapierinstitute7) (§ 1 Abs. 1 WpIG),



Unternehmen i. S. von §§ 53 Abs. 1 Satz 1, 53b Abs. 1 Satz 1, Abs. 7 KWG.



Erfasst werden zudem ausländische Einlagenkreditinstitute i. S. von § 1 Abs. 3d Satz 1 KWG und Wertpapierhandelsunternehmen i. S. von § 1 Abs. 3d Satz 2 KWG mit Sitz in einem anderen Staat des EWR und Geschäftstätigkeit oder Zweigstelle im Inland (vgl. § 53b Abs. 1 Satz 1 KWG).8)

Die gemäß § 2 Abs. 4 KWG nicht der Bankenaufsicht unterstellten Unternehmen werden 5 nicht von der Regelung erfasst.9) Das Bezugsrecht eines Aktionärs wird nicht von § 70 Satz 1 erfasst, außer in den Fällen des § 186 Abs. 5.10) Im Übrigen ist zu bedenken, dass die Girosammelverwahrung nicht unter § 70 Satz 1 fällt, weil die Aktionärsstellung hier bereits dinglich besteht.11) IV.

Hinzurechnung gemäß § 70 Satz 2

Gemäß § 70 Satz 2 ist in bestimmten Fällen zugunsten des jetzigen Aktionärs weiterhin 6 die Hinzurechnung der Besitzzeit des Rechtsvorgängers möglich. Folgende Gestaltungen werden abschließend12) genannt: –

unentgeltlicher Erwerb (§§ 515 ff. BGB, § 2301, §§ 2147 ff. BGB, nicht aber beim zinslosen Wertpapierdarlehen),13)



Erwerb von seinem Treuhänder (eigennützige und uneigennützige Treuhand),14)



Erwerb i. R. einer Gesamtrechtsnachfolge (§§ 1922 ff. BGB, Umwandlungen),



Erwerb i. R. der Auseinandersetzung einer Gemeinschaft, einschließlich der Gesamthandsgemeinschaft (§§ 741 ff. BGB, Erbengemeinschaft, Gütergemeinschaft, Auseinandersetzung von Personengesellschaften),15)



Bestandsübertragungen nach § 14 VAG und § 14 BausparkG.

_____________ 5) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 70 Rz. 3. 6) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 70 Rz. 3. 7) „Wertpapierinstitute“ hinzugefügt durch Art. 7 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/2034 über die Beaufsichtigung von Wertpapierinstituten v. 12.5.2021, BGBl. I 2021, 990. 8) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 70 AktG Rz. 5. 9) H. M., vgl. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 70 AktG Rz. 5; zu Recht zweifelnd Bayer in: MünchKommAktG, § 70 Rz. 6. 10) Vgl. m. w. N. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 70 Rz. 3. 11) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 70 Rz. 4. 12) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 10. 13) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 70 Rz. 6. 14) Bayer in: MünchKomm-AktG, § 70 Rz. 16. 15) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 70 Rz. 4.

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§ 71

Erwerb eigener Aktien

§ 71 Erwerb eigener Aktien Wolfgang Servatius

(1) 1Die Gesellschaft darf eigene Aktien nur erwerben, 1. wenn der Erwerb notwendig ist, um einen schweren, unmittelbar bevorstehenden Schaden von der Gesellschaft abzuwenden, 2. wenn die Aktien Personen, die im Arbeitsverhältnis zu der Gesellschaft oder einem mit ihr verbundenen Unternehmen stehen oder standen, zum Erwerb angeboten werden sollen, 3. wenn der Erwerb geschieht, um Aktionäre nach § 305 Abs. 2, § 320b oder nach § 29 Abs. 1, § 125 Satz 1 in Verbindung mit § 29 Abs. 1, § 207 Abs. 1 Satz 1 des Umwandlungsgesetzes abzufinden, 4. wenn der Erwerb unentgeltlich geschieht oder ein Kreditinstitut mit dem Erwerb eine Einkaufskommission ausführt, 5. durch Gesamtrechtsnachfolge, 6. auf Grund eines Beschlusses der Hauptversammlung zur Einziehung nach den Vorschriften über die Herabsetzung des Grundkapitals, 7. wenn sie ein Kreditinstitut, ein Finanzdienstleistungsinstitut, ein Wertpapierinstitut oder ein Finanzunternehmen ist, aufgrund eines Beschlusses der Hauptversammlung zum Zwecke des Wertpapierhandels. 2Der Beschluß muß bestimmen, daß der Handelsbestand der zu diesem Zweck zu erwerbenden Aktien fünf vom Hundert des Grundkapitals am Ende jeden Tages nicht übersteigen darf; er muß den niedrigsten und höchsten Gegenwert festlegen. 3Die Ermächtigung darf höchstens fünf Jahre gelten; oder 8. aufgrund einer höchstens fünf Jahre geltenden Ermächtigung der Hauptversammlung, die den niedrigsten und höchsten Gegenwert sowie den Anteil am Grundkapital, der zehn vom Hundert nicht übersteigen darf, festlegt. 4Als Zweck ist der Handel in eigenen Aktien ausgeschlossen. 5§ 53a ist auf Erwerb und Veräußerung anzuwenden. 6Erwerb und Veräußerung über die Börse genügen dem. 7Eine andere Veräußerung kann die Hauptversammlung beschließen; § 186 Abs. 3, 4 und § 193 Abs. 2 Nr. 4 sind in diesem Fall entsprechend anzuwenden. 8Die Hauptversammlung kann den Vorstand ermächtigen, die eigenen Aktien ohne weiteren Hauptversammlungsbeschluß einzuziehen. (2) 1Auf die zu den Zwecken nach Absatz 1 Nr. 1 bis 3, 7 und 8 erworbenen Aktien dürfen zusammen mit anderen Aktien der Gesellschaft, welche die Gesellschaft bereits erworben hat und noch besitzt, nicht mehr als zehn vom Hundert des Grundkapitals entfallen. 2Dieser Erwerb ist ferner nur zulässig, wenn die Gesellschaft im Zeitpunkt des Erwerbs eine Rücklage in Höhe der Aufwendungen für den Erwerb bilden könnte, ohne das Grundkapital oder eine nach Gesetz oder Satzung zu bildende Rücklage zu mindern, die nicht zur Zahlung an die Aktionäre verwandt werden darf. 3In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1, 2, 4, 7 und 8 ist der Erwerb nur zulässig, wenn auf die Aktien der Ausgabebetrag voll geleistet ist. (3) 1In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 und 8 hat der Vorstand die nächste Hauptversammlung über die Gründe und den Zweck des Erwerbs, über die Zahl der erworbenen Aktien und den auf sie entfallenden Betrag des Grundkapitals, über deren Anteil am Grundkapital sowie über den Gegenwert der Aktien zu unterrichten. 2Im Falle des

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§ 71

Erwerb eigener Aktien

Absatzes 1 Nr. 2 sind die Aktien innerhalb eines Jahres nach ihrem Erwerb an die Arbeitnehmer auszugeben. (4) 1Ein Verstoß gegen die Absätze 1 oder 2 macht den Erwerb eigener Aktien nicht unwirksam. 2Ein schuldrechtliches Geschäft über den Erwerb eigener Aktien ist jedoch nichtig, soweit der Erwerb gegen die Absätze 1 oder 2 verstößt. Literatur: van Aerssen, Erwerb eigener Aktien und Wertpapierhandelsgesetz: Neues von der Schnittstelle Gesellschaftsrecht/Kapitalmarktrecht, WM 2000, 391; Baums/Stöcker, Rückerwerb eigener Aktien und WpÜG, in: Festschrift für Herbert Wiedemann, 2002, S. 703; Berrar/ Schnorbus, Rückerwerb eigener Aktien und Übernahmerecht, ZGR 2003, 59; Broichhausen, Mitwirkungskompetenz der Hauptversammlung bei der Ausgabe von Wandelschuldverschreibungen auf eigene Aktien, NZG 2012, 86; Butzke, Gesetzliche Neuregelungen beim Erwerb eigener Aktien, WM 1995, 1389; Cahn, Die Auswirkungen der Kapitaländerungsrichtlinie auf den Erwerb eigener Aktien, Der Konzern 2007, 385; Dörrwächter, Aktien für den Aufsichtsrat, NZG 2020, 370; Fleischer, Statthaftigkeit und Grenzen der Kursstabilisierung, ZIP 2003, 2045; Häller/Roggemann, Publizitätspflichten beim Rückerwerb eigener Aktien zur Mitarbeitervergütung und Einziehung, NZG 2019, 1005; Habersack, Das Andienungs- und Erwerbsrecht bei Erwerb und Veräußerung eigener Anteile, ZIP 2004, 1121; Habersack, Rückerwerbbare Aktien auch für deutsche Gesellschaften!, in: Festschrift für Marcus Lutter, 2000, S. 1329; Huber, Rückkauf eigener Aktien, in: Festschrift für Bruno Kropff, 1997, S. 101; Huber, Zum Aktienerwerb durch ausländische Tochtergesellschaften, in: Festschrift für Konrad Duden, 1977, S. 137; Hüffer, Aktienbezugsrechte als Bestandteil der Vergütung von Vorstandsmitgliedern und Mitarbeitern – gesellschaftsrechtliche Analyse, ZHR 161 (1994) 214; Hüffer, Harmonisierung des aktienrechtlichen Kapitalschutzes, NJW 1979, 1065; Johannemann/Herr, Rückkauf eigener Aktien beim Eigenhandel von Kreditinstituten, BB 2015, 2158; Johannsen-Roth, Der Einsatz von Eigenkapitalderivaten beim Erwerb eigener Aktien nach § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG, ZIP 2011, 407; Kallweit/Simons, Aktienrückkauf zum Zweck der Einziehung und Kapitalherabsetzung, AG 2014, 352; Kiem, Der Erwerb eigener Aktien bei der kleinen AG, ZIP 2000, 209; Kocher, Sind Ermächtigungen der Hauptversammlung zur Verwendung eigener Aktien analog § 202 I AktG auf 5 Jahre befristet?, NZG 2010, 172; Kort, Pflichten von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern beim Erwerb eigener Aktien zwecks Vorstandsvergütung, NZG 2008, 823; Kropff, Gesellschaftsrechtliche Auswirkungen der Ausschüttungssperre in § 268 Abs. 8 HGB, in: Festschrift für Uwe Hüffer, 2010, S. 539; Kruchen, Risikoabsicherung aktienbasierter Vergütungen mit eigenen Aktien, AG 2014, 655; Kuhn, Arbitragegeschäfte der Aktienbanken in eigenen Aktien, NJW 1973, 833; Leuering, Der Rückerwerb eigener Aktien im Aktionsverfahren, AG 2007, 337; Martens, Erwerb und Veräußerung eigener Aktien im Börsenhandel, AG 1996, 337; Martens, Der Erwerb eigener Aktien zum Umtausch im Verschmelzungsverfahren, in: Festschrift für Karlheinz Boujong, 1996, S. 335; Mick, Aktien- und bilanzsteuerrechtliche Implikationen beim Einsatz von Eigenkapitalderivaten beim Aktienrückkauf, DB 1999, 1201; Oechsler, Die Wertpapierleihe im Anwendungsbereich des § 71 AktG, AG 2010, 526; Oechsler, Die Änderung der Kapitalrichtlinie und der Rückerwerb eigener Aktien, ZHR 170 (2006) 72; Paefgen, Die Gleichbehandlung beim Aktienrückerwerb im Schnittfeld von Gesellschafts- und Übernahmerecht, ZIP 2002, 1509; Paefgen, Eigenkapitalderivate bei Aktienrückkäufen und Managementbeteiligungsmodellen, AG 1999, 67; Reichert/Harbarth, Veräußerung und Einbeziehung eigener Aktien, ZIP 2001, 1441; Rieckers, Ermächtigung des Vorstands zu Erwerb und Einziehung eigener Aktien, ZIP 2009, 700; Saria, Schranken beim Erwerb eigener Aktien nach § 71 I Nr. 8 AktG, NZG 2000, 458; Schulz, Strategien zum Umgang mit eigenen Anteilen bei der Vorbereitung eines Börsengangs, ZIP 2015, 510; Seibt/Brennkamp, Erwerb eigener Aktien und Ad-hoc-Publizitätspflicht, AG 2008, 469; Stallknecht/Schulze-Uebbing, Der Rückerwerb eigener Aktien durch nicht börsennotierte Aktiengesellschaften, AG 2010, 657; Tollkühn, Die Schaffung von Mitarbeiteraktien durch kombinierte Nutzung von genehmigtem Kapital und Erwerb eigener Aktien unter Einschaltung eines Kreditinstituts, NZG 2004, 594; Vetter, Gegenleistung beim Erwerb eigener Aktien mittels

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Erwerb eigener Aktien

Call Optionen, AG 2004, 344; Vetter, Die Gegenleistung für den Erwerb eigener Aktien, AG 2003, 478; Wagner, Zur aktienrechtlichen Zulässigkeit von Share-Matching-Plänen, BB 2010, 1739; Ziebe, Die Regelung des Erwerbs eigener Aktien in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, AG 1982, 175; Zöllner, Gerechtigkeit bei der Kapitalerhöhung, AG 2002, 585.

Übersicht I. Bedeutung der Norm ....................... 1 II. Regelungsgehalt ............................... 3 III. Erwerbsverbot ................................... 4 1. Erfasste Gestaltungen ........................ 5 2. Rechtsfolgen ...................................... 7 IV. Ausnahmetatbestände (§ 71 Abs. 1) ....................................... 9 1. Schadensabwehr (§ 71 Abs. 1 Nr. 1) ........................... 10 2. Belegschaftsaktien (§ 71 Abs. 1 Nr. 2) ........................... 13 3. Bedienung von Abfindungsansprüchen (§ 71 Abs. 1 Nr. 3) ...... 15 4. Unentgeltlicher Erwerb, Einkaufskommission (§ 71 Abs. 1 Nr. 4) ..... 17 a) Unentgeltlicher Erwerb ............ 17 b) Einkaufskommission ................. 18 5. Gesamtrechtsnachfolge (§ 71 Abs. 1 Nr. 5) ........................... 19 6. Erwerb zur Einziehung (§ 71 Abs. 1 Nr. 6) ........................... 20 7. Wertpapierhandel von Kreditinstituten (§ 71 Abs. 1 Nr. 7) ......... 21 8. Ermächtigung der Hauptversammlung (§ 71 Abs. 1 Nr. 8) .................. 22 a) Vorstandsermächtigung ............ 23 aa) Festlegung des niedrigsten und höchsten Gegenwertes für den Erwerb ........................... 24 I.

bb) Höchstdauer ............................... 27 cc) Höchstbetrag .............................. 28 dd) Rückerwerbszweck .................... 29 (1) Kompetenz ................................. 29 (2) Beispiele ...................................... 30 (3) Kein Handel mit eigenen Aktien ......................................... 33 b) Erwerb und Veräußerung der eigenen Aktien ..................... 34 aa) Gleichbehandlungsgebot ........... 35 (1) Rückerwerb ................................. 36 (2) Weiterveräußerung ..................... 39 bb) Erwerb und Veräußerung über die Börse ............................. 40 (1) Rückerwerb ................................. 42 (2) Weiterveräußerung ..................... 43 V. Weitere Erwerbsschranken (§ 71 Abs. 2) ..................................... 46 1. Maximaler Erwerb ............................ 47 2. Rücklagenbildung ............................. 48 3. Volleinzahlungsgebot ....................... 50 4. Verdeckte Gewinnausschüttungen ................................. 51 a) Erwerbspreis ............................... 52 b) Verkaufserlös .............................. 53 VI. Aktionärsinformation (§ 71 Abs. 3 Satz 1) .......................... 54 VII. Rechtsfolgen des zulässigen Erwerbs (§ 71 Abs. 3 Satz 2) ........... 56

Bedeutung der Norm

1 Die Norm ordnet an, in welchen Fällen die AG ausnahmsweise eigene Aktien erwerben darf. Sie wird ergänzt durch die §§ 71a – 71e, welche das Erwerbsverbot näher konkretisieren und Umgehungssachverhalte mit einbeziehen sowie durch das Zeichnungsverbot gemäß § 56. Das Verbot eigene Aktien zu erwerben und die katalogartigen Ausnahmen hiervon sind zentraler Bestandteil der Kapitalrichtlinie aus dem Jahr 1978 (vgl. Art. 19 – 24a, 39).1) Die hierauf beruhenden §§ 71 – 71e wurden 1978 eingeführt und in der Zwischenzeit mehrfach geändert.2) Der Regelungskomplex war in Deutschland zuvor lediglich rudimentär ausgeprägt; vgl. aber auch § 33 GmbHG. _____________ 1) 2)

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Vgl. Hüffer, NJW 1979, 1065, 1069. Überblick über die Entstehungsgeschichte bei K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71 Rz. 10 ff.; zu Umsetzungsdefiziten anlässlich der im Jahr 2006 geänderten früheren Kapitalrichtlinie Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 35.

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§ 71

Erwerb eigener Aktien

Das zentrale Schutzanliegen der §§ 71 ff. ist ein Doppeltes: Würde man den Erwerb eige- 2 ner Aktien zulassen, wäre hierdurch bei nicht voll eingezahlten Anteilen die Kapitalaufbringung obsolet, weil die AG Schuldnerin und Gläubigerin der Einlageforderung wäre; vor allem aber würde der Erwerbspreis eine unzulässige Einlagenrückgewähr gemäß § 57 bedeuten. Zum anderen verschieben eigene Aktien das Kompetenzgefüge in der AG, indem der Vorstand als ihr Vertreter Befugnisse erlangt, die an sich den Aktionären in der Hauptversammlung zustehen (sog. Verwaltungsstimmrecht). Insofern bestehen rechtspolitisch dem Grunde nach kaum Bedenken gegen das Verbot und seine Ausnahmen, wenngleich andere Rechtsordnungen dies teilweise liberaler handhaben.3) § 71 ist kein Schutzgesetz zugunsten der Aktionäre i. S. von § 823 Abs. 2 BGB und kann auch nicht zur Begründung eines Unterlassungsanspruchs der Aktionäre gemäß § 1004 BGB gegen die verbotene Aktienausgabe herangezogen werden.4) II.

Regelungsgehalt

§ 71 Abs. 1 begründet ein Erwerbsverbot für eigene Aktien, soweit nicht einer der genannten 3 Erlaubnistatbestände eingreift. Liegt eine derartige Erlaubnis nicht vor, ist der Aktienerwerb gemäß § 71 Abs. 4 nicht unwirksam, wohl aber das zugrunde liegende Kausalgeschäft. Aus den verbotenerweise erworbenen eigenen Aktien stehen der AG gemäß § 71b keine Rechte zu; der Vorstand ist gemäß § 71c verpflichtet, die Aktien alsbald zu veräußern, ansonsten kommt es zur Einziehung gemäß § 237. Das Erwerbsverbot erfasst als Umgehungstatbestände auch die Finanzierung des Anteilserwerbs durch die AG (§ 71a) sowie den Aktienerwerb zurechenbarer Dritter (§ 71d); für die Inpfandnahme eigener Aktien gilt § 71e. § 71 Abs. 2 begrenzt die in § 71 Abs. 1 Nr. 1 – 8 genannten Erlaubnistatbestände im Hinblick auf das Gesamtvolumen der eigenen Aktien, sichert über die Rücklagenpflicht die Kapitalerhaltung und gewährleistet durch das Volleinzahlungsgebot die reale Kapitalaufbringung. § 71 Abs. 3 begründet wesentliche Informationspflichten des Vorstands gegenüber der Hauptversammlung. Bei börsennotierten AGs sind im Kontext des Erwerbs eigener Aktien ergänzend die kapitalmarktrechtlichen Regelungen gemäß WpHG und MMVO (Insiderrecht, Ad-hoc-Publizität, Marktmanipulation) und Safe-Harbour-VO zu beachten.5) Vgl. zu §§ 71 ff. auch die Ordnungswidrigkeit gemäß § 405 Abs. 1 Nr. 4. III.

Erwerbsverbot

Die AG darf keine eigenen Aktien erwerben, soweit dies nicht durch die Ausnahmetat- 4 bestände nach § 71 Abs. 1 und Abs. 2 erlaubt ist. Die Regelung ist zwingend.6) 1.

Erfasste Gestaltungen

Die Regelung betrifft nur den derivativen Erwerb existenter eigener Aktien; für die Ak- 5 tienübernahme (§ 23 Abs. 2 Nr. 2) und Zeichnung (§ 185) gilt § 56. Das Verbot erstreckt sich auf alle Aktien, unabhängig von ihrer Art (Gattung i. S. von § 11, Namens- oder Inhaberaktie i. S. von § 10; Zwischenscheine) oder rechtlichen Ausgestaltung, insbesondere der Verbriefung. Der erfasste Erwerb ist zum einen dinglich zu sehen, mithin die Einräumung der Aktionärsstellung durch Übereignung (§ 929 BGB) oder Abtretung (§§ 398, _____________ 3) 4) 5) 6)

Rechtsvergleichende Hinweise z. B. bei Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71 Rz. 45 ff.; ausführlich zur ökonomischen Betrachtung Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71a AktG Rz. 1 ff. LG Memmingen, Urt. v. 11.8.2010 – 2 HK O 515/10, GWR 2010, 455. Hierzu ausführlich Cahn in: BeckOKG-AktR, § 71 AktG Rz. 162 ff.; Häller/Roggemann, NZG 2019, 1005. Unstreitig, vgl. nur Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 1.

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§ 71

Erwerb eigener Aktien

413 BGB). Es spielt keine Rolle, wie lange die Rechtsübertragung stattfinden soll.7) Auch die schuldrechtliche causa ist unerheblich (Kauf, Tausch, Schenkung, Leihe bzw. Sachdarlehen,8) Treuhand, Gesamtrechtsnachfolge, Zwangsvollstreckung);9) vgl. aber die hieran unterschiedlich anknüpfenden Erlaubnistatbestände sowie die Unwirksamkeit derartiger Abreden gemäß § 71 Abs. 4 Satz 2 (siehe unten Rz. 56 f.). Es genügt, wenn die AG Mitinhaber der Aktien wird (vgl. § 69);10) für den Aktienerwerb Dritter folgt der Umgehungsschutz aus § 71d; für die Inpfandnahme eigener Aktien gilt § 71e. Die bloße Erlangung von Verfügungsbefugnis über eigene Aktien – z. B. i. R. der Verkaufskommission gemäß § 383 Abs. 1 HGB – fällt nicht unter das Erwerbsverbot.11) 6 Die bloß schuldrechtliche Möglichkeit oder gar Pflicht, eigene Aktien zu erwerben, fällt ebenfalls unter das Verbot, da § 71 Abs. 4 Satz 2 die Unwirksamkeit derartiger Verträge anordnet (streitig).12) Dies gilt entgegen der h. M. auch für das Bezugsrecht i. S. von § 18613) und den Erwerb von Options- oder Wandelschuldanleihen.14) Die genannten Rechte können jedoch i. R. eines der Erlaubnistatbestände erworben werden. Dividendenscheine und Genussrechte kann die AG ohne weiteres erwerben.15) 2.

Rechtsfolgen

7 Kommt es zum verbotenen Erwerb, ist der dingliche Rechtserwerb gemäß § 71 Abs. 4 Satz 1 nicht unwirksam. Die AG wird Aktionärin; ihr stehen im Hinblick auf die verbotenerweise erworbenen eigenen Aktien jedoch gemäß § 71b keine Rechte zu. Der Vorstand macht sich nach § 93 Abs. 3 Nr. 3 schadensersatzpflichtig;16) ggf. auch wegen verbotener Einlagenrückgewähr nach § 93 Abs. 3 Nr. 1; vgl. zudem die Ordnungswidrigkeit gemäß § 405 Abs. 1 Nr. 4 lit. a. Der Vorstand ist gemäß § 71c zudem verpflichtet, die Aktien alsbald zu veräußern, ansonsten kommt es zur Einziehung gemäß § 237. 8 Nach § 71 Abs. 4 Satz 2 sind die schuldrechtlichen Geschäfte über den verbotenen Erwerb nichtig (Ausnahmen gemäß §§ 29 Abs. 1 Satz 1, 207 Abs. 1 Satz 1 UmwG). Die AG hat keine Erfüllungsansprüche.17) Der Aktienerwerb ist gemäß §§ 812 ff. BGB rückabzuwickeln.18) Gegen den Veräußerer besteht zudem ein Anspruch aus §§ 57, 61 auf Erstattung des Erwerbspreises. Nach § 71a Abs. 2 sind auch die Rechtsgeschäfte nichtig, die die AG mit einem auf ihre Rechnung handelnden Dritten schließt, wenn der hierdurch geregelte Aktienerwerb gegen die § 71 Abs. 1 und Abs. 2 verstoßen würde (Einzelheiten dort).

_____________ 7) 8) 9) 10) 11) 12)

13) 14) 15) 16)

17) 18)

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Vgl. zum Sicherungseigentum Oechsler, AG 2010, 526. Auch Pensionsgeschäfte, vgl. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 4. Einzelheiten bei Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 36 ff. Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71 Rz. 73. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 43; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 6. Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71 Rz. 73; abweichend etwa Mick, DB 1999, 1201, 1202; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 4; vgl. zu Call-Optionen Vetter, AG 2003, 478, 479; vgl. auch LG Göttingen, Urt. v. 6.1.1992 – 8 O 123/91, WM 1992, 1373 – keine Erfüllungsansprüche aus nichtigem Vertrag. Abweichend aber Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 43. Abweichend Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71 Rz. 94; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 5; zum Erwerb von Derivaten Johannsen-Roth, ZIP 2011, 407. Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71 Rz. 91; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 5. Vgl. OLG Frankfurt/M., Urt. v. 15.2.2008 – 10 U 90/07, NZG 2008, 836; OLG Stuttgart, Urt. v. 25.11.2009 – 20 U 5/09, ZIP 2009, 2386 = NZG 2010, 141, dazu EWiR 2010, 477 (Becker/Laubinger); Huber in: FS Duden, S. 137, 144 f.; Kort, NZG 2008, 823. LG Göttingen, Urt. v. 6.1.1992 – 8 O 123/91, WM 1992, 1373 f. Einzelheiten bei K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71 Rz. 87.

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§ 71

Erwerb eigener Aktien IV.

Ausnahmetatbestände (§ 71 Abs. 1)

§ 71 Abs. 1 und Abs. 2 sehen wie die Vorgaben der Gesellschaftsrechts-Richtlinie zwingend 9 einen – komplizierten – abschließenden Katalog der Erlaubnistatbestände vor. Die Beweislast für das Vorliegen obliegt demjenigen, der sich darauf beruft.19) 1.

Schadensabwehr (§ 71 Abs. 1 Nr. 1)

Der Erwerb eigener Aktien ist gemäß § 71 Abs. 1 Nr. 1 zulässig, wenn er objektiv20) not- 10 wendig ist, um einen schweren, unmittelbar bevorstehenden Schaden von der AG abzuwenden. Die Regelung ist eng auszulegen. Erforderlich ist, dass die rechtliche Existenz der AG konkret gefährdet ist und der Erwerb der eigenen Aktien aus der ex-ante-Perspektive ein – ggf. neben anderen Maßnahmen – zwingend notwendiges und auch objektiv geeignetes Mittel ist, diese Folge abzuwenden.21) Erforderlich ist, dass der Aktienerwerb zur Schadensabwehr ohne vernünftige Alternative ist.22) Ist bereits ein derartiger Schaden eingetreten, kommt die Erlaubnis auch in Betracht, um den Schaden zu beseitigen.23) In diesen engen Grenzen kann es z. B. ausnahmsweise zulässig sein, Stützungskäufe zu 11 tätigen, um die Kreditgefährdung durch einen gezielten Baisseangriff zu vermeiden.24) Die bloße Kurspflege ist demgegenüber kein Erlaubnistatbestand,25) die Gewinnerzielung mit dem Handel eigener Aktien erst recht nicht (vgl. insofern auch § 71 Abs. 2 Satz 2, siehe unten Rz. 48 f.). Die drohende Überfremdung der AG genügt ebenfalls nicht (streitig);26) selbst dann nicht, wenn feststeht, dass der künftige Mehrheitsaktionär die AG – legal! – ausplündern oder auflösen möchte (streitig).27) Die Ausübung von Aktionärsrechten ist durch Art. 14 GG geschützt, so dass es kein Eigeninteresse der AG gibt, sich vor Auflösung durch ihre Aktionäre zu wehren. Etwas anderes gilt allenfalls dann, wenn der künftige Aktionär gesetzeswidrig handeln will und damit die Auflösung gemäß § 397 droht. In der Praxis ist wegen der Rechtsunsicherheit, ob ein Erlaubnistatbestand nach § 71 Abs. 1 Nr. 1 vorliegt oder nicht, zu einem Vorgehen nach § 71 Abs. 1 Nr. 8 zu raten, wenn die vorgenannten Maßnahmen sinnvoll erscheinen. Zu den sonstigen Erwerbsgrenzen nach § 71 Abs. 2 siehe unten Rz. 46 ff.; zur Aktionärs- 12 information siehe Rz. 54 f. Ist der Aktienerwerb hiernach ausnahmsweise zulässig, folgt aus dem generellen Verbot des Erwerbs eigener Aktien die Vorstandspflicht, die Aktien wieder zu veräußern, wenn der Schaden von der AG abgewendet wurde. Einzelheiten siehe bei § 71c Rz. 3. 2.

Belegschaftsaktien (§ 71 Abs. 1 Nr. 2)

Nach § 71 Abs. 1 Nr. 2 ist der Erwerb eigener Aktien zulässig, wenn im Zeitpunkt des Er- 13 werbs die objektiv nachvollziehbare Absicht besteht, die Aktien (ggf. ehemaligen) Arbeit_____________ 19) Einzelheiten bei K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71 Rz. 90 ff. 20) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 8. 21) Weitergehend, auch beachtliche, nicht existenzgefährdende Schäden einbeziehend, Hüffer/KochKoch, AktG, § 71 Rz. 7; Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 71 AktG Rz. 4. 22) Vgl. OLG Hamburg, Urt. v. 18.9.2009 – 11 U 183/07, AG 2010, 502, 505. 23) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 7. 24) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 9. 25) Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71 Rz. 104; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 10; liberaler Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 56. 26) H. M., vgl. nur K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71 Rz. 57; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 58; abweichend Kuhn, NJW 1973, 833. 27) Abweichend aber Raiser/Veil, KapG, § 19 Rz. 18, für den Fall, dass ein Konkurrent Aktien erwerben will; ähnlich Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 9.

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Erwerb eigener Aktien

nehmern der AG oder eines mit ihr gemäß § 15 verbundenen Unternehmens zum Erwerb anzubieten.28) Erforderlich ist eine ernstliche, durch entsprechenden Vorstandsbeschluss mit Angebotskonditionen konkretisierte Absicht.29) Aktien an Organmitglieder (Vorstand, Aufsichtsrat,30) Geschäftsführer) werden ausweislich der Gesetzesmotive nicht erfasst.31) Das Gleiche gilt für mit den erfassten Arbeitnehmern vereinbarte Rückübertragungspflichten.32) Insofern kommt jedoch ein Rückerwerb über § 71 Abs. 1 Nr. 8 in Betracht (siehe unten Rz. 22 ff.).33) Zu den sonstigen Erwerbsgrenzen nach § 71 Abs. 2 siehe unten Rz. 46 ff.; zur Aktionärsinformation siehe Rz. 54 ff. 14 Ist der Aktienerwerb hiernach zulässig, hat der Vorstand diese innerhalb eines Jahres an die Arbeitnehmer auszugeben (§ 71 Abs. 3 Satz 2).34) Kommt es hierzu nicht (vollständig), folgt aus dem generellen Verbot des Erwerbs eigener Aktien die Vorstandspflicht, die Aktien wieder zu veräußern.35) Einzelheiten siehe § 71c Rz. 3. Als Alternative zum Rückerwerb eigener Aktien für die Belegschaft bietet sich stets auch die (privilegierte) Kapitalerhöhung unter Bezugsrechtsausschluss gemäß §§ 192 Abs. 2 Nr. 3, 193 Abs. 3 Nr. 4, 202 Abs. 4, 205 Abs. 5 an.36) Die Ausgabe von Belegschaftsaktien bedarf der betrieblichen Mitbestimmung gemäß § 87 Abs. 1 BetrVG (streitig).37) 3.

Bedienung von Abfindungsansprüchen (§ 71 Abs. 1 Nr. 3)

15 Ist die AG nach Konzern- oder Umwandlungsrecht zur Abfindung außenstehender Gesellschafter (rechtsformneutral!) verpflichtet (§§ 305 Abs. 2, 320 b; §§ 29 Abs. 1, 125 Satz 1 i. V. m. §§ 29 Abs. 1, 207 Abs. 1 Satz 1 UmwG), darf sie hierzu gemäß § 71 Abs. 1 Nr. 3 eigene Aktien erwerben. Es ist ausreichend, wenn im Zeitpunkt des Erwerbs die objektiv nachvollziehbare Notwendigkeit besteht, die hieraus resultierenden Abfindungsansprüche zu bedienen. Ex ante betrachtet kommt es auf eine realistische Schätzung an. Die Erlaubnis greift nicht erst dann, wenn die an der Umwandlung bzw. Konzernierung beteiligten Gesellschaften die notwendigen Gesellschafterbeschlüsse bereits gefasst haben (streitig).38) Stellt sich nachträglich heraus, dass zu viele Aktien erworben wurden, folgt aus dem Verbot des Erwerbs eigener Aktien die Vorstandspflicht, die Aktien wieder zu veräußern. Einzelheiten siehe § 71c Rz. 3. Zu den sonstigen Erwerbsgrenzen nach § 71 Abs. 2 siehe unten Rz. 46 ff.; zur Aktionärsinformation siehe Rz. 54 ff. 16 Über den Wortlaut von § 71 Abs. 1 Nr. 3 hinaus greift der Erlaubnistatbestand auch in anderen Fällen:39) Dies betrifft zum einen das Delisting, wenn die AG die Aktien der Aus_____________ 28) Zur Entwicklung ausführlich Hüffer, ZHR 161 (1994) 214, 220 ff.; zu sog. Share-Matching-Plänen Wagner, BB 2010, 1739; zu Transparenzanforderungen und Publizitätspflichten Häller/Roggemann, NZG 2019, 1005. 29) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 13. 30) Hierzu Dörrwächter, NZG 2020, 370. 31) BGH, Urt. v. 16.2.2004 – II ZR 316/02, BGHZ 158, 122 = NZG 2004, 376; OLG Jena, Urt. v. 30.7.2014 – 2 U 920/13, ZIP 2014, 2501; Kort, NZG 2008, 823, 824; vgl. zur unzulässigen Umgehung durch Einschaltung Dritter LG Mainz, Urt. v. 27.8.2004 – 11 HKO 16/04, NZG 2005, 325. 32) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 12. 33) Einzelheiten bei Kruchen, AG 2014, 655. 34) Abweichend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 13. 35) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71 Rz. 59; ähnlich Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 13. 36) Zu den Vor- und Nachteilen instruktiv Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 66. 37) H. M. vgl. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 64; abweichend Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71 Rz. 142. 38) Abweichend Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 71 AktG Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 14. 39) Martens in: FS Boujong, S. 335, 336 ff.

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Erwerb eigener Aktien

trittswilligen übernimmt.40) Weiterhin erfasst sind auch Abfindungsansprüche i. R. einer Verschmelzung gemäß § 62 UmwG.41) Ist die AG i. R. der Prospekthaftung (§ 45 BörsG) verpflichtet, die Aktien des getäuschten Anlegers zu übernehmen (Naturalrestitution), kann hierauf ebenfalls § 71 Abs. 1 Nr. 3 entsprechend angewendet werden.42) Auch hier gilt, dass der Vorstand verpflichtet ist, die erhaltenen Aktien wieder zu veräußern. Einzelheiten siehe § 71c Rz. 3. Die Erwerbsschranke gemäß § 71 Abs. 2 Satz 2 (siehe unten Rz. 46 f.) gilt allerdings in diesem Rahmen nicht.43) 4.

Unentgeltlicher Erwerb, Einkaufskommission (§ 71 Abs. 1 Nr. 4)

a)

Unentgeltlicher Erwerb

Nach § 71 Abs. 1 Nr. 4 Alt. 1 ist der unentgeltliche Erwerb zulässig. Die praktisch wohl 17 kaum anzutreffenden Fälle sind die Erfüllung eines Schenkungsversprechens (§ 516 BGB) sowie der Erwerb aufgrund Vermächtnisses (§ 1939 BGB).44) Es darf auch nicht mittelbar eine Gegenleistung der AG erfolgen (wirtschaftliche Betrachtung).45) Die ratio legis dieser Ausnahme überzeugt kaum. Zu einer verbotenen Einlagenrückgewähr kann es mangels Gegenleistung zwar nicht kommen; die Gefahr des kompetenzwidrigen Verwaltungsstimmrechts besteht jedoch auch hier. Es ist daher unverständlich, warum der Gesetzgeber in § 71 Abs. 2 nicht weitere Erwerbsgrenzen aufgestellt hat. Gemäß § 71 Abs. 2 Satz 3 ist lediglich der Erwerb nicht voll eingezahlter Aktien unzulässig. Der Vorstand ist jedenfalls i. R. seiner allgemeinen Zweckbindung gehalten, die Aktien alsbald wieder zu verkaufen, um mit dem erzielten Erlös den Unternehmensgegenstand sinnvoll auszuführen (Einzelheiten siehe § 71c Rz. 3). b)

Einkaufskommission

Ist die AG ein Kreditinstitut (vgl. § 1 Abs. 1 KWG), ist mittels des Aktienerwerbs auch 18 die Ausführung einer Einkaufskommission zulässig. Die Ausnahme resultiert daraus, dass die AG in diesen Fällen bestimmungsgemäß nur kurzzeitig eigene Aktionärin ist (Durchgangserwerb). Erforderlich ist aber stets, dass der betreffende Kommissionsvertrag (§ 383 Abs. 1 HGB) mit dem Dritten bereits vor dem Erwerb geschlossen wurde, er mithin nur „ausgeführt wird“.46) Bei der Verkaufskommission gilt § 71 insgesamt nicht, weil die AG nur die Verfügungsbefugnis i. S. von § 185 BGB erlangt und damit nicht Aktionärin wird.47)

_____________ 40) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71 Rz. 67; vgl. hierzu BGH, Urt. v. 25.11.2002 – II ZR 133/01 (Macrotron), BGHZ 153, 47 = ZIP 2003, 387; auf die seit dem Macrotron-Urteil des BGH geringe Bedeutung dieser Abfindung hinweisend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 15a. 41) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 73. 42) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71 Rz. 67 unter Hinweis auf OLG Frankfurt/M., Urt. v. 21.2.2006 – 5 U 78/04, AG 2006, 584. Vgl. auch BGH, Urt. v. 9.5.2005 – II ZR 287/02 (EM.TV), NZG 2005, 672 = ZIP 2005, 1270, dazu EWiR 2005, 689 (Bayer/Weinmann); EuGH, Urt. v. 19.12.2013 – C-174/12 (Hirmann), Rz. 27 ff., ZIP 2014, 121. 43) BGH, Urt. v. 9.5.2005 – II ZR 287/02 (EM.TV), NZG 2005, 672 = ZIP 2005, 1270; Hüffer/KochKoch, AktG, § 71 Rz. 15a. 44) Vgl. zur Schenkung zu Sanierungszwecken Ziebe, AG 1982, 175, 177. 45) Etwaige Steuerlasten der AG infolge des Erwerbs bleiben hingegen unberücksichtigt; Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71 Rz. 166; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 16. 46) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71 Rz. 70; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 17. 47) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 79; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 17; Henssler/StrohnLange, GesR, § 71 AktG Rz. 7.

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Erwerb eigener Aktien Gesamtrechtsnachfolge (§ 71 Abs. 1 Nr. 5)

19 Der Aktienerwerb aufgrund Gesamtrechtsnachfolge ist gemäß § 71 Abs. 1 Nr. 5 grenzenlos zulässig. § 71 Abs. 2 sieht insofern keine Erwerbsgrenzen vor; auch nicht voll eingezahlte Aktien dürfen hierüber erworben werden. Erfasst ist ohne weiteres die Erbschaft gemäß § 1922 BGB, was beim Tod des Alleinaktionärs eine „Kein-Mann-Gesellschaft“ begründet. Weitere Fälle sind die Verschmelzung gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 UmwG und die Anwachsung gemäß § 140 Abs. 1 Satz 2 HGB.48) Hierbei und bei den darüber hinaus möglichen Fällen nach UmwG (vor allem Spaltung und Ausgliederung) ist eine Einbeziehung zumindest dann abzulehnen, wenn es sich um eine Umgehungskonstellation handelt, die darauf zielt das Erwerbsverbot auszuhöhlen. Die Einzelheiten sind insofern noch nicht abschließend geklärt.49) Der Vorstand ist jedenfalls i. R. seiner allgemeinen Zweckbindung gehalten, die Aktien alsbald wieder zu verkaufen, um mit dem erzielten Erlös den Unternehmensgegenstand sinnvoll auszuführen (Einzelheiten siehe § 71c Rz. 3). 6.

Erwerb zur Einziehung (§ 71 Abs. 1 Nr. 6)

20 Nach § 71 Abs. 1 Nr. 6 ist der Erwerb – grenzenlos, vgl. § 71 Abs. 2 – auch zulässig aufgrund eines vorherigen Hauptversammlungsbeschlusses zur Einziehung der Aktien infolge Kapitalherabsetzung (§§ 222 ff., insbesondere § 237 Abs. 1 Satz 1).50) Welche Aktien erworben werden, kann die Hauptversammlung festlegen; § 53a ist zu beachten.51) Kommt es hiernach nicht zur Einziehung, ist der Vorstand gehalten, die erworbenen Aktien alsbald wieder zu verkaufen. Einzelheiten siehe § 71c Rz. 3. 7.

Wertpapierhandel von Kreditinstituten (§ 71 Abs. 1 Nr. 7)

21 Bei Kreditinstituten (§ 1 Abs. 1 KWG), Finanzdienstleistungsinstituten (§ 1 Abs. 1a KWG), Wertpapierinstituten52) (§ 1 Abs. 1 WpIG) und Finanzunternehmen (§ 1 Abs. 3 KWG) ist der Erwerb eigener Aktien aufgrund Hauptversammlungsbeschlusses auch möglich, um hierüber Wertpapierhandel zu betreiben.53) Die Ermächtigung muss sich ausdrücklich auf den Erwerb in den Handelsbestand beziehen (Abgrenzung zu unzulässigen Spekulationsgeschäften)54) und darf höchstens fünf Jahre gelten. Im Beschluss müssen ferner der Mindest- und Höchsterwerbspreis festgelegt werden sowie, dass der hierüber erzielte Handelsbestand der AG 5 % des Grundkapitals am Ende jeden Tages nicht übersteigen darf.55) Diese Obergrenze liegt unterhalb der in der Gesellschaftsrechts-Richtlinie allein maßgeblichen Erwerbshöchstgrenze von 10 % (siehe unten Rz. 28). Spätestens mit Ablauf der Umsetzungsfrist am 15.4.2008 liegt somit in Deutschland in Bezug auf die 5 %-Erwerbs-

_____________ 48) Einhellige Meinung, vgl. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 18; Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71 Rz. 152. 49) Vgl. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 81. 50) Zur Durchführung im Einzelnen Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 83; Rieckers, ZIP 2009, 700; Kallweit/Simons, AG 2014, 352; zu Transparenzanforderungen und Publizitätspflichten Häller/ Roggemann, NZG 2019, 1005. 51) Martens, AG 1996, 337. 52) „Wertpapierinstitute“ hinzugefügt durch Art. 7 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/2034 über die Beaufsichtigung von Wertpapierinstituten v. 12.5.2021, BGBl. I 2021, 990. 53) Zu den steuerrechtlichen Vorgaben Johannemann/Herr, BB 2015, 2158. 54) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 19b; liberaler K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71 Rz. 49; Kruchen, AG 2014, 655, 660. 55) Einzelheiten bei Butzke, WM 1995, 1389, 1392.

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Erwerb eigener Aktien

grenze gemäß § 71 Abs. 1 Nr. 7 eine europarechtswidrige Regelung vor.56) Die Ermächtigung kann daher auch ein größeres Erwerbsvolumen vorsehen. 8.

Ermächtigung der Hauptversammlung (§ 71 Abs. 1 Nr. 8)

Die in der Praxis wichtigste Ausnahme vom Erwerbsverbot begründet § 71 Abs. 1 Nr. 8. 22 Hiernach kann die Hauptversammlung den Vorstand auch ohne gesetzlich vorgeprägte Zielvorgabe zum Erwerb ermächtigen. Der kapitalmarktorientierten AG steht hiermit ein relativ flexibles Instrument bereit, über den gezielten Aktienerwerb und -verkauf Kursschwankungen zum eigenen Vorteil auszunutzen oder auf die Preisbildung an der Börse Einfluss zu nehmen. Der Erwerb muss nicht durch die AG selbst erfolgen, sondern kann gemäß § 71d auch über einen mittelbaren Stellvertreter/Treuhänder oder ein Konzernunternehmen abgewickelt werden. a)

Vorstandsermächtigung

Zwingend erforderlich ist ein Hauptversammlungsbeschluss gemäß § 133, der mit einfa- 23 cher Mehrheit gefasst werden kann.57) Der Beschluss muss im Vorfeld des Erwerbs erfolgen; eine nachträgliche Legalisierung des Erwerbs ist nicht möglich. Inhaltlich muss der Beschluss folgende Vorgaben enthalten: aa)

Festlegung des niedrigsten und höchsten Gegenwertes für den Erwerb

Erforderlich ist die Festlegung des niedrigsten und höchsten Gegenwerts, zu dem der Vor- 24 stand die Aktien erwerben darf. Die Regelung entspricht Art. 60 Abs. 1 lit. a der Gesellschaftsrechts-Richtlinie. Es kann hierbei eine betragsmäßige Fixierung erfolgen („mind. 20 €, höchstens 30 €“); zulässig ist auch, die Obergrenze anhand einer relativen Bezugnahme auf einen hypothetischen (späteren) Börsenkurs festzulegen.58) Sieht man in diesem Erfordernis – wie vielfach59) – eine nicht gerechtfertigte Einengung 25 der an sich gewünschten Flexibilität des Rückerwerbs, wird verkannt, dass § 71 Abs. 1 Nr. 8 eine Ausnahme vom Erwerbsverbot darstellt und nicht den Regelfall. Betrachtet man nämlich die Vermögensinteressen der Aktionäre, begründet der Rückerwerb stets die Gefahr, dass ihre Beteiligung verwässert wird – sei es beim Erwerb der eigenen Aktien durch einen zu hohen Preis, sei es bei der nachträglichen Veräußerung durch einen zu niedrigen Preis. Beiden Gefahren wird natürlich durch die Pflichtenbindung des Vorstands einigermaßen begegnet; gleichwohl ist es wie bei der Kapitalerhöhung wichtig, den Aktionären zumindest die Möglichkeit zu bieten, dem Vorstand engere Vorgaben zu machen (Art. 14 GG). Dies gilt vor allem deswegen, weil hierüber die – im Ausgangspunkt durchaus sinnvolle und nicht stets missbräuchlich ausgenutzte! – Möglichkeit der vorherigen Beschlussanfechtung besteht, was die Minderheit schützt.60) Zudem ist zu bedenken, dass es die Aktionäre ja selbst in der Hand haben, eine adäquate Preisspanne festzulegen; lediglich völlig an den gegebenen und vorhersehbaren Kursentwicklungen vorbeigehende Gestaltungen sollten insofern einen Anfechtungsgrund begründen. Schließlich ist eine maximal 10 %ige _____________ 56) Cahn, Der Konzern 2007, 385, 392 f.; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 35, 88; vgl. auch Oechlser, ZHR 170 (2006) 72, 73 ff. 57) Vgl. zur Ad hoc-Mitteilungspflicht Seibt/Brennkamp, AG 2008, 469. 58) Vgl. LG München I, Urt. v. 18.12.2008 – 5 HKO 11182/08, ZIP 2009, 568 = NZG 2009, 388; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 19e; zum Ganzen Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 110; Vetter, AG 2004, 344. 59) Zur Kritik statt anderer K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71 Rz. 21 – „ziemlich unsinnig“. 60) Ähnlich Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 6 Rz. 184 – Einschaltung der Hauptversammlung soll für Kontrolle des Erwerbspreises sorgen.

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Abweichung beim späteren Erwerb durchaus noch als zulässig anzusehen, um die praktische Durchführbarkeit nicht über Gebühr einzuschränken.61) 26 Für die spätere Weiterveräußerung sieht das Gesetz keine Notwendigkeit, den Preis bereits im Hauptversammlungsbeschluss festzusetzen. Der Vorstand hat diesen auf der Grundlage seiner allgemeinen Pflichtenbindung unter Beachtung des Verbots der Einlagenrückgewähr festzusetzen (siehe unten Rz. 51). Die Hauptversammlung kann jedoch im Ermächtigungsbeschluss Vorgaben für die Weiterveräußerung festlegen.62) bb)

Höchstdauer

27 Die Ermächtigung darf auf höchstens fünf Jahre erteilt werden (streitig); andernfalls sind der Beschluss gemäß § 241 Nr. 3 nichtig63) und der hierauf beruhende Aktienerwerb rechtswidrig (zu den Folgen siehe oben Rz. 7 f.). Die Frist entspricht dem neu gefassten Art. 60 Abs. 1 lit. a der Gesellschaftsrechts-Richtlinie; bis zum Jahr 2006 betrug sie 18 Monate, was von der Praxis als unzureichend erachtet wurde. Es ist zulässig, verschiedene Ermächtigungen hintereinander zu beschließen, um so fortlaufend die Möglichkeit zum Aktienrückerwerb zu haben.64) Zu beachten sind insofern jedoch die summenmäßigen Höchstgrenzen von 10 % des Grundkapitals (siehe sogleich Rz. 28 und unten Rz. 47). Die konkret gewollte Frist ist im Hauptversammlungsbeschluss festzulegen.65) cc)

Höchstbetrag

28 Nach § 71 Abs. 1 Nr. 8 darf das durch die Ermächtigung gedeckte Erwerbsvolumen maximal 10 % des Grundkapitals betragen (siehe auch die hiervon abzugrenzende Gesamthöchstgrenze für den Rückerwerb gemäß § 71 Abs. 2 Satz 1, unten Rz. 47). Die Regelung beruht auf der Gesellschaftsrechts-Richtlinie, deren Art. 60 Abs. 1 lit. i den Mitgliedsstaaten die Festlegung einer Höchstgrenze von 10 % des Grundkapitals ermöglicht.66) Maßgeblich ist die Grundkapitalziffer (§ 23 Abs. 3 Nr. 3) im Zeitpunkt der Beschlussfassung; für eine bereits erfolgte bedingte Kapitalerhöhung gilt § 200 (Zahl der bereits ausgegebenen Aktien).67) Fehlt im Hauptversammlungsbeschluss die Angabe eines maximalen Erwerbsvolumens oder ist das gewählte unzulässig, sind der Beschluss gemäß § 241 Nr. 3 nichtig68) und der hierauf beruhende Aktienerwerb rechtswidrig (zu den Folgen siehe oben Rz. 7 f.). dd)

Rückerwerbszweck

(1)

Kompetenz

29 Indem das Gesetz keine Vorgaben über die zulässigen Erwerbszwecke macht, kann die Hauptversammlung hierüber weitgehend frei entscheiden. Der Rückerwerbszweck kann entweder im Hauptversammlungsbeschluss festgelegt werden, woran der Vorstand gemäß § 83 Abs. 2 gebunden ist, wenn er von der Ermächtigung Gebrauch macht (zur Ent_____________ 61) Vgl. LG Berlin, Urt. v. 15.11.1999 – 99 O 83/99, AG 2000, 328, 329. 62) Vgl. LG München I, Urt. v. 18.12.2008 – 5 HKO 11182/08, ZIP 2009, 568 = NZG 2009, 388 – für die Weiterveräußerung „nur unwesentlich unter dem aktuellen Börsenkurs“ in Anlehnung an § 186 Abs. 3 Satz 4; ebenso OLG Hamburg, Urt. v. 30.12.2004 – 11 U 98/04, ZIP 2005, 1074 = NZG 2005, 218. 63) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 108; abweichend Kocher, NZG 2010, 172. 64) Unstreitig, vgl. nur Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71 Rz. 175. 65) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71 Rz. 19. 66) Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (Gesellschaftsrechts-Richtlinie), ABl. (EU) L 169/46 v. 30.6.2017. 67) Einzelheiten bei Spindler/Stilz-Cahn, AktG, § 71 Rz. 193. 68) Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71 Rz. 204; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 103.

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§ 71

Erwerb eigener Aktien

scheidungsfreiheit des Vorstands über das „Ob“ des Rückerwerbs siehe unten Rz. 34). Zulässig ist es auch, den Rückerwerbszweck offenzulassen und ihn der Konkretisierung durch den Vorstand zu überlassen.69) Letzteres erfordert, dass der Vorstand i. R. seiner Pflichtenbindung (kein Ermessen!) entscheidet, ob und wie der Rückerwerb geboten ist, um die Eigenkapitalrendite zu steigern.70) Die Beteiligung des Aufsichtsrats am Rückerwerb kann nach h. M. im Hauptversammlungsbeschluss an die Zustimmung des Aufsichtsrats geknüpft werden.71) Dem ist wegen des Vorrangs von § 111 Abs. 4 aus Gründen der Rechtssicherheit nicht zu folgen.72) (2)

Beispiele

Der wohl wichtigste Rückerwerbszweck ist die sog. Kapitalherabsetzung auf Zeit, um 30 hierüber den fallenden Kurs zu stabilisieren oder eine Steigerung des Börsenkurses herbeizuführen (Kurspflege).73) Zu beachten sind insbesondere bei dieser Möglichkeit jedoch das Verbot, mit eigenen Aktien zu handeln (siehe sogleich Rz. 33) und die verbotene Marktpreismanipulation.74) Möglich ist es auch, dass die rückerworbenen Aktien zur Befriedigung von Stock Options 31 an Führungskräfte – Vorstand, Arbeitnehmer – verwendet werden, wenn nicht der Weg über die bedingte Kapitalerhöhung gemäß § 193 Abs. 2 Nr. 4 gegangen werden soll. Abweichend vom Regelfall (siehe oben Rz. 29) bedarf es für die Rückerwerbsermächtigung jedoch eines sich ausdrücklich hierauf beziehenden Hauptversammlungsbeschlusses, der vor allem auch die Eckdaten des Aktienoptionsplans umschreibt.75) Über § 71 Abs. 1 Nr. 8 dürfen jedoch nicht Aktienoptionspläne für Aufsichtsratsmitglieder bedient werden, weil dies nach dem vergleichbaren § 192 Abs. 2 Nr. 3 unzulässig ist.76) Im Rahmen einer feindlichen Übernahme wird der Rückerwerb gemäß § 71 Abs. 1 Nr. 8 32 allgemein als zulässiges und probates Abwehrmittel gesehen;77) hierbei ist jedoch § 33 WpÜG zu beachten. Schließlich sieht § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 6 ausdrücklich vor, dass die Hauptversammlung den Vorstand auch im Vorfeld ermächtigen kann, die rückerworbenen Aktien ohne weitere Beschlussfassung einzuziehen (§ 237 Abs. 1).78) Der Rückerwerb kommt auch in Betracht zur Bedienung von Share-Matching-Plänen.79)

_____________ 69) LG Berlin, Urt. v. 15.11.1999 – 99 O 83/99, AG 2000, 328, 329; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71 Rz. 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 19 f.; Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 71 AktG Rz. 11; zweifelnd OLG München, Beschl. v. 28.1.2002 – 7 W 814/01, ZIP 2002, 1353 = AG 2003, 163, dazu EWiR 2002, 1029 (Schwab). 70) Zur Bindung des Vorstands an das Gewinnziel ausführlich Servatius, Strukturmaßnahmen als Unternehmensleitung, 2003, S. 103 ff., 172 ff. 71) Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71 Rz. 207; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 19 f.; LG München I, Urt. v. 18.12.2008 – 5 HKO 11182/08, ZIP 2009, 568 = NZG 2009, 388; LG München I, Urt. v. 5.4.2012 – 5 HK O 20488/11, NZG 2012, 1152, 1153 = ZIP 2012, 2445, dazu EWiR 2013, 193 (Goslar). 72) So auch Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 99. 73) Grundlegend Huber in: FS Kropff, S. 101, 109; vgl. auch Habersack in: FS Lutter, S. 1329. 74) Einzelheiten bei Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 162 ff. 75) Einzelheiten bei K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71 Rz. 47 f.; vgl. auch LG Berlin, Urt. v. 15.11.1999 – 99 O 83/99, AG 2000, 328. 76) BGH, Urt. v. 16.2.2004 – II ZR 316/02, BGHZ 158, 122 = ZIP 2004, 613, dazu EWiR 2004, 413 (Lenenbach); K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71 Rz. 49; kritisch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71 Rz. 19h. 77) Einzelheiten bei Berrar/Schnorbus, ZGR 2003, 59, 100 ff. 78) v. Aerssen, WM 2000, 391, 394. 79) Vgl. Kruchen, AG 2014, 655; Wagner, BB 2010, 1739.

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§ 71 (3)

Erwerb eigener Aktien Kein Handel mit eigenen Aktien

33 Nach § 71 Abs. 1 Nr. 8 ist der Handel mit eigenen Aktien ausdrücklich als Erwerbszweck ausgeschlossen. Die Konkretisierung dieses Tatbestandsmerkmals ist heftig umstritten.80) Ein verbotener Handel mit eigenen Aktien liegt nur dann vor, wenn der Erwerbszweck darauf zielt, aus der Preisdifferenz zwischen An- und Verkauf Gewinne zu erzielen; er liegt hingegen nicht vor, wenn es darum geht, bereits durch den Ankauf der Aktien die Eigenkapitalrendite der AG zu steigern bzw. die AG vor Schaden zu bewahren. Ist Letzteres der Fall, ist es unschädlich, wenn der spätere Erwerb einen Kursgewinn realisieren lässt. b)

Erwerb und Veräußerung der eigenen Aktien

34 Der Beschluss begründet lediglich eine Ermächtigung; es besteht keine Pflicht des Vorstands, die betreffenden Aktien zu erwerben.81) Letztlich entscheidet der Vorstand daher i. R. seiner allgemeinen Pflichtenbindung (kein Ermessen!) eigenverantwortlich, ob der Erwerb erfolgt oder nicht. Bei der konkreten Ausgestaltung ist diese Pflichtenbindung jedoch durch die von der Hauptversammlung festgelegte Preisspanne präzisiert (siehe oben Rz. 25) sowie ggf. durch die im Beschluss festgelegten Ziele des Rückerwerbs (siehe Rz. 29 ff.). Darüber hinaus gilt Folgendes: aa)

Gleichbehandlungsgebot

35 § 71 Abs. 1 Nr. 8 besagt ausdrücklich, dass § 53a beim Rückerwerb und der späteren Weiterveräußerung gilt.82) Die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ist jedoch darüber hinaus bei allen Erwerbs- und Veräußerungstatbeständen geboten. (1)

Rückerwerb

36 Über die Geltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes beim Rückerwerb werden verschiedene Schutzzwecke befriedigt: Zum einen sollen nicht einige Aktionäre bevorzugt werden, indem z. B. bei engen Märkten oder fehlender Fungibilität den Begünstigten allein die Möglichkeit geboten wird, sich ihrer Aktienanlage gegen Entschädigung zu entledigen. Darüber hinaus geht es auch darum, dass der Vorstand über § 71 Abs. 1 Nr. 8 nicht in die Lage versetzt wird, Einfluss auf den Aktionärskreis zu nehmen.83) 37 Letztlich ist daher – wie umgekehrt beim Ausschluss des Bezugsrechts – erforderlich, dass der Vorstand allen Aktionären ein anteiliges Rückkaufangebot macht. Nehmen dieses nicht genügend Aktionäre an, ist an die Verbleibenden ein weiteres anteiliges Rückkaufangebot zu machen usw. Bei nicht börsennotierten Gesellschaften dürfte dieses – durchaus komplizierte, aber dem Ausnahmecharakter des zulässigen Rückerwerbs gerecht werdende Verfahren – möglich sein; bei börsennotierten Gesellschaften kann von vornherein über die Börse zurückerworben werden (siehe Rz. 40). Über § 53a wird ausreichend Chancengleichheit bewirkt; eines darüber hinausgehenden Andienungsrechts der Aktionäre (individueller Verkaufsanspruch) bedarf es richtigerweise nicht (streitig).84) Die AG kann den Aktionären unter Beachtung von § 53a jedoch ein derartiges Recht einräumen.85) _____________ 80) Überblick bei Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 112. 81) Kiem, ZIP 2000, 209, 211 f. 82) Dies galt bereits vor dessen Einführung, vgl. LG Göttingen, Urt. v. 6.1.1992 – 8 O 123/91, WM 1992, 1373. 83) Einzelheiten bei Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 117 f. 84) H. M., vgl. nur Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 121.; abweichend Paefgen, AG 1999, 67, 68 f.; Habersack, ZIP 2004, 1121, 1127. 85) Zum „tranferable put right“ statt anderer K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71 Rz. 29.

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§ 71

Erwerb eigener Aktien

Der Gleichbehandlungsgrundsatz kann durchbrochen werden, wenn es einen sachlichen 38 Grund für die Ungleichbehandlung gibt (siehe § 53a Rz. 23 ff.). Beim Aktienrückerwerb dürfte hierfür wenig Raum bestehen. Denkbar ist jedoch z. B., dass nicht alle Aktionäre für einen durch das Gesellschaftsinteresse bedingten raschen Rückerwerb bereit stehen oder wenn von vornherein feststeht, dass manche Aktionäre ihre Aktien nicht hergeben werden. Bei börsennotierten AGs dürfte dies jedoch ausgeschlossen sein.86) Im Hinblick auf den zu zahlenden Erwerbspreis scheidet eine Ungleichbehandlung ebenfalls kategorisch aus. (2)

Weiterveräußerung

Werden die Aktien wieder veräußert, gilt das Gleichbehandlungsgebot spiegelbildlich und 39 entspricht dem bei der Kapitalerhöhung.87) Auch hier geht es darum, dass der Vorstand nicht einige Aktionäre bevorzugen darf bzw. eigenmächtig Einfluss auf die Zusammensetzung des Aktionärskreises nimmt.88) Richtigerweise haben daher die Aktionäre im Veräußerungszeitpunkt ein gesetzliches Bezugsrecht analog § 186.89) Der Ausschluss desselben nach den Vorgaben der materiellen Beschlusskontrolle90) ist wegen des ausdrücklichen Verweises auf § 186 Abs. 3 möglich.91) Zum angemessenen Veräußerungspreis siehe unten Rz. 53. Darüber hinaus ist es aber gesetzlich nicht vorgesehen, dass diese Vorgaben nur aufgrund eines Hauptversammlungsbeschlusses eingehalten werden könnten (streitig).92) bb)

Erwerb und Veräußerung über die Börse

Bei Publikumsgesellschaften kann die Gleichbehandlung der Aktionäre grosso modo über 40 die Börse gewahrt werden.93) § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 3 erkennt dies an und besagt, dass der Rückerwerb und die Weiterveräußerung der Aktien über die Börse das Gleichbehandlungsgebot wahren. Dies ist im Ausgangspunkt zu begrüßen, denn bei einem funktionierenden und vor allem liquiden Aktienmarkt können die Aktionäre durch Ver- und Zukäufe ihre Interessen mindestens ebenso verwirklichen wie über einen individuell begründeten Anspruch auf Gleichbehandlung. Gleichwohl geht der Wortlaut von § 71 Abs. 1 Nr. 8 zu weit.94) Gibt es für die Aktien der AG kaum einen Handel oder ist der Preis verzerrt, kann die über den Kapitalmarkt verwirklichte Gleichbehandlung nicht gewährleistet werden. Insofern ist die apodiktische Gleichstellung in § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 3 ggf. zu korrigieren. Eine Pflicht, die Aktien über die Börse zu erwerben oder zu veräußern, besteht auch bei 41 börsennotierten AGs nicht; möglich und verbreitet sind daher auch hier öffentliche Rückkaufangebote.95) Das WpÜG gilt hierfür nicht.96) _____________ 86) 87) 88) 89)

90) 91) 92)

93) 94) 95) 96)

K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71 Rz. 31. OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.10.2018 – 20 W 6/18, Rz. 256, ZIP 2019, 520 = BeckRS 2018, 35625. OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.10.2018 – 20 W 6/18, Rz. 294 ff., ZIP 2019, 520 = BeckRS 2018, 35625. Ganz h. M., vgl. nur OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.10.2018 – 20 W 6/18, Rz. 257, ZIP 2019, 520 = BeckRS 2018, 35625; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71 Rz. 145 ff.; teilweise einschränkend Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 131 ff. und 136. Einzelheiten bei Servatius in: BeckOGK-AktR, § 186 AktG Rz. 40 ff. Vgl. hierzu im Kontext von Wandelschuldverschreibungen auch Broichhausen, NZG 2012, 86. Abweichend OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.10.2018 – 20 W 6/18, Rz. 257 ff., ZIP 2019, 520 = BeckRS 2018, 35625, freilich immerhin die Möglichkeit der entsprechenden Anwendung von § 203 Abs. 1 Satz 1 erwägend. OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.10.2018 – 20 W 6/18, Rz. 257, ZIP 2019, 520 = BeckRS 2018, 35625 („ohne weiteres“). Kritisch auch Huber in: FS Kropff, S. 101, 113 f. Einzelheiten bei Cahn in: BeckOGK AktR, § 71 AktG Rz. 123 ff.; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71 Rz. 26 ff. Ganz h. M., vgl. nur K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71 Rz. 28 m. w. N.

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§ 71 (1)

Erwerb eigener Aktien Rückerwerb

42 Der den Gleichbehandlungsgrundsatz wahrende Rückerwerb über die Börse bezieht sich auf alle Marktsegmente im In- und Ausland. Problematisch ist in diesem Zusammenhang allein, wenn die Preisbildung nicht marktgerecht ist und daher eine verdeckte Gewinnausschüttung droht (siehe unten Rz. 51). (2)

Weiterveräußerung

43 Erhebliche Probleme bereitet demgegenüber die in § 71 Abs. 1 Nr. 8 pauschal als den Gleichbehandlungsgrundsatz wahrend genannte Weiterveräußerung über die Börse. Im Kern reduziert sich die Frage darauf, ob die im Veräußerungszeitpunkt vorhandenen Aktionäre ein Vorerwerbsrecht haben oder ob der Vorstand die Aktien auch vollständig an Dritte veräußern darf (eine willkürliche Zuteilung an einzelne Aktionäre verstößt bereits gegen § 53a). Die hierzu vertretenen und nach wie vor sehr kontroversen Meinungen97) decken sich weitgehend mit der vergleichbaren Problematik, ob die Aktionäre bei der Kapitalerhöhung einer börsennotierten AG überhaupt eines gesetzlichen Bezugsrechts bedürfen oder ob ihnen über die Möglichkeit des Zukaufs über die Börse nicht derselbe Schutz zukommt und § 186 daher de lege ferenda entbehrlich ist.98) 44 Richtigerweise ist ein gesetzliches Vorerwerbsrecht auch bei der Weiterveräußerung eigener Aktien anzuerkennen. Hierfür spricht zum einen der Verweis in § 71 Abs. 1 Nr. 8 auf den Bezugsrechtsausschluss gemäß § 186 Abs. 3, der die Existenz eines solchen Rechts voraussetzt. Zudem ist auch die Gefährdungslage der Altaktionäre bei der Kapitalerhöhung mit der bei der Weiterveräußerung eigener Aktien vergleichbar. In beiden Fällen werden die Mitverwaltungsrechte verwässert (§ 71b gilt fortan nicht mehr); in beiden Fällen besteht die Gefahr, dass der Ausgabebetrag bzw. Verkaufspreis zu niedrig ist und es damit auch zu einer vermögensmäßigen Verwässerung kommt. Solange daher der Gesetzgeber bei der Kapitalerhöhung auch für börsennotierte Gesellschaften am gesetzlichen Bezugsrecht festhält, besteht kein Anlass, bei der Weiterveräußerung eigener Aktien anders zu entscheiden. 45 Auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass § 186 Abs. 3 Satz 4 einen erleichterten Bezugsrechtsausschluss vorsieht, wenn die Kapitalerhöhung nicht mehr als 10 % des Grundkapitals beträgt und der Ausgabebetrag den Börsenpreis nicht wesentlich unterschreitet.99) Diese Aufweichung des gesetzlichen Bezugsrechts in seiner Form als gesellschaftsrechtlich begründetes Individualrecht der Altaktionäre kann als Versuchsballon verstanden werden, auf das gesetzliche Bezugsrecht bei börsennotierten AGs irgendwann einmal zu verzichten. Für die hier interessierende Weiterveräußerung eigener Aktien lässt sich jedoch bereits jetzt eine viel weitreichendere Rechtsfolge ableiten: Indem der Rückerwerb maximal 10 % des Grundkapitals betragen darf (§ 71 Abs. 2 Satz 1; siehe Rz. 47), liegt es nahe, die Weiterveräußerung funktional dem erleichterten Bezugsrechtsausschluss gleichzustellen. Hieraus folgt, dass das Vorerwerbsrecht der Aktionäre bei der Weiterveräußerung unter erleichterten Voraussetzungen ausgeschlossen werden kann, es vor allem keiner sachlichen Rechtfertigung nach Maßgabe der materiellen Beschlusskontrolle bedarf. Zum angemessenen Veräußerungspreis siehe sogleich Rz. 53.

_____________ 97) Überblick bei Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 131 ff. 98) Vgl. nur Zöllner, AG 2002, 585, 588 ff. 99) Einzelheiten bei Servatius in: BeckOGK AktR, § 186 AktG Rz. 54 ff.

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Wolfgang Servatius

§ 71

Erwerb eigener Aktien V.

Weitere Erwerbsschranken (§ 71 Abs. 2)

§ 71 Abs. 2 sieht für die verschiedenen Erlaubnistatbestände unterschiedlich weite Er- 46 werbsschranken vor. Darüber hinaus ist stets auch das Verbot verdeckter Gewinnausschüttungen zu beachten. 1.

Maximaler Erwerb

Nach § 71 Abs. 2 Satz 1 darf die AG für maximal 10 % des Grundkapitals i. S. von § 266 47 Abs. 3 A. I. HGB eigene Aktien halten; der missverständliche Wortlaut darf nicht so verstanden werden, dass die Erwerbsgrenze nur die genannten Ausnahmetatbestände betrifft.100) Die Vorschrift ist vielmehr so zu verstehen, dass für die nicht genannten Erlaubnistatbestände (§ 71 Abs. 1 Nr. 4 – 6) zwar keine Obergrenze besteht; wenn jedoch noch Aktien aus einem der genannten Erlaubnistatbestände erworben werden, insgesamt maximal 10 % des Grundkapitals an eigenen Aktien gehalten werden dürfen. Hiervon geht auch § 71c Abs. 2 aus. Aktien zurechenbarer Dritter (§ 71d Satz 1 und 2) werden stets hinzugerechnet (vgl. § 71d Satz 4). Maßgeblicher Zeitpunkt ist grundsätzlich der des dinglichen Erwerbs, wegen § 71 Abs. 4 Satz 2 jedoch ggf. der des früheren schuldrechtlichen Erwerbsgeschäfts.101) Die Rechtsfolgen eines unwirksamen Erwerbs beziehen sich nur auf die eigenen Aktien, die unter Verstoß gegen die Erwerbsgrenze erworben werden. Ein nachträgliches Herabsinken führt keine Heilung herbei.102) 2.

Rücklagenbildung

Eine weitere wichtige Einschränkung des zulässigen Erwerbs eigener Aktien folgt aus § 71 48 Abs. 2 Satz 2. Hiernach ist der Erwerb nur zulässig, wenn die AG im Zeitpunkt des Erwerbs eine ausschüttungsfähige Rücklage i. H. des – angemessenen! – Erwerbspreises bilden könnte. Insofern gilt dasselbe wie bei § 272 Abs. 4 HGB. Hierdurch wird zwar gewährleistet, dass der Erwerbspreis keine Einlagenrückgewähr darstellt; hieraus darf indessen entgegen mancher Stimmen nicht der Schluss gezogen werden, dass eine verdeckte Gewinnausschüttung beim Erwerb eigener Aktien denklogisch ausgeschlossen sei (siehe unten Rz. 51). Ob eine Rücklage ausschüttungsfähig ist, ergibt sich zum einen aus § 150 i. V. m. § 272 49 HGB. Darüber hinaus schränkt auch § 268 Abs. 8 HGB die Rücklagenauflösung ein.103) Als – angemessene! – Gegenleistung dürfen somit nur Mittel fließen, die dem Jahresüberschuss (§ 158, § 266 Abs. 3 A. V. HGB), dem Gewinnvortrag (§ 266 Abs. 3 A. IV. HGB), den frei verfügbaren Rücklagen (§ 272 Abs. 3, Abs. 4 Satz 3 HGB) oder der Kapitalrücklage gemäß § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB entstammen.104) Ist der Rückerwerb hiernach zulässig, folgt der bilanzielle Ausweis der eigenen Aktien gemäß § 272 Abs. 1a und 1b HGB.105) 3.

Volleinzahlungsgebot

Gemäß § 71 Abs. 2 Satz 3 ist bei den Erlaubnistatbeständen gemäß § 71 Abs. 1 Nr. 1, 2, 4, 50 7 und 8 der Erwerb nur zulässig, wenn auf die Aktien der Ausgabebetrag (Nennbetrag und _____________ 100) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 218; abweichend aber Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71 Rz. 308; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71 Rz. 77. 101) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 223. 102) Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71 Rz. 414. 103) Vgl. hierzu Kropff in: FS Hüffer, S. 539, 545 ff. 104) OLG München, Beschl. v. 8.5.2012 – 31 Wx 155/12, ZIP 2012, 1075 = NZG 2012, 876, dazu EWiR 2005, 543 (Wachter); Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 226. 105) Einzelheiten bei Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 227.

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§ 71

Erwerb eigener Aktien

ggf. korporatives Agio, vgl. § 54 Abs. 1) voll geleistet ist.106) Im Umkehrschluss ergibt sich, dass bei den anderen Erlaubnistatbeständen auch ein Erwerb nicht voll eingezahlter Aktien möglich ist. Dies darf indessen nicht zu dem Schluss verleiten, dass in diesen Fällen die Resteinlagepflicht wegen Konfusion erlischt.107) Die Einlagepflicht bleibt vielmehr bestehen, damit der Kapitalschutz nicht erodiert, sondern ein späterer Erwerber die fehlende Einlageleistung erbringen muss. 4.

Verdeckte Gewinnausschüttungen

51 In § 71 wird nicht geregelt, zu welchem Preis die Aktien zurückerworben werden dürfen und welcher Preis bei der Weiterveräußerung zu erzielen ist. Auch § 57 Abs. 1 Satz 1 enthält lediglich den pauschalen Hinweis, dass die Zahlung des Erwerbspreises beim zulässigen Erwerb eigener Aktien keine verbotene Einlagenrückgewähr darstellt. Welche Höhe dieser Preis haben muss, besagt die Regelung indessen nicht. Für beide Gestaltungen ist daher nach den allgemeinen Regeln zu ermitteln, welche Preisbildung zulässig ist und welche nicht.108) Über § 57 hinaus ist der Gleichbehandlungsgrundsatz zu wahren, so dass eine unterschiedliche Preisgestaltung ohne sachliche Differenzierungsgründe ausscheidet. a)

Erwerbspreis

52 Bei allen Erlaubnistatbeständen gemäß § 71 Abs. 1 darf die AG keine überhöhte Gegenleistung für die erworbenen Aktien zahlen. Dies ist entgegen mancher Stimmen in der Literatur trotz der Erwerbsschranke gemäß § 71 Abs. 2 Satz 2 ein wichtiger Aspekt des Kapitalschutzes bei der AG.109) Gibt es für die betreffenden Aktien keinen Marktpreis (Drittvergleich), muss der Wert i. R. einer Unternehmensbewertung ermittelt werden. Wird hiergegen verstoßen, sind nach zweifelhafter h. M. sowohl der Aktienerwerb als auch das schuldrechtliche Kausalgeschäft gemäß § 57 i. V. m. § 134 BGB nichtig (siehe § 57 Rz. 40); aus § 71 Abs. 4 Satz 1 folgt nichts anderes. Der Rückerwerb kann somit auch wegen einer überhöhten Gegenleistung unrechtmäßig sein, obwohl die sonstigen Voraussetzungen von § 71 vorliegen; zu den Folgen siehe oben Rz. 7 f. b)

Verkaufserlös

53 Bei der – im Fall von § 71 Abs. 1 Nr. 8 von vornherein geplanten – späteren Weiterveräußerung der eigenen Aktien gilt ebenfalls das Verbot der (verdeckten) Einlagenrückgewähr.110) Die Parameter, die zu einem angemessenen Verkaufspreis führen, dürfen jedoch nicht aus dem Gründungsrecht gefolgert werden; geboten ist vielmehr eine entsprechende Heranziehung der Vorgaben bei der Kapitalerhöhung unter Bezugsrechtsausschluss gemäß § 255 Abs. 2 (streitig).111) Die Erwerber müssen einen auf den Erwerbstag bezogenen angemessenen Preis zahlen, der sich aus dem allgemeinen Marktpreis der betreffenden Aktien ergibt (Drittvergleich), hilfsweise aus einer konkreten Unternehmensbewertung. Der hiernach _____________ 106) Ausführlich zu Belegschaftsaktien Tollkühn, NZG 2004, 594. 107) Ebenso Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71b AktG Rz. 12 – „ruhendes Forderungsrecht“; Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71b Rz. 16. 108) Zum Ganzen Stallknecht/Schulze-Uebbing, AG 2010, 657. 109) So die h. M., vgl. nur Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 46; abweichend K. Schmidt/LutterBezzenberger, AktG, § 71 Rz. 8 unter Hinweis darauf, dass das Entgelt gemäß § 71 Abs. 2 Satz 2 ausschüttungsfähig sei, so dass allenfalls eine gesellschaftsinterne Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes in Betracht komme. 110) OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.10.2018 – 20 W 6/18, Rz. 310 ff., ZIP 2019, 520 = BeckRS 2018, 35625. 111) Abweichend die h. M., vgl. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 143 m. w. N.

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Wolfgang Servatius

§ 71a

Umgehungsgeschäfte

maßgebliche Preis kann auch unter dem geringsten Ausgabebetrag liegen.112) Wird gegen das Gebot der angemessenen Weiterveräußerung verstoßen, macht sich der Vorstand gemäß § 93 Abs. 3 Nr. 1 gegenüber der AG schadensersatzpflichtig. VI.

Aktionärsinformation (§ 71 Abs. 3 Satz 1)

Nach § 71 Abs. 3 Satz 1 hat der Vorstand die Aktionäre bei der nächsten turnusmäßigen 54 oder außerordentlichen Hauptversammlung über den Erwerb eigener Aktien zur Schadensabwehr (§ 71 Abs. 1 Nr. 1) und aufgrund einer Ermächtigung (§ 71 Abs. 1 Nr. 8) zu unterrichten. Die Information erstreckt sich auf die Gründe und den Zweck des Erwerbs, auf die Zahl der erworbenen Aktien und den auf sie entfallenden Betrag des Grundkapitals. Die Information kann mündlich erfolgen. Sie muss hinreichend substantiiert sein; formelhafte Wendungen oder gar der bloße Hinweis auf die Norm genügen nicht.113) Nach h. M. soll die Unterrichtungspflicht auch durch die gemäß § 160 Abs. 1 Nr. 2 not- 55 wendigen Angaben im Lagebericht des Jahresabschlusses erfüllt werden, wenn die Hauptversammlung diesen präsentiert bekommt.114) Dem ist nicht zuzustimmen, weil dies der Bedeutung des Erwerbs nicht hinreichend Rechnung tragen würde. Erforderlich ist vielmehr eine gesonderte Information. VII. Rechtsfolgen des zulässigen Erwerbs (§ 71 Abs. 3 Satz 2) § 71 Abs. 3 Satz 2 verlangt, dass die nach § 71 Abs. 2 Nr. 2 erworbenen Aktien innerhalb 56 eines Jahres an die Arbeitnehmer auszugeben sind. Der Vorstand muss sich hierum i. R. seiner allgemeinen Pflichtenbindung bemühen. Gelingt die Ausgabe nicht, bleibt der Erwerb zwar rechtmäßig, die nicht benötigten Aktien sind jedoch alsbald wieder zu veräußern (Einzelheiten siehe § 71c Rz. 3).115) § 71 Abs. 3 Satz 2 enthält darüber hinaus die für alle Erwerbstatbestände zu verallgemei- 57 nernde Pflicht, dass die AG die – zulässig – erworbenen Aktien nicht länger halten darf als nötig. Der Vorstand hat aufgrund seiner allgemeinen Pflichtenbindung stets zu prüfen, ob die Erwerbsvoraussetzungen nach § 71 Abs. 1 und Abs. 2 noch vorliegen.116) Ist dies nicht mehr gegeben, folgt das Veräußerungsgebot aus § 71c. Selbst wenn die Erlaubnistatbestände noch gegeben sind, besteht jedoch eine Veräußerungspflicht, damit mit dem erzielten Erlös die satzungsmäßige Zwecksetzung wieder anderweitig erfüllt werden kann (Ausnahmecharakter des Erwerbs eigener Aktien!). _____________ 112) So auch Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 141. 113) BGH, Urt. v. 9.2.1987 – II ZR 119/86, BGHZ 101, 1 = ZIP 1987, 1239. 114) Vgl. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 229 – unter Hinweis auf Begr. RegE, BT-Drucks. 8/ 1678, S. 15. 115) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71 AktG Rz. 231. 116) Vgl. OLG Stuttgart, Urt. v. 25.11.2009 – 20 U 5/09, ZIP 2009, 2386 = NZG 2010, 141.

§ 71a Umgehungsgeschäfte Wolfgang Servatius

(1) 1Ein Rechtsgeschäft, das die Gewährung eines Vorschusses oder eines Darlehens oder die Leistung einer Sicherheit durch die Gesellschaft an einen anderen zum Zweck des Erwerbs von Aktien dieser Gesellschaft zum Gegenstand hat, ist nichtig. 2Dies gilt nicht für Rechtsgeschäfte im Rahmen der laufenden Geschäfte von Kreditinstituten, von Finanzdienstleistungsinstituten oder von Wertpapierinstituten sowie für die GewähWolfgang Servatius

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§ 71a

Umgehungsgeschäfte

rung eines Vorschusses oder eines Darlehens oder für die Leistung einer Sicherheit zum Zweck des Erwerbs von Aktien durch Arbeitnehmer der Gesellschaft oder eines mit ihr verbundenen Unternehmens; auch in diesen Fällen ist das Rechtsgeschäft jedoch nichtig, wenn die Gesellschaft im Zeitpunkt des Erwerbs eine Rücklage in Höhe der Aufwendungen für den Erwerb nicht bilden könnte, ohne das Grundkapital oder eine nach Gesetz oder Satzung zu bildende Rücklage zu mindern, die nicht zur Zahlung an die Aktionäre verwandt werden darf. 3Satz 1 gilt zudem nicht für Rechtsgeschäfte bei Bestehen eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrags (§ 291). (2) Nichtig ist ferner ein Rechtsgeschäft zwischen der Gesellschaft und einem anderen, nach dem dieser berechtigt oder verpflichtet sein soll, Aktien der Gesellschaft für Rechnung der Gesellschaft oder eines abhängigen oder eines in ihrem Mehrheitsbesitz stehenden Unternehmens zu erwerben, soweit der Erwerb durch die Gesellschaft gegen § 71 Abs. 1 oder 2 verstoßen würde. Literatur: Drygala, Finanzielle Unterstützung des Aktienerwerbs nach der Reform der Kapitalrichtlinie, Der Konzern 2007, 396; Fleischer, Finanzielle Unterstützung des Aktienerwerbs und Leveraged Buyout, AG 1996, 494; Freitag, „Financial Assistance“ durch die Aktiengesellschaft nach der Reform der Kapitalrichtlinie – (k)ein Freifahrtschein für LBOs?, AG 2007, 157; Gottschalk/ Ulmer, Garantien der Aktiengesellschaft bei einer Kapitalerhöhung, DStR 2021, 117; Habersack, Finanzielle Unterstützung des Aktienerwerbs nach MoMiG, in: Festschrift für Klasu J. Hopt, 2010, S. 725; Habersack, Verdeckte Sacheinlage und Hin- und Herzahlen nach dem ARUG – gemeinschaftsrechtlich betrachtet, AG 2009, 557; Habersack, Die finanzielle Unterstützung des Aktienerwerbs – Überlegungen zu Zweck und Anwendungsbereich des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG, in: Festschrift für Volker Röhricht, 2005, S. 155; Kerber, Die aktienrechtlichen Grenzen der finanziellen Unterstützung des Aktienerwerbs im Buy-out-Verfahren, DB 2004, 1027; Kruchen, Risikoabsicherung aktienbasierter Vergütungen mit eigenen Aktien, AG 2014, 655; Ludwig, Verbotene finanzielle Unterstützung im Sinne des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG ohne rechtsgeschäftliche Beteiligung der Zielgesellschaft?, in: Festgabe für Wilhelm Happ, 2006, S. 131; Oechsler, Das Finanzierungsverbot des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG bei Erwerb eigener Aktien – Schutzzweck und praktische Anwendung, ZIP 2006, 1661; Oechsler, Die Änderung der Kapitalrichtlinie und der Rückerwerb eigener Aktien, ZHR 170 (2006) 72; Riegger, Kapitalgesellschaftsrechtliche Grenzen der Finanzierung von Unternehmensübernahmen durch Finanzinvestoren, ZGR 2008, 233; Servatius, Die besondere Zweckbindung des Stammkapitals bei Drittgeschäften mit Gesellschaftern, DStR 2004, 1176; Singhof, Zur finanziellen Unterstützung des Erwerbs eigener Aktien durch Kreditinstitute, NZG 2002, 745; Westermann, Aktienrechtliche Grenzen einer Übernahme von Umwandlungs- und Kurspflegekosten durch die Gesellschaft, in: Festschrift für Martin Peltzer, 2001, S. 613.

Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt ............................... II. Verhältnis zu anderen Vorschriften ...................................... 1. Vermögensbindung gemäß § 57 ....... 2. Hin- und Herzahlen gemäß § 27 Abs. 4 .................................................. III. Verbotene Anteilsfinanzierung (§ 71a Abs. 1) ..................................... 1. Finanzierung des Anteilserwerbs ..... a) Erfasste Finanzierungsgeschäfte ......................................

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1 4 5 6 7 8 9

b) Erfasster Anteilserwerb ......................................... 12 c) Erfasste Anteilserwerber ...................................... 15 2. Sicherheitenbestellung ..................... 16 3. Bereichsausnahmen .......................... 17 4. Rechtsfolgen ..................................... 20 IV. Verbotene Treuhandverhältnisse (§ 71a Abs. 2) .................................... 21 1. Erfasste Rechtsverhältnisse .............. 22 2. Verbotener Aktienerwerb ................ 23 3. Rechtsfolgen bei Verstößen ............. 24

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§ 71a

Umgehungsgeschäfte I.

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

Die Norm ergänzt das Verbot des Erwerbs eigener Aktien für Umgehungssachverhalte in 1 Form der finanziellen Unterstützung des Aktienerwerbs (sog. Verbot der Financial Assistance). Sie beruht auf Art. 64 der Gesellschaftsrechts-Richtlinie.1) § 71a Abs. 1 Satz 1 ordnet zwingend an, dass ein Rechtsgeschäft, durch welches die AG einem anderen den Aktienerwerb finanziert oder Sicherheit bietet, nichtig ist. § 71a Abs. 1 Satz 2 macht hierfür bei Kreditinstituten eine Ausnahme, § 71a Abs. 1 Satz 3 für Rechtsgeschäfte zwischen unternehmensvertraglich gebundenen Gesellschaften. Nach § 71a Abs. 2 ist auch ein Rechtsgeschäft nichtig, wenn hieraus jemand berechtigt oder verpflichtet sein soll, für Rechnung der AG oder eines mit ihr verbundenen Unternehmens Aktien zu erwerben. Der Sache nach geht es weniger um die Fortentwicklung der Schutzzwecke von § 71, son- 2 dern um die Schaffung eines besonderen Tatbestands zum Vermögensschutz der AG.2) Dieser ähnelt funktional § 57, geht jedoch darüber hinaus (siehe unten Rz. 5). Konsequenterweise ist er rechtspolitisch derzeit stark umstritten.3) Praktische Relevanz hat das Verbot der Anteilsfinanzierung vor allem beim sog. Leveraged Buy-out, bei dem der Erwerber eines Unternehmens den Kaufpreis fremdfinanziert und als Sicherheit das Gesellschaftsvermögen benutzt.4) Darüber hinaus steht die europarechtlich vorgeprägte Norm auch in einem Spannungsfeld zum neu eingeführten § 27 Abs. 4, wonach die Mindesteinlagen wieder darlehensweise an den Aktionär zurückfließen dürfen (siehe unten Rz. 6). Die Reform der Kapitalrichtlinie brachte im Jahr 2006 eine Liberalisierung der maßgeb- 3 lichen europäischen Regelungen.5) Gemäß dem neu gefassten Art. 25 Abs. 1 ist es nunmehr den Mitgliedstaaten möglich, die Anteilsfinanzierung zu gestatten, wenn das Geschäft zu fairen, marktüblichen Konditionen vorgenommen wird, die Hauptversammlung dies billigt und die finanzielle Unterstützung aus ausschüttungsfähigen Rücklagen geleistet werden könnte. In Deutschland wurde diese Möglichkeit bislang nicht wahrgenommen, so dass es nach wie vor beim strikten Verbot gemäß § 71a Abs. 1 bleibt.6) II.

Verhältnis zu anderen Vorschriften

§ 71a kollidiert sowohl mit § 57 als auch mit der im Zuge der durch das ARUG im Jahr 4 2009 eingeführten Liberalisierung des sog. Hin- und Herzahlens gemäß § 27 Abs. 4. 1.

Vermögensbindung gemäß § 57

Funktional entspricht § 71a Abs. 1 dem bereits durch § 57 verwirklichten Kapitalschutz 5 bei der AG. Beide Regelungen gelten indessen parallel. Soweit daher eine Vermögensleistung an einen Aktionär oder eine diesem zurechenbare Person vorliegt, richtet sich der Sachverhalt auch nach §§ 57, 62 und führt ggf. zu einer doppelt begründeten Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts sowie in Hinblick auf die Rechtsfolgen zur Anspruchskonkurrenz (siehe zur zweifelhaften h. M. im Hinblick auf die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen _____________ 1) 2) 3) 4) 5)

6)

Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (Gesellschaftsrechts-Richtlinie), ABl. (EU) L 169/46 v. 30.6.2017. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71a AktG Rz. 10 – eigenständige Kapitalschutzregelung. Überblick bei Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71a Rz. 5 ff. – „Fundamentalkritik am Gerechtigkeitsgehalt der Norm“. Einzelheiten m. w. N. bei Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71a AktG Rz. 4. Richtlinie 2006/68/EG v. 6.9.2006 zur Änderung der Richtlinie 77/91/EWG des Rates in Bezug auf die Gründung von Aktiengesellschaften und die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals, ABl. (EU) L 264/32 v. 25.9.2006. Zur Reform Drygala, Der Konzern 2007, 396, 397 ff.; Einzelheiten zu Umsetzungsfragen bei Oechsler, ZHR 170 (2006) 72, 84; Freitag, AG 2007, 157, 160 ff.

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§ 57 dort Rz. 40). Ein wesentlicher Unterschied liegt jedoch darin begründet, dass § 71a Abs. 1 Satz 1 strenger ist als die durch § 57 Abs. 1 Satz 3 mittlerweile gelockerte Vermögensbindung.7) Während hiernach der Austausch von an sich gebundenem Kapital in eine schuldrechtliche Forderung möglich ist (bilanzielle Betrachtung), ist dies bei der Anteilsfinanzierung gerade ausgeschlossen. Die Finanzierung eines Anteilserwerbs setzt im Paradefall gerade voraus, dass die AG die Leistung irgendwann wieder zurückerhält (§ 488 Abs. 1 Satz 2 BGB). Das gleichwohl bestehende Verbot knüpft daher an etwas anderes an als den bloß summen- oder wertmäßigen Schutz des Gesellschaftsvermögens. Richtigerweise sieht man das Anliegen von § 71a Abs. 1 darin, das Gesellschaftskapital als Betriebsvermögen zu schützen, welches i. R. der satzungsmäßigen Zwecksetzung zu nutzen ist und nicht die individuellen Aktionärsinteressen befriedigen darf.8) Die AG ist regelmäßig keine Bank, deren Geschäftszweck es ist, Darlehen (an ihre Gesellschafter) auszureichen. Umgekehrt ist indessen zu beachten, dass die Privilegierung gemäß § 57 Abs. 1 Satz 2 (siehe § 57 Rz. 38) auch bei der Besicherung des Erwerbs eigener Aktien durch Dritte gemäß § 71a gilt.9) 2.

Hin- und Herzahlen gemäß § 27 Abs. 4

6 Das strikte Verbot der Anteilsfinanzierung kollidiert auch mit § 27 Abs. 4. Hiernach ist es nunmehr zulässig, dass die AG mittels Darlehensausreichung die Einlageleistung des Gründers bzw. Zeichners finanziert. Bei rein nationaler Betrachtung könnte man unter Anwendung der lex-posterior-Regel anführen, die Liberalisierung des Kapitalaufbringungsrechts habe Vorrang gegenüber § 71a Abs. 1. Hierbei darf indessen nicht übersehen werden, dass § 27 Abs. 4 europarechtlich fragwürdig ist, wenn es darum geht, dass die Mindesteinlagen wieder an den Aktionär zurückfließen.10) Solange diese Frage nicht abschließend durch den EuGH geklärt ist, spricht Vieles dafür, dass die Hinwendung des Gesetzgebers zur bilanziellen Betrachtung Einschränkungen bedarf.11) Die Einzelheiten hierzu sind derzeit jedoch noch weitgehend ungeklärt. III.

Verbotene Anteilsfinanzierung (§ 71a Abs. 1)

7 Verboten sind Rechtsgeschäfte der AG, die darauf abzielen, einem anderen den Erwerb von Aktien der AG durch die Gewährung eines Vorschusses oder Darlehens oder die Leistung einer Sicherheit zu ermöglichen. Wird hiergegen verstoßen, sind die erfassten Rechtsgeschäfte zwingend nichtig und etwaige Leistungen an die Gesellschaft nach §§ 812 ff. BGB zurückzugewähren. Auf die Frage, ob die AG selbst die betreffenden Aktien gemäß § 71 erwerben dürfte, kommt es bei § 71a nicht an.12) 1.

Finanzierung des Anteilserwerbs

8 Die genannten Finanzierungsformen – Darlehen, Vorschuss – sind nach ganz h. M. nur Regelbeispiele.13) Wenngleich § 71a Abs. 1 rechtspolitisch zunehmend umstritten ist (siehe oben Rz. 5), ist die Schutzrichtung eindeutig, so dass zur Verwirklichung des Vermögens_____________ 7) 8) 9) 10) 11)

Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71a Rz. 1. Hierzu bereits Servatius, DStR 2004, 1176. BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, Rz. 25 ff., ZIP 2017, 472. Grundlegend Habersack, AG 2009, 557, 560. So auch Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 71a Rz. 20; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71a Rz. 1; Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 71a AktG Rz. 2; abweichend K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71a Rz. 20. 12) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71a AktG Rz. 12. 13) Vgl. nur Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71a Rz. 19; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71a Rz. 2; nicht nachvollziehbar LG Düsseldorf, Urt. v. 28.10.2005 – 39 O 180/04, ZIP 2006, 516, 518.

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schutzes eine weite Auslegung geboten ist. Erfasst wird jede rechtsgeschäftliche Gestaltung, aufgrund derer bestimmungsgemäß Gesellschaftsvermögen an den Erwerber oder einen ihm gleichzustellenden Dritten fließt, floss oder fließen soll, damit dieser Aktien der AG oder einer mit ihr verbundenen anderen Gesellschaft erwerben kann. a)

Erfasste Finanzierungsgeschäfte

Die Regelung gilt ohne weiteres, wenn die AG einem künftigen Aktionär ein Darlehen 9 gewährt, welches dieser – wirtschaftlich betrachtet – dafür einsetzt, die Mindest- oder Resteinlagen aufzubringen. Richtigerweise spielt es keine Rolle, ob das Darlehen zeitlich vor oder nach dem Anteilserwerb vereinbart bzw. gewährt wurde (streitig).14) Es ist auch nicht erforderlich, dass die Parteien dies beabsichtigen; der Kapitalschutz bei der AG ist rein objektiv (siehe § 57 Rz. 13), so dass auch hier allein maßgeblich ist, ob zwischen dem Rechtsgeschäft und dem Aktienerwerb ein objektiver Zusammenhang – zeitlich und sachlich – besteht (streitig).15) Ein Liquiditätsabfluss oder eine konkrete Vermögensgefährdung sind nicht erforderlich.16) 10 Das Verbot greift – strenger als nunmehr gemäß § 57 Abs. 1 Satz 3 – auch dann, wenn der Begünstigte solvent ist und die Leistung zurückerstatten kann. Die Norm sanktioniert so eine abstrakte Vermögensgefährdung17) und geht damit über einen bloß bilanzmäßig verwirklichten Kapitalschutz („bilanzielle Betrachtungsweise“) hinaus. Richtigerweise kommt es auch nicht darauf an, dass das Darlehen entgeltlich gewährleistet wurde (streitig).18) Bei der Darlehensgewährung einer AG sind stets Kapital und Zins zu trennen. § 71a bezieht sich wie § 57 auf jeden (drohenden) Vermögensabfluss, ist jedoch mangels Privilegierung gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 strenger. Beim zinslos gewährten Darlehen liegt daher ein Verstoß gegen § 71a Abs. 1 vor, im Hinblick auf die nicht verlangten Zinsen zusätzlich noch ein Verstoß gegen § 57 (siehe § 57 Rz. 29 f.). Andere Finanzierungsformen, die einem Darlehen oder Vorschuss vergleichbar sind, 11 fallen ebenfalls hierunter. Maßgeblich ist stets, ob sie unmittelbar oder mittelbar einen positiven Finanzierungseffekt aufweisen. Dies gilt namentlich für die entgeltliche oder unentgeltliche Stundung einer bestehenden Forderung,19) die Schuldübernahme (streitig)20) und die stille Beteiligung.21) Das Verbot kann auch i. R. von Umwandlungsfällen, namentlich der Verschmelzung, relevant werden.22) Eine dauerhafte Kapitalüberlassung (Schenkung, verlorener Zuschuss) ist ebenso erfasst, denn der durch die Norm beabsichtigte Vermögensschutz ist hier noch notwendiger als bei der bloß zeitweisen Finanzierung des _____________ 14) Fleischer, AG 1996, 494, 500; Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 71a AktG Rz. 6; einschränkend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71a Rz. 3; die Frage offenlassend BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, Rz. 27 ff., ZIP 2017, 472. 15) Abweichend Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 71a AktG Rz. 6 – Verwendungsabrede erforderlich; ebenso K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71a Rz. 14 – Kenntnis notwendig; ähnlich Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71a AktG Rz. 39 – Vermutung einer Absprache bei Vorliegen eines engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhangs; ebenso Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 71a Rz. 17. 16) Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71a Rz. 19; abweichend LG Düsseldorf, Urt. v. 28.10.2005 – 39 O 180/04, ZIP 2006, 516, 518; Habersack in: FS Röhricht, S. 155, 161. 17) Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71a Rz. 19. 18) Abweichend die h. M., vgl. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71a AktG Rz. 32 m. w. N. 19) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71a AktG Rz. 41. 20) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71a Rz. 12; abweichend LG Düsseldorf, Urt. v. 28.10.2005 – 39 O 180/04, ZIP 2006, 516, 518; zum Ganzen ausführlich Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71a AktG Rz. 50 f. 21) Merkt in: GroßKomm-AktG, § 71a Rz. 35. 22) Einzelheiten bei Spindler/Stilz-Cahn, AktG, § 71a Rz. 44 f.; Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71a Rz. 26 f.; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71a Rz. 19.

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Umgehungsgeschäfte

Anteilserwerbs (streitig).23) Die Übernahme von Kurspflegekosten, insbesondere i. R. eines Greenshoe, würde grundsätzlich hierunter fallen, ist jedoch nach zutreffender h. M. wegen der durch andere europäischen Rechtsakte bewirkten Legalisierung dieser Maßnahmen zulässig.24) Eine Break-Fee-Vereinbarung fällt jedoch unter das Verbot, da sie – im Vorfeld des etwaigen Scheiterns der Übernahme – durchaus positive Effekte für den Aktienwerber hat (streitig).25) Dasselbe gilt für Kursgarantien und Verkaufsoptionen (streitig).26) b)

Erfasster Anteilserwerb

12 Das betreffende Rechtsgeschäft muss sich ausweislich des Wortlauts auf den Aktienerwerb beziehen; Zwischenscheine werden ebenfalls erfasst.27) Es kommt daher unproblematisch zum Tragen, wenn der aus dem Vertrag Begünstigte Aktien der AG zeichnet. Richtigerweise kommt hierfür nicht allein der derivative Aktienerwerb in Betracht, sondern auch die Zeichnung i. R. der Gründung oder Kapitalerhöhung.28) Der systematische Zusammenhang mit § 71 spricht zwar vordergründig dagegen. Der vom Erwerbsverbot eigener Aktien emanzipierte Schutzzweck der Regelung (eigenständige Kapitalschutzregelung als Ergänzung zu § 57, siehe oben Rz. 5) zieht es jedoch nach sich, das Finanzierungsverbot umfassend zu verstehen. 13 Darüber hinaus ist es geboten, den Anwendungsbereich entsprechend § 56 Abs. 2 und § 71d Satz 2 dahingehend zu erweitern, dass auch der Erwerb von Aktien oder Anteilen konzernrechtlich mit der AG verbundener Unternehmen erfasst wird (vgl. § 71d Satz 4). Die Finanzierung des Erwerbs von Aktien eines von der AG abhängigen (Tochtergesellschaft) oder eines diese beherrschenden Unternehmens (Muttergesellschaft) ist daher ebenso unzulässig.29) Siehe aber die Bereichsausnahme beim Unternehmensvertrag gemäß § 71a Abs. 1 Satz 3 unten Rz. 19. 14 Geht es indessen um Rechtsgeschäfte, die nicht zumindest mittelbar auf den Erwerb der Mitgliedschaft gerichtet sind, greift das Verbot nicht.30) Die Finanzierung von Schuldverschreibungen, Genuss- und Dividendenrechten ist daher allenfalls nach § 57 verboten. Bei Options- und Wandelanleihen, die letztlich einen Anspruch auf Einräumung der Mitgliedschaft begründen, ist hingegen eine Einbeziehung geboten.31) _____________ 23) Abweichend Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71a AktG Rz. 41; wohl auch K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71a Rz. 13. 24) Westermann in: FS Peltzer, S. 613, 625 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71a Rz. 3; abweichend zum früheren Recht OLG Frankfurt/M., Urt. v. 30.1.1992 – 16 U 120/90, WM 1992, 572, 576; vom BGH offengelassen, Urt. v. 5.7.1993 – II ZR 194/92, AG 1994, 32, 34 = ZIP 1993, 1467. 25) Wie hier K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71a Rz. 12; abweichend die wohl h. M., vgl. nur Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71a AktG Rz. 46; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 71a Rz. 15; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 71a Rz. 3. 26) Vgl. LG Göttingen, Urt. v. 6.1.1992 – 8 O 123/91, WM 1992, 1373; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 30.1.1992 – 16 U 120/90, WM 1992, 572; Gottschalk/Ulmer, DStR 2021, 1173; abweichend Cahn in: BeckOKG-AktR, § 71a AktG Rz. 43; gegen die Einbeziehung von Stillhalteprämien auch Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 71a Rz. 2, und Kruchen, AG 2014, 655, 659. 27) Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71a Rz. 15. 28) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71a Rz. 1; abweichend Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71a Rz. 15; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71a Rz. 20; offenlassend BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, Rz. 32, ZIP 2017, 472. 29) Wohl ebenso Cahn in: BeckOKG-AktR, § 71a AktG Rz. 36; vgl. auch K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71a Rz. 18; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71a Rz. 2. 30) Vgl. zu Umwandlungen K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71a Rz. 19. 31) Zum Ganzen Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71a AktG Rz. 35.

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Umgehungsgeschäfte c)

Erfasste Anteilserwerber

§ 71a verbietet schlechthin die Finanzierung eines Anteilserwerbs durch einen Dritten, 15 d. h. nicht die AG selbst. Es kommt also – abweichend von § 57 – nicht darauf an, dass einem Aktionär oder zurechenbaren Dritten ein aus dem Gesellschaftsvermögen stammender Vermögensvorteil zukommt. Im Kern geht es jedoch wie bei § 57 darum, dass das von den künftigen Aktionären aufzubringende Kapital nicht wirtschaftlich betrachtet das der AG ist, weil ansonsten der Kapitalschutz nicht verwirklicht werden könnte. Über eine summen- oder wertmäßige Betrachtung allein ließe sich dieses Schutzanliegen jedoch nicht erklären. Geht man nämlich vom Idealfall der Finanzierung aus, steht der AG ein Rückzahlungsanspruch aus § 488 Abs. 1 Satz 2 BGB zu, was bei einer rein bilanziellen Betrachtung den Kapitalschutz nicht tangieren würde. Indem § 71a jedoch hierüber hinausgeht und gerade diese Gestaltungen explizit verbietet, wird hierdurch anerkannt, dass das Gesellschaftsvermögen durch die satzungsmäßige Zielsetzung gebunden ist und damit nicht zur Verwirklichung individueller Aktionärsinteressen benutzt werden darf.32) Die AG ist – im Regelfall, vgl. die Ausnahmen gemäß § 71a Abs. 1 Satz 2, – keine Bank, die den Aktionären Darlehen gibt.33) Insofern ist das Verbot entgegen der zunehmenden rechtpolitischen Kritik durchaus legitimiert. Zu den Friktionen mit § 27 Abs. 4 siehe oben Rz. 6. 2.

Sicherheitenbestellung

Verboten ist auch, dass die AG den Anteilserwerb durch die Bestellung einer dinglichen 16 oder schuldrechtlichen Sicherheit unterstützt.34) In Folge der zur Verwirklichung des Schutzzwecks erforderlichen weiten Auslegung kommen somit z. B. Bürgschaften, Sicherungsübereignungen oder Grundpfandrechte in Betracht. Erforderlich ist aber ein Zusammenhang zwischen Besicherung und dem Erwerb der Aktien, wonach die Leistung der Gesellschaft objektiv dem Aktienerwerb dient, die Parteien des Finanzierungsgeschäfts dies wissen und die Zweckverknüpfung rechtsgeschäftlich zum Inhalt ihrer Vereinbarung machen.35) Eine solche Abrede ist bei objektivem Sachzusammenhang und zeitlicher Nähe von Aktienerwerb und Finanzierungsgeschäft zu vermuten.36) Allein dass die Finanzierungshilfe in irgendeiner Weise dem „Behalt“ der Aktien dient, genügt dazu aber nicht, weil die Unterstützung eines zahlungsschwachen Aktionärs, der ansonsten seine Anteile verkaufen müsste, nicht mehr im Zusammenhang mit dem Erwerb der Aktien steht.37) 3.

Bereichsausnahmen

§ 71a Abs. 1 Satz 2 und 3 begründen drei Bereichsausnahmen für das Verbot der Anteils- 17 finanzierung und Sicherheitenbestellung gemäß Satz 1. Nach § 71a Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 können einmal Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute (§ 1 Abs. 2 und 1a KWG) sowie Wertpapierinstitute38) (§ 1 Abs. 1 WpIG) i. R. des laufenden Geschäfts den Aktienerwerb finanzieren oder hierfür Sicherheiten bestellen.39) _____________ Hierzu bereits Servatius, DStR 2004, 1176; Freitag, AG 2007, 157, 160. Vgl. auch BGH, Urt. v. 13.11.2007 – XI ZR 294/07, ZIP 2008, 118 = NZG 2008, 106. Vgl. BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, ZIP 2017, 472. BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, Rz. 28, ZIP 2017, 472. BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, Rz. 28, ZIP 2017, 472. BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, Rz. 28, ZIP 2017, 472. „Wertpapierinstitute“ hinzugefügt durch Art. 7 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/2034 über die Beaufsichtigung von Wertpapierinstituten v. 12.5.2021, BGBl. I 2021, 990. 39) Einzelheiten bei Singhof, NZG 2002, 745, 747.

32) 33) 34) 35) 36) 37) 38)

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§ 71a

Umgehungsgeschäfte

18 Eine Privilegierung gilt gemäß § 71a Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 weiterhin für den Erwerb von Belegschaftsaktien für Arbeitnehmer der AG oder eines mit ihr konzernrechtlich verbundenen Unternehmens (§ 15);40) Organmitglieder sind hiervon nicht erfasst.41) Diese Geschäfte sind wirksam, wenn die Gesellschaft im Zeitpunkt des Erwerbs eine ausschüttungsfähige Rücklage bilden könnte. Maßgeblich für die Höhe der zu bildenden Rücklage ist wie bei § 71 Abs. 2 Satz 2 der konkrete Erwerbspreis der betreffenden Aktien (streitig).42) 19 Schließlich gilt das Verbot gemäß § 71a Abs. 1 Satz 3 auch nicht für Rechtsgeschäfte bei Bestehen eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrages i. S. von § 291. Diese Regelung wurde im Zuge des MoMiG im Jahr 2008 eingeführt und ähnelt § 57 Abs. 1 Satz 1. Sie privilegiert jedoch nicht nur sämtliche Vermögenstransfers von einer beherrschten bzw. zur Gewinnabführung verpflichteten AG gegenüber dem Vertragspartner. Übertragen auf das Verbot der Finanzierung des Anteilserwerbs bzw. einer diesem dienenden Sicherheitenbestellung bedeutet sie vielmehr, dass eine beherrschte oder zur Gewinnabführung verpflichtete AG nahezu einschränkungslos nicht durch § 71a Abs. 1 Satz 1 gebunden ist.43) Der konzernrechtliche Schutz gemäß §§ 302, 303 wird hiernach vom Gesetzgeber als ausreichend angesehen, was nur überzeugt, wenn der andere Vertragsteil leistungsfähig ist.44) Im faktischen Konzern gilt demgegenüber § 71a Abs. 1 Satz 1 einschränkungslos und wird nicht durch §§ 311, 317 überlagert (streitig).45) 4.

Rechtsfolgen

20 Liegt ein Verstoß gegen § 71a Abs. 1 vor, ist das Finanzierungsgeschäft nichtig; auf den dinglichen Aktienerwerb hat dies keine Auswirkungen.46) Die Nichtigkeit des Finanzierungsgeschäfts bezieht sich auch allein auf den schuldrechtlichen Teil; der Geldfluss wird hiervon nicht erfasst, weil dies wegen § 935 Abs. 2 BGB ohnehin nicht effektiv wäre (streitig).47) Die AG hat einen Anspruch gegen den Leistungsempfänger auf Rückerstattung der Finanzierungshilfe entsprechend § 62.48) Bei der verbotenen Sicherheitenbestellung bezieht sich die Nichtigkeit nicht nur auf die Sicherungsabrede, sondern auch auf die Sicherheit als solche (streitig).49) _____________ 40) Vgl. hierzu OLG Frankfurt/M., Urt. v. 22.12.2003 – 19 U 78/03, NZG 2004, 419. 41) LG Mainz, Urt. v. 27.8.2004 – 11 HKO 16/04, NZG 2005, 325; Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71a Rz. 38. 42) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71a Rz. 6; abweichend K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71a Rz. 22: Betrag des durch die AG zu tragenden wirtschaftlichen Risikos, was jedoch kaum zutreffend zu beziffern ist; ebenso Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 71a Rz. 29. 43) Zum Ganzen ausführlich Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71a AktG Rz. 19 ff.; für die Geltung des Verbots auch nach Inkrafttreten der Neuregelung jedoch K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71a Rz. 18; einschränkend, wenn der herrschende Vertragsteil als Erwerber auftritt, Hüffer/KochKoch, AktG, § 71a Rz. 6a. 44) Vgl. hierzu Fleischer, AG 1996, 494, 505 f. 45) H. M., vgl. K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71a Rz. 18; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71a AktG Rz. 25; Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 71a Rz. 21; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71a Rz. 6a; abweichend Brosius, Die finanzielle Unterstützung des Erwerbs eigener Aktien, 2011, S. 230; Habersack in: FS Hopt, S. 725, 742 f. 46) Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 71a Rz. 23. 47) Wie hier die wohl h. M., vgl. Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71a Rz. 31; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71a Rz. 4; abweichend K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71a Rz. 16; Cahn in: BeckOGKAktR, § 71a AktG Rz. 53 m. w. N. 48) Vgl. OLG München, Urt. v. 24.1.2006 – 5 U 4383/05, BeckRS 2008, 07509; enger, nur wenn auch die Voraussetzungen von § 62 vorliegen, Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71a Rz. 4; die Frage offenlassend BGH, Urt. v. 12.9.2006 – XI ZR 296/05, Rz. 14 ff., ZIP 2006, 2119, 2120, dazu EWiR 2007, 97 (Medicus). 49) Abweichend K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71a Rz. 16 – Nichtigkeit nur des Sicherungsvertrages.

500

Wolfgang Servatius

§ 71a

Umgehungsgeschäfte IV.

Verbotene Treuhandverhältnisse (§ 71a Abs. 2)

Nach § 71a Abs. 2 erstreckt sich die Nichtigkeit auch auf Rechtsgeschäfte zwischen der 21 AG und einem anderen, wenn dieser hiernach berechtigt oder verpflichtet sein soll, verbotenerweise Aktien der AG oder eines von sich abhängigen oder in ihrem Mehrheitsbesitz stehenden Unternehmens zu erwerben. Die Regelung steht in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit § 71a Abs. 1, sondern sanktioniert vielmehr ähnlich wie § 57, dass die AG aufgrund eines derartigen Geschäfts dem Dritten zum Aufwendungsersatz verpflichtet wäre, mithin das wirtschaftliche Risiko des Aktienerwerbs trägt. Insofern ähnelt die Regelung § 56 Abs. 3. Gegenüber § 71d ist die Norm richtigerweise dadurch abzugrenzen, dass § 71a Abs. 2 den nach § 71 verbotenen Aktienerwerb regelt, § 71d den erlaubten. 1.

Erfasste Rechtsverhältnisse

Erfasst ist jedes Rechtsgeschäft zwischen der AG und einem anderen, aufgrund dessen dieser 22 die Aktien für Rechnung der AG erwerben darf oder muss. Als Sanktionierung potentieller Umgehungstatbestände ist die Regelung weit auszulegen. Hierunter fallen somit sämtliche Treuhandverhältnisse bzw. die Fälle der mittelbaren Stellvertretung (Auftrag, Geschäftsbesorgung, Kommission, auch ohne entsprechende rechtsgeschäftliche Grundlage50); Einzelheiten siehe § 71d Rz. 4). 2.

Verbotener Aktienerwerb

Die Regelung gilt nur, wenn der – hypothetische – Erwerb der Aktien durch die AG selbst 23 nach Maßgabe von § 71 Abs. 1 und 2 unzulässig wäre; das Gleiche gilt für die verbotene Inpfandnahme gemäß § 71d. In Betracht kommt nur der derivative Erwerb von bereits bestehenden Aktien; für die erstmalige Übernahme und Zeichnung gilt § 56 Abs. 2. 3.

Rechtsfolgen bei Verstößen

Liegen diese Voraussetzungen vor, ist das betreffende schuldrechtliche Rechtsgeschäft 24 zwingend nichtig. Der dingliche Aktienerwerb durch den Dritten wird hierdurch indessen nicht berührt. Im Ergebnis führt die Nichtigkeit damit dazu, dass der Dritte aus dem Rechtsgeschäft keine Ansprüche gegen die AG ableiten kann. Dies muss auch gelten, wenn ein Fall der Geschäftsführung ohne Auftrag vorliegt.51) Etwaige Leistungen sind entsprechend § 62 bzw. gemäß §§ 812 ff. BGB zurückzugewähren.52) Das Außenverhältnis wird demgegenüber hierdurch nicht betroffen; der Dritte ist wie bei § 56 Abs. 2 im Verhältnis zur AG so zu behandeln, als wenn er die Aktien auf eigene Rechnung erworben hätte.53) Für das Veräußerungsgebot gemäß § 71c und den Rechteausschluss gemäß § 71b besteht daher kein Bedürfnis (streitig).54) Es besteht auch keine Pflicht, die Aktien an die AG zu übertragen.

_____________ 50) Für die GoA auch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71a Rz. 8; Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 71a AktG Rz. 11; abweichend Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71a Rz. 59. 51) H. M., vgl. K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71a Rz. 25; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71a Rz. 8. 52) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71a Rz. 9; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71a Rz. 26. 53) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71a Rz. 9; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71a Rz. 26. 54) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71a Rz. 26; abweichend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71a Rz. 9.

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§ 71b

Rechte aus eigenen Aktien

§ 71b Rechte aus eigenen Aktien Wolfgang Servatius

Aus eigenen Aktien stehen der Gesellschaft keine Rechte zu. Literatur: Berrar/Schnorbus, Rückkauf eigener Aktien und Übernahmerecht, ZGR 2003, 59; Busch, Eigene Aktien in der Kapitalerhöhung, AG 2005, 429; Fleischer/Körber, Der Rückerwerb eigener Aktien und das Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz, BB 2001, 2589; Krause, Eigene Aktien bei Stimmrechtsmitteilungen und Pflichtangebot, AG 2015, 553.

Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt ............................... 1 II. Keine Rechte aus eigenen Aktien ................................................ 2 I.

III. Anwachsung bei den übrigen Aktionären ......................................... 3 IV. Ruhen der Pflichten .......................... 4

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

1 Die Regelung beruht auf Art. 63 der Gesellschaftsrechts-Richtlinie.1) Der Ausschluss von Rechten der AG aus eigenen Aktien sichert zum einen, dass der Vorstand keine Aktionärskompetenzen ausübt. Die Regelung hat insofern einen insbesondere für das Verwaltungsstimmrecht mittels Legitimationszession verallgemeinerungsfähigen Inhalt (sehr umstritten, Einzelheiten siehe § 134). Zum anderen verwirklicht die Norm einen besonderen Vermögensschutz zugunsten der übrigen Aktionäre, indem der AG aus ihren Aktien keine Ansprüche zustehen.2) Über die Pflichten aus den eigenen Aktien besagt die Norm nichts; hier ist jedoch eine spiegelbildliche Betrachtung angezeigt (siehe unten Rz. 4). Die Regelung gilt beim rechtmäßigen und rechtswidrigen Aktienerwerb.3) Sie gilt gemäß § 71d Abs. 1 Satz 4 bei der AG zurechenbaren Dritten entsprechend. Auf in Pfand genommene Aktien findet die Regelung demgegenüber keine Anwendung (Umkehrschluss aus § 71a Abs. 1 Satz 3).4) Etwas anderes gilt nur, wenn zugunsten der AG auch das Gewinnrecht verpfändet wurde.5) II.

Keine Rechte aus eigenen Aktien

2 Der AG stehen während der – stets wirksamen (vgl. § 71 Abs. 4 Satz 1) – Innehabung eigener Aktien keine Verwaltungs- und Vermögensrechte aus den betreffenden Aktien zu.6) Das Ruhen der Mitgliedschaftsrechte kann auch nicht durch Abtretung, Bevollmächtigung oder vergleichbare Gestaltungen umgangen werden.7) Insbesondere gilt die Regelung daher entsprechend, wenn die AG im Wege einer Legitimationszession zur Stimmrechtsausübung befugt sein soll.8) Auch die Abtretung des Dividendenanspruchs oder die Veräußerung von Dividendenscheinen lässt daher in der Person des Dritten keine Ge_____________ 1)

2) 3) 4) 5) 6) 7) 8)

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Art. 63 der Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (Gesellschaftsrechts-Richtlinie), ABl. (EU) L 169/46 v. 30.6.2017. Vgl. Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71b Rz. 6, freilich im Ergebnis sehr zurückhaltend. Unstreitig, vgl. nur Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71b Rz. 2. Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71b Rz. 7. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71b Rz. 1. Vgl. zu kapitalmarktrechtlichen Implikationen Krause, AG 2015, 553. Unstreitig, vgl. Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71b Rz. 10; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71b AktG Rz. 9. H. M., teilweise auf § 136 Abs. 2 abstellend, vgl. nur Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71b Rz. 5 m. w. N.

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Veräußerung und Einziehung eigener Aktien

§ 71c

winnansprüche entstehen.9) Ausnahmen folgen einmal aus § 215, wonach auch eigene Aktien an der Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln teilnehmen. Für das Bezugsrecht bei der ordentlichen Kapitalerhöhung gilt dies ebenso.10) Soweit es um die Bestimmung von Anteilen des Aktionärs am Grundkapital ankommt (vgl. etwa § 122 Abs. 1 Satz 1), werden die eigenen Aktien ebenfalls mitgezählt, nicht aber, soweit es um das vertretene Kapital geht (vgl. etwa § 179 Abs. 2 Satz 1).11) Mit Weiterveräußerung endet das Ruhen der Mitgliedschaftsrechte – soweit noch möglich – mit Wirkung ex nunc.12) III.

Anwachsung bei den übrigen Aktionären

Die Grundkapitalziffer wird durch § 71b nicht verändert. Soweit es daher auf die Beteili- 3 gung einzelner Aktionäre am Grundkapital ankommt, ändert sich nichts (vgl. z. B. § 62 Abs. 1 UmwG). Im Übrigen kommt es zur Anwachsung der ruhenden Vermögens- und Mitverwaltungsrechte bei den übrigen Aktionären.13) Eine Ausnahme hiervon begründet jedoch § 16 Abs. 2 Satz 2 für die konzernrechtlichen Regeln, einschließlich des squeeze out (§ 327a Abs. 2), so dass ein Gesellschafter infolge des von ihm nicht kontrollierbaren Erwerbs eigener Aktien durch die AG nicht unversehens herrschendes Unternehmen wird. Vgl. für die Konzernbilanz § 290 Abs. 4 HGB. Eine weitere Ausnahme sollte zudem im Übernahmerecht gemacht werden, so dass niemand infolge des durch ihn nicht steuerbaren Erwerbs eigener Aktien zur Abgabe eines Pflichtangebots gezwungen wird (streitig).14) Etwas anderes gilt nur, wenn der betreffende Aktionär den Erwerb veranlasst hat und er hierdurch faktisch die 30 %-Schwelle überschreitet. IV.

Ruhen der Pflichten

Für die Pflichten, die während der Innehabung der eigenen Aktien entstehen würden, gilt 4 das Vorgesagte ohne weiteres spiegelbildlich. Die Pflichten, die bereits vor dem Rückerwerb bestanden, insbesondere die Pflicht zur Leistung der Resteinlage, ruhen ebenfalls während der Besitzzeit. Ein Erlöschen wegen Konfusion kommt wegen des Gläubigerund Aktionärsschutzes nicht in Betracht, so dass der Erwerber eigener Aktien zur Nachleistung verpflichtet ist (streitig).15) _____________ 9) 10) 11) 12) 13)

Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71b Rz. 5. Vgl. Busch, AG 2005, 429, 430 ff.; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71b Rz. 3. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71b Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71b Rz. 5. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71b AktG Rz. 8; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71b Rz. 3. Unstreitig, vgl. nur Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71b AktG Rz. 11; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71b Rz. 4 f. 14) So vor allem Berrar/Schnorbus, ZGR 2003, 59, 88; Fleischer/Körber, BB 2001, 2589, 2593 f.; unentschieden K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71b Rz. 6, der sich aber zumindest für eine Befreiung von der Angebotspflicht gemäß § 9 Nr. 5 WpÜG ausspricht. 15) Cahn in: BeckOKG-AktR, § 71b AktG Rz. 12; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71b Rz. 6; abweichend Grigoleit-Grigoleit/Rachlitz, AktG, § 71b Rz. 9; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71b Rz. 6.

§ 71c Veräußerung und Einziehung eigener Aktien Wolfgang Servatius

(1) Hat die Gesellschaft eigene Aktien unter Verstoß gegen § 71 Abs. 1 oder 2 erworben, so müssen sie innerhalb eines Jahres nach ihrem Erwerb veräußert werden. (2) Entfallen auf die Aktien, welche die Gesellschaft nach § 71 Abs. 1 in zulässiger Weise erworben hat und noch besitzt, mehr als zehn vom Hundert des Grundkapitals, so muß Wolfgang Servatius

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§ 71c

Veräußerung und Einziehung eigener Aktien

der Teil der Aktien, der diesen Satz übersteigt, innerhalb von drei Jahren nach dem Erwerb der Aktien veräußert werden. (3) Sind eigene Aktien innerhalb der in den Absätzen 1 und 2 vorgesehenen Fristen nicht veräußert worden, so sind sie nach § 237 einzuziehen. Literatur: Ganske, Das zweite gesellschaftsrechtliche Koordinierungsgesetz vom 13.12.1978, DB 1978, 2461; Lutter, Mindestumfang der Kapitalerhöhung bei der Verschmelzung zur Aufnahme oder Neugründung bei Aktiengesellschaften?, in: Festschrift für Herbert Wiedemann, 2002, S. 1097.

Übersicht I. Normzweck, Regelungsgehalt ........ II. Veräußerung wegen rechtswidrigen Erwerbs (§ 71c Abs. 1) ..................................... 1. Voraussetzungen ............................... 2. Entsprechende Anwendung .............. 3. Rechtsfolge ........................................ I.

1

2 2 3 4

III. Veräußerung wegen Überschreitens der Erwerbsobergrenze (§ 71c Abs. 2) ...................................... 7 1. Voraussetzungen ................................ 7 2. Rechtsfolge ......................................... 8 IV. Einziehung nach Fristablauf (§ 71c Abs. 3) ...................................... 9

Normzweck, Regelungsgehalt

1 § 71c regelt in differenzierter Weise die weitere Behandlung der durch die AG erworbenen eigenen Aktien. Die Norm wurde 1979 eingeführt1) und beruht mittlerweile auf Art. 59, 61 der Gesellschaftsrechts-Richtlinie.2) Die Regelung ist zwingend. Nach § 71c Abs. 1 sind unzulässig erworbene Aktien innerhalb Jahresfrist wieder zu veräußern. § 71c Abs. 2 erweitert dies für den Fall, dass durch einen an sich zulässigen Erwerb die Obergrenze von 10 % des Grundkapitals gemäß § 71 Abs. 2 Satz 1 nachträglich überschritten wird, indem der überschießende Teil innerhalb von spätestens drei Jahren nach dem Erwerb veräußert werden muss. Nach § 71c Abs. 3 sind die rechtswidrig erworbenen oder zu viel gehaltenen Aktien nach Ablauf der vorgenannten Veräußerungsfristen gemäß § 237 einzuziehen. Nach § 71d Satz 4 gilt die Regelung beim Aktienerwerb zurechenbarer Dritter sinngemäß. Die Regelung ist nicht Schutzgesetz i. S. von § 823 Abs. 2 BGB und eröffnet nicht ein Vorgehen nach § 1004 BGB.3) II.

Veräußerung wegen rechtswidrigen Erwerbs (§ 71c Abs. 1)

1.

Voraussetzungen

2 Erforderlich ist, dass Aktien rechtswidrig erworben wurden. Dies ist unproblematisch gegeben, wenn die Voraussetzungen von § 71 Abs. 1 Nr. 1 – 8 beim Erwerb nicht eingehalten wurden. Für eine Verletzung von § 53a (vgl. § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 3) soll das nicht gelten, weil die Vorgaben der Gesellschaftsrechts-Richtlinie das Veräußerungsgebot hieran ebenfalls nicht knüpfen.4) Dem ist nicht zu folgen. Gleichheitswidrig erworbene Aktien sind rechtswidrig erworbene Aktien, so dass es nicht gerechtfertigt ist, von einem minder schweren Mangel zu sprechen (siehe zur Veräußerung unten Rz. 4).5) Zur problematischen Abgrenzung von § 71c Abs. 1 und Abs. 2 beim Überschreiten der 10 %-Erwerbsgrenze _____________ 1) 2) 3) 4) 5)

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Vgl. Ganske, DB 1978, 2461. Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (Gesellschaftsrechts-Richtlinie), ABl. (EU) L 169/46 v. 30.6.2017. LG Memmingen, Urt. v. 11.8.2010 – 2 HK O 515/10, GWR 2010, 455. Cahn in: BeckOKG-AktR, § 71c AktG Rz. 3. Ebenso Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71c Rz. 3.

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Veräußerung und Einziehung eigener Aktien

§ 71c

siehe unten Rz. 7). Auf die rechtswidrige Zeichnung i. S. von § 56 ist die Regelung entsprechend anzuwenden.6) 2.

Entsprechende Anwendung

Nicht von § 71c Abs. 1 erfasst ist demgegenüber der Fall, dass der Erwerb ursprünglich 3 zulässig war, die Voraussetzungen jedoch in der Zwischenzeit weggefallen sind. Dies betrifft vor allem den Erwerb zur Schadensabwehr (§ 71 Abs. 1 Nr. 1), den Erwerb zur Ausgabe von Belegschaftsaktien (§ 71 Abs. 1 Nr. 2) und den Erwerb von Aktien zur Bedienung von Abfindungsansprüchen (§ 71 Abs. 1 Nr. 3). Ebenfalls nicht erfasst sind die Fälle, bei denen kein Interesse mehr besteht, die rechtmäßig erworbenen Aktien weiterhin zu halten. Dies betrifft vor allem den Erwerb infolge Gesamtrechtsnachfolge (§ 71 Abs. 1 Nr. 5). In all diesen Gestaltungen folgt aus dem grundsätzlichen Verbot des Erwerbs eigener Aktien jedoch, dass der rechtmäßige Erwerb kein Freibrief ist, die Aktien dauerhaft zu halten. Der Vorstand ist vielmehr in diesen Fällen aufgrund seiner allgemeinen Pflichtenbindung gehalten, die nicht benötigten eigenen Aktien in entsprechender Anwendung von § 71c Abs. 1 alsbald wieder zu veräußern, um mit dem erzielten Erlös den satzungsmäßigen Unternehmensgegenstand zur Verwirklichung des Gewinnziels auszufüllen (streitig).7) Unterlässt er dies pflichtwidrig, macht er sich gegenüber der AG gemäß § 93 Abs. 2 schadensersatzpflichtig (vor allem im Hinblick auf einen entgangenen Gewinn). 3.

Rechtsfolge

Die rechtswidrig erworbenen Aktien sind binnen Jahresfrist zu veräußern (die AG ist 4 gemäß § 71 Abs. 4 Satz 1 wirksam Inhaberin der Aktien geworden). Der Vorstand hat sich hierum ernsthaft zu bemühen und macht sich andernfalls gegenüber der AG schadensersatzpflichtig (entgangener Gewinn wegen gebundenen Kapitals).8) Die Frist beginnt mit dem unzulässigen Erwerb, im Fall des hierauf bezogenen Kausalgeschäfts bereits mit dessen Abschluss (streitig).9) Vgl. die Ordnungswidrigkeit gemäß § 405 Abs. 1 Nr. 4 lit. b, wenn die Aktien nicht angeboten werden. Über die Art und Weise der gebotenen Veräußerung fehlen spezielle Regeln. Da das schuld- 5 rechtliche Kausalgeschäft beim rechtswidrigen Erwerb gemäß § 71 Abs. 4 Satz 2 nichtig ist, ist der Erwerb vorrangig rückgängig zu machen.10) Der ursprüngliche Veräußerer ist freilich im gesetzlichen Regelfall nicht verpflichtet, die Aktien wieder zu übernehmen; Ausnahmen hiervon ermöglicht allein die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht, was bisher noch nicht ausreichend beleuchtet wurde. Lehnt der ursprüngliche Veräußerer den Rückerwerb ab, sind die Aktien vorrangig den übrigen Aktionären anzubieten (siehe sogleich Rz. 7). Vgl. die Berichtspflicht im Lagebericht des Jahresabschlusses gemäß § 160 Abs. 1 Nr. 1 und 2.

_____________ 6) Cahn in: BeckOKG-AktR, § 71c AktG Rz. 4. 7) Für das Überschreiten der Frist gemäß § 71 Abs. 3 Satz 2 auch Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71c Rz. 7. Abweichend i. Ü. die h. M., vgl. K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71b Rz. 7; Lutter in: FS Wiedemann, S. 1097, 1107. 8) Vgl. OLG Stuttgart, Urt. v. 25.11.2009 – 20 U 5/09, ZIP 2009, 2386 = NZG 2010, 141, dazu EWiR 2010, 477 (Becker/Laubinger). 9) Ebenso Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71c Rz. 5; abweichend Cahn in: BeckOKG-AktR, § 71c AktG Rz. 7. 10) Unstreitig, vgl. nur Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71c Rz. 16; Cahn in: BeckOKG-AktR, § 71c AktG Rz. 8.

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§ 71c

Veräußerung und Einziehung eigener Aktien

6 Nimmt man – wie hier vertreten (siehe oben Rz. 3) – an, dass die Veräußerungspflicht gemäß § 71c Abs. 1 entsprechend gilt, wenn der Erwerb nachträglich unzulässig wird oder die AG kein Interesse mehr an den eigenen Aktien hat, sind die Aktien vorrangig den Aktionären anzubieten (vgl. § 71 Abs. 1 Nr. 8 Sätze 3 – 5).11) Einzelheiten siehe § 71 Rz. 43. III.

Veräußerung wegen Überschreitens der Erwerbsobergrenze (§ 71c Abs. 2)

1.

Voraussetzungen

7 § 71c Abs. 2 verpflichtet den Vorstand auch dann zur Veräußerung, wenn der Erwerb – isoliert betrachtet – zwar rechtmäßig war, er jedoch im Zusammenspiel mit anderen Erwerben dazu führt, dass die AG sowie ggf. die nach § 71d Satz 1 und 2 einzubeziehenden Dritten (vgl. § 71d Satz 3) insgesamt eigene Aktien zu einem Nennbetrag von mehr als 10 % des Grundkapitals halten. Der Wortlaut der Regelung ist indessen sehr missglückt. Richtigerweise ist vorrangig § 71c Abs. 1 anzuwenden, wenn der zulässige Aktienerwerb bereits gemäß § 71 Abs. 2 Satz 1 voraussetzt, dass die 10 %-Grenze nicht überschritten wird.12) Für § 71c Abs. 2 bleibt daher nur Raum, wenn es in der Kombination verschiedener Erwerbstatbestände zu einer Überschreitung kommt. Beispiele hierfür sind das mehrmalige Ausnutzen einer Ermächtigung gemäß § 71 Abs. 1 Nr. 8 oder der Hinzuerwerb im Wege der Gesamtrechtsnachfolge (§ 71 Abs. 1 Nr. 5), obwohl bereits eigene Aktien zum Zweck der Schadensabwehr (§ 71 Abs. 1 Nr. 1) gehalten werden. Bei der Berechnung kommt es stets darauf an, worauf sich die 10 %-Grenze gemäß § 71 Abs. 2 Satz 1 überhaupt bezieht (siehe zur Kontroverse in der Literatur § 71 Rz. 47). 2.

Rechtsfolge

8 Innerhalb von drei Jahren zu veräußern ist nur der Teil der Aktien, der für das Überschreiten der 10 %-Grenze ursächlich ist.13) Die Frist beginnt mit dem jeweiligen Erwerb, der zum Überschreiten der Grenze führt, ggf. gestaffelt (streitig).14) Siehe im Übrigen oben Rz. 4. IV.

Einziehung nach Fristablauf (§ 71c Abs. 3)

9 Kommt es innerhalb der Fristen gemäß § 71c Abs. 1 und Abs. 2 nicht zur Weiterveräußerung, sind die Aktien gemäß § 237 einzuziehen (Einzelheiten dort). Der Vorstand hat den entsprechenden Hauptversammlungsbeschluss unverzüglich nach Fristablauf vorzubereiten;15) vgl. die Ordnungswidrigkeit bei Nichtbeachtung gemäß § 405 Abs. 1 Nr. 4c. Kommt es nicht zur Einziehung, bestehen die Veräußerungsgebote nach § 71c Abs. 1 und 2 ebenso wie in der Vorbereitungsphase des Beschlusses fort.16)

_____________ 11) Vgl. OLG Oldenburg, Urt. v. 17.3.1994 – 1 U 46/93, AG 1994, 417, 418; Oechsler in: MünchKommAktG, § 71c Rz. 20; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71c Rz. 9 – Erwerbsrecht der Aktionäre entsprechend dem Bezugsrecht; abweichend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71c Rz. 7. 12) So auch Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71c Rz. 10. 13) Unstreitig, vgl. nur Cahn in: BeckOKG-AktR, § 71c AktG Rz. 13. 14) Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 71c AktG Rz. 5; abweichend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71c Rz. 5 – Fristbeginn erst mit letztem Erwerbstatbestand. 15) Cahn in: BeckOKG-AktR, § 71c AktG Rz. 15. 16) Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71c Rz. 24; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71c Rz. 11; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71c Rz. 8.

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Wolfgang Servatius

§ 71d

Erwerb eigener Aktien durch Dritte

§ 71d Erwerb eigener Aktien durch Dritte Wolfgang Servatius

1

Ein im eigenen Namen, jedoch für Rechnung der Gesellschaft handelnder Dritter darf Aktien der Gesellschaft nur erwerben oder besitzen, soweit dies der Gesellschaft nach § 71 Abs. 1 Nr. 1 bis 5, 7 und 8 und Abs. 2 gestattet wäre. 2Gleiches gilt für den Erwerb oder den Besitz von Aktien der Gesellschaft durch ein abhängiges oder ein im Mehrheitsbesitz der Gesellschaft stehendes Unternehmen sowie für den Erwerb oder den Besitz durch einen Dritten, der im eigenen Namen, jedoch für Rechnung eines abhängigen oder eines im Mehrheitsbesitz der Gesellschaft stehenden Unternehmens handelt. 3Bei der Berechnung des Anteils am Grundkapital nach § 71 Abs. 2 Satz 1 und § 71c Abs. 2 gelten diese Aktien als Aktien der Gesellschaft. 4Im übrigen gelten § 71 Abs. 3 und 4, §§ 71a bis 71c sinngemäß. 5Der Dritte oder das Unternehmen hat der Gesellschaft auf ihr Verlangen das Eigentum an den Aktien zu verschaffen. 6Die Gesellschaft hat den Gegenwert der Aktien zu erstatten. Literatur: Brass/Tiedemann, Die zentrale Gegenpartei beim unzulässigen Erwerb eigener Aktien, ZBB 2007, 257; Cahn, Aktien der herrschenden AG im Fondsvermögen abhängiger Investmentgesellschaften, WM 2001, 1929; Zilias/Lanfermann, Die Neuregelung des Erwerbs und Haltens eigener Aktien, WPg 1980, 61.

Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt ................................ 1 II. Einzubeziehende Dritte .................... 3 1. Treuhandverhältnis, mittelbare Stellvertretung (§ 71d Satz 1) ............ 4 2. Abhängiges oder in Mehrheitsbesitz stehendes Unternehmen (§ 71d Satz 2) ...................................... 5 III. Erweiterung des Erwerbsverbots ................................................ 6 I.

1. Erlaubnistatbestände gemäß § 71 Abs. 1 .......................................... 7 2. Erwerbsgrenzen gemäß § 71 Abs. 2 .......................................... 8 3. Umgehungsschutz nach § 71a ........... 9 IV. Rechtsfolgen des zulässigen Erwerbs ............................................. 10 V. Rechtsfolgen des unzulässigen Erwerbs oder Besitzes ..................... 11 VI. Herausgabeanspruch ....................... 14

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

Die Norm beruht weitgehend auf Art. 61 der Gesellschaftsrechts-Richtlinie1) und schützt 1 das Erwerbsverbot gemäß § 71 vor Umgehungen. Nach § 71d Satz 1 ist der Erwerb eines Dritten, der für Rechnung der AG handelt, nur zulässig, soweit die AG die Aktien selbst erwerben dürfte; für die Inpfandnahme folgt die Gleichstellung aus § 71e Abs. 1 Satz 1. § 71d Satz 2 erweitert dies für Konzernsachverhalte. Nach § 71d Satz 3 werden die nach dem Vorgesagten einbezogenen Aktien Dritter bei den Erwerbsgrenzen gemäß § 71 Abs. 2 Satz 1 und § 71c Abs. 2 mit berücksichtigt. § 71d Satz 4 besagt, dass die Informationspflichten des Vorstands (§ 71 Abs. 3) und die Rechtsfolgen eines unzulässigen Erwerbs (§ 71 Abs. 4) auch bei Aktien der gemäß § 71d Satz 1 und Satz 2 einzubeziehenden Dritten gelten; das Gleiche gilt für das Verbot der finanziellen Unterstützung des Aktienerwerbs (§ 71a), das Ruhen von Rechten und Pflichten aus den betreffenden Aktien (§ 71b) und das Veräußerungsgebot gemäß § 71c. § 71d Satz 5 begründet einen Anspruch der AG, die _____________ 1)

Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (Gesellschaftsrechts-Richtlinie), ABl. (EU) L 169/46 v. 30.6.2017.

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§ 71d

Erwerb eigener Aktien durch Dritte

von den einzubeziehenden Dritten gehaltenen Aktien übertragen zu bekommen; hierfür hat die AG gemäß § 71d Satz 6 den Gegenwert zu erstatten. 2 Die Regelung ist zum einen von § 56 Abs. 2 und 3 abzugrenzen, die die (erstmalige) Aktienübernahme bzw. Zeichnung von Aktien betreffen. Darüber hinaus besteht eine tatbestandliche Nähe zu § 71a Abs. 2. Hiernach ist ein Rechtsgeschäft zwischen der AG und einem Dritten nichtig, wenn hierüber die AG zum Erwerb eigener Aktien berechtigt oder verpflichtet sein soll und ein Verstoß gegen § 71 Abs. 1 oder Abs. 2 vorliegt. Die – nicht leicht nachvollziehbare – Abgrenzung ist im Ausgangspunkt wie folgt: § 71a Abs. 2 erfasst die Fälle eines gemäß § 71 Abs. 1 und 2 unzulässigen Erwerbs, § 71d die Fälle, in denen die AG die Aktien erwerben dürfte.2) Diese Abgrenzung lässt sich jedoch nicht trennscharf durchführen, so dass in jedem Einzelfall beide Normen zu beachten sind.3) II.

Einzubeziehende Dritte

3 § 71d Satz 1 erweitert das Erwerbsverbot auf Dritte, die mit der AG über ein Treuhandverhältnis oder konzernrechtlich verbunden sind. 1.

Treuhandverhältnis, mittelbare Stellvertretung (§ 71d Satz 1)

4 Voraussetzung für die Einbeziehung ist, dass der Dritte aufgrund einer entsprechenden Abrede die Aktien für Rechnung der AG erwirbt oder besitzt. Es kommt somit nicht darauf an, dass die Tatbestandsmerkmale bereits beim Aktienerwerb des Dritten gegeben sind. Der schuldrechtliche Rechtsgrund (Auftrag, Geschäftsbesorgung, Kommission) und die Wirksamkeit der Abrede spielen keine Rolle. Maßgebliches Zurechnungskriterium ist allein, ob der AG aus dem betreffenden Rechtsverhältnis kraft Vereinbarung oder Gesetzes Herausgabe- oder Erstattungsansprüche zustehen und sie damit letztlich das wirtschaftliche Risiko trägt.4) Die Regelung bezweckt Umgehungsschutz, so dass eine weite Auslegung geboten ist. 2.

Abhängiges oder in Mehrheitsbesitz stehendes Unternehmen (§ 71d Satz 2)

5 Ebenso erfasst sind der Erwerb oder das Halten von Aktien durch ein von der AG abhängiges (§ 71d Satz 2 Alt. 1) oder in Mehrheitsbesitz stehendes Unternehmen (§ 71d Satz 2 Alt. 2). Auch hierbei kommt es nicht darauf an, dass die Tatbestandsmerkmale bereits zu Beginn des Aktienerwerbs vorliegen (streitig).5) Der Unternehmensbegriff ist rechtstechnisch ungenau. Einbezogen sind Rechtsträger, auf die die betreffende AG rechtlich oder tatsächlich einen beherrschenden Einfluss ausüben kann (vgl. § 17)6) oder die Mehrheit der Stimmrechte oder Kapitalanteile hält (vgl. § 16).7) Diese Zurechnung wird erweitert, wenn ein Dritter für Rechnung eines dieser Unternehmen die Aktien der AG hält (§ 71d Satz 2 Alt. 3; für die Zurechnung gilt dasselbe wie bei § 71d Satz 1, siehe oben Rz. 4).

_____________ 2) 3) 4) 5) 6) 7)

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Vgl. Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71d Rz. 3 f. Vgl. auch Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71d AktG Rz. 5: Abstimmung ist missglückt. Vgl. K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71d Rz. 2; zur Stellung des zentralen Vertragskontrahenten Brass/Tiedemann, ZBB 2007, 257. Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71d Rz. 27; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71d Rz. 5; abweichend Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71d AktG Rz. 41. Vgl. OLG München, Urt. v. 7.4.1995 – 23 U 6733/94, DStR 1995, 893. Gegen die Erstreckung dieser Erweiterung auf Investmentfonds mit guten Gründen Cahn, WM 2001, 1929; kritisch zur Einbeziehung nach § 16 Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71d AktG Rz. 33.

Wolfgang Servatius

Erwerb eigener Aktien durch Dritte III.

§ 71d

Erweiterung des Erwerbsverbots

Im Grundsatz ordnet § 71d an, dass der Erwerb und Besitz von Aktien der AG durch die 6 nach § 71d Satz 1 und Satz 2 zurechenbaren Dritten nur in dem Umfang zulässig sind, in dem die AG selbst Aktien erwerben dürfte. 1.

Erlaubnistatbestände gemäß § 71 Abs. 1

§ 71d Satz 1 bezieht sich nur auf die Erlaubnistatbestände gemäß § 71 Abs. 1 Nr. 1 – 5, sowie 7 Nr. 7 und 8. Der Aktienerwerb durch die einzubeziehenden Dritten ist daher nur rechtmäßig, wenn die betreffenden Voraussetzungen vorliegen, einschließlich der Prüfung, ob die Innehabung durch die Dritten der Privilegierung nicht entgegensteht. Beim Erwerb zur Schadensabwehr (§ 71 Abs. 1 Nr. 1) kommt es auf den Schaden der AG an, nicht des Dritten.8) Es muss zudem ermittelt werden, warum gerade der Dritte die Aktien erwerben soll, um einen Schaden von der AG abzuwenden. Die Ausgabe von Belegschaftsaktien (§ 71 Abs. 1 Nr. 2) kann jedoch auch damit gerechtfertigt werden, dass diese an eines der in § 71d Satz 2 genannten Konzernunternehmen erfolgen soll; für die Bedienung von Abfindungsansprüchen (§ 71 Abs. 1 Nr. 3) gilt dasselbe.9) Beim Erwerb nach § 71 Abs. 1 Nr. 4 kommt es richtigerweise darauf an, ob der einzubeziehende Dritte die Aktien unentgeltlich erwirbt oder als Kreditinstitut Kommissionsgeschäfte tätigt (streitig).10) Die nach § 71 Abs. 1 Nr. 5 zulässige Gesamtrechtsnachfolge muss beim einzubeziehenden Dritten eintreten.11) Die Ermächtigung zur Einziehung (§ 71 Abs. 1 Nr. 6) wird in § 71d Satz 1 nicht genannt, so dass der Dritte hierfür keinesfalls Aktien erwerben darf. Nach § 71 Abs. 1 Nr. 7 darf jedoch auch ein einzubeziehender Dritter, bei dem die betreffenden Voraussetzungen vorliegen, Aktien im Handelsbestand halten. Die praktisch wichtige Vorstandsermächtigung (§ 71 Abs. 1 Nr. 8) kann sich auch darauf erstrecken, dass ein einzubeziehender Dritter die Aktien erwirbt. 2.

Erwerbsgrenzen gemäß § 71 Abs. 2

Die Erwerbsobergrenze gemäß § 71 Abs. 2 Satz 1 gilt auch für den Erwerb durch einzube- 8 ziehende Dritte. Die von der AG selbst und dem Dritten (vgl. Satz 3) nach Maßgabe von § 71d Satz 1 und 2 gehaltenen Aktien dürfen daher bezogen auf ihren Nennbetrag bzw. rechnerischen Wert 10 % der Grundkapitalziffer der AG nicht übersteigen (Einzelheiten bei § 71 Rz. 47). Darüber hinaus gilt § 71 Abs. 2 Satz 2 entsprechend, so dass der Erwerb und Besitz durch den Dritten nur zulässig sind, soweit die AG (nicht der Dritte!) eine entsprechende auflösungsfähige Rücklage bilden könnte (siehe § 71 Rz. 48); die tatsächliche Rücklagenbildung ist nicht erforderlich.12) Auch das Verbot, bei bestimmten Erwerbstatbeständen keine nicht voll eingezahlten Aktien zu erwerben, gilt für den Dritten (§ 71 Abs. 2 Satz 3; Einzelheiten siehe § 71 Rz. 50). 3.

Umgehungsschutz nach § 71a

Nach § 71d Satz 4 gilt das Verbot der finanziellen Unterstützung des Aktienerwerbs gemäß 9 § 71a Abs. 1 auch beim Erwerb durch Dritte. Dies gilt zum einen für die Fälle, in denen _____________ 8) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71d Rz. 5. 9) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71d Rz. 5. 10) So Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71d Rz. 3; abweichend K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71d Rz. 5. 11) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71d Rz. 5. 12) Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71d Rz. 47; ausführlich zum Erwerb bei mehrstufigen Unternehmensverbindungen – Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71d AktG Rz. 43 ff.

Wolfgang Servatius

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§ 71d

Erwerb eigener Aktien durch Dritte

die AG den Aktienerwerb des einzubeziehenden Dritten finanziert; zum anderen auch, wenn ein einzubeziehender Dritter den Aktienerwerb der AG finanziert (Einzelheiten dort). Zur schwierigen Abgrenzung von § 71a Abs. 2 siehe oben Rz. 2. IV.

Rechtsfolgen des zulässigen Erwerbs

10 Ist der Erwerb nach § 71 Abs. 1 und 2 zulässig, stehen dem einzubeziehenden Dritten gemäß § 71d Satz 4 i. V. m. § 71b keine Rechte und Pflichten an den Aktien zu. Gemäß § 71d Satz 4 i. V. m. § 71 Abs. 3 Satz 1 hat der Vorstand der AG die Hauptversammlung der AG über den Erwerb nach § 71 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 8 zu informieren (siehe § 71 Rz. 54); vgl. für den Jahresabschluss der AG die notwendigen Angaben im Lagebericht gemäß § 160 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2. Wurden Aktien für die Ausgabe von Belegschaftsaktien erworben, sind diese gemäß § 71d Satz 4 i. V. m. § 71 Abs. 3 Satz 2 innerhalb eines Jahres auszugeben; Adressat dieser Pflicht sind richtigerweise wie i. R. von § 71c sowohl die AG wie auch der einzubeziehende Dritte, je nach rechtlicher Einwirkungsmöglichkeit (streitig).13) Nur so wird gewährleistet, dass das Anliegen nicht durch ein „Kompetenzgerangel“ leerläuft. Wird der Erwerb nachträglich unzulässig, folgt eine Veräußerungspflicht aus § 71d Satz 4 i. V. m. § 71c Abs. 2 („erwerben und besitzen“). Siehe auch den Herausgabeanspruch nach § 71d Satz 5 und Satz 6, unten Rz. 14. V.

Rechtsfolgen des unzulässigen Erwerbs oder Besitzes

11 Sind der Erwerb oder Besitz gemäß § 71d Satz 2 i. V. m. § 71 Abs. 1 und 2 unzulässig, hat dies auf die dingliche Berechtigung des Dritten an den Aktien keine Auswirkungen (§ 71 Abs. 4 Satz 1). Dem Dritten stehen jedoch gemäß § 71d Satz 4 i. V. m. § 71b keine Rechte und Pflichten an den Aktien zu. Vgl. für den Jahresabschluss der AG die notwendigen Angaben im Lagebericht gemäß § 160 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2. 12 Im Hinblick auf das dem Aktienerwerb zugrunde liegende schuldrechtliche Rechtsgeschäft ist zu differenzieren (dies ist wegen der komplizierten Rechtslage alles sehr umstritten): Das zwischen AG und Drittem geschlossene schuldrechtliche Geschäft (z. B. Auftrag, Geschäftsbesorgung, Kommission) ist nicht gemäß § 71 Abs. 4 Satz 2 unwirksam (streitig).14) Vielmehr gilt insofern § 56 Abs. 3 Satz 2 entsprechend, so dass der Dritte im Verhältnis zur AG auf eigene Rechnung handelt, mithin insbesondere keinen Aufwendungsersatzanspruch hat (siehe § 56 Rz. 16). Richtigerweise bezieht sich die durch § 71d Satz 4 i. V. m. § 71 Abs. 1 Satz 4 vermittelte Unwirksamkeit daher nur auf das betreffende Erwerbsgeschäft des Dritten.15) Er ist daher ggf. aus §§ 812 ff. BGB verpflichtet, die Aktien Zug um Zug gegen die erhaltene Gegenleistung herauszugeben. Der Herausgabeanspruch der AG nach § 71d Satz 5 und Satz 6 tritt hierhinter zurück.16) Für Ansprüche aus §§ 57, 62 ist in diesen Konstellationen regelmäßig kein Raum.17) 13 Wird der Erwerb nicht rechtzeitig rückgängig gemacht, ergibt sich aus § 71d Satz 4 i. V. m. § 71c Abs. 2 ein Veräußerungsgebot, aus § 71c Abs. 3 die Pflicht zur Zwangseinziehung _____________ 13) Abweichend K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71d Rz. 14 – Adressat ist nur die AG; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 71d Rz. 15 – Adressat ist die Tochtergesellschaft. 14) So auch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71d Rz. 9; abweichend Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 71d AktG Rz. 4; differenzierend, auch die Nichtigkeit dieses Geschäfts bejahend, Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71d AktG Rz. 17 ff. insb. Rz. 20 ff. 15) Vgl. LG Göttingen, Urt. v. 6.1.1992 – 8 O 123/91, WM 1992, 1373. 16) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71d Rz. 17. 17) Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71d Rz. 55; abweichend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71d Rz. 16; K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71d Rz. 17.

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Wolfgang Servatius

§ 71e

Inpfandnahme eigener Aktien

(Einzelheiten jeweils dort).18) Adressat der Veräußerungspflicht sind richtigerweise sowohl die AG wie auch der einzubeziehende Dritte, je nach rechtlicher Einwirkungsmöglichkeit (streitig).19) Nur so wird gewährleistet, dass das Anliegen nicht durch ein „Kompetenzgerangel“ leerläuft. Wird der Erwerb nachträglich unzulässig, folgt eine Veräußerungspflicht aus § 71d Satz 4 i. V. m. § 71c Abs. 2 („erwerben und besitzen“). Vgl. zum Herausgabeanspruch nach § 71d Satz 5 und Satz 6 sogleich. VI.

Herausgabeanspruch

Nach § 71d Satz 5 hat die AG gegen den einzubeziehenden Dritten einen gesetzlichen 14 Anspruch auf Übertragung der eigenen Aktien. Auf die Rechtmäßigkeit des Erwerbs oder Besitzes kommt es nicht an.20) Der Anspruch ist vor allem relevant, wenn der Aktienerwerb zulässig ist und die AG ein Interesse an der Innehabung hat. Zudem kann der Anspruch eingesetzt werden, um beim rechtswidrigen Erwerb der Veräußerungspflicht nach § 71c Abs. 2 nachzukommen. Es handelt sich um einen verhaltenen Anspruch, der ein entsprechendes Verlangen der AG voraussetzt.21) Der Anspruch geht ins Leere, wenn der Veräußerer der Aktien gemäß § 71 Abs. 4 Satz 2 AktG i. V. m. §§ 812 ff. BGB Herausgabe der Aktien verlangen kann.22) Der nach § 71d Satz 6 zu entrichtende Gegenwert der Aktien bemisst sich richtigerweise nach dem aktuellen Wert (streitig).23) _____________ 18) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71d Rz. 17. 19) Wie hier Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71d AktG Rz. 56; abweichend K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71d Rz. 17 – Adressat ist nur die AG; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71d Rz. 15 – Adressat ist die Tochtergesellschaft. 20) Cahn in: BeckOKG-AktR, § 71d AktG Rz. 59. 21) Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71d Rz. 61; ähnlich Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71d Rz. 21 – Gestaltungserklärung. 22) Zilias/Lanfermann, WPg 1980, 61, 67. 23) H. M. vgl. Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71d AktG, Rz. 66; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71d Rz. 22; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71d AktG Rz. 69; abweichend K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71d Rz. 17 – Anschaffungskosten.

§ 71e Inpfandnahme eigener Aktien Wolfgang Servatius

(1) 1Dem Erwerb eigener Aktien nach § 71 Abs. 1 und 2, § 71d steht es gleich, wenn eigene Aktien als Pfand genommen werden. 2Jedoch darf ein Kreditinstitut, ein Finanzdienstleistungsinstitut oder ein Wertpapierinstitut im Rahmen der laufenden Geschäfte eigene Aktien bis zu dem in § 71 Abs. 2 Satz 1 bestimmten Anteil am Grundkapital als Pfand nehmen. 3§ 71a gilt sinngemäß. (2) 1Ein Verstoß gegen Absatz 1 macht die Inpfandnahme eigener Aktien unwirksam, wenn auf sie der Ausgabebetrag noch nicht voll geleistet ist. 2Ein schuldrechtliches Geschäft über die Inpfandnahme eigener Aktien ist nichtig, soweit der Erwerb gegen Absatz 1 verstößt. Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt ......................................... 1 II. Zulässige Inpfandnahme (§ 71e Abs. 1) ...................................... 2

1. Erlaubnistatbestände nach § 71 Abs. 1 .................................................. 3 2. Erwerbsgrenzen nach § 71 Abs. 2 .......................................... 4

Wolfgang Servatius

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§ 71e

Inpfandnahme eigener Aktien

III. Rechtsfolgen der Verpfändung (§ 71e Abs. 2) ..................................... 5 I.

1. Zulässige Inpfandnahme .................... 5 2. Unzulässige Inpfandnahme ............... 6

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

1 Die Regelung beruht auf Art. 66 der Gesellschaftsrechts-Richtlinie1) und stellt in § 71e Abs. 1 Satz 1 die Inpfandnahme eigener Aktien durch die AG oder einzubeziehender Dritter (§ 71d) dem Erwerb gleich, so dass die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen gemäß § 71 Abs. 1 und 2 sinngemäß gelten. § 71e Abs. 1 Satz 2 bestimmt, dass Kreditinstitute abweichend von § 71 Abs. 1 Nr. 7 auch ohne entsprechenden Hauptversammlungsbeschluss eigene Aktien als Pfand nehmen dürfen. Gemäß § 71e Abs. 1 Satz 3 gelten die Umgehungstatbestände des § 71a sinngemäß, was bei der Verpfändung kaum problematisch wird. § 71e Abs. 2 besagt, dass die gegen § 71e Abs. 1 verstoßende Verpfändung nur unwirksam ist, wenn die Aktien nicht voll eingezahlt sind; das schuldrechtliche Kausalgeschäft ist demgegenüber wie gemäß § 71 Abs. 4 Satz 2 in jedem Fall nichtig. Vgl. insoweit auch die Ordnungswidrigkeit gemäß § 405 Abs. 1 Nr. 4a. II.

Zulässige Inpfandnahme (§ 71e Abs. 1)

2 Die Inpfandnahme (Verpfändung gemäß §§ 1205 ff. bzw. §§ 1273 ff. BGB) eigener Aktien durch die AG oder gemäß § 71d Sätze 1 und 2 einzubeziehender Dritter ist unzulässig, soweit kein Erlaubnistatbestand vorliegt. Es spielt keine Rolle, ob es um die erstmalige Begründung des Pfandrechts geht oder den Zweiterwerb.2) Gesetzliche Pfandrechte (vgl. § 397 HGB) und die Pfändung i. R. der Zwangsvollstreckung (§ 804 ZPO) fallen jedoch nicht hierunter und sind daher zulässig.3) 1.

Erlaubnistatbestände nach § 71 Abs. 1

3 § 71e Abs. 1 Satz 1 verweist auf die Erlaubnistatbestände gemäß § 71 Abs. 1 und Abs. 2. Die praktische Relevanz wird allgemein darin gesehen, dass die AG von einem Dritten Aktien als Sicherheit nimmt und damit einem Forderungsausfall vorbeugt, was der Schadensabwehr gemäß § 71 Abs. 1 Nr. 1 dienen kann.4) Dies dürfte wegen der hohen Anforderungen an den hiernach zulässigen Aktienerwerb jedoch nur in extremen Ausnahmefällen in Betracht kommen. Bedeutsam ist die Inpfandnahme daher wohl nur in den Fällen des § 71 Abs. 1 Nr. 8, wo es die Hauptversammlung in der Hand hat, die Erwerbszwecke zu definieren. Ein Beschluss zum Aktienerwerb enthält regelmäßig zugleich die Ermächtigung zur Inpfandnahme. Bei Kreditinstituten und Finanzdienstleistungsinstituten sowie Wertpapierinstituten5) (§ 1 Abs. 1 WpIG) sieht § 71e Abs. 1 Satz 2 als gesetzlichen Regelfall vor, dass i. R. der laufenden Geschäfte eine Inpfandnahme auch ohne den ansonsten gemäß § 71 Abs. 1 Nr. 7 erforderlichen Hauptversammlungsbeschluss zulässig ist. 2.

Erwerbsgrenzen nach § 71 Abs. 2

4 § 71 Abs. 2 ist ebenfalls Zulässigkeitsvoraussetzung. Die AG darf – gemeinsam mit anderen verpfändeten oder erworbenen Aktien – keine Aktien als Pfand nehmen, soweit die 10 %_____________ 1) 2) 3) 4) 5)

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Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (Gesellschaftsrechts-Richtlinie), ABl. (EU) L 169/46 v. 30.6.2017. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71e AktG Rz. 4. Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71e Rz. 6. Vgl. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71e Rz. 3. „Wertpapierinstitute“ hinzugefügt durch Art. 7 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/2034 über die Beaufsichtigung von Wertpapierinstituten v. 12.5.2021, BGBl. I 2021, 990.

Wolfgang Servatius

§ 72

Kraftloserklärung von Aktien im Aufgebotsverfahren

Grenze bezogen auf die Grundkapitalziffer überschritten wird. Die Inpfandnahme ist weiterhin nur zulässig, wenn die AG eine auflösbare Rücklage bilden könnte; hierbei ist im Hinblick auf die Höhe, auf den tatsächlichen Realisierungswert, der dem Pfandrecht zugrunde liegenden Forderung, abzustellen (streitig).6) In der Praxis dürfte dies angesichts der durch die hierbei zu berücksichtigende Verpfändung der Aktien kaum praktikabel sein (Zirkelschluss). Nicht voll eingezahlte Aktien dürfen nur in den Fällen des § 71 Abs. 1 Nr. 1, 2, 4, 7 und 8 verpfändet werden. III.

Rechtsfolgen der Verpfändung (§ 71e Abs. 2)

1.

Zulässige Inpfandnahme

Ist die Verpfändung nach § 71e Abs. 1 zulässig, stehen der AG aus den betreffenden Aktien 5 gemäß § 71b keine Rechte zu. Dies ist insbesondere relevant, wenn der Gewinnanspruch mitverpfändet werden soll;7) § 1298 BGB gilt nicht analog. Die von der AG in Pfand genommenen Aktien sind bei den Erwerbsgrenzen gemäß § 71 Abs. 2 Satz 2 und § 71c Abs. 2 mit zu berücksichtigen.8) Die Berichtspflicht gemäß § 160 Abs. 1 Nr. 2 gilt auch bei der Inpfandnahme; ebenso die Berichtspflicht gemäß § 71 Abs. 3 Satz 1.9) 2.

Unzulässige Inpfandnahme

Erfolgt die Verpfändung unter Verstoß gegen § 71e Abs. 1, ist sie nicht unwirksam; etwas 6 anderes gilt nur, wenn der Ausgabebetrag der Aktien noch nicht voll geleistet wurde (§ 71e Abs. 2 Satz 1). Gemäß § 71e Abs. 2 Satz 2 ist demgegenüber ein schuldrechtliches Geschäft über die Inpfandnahme (Sicherungsabrede) in jedem Fall unwirksam. Dies führt dazu, dass der Verpfänder die Bestellung des Pfandrechts kondizieren, mithin Rückgängigmachung verlangen kann. In entsprechender Anwendung von § 71c Abs. 2 ist die AG verpflichtet, bei nachträglichem Überschreiten der Erwerbsgrenze auf eine Beendigung der Verpfändung hinzuwirken (streitig).10) Die Berichtspflicht gemäß § 160 Abs. 1 Nr. 2 gilt auch bei der Inpfandnahme; ebenso die Berichtspflicht gemäß § 71 Abs. 3 Satz 1.11) _____________ 6) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71e Rz. 5; abweichend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 71e Rz. 4 – Verkehrswert der Aktien, höchstens gesicherte Forderung. Zum Ganzen auch instruktiv Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71e AktG Rz. 13. 7) Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 71e Rz. 23. 8) K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71e Rz. 9. 9) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71e AktG Rz. 16. 10) A. A. die wohl h. M. vgl. K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 71e Rz. 7 a. E.; für eine vorrangige Veräußerung der erworbenen eigenen Aktien auch Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71e AktG Rz. 18. 11) Cahn in: BeckOGK-AktR, § 71e AktG Rz. 16.

§ 72 Kraftloserklärung von Aktien im Aufgebotsverfahren Wolfgang Servatius

(1) 1Ist eine Aktie oder ein Zwischenschein abhanden gekommen oder vernichtet, so kann die Urkunde im Aufgebotsverfahren nach dem Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit für kraftlos erklärt werden. 2§ 799 Abs. 2 und § 800 des Bürgerlichen Gesetzbuchs gelten sinngemäß. (2) Sind Gewinnanteilscheine auf den Inhaber ausgegeben, so erlischt mit der Kraftloserklärung der Aktie oder des Zwischenscheins auch der Anspruch aus den noch nicht fälligen Gewinnanteilscheinen.

Wolfgang Servatius

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§ 72

Kraftloserklärung von Aktien im Aufgebotsverfahren

(3) Die Kraftloserklärung einer Aktie nach §§ 73 oder 226 steht der Kraftloserklärung der Urkunde nach Absatz 1 nicht entgegen. Literatur: König, Das Aufgebotsverfahren nach dem FamFG, RNotZ 2020, 485; Weppner/GroßBölting, Kraftloserklärung nicht eingereichter Aktienurkunden nach Durchführung eines aktienrechtlichen Squeeze out gem. §§ 327a ff. AktG, BB 2012, 2196.

Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt ............................... 1 II. Aufgebotsverfahren (§ 72 Abs. 1) ..... 2 I.

III. Gewinnanteilsscheine (§ 72 Abs. 2) ....................................... 3 IV. Konkurrenzen (§ 72 Abs. 3) ............. 4

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

1 Die Regelung ermöglicht der AG die Kraftloserklärung von Aktienurkunden und Zwischenscheinen mittels Aufgebotsverfahrens. Gemäß § 72 Abs. 1 ist dies möglich, wenn eine Urkunde abhanden gekommen ist; das Verfahren richtet sich nach dem FamFG und orientiert sich an §§ 799 Abs. 2, 800 BGB. Gemäß § 72 Abs. 2 erlöschen mit wirksamer Kraftloserklärung auch die noch nicht fälligen Gewinnanteilsscheine. Die Regelung wird ergänzt durch die Kraftloserklärung von Aktien gemäß § 73 und § 226, welche gemäß § 72 Abs. 3 der Kraftloserklärung der Urkunde nicht entgegensteht. II.

Aufgebotsverfahren (§ 72 Abs. 1)

2 Gegenstand des Aufgebotsverfahrens sind Aktienurkunden und Zwischenscheine (vgl. § 10 Abs. 3). Es kommt bei Inhaber- und Namensaktien in Betracht, insbesondere auch nach einem Squeeze-out.1) Voraussetzung ist, dass diese nicht auffindbar sind oder vernichtet wurden.2) Ist ein Urkundenaustausch gemäß § 74 möglich, geht dieser vor. Das Verfahren richtet sich nach §§ 466 ff. FamFG.3) Es gilt gemäß § 26 FamFG der Amtsermittlungsgrundsatz.4) Die AG ist als Ausstellerin gemäß § 799 Abs. 2 BGB zur Unterstützung des Ausstellers verpflichtet. Gegen die Entscheidung ist die Beschwerde nach § 58 FamFG statthaft.5) Die betreffenden Aktien bzw. Zwischenscheine müssen genau bezeichnet werden.6) Ist der Beschluss bestandskräftig, kann der betreffende Aktionär fortan seine Aktionärsrechte ohne die Vorlage der Urkunde geltend machen.7) Er hat gemäß § 800 BGB einen Anspruch auf Ausstellung einer neuen Urkunde. III.

Gewinnanteilsscheine (§ 72 Abs. 2)

3 Gewinnanteilsscheine fallen nicht unter § 72 Abs. 1; für sie ist die Verlustanzeige gemäß § 804 BGB vorgesehen.8) Gemäß § 72 Abs. 2 erlischt jedoch bei den Gewinnanteilsscheinen mit der Kraftloserklärung gemäß § 72 Abs. 1 auch der Anspruch auf den noch nicht fälligen Gewinn. Für fällige Gewinnanteilsscheine ist das Aufgebotsverfahren nach § 72 Abs. 1 bedeutungslos.9) _____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9)

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Hierzu Weppner/Groß-Bölting, BB 2012, 2196. OLG Stuttgart, Urt. v. 28.4.1955 – 3 U 3/54, NJW 1955, 1154, 1155. Einzelheiten bei Cahn in: BeckOGK-AktR, § 72 AktG Rz. 7 ff.; König, RNotZ 2020, 485. OLG München, Beschl. v. 5.1.2012 – 34 Wx 369/11, ZIP 2012, 1717 = NZG 2012, 181. OLG München, Beschl. v. 5.1.2012 – 34 Wx 369/11, ZIP 2012, 1717 = NZG 2012, 181. OLG München, Beschl. v. 5.1.2012 – 34 Wx 369/11, ZIP 2012, 1717 = NZG 2012, 181. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 72 AktG Rz. 13. Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 72 AktG Rz. 2. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 72 Rz. 6.

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§ 73

Kraftloserklärung von Aktien durch die Gesellschaft IV.

Konkurrenzen (§ 72 Abs. 3)

Die Aufgebotsverfahren gemäß § 73 und § 226 bleiben auch nach Kraftloserklärung ge- 4 mäß § 72 Abs. 1 noch möglich.

§ 73 Kraftloserklärung von Aktien durch die Gesellschaft Wolfgang Servatius

(1) 1Ist der Inhalt von Aktienurkunden durch eine Veränderung der rechtlichen Verhältnisse unrichtig geworden, so kann die Gesellschaft die Aktien, die trotz Aufforderung nicht zur Berichtigung oder zum Umtausch bei ihr eingereicht sind, mit Genehmigung des Gerichts für kraftlos erklären. 2Beruht die Unrichtigkeit auf einer Änderung des Nennbetrags der Aktien, so können sie nur dann für kraftlos erklärt werden, wenn der Nennbetrag zur Herabsetzung des Grundkapitals herabgesetzt ist. 3 Namensaktien können nicht deshalb für kraftlos erklärt werden, weil die Bezeichnung des Aktionärs unrichtig geworden ist. 4Gegen die Entscheidung des Gerichts ist die Beschwerde zulässig; eine Anfechtung der Entscheidung, durch die die Genehmigung erteilt wird, ist ausgeschlossen. (2) 1Die Aufforderung, die Aktien einzureichen, hat die Kraftloserklärung anzudrohen und auf die Genehmigung des Gerichts hinzuweisen. 2Die Kraftloserklärung kann nur erfolgen, wenn die Aufforderung in der in § 64 Abs. 2 für die Nachfrist vorgeschriebenen Weise bekanntgemacht worden ist. 3Die Kraftloserklärung geschieht durch Bekanntmachung in den Gesellschaftsblättern. 4In der Bekanntmachung sind die für kraftlos erklärten Aktien so zu bezeichnen, daß sich aus der Bekanntmachung ohne weiteres ergibt, ob eine Aktie für kraftlos erklärt ist. (3) 1An Stelle der für kraftlos erklärten Aktien sind, vorbehaltlich einer Satzungsregelung nach § 10 Abs. 5, neue Aktien auszugeben und dem Berechtigten auszuhändigen oder, wenn ein Recht zur Hinterlegung besteht, zu hinterlegen. 2Die Aushändigung oder Hinterlegung ist dem Gericht anzuzeigen. (4) Soweit zur Herabsetzung des Grundkapitals Aktien zusammengelegt werden, gilt § 226. Literatur: Heider, Einführung der nennwertlosen Aktie in Deutschland anläßlich der Umstellung des Gesellschaftsrechts auf den Euro, AG 1998, 1; Ihrig/Streit, Aktiengesellschaft und Euro, NZG 1998, 201; Seibert, Die Umstellung des Gesellschaftsrechts auf den Euro – Die Gesetzentwürfe der Bundesregierung, ZGR 1998, 1.

Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt ................................ 1 II. Kraftloserklärung (§ 73 Abs. 1, Abs. 2) ................................................. 2 I.

III. Anspruch auf neue Urkunden (§ 73 Abs. 3) ....................................... 4

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

Die Norm ermöglicht in § 73 Abs. 1 die Kraftloserklärung von Aktien, wenn deren Inhalt 1 unrichtig geworden ist. Sie ist abzugrenzen von der Kraftloserklärung wegen Verlust oder Zerstörung der Aktienurkunde gemäß § 72. Nach § 73 Abs. 2 müssen die Aktionäre zur Einreichung ihrer Aktien aufgefordert werden. § 73 Abs. 3 räumt den Aktionären einen Anspruch auf Ausstellung neuer Urkunden ein. Gemäß § 73 Abs. 4 hat das Verfahren nach § 226 bei der Herabsetzung des Grundkapitals Vorrang.

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§ 74 II.

Neue Urkunden an Stelle beschädigter oder verunstalteter Aktien Kraftloserklärung (§ 73 Abs. 1, Abs. 2)

2 Die Einleitung des Verfahrens obliegt dem Vorstand.1) Es kommt gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 nur in Betracht, wenn der Inhalt der Urkunden infolge einer Veränderung der rechtlichen Verhältnisse unrichtig geworden ist.2) Auf anfänglich unrichtige Urkunden ist die Regelung entsprechend anwendbar (streitig).3) Bezieht sich die Unrichtigkeit auf den Nennbetrag der Aktien, kann eine Kraftloserklärung gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 nur im Zuge der Kapitalherabsetzung durch Denomination gemäß §§ 222 Abs. 4 Satz 1, 229 Abs. 3 erfolgen. 3 Gemäß § 73 Abs. 2 Satz 1 und 2 müssen die betreffenden Aktionäre vor der Kraftloserklärung vergeblich zum Umtausch der Aktien aufgefordert worden sein. Die Kraftloserklärung erfolgt gemäß § 73 Abs. 2 Satz 3 und 4 durch Bekanntmachung im Bundesanzeiger (§ 25); sie ist gerichtlich zu genehmigen.4) Zuständig ist das Registergericht am Satzungssitz (§ 14).5) Es prüft die formalen und materiellen Voraussetzungen von § 73 Abs. 1 und Abs. 2. Mit Kraftloserklärung verlieren die betreffenden Urkunden ihre Eigenschaft als ein die Mitgliedschaft verbriefendes Wertpapier.6) Die Mitgliedschaft als solches bleibt hiervon unberührt.7) III.

Anspruch auf neue Urkunden (§ 73 Abs. 3)

4 Die betreffenden Aktionäre haben gemäß § 73 Abs. 3 einen Anspruch auf Aushändigung bzw. Hinterlegung neuer richtiger Aktienurkunden. Die Aushändigung ist dem Gericht von der AG anzuzeigen. _____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7)

Heider, AG 1998, 1, 6. Einzelheiten bei Ihrig/Streit, NZG 1998, 201, 204; Seibert, ZGR 1998, 1, 18. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 73 AktG Rz. 6, 8; abw. Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 73 Rz. 6. Einzelheiten bei Cahn in: BeckOGK-AktR, § 73 AktG Rz. 15 ff. Cahn in: BeckOGK-AktR, § 73 AktG Rz. 15. K. Schmidt/Lutter-Bezzenberger, AktG, § 73 Rz. 7. BGH, Urt. v. 25.9.1989 – II ZR 53/89, ZIP 1989, 1546 = NJW-RR 1989, 166.

§ 74 Neue Urkunden an Stelle beschädigter oder verunstalteter Aktien oder Zwischenscheine Wolfgang Servatius

1

Ist eine Aktie oder ein Zwischenschein so beschädigt oder verunstaltet, daß die Urkunde zum Umlauf nicht mehr geeignet ist, so kann der Berechtigte, wenn der wesentliche Inhalt und die Unterscheidungsmerkmale der Urkunde noch sicher zu erkennen sind, von der Gesellschaft die Erteilung einer neuen Urkunde gegen Aushändigung der alten verlangen. 2Die Kosten hat er zu tragen und vorzuschießen. Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt ........................................ 1 I.

II. Umtauschverfahren .......................... 2

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

1 Die Norm regelt zwingend das Umtauschverfahren für beschädigte oder verunstaltete Aktien oder Zwischenscheine. Es hat Vorrang gegenüber dem Aufgebotsverfahren nach § 72. Für Coupons und Talons gilt allein § 798 BGB.

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§ 75

Neue Gewinnanteilscheine II.

Umtauschverfahren

Ist eine Aktie oder ein Zwischenschein (vgl. § 10 Abs. 3) so beschädigt oder verunstal- 2 tet, dass sie zur Legitimation des Aktionärs nicht mehr geeignet ist, hat dieser gegen die AG einen Anspruch auf Ausstellung einer neuen Urkunde. Voraussetzung ist jedoch, dass der Inhalt der Urkunde noch sicher zu erkennen ist; ist dies nicht der Fall, kommt nur ein Aufgebotsverfahren gemäß § 72 in Betracht. Der Anspruch ist Zug um Zug gegen Aushändigung der alten Urkunde zu erfüllen. Die AG hat die alte Urkunde zu vernichten. Die Kosten für die Ausstellung der neuen Urkunde hat gemäß § 74 Satz 2 der Aktionär zu tragen und hierfür Vorschuss zu leisten. Verzichtet die AG auf diese Kostenerstattung, liegt hierin eine verbotene Auszahlung i. S. von § 57 Abs. 1.1) _____________ 1)

Henssler/Strohn-Lange, GesR, § 74 AktG Rz. 4; Cahn in: BeckOGK-AktR, § 74 AktG Rz. 8.

§ 75 Neue Gewinnanteilscheine Wolfgang Servatius

Neue Gewinnanteilscheine dürfen an den Inhaber des Erneuerungsscheins nicht ausgegeben werden, wenn der Besitzer der Aktie oder des Zwischenscheins der Ausgabe widerspricht; sie sind dem Besitzer der Aktie oder des Zwischenscheins auszuhändigen, wenn er die Haupturkunde vorlegt. Übersicht I. Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt ......................................... 1 II. Ausgabe von Gewinnanteilsscheinen (§ 75 Halbs. 1) .................... 2 I.

III. Herausgabeanspruch (§ 75 Halbs. 2) ............................................. 3

Bedeutung der Norm, Regelungsgehalt

Die Regelung knüpft die Ausgabe neuer Gewinnanteilsscheine an die Zustimmung des 1 betreffenden Aktieninhabers oder Inhabers des Zwischenscheins (vgl. § 10 Abs. 3). Darüber hinaus begründet sie einen Herausgabeanspruch des Aktionärs und Inhabers eines Zwischenscheins gegen die AG im Hinblick auf die hierauf bezogenen Gewinnanteilsscheine. Die Norm entspricht § 805 BGB. II.

Ausgabe von Gewinnanteilsscheinen (§ 75 Halbs. 1)

Der Besitzer eines Erneuerungsscheins für Gewinnanteilsscheine (Talon) muss grundsätzlich 2 nur diesen vorlegen, um neue Gewinnanteilsscheine (Coupons) von der AG zu bekommen.1) Geht der AG jedoch zuvor vom betreffenden Aktionär oder Inhaber des Zwischenscheins ein Widerspruch zu, muss die Ausgabe unterbleiben. Verstößt die AG hiergegen, macht sie sich gegenüber dem Aktionär bzw. Inhaber des Zwischenscheins schadensersatzpflichtig.

_____________ 1)

RG, Urt. v. 9.11.1910 – I 151/10, RGZ 74, 339 – Talon als Legitimationspapier.

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§ 75 III.

Neue Gewinnanteilscheine Herausgabeanspruch (§ 75 Halbs. 2)

3 Die Gewinnanteilsscheine sind gemäß § 75 Halbs. 2 zwingend dem Besitzer der Aktie oder des Zwischenscheins auszuhändigen, wenn diese dies unter Vorlage der betreffenden Haupturkunde verlangen. Die Haupturkunde hat damit einen Vorrang gegenüber dem Gewinnanteilsschein. Wurden sie bereits zuvor an den Inhaber des Gewinnanteilsscheins ausgegeben, gibt es zivilrechtliche Ausgleichsansprüche. Die AG ist nach Maßgabe von § 75 Halbs. 1 befreit.

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Vierter Teil Verfassung der Aktiengesellschaft Erster Abschnitt Vorstand § 76 Leitung der Aktiengesellschaft Simon Link

(1) Der Vorstand hat unter eigener Verantwortung die Gesellschaft zu leiten. (2) 1Der Vorstand kann aus einer oder mehreren Personen bestehen. 2Bei Gesellschaften mit einem Grundkapital von mehr als drei Millionen Euro hat er aus mindestens zwei Personen zu bestehen, es sei denn, die Satzung bestimmt, daß er aus einer Person besteht. 3Die Vorschriften über die Bestellung eines Arbeitsdirektors bleiben unberührt. (3) 1Mitglied des Vorstands kann nur eine natürliche, unbeschränkt geschäftsfähige Person sein. 2Mitglied des Vorstands kann nicht sein, wer 1. als Betreuter bei der Besorgung seiner Vermögensangelegenheiten ganz oder teilweise einem Einwilligungsvorbehalt (§ 1903 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) unterliegt, ) 2. aufgrund eines gerichtlichen Urteils oder einer vollziehbaren Entscheidung einer Verwaltungsbehörde einen Beruf, einen Berufszweig, ein Gewerbe oder einen Gewerbezweig nicht ausüben darf, sofern der Unternehmensgegenstand ganz oder teilweise mit dem Gegenstand des Verbots übereinstimmt, 3. wegen einer oder mehrerer vorsätzlich begangener Straftaten a) des Unterlassens der Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens (Insolvenzverschleppung), b) nach den §§ 283 bis 283d des Strafgesetzbuchs (Insolvenzstraftaten), c) der falschen Angaben nach § 399 dieses Gesetzes oder § 82 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, d) der unrichtigen Darstellung nach § 400 dieses Gesetzes, § 331 des Handelsgesetzbuchs, § 313 des Umwandlungsgesetzes oder § 17 des Publizitätsgesetzes, e) nach den §§ 263 bis 264a oder den §§ 265b bis 266a des Strafgesetzbuchs zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist; dieser Ausschluss gilt für die Dauer von fünf Jahren seit der Rechtskraft des Urteils, wobei die Zeit nicht eingerechnet wird, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist.

_____________

)

§ 76 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 geändert durch Art. 15 Nr. 22 des Gesetzes zur Reform des Vormundschaftsund Betreuungsrechts v. 4.5.2021, BGBl. I 2021, 882; gemäß Art. 16 Abs. 1 findet die Änderung ab dem 1.1.2023 Anwendung. Satz 1 in der geänderten Fassung lautet: „1. als Betreuter bei der Besorgung seiner Vermögensangelegenheiten ganz oder teilweise einem Einwilligungsvorbehalt (§ 1825 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) unterliegt“.

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§ 76

Leitung der Aktiengesellschaft

3

Satz 2 Nr. 3 gilt entsprechend bei einer Verurteilung im Ausland wegen einer Tat, die mit den in Satz 2 Nr. 3 genannten Taten vergleichbar ist.

)

(3a) 1Besteht der Vorstand bei börsennotierten Gesellschaften, für die das Mitbestimmungsgesetz, das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 801-2, veröffentlichten bereinigten Fassung – Montan-Mitbestimmungsgesetz – oder das Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 801-3, veröffentlichten bereinigten Fassung – Mitbestimmungsergänzungsgesetz – gilt, aus mehr als drei Personen, so muss mindestens eine Frau und mindestens ein Mann Mitglied des Vorstands sein. 2Eine Bestellung eines Vorstandsmitglieds unter Verstoß gegen dieses Beteiligungsgebot ist nichtig. (4) 1Der Vorstand von Gesellschaften, die börsennotiert sind oder der Mitbestimmung unterliegen, legt für den Frauenanteil in den beiden Führungsebenen unterhalb des Vorstands Zielgrößen fest. 2Die Zielgrößen müssen den angestrebten Frauenanteil an der jeweiligen Führungsebene beschreiben und bei Angaben in Prozent vollen Personenzahlen entsprechen. 3Legt der Vorstand für den Frauenanteil auf einer der Führungsebenen die Zielgröße Null fest, so hat er diesen Beschluss klar und verständlich zu begründen. 4Die Begründung muss ausführlich die Erwägungen darlegen, die der Entscheidung zugrunde liegen. 5Liegt der Frauenanteil bei Festlegung der Zielgrößen unter 30 Prozent, so dürfen die Zielgrößen den jeweils erreichten Anteil nicht mehr unterschreiten. 6Gleichzeitig sind Fristen zur Erreichung der Zielgrößen festzulegen. 7 Die Fristen dürfen jeweils nicht länger als fünf Jahre sein. Literatur: Aschenbeck, Personenidentität bei Vorständen in Konzerngesellschaften (Doppelmandat im Vorstand), NZG 2000, 1015; Austmann, Integration der Zielgesellschaft nach Übernahme, ZGR 2009, 277; Bachner, Die Matrixorganisation in der Betriebsverfassung, NZA 2019, 134; Bauer/Herzberg, Arbeitsrechtliche Probleme in Konzernen mit Matrixstrukturen, NZA 2011, 713; Bork, Materiell-rechtliche und prozeßrechtliche Probleme des Organstreits zwischen Vorstand und Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft, ZGR 1989, 1; Bungert/Wansleben, Vertragliche Verpflichtung einer Aktiengesellschaft zur Nichtdurchführung von Kapitalerhöhungen; ZIP 2013, 1841; Diekmann/Fleischmann, Umgang mit Interessenkonflikten in Aufsichtsrat und Vorstand der Aktiengesellschaft, AG 2013, 141; Dreher, Personelle Verflechtungen zwischen den Leitungsorganen von (Versicherungs-)Unternehmen nach Gesellschafts-, Konzern- und Versicherungsaufsichtsrecht, in: Festschrift für Egon Lorenz, 1994, S. 175; Erdmann, Ausländische Staatsangehörige in Geschäftsführungen und Vorständen deutscher GmbHs und AGs, NZG 2002, 503; Fleischer, Corporate Purpose: Ein Management-Konzept und seine gesellschaftsrechtlichen Implikationen, ZIP 2021, 5; Fleischer, Gestaltungsgrenzen für Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats nach § 111 Abs. 4 S. 2 AktG, BB 2013, 835; Fleischer, Corporate Compliance im aktienrechtlichen Unternehmensverbund, CCZ 2008, 1; Fleischer, Zur Leitungsaufgabe des Vorstands im Aktienrecht, ZIP 2003, 1; Fonk, Zustimmungsvorbehalte des AG- Aufsichtsrats, ZGR 2006, 841; Froesch, Managerhaftung – Risikominimierung durch Delegation?, DB 2009, 722; Fromholzer/Simons, Die Festlegung von Zielgrößen für den Frauenanteil in Aufsichtsrat, Ge_____________

) § 76 Abs. 3 Satz 3neu eingefügt durch Art. 18 Nr. 2 des Gesetzes zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) v. 5.7.2021, BGBl. I 2021, 3338; gemäß § 26m Abs. 1 EGAktG findet die Änderung ab dem 1.8.2022 Anwendung. Satz 3neu lautet: „3Satz 2 Nummer 2 gilt entsprechend, wenn die Person in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum einem vergleichbaren Verbot unterliegt.“ Der bisherige Satz 3 wird zu Satz 4.

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§ 76

Leitung der Aktiengesellschaft

schäftsleitung und Führungspositionen, AG 2015, 457; Geßler, Bedeutung und Auslegung des § 23 Abs. 5 AktG, in: Festschrift für Martin Luther, 1976, S. 69; Götz, Gesamtverantwortung des Vorstands bei vorschriftswidriger Unterbesetzung, ZIP 2002, 1745; Götz, Leitungssorgfalt und Leitungskontrolle der Aktiengesellschaft hinsichtlich abhängiger Unternehmen, ZGR 1998, 524; Grunewald, Der Einfluss des Aufsichtsrats auf die Geschäftsführung – was ist erwünscht, was ist erlaubt?, ZIP 2016, 2009; Habersack/Kersten, Chancengleiche Teilhabe an Führungspositionen in der Privatwirtschaft – Gesellschaftsrechtliche Dimensionen und verfassungsrechtliche Anforderungen, BB 2014, 2819; Häsemeyer, Der interne Rechtsschutz zwischen Organen, Organmitgliedern und Mitgliedern der Kapitalgesellschaft als Probleme der Prozeßführungsbefugnis, ZHR 144 (1980) 265; Henze, Leitungsverantwortung des Vorstands – Überwachungspflicht des Aufsichtsrats, BB 2000, 209; Heßeler, Der „Ausländer als Geschäftsführer“ – das Ende der Diskussion durch das MoMiG?!, GmbHR 2009, 759; Hoffmann-Becking, VorstandsDoppelmandate im Konzern, ZHR 150 (1986) 570; Hohenstatt/Willemsen/Naber, Zum geplanten Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe an Führungspositionen. Gut gemeint – aber auch gut gemacht?, ZIP 2014, 2220; Hommelhoff, Satzungsmäßige Eignungsvoraussetzungen für Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft, BB 1977, 322; Kiem, Investorenvereinbarung im Lichte des Aktien- und Übernahmerechts, AG 2009, 301; Kort, Vorstandshandeln im Spannungsverhältnis zwischen Unternehmensinteresse und Aktionärsinteressen, AG 2012, 605; Kort, Gemeinwohlbelange beim Vorstandshandeln, NZG 2012, 926; Kort, Interessenkonflikte bei Organmitgliedern der AG, ZIP 2008, 717; Kremer, Kooperation des Unternehmens mit der Staatsanwaltschaft im Compliance Bereich, in: Festschrift für Uwe H. Schneider, 2012, S. 701; Kremer/ Klahold, Compliance-Programme in Industriekonzernen, ZGR 2010, 113; Kuntz, Leitungsverantwortung des Vorstands und Delegation, AG 2020, 801; Leydecker/Bahlinger, Frauenquoten im Gesellschaftsrecht. Eine Kritik am Entwurf eines zweiten Gesetzes zur Teilhabe von Frauen an Führungspositionen (FüPoG II), NZG 2020, 1212; Leyendecker-Langner, Rechte und Pflichten des Vorstands bei Kompetenzüberschreitungen des Aufsichtsratsvorsitzenden, NZG 2012, 721; Lieder, Virtuelle Hauptversammlungen im Jahre 2021 und danach, ZIP 2021, 161; Lutter, Zur Vorbereitung und Durchführung von Grundlagenbeschlüssen in Aktiengesellschaften, in: Festschrift für Hans-Joachim Fleck, 1988, S. 169; Maidl/Kreifels, Beteiligungsverträge und ergänzende Vereinbarungen, NZG 2003, 1091; Martens, Die Organisation des Konzernvorstands, in: Festschrift für Theodor Heinsius, 1991, S. 523; Mense/Klie, Die Quote kommt – aber wie? Konturen der geplanten Neuregelungen zur Frauenquote, GWR 2015, 1; Merath, Auswirkungen des geplanten FüPoG II auf Aktiengesellschaften, GWR 2021, 69; Müller-Michaels/Ringel, Muss sich Ethik lohnen?, AG 2011, 101; Noack, Haftungsfragen bei Vorstandsdoppelmandaten im Konzern, in: Festschrift für Michael Hoffmann-Becking, 2013, S. 847; Olbrich/Krois, Das Verhältnis von „Frauenquote“ und AGG, NZA 2015, 1288; Petersen/Schulze de la Cruz, Das Stimmverbot nach § 136 I AktG bei der Entlastung von Vorstandsdoppelmandatsträgern, NZG 2012, 453; Priester, Vertragliche Beschränkungen der Leitungsmacht des Vorstands, AG 2021, 15; Priester, Aufstellung und Feststellung des Jahresabschlusses bei unterbesetztem Vorstand, in: Festschrift für Bruno Kropff, 1997, S. 591; Redenius-Hövermann, Zur Frauenquote im Vorstand, ZIP 2021, 1365; Reichert, Business Combination Agreements, Fallgruppen und Problemkreise, ZGR 2015, 1; Röder/Arnold, Zielvorgaben zur Förderung des Frauenanteils in Führungspositionen, NZA 2015, 1281; Säcker/Rehm, Grenzen der Mitwirkung des Aufsichtsrats an unternehmerischen Entscheidungen in der Aktiengesellschaft, DB 2008, 2814; Schiessl, Gesellschafts- und mitbestimmungsrechtliche Probleme der Spartenorganisation (Divisionalisierung), ZGR 1992, 64; Schulz/Block, Wirksames Compliance-Management – Anreize und Orientierungshilfen zur Vermeidung von (Verbands-)Sanktionen, CCZ 2020, 49; Schulz/Kuhnke, Insider-Compliance-Richtlinien als Baustein eines umfassenden Compliance-Konzeptes, BB 2012, 143; Schulz/Renz, Der erfolgreiche Compliance-Beauftragte – Leitlinien eines branchenübergreifenden Berufsbildes, BB 2012, 2511; Schulz/Ruf, Zweifelsfragen der neuen Regelungen über die Geschlechterquote im Aufsichtsrat und die Zielgrößen für die Frauenbeteiligung, BB 2015, 1155; Seibt, Frauen in Leitungsorganen und Führungspositionen – RegE zum Zweiten Führungspositionen-Gesetz, DB 2021, 438; Seibt, Geschlechterquote im Aufsichtsrat und Zielgrößen für die Frauenbeteiligung in

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§ 76

Leitung der Aktiengesellschaft

Organen und Führungsebenen in der Privatwirtschaft, ZIP 2015, 1193; Seibt, Dekonstruktion des Delegationsverbots bei der Unternehmensleitung, in: Festschrift für Karsten Schmidt, 2009, S. 1463; Seibt/Cziupka, 20 Thesen zur Compliance-Verantwortung im System der Organhaftung aus Anlass des Siemens/Neubürger-Urteils, DB 2014, 1598; Seibt/Wollenschläger, TrennungsMatrixstrukturen im Konzern, AG 2013, 229; Semler, Doppelmandats-Verbund im Konzern – Sachgerechte Organisationsform oder rechtlich unzulässige Verflechtung?, in: Festschrift für Ernst C. Stiefel, 1987, S. 719; Semler, Die Unternehmensplanung in der Aktiengesellschaft, ZGR 1983, 1; Spindler, Die Einführung der Geschlechterquote auf Vorstandsebene – das FüPoG II, WM 2021, 817; Steiner, Die Mindestbeteiligung von Frauen in deutschen Vorständen im Spannungsfeld zwischen Gesellschaftspolitik und Gesellschaftsrecht, NZG 2021, 276; Teichmann/Rüb, Die gesetzliche Geschlechterquote in der Privatwirtschaft, BB 2015, 898; Thüsing/Fütterer, Führungsebene im Sinne des § 76 IV AktG, NZG 2015, 778; Wachter, Bestellung eines Nicht-EU-Ausländers zum GmbH-Geschäftsführer setzt nicht die jederzeitige Einreisemöglichkeit voraus, BB 2010, 268; Wagner/Ruttloff, Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz – Eine erste Einordnung, NJW 2021, 2145; Walden, Corporate Social Responsibility: Rechte, Pflichten und Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat, NZG 2020, 50; Wasmann/Rothenburg, Praktische Tipps zum Umgang mit der Frauenquote, DB 2015, 291; Weiß, Vorstandsdoppelmandate im faktischen Konzern: Voraussetzungen, Interessenkonflikte, Anstellungsvertrag und Haftung, CB 2014, 97; Westermann, Gesellschaftliche Verantwortung des Unternehmens als Gesellschaftsrechtsproblem, ZIP 1990, 771; Weyland, Rechtsirrtum und Delegation durch den Vorstand, NZG 2019, 1041; Wilsing/ Ogorek, Kündigung des Geschäftsführer-Anstellungsvertrags wegen unterlassener Konzernkontrolle, NZG 2010, 216; Wisskirchen/Dannhorn/Bissels, Haftung von Geschäftsführern in Matrixstrukturen von Konzernen, DB 2008, 1139; Witschen, Matrixorganisation und Betriebsverfassung, RdA 2016, 38.

Übersicht I. Regelungsgegenstand und Regelungszweck ................................ 1 II. Grundlagen ....................................... 2 1. Überblick über die Verfassung der AG ................................................ 2 2. Vorstand als notwendiges Organ ...... 3 III. Vorstand als Leitungsorgan (§ 76 Abs. 1) ....................................... 4 1. Leitungsaufgabe als Teil der Geschäftsführungsaufgabe ................ 4 2. Bestimmung des Leitungsbegriffs .... 5 3. Rechtliche Bedeutung der Leitungsaufgabe ............................... 10 a) Eigenverantwortliche Leitung .... 11 aa) Verhältnis zur Hauptversammlung .............................. 12 bb) Verhältnis zum Aufsichtsrat ..... 15 b) Delegation im Bereich von Leitungsaufgaben ............... 18 c) Eingehen von rechtlichen Verpflichtungen hinsichtlich der Unternehmensleitung ............... 26 4. Anforderungen an die Erfüllung der Leitungsaufgabe ......................... 34 a) Unternehmensinteresse ............ 35

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aa) Meinungsbild .............................. 35 bb) Stellungnahme ............................ 39 b) Rechtmäßigkeit .......................... 49 5. Konzernrechtliche Fragen ............... 55 a) Vorstand einer herrschenden AG ............................................... 55 b) Vorstand einer abhängigen/ eingegliederten AG .................... 57 c) Vorstandsdoppelmandate .......... 60 IV. Zahl der Vorstandsmitglieder (§ 76 Abs. 2) ..................................... 62 1. Anforderungen von Gesetz und Satzung ...................................... 62 2. Arbeitsdirektor ................................. 63 3. Rechtsfolgen einer verbotswidrigen Besetzung .......................... 64 V. Persönliche Eignungsvoraussetzungen und Bestellungshindernisse (§ 76 Abs. 3) ............................ 65 1. Anforderungen laut Gesetz und Satzung ...................................... 65 2. Rechtsfolgen bei Fehlen oder Wegfall der Eignungsvoraussetzungen ............................................... 68 3. Bestellungshindernisse ..................... 70

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Leitung der Aktiengesellschaft VI. Mindestbeteiligungsgebot (§ 76 Abs. 3a) .................................... 74 1. Überblick und zeitliche Geltung ..... 74 2. Anwendungsbereich ......................... 76 3. Wirkung ............................................ 79 VII. Verpflichtung zur Festlegung von Zielgrößen für den Frauenanteil in Führungsebenen (§ 76 Abs. 4) ..................................... 85 I.

1. Regelungsgegenstand und Regelungszweck ............................... 2. Pflicht zur Festlegung von Zielgrößen und Fristen ........................... a) Betroffene Gesellschaften und Führungsebenen ................. b) Zielgrößen und Fristen .............. c) Berichts- und Veröffentlichungspflichten ........................ 3. Rechtsfolgen bei Verstößen ............

85 86 86 88 96 98

Regelungsgegenstand und Regelungszweck

Die §§ 76 – 78 bilden zusammen die zentralen Regelungen zu Stellung, Aufgaben, Befug- 1 nissen und Binnenorganisation des Vorstands. Dabei werden wesentliche Grundlagen, wie die Aufgabe und Befugnis zur Geschäftsführung sowie die Unabhängigkeit eher vorausgesetzt oder angedeutet, denn ausdrücklich geregelt. § 76 Abs. 1 greift aus der Geschäftsführungsaufgabe die Leitungsfunktion heraus und weist diese dem Vorstand zu. Gleichzeitig regelt die Vorschrift die Unabhängigkeit des Vorstands. § 76 Abs. 2 bestimmt die zahlenmäßige Zusammensetzung des Vorstands. § 76 Abs. 3 normiert persönliche Eignungsvoraussetzungen und Bestellungshindernisse für Vorstandsmitglieder. § 76 Abs. 4 wurde durch das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen1) neu eingefügt und verpflichtet den Vorstand, Zielgrößen für den Frauenanteil in den beiden obersten Führungsebenen unterhalb des Vorstands festzulegen. Durch das Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst vom 7.8.2021 (FüPoG II)2) wurde außerdem § 76 Abs. 3a eingefügt, durch den erstmals auch für den Vorstand ein zwingendes Mindestbeteiligungsgebot gilt. II.

Grundlagen

1.

Überblick über die Verfassung der AG

Der Vorstand ist neben Aufsichtsrat und Hauptversammlung eines der drei Organe der AG. 2 Die Hauptversammlung beschließt über wesentliche, gesetzlich vorgegebene Gesellschaftsangelegenheiten und wählt die Aufsichtsratsmitglieder, die ihrerseits die Mitglieder des Vorstands bestellen und überwachen (dualistische Verwaltung der Gesellschaft). Abgesehen von diesen Bestellungs- und Überwachungskompetenzen sind Vorstand und Aufsichtsrat in der AG mit einem großen Maß an Unabhängigkeit ausgestattet. Insbesondere hat die Hauptversammlung kein Weisungsrecht gegenüber Vorstand oder Aufsichtsrat und auch der Aufsichtsrat hat kein Weisungsrecht gegenüber dem Vorstand (siehe unten Rz. 15). Diese Unabhängigkeit der Organe, die nicht satzungsdispositiv ist, macht die AG (zusammen mit dem strengen Kapitalschutz und dem Aktienkonzernrecht) zu einer Gesellschaftsform, die wenig geeignet ist für Konstellationen, in denen die Gesellschafter weitgehenden Einfluss auf die Geschäftsführung nehmen wollen, etwa bei Konzerngesellschaften oder auch in bestimmten Fällen von Joint Ventures. Es ist (anders als bei der SE) nicht möglich, für eine AG durch Satzungsgestaltung ein einheitliches Board vorzusehen, dem _____________ 1)

2)

Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (FüPoG) v. 24.4.2015, BGBl. I 2015, 642 (geändert durch Art. 11 Abs. 1 des Gesetzes v. 11.4.2017, BGBl. I 2017, 802). Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (Zweites Führungspositionengesetz – FüPoG II) v. 7.8.2021, BGBl. I 2021, 3311.

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sowohl Geschäftsführungs- als auch Überwachungsaufgaben zukommen, wie es in anderen Rechtsordnungen, insbesondere im angloamerikanischen Rechtskreis üblich ist. 2.

Vorstand als notwendiges Organ

3 Die AG muss zwingend ein einziges Organ Vorstand haben, das auch so bezeichnet sein muss.3) Bei der Gründung muss der Vorstand auch ordnungsgemäß besetzt sein, sonst ist die Eintragung gemäß § 38 Abs. 1 Satz 2 abzulehnen.4) Hingegen berührt das spätere Wegfallen sämtlicher Vorstandsmitglieder den Bestand der AG nicht. III.

Vorstand als Leitungsorgan (§ 76 Abs. 1)

1.

Leitungsaufgabe als Teil der Geschäftsführungsaufgabe

4 Der Vorstand ist zuständig für Leitung und Geschäftsführung der AG. Während die Geschäftsführung sehr weit gefasst wird als jede tatsächliche oder rechtliche Tätigkeit für die Gesellschaft,5) bildet die Leitung einen herausgehobenen Teilbereich hieraus,6) für den besondere Regelungen gelten. 2.

Bestimmung des Leitungsbegriffs

5 § 76 Abs. 1 selbst trifft dabei keine ausdrückliche Regelung über den Inhalt der Leitungsaufgabe. Der Leitungsbegriff lässt sich jedoch anhand einzelner gesetzlicher Anordnungen konkretisieren.7) Die Leitungsaufgabe umfasst zunächst Aufgaben, die Organisation und Verwaltung der AG selbst betreffen,8) wie etwa die Pflicht zur Führung eines Aktienregisters. Obwohl im Wortlaut nicht erwähnt, gehören zur Leitungsaufgabe daneben Aufgaben mit Bezug zu dem von der Gesellschaft getragenen Unternehmen entsprechend dem satzungsmäßigen Unternehmensgegenstand.9) 6 Leitungsaufgaben sind zunächst alle Aufgaben, die das Gesetz dem Vorstand als Kollegialorgan zuweist.10) Entsprechende Regelungen finden sich in den §§ 67,11) 83, 90, 91, 92, 110 Abs. 1, 118 Abs. 2, 119 Abs. 2, 121 Abs. 2,12) 124 Abs. 3 Satz 1, 161, 170, 245 Nr. 4 AktG, § 15a Abs. 1 InsO, § 27 Abs. 1 Satz 1 WpÜG.13) Diesen gesetzlich angeordneten Aufgaben ist gemein, dass sie der Funktionsfähigkeit von Gesellschaft und Unternehmen dienen, im öffentlichen Interesse aufgegeben sind oder vornehmlich Gläubigerinteressen sichern.14) _____________ 3) 4) 5) 6)

7) 8) 9) 10)

11) 12) 13) 14)

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Hölters-Weber, AktG, § 76 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 76 Rz. 3. Spindler in: MünchKomm-AktG, § 76 Rz. 7; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 76 Rz. 6. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 77 AktG Rz. 3. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 14; Henze, BB 2000, 209, 210; Kort in: GroßKommAktG, § 76 Rz. 29; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 76 Rz. 17; Semler, Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, Rz. 6; Priester, AG 2021, 15, 16. Fleischer, ZIP 2003, 1, 5 f.; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 1 Rz. 6, 31; K. Schmidt/ Lutter-Seibt, AktG, § 76 Rz. 9; Wettich, Vorstandsorganisation in der Aktiengesellschaft, 2008, S. 50 ff. Hölters-Weber, AktG, § 76 Rz. 10. Henze, BB 2000, 209; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 1 Rz. 5; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 76 Rz. 6. BGH, Urt. v. 12.11.2001 – II ZR 225/99 (Sachsenmilch III), BGHZ 149, 158, 160 = ZIP 2002, 172, dazu EWiR 2002, 885 (Saenger/Bergjan); Henze, BB 2000, 209, 210; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 9; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 76 Rz. 9. OLG München, Urt. v. 4.5.2005 – 23 U 5121/04, ZIP 2005, 1070, dazu EWiR 2005, 525 (Bayer/Lieder). Umfasst auch die Kompetenz zur Rücknahme einer Einberufung zur Hauptversammlung: BGH, Urt. v. 30.6.2015 – II ZR 142/14, BGHZ 206, 143 = ZIP 2015, 2069, dazu EWiR 2015, 661 (Bayer/Scholz). Vgl. Schiessl, ZGR 1992, 64, 67 f. Fleischer, ZIP 2003, 1, 6; Henze, BB 2000, 209, 210.

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Darüber hinaus ist die Leitungsaufgabe dergestalt von der übrigen Geschäftsführung abzu- 7 grenzen, dass sie alle mit der unternehmerischen Führungsfunktion verbundenen Aufgaben umfasst.15) Zur Präzisierung kann auf Erkenntnisse der Betriebswirtschaftslehre zurückgegriffen werden.16) Demnach sind Teil der Leitungsaufgabe insbesondere die Unternehmensplanung (Zielsetzung, sowie mittel- und langfristige Festlegung der Unternehmenspolitik), Unternehmenskoordinierung oder -strukturierung (Organisation und Koordination der mit Führungsaufgaben ausgestatteten Teilbereiche des Unternehmens und Festlegung der Leitlinien der Markt-, Produkt-, Finanz-, Investitions-, und Personalpolitik), Unternehmenskontrolle (laufende und nachträgliche Kontrolle von Durchführung und Erfolg delegierter Geschäftsführungsaufgaben) einschließlich der Überwachung der Geschäfts- und Ergebnisentwicklung und die Besetzung der oberen Führungsposten.17) Allgemein sind Entscheidungen dann Teil der Leitungsaufgabe, wenn sie für die langfris- 8 tige Entwicklung des Unternehmens und dessen Vermögens-, Finanz- und Ertragslage von erheblicher Bedeutung sind.18) Die Bestimmung des Leitungsbegriffs wird damit maßgeblich von der Größe, Struktur und Komplexität der AG beeinflusst. Je kleiner das Unternehmen ist, desto eher gehören auch Einzelfragen zur Leitungsaufgabe.19) Teil der Leitungsaufgabe ist es auch, das Unternehmen so auszurichten und zu organisie- 9 ren, dass die bei der unternehmerischen Tätigkeit anzuwendenden Gesetze eingehalten und rechtliche Pflichten erfüllt werden (Compliance).20) Dies ergibt sich bereits daraus, dass der Vorstand bei der Ausführung der sonstigen Leitungsaufgaben an Recht und Gesetz gebunden ist. Eine normierte Ausprägung findet dieser Grundsatz in § 130 OWiG i. V. m. § 9 Abs. 1 Nr. 1 OWiG. Entscheidend ist allerdings die Frage, welche Anforderungen an die Unternehmensorganisation sich daraus genau ergeben (siehe unten Rz. 10 ff.). 3.

Rechtliche Bedeutung der Leitungsaufgabe

Die Leitung der Gesellschaft ist dem Vorstand durch § 76 Abs. 1 ausdrücklich und ex- 10 klusiv (vgl. § 111 Abs. 4 Satz 1, § 119 Abs. 2) als Kompetenz, Aufgabe und Verantwortung zugewiesen.21) a)

Eigenverantwortliche Leitung

Von Bedeutung ist zunächst, dass der Vorstand die Leitungsfunktion in eigener Verant- 11 wortung ausübt.22) Insbesondere gilt im Bereich der Leitungsfunktionen die Weisungsfreiheit des Vorstands (siehe hierzu bereits oben Rz. 2).23) Allerdings ist diese Eigenverantwortlich_____________ 15) Fleischer, ZIP 2003, 1, 3; Hölters-Weber, AktG, § 76 Rz. 8. 16) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 9; Kort in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 36, 38; Hölters-Weber, AktG, § 76 Rz. 10. 17) Henze, BB 2000, 209, 210; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 9; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 76 Rz. 5; Semler, ZGR 1983, 1, 12 ff.; Semler, Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, Rz. 11 ff.; abweichend: Fleischer, ZIP 2003, 1, 6, mit einer Unterteilung in Planungs- und Steuerungsverantwortung, Organisationsverantwortung, Finanzverantwortung, Informationsverantwortung. 18) Hierzu Hölters-Weber, AktG, § 76 Rz. 11. 19) Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 16 Rz. 421; Wettich, Vorstandsorganisation in der Aktiengesellschaft, 2008, S. 62 ff. 20) Hölters-Weber, AktG, § 76 Rz. 28. 21) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 4, 7; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 76 Rz. 42; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 76 Rz. 14. 22) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 63 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 25 ff.; K. Schmidt/ Lutter-Seibt, AktG, § 76 Rz. 34. 23) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 25; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 76 Rz. 44; K. Schmidt/ Lutter-Seibt, AktG, § 76 Rz. 34.

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keit nicht frei von Schranken und insbesondere gegenüber der Hauptversammlung und dem Aufsichtsrat abzugrenzen: aa)

Verhältnis zur Hauptversammlung

12 Die Hauptversammlung legt in der Satzung den Gegenstand des von der Gesellschaft getragenen Unternehmens fest. Dadurch begrenzt sie das Leitungsermessen des Vorstands bei dessen Ausgestaltung und Führung (siehe oben § 23 Rz. 39 ff.). Es dürfen jedoch keine konkreten Vorgaben für die Leitung des Unternehmens gemacht werden.24) 13 Weiterhin kommt der Hauptversammlung die Kompetenz zu, die Verfassung der AG in der Satzung zu regeln und damit den Handlungsspielraum des Vorstands zu begrenzen. Er kann daher keine Maßnahmen ergreifen, die die Grenzen dieser Gesellschaftsverfassung überschreiten oder verändern würden. Dies betrifft etwa die Ausgabe neuer Aktien (§§ 182 ff.), den Rückkauf von Aktien (§§ 71 ff.) und Maßnahmen nach dem UmwG.25) Darüber hinaus kommt der Hauptversammlung nach der sog. Holzmüller-Rechtsprechung eine ungeschriebene Mitwirkungskompetenz zu, „wenn eine von dem Vorstand in Aussicht genommene Umstrukturierung der Gesellschaft an die Kernkompetenz der Hauptversammlung, über die Verfassung der Aktiengesellschaft zu bestimmen, rührt, weil sie Veränderungen nach sich zieht, die denjenigen zumindest nahe kommen, welche allein durch eine Satzungsänderung herbeigeführt werden können.“26) Eine weitere Ausdehnung der ungeschriebenen Hauptversammlungskompetenz auf Maßnahmen unterhalb der Schwelle einer wesentlichen Beeinträchtigung der Mitwirkungsbefugnisse der Aktionäre hat das BVerfG allerdings zu Recht abgelehnt.27) 14 Der Vorstand ist schließlich gemäß § 83 verpflichtet, auf Verlangen der Hauptversammlung Maßnahmen, die in die Zuständigkeit der Hauptversammlung fallen, vorzubereiten und i. R. ihrer Zuständigkeit beschlossene Maßnahmen auszuführen (siehe unten § 83 Rz. 1 ff.). Dies betrifft aber nur den eng umgrenzten Zuständigkeitsbereich der Hauptversammlung und resultiert nicht in einer zusätzlichen Einschränkung der Leitungsmacht des Vorstands.28) Der Vorstand selbst hat nach § 119 Abs. 2 die Möglichkeit, Fragen der Geschäftsführung der Hauptversammlung zur Entscheidung vorzulegen. Daraufhin ergangene Hauptversammlungsbeschlüsse binden den Vorstand (siehe unten § 119 Rz. 7 ff.). Besonderheiten für die Einflussrechte von Aktionären gelten im Falle der Beherrschung der Gesellschaft, insbesondere bei Bestehen eines Beherrschungsvertrags oder einer Eingliederung (siehe unten §§ 291 ff.). bb)

Verhältnis zum Aufsichtsrat

15 Der Aufsichtsrat berät und überwacht den Vorstand bei der Leitung der Gesellschaft und ihres Unternehmens (§ 111 Abs. 1). Maßnahmen der Geschäftsführung können ihm aber gemäß § 111 Abs. 4 Satz 1 nicht übertragen werden. Während die Überwachungsfunktion des Aufsichtsrats traditionell retrospektiv ausgeübt wurde, wird die moderne Aufsichtsratsarbeit mittlerweile als zukunftsorientierte, begleitende Beratung praktiziert.29) Das wesent_____________ 24) OLG Stuttgart, Urt. v. 22.7.2006 – 8 W 271/06, OLGR Stuttgart 2006, 878 = ZIP 2007, 231, dazu EWiR 2007, 257 (Freitag); Spindler in: MünchKomm-AktG, § 76 Rz. 26. 25) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 76 Rz. 21. 26) BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 (Gelatine I), BGHZ 159, 30 = ZIP 2004, 993, dazu EWiR 2004, 573 (Just). S. hierzu näher § 119 Rz. 18 ff. 27) BVerfG, Beschl. v. 7.9.2011 – 1 BvR 1460/10, ZIP 2011, 2094, dazu EWiR 2012, 3 (Nietsch). 28) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 27; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 76 Rz. 39. 29) Vgl. Grunewald, ZIP 2016, 2009 ff.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 29 Rz. 18; Lutter/ Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 3 Rz. 103 ff.

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liche Überwachungsmittel des Aufsichtsrats besteht in seiner Kompetenz, neben den vom Vorstand eigenständig zu erstattenden Berichten (§ 90 Abs. 1, 2) zusätzliche Informationen und Berichte anzufordern (§ 90 Abs. 3), selbst Prüfungen vorzunehmen (§ 111 Abs. 2) sowie Maßnahmen der Geschäftsführung von der vorherigen Zustimmung des Aufsichtsrats abhängig zu machen (§ 111 Abs. 4). Letzteres stellt den gravierendsten Eingriff in die Leitungsautonomie des Vorstands dar. Allerdings gewährt der Zustimmungsvorbehalt stets nur ein Vetorecht – die Initiative für zustimmungspflichtige Maßnahmen bleibt beim Vorstand, so dass der Aufsichtsrat ihn nicht zum Tätigwerden veranlassen kann.30) Dabei ist anerkannt, dass der Aufsichtsrat auch im Bereich der Leitungsfunktion (und 16 nicht etwa nur der sonstigen Geschäftsführung) Zustimmungsvorbehalte festlegen darf, also etwa Maßnahmen der Unternehmensplanung (einschließlich des jährlichen Budgets) oder der Unternehmensorganisation (einschließlich der Geschäftsverteilung unter den Vorstandsmitgliedern) von seiner Zustimmung abhängig machen kann.31) Die Zustimmungsvorbehalte müssen aber einzelne Maßnahmen von wesentlicher Bedeutung betreffen und dürfen nicht so weit ausgedehnt werden, dass die Leitungsautonomie und -verantwortung des Vorstands ausgehöhlt wird und er (auch nur in einzelnen Bereichen) nicht mehr eigenständig und selbstverantwortlich tätig werden kann. Insbesondere wäre es unzulässig, alle wichtigen Geschäfte generell für zustimmungspflichtig zu erklären oder den Zustimmungskatalog so zu gestalten, dass er den Großteil der Vorstandsentscheidungen erfassen würde.32) Keinesfalls darf der Aufsichtsrat über Zustimmungsvorbehalte das Tagesgeschäft an sich ziehen.33) Überdehnt der Aufsichtsrat seine Kompetenzen zulasten des Vorstands, steht es in 17 dessen Ermessen, das sich aus wesentlichen Gründen des Unternehmensinteresses sogar zu einer Handlungspflicht verdichten kann, gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen.34) b)

Delegation im Bereich von Leitungsaufgaben

Eine wesentliche Besonderheit der Leitungsaufgabe des Vorstands besteht darin, dass der 18 Delegation sowohl auf einzelne Vorstandsmitglieder als auch auf unternehmensinterne wie -externe Dritte Grenzen gesetzt sind. Zunächst ist die Leitungsaufgabe als solche, d. h. insgesamt nicht delegierbar. Auch bei 19 den einzelnen Komponenten der Leitungsaufgabe verbleibt die Verantwortung für Entscheidungen stets beim Gesamtvorstand.35) Dieser muss also über die wesentlichen Fragen der Unternehmensplanung, -koordinierung, -strukturierung, -kontrolle und -überwachung selbst entscheiden.36) In der Literatur wurde jüngst ein Gegenkonzept, das sich für eine generelle Zulässigkeit der Delegation und sogar eine Pflicht zur Delegation ausspricht, _____________ 30) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 27; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 112; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 76 Rz. 22. 31) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 118 ff.; Hölters-Weber, AktG, § 76 Rz. 36. 32) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 65; Fonk, ZGR 2006, 841, 846; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 118; Säcker/Rehm, DB 2008, 2814, 2816; Hölters-Weber, AktG, § 76 Rz. 36. 33) Fleischer, BB 2013, 835 ff.; Kort in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 32; Begr. RegE in: Kropff, AktG, S. 96. 34) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 65; Fleischer BB 2013, 835, 843; Bork, ZGR 1989, 1, 19; Leyendecker-Langner, NZG 2012, 721, 723 ff.; a. A.: Häsemeyer, ZHR 144 (1980) 265, 271; Mertens/ Cahn in: KölnKomm-AktG, Vorb. § 76 Rz. 4 f. 35) Kort in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 34, 49. 36) Kort in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 49, 49a, 50; Mertens/Cahn in KölnKomm-AktG, § 76 Rz. 45; Schiessl, ZGR 1992, 64, 68; Hölters-Weber, AktG, § 76 Rz. 10.

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vorgelegt.37) Maßstab der Rechtmäßigkeit der Delegation seien demnach stets die beiden Aspekte der Reversibilität und der Kontrollierbarkeit der Delegation durch den Vorstand.38) Dieses Konzept ist abzulehnen, da es die organschaftlich exponierte Stellung des Vorstandes, dem gerade wesentliche Kernaufgaben zukommen sollen und die prägend für die Trennung von Leitung und Teilhaberschaft ist, verkennt. 20 Er kann diese Entscheidungen weder auf einzelne Vorstandsmitglieder i. R. der Geschäftsverteilung noch vertikal an Mitarbeiter der Gesellschaft oder an externe Dritte (Outsourcing) übertragen. 21 Der Kreis dieser dem Gesamtvorstand vorbehaltenen Aufgaben hängt auch von der Bedeutung der jeweiligen Entscheidung im Verhältnis zur Größe der Organisation und des Unternehmens ab, so dass nur diejenigen Entscheidungen, die in diesem Kontext von grundlegender Bedeutung sind, zwingend dem Gesamtvorstand vorbehalten sind.39) Dabei ist unklar, ob diese Abgrenzung bereits i. R. der Definition der Leitungsaufgabe erfolgt und alle weniger wichtigen Entscheidungen schon nicht zur Unternehmensleitung gehören40) (siehe oben Rz. 5 ff.), oder ob es innerhalb der Leitungsaufgabe nochmals delegierbare und nicht delegierbare Entscheidungen gibt.41) Da die erste Ansicht eine zumindest etwas trennschärfere Abgrenzung ermöglicht, ist sie vorzugswürdig. 22 Die Vorbereitung und Durchführung von Leitungsaufgaben kann hingegen auf einzelne Vorstandsmitglieder delegiert werden, insbesondere soweit die beauftragten Vorstandsmitglieder die Entscheidungen des Vorstandskollegiums letzten Endes tatsächlich vorbereiten und ausführen.42) Ebenso kann sich der Vorstand der Mitarbeiter des Unternehmens bedienen. In Frage kommen insbesondere Stabsabteilungen der Unternehmensleitung, wie z. B. strategische Planung sowie leitende Mitarbeiter bestimmter Funktionen (etwa Controlling, HR). Der Vorstand muss die eingesetzten Personen sorgfältig auswählen, instruieren und überwachen, um seiner Verantwortung für die Erfüllung der Leitungsaufgaben gerecht zu werden.43) 23 Möglich ist es auch, dass sich der Vorstand für unterstützende Aufgaben unternehmensexterner Dritter bedient.44) Der Unterschied zur unternehmensinternen Delegation besteht darin, dass Personen tätig werden, die nicht den arbeitsrechtlichen Pflichten gegenüber dem Unternehmen und dem Direktionsrecht des Vorstands unterliegen. Deshalb muss das Rechtsverhältnis mit den Dritten so ausgestaltet werden, dass der Vorstand stets Herr der Leitungsaufgabe bleibt und seiner Entscheidungsverantwortung gerecht werden kann.45) Der Vorstand muss also alle wesentlichen Informationen erhalten und seine Rechtsposition muss so ausgestaltet sein, dass er die Aufgaben stets wieder vollständig in das Unternehmen zurückholen kann.46) Es versteht sich, dass der Vorstand auch sonst die ein_____________ 37) 38) 39) 40) 41) 42) 43) 44) 45) 46)

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Kuntz, AG 2020, 801, 809 ff. Kuntz, AG 2020, 801, 811. Zu den Kriterien s. Henze, BB 2000, 209, 210; Hölters-Weber, AktG, § 76 Rz. 11. So die h. M. Kort in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 49b; kritisch, aber im Wesentlichen ebenso Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 9; Überblick bei Spindler in: MünchKomm-AktG, § 76 Rz. 18. So Froesch, DB 2009, 722; Seibt in: FS K. Schmidt, S. 1463, 1464, 1476 ff.; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 76 Rz. 9. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 70 f.; Hölters-Weber, AktG, § 76 Rz. 8. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 72; Fleischer, ZIP 2003, 1, 9; Kort in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 49 ff. Fleischer, ZIP 2003, 1, 11; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 76 Rz. 45; Hölters-Weber, AktG, § 76 Rz. 12; Kuntz, AG 29020, 801, 810. Vgl. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 76 Rz. 45. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 76 Rz. 45.

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gesetzten Dritten sorgfältig auswählen, instruieren und überwachen sowie darauf achten muss, dass er i. R. der externen Unterstützung allen Vorstandspflichten gerecht wird.47) Insbesondere muss er, z. B. durch vertragliche Geheimhaltungsregelungen, für eine vertrauliche Behandlung der Informationen sorgen, die die Dritten bei ihrer Arbeit erlangen (§ 93 Abs. 1 Satz 3). Besonders eingeschränkt ist die Delegationsmöglichkeit i. R. der sog. organschaftlichen 24 Funktionen,48) also der Aufgaben, die gesetzlich ausdrücklich dem Gesamtvorstand übertragen sind, wie die Berichtspflichten gegenüber Aufsichtsrat (§ 90) und Hauptversammlung (§ 176), die Rechnungslegung (§ 170 Abs. 1) einschließlich der Erklärung zur Unternehmensführung (§ 161), sowie bestimmte, die Gesellschaft betreffende Tätigkeiten wie die Einberufung der Hauptversammlung (§ 121 Abs. 2 Satz 1), Beschlussvorschläge an die Hauptversammlung (§ 124 Abs. 3 Satz 1) einschließlich des Vorschlags für die Verwendung des Bilanzgewinns (§ 170 Abs. 2), die Anfechtung von Hauptversammlungsbeschlüssen (§ 245 Nr. 4) und die Stellung eines Insolvenzantrags (§ 15a InsO).49) Grundsätzlich kann sich der Vorstand auch i. R. der organschaftlichen Funktionen bei der 25 Vorbereitung und Durchführung interner und externer Dritter bedienen.50) In der Regel ist es aber erforderlich, dass der Gesamtvorstand über die jeweilige Maßnahme oder das maßgebliche Dokument (also etwa die Einladung zur Hauptversammlung, den Jahresabschluss etc.) selbst Beschluss fasst. In bestimmten Fällen bedarf es darüber hinaus der Unterzeichnung des relevanten Dokuments durch den Vorstand, ggf. in vertretungsberechtigter Zahl oder durch alle Vorstandsmitglieder (z. B. beim Jahresabschluss, § 245 HGB). c)

Eingehen von rechtlichen Verpflichtungen hinsichtlich der Unternehmensleitung

Im Bereich der Leitungsaufgaben kann der Vorstand sich nicht wie sonst Bindungen ge- 26 genüber unternehmensexternen Dritten und insbesondere gegenüber aktuellen oder künftigen Aktionären unterwerfen. Allerdings sind sowohl die Begründung dieser Einschränkung als auch ihre Reichweite unklar. Früher wurde teilweise auf Basis des Postulats der Unveräußerlichkeit der Leitungsmacht 27 ein allgemeines Verbot rechtsgeschäftlicher Vorabbindung des Vorstands angenommen, das auch (weiterhin) in der Literatur vertreten51) oder erwähnt wird.52) Insbesondere nimmt die Rechtsprechung teilweise ein solches Verbot an.53) Allerdings können solche Bindungen im Bereich der Leitungsaufgabe in konkreten Fällen durchaus im Interesse der Gesellschaft liegen. Außerdem sind derart pauschale Postulate geeignet, das eigentliche Problem eher zu überdecken. Dieses besteht nämlich in der Abgrenzung des Bereichs, in dem tatsächlich eine rechtsgeschäftliche Bindung verhindert werden muss.54) Nicht geeignet für eine Differenzierung zwischen zulässigen und unzulässigen Verpflich- 28 tungen erscheint zunächst das Kriterium, ob eine Vereinbarung mit Gesellschaftern oder _____________ 47) Näher zur Delegation an externe Berater Weyland, NZG 2019, 1041 ff. 48) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 77 Rz. 64. 49) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 9; Kort in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 35; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 77 Rz. 24; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 77 Rz. 64. 50) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 77 Rz. 24; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 77 Rz. 64. 51) Lutter in: FS Fleck, S. 169, 184. 52) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 76; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 27, 41. 53) LG München I, Urt. v. 5.4.2012 – 5 HK O 20488/11, NZG 2012, 1152, 1153 f. = ZIP 2012, 2445, dazu EWiR 2013, 193 (Goslar); bestätigt durch OLG München, Beschl. v. 14.11.2012 – 7 AktG 2/12, AG 2013, 173, 176 = ZIP 2012, 2439, dazu EWiR 2013, 37 (Goslar). 54) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 76 Rz. 50.

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mit Nichtgesellschaftern getroffen werden soll.55) Gleiches gilt für eine Differenzierung danach, ob der Vorstand Bindungen auch für spätere Vorstände, die ggf. mit anderen Organwaltern besetzt sind, eingeht. Zu solchen Verpflichtungen kommt es auch im sonstigen geschäftlichen Verkehr ständig – und ob eine Bindung die Amtsdauer des derzeitigen Vorstands überdauert, ist letztlich eine Frage des Zufalls. 29 Zustimmung verdient vor diesem Hintergrund die Auffassung, nach der ein Selbstbindungsverbot des Vorstands nur in eng begrenzten Fällen besteht und im Übrigen die Eingehung unangemessener Selbstbindungen als Pflichtverletzung des Vorstands nach § 93 Abs. 1 zu behandeln ist.56) 30 Ein Verbot der Selbstbindung mit der Folge einer etwaigen Unwirksamkeit des entsprechenden Rechtsgeschäfts (siehe unten Rz. 31) kommt nach hier vertretener Auffassung nur in folgenden Fällen in Betracht: –

Die eingegangene Verpflichtung darf nicht dazu führen, dass die Leitung der Gesellschaft in einem Umfang dem Einfluss eines Dritten unterstellt wird, wie es bei einem Unternehmensvertrag nach den §§ 291 f. der Fall wäre. Solche Vereinbarungen können nur nach den Regelungen der §§ 293 ff. abgeschlossen werden.57) Diese Schwelle ist aber nicht bereits erreicht, wenn der Einfluss nur für einen konkreten Sachverhalt oder einen bestimmten, überschaubaren Zeitraum (etwa die Dauer der Abwicklung einer öffentlichen Übernahme) gewährt wird und konkrete Maßnahmen betrifft, die mit dem Sachverhalt in Zusammenhang stehen. Danach stellt etwa eine Vereinbarung, nach der sich der Vorstand in einer Übernahmesituation für einen bestimmten Zeitraum verpflichtet, keine Maßnahmen vorzunehmen, die die Zahl der ausgegebenen Aktien oder die Höhe des ausgegebenen Grundkapitals verändern, noch keine unzulässige Entäußerung der Leitungsmacht dar.58) Eine solche liegt nur vor, wenn in vergleichbarer Weise wie bei Abschluss eines Unternehmensvertrags die Leitungsstruktur der Gesellschaft verändert wird.59)



Weiterhin darf die eingegangene Verpflichtung nicht in die Kompetenzen anderer Organe eingreifen. So darf der Vorstand keine Verpflichtungen zu Maßnahmen eingehen, die in der Kompetenz des Aufsichtsrats oder der Hauptversammlung liegen.60) Eine Pflicht, die Zahl der ausgegebenen Aktien nicht zu verändern, darf daher dann nicht gelten, wenn die Hauptversammlung eine Kapitalerhöhung beschließt. Keinen solchen Fall stellt es allerdings dar, wenn der Vorstand die Verpflichtung eingeht, Maßnahmen vorzunehmen, die nach § 111 Abs. 4 Satz 2 der Zustimmung des Aufsichtsrats bedürfen, oder solche Maßnahmen durchführt. Derartige Rechtsgeschäfte unterliegen dem Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats. Wird dieser missachtet, richten sich die Rechtsfolgen nach den allgemeinen Regeln, die eine Unwirksamkeit des Geschäfts nur in Ausnahmefällen vorsehen (siehe unten § 111 Rz. 19 ff.).

_____________ 55) A. A. Korth in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 151. 56) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 41a; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 76 Rz. 49 ff.; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 76. 57) OLG Schleswig, Beschl. v. 27.8.2008 – 2 W 160/05, ZIP 2009, 124 = AG 2009, 374; OLG München, Beschl. v. 24.6.2008 – 31 Wx 83/07, OLGR München 2008, 681 = ZIP 2008, 1330, dazu EWiR 2008, 481 (Goslar); Kort in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 201; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 76 Rz. 54; Kiefner, ZHR 2014, 547, 576 ff.; Kuntz, AG 2016, 101, 104. 58) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 85. 59) Kort in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 200; s. Reichert, ZGR 2015, 1, 10 ff. – zum BCA. 60) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 41a; zu Investorenvereinbarungen s. Kiem, AG 2009, 301, 306 f., und Maidl/Kreifels, NZG 2003, 1091.

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§ 76

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Der Vorstand darf auch keine Bindungen eingehen, die dazu führen, dass er gezwungen wäre, gegen rechtliche Pflichten zu verstoßen, bei denen ihm kein unternehmerisches Ermessen zukommt (siehe unten Rz. 49 ff.). Der Vorstand kann sich also etwa nicht dazu verpflichten, die Stellung eines Insolvenzantrags im Falle der Zahlungsunfähigkeit zu unterlassen. Allein der Umstand, dass das Verhalten, zu dem sich der Vorstand verpflichtet hat, zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr das Verhalten sein könnte, das der Vorstand ohne die Verpflichtung im Unternehmensinteresse wählen würde, verhindert hingegen nicht die Selbstbindung. Denn dass es dazu kommen kann, ist dem Eingehen jeglicher Verpflichtung immanent und auch im sonstigen geschäftlichen Verkehr häufig der Fall. Daher kann dieser Umstand auch nicht dazu führen, dass der Vorstand im Bereich der Leitungsaufgaben keine Bindungen eingehen kann.



Schließlich darf der Vorstand in den Bereichen keine Bindungen eingehen, in denen Regelungen des AktG oder sonstige Vorschriften dies ausdrücklich untersagen61) oder die Auslegung der Vorschrift zu diesem Ergebnis führt. Ein Beispiel hierfür ist § 187.62)

Sind die vorstehend genannten Grenzen verletzt, so ist genau zu prüfen, ob das Eingehen 31 der entsprechenden Verpflichtung unzulässig und wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot nichtig ist.63) Außerhalb dieser Grenzen ist die Verpflichtung hingegen grundsätzlich wirksam und es ist nur zu prüfen, ob der Vorstand seine Pflichten schuldhaft verletzt hat und er daher nach § 93 Abs. 2 zum Schadenersatz verpflichtet ist.64) In Sonderfällen kann aufgrund eines Missbrauchs der Vertretungsmacht auch die eingegangene Verpflichtung unwirksam sein. Ein Instrument, mit dem der Vorstand verhindern kann, durch eine übermäßige vertragli- 32 che Vorabbindung seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft zu verletzen, stellt das sog. Fiduciary-out dar.65) Zu diesem Zweck wird in den Vertrag als „Ausweg“ die Abrede aufgenommen, dass die Bindung der Gesellschaft dann nicht gilt, wenn das eigentlich gebotene Verhalten für den Vorstand nach § 93 pflichtwidrig wäre.66) Geht ein Vorstandsmitglied persönlich Verpflichtungen gegenüber Dritten im Hinblick 33 auf seine Amtsführung ein, so bindet diese Verpflichtung nicht die AG selbst. Die Vereinbarung hat dann auch keinen Einfluss auf die Pflichten des Vorstandsmitglieds gegenüber der Gesellschaft. Vielmehr schuldet das Vorstandsmitglied weiterhin die Geschäftsführung mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters (§ 93).67) Steht dem die Drittvereinbarung entgegen, unterliegt das Vorstandsmitglied einer Pflichtenkollision, so dass es u. U. seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft oder dem Dritten verletzt und entsprechenden Schadenersatzansprüchen ausgesetzt ist. Der entstehende Interessenkonflikt kann dazu führen, dass das Vorstandsmitglied sein Amt niederlegen muss oder ein Grund für eine außerordentliche Abberufung vorliegt (siehe zur ähnlich gelagerte Problematik von Vorstandsdoppelmandaten unten Rz. 60 f.). _____________ 61) Kiem, AG 2009, 301, 307 f. 62) Kiem, AG 2009, 301, 310. 63) So Hölters-Weber, AktG, § 76 Rz. 16c – bei Verstoß gegen die aktienrechtliche Kompetenzordnung; so auch Kiefner, ZHR 2014, 547, 579. 64) Vgl. Bungert/Wansleben, ZIP 2013, 1841, 1845; Hölters-Weber, AktG, § 76 Rz. 16c; Kuntz, AG 2016, 101, 107. 65) Bungert/Wansleben, ZIP 2013, 1841, 1844 f.; Kiefner, ZHR 178 (2014), 547, 579; a. A: LG München, Urt. v. 5.4.2012 – 5 HK O 20488/11, NZG 2012, 1152 = ZIP 2012, 2445. 66) Bungert/Wansleben, ZIP 2013, 1841, 1844 f. 67) S. zu diesem Thema Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 76 Rz. 47, 52, die auf Unzulässigkeit wegen Unvereinbarkeit von persönlichen Verpflichtungen und treuhänderischen Amtspflichten abstellen.

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§ 76 4.

Leitung der Aktiengesellschaft Anforderungen an die Erfüllung der Leitungsaufgabe

34 Bei der Leitung der Gesellschaft und ihres Unternehmens muss der Vorstand i. R. der durch die Satzung und die Beschlüsse der Hauptversammlung vorgegebenen Verfassung und des Unternehmensgegenstands (siehe oben Rz. 12 ff.) sowie unter Beachtung anwendbaren Rechts (siehe unten Rz. 49 ff.) handeln und sein Handeln am Unternehmensinteresse (siehe unten Rz. 35 ff.) ausrichten. Innerhalb dieses Rahmens liegt die Leitung im Ermessen des Vorstands.68) a)

Unternehmensinteresse

aa)

Meinungsbild

35 Worin das Unternehmensinteresse einer AG besteht, ist Gegenstand langandauernder wissenschaftlicher Diskussion, die in ihrem Verlauf in unterschiedliche Richtungen tendiert hat, ohne dass eine abschließende Herausbildung einer h. M. abzusehen wäre. Die Diskussion bewegt sich dabei teilweise auf sehr abstrakter Ebene und die einzelnen vertretenen Auffassungen führen meist in der Anwendung auf praktische Sachverhalte zu denselben Ergebnissen.69) 36 Nach einer verbreiteten, teilweise als herrschend bezeichneten70) Auffassung bestimmt sich das Unternehmensinteresse durch einen sachgerechten Ausgleich der mit dem Unternehmen verbundenen Interessen der unterschiedlichen Stakeholder (z. B. Aktionäre, Arbeitnehmer, Kunden, Öffentlichkeit). Unter den Interessen dieser Stakeholder bestehe keine Rangfolge; der Vorstand müsse die Interessen vielmehr gegeneinander abwägen und zu praktischer Konkordanz führen.71) Diese Auffassung beruft sich auf die Gesetzesmaterialien zum AktG.72) Gegen diese Auffassung spricht jedoch, dass die Orientierung an einem breiten Kreis von Stakeholder-Interessen letztlich dazu führt, dass beinahe jedes Vorstandshandeln gerechtfertigt werden kann und damit die Orientierung am Unternehmensinteresse ihre Leitfunktion für die Festlegung der Vorstandspflichten nicht mehr erfüllt.73) 37 Demgegenüber stehen Auffassungen, nach denen das Unternehmensinteresse primär an den Interessen der Aktionäre orientiert ist und diesen den Vorrang gegenüber anderen Stakeholder-Interessen einräumt. Dabei gibt es im Einzelnen unterschiedliche Ausprägungen von einer klaren Vorgabe der Maximierung des Unternehmenswerts für die Aktionäre, also des Shareholder Value, zu der Zielsetzung, den Bestand des Unternehmens zu sichern und für eine dauerhafte Rentabilität zu sorgen.74) 38 Nach a. A. lasse sich aus der Verpflichtung auf das Unternehmensinteresse keine inhaltliche Vorgabe für das Vorstandshandeln herleiten, weil eine brauchbare Definition nicht möglich sei. Maßstab des Vorstandshandelns sei allein die sorgfältige Ermessensausübung.75) bb)

Stellungnahme

39 Zunächst ist die letztgenannte Auffassung abzulehnen, nach der sich aus dem Unternehmensinteresse keine inhaltliche Vorgabe ableitet. Denn eine solche wird durch das Gesetz vorausgesetzt. § 93 Abs. 1 Satz 2 verlangt, der Vorstand müsse, um den Schutz der Business _____________ 68) BGH, Urt. v. 7.3.1994 – II ZR 52/93 (Deutsche Bank), BGHZ 125, 239, 244 = ZIP 1994, 529; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 66. 69) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 50 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 28 ff. 70) So etwa die 4. Auflage; ebenso Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 28. 71) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 33. 72) Begr. RegE in: Kropff, AktG, S. 97; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 28, 30. 73) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 34. 74) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 76 Rz. 73. 75) Großmann, Unternehmensziele im Aktienrecht, 1980, S. 61 ff.

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§ 76

Leitung der Aktiengesellschaft

Judgement Rule zu erlangen, vernünftigerweise annehmen dürfen, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Wenn nicht klar ist, worin das Unternehmensinteresse besteht, fehlt dieser Anforderung der Bezugspunkt. Zutreffend ist, dass das Unternehmensinteresse nicht identisch ist mit der Wertmaximie- 40 rung aus Sicht bestimmter Aktionäre oder bestimmter Arten von Aktionären. In der typischen Ausprägung der AG sind die Anleger und deren Interessen zu verschieden, als dass hieraus konkrete Vorgaben abgeleitet werden könnten. Vielmehr ist der Auffassung zuzustimmen, nach der das Unternehmensinteresse vorran- 41 gig im nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens besteht. Diese Orientierung an der dauerhaften Sicherung von Bestand und Rentabilität des Unternehmens entspricht aus der Sicht des Gesetzgebers den typisierten Interessen der Aktionäre, die an verschiedenen Stellen zum Ausdruck kommen. Zu nennen ist etwa die Ausrichtung der Vorstandsvergütung bei börsennotierten Gesellschaften an der nachhaltigen und langfristigen Unternehmensentwicklung gemäß § 87 Abs. 1 Satz 2. Nach der Regierungsbegründung zum UMAG liegt ein „Handeln zum Wohle der Gesellschaft […] jedenfalls vor, wenn es der langfristigen Ertragsstärkung und Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens und seiner Produkte oder Dienstleistungen dient.“76) Diese Auffassung entspricht auch der Tendenz des Gesetzgebers, die Einflussrechte der Aktionäre über die Hauptversammlung zu stärken, wie sie etwa in der Kompetenz zur (nicht bindenden) Billigung des Vergütungssystems des Vorstands durch die Hauptversammlung gemäß § 120 Abs. 4 und zuletzt zur bindenden Herabsetzung der Maximalvergütung gemäß § 87 Abs. 4 zum Ausdruck kommt. Die Ausrichtung an einem typisierten Gesellschafterinteresse kann u. U. auch dazu führen, dass der Vorstand i. R. seines unternehmerischen Ermessensspielraums gegen die Interessen eines (Haupt-)Aktionärs der Gesellschaft handelt.77) Der Vorrang der dauerhaften Rentabilität ergibt sich auch daraus, dass der Vorstand dem 42 Gesellschaftszweck verpflichtet ist, in dem in der Regel das dauerhafte erwerbswirtschaftliche Interesse des in der Form der AG gegründeten Verbandes der Kapitalgeber zum Ausdruck kommt.78) Auch dem Gesetz ist eine solche Zielvorgabe zu entnehmen, wenn § 91 Abs. 2 den Vorstand dazu verpflichtet, ein Früherkennungssystem für bestandsgefährdende Risiken einzurichten und nach § 87 Abs. 1 Satz 2 zumindest in börsennotierten Gesellschaften die Vorstandsvergütung auf eine nachhaltige und langfristige Unternehmensentwicklung auszurichten. Zwar ist auch dieser Maßstab für die Ausrichtung des Vorstandshandelns noch sehr weit 43 und bietet kein mathematisch ableitbares Entscheidungsraster, an dem das Vorstandshandeln gemessen werden kann. Dies ist aber auch nicht nötig, denn der Maßstab ist trotz der Konkretisierungsschwierigkeiten geeignet, i. S. des § 93 Abs. 1 Satz 2 zu prüfen, ob der Vorstand sein Handeln zumindest am Unternehmensinteresse ausgerichtet hat. Erforderlich ist also, dass der Vorstand kontinuierlich auf eine bestmögliche Steigerung 44 der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens hinarbeitet. Denn angesichts des Wettbewerbs auf den Beschaffungs-, Absatz- und Finanzierungsmärkten wäre sonst langfristig der Bestand des Unternehmens gefährdet. Der Vorstand muss daher stets auf einen effizienten Ressourceneinsatz, die Profitabilität von Projekten sowie eine langfristige wertorien_____________ 76) Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11. 77) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 17.8.2011 – 13 U 100/10, AG 2011, 918, 919 = ZIP 2011, 2008; im Ergebnis zustimmend Kort, AG 2012, 605 ff. 78) OLG Hamm, Urt. v. 10.5.1995 – 8 U 59/94 (Harpener/Omni), AG 1995, 512, 514 = ZIP 1995, 1263; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 76 Rz. 21; Semler, Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, Rz. 27 ff.

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tierte Strategie und Innovationskraft achten. Eine Pflicht des Vorstands, eine kurzfristige Rentabilität zu priorisieren, besteht allerdings nicht. Vielmehr hat der Gesetzgeber deutlich zum Ausdruck gebracht, dass das langfristige Unternehmensinteresse Vorrang haben sollte.79) 45 Hinsichtlich der Berücksichtigung weiterer Stakeholder-Interessen ist zu unterscheiden, ob den Vorstand eine Berücksichtigungspflicht trifft oder ob ihm Spielraum zukommt. Zunächst sind die Interessen anderer Stakeholder durch ein enges Netz an gesetzlichen Vorgaben aus verschiedenen Rechtsbereichen geschützt, so dass die Wahrung von Arbeitnehmer-, Gläubiger-, Verbraucher- und Allgemeininteressen angemessen gewährleistet ist.80) In der Regel handelt es sich dabei um zwingendes Recht, das dem Vorstand keinen Ermessensspielraum i. R. der Business Judgement Rule einräumt. Darüber hinaus besteht keine Pflicht des Vorstands, im Interesse anderer Stakeholder zu handeln, es sei denn, dies ist erforderlich, um den Bestand und die dauerhafte Rentabilität des Unternehmens zu fördern. Eine weitergehende Pflicht scheidet schon deshalb aus, weil die Gesellschaft gegen Vorstandsmitglieder keinen immateriellen Schaden geltend machen kann. Ein Vorstandsmitglied verletzt deshalb nicht etwa dadurch seine Pflichten, dass die Gesellschaft keine Parteispenden leistet und keine karitativen Zwecke fördert. Eine Pflicht hierzu kann aber bestehen, wenn eine Missachtung von gesellschaftlichen oder Arbeitnehmerbelangen dazu führen würde, dass dem Unternehmen wirtschaftliche Nachteile etwa durch Streiks oder öffentliche Proteste und Blockaden entstehen.81) Auch in derartigen Fällen kommt dem Vorstand ein Ermessensspielraum i. R. der Business Judgement Rule zu. 46 Umgekehrt hat der Vorstand Spielraum bei der Berücksichtigung von Stakeholder-Interessen, soweit diese nicht der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens zuwiderlaufen. So kann der Vorstand insbesondere Sozialleistungen an Arbeitnehmer gewähren, da Maßnahmen, die der Förderung einer zufriedenen und motivierten Belegschaft dienen, sich in der Regel mit dem Ziel der Sicherung der langfristigen Ertragskraft des Unternehmens decken. Der Vorstand darf auch Mittel für karitative oder sonstige öffentliche Zwecke aufwenden,82) soweit dies dazu dient und geeignet ist, die guten Beziehungen zu Stakeholdern zu fördern, die für erfolgreiches Wirtschaften nötig sind (Corporate Social Responsibility). Dazu gehört die Unterstützung von Kultur, Sport, Politik, Umweltschutz und allgemeinem Sozialwesen, solange sie in einem angemessenen Verhältnis zur Leistungsfähigkeit des Unternehmens steht und seiner sozialen und gesamtwirtschaftlichen Rolle entspricht.83) Dieser Grundsatz hat an Bedeutung gewonnen, weil Unternehmen einem Umfeld ausgesetzt sind, in dem Verstöße gegen die sog. „Good Corporate Citizenship“ durch schnelle Meinungsbildung über neue Medien zu handfesten wirtschaftlichen Nachteilen führen können. Erheblichen Ermessensspielraum hat der Vorstand auch bei Maßnahmen, die dazu dienen Reputationsschäden für das Unternehmen zu vermeiden. Dies gilt etwa für die Reduzierung oder Beendigung von Aktivitäten, die dazu führen können, dass in der öffentlichen Wahrnehmung das Unternehmen in den Verdacht gerät, staatliche Aggressionen, Völker_____________ 79) Vgl. etwa Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11 („langfristige Ertragsstärkung“) sowie § 87 Abs. 1 Satz 2. 80) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 38; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 76 Rz. 41. 81) Vgl. dazu BGH, Urt. v. 6.12.2001 – 1 StR 215/01, NZG 2002, 471 = AG 2002, 347, dazu EWiR 2002, 305 (Wessing); Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 76 Rz. 33; s. Darstellung bei Fleischer in: BeckOGKAktR, § 76 AktG Rz. 38, 50. 82) Vetter, ZGR 2018, 338, 346 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 35; Mertens/Cahn in: KölnKommAktG, § 76 Rz. 33 ff.; Westermann, ZIP 1990, 771, 775 f. 83) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 35a; Kort, NZG 2012, 926, 929 f.; Mertens/Cahn in: KölnKommAktG, § 76 Rz. 33 ff.; Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101, 109 f.; Walden, NZG 2020, 50, 59 f.

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rechts- oder Menschenrechtsverletzungen zu unterstützen, wie etwa Aktivitäten in autoritären Staaten, von denen solche Aggressionen oder Rechtsverletzungen ausgehen. Die Berücksichtigung von Stakeholder-Interessen ist aber begrenzt auf den Bereich, der mit 47 der langfristigen Ertragsstärkung und Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens komplementär ist.84) Beschließt ein Vorstand, den Unternehmensgewinn für eine Spende zugunsten wohltätiger Zwecke statt wie vorgesehen für die Ausschüttung einer Dividende zu verwenden, und löst er dadurch einen Kursrutsch der Aktien aus, verletzt er grundsätzlich seine Pflichten, wenn die Spende nicht aufgrund besonderer Umstände der Sicherung der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens dient. Nur in Ausnahmefällen dürfte dieser Fall anders zu beurteilen sein, bspw. im Fall von erheblichen Geldzahlungen an Fonds, die der Entschädigung von Opfern früheren Unrechts, an dem das Unternehmen beteiligt war, dienen. Ebenso unzulässig sind Leistungen, die zur Vermögens- und Finanzlage der Gesellschaft 48 in Missverhältnis stehen oder bei denen sich der Vorstand sachwidrig von privaten Präferenzen leiten lässt.85) In solchen Fällen macht sich der Vorstand schadensersatzpflichtig. Zudem droht eine Strafbarkeit wegen Untreue nach § 266 StGB.86) Um Risiken in diesem Bereich zu vermeiden, sollte der Vorstand sich für Leistungen außerhalb der erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit klare Leitlinien auferlegen und für transparente Entscheidungen durch mehr als einen Entscheidungsträger sorgen. b)

Rechtmäßigkeit

Bei der Ausübung der Leitungsaufgabe muss der Vorstand die Vorgaben der Satzung und 49 der Beschlüsse der Hauptversammlung sowie geltendes Recht beachten (siehe unten § 93 Rz. 12). Dabei steht ihm kein Ermessensspielraum zu. Die Pflicht des Vorstands erschöpft sich nicht allein darin, bei der Umsetzung eigener 50 Maßnahmen geltendes Recht einzuhalten. Er ist vielmehr verpflichtet, das Unternehmen der Gesellschaft so zu organisieren, dass insgesamt i. R. der Aktivitäten des Unternehmens geltendes Recht eingehalten wird. Die wesentlichen Entscheidungen hinsichtlich der Ausrichtung des Unternehmens sind dabei Teil der Leitungsaufgabe (siehe hierzu auch oben Rz. 5 ff.). Die Sicherstellung der Einhaltung von anwendbaren Gesetzen und Regelungen bei der unternehmerischen Tätigkeit wird allgemein als Compliance bezeichnet. Die Aufgabe kann zwar ressortmäßig einem Vorstandsmitglied zugewiesen werden, aber es bleibt auch in diesem Fall bei der Gesamtverantwortung.87) Wesentliche Risikobereiche stellen dabei Kartellverstöße, Korruption, Verstöße gegen 51 Kapitalmarktrecht, Umweltrecht, Außenwirtschaftsrecht und Sanktionen, der Datenschutz sowie Diskriminierung und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz dar.88) Bei international agierenden Unternehmen können sich darüber hinaus aus ausländischen Normen wie dem „Sarbanes Oxley Act“ und dem „Foreign Corrupt Practices Act“ spezielle CompliancePflichten ergeben.89) Allerdings lässt sich die Aufgabe, für rechtmäßiges Verhalten des _____________ 84) Dies gilt auch für ein stärker gemeinwohlorientierte Corporate-Purpose-Ausrichtung, hierzu Fleischer, ZIP 2021, 5, 12; inwieweit z. B. der Erhalt einer unprofitablen Betriebsstätte in einer strukturschwachen Region im Unternehmensinteresse liegt, dürfte stark vom Einzelfall, insbesondere der langfristigen Perspektive und den Möglichkeiten zur Verbesserung der Situation, abhängen. 85) Ausführlich hierzu Vetter, ZGR 2018, 338, 368 ff. 86) BGH, Urt. v. 6.12.2001 – 1 StR 215/01, NZG 2002, 471, 473 = AG 2002, 347 jedoch erst bei gravierenden Pflichtverletzungen; Dierlamm in: MünchKomm-StGB, § 266 Rz. 268. 87) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10 (Siemens/Neubürger), ZIP 2014, 570 = AG 2014, 332, dazu EWiR 2014, 175 (Hahn). 88) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 11. 89) Vgl. Hölters-Weber, AktG, § 76 Rz. 30.

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Unternehmens zu sorgen, nicht auf einzelne, festgelegte Bereiche reduzieren. Vielmehr muss eine allgemeine Ausrichtung auf rechtmäßiges Verhalten erfolgen. Zusätzlich ist kontinuierlich zu prüfen, in welchen Bereichen besondere Risiken bestehen, um geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um diesen zu begegnen. 52 Aus § 93 ergibt sich insofern ab einer gewissen Größe und Risikoexposition der Gesellschaft eine Pflicht des Vorstands, sicherzustellen, dass geeignete Compliance-Systeme in der Gesellschaft und ihren Konzernunternehmen eingerichtet werden (siehe unten § 93 Rz. 13 und Rz. 18).90) Das unternehmerische Ermessen hinsichtlich des „Ob“ der Einrichtung einer Compliance-Organisation reduziert sich jedenfalls bei solchen Unternehmen regelmäßig auf null.91) Beim „Wie“ der Ausgestaltung eines entsprechenden Systems besteht dagegen weites Ermessen, das sich nur unter bestimmten Umständen wie einer wachsenden Gefahrenlage, wiederholten Vorkommnissen oder aufgrund von Branchenstandards verengt.92) 53 In der Praxis haben sich typische Elemente93) eines Compliance-Systems herausgebildet, die jedoch nicht schematisch angewandt werden, sondern sich an der konkreten Risikostruktur des Unternehmens ausrichten sollten. Dazu zählt die Einführung von Compliance-Richtlinien, einschließlich der Vorgabe eines bestimmten Verhaltenskodexes, Schulungen, die Einrichtung eines Berichtswesens bis hin zur Etablierung eines „Whistle-Blowing“Systems94) sowie die Bestellung eines Compliance-Beauftragten.95) Auch Amnestieprogramme kommen als wirksames Mittel zur Aufdeckung von Verstößen in Betracht.96) Besonders wichtig ist, dass der unbedingte Wille zu rechtmäßigem und ethischem Verhalten durch den Vorstand selbst klar und überzeugend kommuniziert und vorgelebt wird (tone from the top). Im Konzern zählt zur Wahrnehmung der konzerndimensionalen Führungsaufgaben regelmäßig auch die Pflicht zur Einrichtung eines konzernweiten Compliance-Systems zur konzernweiten Verhinderung von Rechtsverstößen.97) Für dessen Ausgestaltung bestehen aber ebenfalls keine konkreten Vorgaben. Vielmehr hängt diese davon ab, welche Organisation der Vorstand für den Konzern insgesamt gewählt hat. 54 Durch das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG), das ab 1.1.2023 in Kraft tritt,98) werden eine Reihe von Pflichten für Unternehmen begründet, die dazu beitragen sollen, dass nach deutschen Maßstäben rechtswidrige Verhaltensweisen oder Zustände nicht nur bei den Unternehmen, die dem Anwendungsbereich des Gesetzes unterfallen, sondern auch bei ausländischen Zulieferunternehmen verhindert werden. Ziel ist die Bekämpfung von Kinderarbeit, Zwangsarbeit, Diskriminierung, mangelnden Sicherheitsstandards, Gesundheitsgefahren für Arbeitnehmer, allgemein unangemessene Arbeitsbedingungen sowie Umweltrisiken (vgl. § 2 Abs. 2 und 3 LkSG, der noch weitere Bereiche nennt). Das Gesetz gilt für Unternehmen mit Verwaltungs- oder Satzungssitz, Hauptverwaltung, Hauptoder Zweigniederlassung im Inland und in der Regel mindestens 3.000 Arbeitnehmern im Inland (§ 3 LkSG). Das Gesetz begründet keine Erfolgspflicht, die schädlichen Verhal_____________ 90) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10 (Siemens/Neubürger), ZIP 2014, 570 = AG 2014, 332; Fleischer, CCZ 2008, 1, 5; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 8. 91) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 91 AktG Rz. 47 ff.; Seibt/Cziupka, DB 2014, 1598, 1599 ff. 92) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 8. 93) Ausführlich Schulz/Block, CCZ 2020, 49, 51 ff. 94) Schulz/Kuhnke, BB 2012, 143 ff. 95) Kremer/Klahold, ZGR 2010, 113, 125 f.; Schulz/Renz, BB 2012, 2511 ff. 96) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 18; Kremer in: FS U. H. Schneider, S. 701, 707 f. 97) Vgl. Krieger in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 70 Rz. 26. 98) Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten (Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz – LkSG) v. 16.7.2021, BGBl. I 2021, 2959.

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tensweisen bei anderen Unternehmen zu verhindern, sondern lediglich eine Bemühenspflicht, wobei die geforderten Bemühungen von den Einflussnahmemöglichkeiten des Unternehmens abhängen.99) So müssen gemäß § 6 LkSG angemessene Präventionsmaßnahmen und gemäß § 7 LkSG Abhilfemaßnahmen nur gegenüber Unternehmen im eigenen Geschäftsbereich (dieser umfasst auch konzernangehörige Gesellschaften, auf die die Obergesellschaft einen bestimmenden Einfluss ausübt – § 2 Abs. 6 LkSG) sowie gegenüber unmittelbaren Zulieferern verankert bzw. ergriffen werden. Im Falle von mittelbaren Zulieferern sieht § 9 LkSG Präventionsmaßnahmen nur anlassbezogen vor und verlangt nur ein Konzept zur Verhinderung, Beendigung oder Minimierung von Pflichtverletzungen. Allgemein statuiert das Gesetz in §§ 3 ff. LkSG eine Reihe von Sorgfaltspflichten, die menschenrechtliche und umweltbezogenen Risiken vorbeugen und Pflichtverletzungen verhindern sollen. Diese umfassen insbesondere die Einrichtungen eines entsprechenden Risikomanagements, die Durchführung von Risikoanalysen, die Verankerung von Präventionsmaßnahmen einschließlich der Einrichtung eines Beschwerdeverfahrens sowie das Ergreifen von Abhilfemaßnahmen. Auch die Kodexkommission strebt mit ihrem Entwurf für eine neue Fassung des DCGK vom 21.1.2022 eine stärkere Betonung von Nachhaltigkeitsaspekten an.100) Für von der BaFin beaufsichtigte Unternehmen hat diese bereits 2019 ein Merkblatt zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken veröffentlicht, das am 1.12.2021 geändert wurde.101) Dieses ist allerdings nicht rechtlich bindend, sondern stellt lediglich eine Zusammenstellung von Verfahrensweisen dar, die nach Auffassung der BaFin eine Best Practice zur Umsetzung der gesetzlichen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Geschäftsorganisation darstellen. 5.

Konzernrechtliche Fragen

a)

Vorstand einer herrschenden AG

Inhalt und Umfang einer möglichen Konzernleitungspflicht des Vorstands der herrschen- 55 den Gesellschaft sind umstritten.102) Eine besonders umfassende Pflicht wird nur vereinzelt vertreten.103) Die h. M. lehnt eine solche ab, ohne dass Einigkeit hinsichtlich der Intensität der verbleibenden Konzernleitung bestünde.104) Im Fall des faktischen Konzerns steht bereits § 311, der grundsätzlich von der Eigenverantwortung des Vorstands der abhängigen AG ausgeht, einer umfassenden Leitungspflicht entgegen. Für den Vertragskonzern spricht § 308 Abs. 1 ausdrücklich von einer „Berechtigung“ und nicht von einer „Pflicht“, Weisungen zu erteilen.105) Es besteht daher ein weitgehender Ermessensspielraum der Ausgestaltung der konzernweiten Leitungsstrukturen, so dass sich die Obergesellschaft (wenn der Unternehmensgegenstand dies zulässt) auch auf eine passive Beteiligungsverwaltung beschrän_____________ 99) Koch, AktG, § 76 Rz. 35k. Zu korrespondierenden Pflichten für die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats s. § 111 Rz. 2. 100) DCGK, Entwurf i. d. F. v. 21.1.2022, abrufbar unter https://www.dcgk.de/de/konsultationen/aktuelle-konsultationen.html (Abrufdatum: 29.3.2022). 101) BaFin, Merkblatt zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken, abrufbar unter https://www.bafin.de/ SharedDocs/Downloads/DE/Merkblatt/dl_mb_Nachhaltigkeitsrisiken.html (Abrufdatum: 29.3.2022). 102) Zu den Beziehungen zwischen den konzernverbundenen Unternehmen selbst s. insgesamt die §§ 291 ff. 103) Hommelhoff, Konzernleitungspflicht, 1982, S. 43 ff., 165 ff. 104) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 76 Rz. 48; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 93; Schiessl, ZGR 1992, 64, 83; Emmerich/Habersack-Habersack, Konzernrecht, § 311 AktG Rz. 11; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 76 Rz. 48 f.; Mülbert, Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt, 1996, S. 27 ff.; Wilsing/Ogorek, NZG 2010, 216, 217. 105) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 94; dagegen für umfassende Leitungspflicht im Vertragskonzern: Götz, ZGR 1998, 524, 526.

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ken kann.106) Zu berücksichtigen ist aber, dass der Beteiligungsbesitz als Bestandteil des Gesellschaftsvermögens dennoch im Rahmen des gewählten Ansatzes der Konzernleitung eine sachgerechte unternehmerische Betreuung erfordert, soweit sich Auswirkungen auf die Obergesellschaft ergeben können.107) Bedeutung erlangen hier zunehmend sanktionsbewehrte rechtliche Pflichten aus in- und ausländischen Gesetzen, die bei Verstößen durch Tochtergesellschaften auch zu Sanktionen gegen die Konzernobergesellschaft führen können (vgl. etwa § 36 Abs. 2 GWB). Diese führen dazu, dass der Vorstand der Konzernobergesellschaft auf die Einhaltung der entsprechenden Anforderungen auch durch Tochtergesellschaften hinwirken muss, um Schaden von der Obergesellschaft abzuwenden. Vorgaben für die Organisation einer von der Gesellschaft geleiteten Unternehmensgruppe können sich auch aus dem Unternehmensgegenstand der Obergesellschaft ergeben. Jedenfalls in der Praxis größerer börsennotierter Gesellschaften ist dieser aber in der Regel mit dem Ziel formuliert, dem Vorstand ebenfalls möglichst großen Freiraum bei der Organisation der Unternehmensgruppe einzuräumen. 56 In der Praxis existiert in Konzernen in der Regel eine vom Aufbau aus rechtlichen Einheiten losgelöste und diese überlagernde Organisationsstruktur. Diese ist meist nicht rein funktional oder divisional aufgebaut. Häufiger findet sich derzeit eine sog. Matrixorganisation.108) Zwar gibt es dafür keine allgemein anerkannte Definition, jedoch handelt es sich nach allgemeinem Verständnis um eine Organisationsform mit mehreren sich kreuzenden Verantwortungshierarchien (typischerweise Aufgliederung zum einen nach Funktionen und zum anderen nach Sparten).109) Das führt dazu, dass die unteren Ebenen jeweils mehr als einen Vorgesetzten haben. Allerdings gibt es in aller Regel nur einen disziplinarisch Vorgesetzten, während den anderen Vorgesetzten lediglich ein beschränktes fachliches Weisungsrecht zukommt.110) Darüber hinaus sind Mechanismen zur Auflösung von widersprüchlichen Vorgaben wichtig, um zu vermeiden, dass Konflikte durch den Mitarbeiter auf unterer Ebene gelöst werden müssen. b)

Vorstand einer abhängigen/eingegliederten AG

57 Der Vorstand einer abhängigen Gesellschaft im faktischen Konzern ist nicht an Weisungen der Hauptgesellschaft gebunden und darf ihnen nur folgen, wenn er von einem Einzelausgleich gemäß § 311 ausgehen kann. Er hat die abhängige Gesellschaft weiterhin unter eigener Verantwortung gemäß § 76 Abs. 1 zu leiten.111)

_____________ 106) Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 32 Rz. 1267; Altmeppen in: MünchKomm-AktG, § 309 Rz. 54, 56; Martens in: FS Heinsius, S. 523, 531. 107) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 76 Rz. 49; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 76 Rz. 46; Martens in: FS Heinsius, S. 523, 531. 108) Kort in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 194; Kubis/Tödtmann-Richter, ArbHdb. Vorstandsmitglieder, § 5 Rz. 27; für eine betriebswirtschaftliche Darstellung s. Klimmer, Unternehmensorganisation, S. 91. 109) Kubis/Tödtmann-Richter, ArbHdb. Vorstandsmitglieder, § 5 Rz. 27; Schiessl, ZGR 1992, 64, 65; Witschen, RdA 2016, 38 ff.; Bachner, NZA 2019, 134 f. 110) Witschen, RdA 2016, 38, 39; zu arbeitsrechtlichen Problemen mit Matrixstrukturen s. Bauer/Herzberg, NZA 2011, 713 ff.; Bachner, NZA 2019, 134, 138 ff.; zu Haftungsrisiken und deren Verringerung s. Wisskirchen/Dannhorn/Bissels, DB 2008, 1139 ff. 111) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 110; OLG Celle, Urt. v. 28.5.2008 – 9 U 184/07, WM 2008, 1745, 1746 = AG 2008, 711.

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Im Vertragskonzern kann das herrschende Unternehmen gemäß § 308 Abs. 1 Weisungen 58 erteilen, die die abhängige Gesellschaft gemäß § 308 Abs. 2 Satz 1 befolgen muss, soweit nicht einer von wenigen Ausnahmefällen vorliegt (siehe unten §§ 291 ff.). Die Leitungsmacht des Vorstands der abhängigen Gesellschaft wird durch den Beherrschungsvertrag überlagert.112) Der Vorstand der abhängigen Gesellschaft ist darüber hinaus auch ohne Weisungen zu einem konzernfreundlichen Verhalten verpflichtet.113) Nur soweit keine Weisungen vorliegen, bleibt Raum für den Vorstand der abhängigen Gesellschaft und insoweit dann auch die Pflicht, die Gesellschaft eigenverantwortlich zu leiten.114) Der Vorstand kann auch mittels seines Direktionsrechts Mitarbeiter der abhängigen Gesell- 59 schaft veranlassen, Weisungen von Vertretern des herrschenden Unternehmens Folge zu leisten. Auf diesem Weg kann die vorstehend erwähnte, von der gesellschaftsrechtlichen Struktur losgelöste Organisationsstruktur umgesetzt werden. Aus Sicht des Vorstands der abhängigen Gesellschaft besteht aber das Risiko, dass er selbst dafür verantwortlich bleibt und prüfen muss, ob die Weisungen rechtmäßig sind und deshalb eine Befolgungspflicht besteht.115) Das ist in der Praxis schwer umzusetzen. c)

Vorstandsdoppelmandate

Vorstandsdoppelmandate sind aktienrechtlich zulässig, wenn die Zustimmung beider Auf- 60 sichtsräte gemäß § 88 Abs. 1 Satz 2 vorliegt.116) Bei der Ausübung der Leitungsaufgabe können sich jedoch Interessenkonflikte ergeben, die insbesondere in Konzernkonstellationen auftreten. Der Vorstand bleibt immer dazu verpflichtet, die Interessen desjenigen Unternehmens zu verfolgen, in dessen Pflichtenkreis er tätig wird.117) Die Wahrnehmung von Organpflichten in einem Pflichtenkreis kann jedoch in keinem Fall deren Verletzung in einem anderen rechtfertigen.118) Für den Vertragskonzern ist die Interessenkollision durch die eingeschränkte Prüfungskompetenz des Vorstands der abhängigen Gesellschaft gemäß § 308 Abs. 2 und den Schutzmechanismus der §§ 302 ff. teilweise gesetzlich geregelt.119) Im faktischen Konzern bleibt es dagegen bei der Unabhängigkeit der beteiligten Gesellschaften; eine gesetzliche Auflösung des Interessenkonflikts findet nicht statt.

_____________ 112) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 111; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 308 Rz. 7. 113) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 111; Kort in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 180; Koppensteiner in: KölnKomm-AktG, § 308 Rz. 71; ähnlich Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 308 Rz. 20 – „Pflicht zu konzernfreundlichem Verhalten“; a. A. Altmeppen in: MünchKomm-AktG, § 308 Rz. 158 f.; Emmerich/ Habersack-Emmerich, Konzernrecht, § 308 AktG Rz. 54; Hölters-Hölters, AktG, § 76 Rz. 56. 114) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 76 Rz. 42. 115) Dazu im Einzelnen Seibt/Wollenschläger, AG 2013, 229, 233; Hölters-Leuering/Goertz, AktG, § 308 Rz. 50 ff.; a. A. Altmeppen in: MünchKomm-AktG, § 308 Rz. 76 ff. 116) BGH, Urt. v. 9.3.2009 – II ZR 170/07 (Vorstandsdoppelmandat), BGHZ 180, 105, 110 f. = ZIP 2009, 1162, dazu EWiR 2009, 525 (Blasche); OLG Köln, Urt. v. 24.11.1992 – 22 U 72/92 (Winterthur/ Nordstern), ZIP 1993, 110, 114 = NJW-RR 1993, 804; Dreher in: FS E. Lorenz, S. 175, 183 ff. 117) BGH, Urt. v. 9.3.2009 – II ZR 170/07 (Vorstandsdoppelmandat), BGHZ 180, 105, 110 f. = ZIP 2009, 1162; OLG Stuttgart, Beschl. v. 2.12.2014 – 20 AktG 1/14, ZIP 2015, 1120; Aschenbeck, NZG 2000, 1015, 1021. 118) Altmeppen in: MünchKomm-AktG, § 311 Rz. 99; Hoffmann-Becking, ZHR 150 (1986), 570, 576 f.; Kort in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 223; zu Haftungsfragen s. im Einzelnen Noack in: FS HoffmannBecking, S. 847. 119) Hölters-Hölters, AktG, § 76 Rz. 58; Aschenbeck, NZG 2000, 1015, 1018; Austmann, ZGR 2009, 277, 288.

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61 Nach ganz h. A. besteht kein umfassendes Stimmverbot entsprechend § 34 BGB bei Vorstandsdoppelmandaten im Konzern.120) Verbreitet wird jedoch analog § 136 AktG und § 47 Abs. 4 GmbHG eine Pflicht zur Stimmenthaltung angenommen, wenn der Vorstand der Muttergesellschaft über die Stimmabgabe zur Entlastung des Doppelmandatsträgers in der Hauptversammlung der abhängigen Gesellschaft beschließt.121) Darüber hinaus kann sich das Vorstandsmitglied auch in anderen Fällen der Stimme enthalten, um einer Interessenkollision zu entgehen, sofern dadurch nicht die Funktionsfähigkeit des Vorstands beeinträchtigt wird.122) Lassen sich im Einzelfall schwerwiegende Interessenkonflikte auch dauerhaft nicht vermeiden, muss der Vorstand sein Amt niederlegen oder vom Aufsichtsrat abberufen werden (§ 84 Abs. 3).123) IV.

Zahl der Vorstandsmitglieder (§ 76 Abs. 2)

1.

Anforderungen von Gesetz und Satzung

62 Gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 kann der Vorstand grundsätzlich aus einer oder mehreren Personen bestehen. § 76 Abs. 2 Satz 3 sieht bei einem Grundkapital von mehr als 3 Mio. € mindestens zwei Personen vor, ist jedoch dispositiv. Die Satzung muss gemäß § 23 Abs. 3 Nr. 6 die Zahl der Vorstandsmitglieder oder die Regeln, nach denen diese festgelegt wird, bestimmen. Insofern kann auch eine bloße Mindest- oder Höchstzahl niedergelegt oder zur Entscheidung gänzlich der Aufsichtsrat ermächtigt werden.124) Ebenso möglich ist eine statuarische Regelung, derzufolge die genaue Zahl von der Hauptversammlung bestimmt wird.125) Das Gesetz normiert keine Höchstzahl für Vorstandsmitglieder. Eine Grenze ist im Einzelfall jedoch erreicht, wenn eine einheitliche Leitung gemäß § 76 Abs. 1 nicht mehr möglich ist.126) Die ausdrückliche Empfehlung in Ziff. 4.2.1. DCGK, wonach der Vorstand aus mehreren Personen bestehen soll, findet sich in der aktuellen Fassung des DCGK nicht mehr.127) 2.

Arbeitsdirektor

63 Die Vorschriften über die Bestellung eines Arbeitsdirektors bleiben gemäß § 76 Abs. 2 Satz 3 unberührt. Soweit ein Arbeitsdirektor gemäß § 13 Abs. 1 Montan-MitbestG, § 13 MontanMitbestErgG oder gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 MitbestG zu bestellen ist, muss der Vorstand somit mindestens aus zwei Mitgliedern bestehen.128) 3.

Rechtsfolgen einer verbotswidrigen Besetzung

64 Die Rechtsfolgen einer verbotswidrigen Zusammensetzung sind nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt. Eine Überbesetzung ist selten praktisch relevant und führt nicht zur _____________ 120) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 54; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 116; a. A. Semler in: FS Stiefel, S. 719, 757 f.; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 76 Rz. 52 – wenn der Interessenkonflikt nicht dadurch gelöst werden kann, dass vorrangig der Pflichtenkreis berücksichtigt wird, in dem das Mitglied gerade tätig ist. 121) Kort in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 228; Petersen/Schulze de la Cruz, NZG 2012, 453, 456; HöltersHölters, AktG, § 76 Rz. 59; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 19 Rz. 45. 122) Fleischer in: BeckOGK-AktG, § 76 AktG Rz. 118; Kort in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 229. 123) Diekmann/Fleischmann, AG 2013, 141, 149; Kort in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 230; Kort, ZIP 2008, 717, 719; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 76 Rz. 52; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 76 Rz. 57; Weiß, CB 2014, 97, 99. 124) LG Köln, Urt. v. 10.6.1998 – 91 O 15/98, AG 1999, 137, 138; Kort in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 237. 125) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 76 Rz. 105. 126) Kort in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 239. 127) Vgl. Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Bachmann, DCGK, G. 1 Rz. 5. 128) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 76 Rz. 121; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 76 Rz. 107.

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Rechtswidrigkeit der Handlungen der AG gegenüber Dritten.129) Die Organstellung des überzähligen Vorstandsmitglieds bleibt wirksam, die Überbesetzung stellt lediglich einen wichtigen Grund für einen Widerruf der Bestellung dar.130) Bei Unterbesetzung muss der Aufsichtsrat den Vorstand gemäß § 84 unverzüglich wieder vervollständigen.131) Sofern dies nicht erfolgt, kann in dringenden Fällen gemäß § 85 das Gericht auf Antrag das fehlende Mitglied bestellen.132) Ein unterbesetzter Vorstand ist für Aufgaben, die nur der Gesamtvorstand wahrnehmen kann, nicht handlungsfähig.133) Die zu befürwortende Gegenmeinung in der Literatur,134) die für den Erhalt der Handlungsfähigkeit plädiert, konnte sich bisher nicht durchsetzen. Nicht beeinträchtigt ist die Handlungsfähigkeit der AG dagegen, soweit ein Vorstandshandeln in vertretungsberechtigter Zahl genügt und diese Zahl noch vorhanden ist.135) V.

Persönliche Eignungsvoraussetzungen und Bestellungshindernisse (§ 76 Abs. 3)

1.

Anforderungen laut Gesetz und Satzung

Gemäß § 76 Abs. 3 Satz 1 können Vorstandsmitglieder nur natürliche, unbeschränkt ge- 65 schäftsfähige Personen sein. Somit kommen juristische Personen und Personengesellschaften nicht als Vorstandsmitglieder in Betracht. Bei beschränkt geschäftsfähigen Personen genügt auch eine vormundschaftsgerichtliche Genehmigung gemäß §§ 112, 113 BGB nicht.136) Darüber hinaus darf gemäß § 76 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 kein Einwilligungsvorbehalt gemäß §§ 1896, 1903 BGB vorliegen. Nationalität und Wohnsitz sind für die Bestellung zum Vorstand einer inländischen AG unerheblich.137) Bezüglich der Geschäftsfähigkeit entscheidet gemäß Art. 7 Abs. 1 EGBGB das Heimatstatut. Strittig ist, ob jederzeit die Möglichkeit bestehen muss, ins Inland einzureisen. Eine frühere Ansicht bejahte dies, da andernfalls keine persönliche Teilnahme an Vorstandssitzungen und keine persönliche Befassung mit den Angelegenheiten der AG vor Ort möglich sei.138) Nach Erlass des MoMiG kann gemäß §§ 5, 37 Abs. 3 eine Sitzverlegung ins Ausland erfolgen.139) Eine Aufenthalts-, Arbeits- oder Gewerbeerlaubnis im Inland ist daher keine notwendige Voraussetzung.140) _____________ 129) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 56. 130) Vgl. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 123 – in der Regel wird die Abberufung des überzähligen Vorstandsmitglieds geboten sein, eine Ausnahme kann vorliegen, wenn die gleichzeitige Kündigung des Anstellungsvertrags aus wichtigem Grund nicht möglich ist. 131) BGH, Urt. v. 12.11.2001 – II ZR 225/99 (Sachsenmilch III), BGHZ 149, 158, 161 = ZIP 2002, 172, dazu EWiR 2002, 885 (Saenger/Bergjan). 132) BGH, Urt. v. 12.11.2001 – II ZR 225/99 (Sachsenmilch III), BGHZ 149, 158 = ZIP 2002, 172. 133) BGH, Urt. v. 12.11.2001 – II ZR 225/99 (Sachsenmilch III), BGHZ 149, 158 = ZIP 2002, 172; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 19 Rz. 52; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 76 Rz. 119. 134) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 76 Rz. 111; Kort in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 242; Götz, ZIP 2002, 1745; Priester in: FS Kropff, S. 591, 597. 135) LG Berlin, Beschl. v. 30.10.1990 – 98 T 39/90, AG 1991, 244, 245 = ZIP 1991, 228; Hüffer/KochKoch, AktG, § 76 Rz. 56; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 76 Rz. 118. 136) OLG Hamm, Beschl. v. 13.4.1992 – 15 W 25/92, GmbHR 1992, 671 = DB 1992, 1401 – zur GmbH; Kort in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 252. 137) OLG Köln, Beschl. v. 30.9.1998 – 2 Wx 22/98, GmbHR 1999, 182, 183, dazu EWiR 1999, 261 (Mankowski) – zur GmbH; Erdmann, NZG 2002, 503 ff. 138) OLG Köln, Beschl. v. 30.9.1998 – 2 Wx 22/98, GmbHR 1999, 182, 183; OLG Hamm, Beschl. v. 9.8.1999 – 15 W 181/99, ZIP 1999, 1919 – jeweils für die GmbH. 139) Begr. RegE z. MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 29. 140) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.4.2009 – 3 Wx 85/09, NZG 2009, 678, 679 = ZIP 2009, 1074 = GmbHR 2009, 776, dazu EWiR 2009, 573 (Lamsa); OLG München, Beschl. v. 17.12.2009 – 31 Wx 142/09, ZIP 2010, 126, 127, dazu EWiR 2010, 247 (Schodder); Heßeler, GmbHR 2009, 759; Wachter, BB 2010, 268 f. – jeweils zur GmbH; Kort in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 253.

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66 Das Vorstandsmitglied muss nach dem Prinzip der Fremdorganschaft kein Aktionär der Gesellschaft sein. Ein Mindest- oder Höchstalter ist gesetzlich nicht bestimmt. Ziffer B. 5 DCGK empfiehlt jedoch die Festlegung einer Altersgrenze. 67 Die Satzung kann zusätzliche Eignungsvoraussetzungen, wie bspw. Altersgrenzen oder berufliche Qualifikationen, vorsehen. Unsachliche Diskriminierungen und strikte Beschränkungen auf Familienmitglieder sind unzulässig.141) Das Auswahlermessen des Aufsichtsrats darf nicht so weit eingeschränkt sein, dass kein Spielraum mehr verbleibt.142) Entgegen einer zu weitgehenden Auffassung in Teilen der Literatur143) haben satzungsmäßige Auswahlrichtlinien nicht nur die Wirkung einer Sollvorschrift, über die sich der Aufsichtsrat nach pflichtgemäßem Ermessen hinwegsetzen kann.144) 2.

Rechtsfolgen bei Fehlen oder Wegfall der Eignungsvoraussetzungen

68 Ein Verstoß gegen die gesetzlichen Voraussetzungen des § 76 Abs. 3 Satz 1 führt zur Nichtigkeit der Bestellung gemäß § 134 BGB.145) Im Fall des späteren Eintritts der Vorstandsunfähigkeit erlischt die Organstellung, ohne dass es einer gesonderten Abberufung bedarf.146) Bei nachfolgendem Wegfall des Bestellungshindernisses lebt die Organstellung nicht wieder auf.147) Es ist eine erneute Bestellung vorzunehmen. Die Löschung der Eintragung des Vorstandsmitglieds im Handelsregister erfolgt von Amts wegen.148) Im Außenverhältnis kommt bei einem weiterhin eingetragenen Mitglied eine Rechtsscheinhaftung gemäß § 15 HGB in Betracht.149) 69 Aus der anfänglichen Verletzung oder dem späteren Wegfall statuarischer Voraussetzungen folgt nicht die Nichtigkeit der Bestellung.150) Der Aufsichtsrat hat in diesem Fall das Recht und die Pflicht, die Bestellung mit Wirkung ex nunc aus wichtigem Grund gemäß § 84 Abs. 3 Satz 1 zu widerrufen.151) 3.

Bestellungshindernisse

70 In § 76 Abs. 3 Satz 2 und 3 sind drei verschiedene Arten von Bestellungshindernissen geregelt. Ein Verstoß gegen diese Normen führt ebenfalls gemäß § 134 BGB zur Nichtigkeit

_____________ 141) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 76 Rz. 129; May, Die Sicherung des Familieneinflusses auf die Führung der börsengehandelten Aktiengesellschaft, 1992, S. 99 f. 142) Geßler in: FS Luther, S. 82; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 20 Rz. 6. 143) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 76 Rz. 116; Hommelhoff, BB 1977, 322, 324 f.; Lutter/Krieger/ Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 341; so noch Grigoleit-Vedder, AktG, 1. Aufl. 2013, § 76 Rz. 54. 144) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 76 Rz. 129; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 76 Rz. 61; GrigoleitGrigoleit, AktG, § 76 Rz. 116. 145) BayObLG, Beschl. v. 18.7.1991 – BReg. 3 Z 133/90, BB 1991, 1729, 1730; Hölters-Weber, AktG, § 76 Rz. 79. 146) BGH, Urt. v. 1.7.1991 – II ZR 292/90, BGHZ 115, 78, 80 = ZIP 1991, 1002 – zur GmbH; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 20 Rz. 8. 147) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 149. 148) OLG Naumburg, Beschl. v. 10.11.1999 – 7 Wx 7/99, GmbHR 2000, 378, 379 = ZIP 2000, 622 – zur GmbH. 149) BGH, Urt. v. 1.7.1991 – II ZR 292/90, BGHZ 115, 78, 80 = ZIP 1991, 1002 – zur GmbH; HöltersWeber, AktG, § 76 Rz. 79. 150) Kort in: GroßKomm-AktG, § 76 Rz. 277; für zumindest diskutabel hält die Nichtigkeitsfolge bei offensichtlichem Verstoß dagegen Hölters-Weber, AktG, § 76 Rz. 80. 151) Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 20 Rz. 9; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 139.

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§ 76

Leitung der Aktiengesellschaft

der Bestellung.152) Bei späterem Eintreten des Ausschlussgrundes erlischt die Organstellung ohne Abberufung.153) Gemäß § 76 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 können Personen, die gemäß § 1896 BGB unter Betreu- 71 ung stehen und bei Besorgung ihrer Vermögensangelegenheiten ganz oder teilweise einem Einwilligungsvorbehalt gemäß § 1903 BGB unterliegen, nicht Vorstandsmitglieder sein. § 76 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 regelt den Fall eines durch gerichtliches Urteil (§ 70 StGB) oder 72 vollziehbare behördliche Entscheidung auferlegten Berufs- oder Gewerbeverbots. Der Adressat des Verbots kann kein Vorstandsamt wahrnehmen, sofern der Gegenstand des Verbots zumindest teilweise mit dem Unternehmensgegenstand übereinstimmt. Nach dem durch das Gesetz zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG)154) mit Wirkung zum 1.8.2022 eingefügten Absatz 3 Satz 3, der nach § 26m EGAktG erstmals ab 1.8.2023 anzuwenden ist, gilt Satz 2 Nr. 2 entsprechend, wenn die Person in einem anderen Mitgliedstaat der EU oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den EWR einem vergleichbaren Verbot unterliegt. Schließlich darf keine Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Straftat aus dem Katalog 73 des § 76 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 vorliegen. Auch vergleichbare, vorsätzlich begangene Straftaten im Ausland stehen gemäß Absatz 3 Satz 3 (ab Inkrafttreten der Änderungen durch das DiRUG dann Satz 4) einem Vorstandsamt entgegen.155) Der Ausschluss greift für die Dauer von fünf Jahren ab Rechtskraft des Urteils.156) VI.

Mindestbeteiligungsgebot (§ 76 Abs. 3a)

1.

Überblick und zeitliche Geltung

Durch das FüPoG II157) wurde mit Absatz 3a erstmals ein zwingendes Mindestbeteiligungs- 74 gebot für Vorstandsmitglieder männlichen und weiblichen Geschlechts eingeführt. Der Gesetzgeber reagiert damit darauf, dass nach seiner Auffassung die bisherige Regelung des § 111 Abs. 5, die die Anzahl weiblicher Vorstandsmitglieder über Transparenz und eigene Zielsetzungen der Gesellschaften erhöhen sollte, nicht bzw. nicht schnell genug zu der gewünschten Steigerung des Frauenanteils geführt hat.158) Nach der Regierungsbegründung soll die Regelung auch dazu beitragen, dass deutsche kapitalmarktorientierte Unternehmen im internationalen Vergleich eine Vorbildrolle einnehmen.159) Gemäß § 26l Abs. 1 EGAktG ist es erstmals 1.8.2022 bei der Bestellung von Vorstands- 75 mitgliedern anzuwenden. Bestehende Mandate können bis zu ihrem vorgesehenen Ende wahrgenommen werden.

_____________ 152) BayObLG, Beschl. v. 16.7.1982 – BReg 3 Z 74/82, BB 1982, 1508 – zur GmbH; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 76 Rz. 126. 153) OLG München, Beschl. v. 3.3.2011 – 31 Wx 51/11, ZIP 2011, 1669; BGH, Urt. v. 1.7.1991 – II ZR 292/90, BGHZ 115, 78, 80 = ZIP 1991, 1002 – jeweils zur GmbH; Hölters-Weber, AktG, § 76 Rz. 79. 154) Gesetz zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) v. 5.7.2021, BGBl. I 2021, 3338. 155) OLG München, Beschl. v. 18.6.2014 – 31 Wx 250/14, NJW-RR 2014, 1381 = GmbHR 2014, 869 – zur GmbH. 156) Vgl. BGH, Beschl. v. 7.6.2011 – II ZB 24/10, ZIP 2011, 1305 = DNotZ 2011, 790, dazu EWiR 2011, 935 (Melchior) – zur GmbH. 157) Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (Zweites Führungspositionengesetz – FüPoG II) v. 7.8.2021, BGBl. I 2021, 3311. 158) Steiner, NZG 2021, 276, 277. 159) Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 81.

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§ 76 2.

Leitung der Aktiengesellschaft Anwendungsbereich

76 Die Vorschrift gilt zunächst generell nur für AGs, die kumulativ börsennotiert sind und der Mitbestimmung entweder nach dem MitbestG, dem Montan-MitbestG oder dem Montan-MitbestErgG unterliegen. Nicht anwendbar ist sie danach auf AGs, für die nur das DrittelbG gilt. Die Börsennotierung richtet sich nach § 3 Abs. 2. 77 Fraglich ist, ob es für den Mitbestimmungsstatus auf den Ist- oder den Soll-Zustand ankommt. Diese können auseinanderfallen, etwa wenn nach Überschreiten der Schwelle von 2.000 Mitarbeitern des MitbestG kein Statusverfahren durchgeführt wird. Nach h. M. kommt es für die Parallelregelung in Absatz 4 aus Gründen der Rechtssicherheit und zur Vermeidung von Konflikten mit dem Statusverfahren auf den Ist-Zustand an. Für Absatz 3a könnte der von Absatz 4 (dort „unterliegen“) abweichende Wortlaut „gilt“ auf die Maßgeblichkeit des Sollzustands hindeuten.160) Allerdings greift das Argument der Rechtssicherheit auch bei Absatz 3a. Denn die Ermittlung etwa der Mitarbeiterschwelle unterliegt tatsächlicher und rechtlicher Unsicherheit und die Nichtigkeit der Bestellung eines Vorstandsmitglieds ist eine sehr scharfe Sanktion. Auch wäre ein Hinweis in der Gesetzesbegründung zu erwarten gewesen, wenn der Gesetzgeber eine abweichende Behandlung gegenüber Absatz 4 hätte erreichen wollen. Dies spricht dafür, auch bei Absatz 3a auf den Ist-Zustand abzustellen. Allerdings sollte in der Praxis vorsichtshalber der Sollzustand zugrunde gelegt werden. 78 Weiterhin greift Absatz 3a nur ein, wenn der Vorstand aus mehr als drei, also mindestens vier Personen besteht. Maßgeblich ist die tatsächliche Anzahl an Vorstandsmitgliedern, nicht die nach der Satzung vorgesehene Anzahl.161) Da § 76 Abs. 3a jeweils nur bei einem Bestellungsakt relevant wird (hierzu sogleich) kommt es in der Praxis darauf an, ob der Vorstand nach Vollzug des jeweiligen Bestellungsakts aus mehr als drei Personen bestehen würde. 3.

Wirkung

79 Unterfällt eine AG dem Anwendungsbereich, so müssen mindestens eine Frau und mindestens ein Mann Mitglied des Vorstands sein. Nach Absatz 3a Satz 2 ist eine Bestellung eines Vorstandsmitglieds unter Verstoß gegen dieses Beteiligungsgebot nichtig. Es gibt keine Ausnahmeregelung etwa in Form eines Vorbehalts, dass geeignet qualifizierte Kandidaten zur Verfügung stehen, oder einer Ausnahme für Krisensituationen.162) Vielmehr bleiben die allgemeinen Pflichten des Aufsichtsrats zur Auswahl qualifizierter Mitglieder des Vorstands von der Regelung unberührt und sind daneben zu beachten.163) 80 Die Nichtigkeitsfolge greift immer dann ein, wenn nach einem Bestellungsakt der Vorstand entgegen dem Mindestbeteiligungsgebot nach Absatz 3a Satz 1 zusammengesetzt wäre, also aus mehr als drei Personen bestünde, von denen nicht mindestens eine eine Frau und mindestens eine ein Mann ist. Wenn mehrere Vorstandsmitglieder in einem einheitlichen Bestellungsakt bestellt werden und im Anschluss das Mindestbeteiligungsgebot nicht erfüllt wäre, ist die Bestellung aller zusammen bestellten Vorstandsmitglieder nichtig.164) 81 Von der Nichtigkeitsfolge potentiell erfasste Bestellungsakte sind nicht nur die erstmalige Besetzung eines neu geschaffenen Vorstandspostens, sondern, wie die Regierungsbegrün_____________ 160) 161) 162) 163) 164)

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So Steiner, NZG 2021, 276, 278. Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 82. Kritisch insoweit: Seibt, DB 2021, 438, 442 f.; so auch Leydecker/Bahlinger, NZG 2020, 1212, 1216. Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 81; Spindler, WM 2021, 817, 820. Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 82.

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§ 76

Leitung der Aktiengesellschaft

dung ausdrücklich klarstellt,165) auch die Wiederbesetzung eines bestehenden Postens. Wenngleich die Gesetzesbegründung darauf nicht ausdrücklich eingeht, dürfte auch die wiederholte Bestellung desselben Vorstandsmitglieds erfasst sein, da es sich dabei ebenfalls um eine Bestellung eines Vorstandsmitglieds handelt.166) Nicht ganz klar erscheint nach Wortlaut und Regierungsbegründung, ob auch die Verlängerung der Amtszeit eines Vorstandsmitglieds (vgl. § 76 Abs. 1 Satz 2) erfasst ist. Angesichts der gravierenden Rechtsfolge sollte davon aber in der Praxis vorsichtshalber ausgegangen werden. Das nachträgliche Ausscheiden von Vorstandsmitgliedern berührt die Wirksamkeit der 82 Bestellung der verbleibenden Vorstandsmitglieder nicht, auch wenn dadurch das Mindestbeteiligungsgebot nicht mehr gewahrt ist.167) Dies gilt auch, wenn dieser Zustand – etwa aufgrund der geltenden Amtszeiten – vorauszusehen war. Vielmehr wird das Mindestbeteiligungsgebot erst beim nächsten Bestellungsakt wieder relevant. Dennoch kann das unvorhergesehene Ausscheiden eines Vorstandsmitglieds in der Praxis zu großen Schwierigkeiten führen: Besteht etwa ein Vorstand aus drei Männern und einer Frau und scheidet die Frau unvorhergesehen und kurzfristig aus dem Vorstand aus, ist die Wiederbestellung der weiteren Vorstandsmitglieder bei Auslaufen ihrer Amtszeit nicht möglich, bevor nicht wieder eine Frau bestellt wurde. Das kann etwa dazu führen, dass solange der für das Unternehmen wichtige CEO nicht wiederbestellt werden kann. Der Aufsichtsrat sollte daher durch eine besonders sorgfältige Nachfolgeplanung auf solche Situationen vorbereitet sein. In dem Fall, dass der Vorstand aufgrund des Ausscheidens eines Mitglieds des unterreprä- 83 sentierten Geschlechts oder weil seit der Anwendbarkeit der Regelung noch kein erneuter Bestellungsakt stattgefunden hat, entgegen § 76 Abs. 3a Satz 1 zusammengesetzt ist, stellt sich die Frage, ob den Aufsichtsrat eine Pflicht trifft, unabhängig von einem anstehenden Bestellungsakt eine Besetzung im Einklang mit dem Mindestbeteiligungsgebot herbeizuführen, also ein aktuelles Vorstandsmitglied auszutauschen oder ein zusätzliches Mitglied des nicht vertretenen Geschlechts zu bestellen. Hiergegen spricht die Regierungsbegründung, die für den Fall des Wegfalls des letzten Mitglieds des unterrepräsentierten Geschlechts ausdrücklich ausführt, dass die „rechtmäßige Zusammensetzung“ des Vorstands dadurch nicht nachträglich unwirksam werde. Vielmehr verweist die Regierungsbegründung wiederum nur auf den nächsten Bestellungsakt. In die gleiche Richtung deutet die Formulierung der Gesetzesbegründung, Absatz 3a Satz 1 (sic) stelle eine weitere persönliche Voraussetzung für zu bestellende Vorstandsmitglieder auf. Daher ist davon auszugehen, dass der Aufsichtsrat nicht verpflichtet ist, außerhalb des nächsten anstehenden Bestellungsaktes die Vorstandszusammensetzung zu ändern, um das Mindestbeteiligungsgebot umzusetzen. In § 289f Abs. 2 Nr. 5a HGB wurde durch das FüPoG II eine Berichtspflicht über die 84 Einhaltung des Mindestbeteiligungsgebots eingeführt. VII. Verpflichtung zur Festlegung von Zielgrößen für den Frauenanteil in Führungsebenen (§ 76 Abs. 4) 1.

Regelungsgegenstand und Regelungszweck

§ 76 Abs. 4 normiert eine Pflicht des Vorstands börsennotierter oder mitbestimmter AGs 85 zur Festlegung von Zielgrößen für den Frauenanteil in den beiden Führungsebenen unterhalb des Vorstands. Die Vorschrift wurde durch das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im _____________ 165) Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 82. 166) Ebenso Spindler, WM 2021, 817, 820; Seibt, DB 2021, 438, 443. 167) Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 82.

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§ 76

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öffentlichen Dienst (FüPoG) vom 24.4.2015 neu in das Gesetz aufgenommen. Langfristiges Ziel des Gesetzgebers ist eine paritätische Besetzung mit Männern und Frauen.168) § 76 Abs. 4 sieht jedoch keine Mindestzielgröße vor. Bereits durch die Pflicht zur Festlegung und deren Veröffentlichung i. R. der Berichts- und Veröffentlichungspflichten des Unternehmens sollen Defizite aufgedeckt und Verantwortlichkeiten zugewiesen werden.169) Die Norm wurde nicht geschlechtsneutral formuliert, sondern betrifft nur die Festlegung von Zielgrößen für den Frauenanteil.170) Nach Satz 1 wurden durch das FüPoG II die Sätze 2 bis 4 n. F. neu eingefügt.171) 2.

Pflicht zur Festlegung von Zielgrößen und Fristen

a)

Betroffene Gesellschaften und Führungsebenen

86 Von der Pflicht des Absatz 4 betroffen sind nur börsennotierte oder mitbestimmte AGs. Ob eine Gesellschaft börsennotiert ist, richtet sich nach § 3 Abs. 2 (siehe § 3 Rz. 7). Der „Mitbestimmung“ unterliegen nicht nur Gesellschaften nach dem MitbestG, MontanMitbestG oder Montan-MitbestErgG, sondern auch drittelparitätisch mitbestimmte Gesellschaften.172) Betriebliche Mitbestimmung nach dem BetrVG reicht dagegen nicht aus.173) Gemäß § 278 Abs. 3 trifft die Pflicht des § 76 Abs. 4 auch die Geschäftsführung einer KGaA.174) Nach zutreffender Auffassung kommt es hinsichtlich der Mitbestimmung auf den Ist-Zustand der Zusammensetzung des Aufsichtsrats und nicht darauf an, ob ein mitbestimmter Aufsichtsrat zu bilden wäre.175) 87 Die von den Festlegungen des Vorstands betroffenen beiden Führungsebenen unterhalb des Vorstands sind nach der Begründung des Gesetzesentwurfs nicht nach betriebswirtschaftlichen Lehren (Top-Management, Middle-Management und Low-Management) zu definieren, sondern meinen die tatsächlich im konkreten Unternehmen eingerichteten Hierarchieebenen unterhalb des Vorstands.176) Da es für den Unternehmensbegriff jeweils auf die Einzelgesellschaft ankommt, scheidet eine Betrachtung konzernweiter Hierarchieebenen aus.177) Dies bedeutet auch, dass eine Festlegung von Konzernzielen nicht automatisch für die Pflichterfüllung der jeweiligen Einzelgesellschaft ausreicht.178) In einer reinen Holding ohne eine Ebene mit Führungsverantwortung unterhalb des Vorstands besteht keine Festlegungspflicht.179) Bei der Festlegung der Führungsebenen hat das jeweilige Unternehmen einen weiten Gestaltungsspielraum.180) Kriterien der Beurteilung können _____________ 168) Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 119. 169) Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 119. 170) Dazu kritisch: Habersack/Kersten, BB 2014, 2819, 2828; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 66; Fromholzer/Simons, AG 2015, 457, 461. 171) Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (Zweites Führungspositionengesetz – FüPoG II) v. 7.8.2021, BGBl. I 2021, 3311. 172) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 151; Wasmann/Rothenburg, DB 2015, 291, 294. 173) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 67; Mense/Klie, GWR 2015, 1, 4. 174) Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG, BT-Drucks. 18/4227, S. 22. 175) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 67; Kort in BeckOGK-AktR, § 76 AktG Rz. 323 f.; Fromholzer/ Simons AG 2015, 457, 458; Röder/Arnold, NZA 2015, 1281, 1282 f. 176) Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 119. 177) Wasmann/Rothenburg, DB 2015, 291, 294. 178) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 76 Rz. 72. 179) Wasmann/Rothenburg DB 2015, 291, 294. 180) Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG, BT-Drucks. 18/4227, S. 21; Thüsing/Fütterer, NZG 2015, 778, 779.

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bspw. das Vorliegen einer Berichtslinie direkt an den Vorstand, Verantwortung für Mitarbeiter oder Budget, Erteilung von Vollmacht und Prokura, Teilnahme an Führungskreissitzungen sowie an Führungskräfte-Beteiligungs- bzw. Bonus-Programmen sein.181) Ob auch Führungskräfte außerhalb Deutschlands erfasst sind, wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt.182) Der offene Wortlaut sowie der Zweck der Norm sprechen für eine Einbeziehung. b)

Zielgrößen und Fristen

Die Festlegung erfolgt durch Beschluss. Ein Betriebsrat muss gemäß § 92 Abs. 3 BetrVG 88 vor der endgültigen Festlegung informiert werden.183) Die Zielgrößen werden üblicherweise in Prozentzahlen ausgedrückt.184) Auch eine Angabe in absoluten Zahlen ist möglich, bloße Beschreibungen wie „angemessen“ oder durchschnittlich“ reichen dagegen nicht aus.185) Die noch im Regierungsentwurf zum FüPoG II enthaltene Pflicht, auch eine Zielgröße in Form einer Zahl von Personen anzugeben, ist entfallen. Nach dem durch das FüPoG II neu eingeführten Satz 2 müssen die Zielgrößen den ange- 89 strebten Frauenanteil an der jeweiligen Führungsebene beschreiben und bei Angaben in Prozent vollen Personenzahlen entsprechen. Dadurch soll verhindert werden, dass zwar eine Prozentzahl größer Null festgelegt wird, diese aber durch Rundung dennoch zu einer Zielbesetzung ohne Frauen führt.186) Bei der Festlegung der Prozentzahl soll nach der Begründung zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Besetzung der jeweiligen Führungsebene zugrunde gelegt werden, wie sie für das Ende des Festlegungszeitraums angenommen wird.187) Ergibt sich dann tatsächlich eine andere Entwicklung, so dass die prozentuale Zielgröße keiner vollen Personenzahl mehr entspricht, wird die Festlegung nicht nachträglich unzulässig. In diesem Fall gelten die Rundungsregeln des § 96 Abs. 2 Satz 4 (siehe unten § 96 Rz. 13). Nach der Neuregelung durch das FüPoG II muss die Festlegung des Frauenanteils an der jeweiligen Führungsebene gesondert erfolgen.188) Da eine Mindestzielgröße nicht gesetzlich vorgesehen ist, können die Unternehmen sich 90 Zielvorgaben unter Berücksichtigung ihrer Unternehmensstruktur selbst setzen.189) Auch eine Zielgröße Null ist grundsätzlich möglich.190) Dies bleibt auch unter der durch das FüPoG II geänderten Regelung der Fall. Allerdings sieht diese in den neu eingefügten Sätzen 3 und 4 eine Begründungspflicht für eine solche Festlegung vor. Nach der Regierungsbegründung zum FüPoG II soll eine Zielgröße von Null die Ausnahme sein und die Begründung zur Festlegung soll diesem Ausnahmecharakter Rechnung tragen.191) Die Begründung müsse erkennen lassen, welche Umstände der Vorstand gewürdigt und wie er _____________ 181) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 68; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 76 Rz. 72; Seibt, ZIP 2015, 1193, 1206; Thüsing/Fütterer, NZG 2015, 778, 779; Wasmann/Rothenburg DB 2015, 291, 294. 182) Für Einbeziehung: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 68; Fromholzer/Simons, AG 2015, 457, 458; Teichmann/Rüb, BB 2015, 898, 902; a. A. Thüsing/Fütterer, NZG 2015, 778, 781 f. 183) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 70; a. A. Röder/Arnold, NZA 2015, 1281, 1287 f. 184) Vgl. Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 119. 185) Schulz/Ruf, BB 2015, 1155, 1161. 186) Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG II, BT-Drucks. 19/30514, S. 20. 187) Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG II, BT-Drucks. 19/30514, S. 20. 188) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 76 Rz. 73; a. A. Fromholzer/Simons, AG 2015, 457, 463; Schulz/Ruf, BB 2015, 1155, 1161. 189) Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 119. 190) Fromholzer/Simons, AG 2015, 457, 460; Teichmann/Rüb, BB 2015, 898, 902 f. 191) Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 83.

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sie gewichtet habe.192) Der Detailgrad der Be-gründung könne jedoch, solange diese Anforderungen berücksichtigt werden, im Einzelfall variieren.193) In jedem Fall aber müsse die Begründung so ausführlich sein, dass sie als Grundlage der Angaben nach § 289f Abs. 2 Nr. 4 HGB, ggf. i. V. m. § 289f Abs. 4 HGB, eine gewissenhafte Entscheidung für die Öffentlichkeit plausibel macht.194) Eine Begründung von 100 bis 150 Wörtern sollte nach der Regierungsbegründung im Regelfall diesen Vorgaben genügen.195) In die Begründung müssen keine Angaben aufgenommen werden, durch die der Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen oder die Einhaltung von Vertraulichkeitsvereinbarungen gefährdet würden.196) 91 Die Regierungsbegründung regt an, Ausführungen zu Personalstruktur, Personalstrategie, Maßnahmen zur Personalgewinnung, Beteiligung von Personalvertretern, insbesondere aus dem Bereich Gleichstellung, aufzunehmen und eine Einordnung in das Gesamtkonzept der Frauenförderung im Unternehmen vorzunehmen.197) 92 Nach der Regierungsbegründung zum FüPoG II müsse die Begründung im gleichen Beschluss des Vorstands wie die Festlegung der Zielgröße erfolgen.198) 93 Bei der Festlegung der Zielgröße gilt ein Verschlechterungsverbot. Liegt der Frauenanteil bei der Festlegung der Zielgröße unter 30 %, so dürfen künftige Zielgrößen den jeweils erreichten Anteil gemäß Absatz 4 Satz 5 nicht mehr unterschreiten. Bei einem Frauenanteil von 30 % oder mehr im Zeitpunkt der Festlegung ist eine Verschlechterung dagegen zulässig.199) Das Verschlechterungsgebot greift erst wieder, wenn der tatsächliche Wert unter 30 % fällt. Für die Festlegung des erreichten Anteils ist der Zeitpunkt der Beschlussfassung über die Festlegung der Zielvorgaben entscheidend.200) Das Verschlechterungsverbot gilt hingegen nicht im Verhältnis zu einem früher festgelegten Zielwert. Liegt also der tatsächliche Wert unter der zuvor festgelegten Zielgröße, kann diese bis auf den tatsächlichen Wert herabgesetzt werden. 94 Die Zielgrößenvorgabe gemäß Absatz 4 birgt Unsicherheiten hinsichtlich des Verhältnisses zum AGG.201) In der Praxis sollte vorsorglich darauf geachtet werden, keine AGGwidrige Formulierung bei der Festsetzung zu verwenden.202) 95 Gemäß Absatz 4 Satz 6 sind gleichzeitig Fristen für die Erreichung der Zielgrößen festzulegen. Nach der Übergangsvorschrift des § 25 Abs. 1 EGAktG durfte die erstmalig bis spätestens 30.9.2015 festzulegende Frist nicht länger als bis zum 30.6.2017 dauern. Fristen, die für den Zeitraum danach festgelegt werden, dürfen gemäß Absatz 4 Satz 7 nicht länger als fünf Jahre sein. Eine Änderung der Zielgröße vor Fristablauf ist grundsätzlich zulässig.203)

_____________ 192) 193) 194) 195) 196) 197) 198) 199) 200) 201) 202) 203)

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Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 83. Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 83. Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 83. Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 83. Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 83. Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 83. Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 83. Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 119. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 70; Wasmann/Rothenburg, DB 2015, 291, 295. Eingehend: Olbrich/Krois, NZA 2015, 1288 ff. Olbrich/Krois, NZA 2015, 1288, 1290; vgl. auch Hohenstatt/Willemsen/Naber, ZIP 2014, 2220, 2224. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 69.

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§ 76

Leitung der Aktiengesellschaft c)

Berichts- und Veröffentlichungspflichten

Gesellschaften, die zur Abgabe einer Erklärung zur Unternehmensführung verpflichtet 96 sind (also insbesondere börsennotierte AGs) haben gemäß § 289f Abs. 2 Nr. 4 HGB die Festlegung der Zielgrößen und die Fristbestimmungen sowie Angaben aufzunehmen, ob die festgesetzte Zielgröße während des Bezugszeitraums erreicht worden ist oder aus welchen Gründen dies nicht der Fall war. Außerdem ist die Begründung für die Festlegung einer Zielgröße von Null aufzunehmen. Dies entspricht dem „Comply-or-Explain“Prinzip des § 161 Abs. 1. Angaben zur Erreichung der gesetzten Zielgrößen sind dabei nur am Ende des Planungszeitraums zu machen, so dass Zwischenberichte nicht erforderlich sind.204) Die Erklärung zur Festlegung und Fristbestimmung erfolgt jährlich. Hat eine Gesellschaft keine Führungsebene unter dem Vorstand und können daher keine Führungsebenen definiert werden, ist dies im Bericht anzugeben.205) Die Erklärung zur Unternehmensführung, die die Angaben im Zusammenhang mit Absatz 4 97 enthält, ist als Teil des Lageberichts abzugeben. Gesellschaften, die keine Erklärung zur Unternehmensführung abgeben müssen, aber nach Absatz 3a dem Mindestbeteiligungsgebot unterliegen oder gemäß Absatz 4 Zielgrößen festlegen müssen, sind gemäß § 289f Abs. 4 HGB grundsätzlich dazu verpflichtet, die Angaben in einem gesonderten Abschnitt des Lageberichts darzustellen. Gesellschaften, die nicht zur Offenlegung eines Lageberichts verpflichtet sind, haben nach § 289f Abs. 4 Satz 3, 4 HGB die Wahl zwischen einer Veröffentlichung auf der Internetseite der Gesellschaft oder der Veröffentlichung eines Lageberichts. Auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung im Internet fällt mit der Erstellung und Veröffentlichung des Jahresabschlusses zusammen.206) 3.

Rechtsfolgen bei Verstößen

Die Nichterreichung der Zielgröße führt zu keinen gesetzlichen Sanktionen. Diese wären 98 nach dem Willen des Gesetzgebers kontraproduktiv, da sie den Fehlanreiz vermitteln würden, sich vorsichtige und wenig ehrgeizige Ziele zu setzen.207) Aufgrund des bewussten Sanktionsverzichts kann sich aus einer Nichterreichung der Zielgröße auch kein Anlass für eine Haftung aus § 93 Abs. 2 oder eine Anfechtung der Entlastung ergeben.208) Eine unterlassene oder fehlerhafte Festsetzung, insbesondere bei einem Verstoß gegen 99 das Verschlechterungsverbot, stellt zwar eine Pflichtverletzung im Verhältnis zur Gesellschaft dar, eine Haftung wird aber regelmäßig am fehlenden Schaden scheitern.209) Eine vorsätzliche Verletzung der Berichtspflichten nach § 289f HGB ist eine Ordnungswidrigkeit gemäß § 334 Abs. 1 Nr. 3a HGB. Gemäß § 30 Abs. 1 OWiG kann in diesem Fall eine Geldbuße gegen die Gesellschaft verhängt werden.

_____________ 204) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG, BT-Drucks. 18/4227, S. 26. 205) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG, BT-Drucks. 18/4227, S. 22. 206) Fromholzer/Simons, AG 2015, 457, 465. 207) Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 120. 208) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 72. 209) Seibt in: Hohenstatt/Seibt, Geschlechter- und Frauenquote, S. 129.

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§ 77

Geschäftsführung

§ 77 Geschäftsführung Simon Link

(1) 1Besteht der Vorstand aus mehreren Personen, so sind sämtliche Vorstandsmitglieder nur gemeinschaftlich zur Geschäftsführung befugt. 2Die Satzung oder die Geschäftsordnung des Vorstands kann Abweichendes bestimmen; es kann jedoch nicht bestimmt werden, daß ein oder mehrere Vorstandsmitglieder Meinungsverschiedenheiten im Vorstand gegen die Mehrheit seiner Mitglieder entscheiden. (2) 1Der Vorstand kann sich eine Geschäftsordnung geben, wenn nicht die Satzung den Erlaß der Geschäftsordnung dem Aufsichtsrat übertragen hat oder der Aufsichtsrat eine Geschäftsordnung für den Vorstand erläßt. 2Die Satzung kann Einzelfragen der Geschäftsordnung bindend regeln. 3Beschlüsse des Vorstands über die Geschäftsordnung müssen einstimmig gefaßt werden. Literatur: Bezzenberger, Der Vorstandsvorsitzende der Aktiengesellschaft, ZGR 1996, 661; BuckHeeb, Ressortaufteilung und Haftung von Geschäftsführern, BB 2019, 584; Bürkle, Der Stichentscheid im zweiköpfigen AG-Vorstand, AG 2012, 232; Fleischer, Ressortverteilung zwischen GmbH-Geschäftsführern: Das Weltruf-Urteil des BGH, DB 2019, 472; Fleischer, Vorstandsverantwortlichkeit in Spartenorganisation und virtueller Holding, BB 2017, 2499; Fleischer, Zur Verantwortlichkeit einzelner Vorstandsmitglieder bei Kollegialentscheidungen im Aktienrecht, BB 2004, 2645; Fleischer, Zum Grundsatz der Gesamtverantwortung im Aktienrecht; NZG 2003, 449; Froesch, Managerhaftung – Risikominimierung durch Delegation, DB 2009, 722; Götz, Die Überwachung der Aktiengesellschaft im Lichte jüngerer Unternehmenskrisen, AG 1995, 337; Hoffmann-Becking, Haftungsbeschränkung durch Geschäftsverteilung in Geschäftsführung und Vorstand, NZG 2021, 93; Hoffmann-Becking, Zur rechtlichen Organisation der Zusammenarbeit im Vorstand der AG, ZGR 1998, 497; Hohenegg/Tauschek, Rechtliche Problematik digitaler Signaturverfahren, BB 1997, 1541; Immenga, Zuständigkeiten des mitbestimmten Aufsichtsrats, ZGR 1977, 249; Kust, Zur Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters, WM 1980, 758; Langer/Peters, Rechtliche Möglichkeiten einer unterschiedlichen Kompetenzzuweisung an einzelne Vorstandsmitglieder, BB 2012, 2575; Leuering/ Dornhegge, Geschäftsverteilung zwischen GmbH-Geschäftsführern; NZG 2010, 13; Löwisch, Stimmenthaltungen sind keine Nein-Stimmen, BB 1996, 1006; Martens, Der Grundsatz gemeinsamer Vorstandsverantwortung, in: Festschrift für Hans-Joachim Fleck 1988, S. 191; Nietsch, Überwachungspflichten bei Kollegialorganen, ZIP 2013, 1449; Priester, Stichentscheid bei zweiköpfigem Vorstand, AG 1984, 253; Schiessl, Gesellschafts- und mitbestimmungsrechtliche Probleme der Spartenorganisation (Divisionalisierung), ZGR 1992, 64; Schneider, U. H., Die Geschäftsordnung der GmbH-Geschäftsführer – Überlegungen zu einem GmbH-Innenrecht, in: Festschrift für Otto Mühl, 1981, S. 633; Schwark, Spartenorganisation in Großunternehmen und Unternehmensrecht, ZHR 142 (1978) 203; Simons/Hanloser, Vorstandsvorsitzender und Vorstandssprecher, AG 2010, 641; Wicke, Der CEO im Spannungsverhältnis zum Kollegialprinzip – Gestaltungsüberlegungen zur Leitungsstruktur der AG, NJW 2007, 3755; Wolf, Wider eine Misstrauenspflicht im Kollegialorgan Vorstand, VersR 2005, 1042.

Übersicht I. Regelungsgegenstand und Regelungszweck ................................ 1 II. Geschäftsführungsaufgabe des Vorstands .................................... 2 III. Grundsatz der Gesamtgeschäftsführung (§ 77 Abs. 1 Satz 1) ........................... 4 550

1. Gemeinschaftlicher Vorstandsbeschluss ............................................. 4 2. Zustimmungserklärung ...................... 5 3. Stimmverbote ...................................... 6 4. Wirksamkeit des Beschlusses ............. 7 IV. Abweichende Bestimmungen (§ 77 Abs. 1 Satz 2) ............................ 9

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§ 77

Geschäftsführung 1. 2. 3. V. I.

Gestaltungsgrenzen .......................... 10 Geschäftsverteilung .......................... 14 Mehrheitsprinzip .............................. 18 Geschäftsordnung (§ 77 Abs. 2) .... 19

1. Erlasskompetenz .............................. 19 2. Form und Regelungsgegenstand ..... 21 3. Mitbestimmte Gesellschaften .......... 23

Regelungsgegenstand und Regelungszweck

Die Vorschrift regelt die Geschäftsführung durch den Vorstand und trifft damit auch eine 1 entsprechende Kompetenzzuweisung.1) Grundsätzlich gilt gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 das Prinzip der Gesamtgeschäftsführung. Da dieser Grundsatz gemäß § 77 Abs. 1 Satz 2 dispositiv ist, können die Satzung oder die Geschäftsordnung in bestimmten Grenzen davon abweichen. § 77 Abs. 2 normiert die Erlasskompetenz und den Regelungsgegenstand hinsichtlich einer Geschäftsordnung für den Vorstand. II.

Geschäftsführungsaufgabe des Vorstands

Geschäftsführung ist jegliches Handeln für die Gesellschaft, sowohl rechtsgeschäftlicher 2 als auch tatsächlicher Art.2) Die Leitung der Gesellschaft ist ein herausgehobener Teil der Geschäftsführung und in § 76 Abs. 1 speziell geregelt (siehe oben § 76 Rz. 4). Abzugrenzen ist die Geschäftsführung von der Vertretung der Gesellschaft gemäß § 78. Die Wirksamkeit eines Rechtsgeschäfts im Außenverhältnis gegenüber Dritten hängt von der Vertretungsmacht ab, während die Berechtigung des Vorstands im Innenverhältnis eine Frage der Geschäftsführung ist.3) Die Unterscheidung der Geschäftsführung von Grundlagengeschäften, die der Hauptversammlung vorbehalten sind, ist im Aktienrecht aufgrund des Katalogs in § 119 Abs. 1 weniger relevant. Zu den ungeschriebenen Hauptversammlungszuständigkeiten nach der Holzmüller/Gelatine-Rechtsprechung bedarf es aber einer Abgrenzung.4) Eine Kompetenz des Vorstands zur Geschäftsführung beinhaltet bereits § 77.5) Darüber 3 hinaus ergibt sich diese auch aus der Systematik der §§ 83, 90, 91, 92, die dem Vorstand bestimmte Geschäftsführungspflichten zuweisen. III.

Grundsatz der Gesamtgeschäftsführung (§ 77 Abs. 1 Satz 1)

1.

Gemeinschaftlicher Vorstandsbeschluss

Besteht der Vorstand aus einer Person, ist diese allein geschäftsführungsberechtigt.6) Bei 4 mehrköpfigen Vorständen sind grundsätzlich sämtliche Vorstandsmitglieder nur gemeinschaftlich zur Geschäftsführung befugt. Dies gilt auch in mitbestimmten Gesellschaften.7) Eine gesetzliche Ausnahmeregelung findet sich in § 121 Abs. 2 Satz 1 für die Einberufung zur Hauptversammlung durch den Vorstand mit einfacher Mehrheitsentscheidung. Im Regelfall des § 77 Abs. 1 Satz 1 ist dagegen ein einstimmiger Beschluss erforderlich.8) Dieser kann ausdrücklich oder konkludent gefasst werden.9) Beschlüsse sind auch fernmündlich _____________ 1) 2) 3) 4)

5) 6) 7) 8) 9)

K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 77 Rz. 1; Hölters-Weber, AktG, § 77 Rz. 1. Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 2 Rz. 29; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 77 Rz. 2. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 77 Rz. 3; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 77 Rz. 6. BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 (Holzmüller), BGHZ 83, 122, 131 = ZIP 1982, 568; BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 (Gelatine II), ZIP 2004, 1001 = NZG 2004, 575, dazu EWiR 2004, 1161 (Hirte). S. § 119 Rz. 18 ff. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 77 Rz. 1; Hölters-Weber, AktG, § 77 Rz. 1. Spindler in: MünchKomm-AktG, § 77 Rz. 9. Kort in: GroßKomm-AktG, § 77 Rz. 8; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 22 Rz. 4. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 77 Rz. 6; Hölters-Weber, AktG, § 77 Rz. 5. OLG Frankfurt/M., Urt. v. 15.4.1986 – 3 U 191/84, ZIP 1986, 1244 = AG 1986, 233.

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§ 77

Geschäftsführung

oder per E-Mail möglich.10) Eine Protokollierung ist nicht vorgeschrieben, zur Dokumentation der unternehmerischen Entscheidung und deren Grundlagen im Hinblick auf eine mögliche Haftung aber praktisch bedeutsam.11) Angesichts der Anforderungen der Business Judgement Rule ist insbesondere eine sorgfältige Dokumentation der Informationen, die Basis der Entscheidung waren, wichtig, um ggf. nachweisen zu können, dass eine Entscheidung auf angemessener Informationsgrundlage erging. Ein ausdrücklicher Widerspruch gegen eine Geschäftsführungsmaßnahme ist, im Gegensatz zu § 115 Abs. 1 HGB, nicht notwendig. Es genügt die bloße Verweigerung der Zustimmung.12) Bei Gefahr im Verzug kann analog § 115 Abs. 2 HGB, § 744 Abs. 2 BGB ausnahmsweise ein wirksamer Beschluss ohne die Zustimmung eines abwesenden und nicht erreichbaren Vorstandsmitglieds gefasst werden. In diesem Fall muss unverzüglich eine nachträgliche Information erfolgen und das Mitglied kann der Durchführung einer noch nicht abgeschlossenen Maßnahme widersprechen.13) 2.

Zustimmungserklärung

5 Die Zustimmung des einzelnen Vorstandsmitglieds erfolgt durch empfangsbedürftige Willenserklärung, die durch Zugang bei den anderen Vorstandsmitgliedern wirksam wird.14) Da es keiner besonderen Form bedarf, kann die Zustimmungserklärung ausdrücklich oder konkludent abgegeben werden.15) Abweichend von § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB bleibt ein Widerruf auch nach Zugang aus wichtigem Grund möglich, bspw. wenn sich die Verhältnisse seit der Stimmerteilung grundlegend geändert haben.16) Die Zustimmung ist nach §§ 119 ff. BGB anfechtbar.17) Die Anfechtung führt bei Entscheidungserheblichkeit der betroffenen Stimme analog § 142 BGB ex tunc zur Beschlussnichtigkeit.18) Die höchstpersönliche Zustimmungserklärung kann nicht i. R. der Stellvertretung abgegeben werden. Die Überbringung durch einen Boten bleibt hiervon unberührt.19) Die Erklärung ist bedingungsfeindlich.20) Gibt ein Vorstandsmitglied eine Generalzustimmung zu einem unbestimmten Kreis von Geschäften ab, liegt ein unzulässiger Verstoß gegen das Prinzip der Gesamtgeschäftsführung vor.21) 3.

Stimmverbote

6 Ein umfassendes Stimmverbot analog § 34 BGB bei jedem Interessen- oder Pflichtenkonflikt besteht nicht.22) Lediglich für Rechtsgeschäfte und Rechtsstreitigkeiten zwischen den Vorstandsmitgliedern und der AG gilt die Norm entsprechend. Da die Vertretung in diesem _____________ Hohenegg/Tauschek, BB 1997, 1541 ff.; Hölters-Weber, AktG, § 77 Rz. 21. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 77 Rz. 5; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 77 Rz. 26. Priester, AG 1984, 253; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 22 Rz. 3. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 77 Rz. 6; Hölters-Weber, AktG, § 77 Rz. 5. Kort in: GroßKomm-AktG, § 77 Rz. 13; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 77 Rz. 21. Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 77 Rz. 6. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 77 AktG Rz. 24; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 77 Rz. 8, 35. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 77 Rz. 35; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 77 AktG Rz. 27. Kort in: GroßKomm-AktG, § 77 Rz. 17. Spindler in: MünchKomm-AktG, § 77 Rz. 21; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 77 Rz. 8. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 77 Rz. 9; abweichend: Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 77 Rz. 35 – Zulässigkeit von Bedingungen, deren Eintritt bei Wirksamwerden der letzten Stimme oder in dem für die Feststellung des Beschlussergebnisses vorgesehenen Zeitpunkt feststeht. 21) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 77 Rz. 7. 22) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 77 Rz. 8; zu Vorstandsdoppelmandaten s. a. § 76 Rz. 60 f. 10) 11) 12) 13) 14) 15) 16) 17) 18) 19) 20)

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Geschäftsführung

Verhältnis aber gemäß § 112 ohnehin durch den Aufsichtsrat erfolgt, ist die praktische Relevanz der Norm gering.23) 4.

Wirksamkeit des Beschlusses

Mängel bei der einzelnen Stimmabgabe haben nur Auswirkungen auf die Wirksamkeit des 7 Beschlusses, wenn sie ergebnisrelevant sind.24) Verletzt der Beschluss die Mitwirkungsrechte einzelner Vorstandsmitglieder, kann diesen Mangel nur das betroffene Mitglied selbst geltend machen.25) Dies muss vor dem Hintergrund der Wahrung der Rechtssicherheit zeitnah erfolgen, andernfalls wird der Beschluss wirksam.26) Inhaltliche Verstöße des Beschlusses gegen Gesetz oder Satzung führen dagegen unmittelbar zu dessen Nichtigkeit. Diese kann von jedem Vorstandsmitglied durch Feststellungsklage geltend gemacht werden, nicht dagegen vom Aufsichtsrat oder einzelnen Aktionären.27) Bei Beschlüssen, die inhaltlich gegen Gesetz oder Satzung verstoßen, kann eine Beseiti- 8 gungspflicht bestehen.28) Zunächst muss unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ein eindringlicher Hinweis an die Vorstandskollegen ergehen.29) Weitergehende Maßnahmen sind bei Erforderlichkeit die Unterrichtung des Aufsichtsrats oder als äußerstes Mittel die Einschaltung gesellschaftsfremder Dritter und die Klageerhebung.30) IV.

Abweichende Bestimmungen (§ 77 Abs. 1 Satz 2)

Nach § 77 Abs. 1 Satz 2 kann in der Satzung oder der Geschäftsordnung vom Prinzip der 9 Gesamtgeschäftsführung abgewichen werden. Mögliche Gestaltungsformen sind insbesondere die Geschäftsverteilung an einzelne Vorstandsmitglieder oder Ausschüsse sowie die Einführung von Mehrheitsentscheidungen.31) Dem privatautonomen Gestaltungsspielraum sind durch die Regelung des § 77 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2, den Grundsatz der Gleichberechtigung aller Vorstandsmitglieder und den unveräußerlichen Kernbereich bestimmter Leitungsaufgaben Grenzen gesetzt (siehe oben § 76 Rz. 10 ff.). 1.

Gestaltungsgrenzen

§ 77 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 verhindert die Einführung eines Alleinentscheidungsrechts 10 einzelner oder mehrerer Vorstandsmitglieder gegen die Vorstandsmehrheit. Möglich ist jedoch die statutarische Regelung eines Stichentscheids in Form eines Letztentscheidungsrechts eines Vorstandsmitglieds, bspw. des Vorsitzenden, bei Patt-Situationen.32) Dies gilt auch in der mitbestimmten Gesellschaft.33) Nicht zulässig ist der Stichentscheid dagegen _____________ 23) Kubis/Tödtmann-Richter, ArbHdb. Vorstandsmitglieder, § 5 Rz. 88; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 77 Rz. 9. 24) Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 18 Rz. 521; Hölters-Weber, AktG, § 77 Rz. 26. 25) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 77 AktG Rz. 28; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 77 Rz. 29. 26) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 77 Rz. 47; Kubis/Tödtmann-Richter, ArbHdb. Vorstandsmitglieder, § 5 Rz. 92; Hölters-Weber, AktG, § 77 Rz. 26. 27) Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 18 Rz. 522; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 77 Rz. 29. 28) OLG Hamm, Urt. v. 10.5.1995 – 8 U 59/94, ZIP 1995, 1263, 1268 = AG 1995, 512; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 22 Rz. 15. 29) Fleischer, BB 2004, 2645, 2650; Hölters-Weber, AktG, § 77 Rz. 11. 30) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 77 AktG Rz. 33 ff.; Kust, WM 1980, 758, 761. 31) Hölters-Weber, AktG, § 77 Rz. 6. 32) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 77 Rz. 12; Schiessl, ZGR 1992, 64, 70. 33) Langer/Peters, BB 2012, 2575, 2580; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 77 Rz. 15.

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Geschäftsführung

beim zweiköpfigen Vorstand, da hier faktisch ein Alleinentscheidungsrecht eingeführt würde.34) 11 Ein Vetorecht einzelner Vorstandsmitglieder, das diesen erlaubt, Mehrheitsentscheidungen auch endgültig zu blockieren, ist nach h. M. mit § 77 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 vereinbar.35) Hierfür spricht, dass nach dem Grundprinzip der Gesamtgeschäftsführung ein einzelnes Vorstandsmitglied eine Geschäftsführungsmaßnahme ohnehin verhindern kann und die Einführung eines Vetorechts bei Mehrheitsentscheidungen sich daher weniger weit vom gesetzlichen Grundsatz entfernt.36) Die Gegenansicht verweist auf die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen positiven und negativen Entscheidungen und lässt nur ein vertagendes Vetorecht mit aufschiebender Wirkung bis zur nächsten Vorstandsentscheidung zu.37) Bei mitbestimmten Gesellschaften ist ein Vetorecht mit endgültiger Wirkung dagegen aufgrund der Rechte des Arbeitsdirektors gemäß § 33 MitbestG unzulässig, sofern es Personal- Sozial- und sonstige Fragen betrifft, die in seinen Zuständigkeitsbereich fallen.38) Dies gilt auch, wenn dem Arbeitsdirektor für seinen Bereich ebenfalls ein Widerspruchsrecht eingeräumt wird.39) Sind diese Bereiche dagegen nicht betroffen, bleibt ein Widerspruchsrecht trotz § 33 MitbestG möglich.40) 12 Leitungsaufgaben als herausgehobener Teil der Geschäftsführung gemäß § 76 Abs. 1 müssen zwingend vom Gesamtvorstand wahrgenommen werden. Lediglich Maßnahmen zur Vorbereitung und Ausführung können auf einzelne Vorstandsmitglieder übertragen werden (siehe oben § 76 Rz. 18 ff.). 13 Der Grundsatz der Gleichberechtigung aller Vorstandsmitglieder ist zu wahren. Ein extremes Ungleichgewicht zwischen den Leitungskompetenzen einzelner Vorstandsmitglieder ist unzulässig.41) Differenzierungen zwischen den einzelnen Positionen der Vorstandsmitglieder bleiben möglich.42) Es darf jedoch keine Vorstandsmitglieder erster und zweiter Klasse geben.43) Hier finden auch Tendenzen in der Praxis hin zum Modell des CEO (Chief Executive Officer) nach US-amerikanischem Vorbild ihre rechtlichen Grenzen (siehe unten § 84 Rz. 47).44) 2.

Geschäftsverteilung

14 Die Geschäftsverteilung erfolgt in Form der Organisation und Delegation von Geschäftsführungszuständigkeiten innerhalb des Vorstands.45) Diese gemäß § 77 Abs. 1 Satz 2 zu_____________ 34) OLG Karlsruhe, Urt. v. 23.5.2000 – 8 U 233/99, AG 2001, 93, 94 = ZIP 2000, 1578, dazu EWiR 2000, 1085 (Pötter) – zur GmbH; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 77 Rz. 11; Schiessl, ZGR 1992, 64, 70; a. A. Bürkle, AG 2012, 232 ff.; Priester AG 1984, 253 ff. 35) OLG Karlsruhe, Urt. v. 23.5.2000 – 8 U 233/99, AG 2001, 93, 94 = ZIP 2000, 1578 – zur GmbH; Kort in: GroßKomm-AktG, § 77 Rz. 27; Langer/Peters, BB 2012, 2575, 2580; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 77 Rz. 13. 36) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 77 Rz. 13. 37) Bezzenberger, ZGR 1996, 661, 665 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 77 Rz. 12; Simons/Hanloser, AG 2010, 641, 646 f. 38) BGH, Urt. v. 14.11.1983 – II ZR 33/83, BGHZ 89, 48, 59 = ZIP 1984, 55, 59 – zur GmbH; Habersack/ Henssler-Henssler, Mitbestimmungsrecht, § 33 MitbestG, Rz. 39 f.; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 77 Rz. 19. 39) BGH, Urt. v. 14.11.1983 – II ZR 33/83; BGHZ 89, 48, 60 = ZIP 1984, 55, 59 – zur GmbH. 40) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 77 Rz. 66; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 77 Rz. 19. 41) Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497, 514 ff.; Langer/Peters, BB 2012, 2575, 2577. 42) Wicke, NJW 2007, 3755, 3757. 43) Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497, 515; Langer/Peters, BB 2012, 2575, 2577; Schwark, ZHR 142 (1978) 203, 218. 44) Wicke, NJW 2007, 3755, 3757. 45) Froesch, DB 2009, 722, 723; Langer/Peters, BB 2012, 2575, 2578; Wicke, NJW 2007, 3755.

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§ 77

Geschäftsführung

lässige Abweichung vom Prinzip der Gesamtgeschäftsführung findet regelmäßig durch Regelungen in der Geschäftsordnung statt, die gegenüber der Satzung eine höhere Flexibilität aufweist.46) Häufige Formen der Geschäftsverteilung in der Praxis sind die Einzelgeschäftsführung mit funktionsbezogener Beschränkung (bspw. Produktion, Vertrieb, Personal), mit spartenmäßiger Beschränkung (einzelne Unternehmenssparten), mit regionaler Beschränkung (bestimmte Filialen, Länder) und die Matrixorganisation als Mischform in Konzernverhältnissen.47) Voraussetzung einer Aufteilung der Geschäftsführungsaufgaben ist, dass die konkrete Aufteilung klar und eindeutig ist und alle Geschäftsführungsaufgaben zugeordnet werden.48) Für die AG ist – wie auch generell aus Gründen der Rechtssicherheit – davon auszugehen, dass es einer schriftlichen Fixierung der Geschäftsverteilung bedarf.49) Trotz der Geschäftsverteilung bleibt es bei dem Grundsatz der Gesamtverantwortung 15 des Vorstands.50) Die Sorgfaltspflicht des Vorstands gemäß § 93 ist dem Inhalt und Ausmaß nach jedoch modifiziert.51) Die übrigen Vorstandsmitglieder haben die einzelgeschäftsführungsbefugten Vorstände zu überwachen und zu kontrollieren.52) Das Maß der Überwachungspflicht hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.53) Grundsätzlich darf der Vorstand auf die ordnungsgemäße Geschäftsführung des im jeweiligen Ressort berechtigten Vorstandsmitglieds vertrauen.54) Es ist aber erforderlich, dass sichergestellt wird, dass die Aufgaben durch fachlich und persönlich geeignete Personen wahrgenommen werden.55) Einer intensiveren Überwachung bedarf es unter besonderen Umständen wie bei kurzer Amtsdauer,56) Vorliegen konkreter Verdachtsmomente für Fehlentwicklungen57) oder in finanziellen Krisenzeiten.58) Um eine Überwachung zu ermöglichen, bestehen Berichtspflichten der jeweils für ein 16 Ressort zuständigen Vorstandsmitglieder.59) Der Vorstand wiederum hat einen entsprechenden Informationsanspruch.60) Um einen effektiven Informationsaustausch zu gewährleisten, muss ein vorstandsinternes Informationssystem eingerichtet werden.61) _____________ 46) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 77 Rz. 39; Hölters-Weber, AktG, § 77 Rz. 27. 47) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 77 Rz. 10. 48) BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 20, BGHZ 220, 162 = NZG 2019, 225; kritisch zu den Anforderungen an die Eindeutigkeit Hoffmann-Becking, NZG 2021, 93, 94 f.; eingehend hierzu Fleischer, DB 2019, 472, 474 f. 49) Hoffmann-Becking, NZG 2021, 93, 94. 50) Aktuell hierzu LG Duisburg, Urt. v. 9.11.2016 – 25 O 54/12, juris = BeckRS 2016, 20599; s. a. LG Lüneburg, Urt. v. 30.5.2013 – 7 O 119/12, BeckRS 2013, 11267; grundlegend RG, Urt. v. 3.2.1920 – II 273/19, RGZ 98, 98, 100; Fleischer, NZG 2003, 449; Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497, 506 f. 51) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 77 Rz. 18. 52) Kort in: GroßKomm-AktG, § 77 Rz. 37; Nietsch, ZIP 2013, 1449, 1452. 53) Dose, Die Rechtsstellung der Vorstandsmitglieder einer AG, 3. Aufl., 1975, S. 122; Fleischer, NZG 2003, 449, 453; Wolf, VersR 2005, 1042, 1043. 54) BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370, 378 = ZIP 1996, 2017, 2019 f. – zur GmbH; Leuering/Dornhegge, NZG 2010, 13, 15; Hölters-Weber, AktG, § 77 Rz. 36. 55) BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 17, 19, BGHZ 220, 162 = NZG 2019, 225; Fleischer, DB 2019, 472, 473. 56) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 77 AktG Rz. 62. 57) BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370, 378 f. = ZIP 1996, 2017, 2020 – zur GmbH; Hoffmann-Beckingin: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 22 Rz. 28. 58) OLG Hamburg, Urt. v. 18.2.2000 – 11 U 213/98, AG 2001, 141, 144 = NZG 2000, 1083; OLG Bremen, Urt. v. 18.5.1999 – 3 U 2/98, ZIP 1999, 1671, 1678 = NZG 1999, 724, 726, dazu EWiR 1999, 1057 (Müller); Buck-Heeb, BB 2019, 584, 588. 59) Fleischer, NZG 2003, 449, 452; Martens in: FS Fleck, S. 191; Wolf, VersR 2005, 1042. 60) Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497, 512; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 22 Rz. 27. 61) Fleischer, NZG 2003, 449, 454; Schiessl, ZGR 1992, 64, 69.

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§ 77

Geschäftsführung

17 Unabhängig von der jeweiligen Ressortverteilung hat jedes Vorstandsmitglied das Recht, einen Beschluss des Gesamtvorstands über eine umstrittene Maßnahme einzufordern.62) Dieses Interventionsrecht kann sich bei schwerwiegenden Bedenken zu einer Handlungspflicht verdichten. Besteht die problematische Situation dennoch fort, ist der Aufsichtsrat zu informieren.63) 3.

Mehrheitsprinzip

18 Eine gängige Abweichung vom Grundsatz der Gesamtgeschäftsführung ist die Einführung von Mehrheitsentscheidungen. Die Satzung oder Geschäftsordnung kann weitere Differenzierungen in Form einfacher oder qualifizierter Mehrheiten, der Bezugsgröße für die Mehrheitsentscheidungen und des Stimmwerts von Enthaltungen treffen.64) Werden entsprechende Details nicht geregelt, ist im Zweifel von einer Entscheidung mit einfacher Mehrheit der anwesenden Vorstandsmitglieder auszugehen.65) Enthaltungen werden grundsätzlich nicht mitgezählt.66) Aus dem aktienrechtlichen Kollegialitätsprinzip folgt, dass überstimmte Vorstandsmitglieder bei der Ausführung des mehrheitlich verabschiedeten und materiell rechtmäßigen Beschlusses loyal mitzuwirken haben.67) V.

Geschäftsordnung (§ 77 Abs. 2)

1.

Erlasskompetenz

19 Der Vorstand kann sich kraft eigener Organisationsautonomie eine Geschäftsordnung geben, eine dahingehende Pflicht besteht jedoch nicht.68) Wenn der Aufsichtsrat gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 von seiner Erlasskompetenz Gebrauch gemacht hat oder die Satzung eine entsprechende Kompetenz vorsieht, tritt das subsidiäre Organisationsrecht des Vorstands dahinter zurück.69) D. 1 DCGK empfiehlt den Erlass einer Geschäftsordnung für die börsennotierte AG. 20 Die bindende Regelung von Einzelfragen der Geschäftsordnung ist gemäß § 77 Abs. 2 Satz 2 in der Satzung möglich. Schon aus dem Wortlaut der Norm sowie aus dem Selbstorganisationsrecht des Vorstands und Aufsichtsrats ergibt sich, dass detaillierte Vorgaben, die den Inhalt der Geschäftsordnung weitgehend vorwegnehmen, unzulässig sind.70) 2.

Form und Regelungsgegenstand

21 Beschlüsse des Vorstands über Erlass, Änderung und Aufhebung der Geschäftsordnung erfolgen gemäß § 77 Abs. 2 Satz 3 einstimmig.71) Die Geschäftsordnung muss schriftlich, oder in Textform festgelegt werden. Sie muss nicht eigenhändig unterschrieben werden.72) Erlässt der Aufsichtsrat eine Geschäftsordnung, so entscheidet er gemäß § 108 Abs. 1 _____________ 62) OLG Hamm, Urt. v. 10.5.1995 – 8 U 59/94, ZIP 1995, 1263, 1265 f. = AG 1995, 512, 513 f.; HöltersWeber, AktG, § 77 Rz. 37. 63) Götz, AG 1995, 337, 339; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 77 Rz. 28. 64) Kort in: GroßKomm-AktG, § 77 Rz. 21; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 77 Rz. 11. 65) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 77 AktG Rz. 12; Kort in: GroßKomm-AktG, § 77 Rz. 21; a. A. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 77 Rz. 10. 66) BGH, Urt. v. 25.1.1982 – II ZR 164/81, BGHZ 83, 35 = ZIP 1982, 693, 694; BGH, Urt. v. 12.1.1987 – II ZR 152/86, ZIP 1987, 635, 636 = NJW 1987, 2430 f. – jeweils zum Verein; Löwisch, BB 1996, 1006 f. 67) Hölters-Weber, AktG, § 77 Rz. 9. 68) Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 77 Rz. 18. 69) Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497, 501; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 77 Rz. 19. 70) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 77 Rz. 51; a. A. Immenga, ZGR 1977, 249, 268. 71) Begr. RegE in: Kropff, AktG, S. 99. 72) Ausschussbericht in: Kropff, AktG, S. 100; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 77 Rz. 21.

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§ 78

Vertretung

durch Beschluss, der in die Sitzungsniederschrift gemäß § 107 Abs. 2 Satz 1 aufzunehmen ist. Ein Verstoß gegen diese Form führt jedoch nicht zur Unwirksamkeit des Beschlusses.73) Inhaltlich muss die Geschäftsordnung die Grenzen der §§ 76 ff. einhalten. Der Regelungs- 22 gegenstand kann in der Festlegung der geschäftsführenden Tätigkeit einzelner Vorstandsmitglieder und der Zusammenarbeit mit dem Aufsichtsrat liegen.74) Im Geschäftsverteilungsplan sind Ergänzungen möglich, die als Annex der Geschäftsordnung denselben gesetzlichen Bestimmungen unterliegen.75) Die Vorschriften der Geschäftsordnung sind objektiv auszulegen.76) 3.

Mitbestimmte Gesellschaften

Auch in mitbestimmten AGs hat der Vorstand ein Recht, jedoch keine Pflicht, zum Erlass 23 einer Geschäftsordnung.77) Auch aus § 33 Abs. 2 MitbestG folgt keine entsprechende Pflicht. Die Norm geht lediglich vom Erlass einer Geschäftsordnung als Regelfall aus.78) Inhaltlich muss die zwingende Zuständigkeit des Arbeitsdirektors im Bereich Arbeit und Soziales beachtet werden.79) _____________ Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 77 AktG Rz. 82. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 77 Rz. 24; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 77 Rz. 35 f. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 77 Rz. 21; Kort in: GroßKomm-AktG, § 77 Rz. 81. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 77 Rz. 55; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 77 Rz. 24. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 77 Rz. 23; U. H. Schneider in: FS Mühl, S. 633, 639 f. Spindler in: MünchKomm-AktG, § 77 Rz. 55; Hölters-Weber, AktG, § 77 Rz. 52; a. A. Habersack/ Henssler-Henssler, Mitbestimmungsrecht, § 33 MitbestG Rz. 44. 79) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 77 Rz. 23. 73) 74) 75) 76) 77) 78)

§ 78 Vertretung Simon Link

(1) 1Der Vorstand vertritt die Gesellschaft gerichtlich und außergerichtlich. 2Hat eine Gesellschaft keinen Vorstand (Führungslosigkeit), wird die Gesellschaft für den Fall, dass ihr gegenüber Willenserklärungen abgegeben oder Schriftstücke zugestellt werden, durch den Aufsichtsrat vertreten. (2) 1Besteht der Vorstand aus mehreren Personen, so sind, wenn die Satzung nichts anderes bestimmt, sämtliche Vorstandsmitglieder nur gemeinschaftlich zur Vertretung der Gesellschaft befugt. 2Ist eine Willenserklärung gegenüber der Gesellschaft abzugeben, so genügt die Abgabe gegenüber einem Vorstandsmitglied oder im Fall des Absatzes 1 Satz 2 gegenüber einem Aufsichtsratsmitglied. 3An die Vertreter der Gesellschaft nach Absatz 1 können unter der im Handelsregister eingetragenen Geschäftsanschrift Willenserklärungen gegenüber der Gesellschaft abgegeben und Schriftstücke für die Gesellschaft zugestellt werden. 4Unabhängig hiervon können die Abgabe und die Zustellung auch unter der eingetragenen Anschrift der empfangsberechtigten Person nach § 39 Abs. 1 Satz 2 erfolgen. (3) 1Die Satzung kann auch bestimmen, daß einzelne Vorstandsmitglieder allein oder in Gemeinschaft mit einem Prokuristen zur Vertretung der Gesellschaft befugt sind. 2 Dasselbe kann der Aufsichtsrat bestimmen, wenn die Satzung ihn hierzu ermächtigt hat. 3Absatz 2 Satz 2 gilt in diesen Fällen sinngemäß.

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§ 78

Vertretung

(4) 1Zur Gesamtvertretung befugte Vorstandsmitglieder können einzelne von ihnen zur Vornahme bestimmter Geschäfte oder bestimmter Arten von Geschäften ermächtigen. 2Dies gilt sinngemäß, wenn ein einzelnes Vorstandsmitglied in Gemeinschaft mit einem Prokuristen zur Vertretung der Gesellschaft befugt ist. Literatur: Armbrüster/Kosich, Wissenszurechnung in Unternehmen, ZIP 2020, 1494; Baumann, Die Kenntnis juristischer Personen des Privatrechts von rechtserheblichen Umständen, ZGR 1973, 284; Beuthien, Gibt es eine organschaftliche Stellvertretung?, NJW 1999, 1142; Bork, Zurechnung im Konzern, ZGR 1994, 237; Buck-Heeb, Wissenszurechnung, Informationsorganisation und Ad-hoc-Mitteilungspflicht bei Kenntnis eines Aufsichtsratsmitglieds, AG 2015, 801; Buck-Heeb, Private Kenntnis in Banken und Unternehmen, WM 2008, 281; Drexl, Wissenszurechnung im Konzern, ZHR 161 (1997) 491; Ekkenga, Insichgeschäfte geschäftsführender Organe im Aktien- und GmbH-Recht unter besonderer Berücksichtigung der Einmann-Gesellschaft, AG 1985, 40; Fleischer, Zur Privatsphäre von GmbH-Geschäftsführern und Vorstandsmitgliedern: Organpflichten, organschaftliche Zurechnung und private Umstände, NJW 2006, 3239; Frels, Überweisung von Vertretungsmacht an einzelne Mitglieder des Vorstands der Aktiengesellschaft, ZHR 122 (1959) 173; Grunewald, Wissenszurechnung bei juristischen Personen, in: Festschrift für Karl Beusch, 1993, S. 301; Guski, Was wissen Verbände? Zur „Wissenszurechnung“ im Gesellschaftsrecht, ZHR 184 (2020) 363; Heim, Zur Zulässigkeit einer Allgemeinbevollmächtigung von Mitgliedern der Gesamtvertretung einer Kapitalgesellschaft, NJW 1961, 1515; Köhl, Der Prokurist in der unechten Gesamtvertretung, NZG 2005, 197; Liebscher, Zurechnung als Rechtsproblem, ZIP 2019, 1837; Roquette, Rechtsfragen zur unechten Gesamtvertretung im Rahmen der gesetzlichen Vertretung von Kapitalgesellschaften, in: Festschrift für Walter Oppenhoff, 1985, S. 335; Sajnovits, Ad-hoc-Publizität und Wissenszurechnung, WM 2016, 765; Schirmer, Kurze Gedanken zu verborgenen Gedanken – Die Wissenszurechnung ist wieder da!, AG 2015, 666; Schürnbrand, Wissenszurechnung im Konzern – unter besonderer Berücksichtigung von Doppelmandaten, ZHR 181 (2017) 357; Schwarz, Rechtsfragen der Vorstandsermächtigung gemäß § 78 Abs. 4 AktG, ZGR 2001, 744; Schwarz, Die Gesamtvertreterermächtigung? Ein zivil- und gesellschaftsrechtliches Rechtsinstitut, NZG 2001, 529; Schwintowski, Die Zurechnung des Wissens von Mitgliedern des Aufsichtsrats in einem oder mehreren Unternehmen, ZIP 2015, 617; Spindler, Wissenszurechnung in der GmbH, der AG und im Konzern, ZHR 181 (2017) 311; Verse, Doppelmandate und Wissenszurechnung im Konzern, AG 2015, 413.

Übersicht I. Regelungsgegenstand und Regelungszweck ........................ 1 II. Vertretung durch den Vorstand (§ 78 Abs. 1) ....................................... 2 1. Organschaftliche Vertretung ............ 2 2. Umfang der Vertretungsmacht ......... 5 3. Führungslosigkeit der Gesellschaft (§ 78 Abs. 1 Satz 2) ........................... 9 4. Wissenszurechnung und Willensmängel .............................................. 10 5. Haftung der AG für ihre Organe ... 14 6. Gewillkürte Stellvertretung ............. 15 III. Gesetzliche Vertretungsregelung (§ 78 Abs. 2) ..................................... 16 1. Aktivvertretung ............................... 16 2. Passivvertretung ............................... 19

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3. Erleichterte Erreichbarkeit ............... 20 IV. Abweichende Regelungen (§ 78 Abs. 3) ..................................... 21 1. Übersicht .......................................... 21 2. Einzelvertretung ............................... 22 3. Unechte Gesamtvertretung ............. 23 4. Gemeinschaftliche Vertretung durch mehrere Vorstandsmitglieder .......................................... 25 V. Einzelermächtigungen (§ 78 Abs. 4) ..................................... 26 1. Allgemeines ....................................... 26 2. Erteilung ............................................ 27 3. Umfang ............................................. 28 4. Widerruf ............................................ 29

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§ 78

Vertretung I.

Regelungsgegenstand und Regelungszweck

§ 78 regelt die organschaftliche Vertretung der Gesellschaft durch den Vorstand. Für die 1 Aktivvertretung gilt gemäß § 78 Abs. 2 Satz 1 das Prinzip der Gesamtvertretung. Abweichungen durch die Satzung oder Gestattung des Aufsichtsrats sind gemäß § 78 Abs. 3 möglich. § 78 Abs. 4 betrifft die Einzelermächtigung zur Vertretung für bestimmte Geschäfte oder bestimmte Arten von Geschäften. Im Rahmen der Passivvertretung der Gesellschaft sind die Vorstände gemäß § 78 Abs. 2 Satz 2 einzelvertretungsbefugt. § 82 regelt Einschränkungen der Vertretungsmacht im Innenverhältnis und deren Uneinschränkbarkeit im Außenverhältnis. II.

Vertretung durch den Vorstand (§ 78 Abs. 1)

1.

Organschaftliche Vertretung

Der Vorstand vertritt die AG gemäß § 78 Abs. Satz 1 gerichtlich und außergerichtlich. Die 2 Vertretungsmacht erlangt er durch die Bestellung.1) Das Handeln des Vorstands wird der AG als eigenes zugerechnet (Organtheorie), er hat gemäß § 26 Abs. 2 Satz 1 BGB die Stellung eines gesetzlichen Vertreters.2) Auch die Vertretungstheorie gelangt zu keinem anderen Ergebnis, der Streit wird allenfalls für einzelne Fragen der Wissenszurechnung relevant.3) Die außergerichtliche Vertretung umfasst den gesamten Privatrechtsverkehr und das Han- 3 deln gegenüber Behörden.4) Auch Rechtsgeschäfte mit Aktionären und Organwaltern, die mitgliedschaftliche und organschaftliche Rechtsverhältnisse betreffen, bspw. § 63 Abs. 1 Satz 1, § 68 Abs. 2 Satz 2, § 121 Abs. 2 Satz 1, fallen darunter.5) Die AG ist als juristische Person gemäß § 50 Abs. 1 ZPO parteifähig und nach der Organtheorie auch prozessfähig.6) Grundsätzlich liegt gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 die gerichtliche Vertretung beim Vorstand. Ausnahmen gelten insbesondere gemäß § 112 bei Rechtsstreitigkeiten von Vorstandsmitgliedern mit der AG und bei der Doppelvertretung i. R. von Beschlussmängelklagen gemäß §§ 246 Abs. 2 Satz 2, 249 Abs. 1 Satz 1, 275 Abs. 4 Satz 1.7) Zur korrekten Parteibezeichnung zählt bei gerichtlicher Vertretung die Nennung der 4 Vorstandsmitglieder gemäß §§ 130 Nr. 1, 253 Abs. 4, 313 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. Soweit sie die AG vertreten, sind Vorstandsmitglieder als Partei, nicht als Zeugen, zu vernehmen (§ 455 Abs. 1 Satz 1 ZPO).8) 2.

Umfang der Vertretungsmacht

Die Vertretungsmacht des Vorstands ist grundsätzlich gemäß § 78 Abs. 1 unbeschränkt 5 und gemäß § 82 Abs. 1 unbeschränkbar. Auch aus dem Unternehmensgegenstand und dem Gesellschaftszweck lassen sich keine Beschränkungen herleiten.9) Die Vertretungsmacht im Außenverhältnis ist von der Geschäftsführungsbefugnis im Innenverhältnis unabhän_____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9)

BGH, Urt. v. 6.3.1975 – II ZR 80/73, BGHZ 64, 72, 75 = NJW 1975, 1117 – zur GmbH. Beuthien, NJW 1999, 1142 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 78 Rz. 3; Hölters-Weber, AktG, § 78 Rz. 3. Vgl. Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 78 Rz. 3. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 78 Rz. 3; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 78 Rz. 6. Fleischer-Kort, Hdb. VorstandsR, § 2 Rz. 35. BGH, Urt. v. 9.6.1983 – I ZR 73/81, NJW 1984, 668 = MDR 1984, 118; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 78 Rz. 4. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 78 AktG Rz. 8; Hölters-Weber, AktG, § 78 Rz. 6, mit weiteren Ausnahmen. RG, Urt. v. 1.10.1880 – Rep. II. 184/80, RGZ 2, 400 f.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 23 Rz. 5; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 78 AktG Rz. 7. Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 78 Rz. 6; Vgl. Begr. RegE in: Kropff, AktG, S. 103.

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§ 78

Vertretung

gig (siehe § 77 Rz. 2). Gesetzliche Grenzen der Vertretungsmacht ergeben sich jedoch aus allgemeinen zivilrechtlichen Vorschriften, speziellen aktien- und insolvenzrechtlichen Schranken sowie mitbestimmungsrechtlichen Grenzen bei der Beteiligungsverwaltung. 6 § 181 BGB untersagt die Vornahme von Insichgeschäften. Die in § 181 Alt. 1 BGB geregelte Selbstkontraktion ist im Aktienrecht bereits durch die Sonderregelung des § 112 AktG ausgeschlossen. § 181 Alt. 2 BGB bestimmt darüber hinaus das Verbot der Mehrfachvertretung. Diese ist nur ausnahmsweise zulässig, wenn das Vorstandsmitglied ausschließlich zur Erfüllung einer Verbindlichkeit handelt oder die Mehrfachvertretung entsprechend § 78 Abs. 3 durch Satzung oder den Aufsichtsrat auf Grundlage einer Satzungsermächtigung gestattet ist.10) Die in der Satzung vorgesehene Befreiung ist ins Handelsregister einzutragen.11) Ein bewusstes Zusammenwirken mit dem Vertragspartner zum Nachteil der Gesellschaft (Kollusion) führt gemäß § 138 BGB zur Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts.12) Darüber hinaus kann gemäß § 242 BGB die Berufung auf die Wirksamkeit des Rechtsgeschäfts bei erkennbarem Missbrauch der Vertretungsmacht verwehrt sein.13) 7 Eine aktienrechtliche Beschränkung stellt der bereits angesprochene § 112 dar. Demnach vertritt der Aufsichtsrat die Gesellschaft gegenüber amtierenden, aber auch gegenüber unwirksam bestellten und ehemaligen Vorstandsmitgliedern.14) In den Fällen der §§ 246 Abs. 2 Satz 2, 246 Abs. 3, 249 Abs. 1 Satz 1, 250 Abs. 3, 251 Abs. 3, 253 Abs. 2, 254 Abs. 2 Satz 1, 255 Abs. 3, 256 Abs. 7, 257 Abs. 2 Satz 1, 275 Abs. 4 Satz 1 sind Vorstand und Aufsichtsrat gemeinsam und gemäß §§ 184 Abs. 1, 188 Abs. 1, 195 Abs. 1, 207 Abs. 2 Satz 1, 223, 229 Abs. 3, 237 Abs. 4 Satz 5 der Vorstand und der Aufsichtsratsvorsitzende zur Vertretung der Gesellschaft berufen. Schließlich sind Zustimmungsbefugnisse der Hauptversammlung gemäß §§ 50 Satz 1, 52 Abs. 1 Satz 1, 53 Satz 1, 93 Abs. 4 Satz 3, 116, 117 Abs. 4, 179a Abs. 1, 293 Abs. 1, 295, 309 Abs. 3 Satz 1, 310 Abs. 4, 317 Abs. 4, 318 Abs. 4 zu beachten.15) Die ungeschriebenen Zustimmungsvorbehalte nach der „Holzmüller“Rechtsprechung betreffen dagegen, abgesehen von den o. g. Fällen der Kollusion und des erkennbaren Missbrauchs der Vertretungsmacht, nur das Innenverhältnis und nicht die Wirksamkeit der Vertretung.16) 8 Mitbestimmungsrechtliche Grenzen bei der Beteiligungsverwaltung finden sich in § 32 MitbestG. Hier ist in bestimmten Fällen die vorherige Befassung des Aufsichtsrats mit _____________ 10) BayOblG, Beschl. v. 17.7.1980 – BReg. 1 Z 69/80, BayOblGZ 1980, 209, 213 f. = ZIP 1980, 899; OLG Köln, Beschl. v. 2.10.1992 – 2 Wx 33/92, OLGZ 19993, 167 = NJW 1993, 1018; OLG Düsseldorf, Urt. v. 30.11.2009 – I-3 Wx 195/09, GmbHR 2010, 313, 314 = AG 2010, 295; Fleischer in: BeckOGKAktR, § 78 AktG Rz. 12; Kubis/Tödtmann-Richter, ArbHdb. Vorstandsmitglieder, § 6 Rz. 46; HöltersWeber, AktG, § 78 Rz. 9; a. A. mit Verweis auf § 112 keine Satzungsermächtigung erforderlich Ekkenga, AG 1985, 40, 42; Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 78 Rz. 25; vermittelnd: Ermächtigung nur dann nicht erforderlich, wenn es um Gestattung im Einzelfall geht KG Berlin, Beschl. v. 21.3.2006 – 1 W 252/05, OLGReport KG 2006, 669 = ZIP 2006, 2085, dazu EWiR 2006, 683 (Theusinger/Liese); Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 78 Rz. 7; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 78 Rz. 75; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR Bd. 4, § 23 Rz. 7; beachte: zusätzlich die Möglichkeit eines Befreiungsbeschlusses der Hauptversammlung Ekkenga, AG 1985, 40, 42. 11) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 78 AktG Rz. 12; Kubis/Tödtmann-Richter, ArbHdb. Vorstandsmitglieder, § 6 Rz. 46. 12) BGH, Urt. v. 28.2.1966 – VII ZR 125/65, NJW 1966, 1911 = BB 1966, 600. 13) BGH, Urt. v. 28.2.1966 – VII ZR 125/65, NJW 1966, 1911= BB 1966, 600; BGH, Urt. v. 25.3.1968 – II ZR 208/64, BGHZ 50, 112 = NJW 1968, 1379. 14) BGH, Urt. v. 13.2.1989 – II ZR 209/88, ZIP 1989, 497 = NJW 1989, 2055; BGH, Urt. v. 1.12.2003 – II ZR 161/02, ZIP 2004, 92 = NJW 2004, 1528, dazu EWiR 2004, 97 (Ziemons). 15) Vgl. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 78 Rz. 8. 16) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 (Holzmüller), BGHZ 83, 122, 131 = ZIP 1982, 568; BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 (Gelatine II), BGHZ, 159, 30, 39 ff. = ZIP 2004, 1001, dazu EWiR 2004, 1161 (Hirte).

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der Sache erforderlich, was zu einer Einschränkung der Vertretungsmacht des Vorstands führt.17) 3.

Führungslosigkeit der Gesellschaft (§ 78 Abs. 1 Satz 2)

Durch den i. R. des MoMiG 2008 neu eingeführten § 78 Abs. 1 Satz 2 liegt die Passivver- 9 tretung der Gesellschaft im Fall der Führungslosigkeit beim Aufsichtsrat. Führungslosigkeit besteht, wenn die Gesellschaft keinen organschaftlichen Vertreter hat.18) Ziel der Norm ist, eine Behinderung von Gläubigern durch die missbräuchliche Abberufung des Vorstands zur Vereitelung des Zugangs von Erklärungen und Zustellungen an die Gesellschaft zu verhindern.19) Insbesondere die Zustellung einer Klage gemäß § 170 ZPO wird hierdurch ermöglicht. Die AG ist ohne organschaftlichen Vertreter jedoch nicht prozessfähig, da einen Prozess nur führen kann, wer zur Aktivvertretung befugt ist. Dritte sind insofern durch § 57 ZPO geschützt.20) 4.

Wissenszurechnung und Willensmängel

Die Zurechnung der Kenntnis und des Kennenmüssens bestimmter Umstände an die AG 10 wird dogmatisch entweder in § 166 BGB21) oder § 31 BGB22) verortet. Vor dem Hintergrund der Organtheorie ist die zweite Ansicht für den Vorstand überzeugender. Die maßgeblichen Probleme stellen sich jedoch in ähnlicher Weise. Das Wissen des konkret handelnden Vertreters wird der AG stets zugerechnet.23) Teilweise wurde darüber hinaus aus der Organtheorie gefolgert, dass sämtliches Wissen eines Organwalters an die AG zurechenbar ist, selbst wenn das betreffende Organmitglied am konkreten Rechtsgeschäft nicht mitgewirkt hat oder sogar bereits ausgeschieden war.24) Nach der neueren Rechtsprechung und h. M. kommt es dagegen nicht auf die Organstellung, sondern den Verkehrsschutz und die daraus folgende Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der gesellschaftsinternen Kommunikation an.25) Entscheidend ist das Gleichstellungsargument, demzufolge der Vertragspartner einer juristischen Person weder schlechter noch besser gestellt sein soll, als derjenige einer natürlichen Person.26) Das Wissen eines unbeteiligten Organwalters oder eines sonstigen unbeteiligten Unternehmensangehörigen wird zugerechnet, wenn es bei ordnungsgemäßer Organisation aktenmäßig festzuhalten, weiterzugeben und vor Vertragsschluss abzufragen war.27)

_____________ 17) 18) 19) 20) 21) 22) 23) 24) 25)

26) 27)

Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 3 Rz. 52. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 78 Rz. 4a; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 23 Rz. 11. Vgl. Begr. RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 42; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 78 Rz. 31. BGH, Urt. v. 25.10.2010 – II ZR 115/09, ZIP 2010, 2444 = NZG 2011, 26 – zur GmbH, dazu EWiR 2011, 17 (Zarth); Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 78 Rz. 4a. Baumann, ZGR 1973, 284, 290 ff.; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 78 Rz. 31, 35. Spindler in: MünchKomm-AktG, § 78 Rz. 94; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 23 Rz. 31. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 78 AktG Rz. 56; Sajnovits, WM 2016, 765, 771; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 78 Rz. 35. BGH, Urt. v. 6.4.1964 – II ZR 75/62, BGHZ 41, 282 = NJW 1964, 1367; BGH, Urt. v. 8.12.1989 – V ZR 246/87, BGHZ 109, 327 = NJW 1990, 975, 976; Grunewald in: FS Beusch, S. 301, 303. BGH, Urt. v. 2.2.1996 – V ZR 239/94, BGHZ 132, 30 = ZIP 1996, 548; BGH, Urt. v. 13.1.2015 – XI ZR 303/12, BGHZ 204, 30 = NJW 2015, 1948, 1949 = ZIP 2015, 420, dazu EWiR 2015, 201 (Simon); Verse, AG 2015, 413, 416 f. BGH, Urt. v. 2.2.1996 – V ZR 239/94, BGHZ 132, 30 = ZIP 1996, 548. BGH, Urt. v. 13.10.2000 – V ZR 349/99, NJW 2001, 359, 360 = ZIP 2001, 26, dazu EWiR 2001, 705 (Schramm); Armbrüster/Kosich, ZIP 2020, 1494, 1501 f.; a. A. bzgl. des Organwalters: Spindler in: MünchKomm-AktG, § 78 Rz. 94.

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11 Noch nicht einheitlich geklärt ist der Fall des privat erlangten Wissens.28) Wissen des konkret handelnden Vertreters, auch wenn es privat erlangt wurde, ist stets zuzurechnen, da die private Kenntnis nicht einfach ausgeblendet werden kann.29) Eine Wissensorganisationspflicht besteht hinsichtlich privat erlangter Kenntnis dagegen nach der berechtigten Erwartung des Rechtsverkehrs nur in Ausnahmefällen.30) 12 Strittig ist darüber hinaus die Wissenszurechnung im Konzern. Die Diskussion wird insbesondere im Zusammenhang mit Insiderinformationen geführt.31) Eine pauschale, konzernweite Wissenszurechnung ist aufgrund des Trennungsprinzips mit der h. M. abzulehnen.32) Jedoch können bestimmte Umstände auch im Konzern eine Zurechnung begründen.33) Dazu zählen insbesondere das Bestehen eines gemeinsamen Datenpools, auf den die Konzerngesellschaften zugreifen können,34) Fälle der Personalunion,35) bspw. bei Vorstandsdoppelmandaten, sowie bei der Auslagerung der Informationsverwaltung der Obergesellschaft oder des gesamten Konzerns auf die abhängige Gesellschaft.36) Abzulehnen ist eine Wissensweiterleitung jedenfalls dann, wenn sie einen Verstoß gegen Verschwiegenheitspflichten begründen würde.37) Dies hat der BGH in seiner Entscheidung vom 26.4.2016 für den Fall der Zurechnung von Wissen, das ein Prokurist einer Bank als Mitglied des Aufsichtsrats einer AG erlangt hat, unter Verweis auf § 116 Satz 2 bestätigt.38) 13 Auf Willensmängel kann sich die AG berufen, wenn sie beim konkret am Rechtsgeschäft beteiligten Vertreter vorlagen. Dies gilt auch für den Gesamtvertreter. Ausgeschlossen ist die Berufung auf den Willensmangel dagegen, wenn ein anderer Gesamtvertreter das irrende Vorstandsmitglied in Kenntnis von dessen Willensmangel pflichtwidrig nicht über den Irrtum aufgeklärt hat.39) 5.

Haftung der AG für ihre Organe

14 Gemäß § 31 BGB haftet die Gesellschaft ohne Exkulpationsmöglichkeit für zum Schadensersatz verpflichtende Handlungen des Vorstands, eines Vorstandsmitglieds oder eines verfassungsmäßig berufenen Vertreters. Die maßgebliche Handlung muss in Ausführung der organschaftlichen Tätigkeit begangen worden sein, was durch eine Überschreitung von Befugnissen im Einzelfall nicht ausgeschlossen wird.40) Bei Vorstandsdoppelmanda_____________ 28) Übersicht zum Meinungsstand: Armbrüster/Kosich, ZIP 2020, 1494, 1499 f.; Fleischer, NJW 2006, 3239, 3242. 29) Römmer-Collmann, Wissenszurechnung innerhalb juristischer Personen, 1998, S. 190. 30) Ebenso: Fleischer, NJW 2006, 3239, 3242; weiter: Buck-Heeb, WM 2008, 281, 284 f. 31) Vgl. Buck-Heeb, AG 2015, 801; Schirmer, AG 2015, 666; Schwintowski, ZIP 2015, 617; Verse, AG 2015, 413. 32) Bork, ZGR 1994, 237; Drexl, ZHR 161 (1997) 491, 508; Verse, AG 2015, 413, 420; Armbrüster/Kosich, ZIP 2020, 1494, 1503; a. A. Schwintowski, ZIP 2015, 617 ff. 33) S. auch Liebscher, ZIP 2019, 1837, 1843 f.; Guski, ZHR 184 (2020) 363, 385 ff.; Spindler, ZHR 181 (2017) 311, 332 ff.; Schürnbrand, ZHR 181 (2017) 357, 365 ff. 34) BGH, Urt. v. 14.7.1993 – IV ZR 153/92, BGHZ 123, 224 = NJW 1993, 2807. 35) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 78 Rz. 99. 36) Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 78 Rz. 44. 37) Buck-Heeb, WM 2008, 281, 285; Verse, AG 2015, 413, 420; Liebscher, ZIP 2019, 1837, 1847; Armbrüster/Kosich, ZIP 2020, 1494, 1497; a. A. Schwintowski, ZIP 2015, 617 ff.; differenzierend: Schirmer, AG 2015, 666, 668. 38) BGH, Urt. v. 26.4.2016 – XI ZR 108/15, WM 2016, 1031, 1032 ff. = ZIP 2016, 1063, dazu EWiR 2016, 423 (Vetter). 39) Hölters-Weber, AktG, § 78 Rz. 17. 40) BGH, Urt. v. 8.7.1986 – VI ZR 47/85, NJW 1986, 2941 = ZIP 1986, 1179.

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Vertretung

ten kommt es darauf an, welcher Gesellschaft die konkrete Handlung zuzuordnen ist.41) § 31 BGB umfasst alle zum Schadensersatz verpflichtenden Handlungen und gilt auch i. R. von Schuldverhältnissen. Auf § 278 BGB muss nicht zurückgegriffen werden.42) Die Norm ist auch auf die Vorgesellschaft anwendbar.43) 6.

Gewillkürte Stellvertretung

Die Vollmachtserteilung an Dritte ist grundsätzlich zulässig und kann nicht durch eine Sat- 15 zungsregelung ausgeschlossen werden.44) Die gewillkürte Vertretung der Gesellschaft ist durch rechtsgeschäftliche Vertreter gemäß §§ 164 ff. BGB, Prokuristen gemäß §§ 48 ff. HGB und Handlungsbevollmächtigte gemäß § 54 HGB möglich. Vorstandsmitglieder können nach h. M. nicht bevollmächtigt werden.45) Bei der Erteilung der Vertretungsmacht vertritt der Vorstand die AG, die Bevollmächtigten handeln jedoch als Vertreter der Gesellschaft. Hinsichtlich der Offenkundigkeit gelten die Grundsätze des unternehmensbezogenen Rechtsgeschäfts. Danach geht der Wille der Beteiligten im Zweifel dahin, dass der Inhaber des Unternehmens, in dessen Tätigkeitsbereich das rechtsgeschäftliche Handeln fällt, und nicht der für das Unternehmen Handelnde der Vertragspartner werden soll.46) Auch die allgemeinen Grundsätze zur Rechtsscheinvollmacht sind anwendbar.47) Die Satzung oder der Aufsichtsrat können gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 für die Erteilung der Prokura die Zustimmung des Aufsichtsrats vorsehen. Diese wirkt jedoch nur intern und hat keinen Einfluss auf die Wirksamkeit der Bestellung. Sie ist daher auch keine vom Registergericht zu prüfende Eintragungsvoraussetzung.48) Eine Generalvollmacht in Form einer Bevollmächtigung zur Vornahme aller Rechtshandlungen für den Vollmachtgeber ist für die Vertretung der AG grundsätzlich zulässig.49) Sie muss jedoch nach allgemeiner Meinung widerruflich erteilt werden.50) III.

Gesetzliche Vertretungsregelung (§ 78 Abs. 2)

1.

Aktivvertretung

Für die Aktivvertretung gilt gemäß § 78 Abs. 2 Satz 1 beim mehrköpfigen Vorstand das Prin- 16 zip der Gesamtvertretung. Dies dient dem größtmöglichen Schutz der Gesellschaft vor übereilten Maßnahmen und Unzulänglichkeiten einzelner Vorstandsmitglieder.51) Eine gesetzliche Ausnahme trifft § 15 Abs. 1 Satz 1 InsO für das Insolvenzantragsrecht aus Gründen des Gläubigerschutzes. _____________ 41) 42) 43) 44) 45) 46)

47) 48) 49) 50) 51)

BGH, Urt. v. 2.12.2014 – VI ZR 501/13, BeckRS 2014, 23725. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 78 AktG Rz. 64. Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 78 Rz. 6; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 78 Rz. 23. Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, § 78 Rz. 8; Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 78 Rz. 80. BGH, Urt. v. 12.12.1960 – II ZR 255/59, BGHZ 34, 27 = NJW 1961, 506 = GmbHR 1961, 29 – zur GmbH; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 78 Rz. 110. Allgemein zum Grundsatz des unternehmensbezogenen Geschäfts: BGH, Urt. v. 3.2.1975 – II ZR 128/73, BGHZ 64, 11, 14 = NJW 1975, 1166; BGH, Urt. v. 31.7.2012 • X ZR 154/11, NJW 2012, 3368 = DB 2012, 2214, dazu EWiR 2013, 71 (Siebert). Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 78 Rz. 10; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 78 Rz. 52. BGH, Beschl. v. 14.2.1974 – II ZB 6/73, BGHZ 62, 166 = NJW 1974, 1194 – zur GmbH. BGH, Urt. v. 22.1.1962 – II ZR 11/61, BGHZ 36, 292 = NJW 1962, 738; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 78 AktG Rz. 52; Kubis/TödtmannǦRichter, ArbHdb. Vorstandsmitglieder, § 6 Rz. 29. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 78 Rz. 78; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR., Bd. 4, § 23 Rz. 30. BGH, Urt. v. 8.7.1986 – VI ZR 47/85, NJW 1986, 2941, 2942 = ZIP 1986, 1179; Spindler in: MünchKommAktG, § 78 Rz. 27; Hölters-Weber, AktG, § 78 Rz. 20.

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Vertretung

17 Ist ein Vorstandsmitglied vorübergehend verhindert, kann die AG nicht wirksam vertreten werden.52) Bei Wegfall eines Vorstandsmitglieds besteht die Vertretungsmacht nur fort, wenn die statuarisch oder gesetzlich bestimmte Anzahl an Vorstandsmitgliedern dadurch nicht unterschritten wird.53) 18 Die Art und Weise der Gesamtvertretung ist gesetzlich nicht geregelt. Möglich ist eine gemeinsame Abgabe der Erklärungen, eine getrennte Abgabe inhaltlich übereinstimmender Erklärungen und eine nachträgliche Zustimmung (§ 177 BGB), die auch intern erteilt werden kann.54) Bei formbedürftigen Erklärungen müssen alle Vorstandsmitglieder unterzeichnen. Alternativ muss eine Unterschrift den Hinweis enthalten, dass das unterzeichnende Vorstandsmitglied auch die Vorstandsmitglieder vertreten will, die nicht unterzeichnet haben.55) Nimmt dem Erscheinungsbild der Urkunde nach der Unterzeichner für sich allein die Berechtigung zum Abschluss des vertraglichen Geschäfts in Anspruch, reicht dessen eigene Unterschrift zur Wahrung der Schriftform aus. Im Übrigen hängt die Wirksamkeit der Erklärung von der Vertretungsmacht ab.56) 2.

Passivvertretung

19 Für die Passivvertretung besteht gemäß § 78 Abs. 2 Satz 2 zwingend Einzelvertretungsbefugnis.57) Dies gilt auch, soweit ausnahmsweise der Aufsichtsrat die Gesellschaft vertritt. Im Fall der unechten Gesamtvertretung genügt gemäß § 78 Abs. 3 Satz 3, wenn die Erklärung gegenüber dem Prokuristen als rechtsgeschäftlichem Vertreter abgegeben wird.58) Zustellungen von Klagen können gemäß § 170 Abs. 3 ZPO wirksam an einen Gesamtvertreter bewirkt werden. 3.

Erleichterte Erreichbarkeit

20 Seit Inkrafttreten des MoMiG 2008 muss die AG bei der Anmeldung gemäß §§ 37 Abs. 3 Nr. 1, 39 Abs. 1 eine inländische Geschäftsanschrift angeben. Der dadurch bezweckte Gläubigerschutz59) wird durch § 78 Abs. 2 Satz 3 vervollständigt. Danach besteht eine unwiderlegliche Vermutung der Erreichbarkeit unter der inländischen Geschäftsanschrift, sofern sich dort ein Geschäftslokal befindet oder zumindest ein entsprechender Rechtsschein vorliegt.60) Daneben eröffnet § 78 Abs. 2 Satz 4 die Möglichkeit der Zustellung an den inländischen Empfangsvertreter. Diesen kann die Gesellschaft bestellen und gemäß § 39 Abs. 2 Satz 1 eingetragen lassen. Ist die Zustellung auf den genannten Wegen unmöglich, kommt eine öffentliche Bekanntgabe gemäß § 185 Nr. 2 ZPO in Betracht. IV.

Abweichende Regelungen (§ 78 Abs. 3)

1.

Übersicht

21 Die Regelungen zur Aktivvertretung sind dispositiv. Die Satzung oder der Aufsichtsrat auf Grundlage einer Satzungsermächtigung können gemäß § 78 Abs. 3 Abweichungen vom _____________ 52) BGH, Urt. v. 12.12.1960 – II ZR 255/59, BGHZ 34, 27, 29 = NJW 1961, 506 = GmbHR 1961, 29 – zur GmbH; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 78 Rz. 11. 53) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 78 Rz. 65; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 78 Rz. 16. 54) Henssler/Strohn-Dauner-Lieb, GesR, § 78 AktG Rz. 10; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 78 Rz. 12. 55) BGH, Urt. v. 4.11.2009 – XII ZR 86/07, BGHZ 183, 67 = NJW 2010, 1453. 56) BGH, Urt. v. 23.1.2013 – XII ZR 35/11, NJW 2013, 1082, 1083 = MDR 2013, 395. 57) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 78 Rz. 30; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 78 Rz. 15. 58) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 78 Rz. 19; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 78 Rz. 47, 83. 59) Begr. RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 35. 60) Vgl. Begr. RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 43; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 78 AktG Rz. 29.

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§ 78

Vertretung

gesetzlichen Modell der Gesamtvertretung vorsehen. Auch der Aufsichtsrat hat diese Befugnis, sofern sie ihm durch die Satzung eingeräumt wird. Der Aufsichtsrat kann die Regelung gemäß § 107 Abs. 3 Satz 1 einem Ausschuss überlassen. Ein Hauptversammlungsbeschluss reicht dagegen nicht aus.61) Unzulässig ist ein vollständiger Ausschluss einzelner Vorstandsmitglieder von der Vertretung.62) Gängige Gestaltungsformen sind die Einzelvertretung, unechte Gesamtvertretung und gemeinschaftliche Vertretung durch mehrere Vorstandsmitglieder. 2.

Einzelvertretung

§ 78 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 nennt den in der Praxis eher seltenen Fall der Einzelvertretung. 22 Einzelnen oder mehreren Vorstandsmitgliedern kann das Recht eingeräumt werden, die Gesellschaft ohne Mitwirkung anderer Vorstandsmitglieder oder Prokuristen zu vertreten. Werden nur einzelne Vorstandsmitglieder mit Einzelvertretungsbefugnis ausgestattet, so bleibt es für die übrigen beim Grundsatz der Gesamtvertretung.63) Mit § 82 Abs. 1 unvereinbar und daher unzulässig ist eine inhaltliche Beschränkung der Einzelvertretungsmacht auf bestimmte Geschäfte.64) 3.

Unechte Gesamtvertretung

Unechte Gesamtvertretung liegt vor, wenn gemäß § 78 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 einzelne Vor- 23 standsmitglieder gemeinschaftlich mit einem Prokuristen zur Vertretung der Gesellschaft befugt sind. Zweck ist die Erleichterung der Vertretung. Eine bereits eingeräumte Einzelvertretungsmacht eines Vorstandsmitglieds darf hierdurch nicht beschränkt werden.65) Da der Grundsatz der unbeschränkten Leitungsmacht des Vorstands gewahrt werden muss, kann die zwingende Mitwirkung eines Prokuristen für einen Alleinvorstand oder für sämtliche Mitglieder eines mehrköpfigen Vorstands nicht eingeführt werden.66) Der Umfang der Vertretungsmacht des Prokuristen richtet sich nicht nach den §§ 49 ff. 24 HGB, sondern nach dem Umfang der organschaftlichen Vertretungsmacht des Vorstandsmitglieds, § 82 Abs. 2, denn die unechte Gesamtvertretung ist organschaftliche Vertretung durch das handelnde Vorstandsmitglied, die nur an die Mitwirkung des Prokuristen gebunden ist.67) Im Rahmen der Passivvertretung ist gemäß § 78 Abs. 3 Satz 3, Abs. 2 Satz 2 die Abgabe einer Willenserklärung gegenüber dem Prokuristen ausreichend.68) 4.

Gemeinschaftliche Vertretung durch mehrere Vorstandsmitglieder

Die gemeinschaftliche Vertretung ist nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt, jedoch allge- 25 mein anerkannt.69) Eine mögliche Ausprägung ist die halbseitige Vertretung, bei der ein Vorstandsmitglied Alleinvertretungsmacht erhält, während die anderen Vorstandsmit_____________ 61) 62) 63) 64) 65) 66) 67) 68) 69)

Spindler in: MünchKomm-AktG, § 78 Rz. 56; Hölters-Weber, AktG, § 78 Rz. 29. Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 78 Rz. 62; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 78 Rz. 14. Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 78 Rz. 66; Fleischer-Kort, Hdb. VorstandsR, § 2 Rz. 53. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 78 AktG Rz. 37; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 78 Rz. 25. BGH, Urt. v. 31.3.1954 – II ZR 57/53, BGHZ 13, 61, 65 = NJW 1954, 1158; BGH, Urt. v. 6.2.1958 – II ZR 210/56, BGHZ 26, 330, 333 = NJW 1958, 668; Hölters-Weber, AktG, § 78 Rz. 32. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 78 Rz. 16; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 78 Rz. 41; Roquette in: FS Oppenhoff, S. 335, 337 ff. RGZ 134, 303, 306; BGH, Urt. v. 31.3.1954 – II ZR 57/53, BGHZ 13, 61 = NJW 1954, 1158; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 78 AktG Rz. 39; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 78 Rz. 17. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 78 Rz. 17; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 78 Rz. 47, 83. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 78 AktG Rz. 40 m. w. N.; Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 78 Rz. 69.

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565

§ 78

Vertretung

glieder zur wirksamen Vertretung dessen Mitwirkung bedürfen.70) Außerdem können verschiedene Vertretungsgruppen eingeführt werden, bei denen jeweils eine begrenzte Anzahl namentlich benannter Vorstandsmitglieder gemeinsam die Gesellschaft vertritt.71) V.

Einzelermächtigungen (§ 78 Abs. 4)

1.

Allgemeines

26 Im Wege der Einzelermächtigung werden einzelne Gesamtvertreter dazu ermächtigt, bestimmte Geschäfte oder bestimmte Arten von Geschäften allein vorzunehmen. Diese Möglichkeit ist in § 78 Abs. 4 Satz 1 normiert und gilt gemäß § 78 Abs. 4 Satz 2 auch für die unechte Gesamtvertretung. Die Einzelermächtigung ist eine Ausübungsermächtigung.72) Hierbei wird das Vorstandsmitglied aufgrund der Gesamtvertretungsermächtigung ermächtigt, die organschaftliche Gesamtvertretungsmacht der ihn ermächtigenden Vorstandsmitglieder im eigenen Namen auszuüben.73) Auch der ermächtigte Prokurist übt entgegen der noch h. M., ebenso wie im Grundfall der gemischten Gesamtvertretung, organschaftliche Vertretungsmacht aus.74) 2.

Erteilung

27 Die Einzelermächtigung wird durch die Vorstandsmitglieder in vertretungsberechtigter Zahl erteilt. Auch der Ermächtigte selbst darf mitwirken.75) Sie bedarf keiner bestimmten Form und kann auch konkludent zustande kommen.76) Entsprechend § 167 BGB ist die Ermächtigung sowohl intern gegenüber dem ermächtigten Vorstandsmitglied oder Prokuristen, als auch extern gegenüber Dritten möglich.77) Prokuristen können bei unechter Gesamtvertretung gemäß § 78 Abs. 4 Satz 2 einerseits Ermächtigte und anderseits auch Ermächtigende sein.78) Die erteilte Einzelermächtigung ist nicht übertragbar.79) 3.

Umfang

28 Die Erteilung einer Generalermächtigung unterliefe den Grundsatz der Gesamtvertretung und ist daher unzulässig und nichtig.80) Gemäß § 78 Abs. 4 Satz 1 ist eine Beschränkung auf bestimmte Geschäfte oder bestimmte Arten von Geschäften notwendig. Eine Ermächtigung zur Abwicklung der gesamten Geschäftsbeziehung einer AG gegenüber ihrer Haus_____________ 70) BGH, Beschl. v. 14.2.1974 – II ZB 6/73, BGHZ 62, 166, 171 = NJW 1974, 1194, 1195 – zur GmbH; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 78 Rz. 27. 71) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 78 Rz. 33; Hölters-Weber, AktG, § 78 Rz. 31. 72) Köhl, NZG 2005, 197, 198; Schwarz, NZG 2001, 529, 535; a. A. mit Annahme einer Handlungsvollmacht: RGZ 48, 56, 58; RGZ 80, 180, 182; Heim, NJW 1961, 1515 ff. 73) Schwarz, NZG 2001, 529, 535, 539. 74) Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 78 Rz. 72; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 78 AktG Rz. 42; Schwarz, NZG 2001, 529, 535 ff.; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 78 Rz. 22; Hölters-Weber, AktG, § 78 Rz. 35; a. A. Frels, ZHR 122 (1959) 173, 186; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 78 Rz. 20; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 78 Rz. 61; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 78 Rz. 33. 75) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 78 Rz. 19; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 78 Rz. 29; a. A. Habersack/ Foerster in: GroßKomm-AktG, § 78 Rz. 74. 76) OLG Köln, Urt. v. 16.11.1976 – 15 U 69/76, OLGZ 1977, 343, 345 – zur GmbH; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 78 Rz. 66. 77) Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 78 Rz. 22; Hölters-Weber, AktG, § 78 Rz. 36. 78) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 78 AktG Rz. 43; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 78 Rz. 22. 79) Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 78 Rz. 72. 80) BGH, Urt. v. 12.12.1960 – II ZR 255/59, BGHZ 34, 27 = NJW 1961, 506, 507 = GmbHR 1961, 29 – zur GmbH; BGH, Urt. v. 25.11.1985 – II ZR 115/85, ZIP 1986, 501= AG 1986, 259.

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§ 80

Angaben auf Geschäftsbriefen

bank wurde von der Rechtsprechung bspw. als zu weitgehend angesehen.81) Auch eine sog. Ressortermächtigung, bei der ein Vorstandsmitglied zur Vertretung i. R. eines gesamten, ihm intern zugewiesenen Ressorts ermächtigt wird, ist nach h. M. zu weitreichend.82) 4.

Widerruf

Ein Widerruf ist durch einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung jederzeit bis zur 29 Vornahme des Rechtsgeschäfts formlos und ohne Gründe möglich.83) Gegenüber Dritten gelten die §§ 170 bis 173 BGB entsprechend.84) Nach dem Rechtsgedanken des § 116 Abs. 3 Satz 2 HGB hat jeder ein Widerrufsrecht, der bei der Erteilung mitgewirkt hat.85) Entgegen der überwiegenden Ansicht86) können Vorstandsmitglieder, die bei Erteilung der Ermächtigung nicht mitgewirkt haben, aufgrund der dogmatischen Verankerung der Einzelermächtigung als Ausübungsermächtigung dagegen auch nicht in vertretungsberechtigter Zahl einen wirksamen Widerruf vornehmen.87) _____________ 81) Vgl. BGH, Urt. v. 25.11.1985 – II ZR 115/85, ZIP 1986, 501 = AG 1986, 259 – zu einem Abgrenzungsfall hinsichtlich der gebotenen Einschränkung. 82) BGH, Urt. v. 16.11.1987 – II ZR 92/87, ZIP 1988, 370, 371 = WM 1988, 216; Fleischer in: BeckOGKAktR, § 78 Rz. 46; a. A. Schwarz, ZGR 2001, 744, 761 ff. 83) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 78 AktG Rz. 47; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 78 Rz. 22; Schwarz, ZGR 2001, 744, 774. 84) Hölters-Weber, AktG, § 78 Rz. 38; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 78 Rz. 74. 85) H. M., Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 78 Rz. 62; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 78 AktG Rz. 47; Schwarz, ZGR 2001, 744, 775; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 78 Rz. 24; a. A. Spindler in: MünchKomm-AktG, § 78 Rz. 72; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 78 Rz. 31. 86) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 78 Rz. 22; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 78 Rz. 62; K. Schmidt/ Lutter-Seibt, AktG, § 78 Rz. 31; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 78 Rz. 73; nunmehr auch GrigoleitGrigoleit, AktG, § 78 Rz. 24. 87) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 78 AktG Rz. 47; Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 78 Rz. 78; Schwarz, ZGR 2001, 744, 776 ff.; kritisch auch: Grigoleit-Vedder, AktG, 1. Aufl. 2013, § 78 Rz. 22.

§ 79 1) (aufgehoben) Simon Link

_____________ 1)

Aufgehoben mit Wirkung zum 1.11.2008 durch Art. 5 des Gesetzes v. 23.10.2008 – MoMiG, BGBl. I 2008, 2026.

§ 80 Angaben auf Geschäftsbriefen Simon Link

(1) 1Auf allen Geschäftsbriefen gleichviel welcher Form, die an einen bestimmten Empfänger gerichtet werden, müssen die Rechtsform und der Sitz der Gesellschaft, das Registergericht des Sitzes der Gesellschaft und die Nummer, unter der die Gesellschaft in das Handelsregister eingetragen ist, sowie alle Vorstandsmitglieder und der Vorsitzende des Aufsichtsrats mit dem Familiennamen und mindestens einem ausgeschriebenen Vornamen angegeben werden. 2Der Vorsitzende des Vorstands ist als solcher zu bezeichnen. 3Werden Angaben über das Kapital der Gesellschaft gemacht, so müssen in jedem Falle das Grundkapital sowie, wenn auf die Aktien der Ausgabebetrag nicht vollständig eingezahlt ist, der Gesamtbetrag der ausstehenden Einlagen angegeben werden. Simon Link

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§ 80

Angaben auf Geschäftsbriefen

(2) Der Angaben nach Absatz 1 Satz 1 und 2 bedarf es nicht bei Mitteilungen oder Berichten, die im Rahmen einer bestehenden Geschäftsverbindung ergehen und für die üblicherweise Vordrucke verwendet werden, in denen lediglich die im Einzelfall erforderlichen besonderen Angaben eingefügt zu werden brauchen. (3) 1Bestellscheine gelten als Geschäftsbriefe im Sinne des Absatzes 1. 2Absatz 2 ist auf sie nicht anzuwenden. (4) 1Auf allen Geschäftsbriefen und Bestellscheinen, die von einer Zweigniederlassung einer Aktiengesellschaft mit Sitz im Ausland verwendet werden, müssen das Register, bei dem die Zweigniederlassung geführt wird, und die Nummer des Registereintrags angegeben werden; im Übrigen gelten die Vorschriften der Absätze 1 bis 3 für die Angaben bezüglich der Haupt- und der Zweigniederlassung, soweit nicht das ausländische Recht Abweichungen nötig macht. 2Befindet sich die ausländische Gesellschaft in Abwicklung, so sind auch diese Tatsache sowie alle Abwickler anzugeben. Literatur: Altmeppen, Irrungen und Wirrungen um den täuschenden Rechtsformzusatz und seine Haftungsfolgen, NJW 2012, 2833; Altmeppen, Geschäftsleiterhaftung für Weglassen des Rechtsformzusatzes aus deutsch-europäischer Sicht, ZIP 2007, 889; Bärwaldt/Schabacker, Angaben auf Geschäftspapieren inländischer Zweigniederlassungen ausländischer Kapitalgesellschaften, AG 1996, 461; Bredol, Angaben auf Geschäftsbriefen bei Handeln Dritter, NZG 2017, 611; Einmahl, Die erste gesellschaftsrechtliche Richtlinie des Rates der europäischen Gemeinschaften und ihre Bedeutung für das deutsche Aktienrecht, AG 1969, 131; Glaus/Gabel, Praktische Umsetzung der Anforderungen zu Pflichtangaben in E-Mails, BB 2007, 1744; Haßler, Der vakante Aufsichtsratsvorsitz im Licht von § 80 AktG, BB 2016, 461; Hoeren/Pfaff, Pflichtangaben im elektronischen Geschäftsverkehr aus juristischer und technischer Sicht, MMR 2007, 207; Hüttmann, Mindestangaben auf Geschäftsbriefen und Bestellscheinen einer GmbH & Co. ab dem 1.1.1981, DB 1980, 1884; Kindler, Neue Offenlegungspflichten für Zweigniederlassungen ausländischer Kapitalgesellschaften – Zur Umsetzung der Elften gesellschaftsrechtlichen Richtlinie der EG in deutsches Recht, NJW 1993, 3301; Leuering/Rubel, Pflichtangaben in E-Mails: Der Link ins Internet als Alternative, NJW-Spezial 2008, 47; Otte, Folgen der Trennung von Verwaltungs- und Satzungssitz für die gesellschaftsrechtliche Praxis, BB 2009, 344; Schaffland, Angabepflichten auf Geschäftsbriefen für die GmbH & Co. KG, BB 1980, 1501.

Übersicht I. Regelungsgegenstand und Regelungszweck ................................ II. Geschäftsbriefe ................................. III. Erforderliche Angaben (§ 80 Abs. 1) ....................................... 1. Rechtsform und Sitz der Gesellschaft .................................................. 2. Registergericht und -nummer ........... I.

1 2 4 4 5

3. Organmitglieder ................................. 6 4. Angaben zum Gesellschaftskapital .................................................. 7 IV. Ausnahmen (§ 80 Abs. 2) ................. 8 V. Bestellscheine (§ 80 Abs. 3) ............ 10 VI. Zweigniederlassung ausländischer AGs (§ 80 Abs. 4) .................. 11 VII. Rechtsfolgen bei Verstößen ......... 12

Regelungsgegenstand und Regelungszweck

1 Durch die Angaben gemäß § 80 soll der Rechtsverkehr über wesentliche Gesellschaftsverhältnisse aufgeklärt werden, so dass sich zeitraubende Nachforschungen erübrigen.1) Die Norm ist entsprechend auf die Vorgesellschaft anzuwenden.2) § 80 Abs. 1 verpflichtet die Gesellschaft, auf Geschäftsbriefen bestimmte Angaben aufzunehmen. § 80 Abs. 2 sieht _____________ 1) 2)

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Begr. RegE in: Kropff, AktG, S. 101. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 80 AktG Rz. 2; Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 80 Rz. 1; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 80 Rz. 3.

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§ 80

Angaben auf Geschäftsbriefen

Ausnahmen für formularmäßige Mitteilungen und Berichte i. R. einer bestehenden Geschäftsverbindung vor. Auf Bestellscheine bleibt gemäß § 80 Abs. 3 die Regelung zu Geschäftsbriefen anwendbar. Der zuletzt i. R. des MoMiG geänderte § 80 Abs. 4 erstreckt einzelne Publizitätspflichten auch auf ausländische Gesellschaften mit inländischen Zweigniederlassungen. II.

Geschäftsbriefe

Der Begriff ist im Hinblick auf den Publizitätszweck der Norm weit auszulegen.3) Um- 2 fasst sind alle geschäftlichen Mitteilungen der Gesellschaft, gleich welcher Form, die an einen bestimmten außenstehenden Empfänger gerichtet sind.4) Keine geschäftliche Mitteilung liegt bspw. bei persönlichen Glückwunsch- oder Kondolenz- 3 schreiben vor.5) Nicht betroffen sind mangels eines bestimmten Empfängers Werberundschreiben, öffentliche Bekanntmachungen und Anzeigen, durch die ein unbestimmter Personenkreis angesprochen werden soll.6) Schon aus dem Wortlaut der Norm ergibt sich, dass die äußere Form der Mitteilung nicht entscheidend ist, sondern allein der für den Empfänger persönlich bestimmte Inhalt. Der Regelung unterliegen bspw. auch Preislisten, Rechnungen, Lieferscheine, Auftrags- und Empfangsbestätigungen und Gesprächsprotokolle.7) Sie gilt außerdem für elektronische Mitteilungen, insbesondere E-Mails.8) Nach dem Wortlaut „auf dem Geschäftsbrief“ und zur Wahrung des Publizitätszwecks in der Praxis ist erforderlich, dass die Pflichtangaben im Mailtext selbst enthalten sind, ein Link oder Dateianhang reicht nicht aus.9) Nachrichten mit begrenzter Zeichenzahl (bspw. Twitter-Nachrichten) fallen aus Praktikabilitätsgründen dagegen nicht unter die Kennzeichnungspflicht.10) Rein innergesellschaftliche Kommunikation unterliegt mangels eines außenstehenden Empfängers nicht § 80, wohl aber die Korrespondenz zwischen verbundenen Unternehmen sowie Mitteilungen an Arbeitnehmer, die das Arbeitsverhältnis begründen, abändern oder beenden.11) III.

Erforderliche Angaben (§ 80 Abs. 1)

1.

Rechtsform und Sitz der Gesellschaft

Es genügt nach ganz h. M. die Bezeichnung „AG“ als Kurzform.12) Ausreichend ist auch, 4 wenn sich die Rechtsform bereits aus der angegeben Firma ergibt.13) Die Angabe des Sitzes _____________ 3) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 80 AktG Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 80 Rz. 2. 4) Bärwaldt/Schabacker, AG 1996, 461, 462; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 80 Rz. 13; HöltersWeber, AktG, § 80 Rz. 3. 5) Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, § 80 Rz. 3; Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 80 Rz. 6. 6) Begr. RegE in: Kropff, AktG, S. 101. 7) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 80 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 80 Rz. 8. 8) BGH, Beschl. v. 22.2.2011 – II ZR 301/08, BeckRS 2011, 07102; Begr. RegE EHUG, BT-Drucks. 16/ 960, S. 47 f. 9) Hoeren/Pfaff, MMR 2007, 207, 208 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 80 Rz. 2; Spindler in: MünchKommAktG, § 80 Rz. 19; Bredol, NZG 2017, 611; a. A. Glaus/Gabel, BB 2007, 1744, 1745; Leuering/Rubel, NJW-Spezial 2008, 47 f. 10) Hoeren/Pfaff, MMR 2007, 207, 208; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 80 Rz. 8. Allerdings zu SMSNachrichten mit mehr als 160 Zeichen: Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 80 AktG Rz. 5; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 80 Rz. 19. 11) Heidel-Fischer/Ammon, AktR, § 80 AktG Rz. 8; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 80 AktG Rz. 6; Mertens/ Cahn in: KölnKomm-AktG, § 80 Rz. 13. 12) Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 80 Rz. 16; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 80 Rz. 9; HöltersWeber, AktG, § 80 Rz. 7. 13) Hüttmann, DB 1980, 1884; Schaffland, BB 1980, 1501, 1502; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 80 Rz. 2; a. A. Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 80 Rz. 16.

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§ 80

Angaben auf Geschäftsbriefen

der Gesellschaft (§ 5) dient dazu, dem Rechtsverkehr die Ermittlung des allgemeinen Gerichtsstands gemäß § 17 Abs. 1 ZPO zu erleichtern. Maßgeblich ist daher der Satzungssitz, nicht der möglicherweise abweichende Verwaltungssitz.14) Der Ort der Zweigniederlassung oder Betriebstätte genügt nicht.15) 2.

Registergericht und -nummer

5 Die obligatorische Angabe von Registergericht und Nummer der Gesellschaft kann in abgekürzter Form, bspw. „AG München HRB 1234“, erfolgen.16) 3.

Organmitglieder

6 Alle Vorstandsmitglieder und der Vorsitzende des Aufsichtsrats sind unter vollständiger Nennung des Familiennamens und mindestens eines Vornamens anzugeben. Der Vorstandsvorsitzende ist als solcher zu bezeichnen.17) Im Umkehrschluss sind sonstige Ämterbezeichnungen, bspw. die des Arbeitsdirektors, nicht anzugeben und werden teilweise für unzulässig gehalten. Stellvertretende Vorstandsmitglieder (§ 94) sind zu nennen, jedoch ohne Vertreterzusatz.18) Gemäß § 85 gerichtlich bestellte Vorstandsmitglieder sind als Notvorstand zu bezeichnen.19) Bei plötzlicher Vakanz der Position des Aufsichtsratsvorsitzenden sollte bis zur schnellstmöglichen Neuwahl die Stelle als derzeit vakant ausgewiesen werden.20) 4.

Angaben zum Gesellschaftskapital

7 Angaben zum Gesellschaftskapital sind fakultativ. Entscheidet sich die Gesellschaft für eine Angabe, gelten die Anforderungen des Absatz 1 Satz 3. Wird von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, sind in jedem Fall das Grundkapital und der Gesamtbetrag etwaiger ausstehender Bareinlagen anzugeben. Maßgeblich ist der Ausgabebetrag der Aktien.21) Ausstehende Sacheinlagen unterfallen nicht dem § 80 Abs. 1 Satz 3, sind aber gemäß §§ 3, 5, 5a UWG anzugeben, wenn eine Irreführung des Rechtsverkehrs droht.22) IV.

Ausnahmen (§ 80 Abs. 2)

8 Für die übliche Verwendung von Schriftstücken in Vordruckform, in die nur im Einzelfall erforderliche Angaben eingefügt werden müssen, sieht § 80 Abs. 2 i. R. bestehender Geschäftsverbindungen eine Ausnahme von der Kennzeichnungspflicht vor. Entsprechende Vordrucke können bspw. Auftragsbestätigungen, Lieferscheine, Kontoauszüge und Mahnungen sein.23) Eine ausdrückliche Gegenausnahme besteht gemäß § 80 Abs. 3 dagegen für Bestellscheine.

_____________ 14) 15) 16) 17) 18) 19) 20) 21) 22) 23)

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Otte, BB 2009, 344, 345. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 80 Rz. 3; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 80 Rz. 9. Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 80 Rz. 9; Hölters-Weber, AktG, § 80 Rz. 8. Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 80 Rz. 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 80 Rz. 3. Vgl. BGH, Beschl. v. 10.11.1997 – II ZB 6–97, ZIP 1998, 152 = AG 1998, 137 – zur GmbH; Mertens/ Cahn in: KölnKomm-AktG, § 80 Rz. 6; a. A. Spindler in: MünchKomm-AktG, § 80 Rz. 11. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 80 Rz. 4; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 80 Rz. 12. Haßler, BB 2016, 461 ff. Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 80 Rz. 18; Hölters-Weber, AktG, § 80 Rz. 10. Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 80 Rz. 18; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 80 Rz. 7. Spindler in: MünchKomm-AktG, § 80 Rz. 23 mit weiteren Bsp.

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§ 80

Angaben auf Geschäftsbriefen

Die Üblichkeit der Verwendung richtet sich nach der jeweiligen Branche und ist im Ein- 9 zelfall zu ermitteln.24) Eine bestehende Geschäftsverbindung setzt voraus, dass zuvor zumindest einmal ein Schriftverkehr unter Vornahme der Angaben gemäß § 80 Abs. 1 stattgefunden hat.25) V.

Bestellscheine (§ 80 Abs. 3)

Bestellscheine sind Vordrucke, mit denen Geschäftspartner der Gesellschaft einen Ver- 10 trag auf Leistung der Gesellschaft anbieten oder annehmen.26) Diese unterfallen nicht der Befreiung des § 80 Abs. 2 und sind daher als Geschäftsbriefe gemäß Absatz 1 zu behandeln. Hintergrund ist Art. 4 der EU-Publizitätsrichtlinie, der eine entsprechende Ausnahme nicht vorsieht.27) VI.

Zweigniederlassung ausländischer AGs (§ 80 Abs. 4)

Gemäß § 80 Abs. 4 ist auf allen Geschäftsbriefen und Bestellscheinen der inländischen 11 Zweigniederlassung einer ausländischen AG das Register, bei dem die Zweigniederlassung geführt wird (§ 13d Abs. 1 HGB), und die Nummer des Registereintrags anzugeben. Vorbehaltlich abweichender Vorschriften des ausländischen Rechts, bspw. wenn dieses keine Registereintragung voraussetzt,28) sind die Regelungen der Absätze 1 – 3 darüber hinaus sowohl auf die ausländische Haupt- als auch die inländische Zweigniederlassung anwendbar. Diese doppelte Angabepflicht dient der Transparenz und dem Gläubigerschutz.29) Angaben müssen in deutscher Sprache erfolgen.30) Die vollständige ausländische Firma ist jedoch in Originalsprache anzugeben, versehen mit einem erläuternden Klammerzusatz (bspw. „AG nach spanischem Recht“).31) Im Fall einer Abwicklung der ausländischen Gesellschaft sind gemäß § 80 Abs. 4 Satz 2 Angaben zur Tatsache der Abwicklung sowie zu den Namen der Abwickler zu machen. VII. Rechtsfolgen bei Verstößen § 80 ist eine Ordnungsvorschrift.32) Die vorgeschriebenen Angaben sind keine Voraus- 12 setzung für die Gültigkeit von Erklärungen der Gesellschaft. Im Einzelfall kommt bei falschen Angaben jedoch eine Anfechtung gemäß §§ 119 ff. BGB in Betracht.33) Die AG kann einer Haftung aus culpa in contrahendo (c. i. c.) gemäß §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 BGB ausgesetzt sein.34) Nach h. M. ist § 80 darüber hinaus Schutzgesetz i. S. des § 823 Abs. 2 BGB.35) Das Delikt kann der Gesellschaft nach § 31 BGB zugerechnet werden.36) _____________ 24) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 80 Rz. 5. 25) Einmahl, AG 1969, 131, 136; Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 80 Rz. 14; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 80 Rz. 7. 26) Hölters-Weber, AktG, § 80 Rz. 6. 27) Richtlinie 68/151/EWG v. 9.3.1968, ABl. (EG) L 65/8 ff., neu gefasst durch Richtlinie 2009/101/EG v. 16.9.2009, ABl. (EG) L 258/11 ff. 28) Vgl. Kindler, NJW 1993, 3301, 3305. 29) Vgl. Begr. RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 43. 30) Bärwaldt/Schabacker, AG 1996, 461, 462; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 80 AktG Rz. 16. 31) Bärwaldt/Schabacker, AG 1996, 461; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 80 Rz. 11. 32) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 80 Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 80 Rz. 11. 33) OLG Hamm, Urt. v. 9.1.1990 – 26 U 21/89, NJW-RR 1990, 523; Mertens/Cahn in: KölnKommAktG, § 80 Rz. 22. 34) Henssler/Strohn-Dauner-Lieb, GesR, § 80 AktG Rz. 11; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 80 Rz. 13. 35) LG Detmold, Urt. v. 20.10.1989 – 9 O 402/89, NJW-RR 1990, 995 = GmbHR 1991, 23 – zur GmbH; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 80 AktG Rz. 18; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 80 Rz. 8; a. A. Altmeppen, NJW 2012, 2833, 2836; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 80 Rz. 22. 36) Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 80 Rz. 20.

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§ 81

Änderung des Vorstands und der Vertretungsbefugnis seiner Mitglieder

Eine Verletzung der Angabepflicht kann in schwerwiegenden Fällen einen Verstoß gegen § 3 UWG darstellen.37) Werden bereits ausgeschiedene Vorstandsmitglieder im Geschäftsbrief weiter aufgeführt, besteht die Möglichkeit einer Rechtsscheinhaftung der Gesellschaft (siehe oben § 76 Rz. 68). 13 Gemäß § 407 Abs. 1 kann das Registergericht zur Einhaltung der Pflichten aus § 80 Abs. 1 gegenüber den Vorstandsmitgliedern ein Zwangsgeld festsetzen. Bei Angabe eines falschen Rechtsformzusatzes wird darüber hinaus vereinzelt eine persönliche Haftung aus c. i. c. bejaht, wenn der falsche Eindruck entsteht, dem Vertragspartner hafte eine Gesellschaft mit höherer Bonität als dies in Wirklichkeit der Fall ist.38) Dabei wird allerdings nicht ausreichend berücksichtigt, dass die Eigenhaftung der Organmitglieder restriktiv zu handhaben ist und nur bei Inanspruchnahme besonderen Vertrauens bejaht werden kann.39) Richtigerweise nimmt die Rechtsprechung daher eine Rechtsscheinhaftung des Vertreters analog § 179 BGB an, wenn das Vorstandsmitglied die Haftungsbeschränkung der AG (etwa durch irreführende Briefbögen) nicht ausreichend kenntlich gemacht hat.40) Da § 80 ein Schutzgesetz i. S. des § 823 Abs. 2 BGB ist (siehe Rz. 12), haften die für die Irreführung verantwortlichen Vorstandsmitglieder dem Vertragspartner außerdem gemäß § 823 Abs. 2 BGB auf Schadensersatz.41) _____________ 37) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 80 Rz. 28; Hölters-Weber, AktG, § 8 Rz. 12. 38) Altmeppen, ZIP 2007, 889, 894 f.; Altmeppen, NJW 2012, 2833, 2837 f. 39) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 157 f.; für eine restriktive Handhabung – Bejahung von c. i. c. nur in seltenen Ausnahmefällen – auch K. Schmidt/Lutter-Seibt, § 80 Rz. 11. 40) BGH, Urt. v. 12.6.2012 – II ZR 256/11, NJW 2012, 2871 = ZIP 2012, 1659, dazu EWiR 2012, 697 (Heckschen); BGH, Urt. v. 3.2.1975 – II ZR 128/73, BGHZ 64, 11 = NJW 1975, 1166; Habersack/ Foerster in: GroßKomm-AktG, § 80 Rz. 21; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 163; a. A. Altmeppen, NJW 2012, 2833 ff. 41) Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 80 Rz. 20.

§ 81 Änderung des Vorstands und der Vertretungsbefugnis seiner Mitglieder Simon Link

(1) Jede Änderung des Vorstands oder der Vertretungsbefugnis eines Vorstandsmitglieds hat der Vorstand zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden. (2) Der Anmeldung sind die Urkunden über die Änderung in Urschrift oder öffentlich beglaubigter Abschrift beizufügen. (3) Die neuen Vorstandsmitglieder haben in der Anmeldung zu versichern, daß keine Umstände vorliegen, die ihrer Bestellung nach § 76 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 und 3 sowie Satz 3 entgegenstehen, und daß sie über ihre unbeschränkte Auskunftspflicht gegenüber dem Gericht belehrt worden sind. ) § 37 Abs. 2 Satz 2 ist anzuwenden. Literatur: Bönner, Zweigniederlassungen ausländischer Gesellschaften in der notariellen Praxis, RNotZ 2015, 253; Fleischer, Organpublizität im Aktien-, Bilanz, und Kapitalmarktrecht, NZG _____________

)

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§ 81 Abs. 3 Satz 1 geändert durch Art. 18 Nr. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) v. 5.7.2021, BGBl. I 2021, 3338; gemäß § 26m Abs. 1 EGAktG findet die Änderung ab dem 1.8.2022 Anwendung. Satz 1 in der geänderten Fassung lautet: „1Die neuen Vorstandsmitglieder haben in der Anmeldung zu versichern, daß keine Umstände vorliegen, die ihrer Bestellung nach § 76 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 und 3 sowie Satz 3 und 4 entgegenstehen, und daß sie über ihre unbeschränkte Auskunftspflicht gegenüber dem Gericht belehrt worden sind.“

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Änderung des Vorstands und der Vertretungsbefugnis seiner Mitglieder

§ 81

2006, 561; Frels, Handelsregisterliche Fragen bei der Vorstandsbestellung, AG 1967, 227; Hoger, Offene Rechtsfragen zur Eintragung der inländischen Zweigniederlassung einer Kapitalgesellschaft mit Sitz im Ausland, NZG 2015, 1219; Schaub, Stellvertretung bei Handelsregisteranmeldungen, DStR 1999, 1699; Servatius, Zur Eintragung organschaftlicher Vertretungsmacht ins Handelsregister, NZG 2002, 456.

Übersicht I. Regelungsgegenstand und Regelungszweck ................................ 1 II. Anmeldepflicht (§ 81 Abs. 1) ........... 2 1. Umfang der Anmeldepflicht .............. 2 a) Änderung der Zusammensetzung des Vorstands ................. 2 b) Änderung der persönlichen Verhältnisse .................................. 3 c) Änderung der Vertretungsbefugnis ......................................... 4 I.

d) Sonderfall: Zweigniederlassung einer ausländischen Kapitalgesellschaft ............................... 5 2. Anmeldeverfahren (§ 81 Abs. 2) ....... 6 a) Zuständigkeit ............................... 6 b) Vertretung .................................... 8 c) Anmeldezeitpunkt ....................... 9 d) Inhalt und Form ......................... 10 III. Versicherungen (§ 81 Abs. 3) ......... 13 IV. Rechtsfolgen der Eintragung ........ 14

Regelungsgegenstand und Regelungszweck

Aus § 81 Abs. 1 folgt die Pflicht, jede Änderung des Vorstands oder der Vertretungsbe- 1 fugnis der Vorstandsmitglieder zur Eintragung ins Handelsregister anzumelden. § 81 Abs. 2 regelt Details zum Anmeldeverfahren. § 81 Abs. 3 betrifft die Versicherung des Fehlens von Bestellungshindernissen im Anmeldezeitpunkt. Die Norm dient der Information des Rechtsverkehrs über die Vorstandsmitglieder und die Vertretungsverhältnisse der Gesellschaft. Um die Rechtsfolgen der Handelsregisterpublizität gemäß § 15 HGB zu vermeiden, ist die Einhaltung der Pflichten des § 81 im eigenen Interesse der AG. Bei börsennotierten AGs können entsprechende Änderungen des Vorstands neben § 81 auch eine Ad-hocMitteilungspflicht gemäß Art. 17 MAR auslösen.1) II.

Anmeldepflicht (§ 81 Abs. 1)

1.

Umfang der Anmeldepflicht

a)

Änderung der Zusammensetzung des Vorstands

Jede Änderung der personellen Zusammensetzung des Vorstands, unerheblich aus welchem 2 Grund, ist gemäß § 81 Abs. 1 anmeldepflichtig. Davon sind auch stellvertretende Vorstandsmitglieder gemäß § 94 erfasst.2) Ein Wechsel eines Stellvertreters in die Position eines ordentlichen Vorstandsmitglieds oder umgekehrt ist hingegen nicht anzumelden, da der Stellvertretervermerk nicht eintragungsfähig ist.3) Hat sich eine einzutragende Änderung zwischenzeitlich erledigt, besteht nach h. M. keine Eintragungspflicht.4) Scheidet jedoch ein bestelltes Vorstandsmitglied vor Anmeldung der Bestellung aus, sollte, da nach h. M.5) _____________ 1)

2) 3) 4) 5)

BGH, Beschl. v. 25.2.2008 – II ZB 9/07 (Musterverfahren DaimlerChrysler), ZIP 2008, 639 = WM 2008, 641, dazu EWiR 2008, 317 (Wilsing/v. d. Linden), noch zu § 15 Abs. 1 WpHG (jetzt geregelt in Art. 17 der Verordnung [EU] Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.4.2014 über Marktmissbrauch [Marktmissbrauchsverordnung], ABl. [EU] L 173/1 v. 12.6.2014). Spindler in: MünchKomm-AktG, § 81 Rz. 4; Hölters-Weber, AktG, § 81 Rz. 3. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 81 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 81 Rz. 3. Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 81 Rz. 1; Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 81 Rz. 5. BGH, Urt. v. 11.11.1991 – II ZR 287/90, ZIP 1992, 29 = AG 1992, 83; Baumbach/Hopt-Merkt, HGB, § 15 Rz. 11.

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§ 81

Änderung des Vorstands und der Vertretungsbefugnis seiner Mitglieder

die Vertrauenshaftung gemäß § 15 HGB auch ohne Voreintragung greift, im Interesse der Gesellschaft eine Eintragung erfolgen.6) Nicht anmeldepflichtig ist die Ernennung zum Vorsitzenden oder deren Widerruf, da mit ihr keine Änderung der personellen Zusammensetzung oder der Vertretungsverhältnisse einhergeht.7) b)

Änderung der persönlichen Verhältnisse

3 Der Normzweck des § 81 kann die Eintragung einer Änderung bestimmter persönlicher Verhältnisse des Vorstandsmitglieds erfordern.8) Zur Identitätsfeststellung sind gemäß § 43 Nr. 4 HRV die vollen Personalien (Vorname, Familienname, Geburtsdatum und Wohnort) anzugeben. Eine Eintragung von Änderungen ist insofern zwar zulässig, eine Eintragungspflicht besteht aber nach dem Informationszweck des § 81 nur für den Fall der Namensänderung.9) Da der Doktortitel kein Namensbestandteil ist,10) ist er eintragungsfähig, nicht aber eintragungspflichtig.11) Gleiches gilt für die Ernennung zum Vorstandsvorsitzenden.12) Die Eintragungsfähigkeit der Ernennung des stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden ist dagegen umstritten.13) Sonstige Bezeichnungen, bspw. Generaldirektor, Arbeitsdirektor oder auch Präsident, sind nach ganz h. M. nicht eintragungsfähig.14) c)

Änderung der Vertretungsbefugnis

4 Anzumelden ist jede Änderung der Vertretungsbefugnis. Dazu zählt insbesondere der Wechsel zwischen Einzel- und Gesamtvertretung sowie Regelungen innerhalb der Gesamtvertretung. Erfolgt der Wechsel durch Satzungsänderung, genügt deren Anmeldung gemäß § 181.15) Wenn diese ersatzlos aufgehoben wird, ist jedoch eine Anmeldung des Wiederauflebens der gesetzlichen Vertretungsregeln gemäß § 81 vorzunehmen.16) Auch eine Selbstbefreiung gemäß § 181 BGB ist anmeldepflichtig.17) Die Einzelermächtigung gemäß § 78 Abs. 4 stellt dagegen keine Änderung der allgemeinen Vertretungsbefugnis dar und unterfällt daher nicht § 81 Abs. 1. Zur dogmatischen Einordung der Einzelermächtigung siehe oben § 78 Rz. 26.18) d)

Sonderfall: Zweigniederlassung einer ausländischen Kapitalgesellschaft

5 Nach dem Wortlaut des § 13f Abs. 5 HGB i. V. m. § 81 AktG sind Änderungen der gesetzlichen Vertreter und ihrer Vertretungsbefugnis auch im Fall einer Zweigniederlassung _____________ 6) 7) 8) 9) 10) 11)

12) 13) 14)

15) 16)

17) 18)

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Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 81 Rz. 2. Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 81 Rz. 2; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 81 AktG Rz. 5. Hölters-Weber, AktG, § 81 Rz. 5. Fleischer, NZG 2006, 561, 562; Hölters-Weber, AktG, § 81 Rz. 5. BGH, Beschl. v. 4.9.2013 – XII ZB 526/12, NJW 2014, 387 = MDR 2013, 1350. Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 81 Rz. 6; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 81 Rz. 3; a. A. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 81 Rz. 6; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 81 Rz. 5; Hölters-Weber, AktG, § 81 Rz. 5. Fleischer, NZG 2006, 561, 562. Vgl. Hölters-Weber, AktG, § 81 Rz. 5. BGH, Beschl. v. 4.4.2017 – II ZB 10/16, ZIP 2017, 1067 = NZG 2017, 734, dazu EWiR 2017, 389 (Paefgen/Sorg); Heidel-Oltmanns, AktR, § 81 AktG Rz. 3; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 81 Rz. 7; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 81 Rz. 5. Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 81 Rz. 7. Vgl. zur Eintragungspflicht einer gesetzlichen Vertretungsregelung: EuGH, Entsch. v. 12.11.1974 – 32/74 (Haaga GmbH), Slg. 1974, 1201 = BeckRS 2004, 70770; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 81 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 81 Rz. 6. BGH, Beschl. v. 28.2.1983 – II ZB 8/82, ZIP 1983, 568 = NJW 1983, 1676 – zur GmbH. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 81 AktG Rz. 7; a. A. Servatius, NZG 2002, 456, 458.

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Änderung des Vorstands und der Vertretungsbefugnis seiner Mitglieder

§ 81

einer ausländischen Kapitalgesellschaft unter Beifügung entsprechender Nachweise anzumelden. Die erforderlichen Nachweise können durch Vorlage eines Gesellschafterbeschlusses, ausländischen Registerauskunft, Bescheinigung eines ausländischen Notars oder ggf. gutachterlichen Stellungnahme eines deutschen Notars erbracht werden.19) 2.

Anmeldeverfahren (§ 81 Abs. 2)

a)

Zuständigkeit

Gemäß § 81 Abs. 1 hat der Vorstand die Anmeldung zur Eintragung vorzunehmen. Aus- 6 reichend ist ein Handeln der Vorstandsmitglieder in vertretungsberechtigter Zahl.20) Die Anmeldung kann darüber hinaus auch in Form unechter Gesamtvertretung unter Mitwirkung eines Prokuristen erfolgen. Eine Anmeldung allein durch den Prokuristen oder Handlungsbevollmächtigten genügt dagegen nicht.21) Ein neu eintretendes Vorstandsmitglied ist, wie sich aus § 81 Abs. 1 Satz 1 ergibt, selbst anmeldeberechtigt. Dies gilt auch für einen ausscheidenden (Allein-)Vorstand. Die Anmeldung muss dem Ausscheiden vorausgehen, das aber unter eine entsprechende aufschiebende Bedingung gestellt werden kann.22) Ein bereits ausgeschiedenes Mitglied hat einen Anspruch auf Vornahme der Anmeldung, der durch eine Klage gegen die AG, vertreten durch den Vorstand, geltend gemacht werden kann.23) Gemäß § 894 ZPO wird die entsprechende Willenserklärung zur Anmeldung durch ein rechtskräftiges Urteil ersetzt. Das Registergericht kann den Vorstand darüber hinaus durch ein Zwangsgeld gemäß § 14 HGB zur Anmeldung anhalten. Eine Änderung der Vertretungsbefugnis im Wege der Satzungsänderung wird erst mit 7 Eintragung gemäß § 181 Abs. 3 wirksam und ist daher nach der alten Vertretungsordnung anzumelden.24) b)

Vertretung

Da die Anmeldung keine höchstpersönliche Erklärung ist, kann sich der Vorstand durch 8 einen Bevollmächtigten vertreten lassen.25) Wurde die Vollmacht namens der Gesellschaft wirksam erteilt, so erlischt sie nicht durch Ausscheiden des die Vollmacht unterzeichnenden Vorstands aus der Gesellschaft.26) Gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 HGB ist zum Zweck der Identitätsprüfung bei der Vollmachtserteilung, abweichend von § 167 Abs. 2 BGB, die gleiche Form wie für die Anmeldung selbst, also die öffentliche Beglaubigung gemäß § 129 BGB i. V. m. §§ 39, 40 BeurkG einzuhalten.27) Der gesetzliche Umfang von Prokura und Handlungsvollmacht reicht als Bevollmächtigung nicht aus (siehe oben Rz. 6). _____________ 19) Ausführliche Übersicht bei Bönner, RNotZ 2015, 253, 266 ff.; weiterführend zu aktuellen Fragen im Zusammenhang mit der Eintragung inländischer Zweigniederlassungen: Hoger, NZG 2015, 1219. 20) Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 81 Rz. 8; Hölters-Weber, AktG, § 81 Rz. 7. 21) BayObLG, Beschl. v. 14.4.1982 – BReg. 3 Z 20/82, BB 1982, 1075 = MDR 82, 758; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.3.2012 – I-3 Wx 296/11, ZIP 2012, 969 = NJW-Spezial 2012, 561 – zur GmbH. 22) LG Frankenthal, Beschl. v. 20.8.2002 – 1 HK T 6/02, AG 2003, 460; BGH, Beschl. v. 21.6.2011 – II ZB 15/10, ZIP 2011, 1562 = NJW-RR 2011, 1184 = DB 2011, 1798, dazu EWiR 2011, 641 (Wachter) – zur GmbH; OLG Hamm, Beschl. v. 25.1.2013 – 27 W 12/13, MittBayNot 2013, 403, 404 – zur GmbH. 23) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 81 Rz. 5; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 81 Rz. 10; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 81 Rz. 15. 24) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 81 Rz. 10; Hölters-Weber, AktG, § 81 Rz. 8. 25) BayObLG, Beschl. v. 14.4.1982 – BReg. 3 Z 20/82, BB 1982, 1075 = MDR 1982, 758. 26) OLG Hamm, Beschl. v. 23.2.2012 – I-27 W 175/11, GmbHR 2012, 903 = NotBZ 2012, 420 – zur GmbH; Krafka, Registerrecht, Rz. 109. 27) BayObLG, Beschl. v. 14.4.1982 – BReg. 3 Z 20/82, BB 1982, 1075 = MDR 1982, 758. Allg. M., vgl. Schaub, DStR 1999, 1699, 1701 f.

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§ 81 c)

Änderung des Vorstands und der Vertretungsbefugnis seiner Mitglieder Anmeldezeitpunkt

9 Grundsätzlich ist die Anmeldung nach Eintritt der jeweiligen Änderung vorzunehmen. Auch eine Anmeldung unter einer zeitnahen aufschiebenden Befristung, bspw. bei einem einverständlich für einen künftigen Zeitpunkt bestellten Vorstandsmitglied, ist nach überwiegender Ansicht zulässig.28) d)

Inhalt und Form

10 Inhaltlich muss die Anmeldung die einzutragende Änderung klar bezeichnen.29) Konkrete Angaben zur Vertretungsregelung mit Namensnennung sind nur vorzunehmen, wenn diese vom gesetzlichen Regelfall abweicht.30) Bei einem ausscheidenden Vorstandsmitglied sind keine Gründe anzugeben.31) 11 Zuständig ist das Registergericht des Gesellschaftssitzes, § 14. Gemäß § 12 Abs. 1 HGB hat die Anmeldung elektronisch in öffentlich beglaubigter Form zu erfolgen. Eine notarielle Beurkundung ersetzt gemäß § 129 Abs. 2 BGB die öffentliche Beglaubigung. Urkunden über die Änderung sind gemäß § 81 Abs 2 in Urschrift oder öffentlich beglaubigter Abschrift beizufügen. Entsprechende Urkunden sind bspw. die Ausfertigung eines Bestellungsbeschlusses des Aufsichtsrats, das Niederlegungsschreiben bei Amtsniederlegung oder die Sterbeurkunde bei Tod eines Vorstandsmitglieds.32) Gemäß § 12 Abs. 2 Satz 2 HGB genügt eine elektronische Aufzeichnung der Urschrift sowie für beglaubigte Abschriften ein elektronisches Zeugnis gemäß § 39a BeurkG.33) Bei begründeten Zweifeln an der sachlichen Richtigkeit der Anmeldedaten kann das Gericht gemäß § 26 FamFG weitere Daten und Nachweise fordern.34) 12 Die Kosten der Eintragung trägt die Gesellschaft und nicht der Vorstand.35) Gegen eine Ablehnung der Eintragung können die Gesellschaft und der Vorstand im Wege der Erinnerung gemäß § 11 RPflG und anschließend mit der Beschwerde vorgehen.36) III.

Versicherungen (§ 81 Abs. 3)

13 Neue Vorstandsmitglieder haben gemäß § 81 Abs. 3 zu versichern, dass keine Umstände vorliegen, die ihrer Bestellung nach § 76 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 3 sowie Satz 3 entgegenstehen, und dass sie über ihre unbeschränkte Auskunftspflicht gegenüber dem Gericht gemäß § 53 Abs. 2 BZRG belehrt worden sind. Aus § 81 Abs. 3 Satz 2 i. V. m. § 37 Abs. 2 Satz 2 ergibt sich, dass die Belehrung auch durch einen Notar, einen Vertreter eines vergleichbaren rechtsberatenden Berufs wie z. B. einen Rechtsanwalt oder einen Konsularbeamten erfolgen kann. Die Pflicht gemäß § 81 Abs. 3 entspricht derjenigen des Gründungsvorstands gemäß § 81 Abs. 2 Satz 1 und bezweckt die Durchsetzung der in § 76 Abs. 3 normierten Bestellungshindernisse. Die Abgabe der Versicherung ist gemäß § 399 Abs. 1 Nr. 6 strafbewährt und muss daher höchstpersönlich erfolgen; eine Vertretung ist _____________ 28) Frels, AG 1967, 227 ff.; Krafka, Registerrecht, Rz. 78; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 81 Rz. 3; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 81 Rz. 5. 29) Anmeldebeispiel für Änderungen im Vorstand in: Krafka, Registerrecht, Rz. 1590. 30) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 81 AktG Rz. 12; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 81 Rz. 11. 31) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 81 Rz. 10. 32) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 81 AktG Rz. 14. 33) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 81 Rz. 7. 34) BGH, Beschl. v. 21.6.2011 • II ZB 15/10, ZIP 2011, 1562 = NJW-RR 2011, 1184 = DB 2011, 1798, dazu EWiR 2011, 641 (Wachter) – zur GmbH. 35) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 81 Rz. 17. 36) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 81 Rz. 16.

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Beschränkungen der Vertretungs- und Geschäftsführungsbefugnis

§ 82

nicht möglich.37) Das Wort „versichern“ ist nicht zwingend zu verwenden, solange sich aus der gewählten Formulierung ergibt, dass es sich um eine eigenverantwortliche Bekundung des Vorstands handelt.38) IV.

Rechtsfolgen der Eintragung

Die Registereintragung gemäß § 81 hat grundsätzlich nur deklaratorische Wirkung.39) 14 Lediglich bei einer Änderung des Vorstands oder der Vertretungsordnung im Wege einer Satzungsänderung ist deren Eintragung gemäß § 181 Abs. 3 konstitutiv. Eine Rechtsänderung wird im Regelfall somit außerhalb des Handelsregisters wirksam, kann Dritten gemäß § 15 HGB jedoch nicht entgegengehalten werden, solange diesen die Änderung nicht positiv bekannt war. Dies gilt auch bei fehlender Voreintragung (siehe oben Rz. 2). § 15 HGB ist dagegen auf das Verhältnis der Gesellschaftsorgane untereinander oder gegenüber der AG nicht anwendbar.40) _____________ 37) Henssler/Strohn-Dauner-Lieb, GesR, § 81 AktG Rz. 12; Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 81 Rz. 12. 38) OLG Karlsruhe, Beschl. v. 20.4.2012 – 11 Wx 33/12, ZIP 2012, 1028 = GmbHR 2012, 797 – zur GmbH. 39) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 81 Rz. 9; Hölters-Weber, AktG, § 81 Rz. 14. 40) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 81 Rz. 25.

§ 82 Beschränkungen der Vertretungs- und Geschäftsführungsbefugnis Simon Link

(1) Die Vertretungsbefugnis des Vorstands kann nicht beschränkt werden. (2) Im Verhältnis der Vorstandsmitglieder zur Gesellschaft sind diese verpflichtet, die Beschränkungen einzuhalten, die im Rahmen der Vorschriften über die Aktiengesellschaft die Satzung, der Aufsichtsrat, die Hauptversammlung und die Geschäftsordnungen des Vorstands und des Aufsichtsrats für die Geschäftsführungsbefugnis getroffen haben. Literatur: Beuthien, Vertretungsmacht bei der Vor-GmbH – erweiterbar oder unbeschränkbar?, NJW 1997, 566; Fleischer, Reichweite und Grenzen der unbeschränkten Organvertretungsmacht im Kapitalgesellschaftsrecht, NZG 2005, 529; Götz, Die Sicherung der Rechte der Aktionäre der Konzernobergesellschaft bei Konzernbildung und Konzernleitung, AG 1984, 85; Groß, Zuständigkeit der Hauptversammlung bei Unternehmensbeteiligungen, AG 1994, 266; Poseck, Die Klage des Aufsichtsrats gegen die Geschäftsführung des Vorstands, DB 1996, 2165; Priester, Geschäfte mit Dritten vor Eintragung der AG, ZHR 165 (2001) 383; Rohde/Geschwandtner, Zur Beschränkbarkeit der Geschäftsführungsbefugnis des Vorstands einer Aktiengesellschaft, NZG 2005, 996; Vedder, Neues zum Missbrauch der Vertretungsmacht – Vorsatzerfordernis, Anfechtbarkeit, negatives Interesse, JZ 2008, 1077; Westermann, Organzuständigkeit bei Bildung, Erweiterung und Umorganisation des Konzerns, ZGR 1984, 352.

Übersicht I. Regelungsgegenstand und Regelungszweck ................................ 1 II. Unbeschränkbarkeit der Vertretungsmacht (§ 82 Abs. 1) .................. 2 1. Grundsatz der Unbeschränkbarkeit ................................................. 2

2. Ausnahmen und Grenzen .................. a) Gesetzliche Grenzen .................... b) Ausnahmen ................................... III. Beschränkbarkeit der Geschäftsführungsbefugnis (§ 82 Abs. 2) ....... 1. Grundlagen .........................................

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3 3 4 7 7

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§ 82

Beschränkungen der Vertretungs- und Geschäftsführungsbefugnis

2. Beschränkungen ................................. 8 a) Beschränkung durch Satzung ..... 8 b) Beschränkung durch Hauptversammlung .............................. 10 c) Beschränkung durch Aufsichtsrat ............................... 11 I.

d) Beschränkung durch Geschäftsordnung ........................... 12 e) Gesetzliche Beschränkungen, Beschränkungen durch die Rechtsprechung .......................... 13 3. Rechtsfolgen bei Überschreitung der Geschäftsführungsbefugnis ....... 14

Regelungsgegenstand und Regelungszweck

1 Gemäß § 82 Abs. 1 ist die Vertretungsbefugnis des Vorstands unbeschränkt und unbeschränkbar. Die Geschäftsführungsbefugnis im Verhältnis zur Gesellschaft kann dagegen gemäß § 82 Abs. 2 durch Satzung, Hauptversammlung, Aufsichtsrat und Geschäftsordnung eingeschränkt werden. Eine Verletzung der Geschäftsführungsbefugnis im Innenverhältnis, dem rechtlichen Dürfen, hat auf die Wirksamkeit der Vertretung im Außenverhältnis, dem rechtlichen Können, keinen Einfluss. Der Grundsatz der Unbeschränkbarkeit dient dem Interesse des Rechtsverkehrs, sich auf die Vertretungsbefugnisse der Gesellschaft verlassen zu können, und damit der Erleichterung des Handelsverkehrs.1) Diese Regelung entspricht auch Art. 9 der Publizitätsrichtlinie.2) II.

Unbeschränkbarkeit der Vertretungsmacht (§ 82 Abs. 1)

1.

Grundsatz der Unbeschränkbarkeit

2 § 82 Abs. 1 normiert für die organschaftliche Vertretungsmacht den Grundsatz der Unbeschränktheit und Unbeschränkbarkeit. § 82 Abs. 1 erfasst Rechtshandlungen des Vorstands gegenüber Dritten sowie korporationsrechtliche Geschäfte, die durch externe Erklärungen Geltung erlangen, bspw. die Zustimmung zur Übertragung vinkulierter Namensaktien gemäß § 68 Abs. 2 Satz 2 oder die Einforderung einer ausstehenden Einlage gemäß § 63 Abs. 1.3) Unerheblich ist dabei, ob der Vorstand außerhalb des Unternehmensgegenstandes oder entgegen einer Beschränkung seiner Geschäftsführungsbefugnis handelt.4) Teilweise wird die Anwendbarkeit des § 82 auch auf die Vorgesellschaft bejaht, da die Vorgesellschaft zum tauglichen Rechts- und Unternehmensträger aufgewertet wurde und daraus ein entsprechendes Verkehrsschutzbedürfnis folge.5) 2.

Ausnahmen und Grenzen

a)

Gesetzliche Grenzen

3 Der Vertretungsmacht sind gesetzlich Grenzen gesetzt.6) Ist eine Vertretungsbefugnis einem anderen Gesellschaftsorgan zugewiesen, bspw. dem Aufsichtsrat gegenüber dem _____________ 1) 2)

3) 4) 5)

6)

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Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 82 Rz. 1; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 82 Rz. 2; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 1 Rz. 21. Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 9.3.1968, ABl. (EG) L 65/8, neu gefasst durch Richtlinie 2009/101/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.9.2009 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Art. 48 Abs. 2 des Vertrags im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, ABl. (EU) L 258/11 v. 1.10.2009. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 82 AktG Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 82 Rz. 3; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 1 Rz. 21. Hölters-Weber, AktG, § 82 Rz. 7; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR., Bd. 4, § 23 Rz. 2. Beuthien, NJW 1997, 566 ff.; Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 82 Rz. 1; Fleischer in: BeckOGKAktR, § 82 AktG Rz. 6; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 82 Rz. 3; Priester, ZHR 165 (2001) 383, 389; a. A. BGH, Urt. v. 9.3.1981 – II ZR 54/80, BGHZ 80, 129 = ZIP 1981, 394 – zur GmbH; Habersack/ Foerster in: GroßKomm-AktG, § 82 Rz. 3. Seyfarth, Vorstandsrecht, § 1 Rz. 22.

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Beschränkungen der Vertretungs- und Geschäftsführungsbefugnis

§ 82

Vorstand gemäß § 112 AktG oder § 32 MitbestG, so verstößt ein Handeln des Vorstands in diesem Fall gegen die aktienrechtliche Kompetenzordnung und ist gemäß § 134 BGB nichtig.7) Sofern das Gesetz die Mitwirkung eines anderen Gesellschaftsorgans vorsieht (§§ 184 Abs. 1, 188 Abs. 1, 195 Abs. 1, 207 Abs. 2, 223, 229 Abs. 3, 237 Abs. 4 Satz 5), führt dessen Fehlen zur schwebenden Unwirksamkeit der Erklärung gemäß §§ 177 ff. BGB.8) Keine Begrenzung der Vertretungsmacht liegt dagegen bei den ungeschriebenen Hauptversammlungszuständigkeiten nach der Holzmüller/Gelatine-Rechtsprechung vor, da das Zustimmungserfordernis hier lediglich intern wirkt.9) b)

Ausnahmen

Ausnahmen vom Grundsatz der unbeschränkten Vertretungsmacht bestehen insbesonde- 4 re bei fehlender Schutzwürdigkeit des Dritten. Nichtig sind gemäß § 138 BGB nach ganz h. M. Rechtsgeschäfte, die durch Kollusion, also bewusstes und gewolltes Zusammenwirken des Vorstands und des Dritten zum Nachteil der Gesellschaft, zustande gekommen sind.10) Beide Geschäftspartner haften gegenüber der Gesellschaft darüber hinaus gemäß §§ 826, 840 BGB auf Schadensersatz.11) Voraussetzung für die Einschränkung aufgrund eines evidenten Missbrauchs der Vertre- 5 tungsmacht ist eine auf massive Verdachtsmomente gegründete objektive Evidenz der Pflichtwidrigkeit des Geschäftspartners.12) Evidenz liegt vor, wenn sich dem Geschäftspartner der Missbrauch der Vollmacht aufdrängen musste.13) Nach der zutreffenden Auffassung des BGH ist es nicht erforderlich, dass es dem Vorstandsmitglied gerade darauf angekommen ist, der Gesellschaft einen Nachteil zuzufügen; ein objektiv pflichtwidriges Handeln genügt.14) Der Gesellschaft muss durch das Rechtsgeschäft auch kein Nachteil entstehen.15) Die Rechtsfolgen bei Vorliegen eines evidenten Missbrauchs der Vertretungsmacht sind umstritten: Nach einer Ansicht kann die AG als Vertretene dem Vertragspartner exceptio doli (§ 242 BGB) entgegenhalten.16) Die zutreffende Ansicht hingegen behandelt den Fall des Missbrauchs der Vertretungsmacht, als hätte der Vertreter gänzlich ohne

_____________ 7) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 32; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 1 Rz. 22. 8) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 82 Rz. 5; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 1 Rz. 23; Spindler in: MünchKommAktG, § 82 Rz. 25. 9) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 (Holzmüller), BGHZ 83, 122, 131 = ZIP 1982, 568; BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 (Gelatine I), BGHZ, 159, 30, 39 ff. = ZIP 2004, 993, dazu EWiR 2004, 573 (Just); Seyfarth, Vorstandsrecht, § 1 Rz. 21. 10) RGZ 145, 311, 315; BGH, Urt. v. 17.5.1988 – VI ZR 233/87, NJW 1989, 26, 27; BGH, Urt. v. 28.1.2014 – II ZR 371/12, ZIP 2014, 615 = NZG 2014, 389, dazu EWiR 2014, 547 (Backhaus); Habersack/ Foerster in: GroßKomm-AktG, § 82 Rz. 11; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 1 Rz. 23; kritisch Vedder, JZ 2008, 1077, 1081. 11) Fleischer, NZG 2005, 529, 530; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 82 Rz. 45. 12) BGH, Urt. v. 28.4.1992 – XI ZR 164/91, WM 1992, 1362 = NJW-RR 1992, 1135; BGH, Urt. v. 22.6.2004 – XI ZR 90/03, NJW-RR 2004, 1637, 1638 = ZIP 2004, 1742, dazu EWiR 2005, 9 (Haertlein/ Marx). 13) BGH, Urt. v. 22.6.2004 – XI ZR 90/03, NJW-RR 2004, 1637, 1638 = ZIP 2004, 1742; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 1 Rz. 25. 14) BGH, Beschl. v. 10.4.2006 – II ZR 337/05, ZIP 2006, 1391 = NJW 2006, 2776 – zur GmbH; Fleischer, NZG 2005, 529, 535; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 1 Rz. 25. 15) BGH, Urt. v. 5.12.1983 – II ZR 56/82, ZIP 1984, 310 = NJW 1984, 1461; BGH, Beschl. v. 10.4.2006 – II ZR 337/05, ZIP 2006, 1391 = NJW 2006, 2776; Fleischer, NZG 2005, 529, 535; a. A. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 82 Rz. 47. 16) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 82 Rz. 49; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 82 Rz. 7a.

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§ 82

Beschränkungen der Vertretungs- und Geschäftsführungsbefugnis

Vertretungsmacht gehandelt und wendet die §§ 177 ff. BGB analog an.17) Grund ist die höhere Schutzwürdigkeit der Gesellschaft im Vergleich zum Vertragspartner, die ein möglicherweise vorteilhaftes Geschäft genehmigen können muss.18) Ein Mitverschulden der Gesellschaft kann im Verhältnis zum Vertragspartner in analoger Anwendung des § 254 BGB berücksichtigt werden.19) 6 Der durch die unbeschränkte Vertretungsmacht bezweckte Verkehrsschutz greift dann nicht, wenn ein Rechtsgeschäft mit nahestehenden Personen vorliegt. In diesem Fall ist § 82 Abs. 1 teleologisch zu reduzieren.20) Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder sind von Amts wegen dazu gehalten, interne Beschränkungen der Geschäftsführungsbefugnis zu beachten und können sich daher nie auf die unbeschränkte Vertretungsmacht gemäß Absatz 1 berufen.21) Dies gilt unabhängig davon, ob das Rechtsgeschäft in Zusammenhang mit der Organstellung steht und ob der AG ein Schaden entstanden ist.22) Aktionäre haben in der AG weniger intensive Einwirkungs- und Auskunftsrechte bzgl. der Verwaltung als GmbH-Gesellschafter gemäß §§ 37 Abs. 1, 51a GmbHG. § 82 Abs. 1 greift daher, anders als im Fall des GmbH-Gesellschafters, grundsätzlich ein.23) Ausnahmen kommen für den Alleinaktionär oder herrschenden Aktionär in Betracht.24) Sonstige Unternehmensangehörige fallen weiterhin unter den Schutzzweck des § 82 Abs. 1. Für sie gilt lediglich die allgemeine Grenze des Missbrauchs der Vertretungsmacht.25) In Konzernverhältnissen kann sich die Muttergesellschaft nicht auf die unbeschränkte Vertretungsmacht berufen, wenn sie eine Beteiligung von nahezu 100 % an der Tochtergesellschaft hält.26) Bei geringerem Mehrheitsbesitz, im Verhältnis zu Schwestergesellschaften und bei der Vertretung der Muttergesellschaft gegenüber der Tochtergesellschaft ist die Anwendbarkeit des § 82 dagegen nicht kategorisch ausgeschlossen.27) Es bleibt bei der Grenze des Missbrauchs der Vertretungsmacht, die unter Beachtung der Grundsätze zur Wissenszurechnung im Konzern im Einzelfall zu prüfen ist (siehe oben § 78 Rz. 12). III.

Beschränkbarkeit der Geschäftsführungsbefugnis (§ 82 Abs. 2)

1.

Grundlagen

7 Die Geschäftsführungsbefugnis ist gemäß § 82 Abs. 2 beschränkbar. Dies kann durch die Satzung, die Hauptversammlung, den Aufsichtsrat und die Geschäftsordnung erfol-

_____________ 17) OLG Zweibrücken, Urt. v. 13.3.2001 – 8 U 91/00, NZG 2001, 763; OLG Hamm, Urt. v. 22.8.2005 – 5 U 69/05, NZG 2006, 827; Altmeppen, GmbHG, § 37 Rz. 44; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 82 Rz. 7; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 1 Rz. 26. 18) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 1 Rz. 26. 19) BGH, Urt. v. 25.3.1968 – II ZR 208/64, BGHZ 50, 112 = NJW 1968, 1379; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 82 Rz. 7; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 1 Rz. 26; a. A. Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 82 Rz. 15. 20) Fleischer, NZG 2005, 529, 535; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 82 Rz. 13. 21) Fleischer, NZG 2005, 529, 535 f.; Hölters-Weber, AktG, § 82 Rz. 12. 22) BGH, Urt. v. 20.9.1962 – II ZR 209/61, BGHZ 38, 26 = WM 1962, 1260 – zur OHG; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 82 Rz. 14. 23) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 82 Rz. 53. 24) Fleischer, NZG 2005, 529, 536. 25) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 82 AktG Rz. 24; Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 82 Rz. 17; a. A. für den Fall einer vertraglichen Verpflichtung zur Kenntnis von Beschränkungen der Geschäftsführungsbefugnis: Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 82 Rz. 15. 26) OLG Celle, Urt. v. 7.3.2001 – 9 U 137/00, ZIP 2001, 613, 616, dazu EWiR 2001, 651 (Windbichler); Fleischer, NZG 2005, 529, 536. 27) Fleischer, NZG 2005, 529, 536.

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Beschränkungen der Vertretungs- und Geschäftsführungsbefugnis

§ 82

gen. Dabei sind wiederum die aktienrechtliche Kompetenzordnung und die eigenverantwortliche Leitung der AG durch den Vorstand zu wahren.28) 2.

Beschränkungen

a)

Beschränkung durch Satzung

Der Vorstand ist an den Gesellschaftszweck gebunden (Gewinnerzielung, Sicherstellung 8 der dauerhaften Rentabilität, Sicherstellung des Bestands des Unternehmens).29) Darüber hinaus schränkt der satzungsmäßige Unternehmensgegenstand die Geschäfts- 9 führungsbefugnis ein.30) Auch der mittelbare Betrieb gegenstandswidriger Geschäfte über Tochterunternehmen ist unzulässig.31) Eine Satzungsermächtigung ist für die Verlagerung unternehmerischer Tätigkeiten auf Tochtergesellschaften sowie den Erwerb und die Veräußerung von Beteiligungen erforderlich.32) Hilfsgeschäfte sind dagegen auch dann zulässig, wenn sie nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Unternehmensgegenstand stehen.33) Grenze der Satzungsautonomie ist der Grundsatz der eigenverantwortlichen Leitung des Vorstands gemäß § 76 Abs. 1. Die Satzung kann den Rahmen der Unternehmenstätigkeit konkretisieren. Unzulässig ist die Regelung einzelner Geschäftstätigkeiten, bspw. bzgl. des Vertriebs konkreter Produkte.34) b)

Beschränkung durch Hauptversammlung

Im Aktienrecht hat die Hauptversammlung keine Weisungsbefugnis gegenüber dem Vor- 10 stand. Eine Pflicht zur Ausführung einer durch die Hauptversammlung beschlossenen Maßnahme besteht nur dann, wenn der Vorstand die Hauptversammlungsentscheidung gemäß § 119 Abs. 2 herbeigeführt hat.35) c)

Beschränkung durch Aufsichtsrat

Gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 können die Satzung oder der Aufsichtsrat bestimmte Geschäfte 11 von der Zustimmung des Aufsichtsrats abhängig machen. Dieser Zustimmungsvorbehalt kann bei konkreten Maßnahmen auch ad hoc begründet werden.36) Verweigert der Aufsichtsrat die Zustimmung, hat der Vorstand gemäß § 111 Abs. 4 Satz 3 das Recht, eine Entscheidung der Hauptversammlung einzufordern. Ausnahmsweise kommt eine Notbefugnis des Vorstands in Betracht, wenn der Aufsichtsrat die Zustimmung in obstruktiver und unternehmensschädigender Weise verweigert und die Ersatzzustimmung der Hauptversammlung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann.37) _____________ 28) 29) 30) 31) 32) 33) 34) 35) 36) 37)

Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 82 Rz. 8; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 82 Rz. 8. Hölters-Weber, AktG, § 82 Rz. 17. BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, ZIP 2013, 455 = NJW 2013, 1958, dazu EWiR 2013, 261 (Vetter). OLG Hamburg, Urt. v. 5.9.1980 – 11 U 1/80, ZIP 1980, 1000, 1006 = JZ 1981, 231; Groß, AG 1994, 266, 268; Westermann, ZGR 1984, 352, 360 ff. Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 82 Rz. 25; a. A. für den Fall der Ausgliederung: OLG Hamburg, Urt. v. 5.9.1980 – 11 U 1/80, ZIP 1980, 1000, 1006 = JZ 1981, 231; Götz, AG 1984, 85, 89. BGH, Beschl. v. 14.1.2014 – II ZB 5/12 (Porsche), ZIP 2014, 671 = NZG 2014, 423, dazu EWiR 2014, 309 (Bungert/de Raet). OLG Stuttgart, Beschl. v. 22.7.2006 – 8 W 271/06 (Smart/Maybach), OLGR Stuttgart 2006, 878 = NZG 2006, 790, dazu EWiR 2007, 257 (Freitag). Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 82 AktG Rz. 35; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 82 Rz. 11; Habersack/ Foerster in: GroßKomm-AktG, § 82 Rz. 27; a. A. Rohde/Geschwandtner, NZG 2005, 996 ff. Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, AktG, § 111 Rz. 86. Heidel-Oltmanns, AktR, § 82 AktG Rz. 10; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 82 Rz. 41, § 76 Rz. 30.

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§ 83 d)

Vorbereitung und Ausführung von Hauptversammlungsbeschlüssen Beschränkung durch Geschäftsordnung

12 Gemäß § 82 Abs. 2 kann die Geschäftsführungsbefugnis außerdem durch die Geschäftsordnung des Vorstands, die dieser selbst oder der Aufsichtsrat gemäß § 77 Abs. 2 auf Grundlage einer Satzungsermächtigung erlassen kann, beschränkt werden.38) Typischerweise enthält die Geschäftsordnung Regelungen zur Geschäfts- und Ressortverteilung.39) e)

Gesetzliche Beschränkungen, Beschränkungen durch die Rechtsprechung

13 Neben den gewillkürten Beschränkungen unterliegt die Geschäftsführung auch gesetzlichen Grenzen. Zunächst stellt jede Beschränkung der Vertretungsbefugnis (hierzu siehe oben § 78 Rz. 5 ff.) zugleich eine Einschränkung der Geschäftsführungsbefugnis dar.40) Darüber hinaus normieren die Vorschriften, die der Hauptversammlung oder dem Aufsichtsrat das Entscheidungsrecht zuweisen, sowie die Entscheidungsmöglichkeit des Vorstands beschränkende Vorschriften, wie bspw. §§ 205 Abs. 2 Satz 2, 221, gesetzliche Grenzen der Geschäftsführungsbefugnis. Schließlich handelt es sich auch bei dem in offener Rechtsfortbildung entwickelten Zustimmungserfordernis der Hauptversammlung im Innenverhältnis nach den Holzmüller/Gelatine-Grundsätzen um eine Begrenzung der Geschäftsführungsbefugnis (siehe oben § 76 Rz. 7).41) 3.

Rechtsfolgen bei Überschreitung der Geschäftsführungsbefugnis

14 Eine Überschreitung der Geschäftsführungsbefugnis hat nur in eng begrenzten Ausnahmefällen Einfluss auf die Wirksamkeit der Maßnahme im Außenverhältnis (siehe oben Rz. 3).42) Verstößt der Vorstand gegen eine wirksame Geschäftsführungsbeschränkung, kann er gemäß § 93 Abs. 2 einer Schadenersatzpflicht gegenüber der Gesellschaft unterliegen. Darüber hinaus liegt in dem Verstoß ein möglicher Grund für einen Widerruf der Bestellung gemäß § 84 Abs. 3 und für eine Kündigung des Anstellungsvertrags.43) 15 Ein präventives Vorgehen gegen einen drohenden Verstoß gegen die Geschäftsführungsbefugnis durch eine Unterlassungsklage kommt aufgrund der aktienrechtlichen Kompetenzordnung grundsätzlich nicht in Betracht.44) Eine Ausnahme hiervon ist nur denkbar, wenn der Vorstand aufgrund von Gesetz oder Satzung eine Pflicht zur Vornahme oder Unterlassung einer bestimmten Maßnahme hat und daher in seiner Entscheidung nicht mehr frei ist.45) Eine entsprechende Regelung trifft bspw. § 83 Abs. 2 hinsichtlich der Vorbereitung und Ausführung von Hauptversammlungsbeschlüssen. _____________ 38) 39) 40) 41) 42) 43) 44) 45)

Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 82 AktG Rz. 36; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 82 Rz. 13. Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 82 Rz. 29. Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 82 Rz. 21. BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 (Holzmüller), BGHZ 83, 122, 131 = ZIP 1982, 568; BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 (Gelatine I), BGHZ, 159, 30 = ZIP 2004, 993. Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 82 Rz. 30. Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, § 82 Rz. 12; Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 82 Rz. 30. Poseck, DB 1996, 2165 ff.; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 82 Rz. 48. Hölters-Weber, AktG, § 82 Rz. 25.

§ 83 Vorbereitung und Ausführung von Hauptversammlungsbeschlüssen Simon Link

(1) 1Der Vorstand ist auf Verlangen der Hauptversammlung verpflichtet, Maßnahmen, die in die Zuständigkeit der Hauptversammlung fallen, vorzubereiten. 2Das gleiche gilt 582

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Vorbereitung und Ausführung von Hauptversammlungsbeschlüssen

§ 83

für die Vorbereitung und den Abschluß von Verträgen, die nur mit Zustimmung der Hauptversammlung wirksam werden. 3Der Beschluß der Hauptversammlung bedarf der Mehrheiten, die für die Maßnahmen oder für die Zustimmung zu dem Vertrag erforderlich sind. (2) Der Vorstand ist verpflichtet, die von der Hauptversammlung im Rahmen ihrer Zuständigkeit beschlossenen Maßnahmen auszuführen. Literatur: Buck-Heeb, Die Haftung von Mitgliedern des Leitungsorgans bei unklarer Rechtslage, BB 2013, 2247; Fleischer, Vorstandspflichten bei rechtswidrigen Hauptversammlungsbeschlüssen, BB 2005, 2025; Haertlein, Vorstandshaftung wegen (Nicht-)Ausführung eines Gewinnverwendungsbeschlusses mit Dividendenausschüttung, ZHR 168 (2004) 437; Hommelhoff, Der aktienrechtliche Organstreit, ZHR 143 (1979) 288; Stodolkowitz, Gerichtliche Durchsetzung von Organpflichten in der Aktiengesellschaft, ZHR 154 (1990) 1; Werner, Ausgewählte Fragen zum Aktienrecht, AG 1972, 93.

Übersicht I. Regelungsgegenstand und Regelungszweck ................................ 1 II. Vorbereitungspflicht (§ 83 Abs. 1) ................................................. 2 1. Gegenstand der Vorbereitungspflicht .................................................. 2 a) Maßnahmen der Hauptversammlung ................................ 2 I.

b) Zustimmungsbedürftige Verträge ........................................ 5 2. Weisungsbeschluss ............................. 6 III. Ausführungspflicht (§ 83 Abs. 2) ....................................... 7 IV. Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung ........................................ 11

Regelungsgegenstand und Regelungszweck

§ 83 regelt eine Pflicht des Vorstands zur Vorbereitung und Ausführung von Maßnahmen 1 der Hauptversammlung. Die Norm dient der Wahrung der Kompetenzen der Hauptversammlung, da diese aufgrund ihrer Organisationsschwäche zu den erforderlichen praktischen Maßnahmen selbst nicht in der Lage ist.1) II.

Vorbereitungspflicht (§ 83 Abs. 1)

1.

Gegenstand der Vorbereitungspflicht

a)

Maßnahmen der Hauptversammlung

Gemäß § 83 Abs. 1 ist der Vorstand zur Vorbereitung von Maßnahmen verpflichtet, die 2 in den Zuständigkeitsbereich der Hauptversammlung fallen. Dazu zählen –

die in § 119 Abs. 1 aufgeführten Beschlussgegenstände,



sonstige der Hauptversammlung gesetzlich zugewiesene Entscheidungen, bspw. gemäß §§ 103, 147, 173, 234 Abs. 2, 270 Abs. 2, 274, 319, 320 AktG, §§ 13, 65, 73 UmwG,



Maßnahmen, die der Hauptversammlung kraft ausdrücklicher Satzungsbestimmungen übertragen werden sowie



Fälle der ungeschriebenen Hauptversammlungszuständigkeit bei bestimmten Strukturmaßnahmen nach den Holzmüller-/Gelatine2)-Grundsätzen.3)

_____________ 1) 2) 3)

Begr. RegE in: Kropff, AktG, S. 104. BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 (Holzmüller), BGHZ 83, 122, 131 = ZIP 1982, 568; BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 (Gelatine I), BGHZ 159, 30 = ZIP 2004, 993, dazu EWiR 2004, 573 (Just). Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 83 Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 83 Rz. 4; a. A. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG § 83 Rz. 4.

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§ 83

Vorbereitung und Ausführung von Hauptversammlungsbeschlüssen

3 Für Fragen der Geschäftsführung ist die Hauptversammlung nur zuständig, wenn der Vorstand eine Entscheidung ausdrücklich gemäß § 119 Abs. 2 verlangt. Maßnahmen, für die die Zustimmung der Hauptversammlung nur gesellschaftsinterne Bedeutung hat, aber keine Wirksamkeitsvoraussetzung im Außenverhältnis ist, fallen nicht unter § 83 Abs. 1.4) Der Zweck der Wahrung der Kompetenz der Hauptversammlung greift hier nicht ein, da der Vorstand diese Maßnahmen mit ihrem Beschluss zwar ergreifen darf, nicht aber muss.5) Entsprechende Fälle finden sich bspw. in den §§ 68 Abs. 2 Satz 2, 3, 111 Abs. 4 Satz 3, 221 Abs. 1 bis 3.6) 4 Mit der h. M. ist auch eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs auf die Vorbereitung der Initiativrechte von Minderheiten (z. B. die Bestellung eines Sonderprüfers gemäß §§ 142 Abs. 2 und 4, 258 Abs. 2 Satz 3 oder die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gemäß §§ 147, 309 Abs. 4 Satz 1) abzulehnen, da die Norm die effektive Wahrnehmung von Hauptversammlungskompetenzen bezweckt und nicht die Durchsetzung von Minderheitsverlangen gegen die Hauptversammlung.7) b)

Zustimmungsbedürftige Verträge

5 Gemäß § 83 Abs. 1 Satz 2 gilt die Vorbereitungspflicht des Vorstands auch für zustimmungsbedürftige Verträge. Dies sind bspw. Unternehmens- und Verschmelzungsverträge gemäß § 293 Abs. 1, §§ 13, 65, 73 UmwG8) und Verträge über den Verzicht oder Vergleich im Hinblick auf Ersatzansprüche, §§ 50, 53 Satz 1, 93 Abs. 4 Satz 3, 116, 117 Abs. 4, 309 Abs. 3, 310 Abs. 4, 317 Abs. 4, 318 Abs. 4, 323 Abs. 1 Satz 2.9) Der Vorstand muss gemäß § 83 Abs. 1 Satz 2 einer Initiative der Hauptversammlung auch dann folgen, wenn er den Abschluss des Vertrages nicht für zweckmäßig hält.10) 2.

Weisungsbeschluss

6 Die Vorbereitungspflicht setzt ein Verlangen der Hauptversammlung voraus, das in Form eines Weisungsbeschlusses gestellt wird.11) Dieser bedarf gemäß § 83 Abs. 1 Satz 3 der jeweils für die Maßnahme oder den Vertrag erforderlichen Mehrheit. Zweck ist die Verhinderung von Vorbereitungshandlungen durch den Vorstand bei Maßnahmen, für die ohnehin keine ausreichende Mehrheit in der Hauptversammlung zu erreichen ist. III.

Ausführungspflicht (§ 83 Abs. 2)

7 Gemäß § 83 Abs. 2 besteht eine Ausführungspflicht des Vorstands für Maßnahmen, die die Hauptversammlung i. R. ihrer Zuständigkeit beschlossen hat. Dies gilt aufgrund der all_____________ 4) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 83 AktG Rz. 4; Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 83 Rz. 6; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 83 Rz. 8; Werner, AG 1972, 93, 98 f.; a. A. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 83 Rz. 4; Heidel-Oltmanns, AktR, § 83 AktG Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 83 Rz. 5 – mit Hinweis darauf, dass die Vorbereitungspflicht für solche Maßnahmen aus der umfassenden Vorbereitungspflicht des Vorstandes folgt. 5) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 83 Rz. 2. 6) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 83 Rz. 5. 7) Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 83 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 83 Rz. 9; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 83 Rz. 13; Hölters-Weber, AktG, § 83 Rz. 6; a. A. Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 83 Rz. 3. 8) Vgl. BGH, Urt. v. 5.4.1993 – II ZR 238/91, BGHZ 122, 211 = ZIP 1993, 751 – zu Unternehmensverträgen. 9) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 83 AktG Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 83 Rz. 6. 10) Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 83 Rz. 3; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 83 AktG Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 83 Rz. 3; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 83 Rz. 10. 11) Begr. RegE in: Kropff, AktG, S. 104; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 83 Rz. 12.

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Vorbereitung und Ausführung von Hauptversammlungsbeschlüssen

§ 83

gemeinen Legalitätspflicht (siehe oben § 76 Rz. 43) des Vorstands und der Regelung des § 93 Abs. 4 Satz 1. Danach tritt eine Haftungsbefreiung nur bei Ausführung eines gesetzmäßigen Hauptversammlungsbeschlusses ein, so dass die Norm nicht für gesetzeswidrige Hauptversammlungsbeschlüsse gilt.12) Der Beschluss darf weder nichtig noch anfechtbar sein. Entsprechend besteht eine Pflicht des Vorstands zur Prüfung und ggf. zur Erhebung einer Anfechtungsklage.13) Mit Heilung der Nichtigkeit nach § 242 oder dem Ablauf der Anfechtungsfrist ist ein ge- 8 heilter Beschluss jedoch als wirksam und rechtmäßig anzusehen und folglich ausführungspflichtig.14) Davon ist entgegen der Meinung in Teilen der Literatur15) auch keine Ausnahme für den Fall zu machen, dass der Vorstand es bei einem gesetzes- oder satzungswidrigen Beschluss pflichtwidrig versäumt, diesen gemäß § 245 Nr. 4, 5 anzufechten oder eine Nichtigkeitsklage zu erheben16). Die durch § 242 und § 246 bezweckte Rechtssicherheit erfordert es, dass auch diese Beschlüsse durch die Heilung wirksam und rechtmäßig werden. Durch ihre Ausführung macht sich der Vorstand nicht gemäß § 93 Abs. 2 schadensersatzpflichtig.17) Möglich bleibt jedoch eine Haftung des Vorstandmitglieds aufgrund der unterlassenen Klageerhebung.18) Bei Beschlüssen, deren Rechtswidrigkeit zweifelhaft ist, muss der Vorstand i. R. seiner 9 Pflicht prüfen, ob er diesen anficht und die Ausführung bis zu einer Entscheidung unterlässt. Bei unsicherer Rechtslage kommt ihm in einem solchen Fall ein gewisser Beurteilungsspielraum zu.19) Keine Ausführungspflicht besteht schließlich bei Vorliegen einer untersagenden Gerichtsentscheidung.20) Die Ausführungshandlung selbst kann bspw. im Abschluss eines Vertrages oder der An- 10 meldung zur Eintragung in das Handelsregister liegen.21) IV.

Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung

Bei Verletzung einer Vorbereitungs- oder Ausführungspflicht haften die Vorstandsmit- 11 glieder unter den Voraussetzungen des § 93 Abs. 2 gegenüber der Gesellschaft auf Schadensersatz. Darüber hinaus liegt regelmäßig ein wichtiger Grund zur Abberufung gemäß § 84 Abs. 3 und zur fristlosen Kündigung des Anstellungsvertrags vor.22) Die Gesellschaft kann, vertreten durch den Aufsichtsrat, den Vorstand auf die Erfüllung der Pflichten aus § 83 verklagen.23) Die Gegenansicht bejaht stattdessen regelmäßig die Möglichkeit einer Aktionärsklage gegen den Vorstand.24) _____________ 12) Fleischer, BB 2005, 2025; Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 83 Rz. 12; Haertlein, ZHR 168 (2004) 437, 445 ff.; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 83 Rz. 10. 13) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 83 Rz. 12; Spindler in MünchKomm-AktG § 83 Rz. 18. 14) Fleischer, BB 2005, 2025 ff.; Hölters-Weber, AktG, § 83 Rz. 7. 15) Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 83 Rz. 13; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 83 Rz. 24. 16) Fleischer, BB 2005, 2025 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 242 Rz. 7; Hölters-Weber, AktG, § 83 Rz. 7. 17) Fleischer, BB 2005, 2025 ff. 18) Hölters-Weber, AktG, § 83 Rz. 7. 19) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 83 Rz. 20; zum Handlungsspielraum Buck-Heeb, BB 2013, 2247. 20) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 16.2.2004 – 26 W 1/04, NZG 2004, 526; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 83 Rz. 5. 21) Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 83 Rz. 14; Hölters-Weber, AktG, § 83 Rz. 9. 22) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 83 AktG Rz. 18; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 83 Rz. 13. 23) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 83 Rz. 27; Heidel-Oltmanns, AktR, § 83 AktG Rz. 6; Hommelhoff, ZHR 143 (1979) 288, 309 f.; Stodolkowitz, ZHR 154 (1990) 1, 9 f. 24) Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 83 Rz. 6; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 83 Rz. 6; Mertens/ Cahn in: KölnKomm-AktG, § 83 Rz. 12; für beide Möglichkeiten: K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 83 Rz. 13, 14.

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§ 84

Bestellung und Abberufung des Vorstands

§ 84 Bestellung und Abberufung des Vorstands Simon Link

(1) 1Vorstandsmitglieder bestellt der Aufsichtsrat auf höchstens fünf Jahre. 2Eine wiederholte Bestellung oder Verlängerung der Amtszeit, jeweils für höchstens fünf Jahre, ist zulässig. 3Sie bedarf eines erneuten Aufsichtsratsbeschlusses, der frühestens ein Jahr vor Ablauf der bisherigen Amtszeit gefaßt werden kann. 4Nur bei einer Bestellung auf weniger als fünf Jahre kann eine Verlängerung der Amtszeit ohne neuen Aufsichtsratsbeschluß vorgesehen werden, sofern dadurch die gesamte Amtszeit nicht mehr als fünf Jahre beträgt. 5Dies gilt sinngemäß für den Anstellungsvertrag; er kann jedoch vorsehen, daß er für den Fall einer Verlängerung der Amtszeit bis zu deren Ablauf weitergilt. (2) Werden mehrere Personen zu Vorstandsmitgliedern bestellt, so kann der Aufsichtsrat ein Mitglied zum Vorsitzenden des Vorstands ernennen. (3) 1Ein Mitglied eines Vorstands, der aus mehreren Personen besteht, hat das Recht, den Aufsichtsrat um den Widerruf seiner Bestellung zu ersuchen, wenn es wegen Mutterschutz, Elternzeit, der Pflege eines Familienangehörigen oder Krankheit seinen mit der Bestellung verbundenen Pflichten vorübergehend nicht nachkommen kann. 2Macht ein Vorstandsmitglied von diesem Recht Gebrauch, muss der Aufsichtsrat die Bestellung dieses Vorstandsmitglieds 1. im Fall des Mutterschutzes widerrufen und dabei die Wiederbestellung nach Ablauf des Zeitraums der in § 3 Absatz 1 und 2 des Mutterschutzgesetzes genannten Schutzfristen zusichern, 2. in den Fällen der Elternzeit, der Pflege eines Familienangehörigen oder der Krankheit widerrufen und dabei die Wiederbestellung nach einem Zeitraum von bis zu drei Monaten entsprechend dem Verlangen des Vorstandsmitglieds zusichern; der Aufsichtsrat kann von dem Widerruf der Bestellung absehen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. 3

In den in Satz 2 Nummer 2 genannten Fällen kann der Aufsichtsrat die Bestellung des Vorstandsmitglieds auf dessen Verlangen mit Zusicherung der Wiederbestellung nach einem Zeitraum von bis zu zwölf Monaten widerrufen. 4Das vorgesehene Ende der vorherigen Amtszeit bleibt auch als Ende der Amtszeit nach der Wiederbestellung bestehen. 5Im Übrigen bleiben die Regelungen des Absatzes 1 unberührt. 6Die Vorgabe des § 76 Absatz 2 Satz 2, dass der Vorstand aus mindestens zwei Personen zu bestehen hat, gilt während des Zeitraums nach den Sätzen 2 oder 3 auch dann als erfüllt, wenn diese Vorgabe ohne den Widerruf eingehalten wäre. 7Ein Unterschreiten der in der Satzung festgelegten Mindestzahl an Vorstandsmitgliedern ist während des Zeitraums nach den Sätzen 2 oder 3 unbeachtlich. 8§ 76 Absatz 3a und § 393a Absatz 2 Nummer 1 finden auf Bestellungen während des Zeitraums nach den Sätzen 2 oder 3 keine Anwendung, wenn das Beteiligungsgebot ohne den Widerruf eingehalten wäre. 9§ 88 ist während des Zeitraums nach den Sätzen 2 oder 3 entsprechend anzuwenden. (4) 1Der Aufsichtsrat kann die Bestellung zum Vorstandsmitglied und die Ernennung zum Vorsitzenden des Vorstands widerrufen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. 2Ein solcher Grund ist namentlich grobe Pflichtverletzung, Unfähigkeit zur ordnungsmäßigen Geschäftsführung oder Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung, es sei denn, daß das Vertrauen aus offenbar unsachlichen Gründen entzogen worden ist. 3Dies gilt auch für den vom ersten Aufsichtsrat bestellten Vorstand. 4Der Widerruf ist wirk-

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sam, bis seine Unwirksamkeit rechtskräftig festgestellt ist. 5Für die Ansprüche aus dem Anstellungsvertrag gelten die allgemeinen Vorschriften. (5) Die Vorschriften des Montan-Mitbestimmungsgesetzes über die besonderen Mehrheitserfordernisse für einen Aufsichtsratsbeschluß über die Bestellung eines Arbeitsdirektors oder den Widerruf seiner Bestellung bleiben unberührt. Literatur: Apfelbacher/Hemeling/Hoffmann-Becking/Kremer/Krieger/Löbbe/Maier-Reimer, Zur Initiative #stayonboard für einen Anspruch auf Ruhenlassen des Vorstandsmandats bei längerer Verhinderung, NZG 2020, 1281; Arnold/Schansker, Die Zweiwochenfrist des § 626 II BGB bei der außerordentlichen Kündigung vertretungsberechtigter Organmitglieder, NZG 2013, 1172; Bauer, Gesellschaftsrechtliche Sonderregeln bei der Beendigung von Vorstands- und Geschäftsführerverträgen, DB 2003, 811; Bauer, Rechtliche und taktische Probleme bei der Beendigung von Vorstandsverhältnisse, DB 1992, 1413; Bauer/Arnold, AGG-Probleme bei vertretungsberechtigten Organmitgliedern, ZIP 2008, 993; Bauer/Arnold, Vorstandsverträge im Kreuzfeuer der Kritik, DB 2006, 260; Bauer/Arnold/Kramer, Schiedsvereinbarungen mit Geschäftsführern und Vorstandsmitgliedern, AG 2014, 677; Bauer/Krieger, Formale Fehler bei Abberufung und Kündigung vertretungsberechtigter Organmitglieder, ZIP 2004, 1247; Bauer/v. Medem, Spielregeln und Usancen bei der Beendigung von Vorstandsverträgen, NZA 2014, 238; Bayer, Erkrankungen von Vorstandsmitgliedern – Rechtlicher Rahmen, empirische Studie, Empfehlungen an Praxis und Regelsetzer, in: Festschrift für Peter Hommelhoff, 2012, S. 87; Bayer/Lieder, Die Lehre vom fehlerhaften Bestellungsverhältnis, NZG 2012, 1; Besse/Heuser, Zur Vereinbarkeit der vorzeitigen Wiederbestellung von Vorständen mit § 84 I 3 AktG, DB 2012, 2385; Bezzenberger, Der Vorstandsvorsitzende der Aktiengesellschaft, ZGR 1996, 661; Bosse/Hinderer, Vorzeitige Wiederbestellung des Vorstands auf dem Prüfstand, NZG 2011, 605; Bürgers/Theusinger, Die Zulässigkeit einvernehmlicher Aufhebung der Bestellung eines Vorstandsmitglieds bei gleichzeitiger Neubestellung, NZG 2012, 1218; Deilmann/Dornbusch, Drittanstellung im Konzern, NZG 2016, 201; Densch/Kahlo, Zur Ausschlußfrist des § 626 Abs. 2 BGB bei fristloser Kündigung eines GmbH-Geschäftsführers durch die Gesellschafterversammlung, DB 1983, 811; Diekmann/Punte, Aktuelles zur Drittanstellung, Drittvergütung und Haftung von Mitgliedern des Vorstands, WM 2016, 681; Dörrwächter, Die Suspendierung von Vorstandsmitgliedern, NZG 2018, 54; Fischer, Die Fremdgeschäftsführerin und andere Organvertreter auf dem Wege zur Arbeitnehmereigenschaft, NJW 2011, 2329; Fleischer, Vorzeitige Wiederbestellung von Vorstandsmitgliedern: Zulässige Gestaltungsmöglichkeit oder unzulässige Umgehung des § 84 Abs. 1 Satz 3 AktG?, DB 2011, 861; Fleischer, Gesundheitsprobleme eines Vorstandsmitglieds im Lichte des Aktien- und Kapitalmarktrechts, NZG 2010, 561; Fleischer, Bestellungsdauer und Widerruf der Bestellung von Vorstandsmitgliedern im in- und ausländischen Aktienrecht, AG 2006, 429; Fleischer, Haftungsfreistellung, Prozesskostenersatz und Versicherung für Vorstandsmitglieder – eine rechtsvergleichende Bestandsaufnahme zur Enthaftung des Managements, WM 2005, 909; Fleischer, Zur organschaftlichen Treuepflicht der Geschäftsleiter im Aktien- und GmbHRecht, WM 2003, 1045; Fleischer, Zur Leitungsaufgabe des Vorstands im Aktienrecht, ZIP 2003, 1; Fonk, Vergütungsrelevante Zielvereinbarungen und Vorgaben versus Leitungsbefugnis des Vorstands, NZG 2011, 321; Fonk., Zur Vertragsgestaltung bei Vorstandsdoppelmandaten, NZG 2010, 368; Fonk., Rechtsfragen nach der Abberufung von Vorstandsmitgliedern und Geschäftsführern, NZG 1998, 408; Forst, Rechtfertigen wertpapieraufsichtsrechtliche Maßnahmen zulasten von Vorstandsmitgliedern deren Abberufung oder die Kündigung des Anstellungsvertrags?, AG 2013, 277; Goette, Leitung, Aufsicht, Haftung – Rolle der Rechtsprechung bei der Sicherung einer modernen Unternehmensführung, in: Festschrift 50 Jahre BGH, 2000, S. 123; Götz, Die vorzeitige Wiederwahl von Vorständen – Kritisches zur Wiederbestellung vor Beginn des Jahreszeitraums des § 84 Abs. 1 Satz 3 AktG, AG 2002, 305; Grumann/Gillmann, Abberufung und Kündigung von Vorstandsmitgliedern einer Aktiengesellschaft, DB 2003, 770; Habersack, Der Anstellungsvertrag zwischen Vorstandsmitglied und Aktiengesellschaft – ein Fall für das AGB-Recht?, in: Festschrift Coester-Waltjen, 2015, S. 1097; Habersack, Verkleinerung des Vor-

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stands durch Abberufung aus wichtigem Grund?, DB 2015, 787; Habersack/Wasserbäch, Organhandeln vor Schiedsgerichten, AG 2016, 2; Hoefs/Rentsch, Altersdiskriminierung von Organmitgliedern, DB 2012, 2733; Hoffmann-Becking, Abfindungsleistungen an ausscheidende Vorstandsmitglieder, ZIP 2007, 2101; Hoffmann-Becking, Vorstandsvorsitzender oder CEO?, NZG 2003, 745; Hoffmann-Becking, Zur rechtlichen Organisation der Zusammenarbeit im Vorstand der AG, ZGR 1998, 497; Hoffmann-Becking, Zum einvernehmlichen Ausscheiden von Vorstandsmitgliedern. Bemerkungen im Anschluß an die Entscheidung BGHZ 79, 38 „Poulain/West LB“, in: Festschrift für Walter Stimpel, 1985, S. 589; Hoffmann-Becking/Krieger, Leitfaden zur Anwendung des Gesetzes zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG), NZG Beilage z. Heft 26/2009, S. 1; Hölters/Weber, Vorzeitige Wiederbestellung von Vorstandsmitgliedern, AG 2005, 629; Hüffer, Aktienbezugsrechte als Bestandteil der Vergütung von Vorstandsmitgliedern und Mitarbeitern – gesellschaftsrechtliche Analyse, ZHR 161 (1997) 214; Janzen, Vorzeitige Beendigung von Vorstandsamt und -vertrag, NZG 2003, 468; Jooß, Die Drittanstellung des Vorstandsmitglieds einer AG, NZG 2011, 1130; Kliemt, Altersgrenzen für Vorstandsmitglieder – noch rechtskonform?, RdA 2015, 232; Klöckner, Die Aktiengesellschaft in der Insolvenz – Bestellung und Abberufung des Vorstands, AG 2010, 780; Köhler, Fehlerhafte Vorstandsverträge, NZG 2008, 161; Kort, Ungleichbehandlung von Geschäftsleitungsmitgliedern bei AG und GmbH wegen des Alters, WM 2013, 1049; Krieger, Zahlungen der Aktiengesellschaft im Strafverfahren gegen Vorstandsmitglieder, in: Festschrift für Gerold Bezzenberger, 2000, S. 211; Langer/Peters, Rechtliche Möglichkeiten einer unterschiedlichen Kompetenzzuweisung an einzelne Vorstandsmitglieder, BB 2012, 2575; Leuchten, Zur vorzeitigen Wiederbestellung von Vorständen, NZG 2005, 909; Leuering, Die Zurückweisung von einseitigen Rechtsgeschäften des Aufsichtsrats nach § 174 BGB, NZG 2004, 120; Lutter, Anwendbarkeit der Altersbestimmungen des AGG auf Organpersonen, BB 2007, 725; Martens, Vertretungsorgan und Arbeitnehmerstatus in konzernabhängigen Gesellschaften, in: Festschrift für Marie Luise Hilger und Hermann Stumpf, 1983, S. 437; Mertens, Verfahrensfragen bei Personalentscheidungen des mitbestimmten Aufsichtsrats, ZGR 1983, 189; Messer, Die Abberufung des Vorstands der AG wegen Vertrauensentzugs durch die Hauptversammlung, in: Festschrift für Rudolf Nirk, 1992, S. 681; Mielke, Die Abberufung von Vorstandsmitgliedern wegen Vertrauensentzugs durch die Hauptversammlung – beweis- und verfahrensrechtliche Fragen, BB 2014, 1035; Molk, Zur Insolvenzsicherung der Betriebsrenten von Gesellschafter-Geschäftsführern, ZIP 1980, 422; Paschos/v. d. Linden, Vorzeitige Wiederbestellung von Vorstandsmitgliedern, AG 2012, 736; Peltzer, Rechtsprobleme beim unfreiwilligen vorzeitigen Ausscheiden von Vorstandsmitgliedern von AG’s und Geschäftsführern von GmbH’s, BB 1976, 1249; Priester, Neufestsetzung der Amtszeit von Vorstandsmitgliedern, ZIP 2012, 1781; Rehbinder, Rechtliche Schranken der Erstattung von Bußgeldern an Organmitglieder und Angestellte, ZHR 148 (1984) 555; Säcker, Rechtsprobleme beim Widerruf der Bestellung von Organmitgliedern und Ansprüche aus fehlerhaften Anstellungsverträgen, in: Festschrift für Gerhard Müller, 1981, S. 745; Schaefer/Missling, Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat, NZG 1998, 441; Schick, Übernahme und Erstattung von Rechtsverteidigungs- und Verfahrenskosten durch eine Aktiengesellschaft im Zusammenhang mit Strafund Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen Organmitglieder, ZWH 2012, 433; Schmidt, K., Bestellung und Abberufung des Vorstands in der Insolvenz einer Aktiengesellschaft, AG 2011, 1; Schmolke, „Shoot out“-Klauseln und Verpflichtung des Vorstands zur Amtsniederlegung, ZIP 2014, 897; Schmolke, Die Abberufung des Vorstandsmitglieds auf Verdacht, AG 2014, 377; Schockenhoff, Vorstände im Visier aktivistischer Aktionäre, Auswechselung und Vergütungsreduzierung auf Verlangen von Aktionären und Investoren?, ZIP 2017, 1785; Schockenhoff/Topf, Formelle Wirksamkeitsanforderungen an die Abberufung eines Vorstandsmitglieds und die Kündigung seines Anstellungsvertrages, DB 2005, 539; Scholz, Elternzeit und Mutterschutz für Vorstandsmitglieder?, AG 2021, 9; Schrader/Felsmann, Die Abberufung von Vorstandsmitgliedern wegen Vertrauensentzug, GWR 2017, 393; Schürnbrand, Zur fehlerhaften Berufung von Aufsichtsratsmitgliedern und zur fehlerhaften Abberufung von Vorstandsmitgliedern, NZG 2008, 609; Seibt, Deutscher Corporate Governance Kodex – Antwort auf Zweifelsfragen in der Praxis, AG 2003, 465; Seibt/Klausmann, Einvernehmliche Dienstbefreiung von Vorstandsmit-

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gliedern, AG 2021, 169; Semler, Rechtsvorgabe und Realität der Organzusammenarbeit in der Aktiengesellschaft, in: Festschrift für Marcus Lutter, 2000, S. 721; Simons/Hanloser, Vorstandsvorsitzender und Vorstandssprecher, AG 2010, 641; Spindler, Schiedsfähigkeit von Vorstandsverträgen und Haftungsansprüchen, in: Festschrift für Theodor Baums, 2017, S. 1205; Stein, Die neue Dogmatik der Wissensverantwortung bei der außerordentlichen Kündigung von Organmitgliedern der Kapitalgesellschaften – Besprechung der Entscheidung BGH ZIP 1998, S. 1269, ZGR 1999, 264; Strohn, Faktische Organe – Rechte, Pflichten, Haftung, DB 2011, 158; Thüsing/Granetzny, Zur Abdingbarkeit des BetrAVG bei Organmitgliedern, NZG 2010, 449; Tschöpe/Wortmann, Der wichtige Grund bei Abberufungen und außerordentlichen Kündigungen von geschäftsführenden Organvertretern, NZG 2009, 161; Vetter, Die Drittanstellung von Vorstandsmitgliedern und aktienrechtliche Kompetenzordnung, in: Festschrift für Michael Hoffmann-Becking, 2013, S. 1297; Weber/Dahlbender, Die Verlängerung von Anstellungsverträgen mit Vorständen, DB 1996, 2373; Wedemann, Vorzeitige Wiederbestellung von Vorstandsmitgliedern: Gesetzesumgehung, Rechtsmissbrauch und intertemporale Organtreue auf dem Prüfstand, ZGR 2013, 316; Werner, Ausgewählte Fragen zum Aktienrecht, AG 1990, 1; Westermann, Zur personellen und sachlichen Reichweite von Schiedsvereinbarungen über gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten, in: Festschrift für Wulf Goette, 2011, S. 601; Wicke, Der CEO im Spannungsverhältnis zum Kollegialprinzip – Gestaltungsüberlegungen zur Leitungsstruktur einer Aktiengesellschaft, NJW 2007, 3755; Wiesner, Zum Beginn der Ausschlußfrist des § 626 Abs. 2 BGB bei Kenntniserlangung durch Organmitglieder, BB 1981, 1533; Wilhelm, Selbstwahl eines Aufsichtsratsmitglieds in den Vorstand, NJW 1983, 912; Willemer, Die Neubestellung von Vorstandsmitgliedern vor Ablauf der Amtsperiode, AG 1977, 130; Wilsing/Meyer, Diskriminierungsschutz für Geschäftsführer, NJW 2012, 3211; Wilsing/Paul, BGH: Generelle Zulässigkeit der vorzeitigen Wiederbestellung von Vorstandsmitgliedern, BB 2012, 2455; Zimmermann, Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung und Stimmrechtsausübung, in: Festschrift für Heinz Rowedder, 1994, S. 593; Zöllner, Lohn ohne Arbeit bei Vorstandsmitgliedern, in: Festschrift für Hans-Georg Koppensteiner, 2001, S. 291.

Übersicht I. Regelungsgegenstand und Regelungszweck ................................ 1 II. Bestellung von Vorstandsmitgliedern (§ 84 Abs. 1) ........................ 3 1. Allgemeines ........................................ 3 2. Zuständigkeit ...................................... 6 3. Verfahren ............................................ 7 4. Beschlussermessen ............................. 8 5. Amtszeit ............................................ 10 a) Dauer der Bestellung .................. 10 b) Verlängerung und wiederholte Bestellung ................................... 11 6. Fehlerhafte Organstellung ............... 15 III. Anstellungsvertrag (§ 84 Abs. 1 Satz 5) .......................... 17 1. Allgemeines ...................................... 17 2. Diskriminierungsverbot ................... 19 3. Drittanstellung ................................. 22 4. Zuständigkeit .................................... 25 5. Dauer des Anstellungsvertrages ...... 27 6. Rechte und Pflichten aus dem Anstellungsvertrag ........................... 31

a) b) c) d)

Allgemeines ................................ Bezüge ........................................ Sonstige Ansprüche ................... Pflichten der Vorstandsmitglieder .................................... IV. Ernennung eines Vorsitzenden (§ 84 Abs. 2) ..................................... 1. Ernennung und Widerruf ................. 2. Rechtsstellung .................................. 3. Vorstandssprecher ............................ V. Aussetzung der Bestellung (§ 84 Abs. 3) ..................................... 1. Überblick .......................................... 2. Voraussetzungen .............................. 3. Allgemeine Ausgestaltung der Aussetzung ....................................... 4. Dauer der Aussetzung ..................... 5. Modifikation von Anforderungen an die Zusammensetzung des Vorstands .......................................... 6. Wettbewerbsverbot ..........................

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31 32 38 41 44 44 46 48 49 49 50 56 64

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§ 84

Bestellung und Abberufung des Vorstands

VI. Widerruf der Bestellung (§ 84 Abs. 4) ..................................... 1. Zuständigkeit und Verfahren .......... 2. Wichtiger Grund .............................. a) Allgemeine Anforderungen ...... b) Gesetzliche Beispiele ................. aa) Grobe Pflichtverletzung ........... bb) Unfähigkeit zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung ....................................... cc) Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung ................... dd) Sonstige Gründe ........................ 3. Wirkung des Widerrufs ................... 4. Rechtsschutz des Vorstandsmitglieds ........................................... 5. Sonstige Beendigungsgründe .......... a) Amtsniederlegung ..................... b) Einvernehmliches Ausscheiden ............................... 6. Suspendierung .................................. I.

69 70 72 73 76 76

77 78 80 81 82 84 84 87 88

VII. Kündigung des Anstellungsvertrags (§ 84 Abs. 4 Satz 5) ........... 92 1. Allgemeines ....................................... 92 2. Zuständigkeit und Verfahren ........... 93 3. Außerordentliche Kündigung durch die Gesellschaft ...................... 96 a) Allgemeines ................................ 96 b) Vorliegen eines wichtigen Grundes ...................................... 97 c) Kündigungsfrist ........................ 101 d) Rechtsschutz ............................ 104 e) Nachschieben von Gründen .... 105 4. Ordentliche Kündigung durch die Gesellschaft ............................... 107 5. Kündigung durch das Vorstandsmitglied ........................................... 108 6. Einvernehmliche Aufhebung ......... 110 VIII. Bestellung und Abberufung des Arbeitsdirektors in mitbestimmten Gesellschaften (§ 84 Abs. 5) ............................................. 111

Regelungsgegenstand und Regelungszweck

1 § 84 regelt die Bestellung und Abberufung der Vorstandsmitglieder durch den Aufsichtsrat. Dieser hat die ausschließliche Personalkompetenz in Vorstandsangelegenheiten, die auch nicht durch eine abweichende Satzungsregelung (§ 23 Abs. 5) modifiziert werden kann.1) Darüber hinaus sichern die Grenzen der Abberufungsmöglichkeit die Unabhängigkeit der Vorstandsmitglieder. Gemäß § 84 Abs. 1 bestellt der Aufsichtsrat die Vorstandsmitglieder für eine Dauer von höchstens fünf Jahren, eine wiederholte Bestellung oder Verlängerung der Amtszeit ist zulässig. Der Aufsichtsrat kann ein Vorstandsmitglied auch zum Vorstandsvorsitzenden ernennen, § 84 Abs. 2. Nach § 84 Abs. 3 kann ein Vorstandsmitglied in Fällen des Mutterschutzes, der Elternzeit, der Pflege eines Familienangehörigen oder Krankheit einen Widerruf der Bestellung verbunden mit einer Zusicherung der Wiederbestellung verlangen. Ein Widerruf der Bestellung setzt ansonsten gemäß § 84 Abs. 4 einen wichtigen Grund voraus. In mitbestimmten Gesellschaften sind gemäß § 84 Abs. 5 die Regelungen zur Bestellung und Abberufung eines Arbeitsdirektors zu beachten. 2 Nach dem in § 84 Abs. 1 Satz 5 und § 84 Abs. 4 Satz 5 zum Ausdruck kommenden Trennungsprinzip ist zwischen der korporationsrechtlichen Bestellung und dem schuldrechtlichen Anstellungsvertrag zu unterscheiden.2) Beide Rechtsverhältnisse sind grundsätzlich voneinander unabhängig und insbesondere ein Widerruf der aktienrechtlichen Bestellung ist nicht notwendig mit einem Erlöschen des Anstellungsvertrags verbunden. _____________ 1) 2)

590

Allg. M., vgl. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 1; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 1. Ganz h. M.: BGH, Urt. v. 29.5.1989 – II ZR 220/88, NJW 1989, 2683 = ZIP 1989, 1190; BGH, Urt. v. 28.10.2002 – II ZR 146/02, ZIP 2003, 28 = NJW 2003, 351, dazu EWiR 2003, 259 (Frey) – zur GmbH; Begr. RegE in: Kropff, AktG, S. 106; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 7; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 2; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 331; Mertens/ Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 5; a. A. – i. S. der Einheitstheorie – Baums, Geschäftsleitervertrag, S. 3 ff.; Bauer, DB 1992, 1413 f.

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Bestellung und Abberufung des Vorstands II.

Bestellung von Vorstandsmitgliedern (§ 84 Abs. 1)

1.

Allgemeines

§ 84

Die Bestellung ist ein mehraktiger Prozess, der alle Handlungen des Aufsichtsrats und des 3 künftigen Vorstandsmitglieds erfasst, die zur Begründung der aktienrechtlichen Stellung als Vorstand erforderlich sind.3) Dazu zählen der Bestellungsbeschluss durch den Aufsichtsrat gemäß § 108, die Erklärung der Bestellung gegenüber dem künftigen Vorstandsmitglied und dessen Annahmeerklärung, die gegenüber dem Aufsichtsrat kundgegeben wird.4) Sowohl die Bestellung als auch die Annahmeerklärung haben rechtsgeschäftlichen Charakter5) und sind gemäß § 130 BGB zugangsbedürftig. Es besteht kein Formbedürfnis, die Erklärungen können auch konkludent, etwa durch 4 Aufnahme der Vorstandstätigkeit, erfolgen.6) Auch eine Bestellung für einen bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft oder eine bedingte Bestellung sind zulässig.7) Die Auffassung, wonach dem Rechtsgedanken des § 84 Abs. 1 Satz 3 folgend der Zeitraum bis zum Eintritt der Bedingung oder bis zum vorherbestimmten Zeitpunkt nicht länger als ein Jahr betragen darf,8) ist abzulehnen. § 84 Abs. 1 Satz 3 dient dazu, eine Umgehung der Höchstbestellungsdauer zu verhindern. Das ist aber bei einer aufschiebenden Bedingung oder Befristung nicht zu besorgen. Die Zuweisung eines bestimmten Geschäftsbereichs ist nicht Teil der Bestellung, son- 5 dern der Regelung der Geschäftsordnung.9) In mitbestimmten Gesellschaften ist der Arbeitsdirektor gemäß § 33 MitbestG, § 13 MontanMitbestG, § 13 MitbestErgG dagegen zwingend für den Kernbereich Arbeit und Soziales zuständig.10) Die Frage nach einer entsprechenden Regelung im Anstellungsvertrag ist von der Ressortzuteilung im Bestellungsbeschluss zu trennen (siehe Rz. 31). 2.

Zuständigkeit

Da die Delegation an einen Ausschuss gemäß § 107 Abs. 3 Satz 4 unzulässig ist, beschließt 6 der Aufsichtsrat als Gesamtorgan.11) Diese Zuständigkeit ist zwingend, weder die Satzung noch die Hauptversammlung können Abweichungen vorsehen.12) Eine vorbereitende Tätigkeit durch einen Aufsichtsratsausschuss bleibt jedoch möglich.13) Dabei ist es praxisüblich und zulässig, dass eine vorbereitende Auswahl getroffen und dem Plenum schließ_____________ 3) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 6; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 9; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 20 Rz. 14. 4) OLG Nürnberg, Urt. v. 20.12.2013 – 12 U 49/13, NZG 2014, 222, 225 = ZIP 2014, 171, dazu EWiR 2014, 139 (Wachter); Henssler/Strohn-Dauner-Lieb, GesR, § 84 AktG Rz. 4; Fleischer in: BeckOGKAktR, § 84 AktG Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 6 – mit Übersicht zum Meinungsstand; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 84 Rz. 4. 5) BGH, Urt. v. 22.9.1969 – II ZR 144/68, BGHZ 52, 316, 321 = NJW 1970, 33 – zur GmbH; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 4; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 3. 6) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 3; Kubis/Tödtmann-Richter, ArbHdb. Vorstandsmitglieder, § 2 Rz. 30; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 25. 7) Kort in: GroßKomm-AktG, § 84 Rz. 37; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 6. 8) Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 20 Rz. 18. 9) Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 84 Rz. 2; Mertens, ZGR 1983, 189, 196. 10) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 3, Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 4. 11) BGH, Urt. v. 24.11.1980 – II ZR 182/79, BGHZ 79, 38, 42 = NJW 1981, 757 = ZIP 1981, 45; Fleischer in: BeckOGK-AktG, § 84 Rz. 9; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 5; Mertens/Cahn in: KölnKommAktG, § 84 Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 8. 12) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 12. 13) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 337.

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§ 84

Bestellung und Abberufung des Vorstands

lich nur ein Vorschlag zur Beschlussfassung vorgelegt wird. Der Ausschuss hat den Gesamtaufsichtsrat i. R. seiner allgemeinen Berichtspflicht gemäß § 107 Abs. 3 Satz 5 in gewissen Abständen über seine Tätigkeit zu informieren.14) Auch nach der Insolvenzeröffnung bleibt der Aufsichtsrat weiter zuständig.15) 3.

Verfahren

7 Der Aufsichtsrat entscheidet gemäß § 108 durch Beschluss. Eine konkludente Beschlussfassung, bspw. durch Duldung der Vorstandstätigkeit, genügt nicht.16) In der Einladung zur Aufsichtsratssitzung muss der Beschlussgegenstand hinreichend konkret bezeichnet werden. Im Einzelfall kann ggf. auch ein Verweis auf „Vorstandsangelegenheiten“ ausreichen, um den Mitgliedern deutlich zu machen, dass die Bestellung oder das Ausscheiden eines Vorstandsmitglieds zur Entscheidung ansteht.17) Der Aufsichtsrat trifft seine Entscheidung mit einfacher Mehrheit.18) Für die Bestellung in mitbestimmten Gesellschaften enthält § 31 MitbestG spezielle Reglungen. Ein qualifiziertes Mehrheitserfordernis kann nicht statuiert werden.19) Bei der Besetzung mehrerer Vorstandsposten hat eine gesonderte Abstimmung über jedes Vorstandsmitglied zu erfolgen.20) Eine bestimmte Form, bspw. die notarielle Beurkundung der Beschlussfassung, sieht das Gesetz nicht vor, kann aber in der Satzung oder der Geschäftsordnung festgelegt werden.21) Ein Verstoß hat jedoch keinen Einfluss auf die Wirksamkeit des Bestellungsbeschlusses.22) Nach überwiegender Auffassung unterliegt ein Aufsichtsratsmitglied, das selbst zum Vorstand gewählt werden soll, nach dem Rechtsgedanken der §§ 34, 181 BGB einem Stimmenthaltungsgebot bei der Beschlussfassung.23) 4.

Beschlussermessen

8 Der Aufsichtsrat übt bei seiner Entscheidung eigenes unternehmerisches Ermessen aus.24) Rechtsgeschäftliche Regelungen, die diese Entscheidungsfreiheit einschränken, sind gemäß _____________ 14) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 337. 15) OLG Nürnberg, Urt. v. 20.3.1990 – 1 U 2275/89 (Maxhütte), ZIP 1991, 1020 = AG 1991, 446, = WM 1991, 1719; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 9; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 5; K. Schmidt, AG 2011, 1 ff.; a. A. Hauptversammlungszuständigkeit – Klöckner, AG 2010, 780. 16) BGH, Urt. v. 6.4.1964 – II ZR 75/62, BGHZ 41, 282, 286= NJW 1964, 1367; OLG Dresden, Urt. v. 31.8.1999 – 13 U 1215/99, AG 2000, 43, 44 = ZIP 1999, 1632 = NZG 2000, 426; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 21. 17) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 42; a. A. BGH, Urt. v. 29.5.2000 – II ZR 47/99, WM 2000, 1543, 1544 = ZIP 2000, 1336 = DB 2000, 1959 – zur Verwaltungsratssitzung einer Sparkasse; OLG Stuttgart, Urt. v. 15.4.1985 – 2 U 57/85, ZIP 1985, 539, 541 = WM 1985, 600; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 19; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 110 Rz. 28; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 110 AktG Rz. 20. 18) Kort in: GroßKomm-AktG, § 84 Rz. 33; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 22; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 20 Rz. 21. 19) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 12; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 12. 20) Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 84 Rz. 5; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 21. 21) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 11; Wentrup in: MünchHdB. GesR, Bd. 4, § 20 Rz. 25. 22) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 29; Fleischer-Thüsing, Hdb. VorstandsR, § 4 Rz. 22. 23) Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 84 Rz. 5; Henssler/Strohn-Dauner-Lieb, GesR, § 84 AktG Rz. 7; Fleischer-Thüsing, Hdb. VorstandsR, § 4 Rz. 22; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 21; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 13; a. A. Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 348; Matthießen, Stimmrecht und Interessenskollision im Aufsichtsrat, 1989, S. 230 ff.; Mertens, ZGR 1983, 189, 203 ff.; Wilhelm, NJW 1983, 912, 915. 24) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13.7.2015 – I-26 W 16/14, WM 2015, 2053, 2057 = ZIP 2015, 1779; Goette in: FS 50 Jahre BGH, S. 123, 129.

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Bestellung und Abberufung des Vorstands

§ 84

§ 134 BGB nichtig.25) Da das Ermessen des Aufsichtsrats gewahrt werden muss, kann auch die Satzung nur begrenzt verbindliche Eignungsvoraussetzungen bestimmen (siehe oben § 76 Rz. 67). Die in § 76 Abs. 3 geregelten Eignungsvoraussetzungen und Bestellungshindernisse stellen 9 eine gesetzliche Grenze des Auswahlermessens dar. 5.

Amtszeit

a)

Dauer der Bestellung

Gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 kann eine Bestellung oder Verlängerung der Bestellung 10 für einen Zeitraum von höchstens fünf Jahren erfolgen. Zweck der Norm ist, jedenfalls alle fünf Jahre eine verantwortliche Beratung des Aufsichtsrats über die Weiterbeschäftigung des Vorstands sicherzustellen und eine Trennung nach diesem Zeitraum ohne Erfordernis eines wichtigen Grundes zu ermöglichen.26) Eine Mindestdauer ist gesetzlich nicht vorgesehen. Um die Unabhängigkeit des Vorstands vom Aufsichtsrat zu gewährleisten muss eine Bestellung, die nicht ausnahmsweise der Überbrückung dient, nach h. M. mindestens den Zeitraum von einem Jahr umfassen.27) Da der Gesetzeswortlaut für diese Auffassung jedoch keinen Anhaltspunkt bietet, muss es bei dem Grundsatz bleiben, dass sich die Mindestbestelldauer ausschließlich nach dem Gesellschaftsinteresse richtet.28) Bei Bejahung der Mindestbestelldauer ist eine kürzere Bestellung jedenfalls wirksam, ohne dass es zu einer Verlängerung auf einen angemessenen Zeitraum kommt.29) Im Normalfall hat sich in der Praxis eine Bestelldauer von drei Jahren für die erstmalige Bestellung bei börsennotierten AGs herausgebildet.30) Liegt im Bestellungsbeschluss keine ausdrückliche Regelung zur Amtsdauer vor, so ist diese gemäß §§ 137, 155 BGB durch Auslegung zu ermitteln. Im Zweifel beträgt sie fünf Jahre.31) Bindende Vorgaben zur Bestelldauer in der Satzung sind unzulässig.32) b)

Verlängerung und wiederholte Bestellung

Gemäß § 84 Abs. 1 Satz 2 ist eine Wiederbestellung oder Verlängerung der Amtszeit mög- 11 lich, jedoch jeweils nur für maximal fünf Jahre. Auch die Wiederbestellung erfolgt durch ausdrücklichen Aufsichtsratsbeschluss, der gemäß § 84 Abs. 1 Satz 3 frühestens ein Jahr vor Ablauf der Amtszeit gefasst werden kann. Ein vorheriger Beschluss ist nichtig.33) Automatische Verlängerungsklauseln sind dann zulässig, wenn sie innerhalb der Fünf-JahresFrist wirken, da der Aufsichtsrat auch gleich eine Bestellung für fünf Jahre hätte vornehmen

_____________ 25) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 13; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 15. 26) BGH, Urt. v. 11.7.1953 – II ZR 126/52, BGHZ 10, 187 = NJW 1953, 1465; BGH, Urt. v. 17.7.2012 – II ZR 55/11, NZG 2012, 1027, 1029 = ZIP 2012, 1750 = AG 2012, 677, dazu EWiR 2012, 577 (Nikoleyczik). 27) OLG Karlsruhe, Urt. v. 10.7.1972 – 8 U 74/73, AG 1973, 310, 311; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 24; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 16; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 45. 28) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 3 Rz. 66, 67. 29) Kort in: GroßKomm-AktG, § 84 Rz. 66; für eine Verlängerung Eckardt, Die Beendigung der Vorstands- und Geschäftsführerstellung in Kapitalgesellschaften, 1989, S. 70 ff. 30) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 3 Rz. 67. 31) Grumann/Gillmann, DB 2003, 770; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 14; Spindler in: MünchKommAktG, § 84 Rz. 46. 32) Kort in: GroßKomm-AktG, § 84 Rz. 64; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 17. 33) Bauer/Arnold, DB 2006, 260; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 18.

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§ 84

Bestellung und Abberufung des Vorstands

können.34) Weitergehende Verlängerungsklauseln sind aufgrund des Zwecks der gesetzlichen Höchstdauer nichtig.35) 12 Nicht ausdrücklich in § 84 geregelt und umstritten ist die Frage der vorzeitigen Wiederbestellung in Form einer Neufestsetzung der Amtszeit. Dabei wird die Organstellung bereits früher als ein Jahr vor Ablauf der Amtszeit einvernehmlich aufgehoben, um im Anschluss eine Neubestellung für bis zu fünf Jahre vorzunehmen. Dieses Vorgehen wurde teilweise als unzulässige Gesetzesumgehung angesehen,36) oder unter die Voraussetzung des Vorliegens bestimmter Gründe gestellt.37) Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 17.7.2012 die Zulässigkeit einer Wiederbestellung ohne Vorliegen bestimmter Gründe und unabhängig von der Restlaufzeit des Vorstandsmandats bestätigt.38) Die Entscheidung steht nun im Einklang mit der ganz überwiegenden Meinung in der Literatur.39) 13 Eine Grenze ist in Ausnahmefällen bei Rechtsmissbrauch gegeben.40) Dieses Kriterium ist vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Zulässigkeit der Wiederbestellung eng auszulegen. Dient die Wiederbestellung nur dazu, die Abschlagszahlung eines Vorstandsmitglieds für den Fall seines späteren Ausscheidens bereits vorab sicherzustellen,41) liegt ein missbräuchliches Vorgehen nahe.42) Allerdings ist in diesen Fällen nicht von einer Unwirksamkeit der Bestellung auszugehen, sondern von einer Pflichtverletzung des Aufsichtsrats, die ggf. Haftungsansprüche auslösen kann. 14 Neben der aktienrechtlichen Zulässigkeit muss der Wiederbestellungsbeschluss schließlich im Innenverhältnis i. R. einer pflichtgemäßen Ermessensausübung des Aufsichtsrats liegen. Diese setzt voraus, dass besondere Umstände vorliegen, die eine vorzeitige Wiederbestellung als im Interesse der Gesellschaft geboten erscheinen lassen.43) Eine entsprechende Empfehlung enthält daneben auch Empfehlung B. 4 DCGK. Die Anforderungen sind hier jedoch nicht zu hoch anzusetzen. Ausreichend ist bspw. eine Änderung der Geschäftsverteilung im Vorstand, die Ernennung eines Vorstandsmitglieds zum Vorstandsvorsitzenden oder die drohende Abwerbung durch einen Dritten.44)

_____________ 34) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 357; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 22. 35) BGH, Urt. v. 11.7.1953 – II ZR 126/52, BGHZ 10, 187 = NJW 1953, 1465; Bürgers/Körber/LiederBürgers, AktG, § 84 Rz. 10. 36) OLG Zweibrücken, Urt. v. 3.2.2011 – 4 U 76/10, AG 2011, 304, 305 f. = ZIP 2011, 617 = DB 2011, 754, dazu EWiR 2011, 297 (Paul); Götz, AG 2002, 305, 306; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 23; Fleischer-Thüsing, Hdb. VorstandsR § 4 Rz. 43. 37) Priester, ZIP 2012, 1781, 1783. 38) BGH, Urt. v. 17.12.2012 – II ZR 55/11, ZIP 2012, 1750 = AG 2012, 677. 39) Besse/Heuser, DB 2012, 2385; Bürgers/Theusinger, NZG 2012, 1218, 1220, 1221; Fleischer in: BeckOGKAktR, § 84 AktG Rz. 21; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 8; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 52; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 84 Rz. 12; Wedemann, ZGR 2013, 316, 319 f.; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 27; Wilsing/Paul, BB 2012, 2455, 2459; ebenso bereits: Bauer/Arnold, DB 2006, 260, 261; Bauer, DB 2003, 811, 817; Bosse/Hinderer, NZG 2011, 605, 607; Wachter-Eckert, AktG, 2. Aufl., 2014, § 84 Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 18; Seibt, AG 2003, 465, 474; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 3 Rz. 74; Hölters/Weber, AG 2005, 629, 631 ff.; Werner, AG 1990, 1, 19; Willemer, AG 1977, 130, 132 f. 40) BGH, Urt. v. 17.12.2012 – II ZR 55/11, ZIP 2012, 1750 = AG 2012, 677. 41) Fleischer, DB 2011, 861, 865; Paschos/v. d. Linden, AG 2012, 736, 739; Hölters/Weber, AG 2005, 629, 631. 42) Fleischer, DB 2011, 861, 865; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 8; Wilsing/Paul, BB 2012, 2455, 2459. 43) Bauer/Arnold, DB 2006, 260, 261; Hölters/Weber, AG 2005, 629, 633 f. 44) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 358; Paschos/v. d. Linden, AG 2012, 736, 740; Hölters/Weber, AG 2005, 629, 634; enger: Leuchten, NZG 2005, 909, 911.

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Bestellung und Abberufung des Vorstands 6.

§ 84

Fehlerhafte Organstellung

Wenn die Erklärung der Bestellung oder ihrer Annahme an einem rechtsgeschäftlichen 15 Mangel leidet oder ein ordnungsgemäßer Bestellungsbeschluss nicht zustande gekommen ist und das Vorstandsmitglied dennoch für die Gesellschaft tätig wird, liegt eine fehlerhafte Bestellung vor. Das Organverhältnis ist bis zur Geltendmachung des Mangels im Innenund Außenverhältnis als wirksam anzusehen.45) Dies gilt unabhängig von der Kenntnis oder dem Kennenmüssen der Fehlerhaftigkeit der Bestellung.46) Zweck dieser Lehre von der fehlerhaften Organstellung ist vor allem die Vermeidung von Rückabwicklungsschwierigkeiten und die Wahrung der Rechtssicherheit.47) Eine Ausnahme gilt nur für die kraft Gesetzes nicht vorstandsfähigen Personen (siehe oben § 76 Rz. 68 f.).48) Beendet wird die fehlerhafte Organstellung erst durch einen Widerruf oder die Amtsniederlegung. Der Widerruf einer fehlerhaften Bestellung kann jederzeit durch Beschluss des Gesamtaufsichtsrats erfolgen. Das mitbestimmungsrechtliche Verfahren gemäß § 31 MitbestG muss nicht eingehalten werden.49) Fehlt ein Bestellungsbeschluss gänzlich, gelten die genannten Rechtsfolgen nicht. Die wirk- 16 same Vertretung im Außenverhältnis richtet sich bei diesem faktischen Organmitglied nach den allgemeinen Grundsätzen der Rechtsscheinvollmacht. Im Innenverhältnis kommt eine Haftung gemäß § 93 Abs. 2 in Betracht (siehe § 93 Rz. 64). III.

Anstellungsvertrag (§ 84 Abs. 1 Satz 5)

1.

Allgemeines

Von der aktienrechtlichen Bestellung zu unterscheiden ist die schuldrechtliche Beziehung 17 zwischen dem Vorstandsmitglied und der Gesellschaft. Diese ist regelmäßig als Dienstvertrag ausgestaltet, der eine Geschäftsbesorgung zum Gegenstand hat, so dass die §§ 611 ff., 675 BGB anwendbar sind.50) Der Vertragsschluss erfolgt nach den allgemeinen Grundsätzen und bedarf daher insbesondere des Zugangs der Annahmeerklärung.51) Es besteht kein gesetzliches Formerfordernis.52) Aus Beweisgründen ist die Schriftform aber praktisch relevant.53) Der Anstellungsvertrag kann nicht als Arbeitsvertrag qualifiziert werden, da die Vorstandsmitglieder durch ihre Organstellung selbst Arbeitgeberfunktion ausüben.54) _____________ 45) Allg. M.: BGH, Urt. v. 6.4.1964 – II ZR 75/62, BGHZ 41, 282, 286 ff. = NJW 1964, 1367; BGH, Urt. v. 19.2.2013 – II ZR 56/12, NJW 2013, 1535, 1538 = ZIP 2013, 720 = AG 2013, 387, dazu EWiR 2013, 333 (Schatz); Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 12; Kort in: GroßKomm-AktG, § 84 Rz. 83; Strohn, DB 2011, 158 ff. 46) Bayer/Lieder, NZG 2012, 1, 2; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 30; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 30; a. A. Stein, Das faktische Organ, 1984, S. 125, 136 ff. 47) Bayer/Lieder, NZG 2012, 1, 2. 48) OLG Hamm, Beschl. v. 29.12.2010 – I-15 W 659/10, ZIP 2011, 527 = NJW-RR 2011, 772 – zur GmbH; Bayer/Lieder, NZG 2012, 1, 4; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 22; FleischerThüsing, Hdb. VorstandsR, § 4 Rz. 47. 49) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 361; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 249; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 31. 50) BGH, Urt. v. 11.7.1953 – II ZR 126/52, BGHZ 10, 187 = NJW 1953, 1465; BGH, Urt. v. 7.12.1961 – II ZR 117/60, NJW 1962, 340, 343 = BB 1962, 72; Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 84 Rz. 13. 51) Henssler/Strohn-Dauner-Lieb, GesR, § 84 AktG Rz. 15; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 59. 52) OLG Stuttgart, Urt. v. 13.3.2002 – 20 U 59/01, AG 2003, 211, 213. 53) Vgl. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 30. 54) BGH, Urt. v. 7.12.1961 – II ZR 117/60, NJW 1962, 340, 343 = BB 1962, 72; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 84 Rz. 18.

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§ 84

Bestellung und Abberufung des Vorstands

18 Anstellungsverträge von Vorstandsmitgliedern unterliegen der Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB, soweit sie einseitig gestellt werden,55) was in der Praxis häufig der Fall sein dürfte, zumal sich die Vergütungsregelungen, die meist einen Großteil der Regelungen des Vertrags ausmachen, i. R. des vom Aufsichtsrat festgelegten und der Hauptversammlung vorgelegten Vergütungssystems halten müssen (§ 87a Abs. 2 Satz 1). Nach h. M. sind die Vorstandsmitglieder dabei als Verbraucher anzusehen,56) so dass die Vermutungen des § 310 Abs. 3 BGB gelten, also vermutet wird, dass die Regelungen von der Gesellschaft gestellt sind, soweit sie nicht durch das Vorstandsmitglied eingeführt werden. Die Ausnahme des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB für Verträge des Gesellschaftsrechts ist nach h. M. nicht einschlägig.57) 2.

Diskriminierungsverbot

19 Gemäß § 6 Abs. 3 AGG gelten für Vorstandsmitglieder die Benachteiligungsverbote des zweiten Abschnitts des AGG in Bezug auf die Bedingungen für den Zugang zur Erwerbstätigkeit sowie den beruflichen Aufstieg entsprechend.58) Der Widerruf der Bestellung und die Beendigung des Anstellungsvertrags sind dagegen nicht erfasst.59) Im praxisrelevanten Fall der Altersdiskriminierung ist zu differenzieren. Die Vereinbarung einer Höchstaltersgrenze in Anstellungsverträgen, bei deren Erreichen das Vertragsverhältnis automatisch endet, ist eine zulässige Entlassungsbedingung.60) Bei einer Altersgrenze als Einstellungsvoraussetzung handelt es sich dagegen um eine Zugangsbedingung, die dem AGG unterliegt. Dies gilt auch für die Nicht-Vertragsverlängerung, sofern die Position tatsächlich wiederbesetzt wird und der Amtsinhaber sich darauf bewirbt.61) 20 Auch eine Regelung zur Altersgrenze, auf die das AGG anwendbar ist, kann schließlich gemäß § 10 AGG zulässig sein. Ein Mindestalter kann gemäß § 10 Satz 3 Nr. 2 AGG festgelegt werden. Ein Teil der Literatur wendet § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG, der die Möglichkeit einer mit dem Renteneintrittsalter übereinstimmenden Höchstaltersgrenze vorsieht, entsprechend auf den Vorstand an.62) Diese Frage ist jedoch höchstrichterlich nicht geklärt und hinsichtlich der beschäftigungspolitischen Zielsetzung der Norm zweifelhaft.63) Daneben könnte § 6 Abs. 1 AGG vor dem Hintergrund des durch Rechtsprechung des EuGH im Fall Danosa64) geprägten, weiten Arbeitnehmerbegriffs im Wege richtlinienkonformer Auslegung auch auf Vorstandsmitglieder einer AG anwendbar sein.65) Vorstandsmitglieder handeln jedoch gemäß § 76 weisungsfrei sowie unter eigener Verantwortung und können gemäß § 84 Abs. 4 nur aus wichtigem Grund abberufen werden. Sie haben

_____________ 55) Eingehend hierzu Habersack in: FS Coester-Waltjen, S. 1097, 1099 ff.; ebenso Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 21. 56) BGH, Urt. v. 24.9.2019 – II ZR 192/18, NJW 2020, 679, 678 = NZG 2020, 64, 65; Hüffer/KochKoch, AktG, § 84 Rz. 21; a. A: Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 84 Rz. 26. 57) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 26; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 21. 58) Zur Anwendbarkeit: BGH, Urt. v. 23.4.2012 – II ZR 163/10, ZIP 2012, 1291 = BB 2012, 1928, dazu EWiR 2012, 437 (Bross) – zur GmbH. 59) Bauer/Arnold, ZIP 2008, 993, 998 ff.; Lutter, BB 2007, 725, 730. 60) Bauer/Arnold, ZIP 2008, 993, 999; Kliemt, RdA 2015, 232, 234. 61) BGH, Urt. v. 23.4.2012 – II ZR 163/10, ZIP 2012, 1291 = BB 2012, 1928 – zur GmbH; Kliemt, RdA 2015, 232, 234 f. 62) Lutter, BB 2007, 725, 729; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 34. 63) Kort, WM 2013, 1049, 1053 f. 64) EuGH, Urt. v. 11.11.2010 – C-232/09 (Danosa), ZIP 2010, 2414, dazu EWiR 2011, 27 (Wank). 65) Dahingehend: Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 76 Rz. 4; Fischer, NJW 2011, 2329, 2331.

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Bestellung und Abberufung des Vorstands

§ 84

daher, auch unter Berücksichtigung der richtlinienkonformen Auslegung, keine Arbeitnehmerstellung.66) Bei einer Verletzung des Diskriminierungsverbots steht dem Bewerber gemäß § 15 Abs. 6 21 AGG zwar kein Anspruch auf Abschluss des Anstellungsvertrags zu. Der Gesellschaft drohen jedoch Schadensersatz und Entschädigungsansprüche gemäß § 15 Abs. 1, 2 AGG. 3.

Drittanstellung

Strittig ist, ob die Begründung von Organ- und Anstellungsverhältnis mit unterschied- 22 lichen juristischen Personen (sog. Drittanstellung) zulässig ist. In der Praxis stellt sich das Problem insbesondere bei Konzernanstellungsverträgen, bei denen der Vertrag nicht mit der Bestellungsgesellschaft, sondern einer konzernverbundenen AG abgeschlossen wird. Auch bei sog. Interim-Managern liegt ein Fall der Drittanstellung vor, sofern das Vertragsverhältnis nicht mit der AG, sondern mit einer Interim-Management-Agentur besteht.67) Nach einer Ansicht ist die Drittanstellung grundsätzlich möglich.68) Auch der BGH ging in seiner Entscheidung vom 28.4.2015 zumindest implizit von der Zulässigkeit einer Drittanstellung aus.69) Die Gegenansicht lehnt die Drittanstellung ab, da die schuldrechtliche Verpflichtung aus dem Anstellungsvertrag mit dem Dritten mit der Pflicht zur eigenverantwortlichen Leitung des Vorstands gemäß § 76 Abs. 1 unvereinbar sei.70) Tatsächlich muss bei einer Drittanstellung das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit des 23 Vorstands gewahrt werden.71) Insofern bedarf es einer ausdrücklichen Regelung im Anstellungsvertrag, die die Vorstandstätigkeit von der Weisungsbefugnis des Drittarbeitgebers ausnimmt. Fehlt es an einer solchen, ist aber nicht von einer Unwirksamkeit der Vorstandsbestellung auszugehen. Vielmehr ist das Vorstandsmitglied gegenüber der Gesellschaft verpflichtet, seine Leitungsaufgabe unabhängig und allein im Interesse der Gesellschaft wahrzunehmen. Ist er dazu nicht in der Lage, unterliegt er einem Interessenkonflikt, der eine Abberufung aus wichtigem Grund rechtfertigt. Außerdem setzt sich das Vorstandsmitglied Haftungsrisiken aus, da ihm der Schutz der Business Judgement Rule nicht zugutekommt (siehe unten § 93 Rz. 22). Für den Abschluss des Vertrags einschließlich der Vergütungsfragen ist gemäß §§ 84 Abs. 1 24 Satz 5, 87 die Zustimmung des Aufsichtsrats erforderlich.72) Dabei ist die Drittvergütung durch den Aufsichtsrat auch auf ihre Angemessenheit zu prüfen. Zwar wird die Gesellschaft bei einer Zahlung der Vergütung durch einen Dritten selbst nicht finanziell belastet, jedoch hat der Aufsichtsrat auch in diesem Fall sicherzustellen, dass die Leistung im Einklang mit dem Unternehmensinteresse steht und insbesondere keinen Anreiz für die Wahrnehmung fremder Interessen gibt.73) Die Kompetenz des Aufsichtsrats zur organschaftlichen Be_____________ 66) Bauer/Arnold, NZG 2012, 921, 923; Fleischer, ZIP 2003, 1, 3; Hoefs/Rentsch, DB 2012, 2733, 2738; Kort, WM 2013, 1049, 1057; Wilsing/Meyer, NJW 2012, 3211, 3212. 67) Krieger in: FS Hoffmann-Becking, S. 711 ff. 68) Deilmann/Dornbusch, NZG 2016, 201, 202; Diekmann/Punte, WM 2016, 681, 685; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 11 Rz. 180; Jooß, NZG 2011, 1130 ff.; Krieger in: FS Hoffmann-Becking, S. 711 ff.; Martens in: FS Hilger/Stumpf, S. 437, 442, 446 ff.; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 29; Vetter in: FS Hoffmann-Becking, S. 1297, 1309; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 3 ff. 69) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, NZG 2015, 792, 794 = ZIP 2015, 1220 = AG 2015, 535, dazu EWiR 2015, 469 (Theusinger/Schilha). 70) Fonk, NZG 2010, 368, 370; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 56; Fleischer-Thüsing, Hdb. VorstandsR, § 4 Rz. 67 f.; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 41. 71) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 29; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 7 Rz. 36. 72) Krieger in: FS Hoffmann-Becking, S. 711, 716 ff.; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 7 Rz. 37. 73) Vgl. Diekmann/Punte, WM 2016, 681, 686.

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§ 84

Bestellung und Abberufung des Vorstands

stellung des Vorstands gemäß § 84 Abs. 1 ist von der Frage der Drittanstellung zu trennen und kann nicht auf Dritte übertragen werden.74) 4.

Zuständigkeit

25 Gemäß § 84 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. Abs. 1 Satz 1 ist für den Abschluss des Anstellungsvertrags einschließlich etwaiger Nebenabreden, bspw. bzgl. der Gewährung von Stock Options,75) ausschließlich der Aufsichtsrat zuständig.76) Die Entscheidung ergeht gemäß § 108 durch Beschluss. Zustimmungsvorbehalte der Hauptversammlung oder satzungsmäßige Regelungen über die Gehaltsbemessung sind unzulässig.77) Liegt ein Kompetenzverstoß vor, so ist der Anstellungsvertrag entsprechend § 177 BGB schwebend unwirksam und kann vom Aufsichtsrat genehmigt werden.78) 26 Grundsätzlich ist eine Delegation der Entscheidung an einen Ausschuss möglich.79) Dieser muss aus mindestens drei Mitgliedern bestehen, um eine Umgehung des § 108 Abs. 2 Satz 3 zu verhindern. Es bestehen jedoch Spezialregelungen, die die Zulässigkeit der Delegation in der Praxis erheblich einschränken. So ist gemäß §§ 107 Abs. 3 Satz 4, 87 Abs. 1 die Entscheidung über die Festsetzung der Vergütung dem Aufsichtsratsplenum vorbehalten; entsprechende Entscheidungen sind regelmäßig nur schwer vom Rest des Vertrages trennbar.80) Gleiches gilt für eine Ressortzuteilung im Anstellungsvertrag, da diese die Geschäftsordnung betrifft und damit in die Zuständigkeit des Gesamtaufsichtsrats fällt.81) Die rechtsgeschäftliche Umsetzung eines Aufsichtsratsbeschlusses kann durch ein hierzu bevollmächtigtes Aufsichtsratsmitglied vorgenommen werden.82) 5.

Dauer des Anstellungsvertrages

27 Die Höchstdauer von fünf Jahren gilt gemäß § 84 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. Abs. 1 Satz 1 auch für den Anstellungsvertrag. Wird eine längere Laufzeit vereinbart, so endet der Vertrag mit Ablauf der gesetzlichen Fünf-Jahres-Frist.83) Gemäß § 84 Abs. 1 Satz 5 Halbs. 2 erlaubt jedoch eine Verlängerungsklausel in dem Sinne, dass sich der Anstellungsvertrag jeweils mit der Dauer der Wiederbestellung automatisch verlängert.84) Da die Anforderungen an eine außerordentliche Kündigung gemäß § 626 Abs. 1 BGB strenger sind als diejenigen für eine Abberufung aus wichtigem Grund gemäß § 84 Abs. 4 Satz 1, endet der Anstellungsvertrag nicht schon mit dem Widerruf der Bestellung.85) 28 Möglich ist jedoch die Verknüpfung von Bestellung und Anstellung durch sog. Koppelungs- und Gleichlaufklauseln, nach denen die Beendigung des Anstellungsvertrags durch _____________ 74) 75) 76) 77) 78)

79) 80) 81) 82) 83) 84) 85)

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Kort in: GroßKomm-AktG, § 84 Rz. 27; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 12. Hüffer, ZHR 161 (1997) 214, 232 ff. Vgl. BGH, Urt. v. 6.4.1964 – II ZR 75/62, BGHZ 41, 282 = NJW 1964, 1367. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 36; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 21. BGH, Urt. v. 17.4.1967 – II ZR 157/64, BGHZ 47, 341, 345; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 15; Köhler, NZG 2008, 161, 162; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 23; a. A. – Nichtigkeit gemäß § 134 BGB – OLG Stuttgart, Urt. v. 20.3.1992 – 2 U 115/90, AG 1993, 85, 86; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 36; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 36. Vgl. BGH, Urt. v. 6.4.1964 – II ZR 75/62, BGHZ 41, 282 = NJW 1964, 1367. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 28. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 15. Leuering, NZG 2004, 120, 122; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 76. BAG, Urt. v. 26.8.2009 – 5 AZR 522/08, ZIP 2009, 2073, 2074 = WM 2009, 2387, dazu EWiR 2010, 73 (Pomberg); Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 43. BGH, Urt. v. 11.7.1953 – II ZR 126/52; BGHZ 10, 187, 194 = NJW 1953, 1465; Krieger, Personalentscheidungen des Aufsichtsrats, 1981, S. 171; Weber/Dahlbender, DB 1996, 2373 f. Bauer/v. Medem, NZA 2014, 238, 239.

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Bestellung und Abberufung des Vorstands

§ 84

eine Bedingung gemäß § 158 BGB mit dem Widerruf der Bestellung verbunden ist.86) Fortsetzungsklauseln, nach denen sich der Vertrag automatisch verlängert, sofern nicht innerhalb einer bestimmten Frist gekündigt wurde, sind jedenfalls dann unwirksam, wenn das Vorstandsmitglied über den Fünf-Jahres-Zeitraum hinaus ohne erneuten Aufsichtsratsbeschluss seine vollen Bezüge behalten soll.87) Im Übrigen müssen aufgrund des Trennungsprinzips die Dauer der Bestellung und diejenige des Anstellungsvertrags nicht zwingend gleich bemessen sein. Eine Regelung, die die inhaltsgleiche Fortgeltung des Dienstvertrags nach Fristablauf als Arbeitsvertrag festlegt, ist jedoch unzulässig.88) Sofern eine wirksame Klausel zur Verlängerung des Anstellungsvertrags fehlt, muss für 29 dessen Fortbestand ein Aufsichtsratsbeschluss ergehen. Dieser darf gemäß § 84 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. Abs. 1 Satz 3 frühestens ein Jahr vor Ablauf des Vertrages gefasst werden. Nur ausnahmsweise kann in dem Beschluss zur Wiederbestellung eine konkludente Verlängerung des Anstellungsverhältnisses liegen, was einer Einzelfallprüfung bedarf.89) Die Möglichkeit einer Verlängerung gemäß § 625 BGB durch Weiterbeschäftigung ist aufgrund der Spezialregelung des § 84 Abs. 1 ausgeschlossen.90) Enthält der Vertrag keine ausdrückliche Regelung zur Laufzeit, so ist diese durch Ausle- 30 gung zu ermitteln. Im Zweifel ist davon auszugehen, dass der Anstellungsvertrag für die Dauer der Bestellung geschlossen ist.91) 6.

Rechte und Pflichten aus dem Anstellungsvertrag

a)

Allgemeines

Bereits aus der organschaftlichen Bestellung ergeben sich maßgebliche Rechte und Pflichten 31 des Vorstandsmitglieds. Diese können im schuldrechtlichen Anstellungsvertrag konkretisiert und ergänzt werden. Typische Bestandteile sind Regelungen zu Vergütung, Vertragsdauer, Ressortzuweisung, Urlaubsansprüchen, Auslagenersatz, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Versorgungsbezügen, vertraglichen Wettbewerbsverboten, Überlassung von Erfindungen und Auskunftspflichten nach Vertragsbeendigung.92) Sofern der Anstellungsvertrag einseitig gestellt wurde, unterliegt er der Inhaltskontrolle gemäß §§ 307 ff. BGB.93) Insofern genügt gemäß § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB die einmalige Verwendung des Anstellungsvertrags, da das künftige Vorstandsmitglied nach der Rechtsprechung Verbraucher gemäß § 13 BGB ist.94)

_____________ 86) BGH, Urt. v. 29.5.1989 – II ZR 220/88, NJW 1989, 2683, 2684 = ZIP 1989, 1190; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 29. 87) BGH, Urt. v. 8.12.1977 – II ZR 219/75, AG 1978, 162 = NJW 1978, 756 = DB 1978, 482; Fleischer in: BeckOGK-AktG, § 84 AktG Rz. 46; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 28. 88) BAG, Urt. v. 26.8.2009 – 5 AZR 522/08, ZIP 2009, 2073 = WM 2009, 2387. 89) BGH, Urt. v. 12.5.1997 – II ZR 50/96, DStR 1997, 932, 933 = BB 1997, 1327; OLG Schleswig, Urt. v. 16.11.2000 – 5 U 66/99, NZG 2001, 275, 276 = AG 2001, 651. 90) Vgl. OLG Schleswig, Urt. v. 16.11.2000 – 5 U 66/99, NZG 2001, 275, 276; Krieger, Personalentscheidungen des Aufsichtsrats, 1981, S. 123; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 31; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 83; a. A. – Anwendbarkeit für die Dauer der Wiederbestellung – Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 25. 91) Kort in: GroßKomm-AktG, § 84 Rz. 332; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 43. 92) Ein Muster für einen Anstellungsvertrag findet sich in Happ/Groß-Happ/Ludwig, AktienR, Nr. 8.08. 93) Fleischer-Thüsing, Hdb. VorstandsR, § 4 Rz. 101; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 84 Rz. 26. 94) BGH, Urt. v. 5.6.1996 – VIII ZR 151/95, BGHZ 133, 71 = DStR 1996, 1615 – zur GmbH; OLG Hamm, Beschl. v. 18.7.2007 – 8 Sch 2/07, AG 2007, 910, 911; Bauer/Arnold/Kramer, AG 2014, 677, 678; a. A. Fleischer-Thüsing, Hdb. VorstandsR, § 4 Rz. 101.

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§ 84 b)

Bestellung und Abberufung des Vorstands Bezüge

32 Zentraler Bestandteil des Anstellungsvertrags sind regelmäßig Regelungen zur Vergütung des Vorstandsmitglieds. Diese setzt sich aus verschiedenen Bestandteilen zusammen. Dazu zählen üblicherweise eine Grundvergütung, eine variable Barvergütung, eine aktienbasierte Vergütung (inzwischen deutlich häufiger in Form von Vergütungskomponenten, die sich zwar nach der Aktienkursentwicklung bemessen, aber nur einen Anspruch auf Barzahlung gewähren; deutlich seltener hingegen in Form von echten Stock Options), Nebenleistungen (bspw. Dienstfahrzeuge, Übernahme von Versicherungsprämien) und Versorgungsleistungen (Übergangsgelder, Abfindungen); siehe unten § 87 Rz. 10.95) Daneben stehen sog. dienstliche Fürsorgeaufwendungen, die bspw. auch Prämien für D&O-Versicherungen umfassen.96) 33 Die Bezüge müssen gemäß § 87 Abs. 1 angemessen sein und dürfen die übliche Vergütung ohne besondere Gründe nicht übersteigen. Sie sind bei börsennotierten AGs an einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung auszurichten. Die Regelung stellt eine Einschränkung der Vertragsfreiheit dar. Ein Anspruch auf angemessene Vergütung lässt sich daraus dagegen nicht ableiten.97) Gehaltserhöhungen bedürfen einer entsprechenden Anpassung im Anstellungsvertrag durch Aufsichtsratsbeschluss. Über die Vorgaben des § 87 hinausgehende Bezüge sind zwar bis zur Grenze des § 138 BGB wirksam, der Aufsichtsrat macht sich jedoch schadenersatzpflichtig gemäß § 116 Satz 3 (siehe unten § 87 Rz. 31). Vergütungsrelevante Zielvereinbarungen im Dienstvertrag sind grundsätzlich möglich, sofern die eigenverantwortliche Leitung durch den Vorstand gemäß § 76 Abs. 1 gewahrt wird.98) 34 Fehlt eine ausdrückliche Vereinbarung, so kann regelmäßig von einem Anspruch auf die übliche Vergütung gemäß § 612 Abs. 1 BGB ausgegangen werden.99) Dies gilt nicht für Vorstandsmitglieder, die gleichzeitig Hauptgesellschafter sind.100) Ausdrücklich vereinbart werden müssen Versorgungsbezüge (Ruhegeld, Hinterbliebenenbezüge und Leistungen verwandter Art).101) Aus der allgemeinen Fürsorge- und Treupflicht der Gesellschaft ergibt sich dagegen grundsätzlich kein Anspruch auf Versorgungsbezüge, wenn nicht besondere Umstände vorliegen, die nach Treu und Glauben einen Anspruch begründen.102) Gemäß § 17 Abs. 1 Satz 2 BetrAVG gelten die §§ 1 bis 16 BetrAVG entsprechend für Personen, die nicht Arbeitnehmer sind, wenn ihnen Leistungen der Alters-, Invaliditäts- oder Hinterbliebenenversorgung aus Anlass ihrer Tätigkeit für ein Unternehmen zugesagt worden sind. Nach h. M. fallen hierunter auch Vorstandsmitglieder, sofern diese nicht zusammen mit anderen Organmitgliedern über eine anteilsmäßig bedingte oder anderweitig institutionell verfestigte Mehrheitsmacht verfügen.103) _____________ Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 38. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 87 Rz. 20. Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 45. Vgl. zu den Grenzen: Fonk, NZG 2011, 321, 323. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 32; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 1. OLG Stuttgart, Urt. v. 13.3.2002 – 20 U 59/01, AG 2003, 211, 213; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 87. 101) BGH, Urt. v. 20.12.1993 – II ZR 217/92, ZIP 1994, 206, 207 = GmbHR 1994, 112 – zur GmbH; Kort in: GroßKomm-AktG, § 84 Rz. 353; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 46. 102) BGH, Urt. v. 23.9.1968 – II ZR 94/67, BGHZ 50, 378, 380 = NJW 1968, 2373; Fleischer in: BeckOGKAktR, § 84 AktG Rz. 52; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 34. 103) BGH, Urt. v. 3.7.2000 – II ZR 381/98, ZIP 2000, 1452, 1454 = AG 2001, 46, dazu EWiR 2001, 559 (Zimmermann); BGH, Urt. 15.7.2002 – II ZR 192/00, ZIP 2002, 1701, 1702 = DStR 2002, 1870; BGH, Urt. v. 25.7.2005 – II ZR 237/03, WM 2005, 1754, 1756 = DStR 2005, 1779; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 68 ff.; Molk, ZIP 1980, 422, 423 ff.; kritisch Spindler in: MünchKommAktG, § 84 Rz. 221 f.; zur Abdingbarkeit der Regelungen des BetrAVG: Thüsing/Granetzny, NZG 2010, 449 ff. 95) 96) 97) 98) 99) 100)

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Bestellung und Abberufung des Vorstands

§ 84

Grundsätzlich verliert das Vorstandsmitglied gemäß § 326 Abs. 1 Satz 1 BGB seinen Ver- 35 gütungsanspruch, wenn ihm die Erfüllung seiner Pflichten aus einem von ihm nicht zu vertretenden Umstand unmöglich wird. Eine Ausnahme hiervon besteht gemäß § 326 Abs. 2 Satz 1 BGB, wenn die Gesellschaft die Unmöglichkeit der Dienstausführung zu vertreten hat oder sich in Annahmeverzug befindet, § 615 Satz 1 BGB.104) Gleiches gilt gemäß § 615 Satz 3 i. V. m. § 615 Satz 1 BGB, wenn die Unmöglichkeit auf Gründen beruht, die in das Betriebsrisiko der Gesellschaft fallen.105) Gemäß §§ 615 Satz 2, 326 Abs. 2 Satz 2 BGB muss sich das Vorstandsmitglied den Wert 36 desjenigen anrechnen lassen, was es infolge des Unterbleibens der Dienstleistung erspart oder durch anderweitige Verwendung seiner Dienste erwirbt oder zu erwerben böswillig unterlässt. Ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach den Regelungen des EFZG besteht für Vorstandsmitglieder nicht.106) Nach § 616 BGB gilt der Vergütungsanspruch nur fort, wenn der Vorstand für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Dienstleistung verhindert wird. Welche Zeitspanne als verhältnismäßig nicht erheblich anzusehen ist, muss unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls beurteilt werden.107) Ob die Frist des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG als Orientierung dient, ist umstritten.108) In der Praxis ist daher eine entsprechende Regelung im Anstellungsvertrag zu empfehlen und auch üblich. Die Bezüge der Vorstandsmitglieder unterliegen dem Pfändungsschutz der §§ 850 ff. 37 ZPO.109) Die Vergütungsansprüche verjähren gemäß §§ 195, 199 BGB in drei Jahren ab dem Schluss des Jahres, in dem das Vorstandsmitglied Kenntnis der anspruchsbegründenden Umstände erlangt hat oder hätte erlangen müssen.110) c)

Sonstige Ansprüche

Urlaubsansprüche für Vorstandsmitglieder richten sich nicht nach dem Bundesurlaubs- 38 gesetz.111) Maßgeblich sind vielmehr die Regelungen im Anstellungsvertrag. Sofern der Urlaub wegen unverschuldeter Beendigung des Anstellungsvertrages nicht mehr gewährt werden kann, tritt an dessen Stelle ein Abgeltungsanspruch.112) Fehlt eine vertragliche Regelung, so ergibt sich ein Anspruch auf angemessenen, bezahlten Urlaub nach allgemeiner Meinung aus der dienstvertraglichen Fürsorgepflicht der Gesellschaft.113) Gemäß §§ 675 Abs. 1, 669, 670 BGB kann das Vorstandsmitglied Auslagen ersetzt ver- 39 langen, die es vernünftigerweise i. R. seiner Geschäftsführungsaufgaben für erforderlich hal_____________ 104) BGH, Urt. v. 28.10.1996 – II ZR 14/96, NJW-RR 1997, 537, 538 = BeckRS 9998, 15286; Fonk, NZG 1998, 408. 105) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 50; differenzierend: Zöllner in: FS Koppensteiner, S. 291, 295 ff. 106) Fleischer, NZG 2010, 561, 565; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 95; Fleischer-Thüsing, Hdb. VorstandsR, § 4 Rz. 78; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 47; a. A. Kort in: GroßKomm-AktG, § 84 Rz. 416. 107) Zöllner in: FS Koppensteiner, S. 291, 293. 108) Vgl. Fleischer, NZG 2010, 561, 565; für Orientierung an § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG: Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 89; a. A. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 33; Frist von maximal zwei bis drei Wochen: Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 47. 109) BGH, Urt. v. 8.12.1977 – II ZR 219/75, AG 1978, 162, 164 = NJW 1978, 756 = DB 1978, 482; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 26; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 60. 110) Kort in: GroßKomm-AktG, § 84 Rz. 412; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 97. 111) Fleischer-Kort, Hdb. VorstandsR, § 4 Rz. 77; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 87 Rz. 87; Zöllner in: FS Koppensteiner, S. 291, 293. 112) Vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 18.12.1998 – 17 U 33/9, NZG 1999, 595, 596 = AG 1999, 468; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 67. 113) Lücke in: Beck MandatsHdB Vorstand, § 2 Rz. 206; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 36.

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§ 84

Bestellung und Abberufung des Vorstands

ten durfte.114) Diese müssen ordnungsgemäß belegt werden.115) In der Praxis sind vertragliche Regelungen, bspw. zu Telekommunikations-, Reise- und Bewirtungskosten zu empfehlen. Auch Schäden, die der Vorstand ohne sein Verschulden bei betrieblicher Tätigkeit erlitten hat, sind ersatzfähig.116) Gleiches gilt für Kosten eines Rechtsstreits, soweit dieser in Zusammenhang mit der dienstlichen Tätigkeit steht und das streitige Verhalten des Vorstandmitglieds nicht zugleich eine Pflichtverletzung gegenüber der Gesellschaft darstellt.117) Gemäß § 669 BGB kann das betroffene Vorstandsmitglied im laufenden Verfahren auch einen Kostenvorschuss fordern.118) Durch eine entsprechende Vereinbarung muss sichergestellt werden, dass das Organmitglied den Vorschuss im Fall einer Pflichtverletzung zurückzuzahlen hat.119) Ein Anspruch auf die Übernahme von Geldstrafen, Geldbußen oder Geldauflagen besteht regelmäßig nicht, da in der Gesetzesverletzung zugleich eine Verletzung der Organpflichten des Vorstands liegt.120) Eine freiwillige nachträgliche Übernahme durch die Gesellschaft stellt keine Strafvollstreckungsvereitelung dar,121) ist aktienrechtlich jedoch nur in den Grenzen des § 93 Abs. 4 zulässig.122) Eine Freistellungszusage im Vorfeld ist nichtig.123) 40 Aus § 630 BGB haben Vorstandsmitglieder einen Anspruch auf Zeugniserteilung durch den Aufsichtsrat als Vertreter der Gesellschaft.124) d)

Pflichten der Vorstandsmitglieder

41 Regelmäßig ergeben sich die Pflichten der Vorstandsmitglieder unmittelbar aus dem Gesetz. Sie werden durch die organschaftliche Stellung begründet.125) Aus § 76 Abs. 1 folgt zunächst die Pflicht zur eigenverantwortlichen Leitung (siehe oben § 76 Rz. 11). § 90 regelt Berichtspflichten gegenüber dem Aufsichtsrat. 42 Darüber hinaus besteht im Verhältnis zu der Gesellschaft eine Treuepflicht.126) Diese gebietet, dass das Vorstandsmitglied zum Wohl des Unternehmens handelt und nicht seine persönlichen Interessen verfolgt.127) Eine Ausprägung der Treuepflicht stellt das Wettbewerbsverbot gemäß § 88 dar. Das gesetzliche Wettbewerbsverbot gilt zwar nicht über die Amtszeit hinaus. Eine entsprechende Regelung kann aber in gewissen Grenzen vertraglich vereinbart werden.128) Daneben ergibt sich aus der allgemeinen Treuepflicht eine Verschwiegenheitspflicht, die in § 93 Abs. 1 Satz 3 ausdrücklich geregelt ist (siehe unten § 93 Rz. 52). Durch den Anstellungsvertrag werden diese Organpflichten zugleich zu vertraglichen Pflich_____________ 114) 115) 116) 117) 118) 119) 120) 121) 122) 123) 124) 125) 126) 127) 128)

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Fleischer, WM 2005, 909, 915; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 50. Vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2002 – II ZR 353/00, NJW 2003, 431, 432 = DStR 2003, 40. Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 111. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 74; Schick, ZWH 2012, 433, 434 ff. BGH, Urt. v. 7.11.1990 – 2 StR 439/90, BGHSt 37, 226, 227 = NJW 1991, 990; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 93. Fleischer, WM 2005, 909, 915; Schick, ZWH 2012, 433, 438 f. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 38; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 112. BGH, Urt. v. 7.11.1990 – 2 StR 439/90, BGHSt 37, 226 = NJW 1991, 990, 992. Rehbinder, ZHR 148 (1984) 555, 570 ff.; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 100. Fleischer, WM 2005, 909, 916; Krieger in: FS Bezzenberger, S. 211, 220; Rehbinder, ZHR 148 (1984) 555, 572. BGH, Urt. v. 9.11.1967 – II ZR 64/67, BGHZ 49, 30 = NJW 1968, 396 – zum GmbH Geschäftsführer; Hüffer-Koch, AktG, § 84 Rz. 25; Peltzer, BB 1976, 1249, 1252. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 39; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 53. BGH, Urt. v. 9.11.1967 – II ZR 64/67, BGHZ 49, 30 = NJW 1968, 396 – zur GmbH; Fleischer, WM 2003, 1045 ff. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 80. Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 13 Rz. 300, 317.

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Bestellung und Abberufung des Vorstands

§ 84

ten.129) Der Anstellungsvertrag enthält darüber hinaus häufig weitere Pflichten, wie das bereits genannte nachvertragliche Wettbewerbsverbot, eine Residenzpflicht, Nebentätigkeitsverbote, das Verbot von Börsen- oder Spekulationsgeschäften, die Pflicht zur Wahrung von Empfehlungen des DCGK sowie bestehender unternehmensinterner CorporateGovernance- und Compliance-Richtlinien, u. Ä.130) Bei der Erfüllung dieser Pflichten gilt der Sorgfaltsmaßstab eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters (§ 93 Abs. 1). Bei Beendigung seiner Tätigkeit trifft den Vorstand gemäß §§ 675, 666, 667 BGB eine 43 Rechenschafts- Auskunfts- und Herausgabepflicht.131) Dieses umfasst neben Unterlagen und Gegenständen der Gesellschaft auch unzulässige Zuwendungen Dritter.132) Ein Zurückbehaltungsrecht des Vorstandsmitglieds besteht regelmäßig nicht.133) IV.

Ernennung eines Vorsitzenden (§ 84 Abs. 2)

1.

Ernennung und Widerruf

Im Fall eines mehrköpfigen Vorstands kann gemäß § 84 Abs. 2 durch den Aufsichtsrat ein 44 Vorsitzender ernannt werden. Dies gilt nach allgemeiner Ansicht auch für die nicht ausdrücklich gesetzlich geregelte Position des stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden.134) Auch eine Doppelbesetzung ist möglich.135) Zwar besteht keine Pflicht zur Bestellung eines Vorsitzenden, für börsennotierte AGs wird dessen Bestehen jedoch in mehreren Empfehlungen vorausgesetzt (etwa in Grundsatz 1 DCGK) jedoch eine dahingehende Empfehlung. Die Satzung kann eine Bestellung weder vorschreiben, noch untersagen.136) Die Voraussetzungen der Ernennung zum Vorsitzenden entsprechen denjenigen zur Bestellung eines Vorstandsmitglieds. Erforderlich ist neben einem Beschluss des Gesamtaufsichtsrats mit einfacher Mehrheit auch die Annahme durch den Ernannten. Dies gilt gemäß § 29 MitbestG auch für mitbestimmte Gesellschaften, § 31 MitbestG kommt nicht zur Anwendung.137) Die Delegation auf einen Ausschuss ist gemäß § 107 Abs. 3 Satz 4 unzulässig. Gemäß § 84 Abs. 4 Satz 1 kann der Aufsichtsrat die Ernennung zum Vorsitzenden bei Vorliegen eines wichtigen Grundes isoliert widerrufen werden. In der Praxis ist ein isolierter Widerruf die absolute Ausnahme.138) Der Vorsitzende ist gemäß § 80 Abs. 1 Satz 2 auf Geschäftsbriefen und gemäß § 285 Nr. 10 45 Satz 2 HGB im Anhang des Jahresabschlusses zu bezeichnen. Es besteht keine Pflicht zur

_____________ 129) Krieger, Personalentscheidungen des Aufsichtsrats, 1981, S. 163 f.; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 107. 130) Vgl. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 40; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 115. 131) BGH, Hinweisbeschl. v. 7.7.2008 – II ZR 71/07 (Metro), ZIP 2008, 1821 = NZG 2008, 834, dazu EWiR 2008, 737 (Paul); BGH, Urt. v. 3.12.1962 – II ZR 63/60, WM 1963, 161 = MDR 1963, 204; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 55. 132) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 87. 133) BGH, Urt. v. 3.12.1962 – II ZR 63/60, WM 1963, 161 = MDR 1963, 204; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 40. 134) Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 84 Rz. 21; Semler/v. Schenck/Wilsing-Grau, ArbHdb. AR, § 11 Rz. 56. 135) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 95; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 24 Rz. 2; a. A. Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 115. 136) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 101; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 115; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 479; a. A. Krieger, Personalentscheidungen des Aufsichtsrats, 1981, S. 252, 253. 137) Kort in: GroßKomm-AktG, § 84 Rz. 117; Simons/Hanloser, AG 2010, 641, 642. 138) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 9 Rz. 8.

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§ 84

Bestellung und Abberufung des Vorstands

Anmeldung zum Handelsregister (siehe oben § 81 Rz. 3). Die Eintragung ist nach § 43 Nr. 4 HRV jedoch registerrechtlich zulässig.139) 2.

Rechtsstellung

46 Mangels ausdrücklicher aktienrechtlicher Regelungen richtet sich die Stellung des Vorsitzenden primär nach den allgemeinen Prinzipien der Binnenorganisation von Gremien.140) Dazu zählt die Vorbereitung und Leitung von Sitzungen sowie die Repräsentation des Vorstands als Kollegialorgan nach außen.141) Er hat die Vorstandsarbeit zu koordinieren und zu kontrollieren.142) Eine faktische Vormachtstellung in der Praxis ergibt sich insbesondere durch die Persönlichkeit und Beziehungen des Vorstandsvorsitzenden innerhalb des Unternehmens.143) 47 In rechtlicher Hinsicht können dem Vorsitzenden weitergehende Kompetenzen eingeräumt werden. Einer Entwicklung hin zum Modell des Chief Executive Officer (CEO) nach angloamerikanischem Vorbild sind aber insbesondere durch das Prinzip der Gesamtverantwortung (§ 76 Abs. 1) und der Gleichberechtigung der Vorstandsmitglieder (§ 77 Abs. 1 Satz 2) Grenzen gesetzt.144) Selbst wenn in der Praxis häufig eine faktische Vorrangstellung des Vorsitzenden vorliegt, sind insbesondere auch aus Haftungsgesichtspunkten die aktienrechtlichen Schranken nicht zu vernachlässigen.145) Zulässig ist i. R. des § 77 Abs. 1 Satz 2 die Einräumung eines Stichentscheids sowie in nicht mitbestimmten Gesellschaften eines Vetorechts durch Satzung oder Geschäftsordnung (siehe oben § 77 Rz. 10 f.). Ein Alleinentscheidungsrecht widerspricht dagegen der ausdrücklichen Regelung des § 77 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2. Im Rahmen der Geschäftsverteilung kann dem Vorsitzenden ein bedeutsames Resort zugeteilt werden (siehe oben § 77 Rz. 14 ff.). Die Bildung eines „Super-Resort“, während die anderen Vorstandsmitglieder mit völlig belanglosen Aufgaben betraut werden, ist dagegen nicht möglich.146) Mit den genannten Prinzipien im deutschen Aktienrecht nicht vereinbar ist ein Weisungsrecht des Vorsitzenden gegenüber anderen Vorstandskollegen.147) 3.

Vorstandssprecher

48 Solange der Aufsichtsrat keinen Vorstandsvorsitzenden bestellt hat, kann der Vorstand i. R. seiner Geschäftsordnungskompetenzen einen Vorstandssprecher bestimmen.148) Seine Aufgaben liegen in der Sitzungsleitung und Repräsentation.149) Dem Sprecher kann dagegen keine sachliche Koordinations- und Überwachungsfunktion zugeteilt werden.150)

_____________ 139) Bezzenberger, ZGR 1996, 661, 662; streitig für den Fall des stellvertretenden Vorsitzenden, vgl. Hölters-Weber, AktG, § 81 Rz. 5. 140) Bezzenberger, ZGR 1996, 661, 662; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 45; Simons/Hanloser, AG 2010, 641, 642 f. 141) Vgl. Krieger, Personalentscheidungen des Aufsichtsrats, 1981, S. 244 ff.; Simons/Hanloser, AG 2010, 641, 642 f. 142) Wicke, NJW 2007, 3755. 143) Vgl. Semler in: FS Lutter, S. 721, 728. 144) Vgl. Hoffmann-Becking, NZG 2003, 745 ff.; Langer/Peters, BB 2012, 2575; Wicke, NJW 2007, 3755 ff. 145) Hoffmann-Becking, NZG 2003, 745. 146) Hoffmann-Becking, NZG 2003, 745, 749; Langer/Peters, BB 2012, 2575, 2581. 147) Wicke, NJW 2007, 3755, 3758. 148) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 118; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 60. 149) Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497, 517; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 480. 150) Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497, 517; Simons/Hanloser, AG 2010, 641, 642, 644.

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Bestellung und Abberufung des Vorstands V.

Aussetzung der Bestellung (§ 84 Abs. 3)

1.

Überblick

§ 84

Durch das FüPoG II151) wurde in § 84 Abs. 3 eine neue Regelung eingeführt, die auf die 49 sog. „Stay-on-Board“-Initiative zurückgeht, deren Anliegen es war, Vorstandsmitgliedern in bestimmten Fällen ein vorübergehendes Ruhenlassen ihres Mandats zu ermöglichen.152) Abweichend von dem von der Initiative angestrebten Ruhezustand arbeitet die gesetzliche Regelung mit einem Widerruf der Bestellung verbunden mit der Zusicherung einer Widerbestellung nach einem bestimmten Zeitraum. Die Begründung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss), mit der die Regelung in das Gesetzgebungsverfahren zum FüPoG II eingeführt wurde, bezeichnet dies als Aussetzung der Bestellung.153) Auf eine solche Aussetzung der Bestellung wird den Vorstandsmitgliedern unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch eingeräumt. Anlass der Initiative war die bisherige Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Möglichkeit und Folgen einer vorübergehenden Suspendierung der Vorstandspflichten (siehe hierzu nachfolgend Rz. 88 ff.) sowie der Mangel eines Anspruchs des Vorstandsmitglieds darauf. 2.

Voraussetzungen

Voraussetzung für die Möglichkeit einer Aussetzung der Bestellung nach § 84 Abs. 3 und 50 einen entsprechenden Anspruch des Vorstandsmitglieds darauf ist zunächst, dass der Vorstand der Gesellschaft aus mehreren Personen besteht. Dabei sind auch bereits erfolgte Aussetzungen der Bestellung anderer Vorstandsmitglieder zu berücksichtigen, da es sonst dazu kommen könnte, dass kein Vorstandsmitglied mehr bestellt ist. Außerdem ist für den Anspruch erforderlich, dass das Vorstandsmitglied wegen Mutter- 51 schutz, Elternzeit, der Pflege eines Familienangehörigen oder Krankheit seinen mit der Bestellung verbundenen Pflichten vorübergehend nicht nachkommen kann. Wenngleich dies in der Regelung nicht zum Ausdruck kommt, ergibt sich aus allgemeinen Grundsätzen, dass der Aufsichtsrat i. R. seines pflichtgemäßen Ermessens auch in anderen Fällen im Einvernehmen mit dem Vorstand dessen Bestellung widerrufen und eine spätere Wiederbestellung zusichern kann. Allerdings gelten dann nicht die Privilegierungen der § 84 Abs. 3 Sätze 6 – 8. Wie sich aus § 84 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 ergibt, bedeutet Mutterschutz, dass eine Schutzfrist 52 gemäß § 3 Abs. 1 und 2 des Mutterschutzgesetzes bestehen muss, freilich ohne dass der Anwendungsbereich nach § 1 des Mutterschutzgesetzes gegeben sein muss. Der Begriff der Elternzeit ist nach der Ausschussbegründung zum FüPoG II an § 15 des Gesetzes zum Elterngeld und zur Elternzeit angelehnt.154) Danach kann Elternzeit bis zum vollendeten achten Lebensjahr des Kindes in Anspruch genommen werden. Der Begriff der Pflege _____________ 151) Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (Zweites Führungspositionengesetz – FüPoG II) v. 7.8.2021, BGBl. I 2021, 3311. 152) Pausder/de Raet/Jacobi/Möslein/Hangarter/v. Oppen/Pollok, Eckpunktepapier zur Einführung eines Mandat-Ruhezustands für Vorstandsmitglieder während Mutterschutz/Elternzeit/Krankheit/Pflege v. 10/2020, abrufbar unter https://stayonboard.org/wp-content/uploads/2020/10/202010_eckpunktepapier_ stayonboard_final_de.pdf (Abrufdatum: 23.6.2022). Zur Diskussion der Initiative vgl. Apfelbacher/ Hemeling/Hoffmann-Becking/Kremer/Krieger/Löbbe/Maier-Reimer, NZG 2020, 1281, 1282; Scholz, AG 2021, 9, 10 f., Rz. 6 ff.; Seibt/Klausmann, AG 2021, 169, 173. 153) Beschlussempfehlung d. Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG II, BTDrucks. 19/30514, S. 21. 154) Beschlussempfehlung d. Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG II, BTDrucks. 19/30514, S. 21.

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§ 84

Bestellung und Abberufung des Vorstands

orientiert sich an den Regelungen in § 3 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 und Abs. 6 Satz 1 des Gesetzes über die Pflegezeit.155) 53 Soweit die Tatbestände einen längeren Zeitraum umfassen, als die von § 84 Abs. 3 vorgesehene Aussetzung des Mandats, ist davon auszugehen, dass eine Aussetzung für jeden Fall eines Tatbestandseintritts nur einmal verlangt werden kann, also etwa im Falle einer Schwangerschaft nur eine Aussetzung wegen Mutterschutzes. Im Falle der Erziehung eines Kindes dürfte eine Aussetzung wegen Elternzeit je Kind verlangt werden können, und im Falle der Pflege eines Angehörigen eine Aussetzung wegen der Pflege desselben Angehörigen. Im Falle einer Krankheit dürfte die Aussetzung wegen derselben Krankheit nur einmal verlangt werden können. 54 Nach der Ausschussbegründung trifft das Vorstandsmitglied die Beweislast für das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen. Im Falle des Mutterschutzes, der Elternzeit und der Pflege eines Angehörigen dürften an den Nachweis, dass das Vorstandsmitglied deswegen seinen Mandatspflichten nicht nachkommen kann, keine hohen Anforderungen zu stellen sein, da die Tatbestände insoweit typisierenden Charakter haben. 55 Schließlich setzt die Aussetzung der Bestellung ein entsprechendes Verlangen des Vorstandsmitglieds voraus. Anders als von der Stay-on-Board-Initiative angeregt, ist das Verlangen nicht an eine Vorankündigungsfrist gebunden. Allerdings verbleibt dem Aufsichtsrat nach der Ausschussbegründung zur Umsetzung des Widerrufs der Bestellung eine angemessen kurze Frist,156) so dass es im Interesse des Vorstandsmitglieds liegt, das Verlangen rechtzeitig zu stellen. In den Fällen des § 84 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 kann außerdem ein Verlangen zur Unzeit einen Grund für die Verweigerung der Aussetzung aus wichtigem Grund darstellen.157) 3.

Allgemeine Ausgestaltung der Aussetzung

56 Rechtsfolge des § 84 Abs. 3 ist zunächst ein Anspruch des Vorstandsmitglieds auf Widerruf seiner Bestellung verbunden mit einer Zusicherung der Wiederbestellung nach einem bestimmten, je nach Tatbestand unterschiedlichen Zeitraum. Ausweislich der Ausschussbegründung wurde diese Konstruktion gewählt, um das Vorstandsmitglied während der Auszeit vollständig von allen Pflichten und Haftungsrisiken zu befreien,158) was freilich auch durch eine gesetzliche Regelung einer Suspendierung mit entsprechender Wirkung möglich gewesen wäre. 57 Der Widerruf und die Wiederbestellung sind jeweils zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden.159) Nach der Ausschussbegründung kann die Zusicherung der Wiederbestellung auch unmittelbar mit einer aufschiebend befristeten erneuten Bestellung verbunden werden.160) _____________ 155) Beschlussempfehlung d. Drucks. 19/30514, S. 21. 156) Beschlussempfehlung d. Drucks. 19/30514, S. 22. 157) Beschlussempfehlung d. Drucks. 19/30514, S. 21. 158) Beschlussempfehlung d. Drucks. 19/30514, S. 22. 159) Beschlussempfehlung d. Drucks. 19/30514, S. 22. 160) Beschlussempfehlung d. Drucks. 19/30514, S. 22.

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Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG II, BTAusschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG II, BTAusschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG II, BTAusschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG II, BTAusschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG II, BTAusschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG II, BT-

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Nur in den Fällen des § 84 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 kann der Aufsichtsrat das Aussetzen der Be- 58 stellung aus wichtigem Grund ablehnen, also nicht im Falle des Mutterschutzes. Ein solcher kann insbesondere vorliegen, wenn das Verlangen zur Unzeit erfolgt.161) Die Ausschussbegründung nennt den Fall, dass in dem Ressort des Vorstandsmitglieds eine Vielzahl wichtiger Entscheidungen ansteht und durch das Aussetzen ein Schaden für die Gesellschaft droht.162) § 84 Abs. 3 trifft keine Regelung für die Auswirkungen auf den Anstellungsvertrag des 59 Vorstandsmitglieds, sondern überlässt diese der Vereinbarung der Parteien. Nach der Ausschussbegründung könne der Anstellungsvertrag weiterlaufen und dem Vor- 60 standsmitglied weiterhin einen Teil seiner Vergütung und gewisse Informationsrechte, wie etwa den Zugang zu E-Mails, sowie den Zugang zu den Geschäftsräumen gewähren.163) Allerdings sollten – nach dem kryptischen Hinweis der Ausschussbegründung – die Folgen einer solchen Vereinbarung sowie etwaige Haftungsrisiken im Einzelfall geprüft werden. Da das betroffene Vorstandsmitglied zeitweise aus dem Vorstand ausscheidet, müssen Vertraulichkeit und Verwendungsbeschränkung für die zur Verfügung gestellten Informationen vertraglich geregelt werden. Ist dies gewährleistet, spricht nichts dagegen, dem Vorstandsmitglied die Informationen zur Verfügung zu stellen, die es benötigt, um soweit auf dem Laufenden zu bleiben, dass es die Vorstandstätigkeit nach Ende der Aussetzung nahtlos wieder aufnehmen kann. Für Insiderinformationen sind die strengen Anforderungen der Grøngaard-und-Bang-Entscheidung des EuGH164) zu beachten. In der Zukunft empfiehlt es sich, in Vorstandsverträgen vorsorglich Regelungen für den 61 Fall einer Aussetzung der Bestellung aufzunehmen. Es erscheint fraglich, ob die Weitergewährung eines Teils der Vergütung des Vorstandsmitglieds es erfordert, dass dies im Vergütungssystem für den Vorstand vorgesehen ist. Dies dürfte auch von der Ausgestaltung und dem Detailgrad der Festlegungen im Vergütungssystem abhängen. Gegen ein solches Erfordernis spricht, das es sich nicht um eine Entlassungsentschädigung oder eine Ruhegehaltsregelung i. S. von § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 handelt. Die Zusicherung der Wiederbestellung führt zu einem entsprechenden Anspruch des 62 Vorstandsmitglieds. Die Wiederbestellung erfolgt dabei gemäß § 84 Abs. 3 Satz 4 bis zum Ende der ursprünglichen Amtszeit. Allerdings sind entgegen der Ausschussbegründung keine Gründe ersichtlich, warum nicht der Aufsichtsrat im Einvernehmen mit dem Vorstandsmitglied die erneute Bestellung für eine längere Dauer als die ursprüngliche Amtszeit bis hin zur Maximaldauer des § 84 Abs. 1 Satz 1 vornehmen sollte. Schließlich ist auch dort die Möglichkeit einer einvernehmlichen Kombination aus Widerruf und Neubestellung anerkannt (siehe hierzu oben Rz. 12). Allerdings gilt bei einer Wiederbestellung für eine längere Amtszeit nicht die Privilegierung des § 84 Abs. 3 Satz 8, der diese von der Erfüllung des Mindestbeteiligungsgebots nach § 76 Abs. 3a unabhängig macht. Weder Gesetz noch Ausschussbegründung äußern sich dazu, wie der Aufsichtsrat und die 63 verbleibenden Vorstandsmitglieder während der Dauer der Aussetzung den Wegfall eines Vorstandsmitglieds kompensieren müssen. Beide Organe dürften i. R. ihrer Kompetenzen aufgrund ihrer allgemeinen Sorgfaltspflicht verpflichtet sein, dafür Sorge zu tragen, dass der Gesellschaft kein Schaden dadurch entsteht, dass ein Ressort vorübergehend unbesetzt _____________ 161) Beschlussempfehlung d. Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG II, BTDrucks. 19/30514, S. 21. 162) Beschlussempfehlung d. Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG II, BTDrucks. 19/30514, S. 21. 163) Beschlussempfehlung d. Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG II, BTDrucks. 19/30514, S. 22. 164) EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-384/02 (Grøngaard und Bang), ZIP 2006, 123 = NZG 2006, 60.

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ist. Abhängig davon, ob der Vorstand die Geschäftsverteilung selbst regelt oder diese vom Aufsichtsrat festgelegt ist (§ 77 Abs. 2), muss das jeweilige Organ eine vorübergehende Anpassung der Geschäftsverteilung vornehmen und die Aufgaben des vakanten Ressorts anderweitig zuordnen.165) Der Aufsichtsrat kann das vakante Ressort auch vorübergehend anderweitig besetzen, auch durch Bestellung eines Aufsichtsratsmitglieds als Stellvertreter des Vorstandsmitglieds gemäß § 105 Abs. 2. Falls nur so ein gravierender Schaden für die Gesellschaft verhindert werden kann, kann hierzu auch eine Pflicht bestehen. 4.

Dauer der Aussetzung

64 Die Dauer der Aussetzung ist abhängig vom vorliegenden Tatbestand unterschiedlich geregelt. Im Falle des Mutterschutzes ist diese für die Dauer der Schutzfristen des § 3 Abs. 1 und 2 des Mutterschutzgesetzes vorzusehen. 65 In den übrigen Fällen beschränkt sich der Anspruch des Vorstandsmitglieds auf Aussetzung von maximal drei Monaten. Verlangt das Vorstandsmitglied eine kürzere Aussetzung, so ist diese Dauer maßgeblich. Verlangt das Vorstandsmitglied eine längere Aussetzung, so steht deren Gewährung jenseits des Drei-Monats-Zeitraums bis zu einer Gesamtdauer von maximal zwölf Monaten gemäß § 84 Abs. 3 Satz 3 im pflichtgemäßen Ermessen des Aufsichtsrats. 5.

Modifikation von Anforderungen an die Zusammensetzung des Vorstands

66 § 84 Abs. 3 Sätze 6 – 8 modifizieren verschiedene Anforderungen an die Zusammensetzung des Vorstands dahingehend, dass eine Aussetzung der Bestellung von Vorstandsmitgliedern i. R. der Grenzen des § 84 Abs. 3 deren Erfüllung nicht berührt, sie also als erfüllt gelten, wenn sie ohne die Aussetzung erfüllt wären. Auch wenn Gesetz und Ausschussbegründung hierauf nicht ausdrücklich eingehen, muss dies auch dann gelten, wenn mehrere Aussetzungen zur gleichen Zeit erfolgen. 67 Nach Satz 6 gilt dies zunächst für die Anforderung des § 76 Abs. 2 Satz 2, wonach der Vorstand unter bestimmten Voraussetzungen aus mindestens zwei Personen zu bestehen hat. Ebenso ist ein Unterschreiten einer durch die Satzung vorgegebenen Mindestzahl an Vorstandsmitgliedern durch die Aussetzung unbeachtlich. Schließlich gilt das Mindestanteilsgebot nach § 76 Abs. 3a als erfüllt, wenn es ohne die Aussetzung erfüllt wäre. Nach der Regierungsbegründung gilt die Wiederbestellung i. R. der Aussetzung auch nicht als ein neues Mandat i. S. des § 26l Abs. 1 Satz 2 EGAktG. Auch wenn nach der Wiederbestellung das Mindestanteilsgebot nicht erfüllt ist, also etwa die Wiederbestellung dazu führt, dass der Vorstand mit vier Personen desselben Geschlechts besetzt ist, hindert daher § 76 Abs. 3a Satz 2 nicht die Wiederbestellung. Entgegen der Einschätzung der Ausschussbegründung166) ist dies nicht nur für die bei Inkrafttreten des Mindestbeteiligungsgebots bestehenden Mandate relevant. So ist es etwa denkbar, dass ein Vorstand aus vier Männern und einer Frau besteht und einem der Männer wegen Krankheit eine Aussetzung gewährt wird. Scheidet die Frau dann während der Aussetzung aus dem Vorstand aus, würde die Wiederbestellung des Mannes gegen das Mindestbeteiligungsgebot verstoßen. Auch in diesem Fall ist die Wiederbestellung bis zum Ende der ursprünglichen Amtszeit als Fortsetzung der bisherigen Bestellung anzusehen, so dass sie nicht an § 76 Abs. 3a Satz 2 schei_____________ 165) Zum Erfordernis, dass die Geschäftsverteilung alle Aufgaben erfasst, s. BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 20, BGHZ 220, 162 = ZIP 2019, 261 = NZG 2019, 225. 166) Beschlussempfehlung d. Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG II, BTDrucks. 19/30514, S. 23.

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tert. Sonst würde auch hier entgegen der Intention des Gesetzgebers die Auszeit am Mindestbeteiligungsgebot scheitern. 6.

Wettbewerbsverbot

§ 84 Abs. 3 Satz 9 regelt ausdrücklich, dass das Wettbewerbsverbot des § 88 für das Vor- 68 standsmitglied auch während der Dauer der Aussetzung gilt. VI.

Widerruf der Bestellung (§ 84 Abs. 4)

§ 84 Abs. 4 regelt den Widerruf der Bestellung zum Vorstandsmitglied und der Ernennung 69 des Vorsitzenden aus wichtigem Grund. Von der Beendigung der Organstellung grundsätzlich unabhängig ist nach der Trennungstheorie das Schicksal des schuldrechtlichen Anstellungsverträge (siehe oben Rz. 2). Gemäß § 84 Abs. 4 Satz 5 gelten für diesen die allgemeinen Vorschiften der §§ 611 ff. BGB. Jedoch kann die Auslegung des Widerrufs zu dem Ergebnis führen, dass darin zugleich eine Kündigung des Anstellungsvertrags liegen soll.167) Zulässig sind auch sog. Koppelungsklauseln, nach denen mit dem Widerruf der Bestellung auch der Anstellungsvertrag endet.168) Nicht gesetzlich geregelt sind das einvernehmliche Ausscheiden, die Amtsniederlegung und die Suspendierung als weitere Beendigungsformen. 1.

Zuständigkeit und Verfahren

Wie die Bestellung, erfolgt auch ihr Widerruf durch Beschluss des Aufsichtsrats und Er- 70 klärung gegenüber dem abzuberufenden Vorstandsmitglied, § 108 AktG, § 130 BGB.169) Zuständig für den Widerruf der Bestellung ist gemäß § 84 Abs. 4 Satz 1 der Gesamtaufsichtsrat, da eine Delegation gemäß § 107 Abs. 3 Satz 4 unzulässig ist. In mitbestimmten Gesellschaften ist das Verfahren des § 31 MitbestG einzuhalten. § 84 Abs. 4 Satz 4 findet keine Anwendung, so dass ein fehlerhafter oder fehlender Beschluss zur Nichtigkeit des Widerrufs führt.170) Der Mangel kann entsprechend § 244 aber durch Bestätigungsbeschluss geheilt werden.171) Der Widerruf muss gegenüber dem Vorstandsmitglied erklärt werden. Die Erklärung kann durch einen Bevollmächtigten oder unter Einsatz eines Erklärungsboten erfolgen.172) Das Vorliegen der Vollmacht sollte in der Praxis durch eine von allen Aufsichtsratsmitgliedern unterzeichnete Urkunde oder das originale Aufsichtsratsprotokoll nachgewiesen werden, um eine mögliche Zurückweisung gemäß § 174 BGB zu vermeiden.173) Die Widerrufserklärung ist weder form- noch fristgebunden. Grenze für die Geltendmachung des Widerrufs ist allein die Verwirkung.174) Auch eine formelle Begründung ist nach allgemeiner Ansicht nicht erforderlich.175) _____________ 167) BGH, Urt. v. 24.2.1954 – II ZR 88/53, BGHZ 12, 337, 340 = NJW 1954, 799; BGH, Urt. v. 21.6.1999 – II ZR 27/98, ZIP 1999, 1669 = MDR 1999, 1397; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 106. 168) Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 9 Rz. 130; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 29. 169) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 103 f.; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 51; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 123 ff. 170) OLG Köln, Urt. v. 28.2.2008 – 13 U 3/08, ZIP 2008, 1767 = AG 2008, 458; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 50; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 123; a. A. Schürnbrand, NZG 2008, 609, 611. 171) OLG Stuttgart, Urt. v. 13.3.2002 – 20 U 59/01, AG 2003, 211, 212; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 104. 172) OLG Düsseldorf, Urt. v. 24.2.2012 – I-16 U 177/10, AG 2012, 511 = GWR 2012, 344; Hüffer/KochKoch, AktG, § 84 Rz. 33. 173) OLG Düsseldorf, Urt. v. 17.11.2003 – I 15 U 225/02, ZIP 2004, 1850, 1853 = AG 2014, 321; Schockenhoff/ Topf, DB 2005, 539, 544. 174) Janzen, NZG 2003, 468, 469; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 124. 175) Semler/v. Schenck/Wilsing-Grau, ArbHdb. AR, § 11 Rz. 334; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 106.

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71 Eine vorherige Anhörung des Vorstandsmitglieds schreibt das Gesetz nicht vor.176) Ein entsprechendes Erfordernis kann sich jedoch mittelbar aus § 116 Satz 1 i. V. m. § 93 Abs. 1 Satz 2 ergeben, nach denen der Aufsichtsrat aufgrund einer hinreichenden Tatsachengrundlage entscheiden muss.177) Gemäß § 81 Abs. 1 muss der verbleibende Vorstand das Ausscheiden zum Handelsregister anmelden. Die Eintragung ist zwar nicht konstitutiv, Dritte sind aber durch § 15 HGB geschützt (siehe oben § 81 Rz. 14). 2.

Wichtiger Grund

72 § 84 Abs. 4 Satz 1 setzt das Vorliegen eines wichtigen Grundes voraus. Zweck ist die Sicherung der Unabhängigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Unternehmensleitung durch den Vorstand.178) Weder durch Vereinbarung noch durch Satzungsregelung kann das Widerrufsrecht, bspw. durch Einführung gerichtlich nicht überprüfbarer Widerrufsgründe, erweitert werden.179) Auch eine Beschränkung ist unzulässig.180) a)

Allgemeine Anforderungen

73 Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn der Gesellschaft die Fortsetzung des Organverhältnisses mit dem Vorstandsmitglied bis zum Ende der Amtszeit unzumutbar ist.181) Es kommt dabei auf die besonderen Umstände des Einzelfalls an.182) Der wichtige Grund muss nicht notwendig in der Person des Vorstandsmitglieds liegen, insbesondere muss dieses nicht pflichtwidrig oder schuldhaft gehandelt haben.183) § 84 Abs. 4 Satz 2 nennt einzelne Beispiele für das Vorliegen eines wichtigen Grundes, ohne dadurch von der notwendigen Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung aller Umstände zu entbinden.184) 74 Die Kriterien für die Beurteilung der Unzumutbarkeit sind umstritten. Nach der Rechtsprechung sind die Interessen der Gesellschaft gegen diejenigen des Vorstandsmitglieds abzuwägen.185) Hierfür spricht vor allem, dass der wichtige Grund für die Abberufung eine Hürde darstellt, die die Unabhängigkeit des Vorstands sichern soll (siehe oben § 76 _____________ 176) Janzen, NZG 2003, 468, 469; Kort in: GroßKomm-AktG, § 84 Rz. 131. 177) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 136; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 78. 178) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 17.2.2015 – 5 U 111/14 (Commerzbank), NZG 2015, 514, 515 = ZIP 2015, 519, dazu EWiR 2015, 339 (Pattberg); OLG München, Urt. v. 13.10.2005 – 23 U 1949/05, NZG 2006, 313, 314 = ZIP 2006, 712. 179) Janzen, NZG 2003, 468, 470; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 52. 180) KG Berlin, Urt. v. 27.9.2004 – 2 U 191/02, NZG 2004, 1165 = AG 2005, 205 – Vereinbarung einer Anhörung, jedoch im konkreten Fall nicht als unzulässige Beschränkung; Spindler in: MünchKommAktG, § 84 Rz. 129. 181) BGH, Hinweisbeschl. v. 23.10.2006 – II ZR 298/05, ZIP 2007, 119 = AG 2007, 125, dazu EWiR 2007, 161 (Krüger/Achsnick); BGH, Urt. v. 19.10.1987 – II ZR 97/87, ZIP 1988, 47, 48 = DB 1988, 225 – zur GmbH; OLG Stuttgart, Hinweisbeschl. v. 28.5.2013 – 20 U 5/12, AG 2013, 599, 603 = ZIP 2013, 1576; OLG München, Urt. v. 28.4.2016 – 23 U 2314/15, BeckRS 2016, 08385 = AG 2016, 592; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 20 Rz. 49. 182) BGH, Hinweisbeschl. v. 23.10.2006 – II ZR 298/05, ZIP 2007, 119 = AG 2007, 125; OLG München, Urt. v. 28.4.2016 – 23 U 2314/15, BeckRS 2016, 08385 = AG 2016, 592; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 366 f. 183) BGH, Hinweisbeschl. v. 23.10.2006 – II ZR 298/05, ZIP 2007, 119 = AG 2007, 125; OLG Stuttgart, Hinweisbeschl. v. 28.5.2013 – 20 U 5/12, AG 2013, 599, 603 = ZIP 2013, 1576; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 35. 184) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 53; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 73. 185) BGH, Urt. v. 7.6.1962 – II ZR 131/61, WM 1962, 811, 812 = BB 1962, 816; KG Berlin, Urt. v. 3.5.2007 – 23 U 102/06, AG 2007, 745 = BeckRS 2007, 12065; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 17.2.2015 – 5 U 111/14 (Commerzbank), NZG 2015, 514 = ZIP 2015, 519; OLG Stuttgart, Hinweisbeschl. v. 28.5.2013 – 20 U 5/12, AG 2013, 599, 603 = ZIP 2013, 1576.

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Rz. 2).186) Die überwiegende Literatur folgt dem insoweit, als persönliche amtsbezogene Vorstandspflichten in der Abwägung zu berücksichtigen sind, räumt dem Gesellschaftsinteresse jedoch einen gewissen Vorrang ein.187) Nach überzeugender Auffassung sind Interessen des Vorstandsmitglieds nur für die Kündigung des Anstellungsvertrages relevant.188) Auf körperschaftlicher Ebene hat das Interesse der Gesellschaft an einer funktionierenden organschaftlichen Vertretung Vorrang.189) Verbleibt nur noch eine kurze Amtszeit, so liegen erhöhte Anforderungen i. R. der Unzumutbarkeit vor.190) Bei der Entscheidung über das Vorliegen eines wichtigen Grundes, der die Abberufung 75 rechtfertigt, kommt dem Aufsichtsrat kein Beurteilungsspielraum zu. Sie unterliegt der vollen gerichtlichen Überprüfung.191) Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob der Aufsichtsrat von der Widerrufsmöglichkeit Gebrauch macht. Insofern besteht gemäß § 84 Abs. 4 Ermessen, da die Entscheidung unter Abwägung der Vor- und Nachteile für die Gesellschaft zu treffen ist.192) b)

Gesetzliche Beispiele

aa)

Grobe Pflichtverletzung

Eine grobe Pflichtverletzung betrifft erhebliche Verfehlungen und grobe Nachlässigkei- 76 ten des Vorstandsmitglieds.193) Dazu zählt die Verletzung grundlegender Gesetzes- und Organpflichten, bspw. durch Beteiligung an strafbaren Handlungen, wobei ein starker Verdacht ausreichen kann,194) die Unterlassung der Errichtung eines Risikofrüherkennungssystems,195) die bewusste Nichtbedienung einer fälligen Darlehensrate,196) die Fälschung von Belegen,197) die unberechtigte Aneignung von Gesellschaftsvermögen198) und die Annahme von Schmiergeldern in Form von „Kick-Backs“199). Ebenso sind Pflichtverletzungen gegenüber anderen Organen oder Organmitgliedern erfasst, bspw. durch Täuschung anderer Vorstandsmitglieder,200) Abschluss von Rechtsgeschäften unter Missachtung der Beteili_____________ 186) Janzen, NZG 2003, 468, 470; Tschöpe/Wortmann, NZG 2009, 161, 162; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 71. 187) Grumann/Gillmann, DB 2003, 770, 771; Janzen, NZG 2003, 468, 470; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 34; Kort in: GroßKomm-AktG, § 84 Rz. 141; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 121; Tschöpe/Wortmann, NZG 2009, 161, 162; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 71. 188) Fleischer, AG 2006, 429, 439; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 53; Schmolke, AG 2014, 377, 389 f.; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 19 Rz. 15; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 131; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 20 Rz. 50; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 110. 189) Zum Vorrang von Gesellschaftsinteressen bei der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegenüber dem Vorstand: BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95 (ARAG/Garmenbeck), BGHZ 135, 244, 245 = ZIP 1997, 883 = AG 1997, 377; Fleischer, AG 2006, 429, 439. 190) BGH, Urt. v. 7.6.1962 – II ZR 131/61, WM 1962, 811, 812 = BB 1962, 816; Fleischer in: BeckOGKAktR, § 84 AktG Rz. 108; Janzen, NZG 2003, 468, 470. 191) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 34; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 53. 192) OLG Stuttgart, Urt. v. 13.3.2002 – 20 U 60/01, NZG 2002, 971; Krieger, Personalentscheidungen des Aufsichtsrats, 1981, S. 140 f.; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 122; Spindler in: MünchKommAktG, § 84 Rz. 130; Fleischer-Thüsing, Hdb. VorstandsR, § 5 Rz. 13; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 72; a. A. Janzen, NZG 2003, 468, 471; Schaefer/Missling, NZG 1998, 441; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 20 Rz. 62. 193) Begr. RegE in: Kropff, AktG, S. 106. 194) BGH, Urt. v. 9.1.1967 – II ZR 226/64, WM 1967, 251 = BB 1967, 229; eischränkend im privaten Bereich, wenn kein erheblicher Imageschaden droht Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 113. 195) LG Berlin, Urt. v. 3.7.2002 – 2 O 358/01, AG 2002, 682, 683 = BKR 2002, 969. 196) OLG Stuttgart, Hinweisbeschl. v. 28.5.2013 – 20 U 5/12, AG 2013, 599 = ZIP 2013, 1576. 197) OLG Hamm, Urt. v. 7.5.1984 – 8 U 22/84, GmbHR 1985, 119 – zur GmbH. 198) OLG Stuttgart, Urt. v. 13.3.2002 – 20 U 59/01, AG 2003, 211, 213. 199) OLG München, Urt. v. 7.2.2007 – 7 U 4952/06, OLGR München 2007, 440 = AG 2007, 361, 363. 200) OLG Düsseldorf, Urt. v. 13.5.1982 – 8 U 11/81, DB 1983, 1036 = AG 1982, 225.

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gungsrechte von Vorstand und Aufsichtsrat,201) mangelnde Offenheit gegenüber dem Aufsichtsrat und Missachtung von Zustimmungsvorbehalten gemäß § 111 Abs. 4202) sowie gravierende Missachtung der Zuständigkeit des Aufsichtsrats für die Aufklärung von Pflichtverletzungen der Vorstandsmitglieder durch einen Vorstand.203) bb)

Unfähigkeit zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung

77 Die Unfähigkeit zur Geschäftsführung kann auf tatsächlichen oder rechtlichen Gründen beruhen, ohne dass es eines Verschuldens bedarf.204) Als zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung unfähig angesehen wurden z. B. Vorstandsmitglieder, denen notwendige Kenntnisse zur Ausübung des Amts fehlen205) oder die im gewerberechtlichen Sinn unzuverlässig sind, was zu einer Versagung von Genehmigungen für die Gesellschaft führen kann.206) Auch eine lang andauernde Krankheit sowie Suchtprobleme können einen Widerruf begründen.207) Gleiches gilt im Fall eines unheilbaren Zerwürfnisses zwischen Organmitgliedern.208) Wenn die Beibehaltung der Organstellung des betroffenen Vorstandsmitglieds zu einer unmittelbaren Existenzgefährdung führt, kann ausnahmsweise auch der von einem Dritten (bspw. einer kreditgebenden Bank) ausgeübte Druck einen wichtigen Grund für eine Abberufung darstellen, sofern auf andere Weise keine Abhilfe möglich ist.209) Das Abberufungsverlangen eines aktivistischen Aktionärs kommt als wichtiger Grund in Betracht, wenn die als Begründung vorgebrachten Tatsachen bei unabhängiger Prüfung durch den Aufsichtsrat einen solchen rechtfertigen.210) cc)

Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung

78 Ein Widerruf aufgrund eines Vertrauensentzugs durch die Hauptversammlung gemäß § 84 Abs. 4 Satz 2 setzt kein persönlich vorwerfbares Verhalten des Vorstandsmitglieds voraus; dieses kann sogar objektiv im Recht sein.211) Der Vertrauensentzug darf jedoch nicht auf offensichtlich unsachlichen Gründen basieren. Dies ist der Fall, wenn die Entscheidung der Hauptversammlung auch nach Abwägung aller Umstände willkürlich, haltlos, rechtsmissbräuchlich oder treuwidrig ist.212) Der Beschluss der Hauptversammlung der AG, einem Vorstandsmitglied das Vertrauen zu entziehen, ist nicht schon dann offenbar unsachlich oder willkürlich, wenn sich die Gründe für den Vertrauensentzug als nicht zutreffend erweisen.213) Rechtsmissbräuchlich ist ein Vertrauensentzug bspw., wenn er als Reaktion auf _____________ 201) OLG München, Urt. v. 14.7.2005 – 6 U 5444/04, AG 2005, 776, 777 = ZIP 2005, 1781. 202) BGH, Urt. v. 13.7.1998 – II ZR 131/97, AG 1998, 519 f. = WM 1998, 1779; OLG Stuttgart, Hinweisbeschl. v. 28.5.2013 – 20 U 5/12, AG 2013, 599 = ZIP 2013, 1576. 203) OLG München, Urt. v. 28.4.2016 – 23 U 2314/15, BeckRS 2016, 08385 = AG 2016, 592. 204) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 114. 205) OLG Stuttgart, Urt. v. 9.10.1956 – 2 W 69/56, GmbHR 1957, 59, 60 – zur GmbH. 206) OLG Stuttgart, Urt. v. 13.3.2002 – 20 U 59/01, AG 2003, 211, 212 f. 207) Bayer in: FS Hommelhoff, S. 87, 93; Fleischer, NZG 2010, 561, 565. 208) BGH, Urt. v. 24.2.1992 – II ZR 79/91, ZIP 1992, 760, 761 f. = MDR 1992, 655 – zur GmbH. 209) OLG München, Urt. v. 13.10.2005 – 23 U 1949/05, NZG 2006, 313 = ZIP 2006, 712; bestätigt durch BGH, Hinweisbeschl. v. 23.10.2006 – II ZR 298/05, ZIP 2007, 119 = AG 2007, 125. 210) Schockenhoff, ZIP 2017, 1785, 1788 f. 211) BGH, Urt. v. 15.11.2016 – II ZR 215/17, BB 2017, 267 = DStR 2017, 555. 212) BGH, Urt. v. 28.4.1954 – II ZR 211/53, BGHZ 13, 188 = NJW 1954, 998; KG Berlin, Beschl. v. 3.12.2002 – 1 W 363/02, ZIP 2003, 1042, 1046 f. = AG 2003, 500; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 37; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 84 Rz. 47; deutlich weitere Auslegung in der Vorauflage GrigoleitVedder, AktG, 1. Aufl. 2013, § 84 Rz. 33 ff. 213) BGH, Urt. v. 15.11.2016 – II ZR 215/17, BB 2017, 267 = DStR 2017, 555; dazu GWR 2017, 396 (Mense/Klie).

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Bestellung und Abberufung des Vorstands

§ 84

die Weigerung des Vorstands ergeht, einer rechtswidrigen Weisung der Hauptversammlung oder des Hauptaktionärs Folge zu leisten.214) Unsachlich ist es dagegen nicht schon, wenn die Hauptversammlung das Vertrauen wegen unterschiedlicher Auffassungen in Strategieund geschäftspolitischen Fragen entzieht.215) Die Beweislast für das Vorliegen offenbar unsachlicher Gründe liegt beim Vorstand.216) Der Vertrauensentzug erfolgt durch Beschluss der Hauptversammlung, der dem Wider- 79 ruf vorausgehen muss.217) Eine Entlastungsverweigerung ersetzt nicht den Beschluss über den Vertrauensentzug gemäß § 84 Abs. 4 Satz 2.218) Während die Entlastungsverweigerung sich auf ein vergangenes Verhalten bezieht, betrifft der Vertrauensentzug eine Einschätzung für die Zukunft. Außerdem hätte die Hauptversammlung sonst keine Möglichkeit, die Missbilligung der Amtsführung im vergangenen Geschäftsjahr zum Ausdruck zu bringen, ohne sogleich die Abberufung zu initiieren. Das Stimmverbot des § 136 greift für Vorstandsmitglieder, die zugleich Aktionäre sind, im Fall des Beschlusses über den Vertrauensentzug nicht ein.219) Der Hauptversammlungsbeschluss, mit dem einem Vorstandsmitglied das Vertrauen entzogen wird, muss nicht begründet werden.220) dd)

Sonstige Gründe

Die Aufzählung des § 84 Abs. 4 Satz 2 ist nicht abschließend. Auch sonstige Gründe können 80 einen Widerruf rechtfertigen, sofern sie zu einer Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Organverhältnisses mit dem Vorstandsmitglied führen und somit in ihrem Gewicht den genannten Beispielsfällen entsprechen.221) Dies kann bspw. bei einem Einschreiten der BaFin gegen ein Vorstandsmitglied mittels einer Verwarnung oder eines Beschäftigungsverbots gemäß § 87 WpHG222) oder der Zugehörigkeit zu einer verbotenen Partei223) der Fall sein. In engen Grenzen kann auch ein starker, auf objektiven Tatsachen beruhender Verdacht einer unerlaubten Handlung gegenüber der Gesellschaft ausreichen, wenn dadurch das Vertrauen in die Person des Vorstandsmitgliedes zerstört ist und sich dieser nicht unter Vornahme der erforderlichen Ermittlungen ausräumen lässt.224) Kein wichtiger Grund für die Abberufung eines Vorstandsmitglieds während der laufenden Bestellperiode liegt dagegen nach umstrittener Rechtsprechung bei einer vom Aufsichtsrat nach der Satzung zulässig beschlossenen Verkleinerung des Vorstandes vor.225) _____________ 214) KG Berlin, Beschl. v. 3.12.2002 – 1 W 363/02, ZIP 2003, 1042, 1046 f. = AG 2003, 500; Messer in: FS Nirk, S. 681, 692. 215) OLG Hamm, Urt. v. 7.7.2010 – I-8 U119/09, AG 2010, 789, 792 = GWR 2010, 401; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 20 Rz. 59. 216) Kort in: GroßKomm-AktG, § 84 Rz. 209; a. A. Mielke, BB 2014, 1035, 1037. 217) KG Berlin, Urt. v. 3.5.2007 – 23 U 102/06, AG 2007, 745 = BeckRS 2007, 12065; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 127; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 141; für Ausnahmen in Sonderfällen Säcker in: FS Müller, S. 745, 751 Fn. 13. 218) Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 84 Rz. 32; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 119; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 56; a. A. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 127. 219) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 38; Zimmermann in: FS Rowedder, S. 593, 596 ff. 220) BGH, Urt. v. 15.11.2016 – II ZR 215/17, BB 2017, 267 = DStR 2017, 555; Schrader/Felsmann, GWR 2017, 393, 394. 221) Fleischer, AG 2006, 429, 442. 222) Forst, AG 2013, 277 ff. 223) BGH, Urt. v. 24.2.1954 – II ZR 63/53, BGHZ 12, 337, 342 ff. 224) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 121; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 36; Schmolke, AG 2014, 377, 382 ff.; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 84 Rz. 42. 225) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 17.2.2015 – 5 U 111/14 (Commerzbank), NZG 2015, 514 = ZIP 2015, 519; a. A. Habersack, DB 2015, 787 ff.

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§ 84 3.

Bestellung und Abberufung des Vorstands Wirkung des Widerrufs

81 Nach § 84 Abs. 4 Satz 4 ist der Widerruf wirksam, bis seine Unwirksamkeit rechtskräftig festgestellt ist. Die Organstellung des Betroffenen endet somit zunächst mit Zugang der Widerrufserklärung, auch wenn kein wichtiger Grund für die Abberufung vorlag. Dies dient der Schaffung von Rechtssicherheit im Unternehmensinteresse.226) Die Norm ist auf den Fall der automatischen Beendigung des Vorstandsamts, bspw. durch befristete Bestellung, analog anwendbar.227) Eine rechtskräftige Entscheidung i. S. des § 84 Abs. 4 Satz 4 liegt nur bei einem Endurteil im Hauptsacheverfahren vor.228) Nach ganz h. M. kommt es dagegen nicht zur vorläufigen Wirksamkeit, wenn der Beschluss des Aufsichtsrats fehlt oder wegen eines Verfahrensmangels ungültig ist.229) Der Widerruf bedarf zwar keiner formalen Begründung, auf Verlangen sind dem Betroffenen die Gründe jedoch analog § 626 Abs. 2 Satz 3 BGB mitzuteilen.230) Das Ausscheiden des Abberufenen ist gemäß § 81 Abs. 1 durch die verbleibenden Vorstandsmitglieder zum Handelsregister anzumelden. 4.

Rechtsschutz des Vorstandsmitglieds

82 Das abberufene Vorstandsmitglied kann gegen die Gesellschaft, vertreten durch den Aufsichtsrat (§ 112), Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit des Widerrufs erheben.231) Formelle Beschlussmängel kann der Aufsichtsrat durch Bestätigungsbeschluss entsprechend § 244 beheben und einer entsprechenden Klage damit die Grundlage entziehen.232) Wird mit der Klage das Nichtvorliegen eines wichtigen Grundes vorgebracht, handelt es sich dagegen um eine Gestaltungsklage, da ein stattgebendes Urteil bewirkt, dass der Betroffene ex nunc wieder Vorstandsmitglied ist. Widerrufsgründe können durch einen Aufsichtsratsbeschluss nachgeschoben werden, wenn sie bereits bei Erklärung des Widerrufes vorlagen, der Aufsichtsrat hiervon aber keine Kenntnis hatte.233) Lag Kenntnis vor, kann das Widerrufsrecht dagegen verwirkt sein.234) In der Praxis ist für ein wirksames Vorgehen gegen eine Abberufung im Zweifel ein Hauptantrag auf Feststellung der Nichtigkeit des Beschlusses, verbunden mit einem Hilfsantrag auf Erklärung der Unwirksamkeit anzuraten. Einstweiliger Rechtsschutz kommt nur in Betracht, wenn die Unwirksamkeit der Abberufung auf das Fehlen oder die Unwirksamkeit des Aufsichtsratsbeschlusses über den Widerruf der Bestellung gestützt wird (siehe oben Rz. 70).235) Ein betroffenes Vorstandsmitglied kann _____________ 226) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 58. 227) LG Berlin, Beschl. v. 30.10.1990 – 98 T 39/90, ZIP 1991, 228, 229; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 79. 228) OLG Stuttgart, Urt. v. 15.4.1985 – 2 U 57/85, ZIP 1985, 539, 541 = WM 1985, 600; Bürgers/ Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 84 Rz. 33; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 40; Kort in: GroßKommAktG, § 84 Rz. 189, 192; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 84 Rz. 55; kritisch Grigoleit-Vedder, 1. Aufl. 2013, AktG, § 84 Rz. 38. 229) OLG Köln, Urt. v. 28.2.2008 – 18 U 3/08, NZG 2008, 635 = AG 2008, 458; OLG Stuttgart, Urt. v. 15.4.1985 – 2 U 57/85, ZIP 1985, 539, 541 = WM 1985, 600; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 39; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 145; a. A. Schürnbrand, NZG 2008, 609, 611. 230) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 135; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 20 Rz. 63. 231) BGH, Urt. v. 11.5.1981 – II ZR 126/80, ZIP 1981, 858, 859 = BB 1981, 1232. 232) OLG Stuttgart, Urt. v. 13.3.2002 – 20 U 59/01, AG 2003, 211, 212; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 42. 233) BGH, Urt. v. 1.12.2003 – II ZR 161/02, BGHZ 157, 151 = ZIP 2004, 92 = AG 2004, 142; OLG Stuttgart, Hinweisbeschl. v. 28.5.2013 – 20 U 5/12, AG 2013, 599, 601 = ZIP 2013, 1576; zulässiges Nachschieben auch ohne erneuten Aufsichtsratsbeschluss vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 24.2.2012 – I16 U 177/10, AG 2012, 511, 513 = GWR 2012, 344; Heidel-Oltmanns, AktR, § 84 AktG Rz. 27. 234) OLG Stuttgart, Hinweisbeschl. v. 28.5.2013 – 20 U 5/12, AG 2013, 599 = ZIP 2013, 1576; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 143. 235) OLG Köln, Urt. v. 28.2.2008 – 18 U 3/08, NZG 2008, 635 = AG 2008, 458.

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Bestellung und Abberufung des Vorstands

§ 84

einem Aufsichtsratsmitglied darüber hinaus nicht im Wege einstweiliger Verfügung untersagen, für den Widerruf der Bestellung zu stimmen.236) Nach überwiegender Ansicht sind aktienrechtliche Bestellungs- und Abberufungsstrei- 83 tigkeiten nicht schiedsfähig.237) Dies ergibt sich aus der abschließenden Zuständigkeitsregelung des AktG für körperschaftliche Entscheidungen. Folgt man der Gegenansicht ist darüber hinaus strittig, ob die Schiedsvereinbarung nur individualvertraglich oder auch in der Satzung getroffen werden kann.238) 5.

Sonstige Beendigungsgründe

a)

Amtsniederlegung

Das Vorstandsmitglied kann sein Amt durch einseitige, empfangsbedürftige und formlose 84 Erklärung gegenüber dem Aufsichtsrat als Vertreter der AG niederlegen.239) Die Niederlegungserklärung wird bereits mit Zugang bei einem Aufsichtsratsmitglied wirksam.240) Handelt es sich um einen Empfänger mit Sitz im Ausland, ist für den Zugang das Ortsrecht des Abgabeorts entscheidend.241) Es muss nicht zeitgleich eine Kündigung des Anstellungsvertrages erfolgen, da auch hier das Trennungsprinzip gilt.242) Die Amtsniederlegung kann unter der aufschiebenden Bedingung der Eintragung des Ausscheidens im Handelsregister gestellt werden (siehe oben § 81 Rz. 6).243) Nach überwiegender Meinung ist für die wirksame Amtsniederlegung kein wichtiger 85 Grund erforderlich, da dies dem Gebot der Rechtssicherheit widerspräche und eine erzwungene Amtsführung wenig sinnvoll wäre.244) Ob ein solcher Grund vorliegt hat nur Bedeutung für den Fortbestand des Anstellungsvertrags und mögliche Schadenersatzansprüche gegen das Vorstandsmitglied. Eine Amtsniederlegung kann jedoch bei rechtsmissbräuchlichem Verhalten unwirksam sein.245) Darunter fällt eine Niederlegung zur Unzeit,246) zur _____________ 236) OLG München, Urt. v. 16.10.2013 – 7 U 3018/13, ZIP 2013, 2200 = AG 2013, 886. 237) Kort in: GroßKomm-AktG, § 84 Rz. 589; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 59; Wiesner in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 20 Rz. 63; so noch Spindler in: MünchKomm-AktG, 4. Aufl. 2014, § 84 Rz. 143; a. A. Bauer/Arnold/Kramer, AG 2014, 677, 681 f.; Habersack/Wasserbäch, AG 2016, 2, 10 f.; Papmehl, Die Schiedsfähigkeit gesellschaftsrechtlicher Streitigkeiten, 2000, S. 225; Westermann in: FS Goette, S. 601, 606, 608; nunmehr auch Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 146a; Spindler in: FS Baums, S. 1205, 1206. 238) Dafür: Bauer/Arnold/Kramer, AG 2014, 677, 681 f.; Habersack/Wasserbäch, AG 2016, 2, 10 f. 239) BGH, Urt. v. 14.7.1980 – II ZR 161/79, BGHZ 78, 82, 84 = ZIP 1980, 768 = NJW 1980, 2415 – zur GmbH; BGH, Urt. v. 8.2.1993 – II ZR 58/92, BGHZ 121, 257, 260 = ZIP 1993, 430 = DStR 1993, 485 – zur GmbH; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 10 Rz. 152; Hüffer/KochKoch, AktG, § 84 Rz. 44; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 62. 240) BGH, Urt. v. 17.9.2001 – II ZR 378/99, BGHZ 149, 28, 29 = ZIP 2001, 2227, dazu EWiR 2002, 67 (Wagner); Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 151. 241) BGH, Beschl. v. 21.6.2011 – II ZB 15/10, ZIP 2011, 1562 = NJW-RR 2011, 1184, dazu EWiR 2011, 641 (Wachter) – zur GmbH. 242) Hoffmann-Becking, ZIP 2007, 2101, 2102; Fleischer-Thüsing, Hdb. VorstandsR, § 5 Rz. 35. 243) BGH, Beschl. v. 21.6.2011 • II ZB 15/10, ZIP 2011, 1562 = NJW-RR 2011, 1184 – zur GmbH. 244) BGH, Urt. v. 26.6.1995 – II ZR 109/94, ZIP 1995, 1334 = NJW 1995, 2850 = GmbHR 1995, 653 – zur GmbH; BGH, Urt. v. 8.2.1993 – II ZR 58/92, BGHZ 121, 257 = ZIP 1993, 430 = DStR 1993, 485; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 45; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 199; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 160; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 84 Rz. 66; a. A.: Kort in: GroßKommAktG, § 84 Rz. 224; Link, Die Amtsniederlegung durch Gesellschaftsorgane 2003, S. 68 ff., 83, 125 ff. 245) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 153; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 19 Rz. 72; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 160. 246) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 6.12.2000 – 3 Wx 393/00, ZIP 2001, 25 = DB 2001, 261 – zur GmbH; Henssler/Strohn-Dauner-Lieb, GesR, § 84 AktG Rz. 35; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 160; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 86.

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§ 84

Bestellung und Abberufung des Vorstands

Durchsetzung eines modifizierten Anstellungsvertrags oder zur vorzeitigen Neubestellung Vor dem Hintergrund der Möglichkeit der Bestellung eines Notvorstands ist dieses Kriterium jedoch eng auszulegen, da durch eine solche Maßnahme regelmäßig die Handlungsfähigkeit der Gesellschaft wiederhergestellt werden kann.247) 86 Eine vertragliche Verpflichtung zur Amtsniederlegung i. R. einer sog. „Shoot-out“-Klausel unterläuft nicht das Wahlrecht des Aufsichtsrats aus § 84 Abs. 1, da es eine erneute Bestellung nicht hindert, sondern allenfalls deren Annahme durch den Bestellten.248) Entsprechende Klauseln können jedoch gegen § 84 Abs. 4 verstoßen, sofern sie das Erfordernis eines wichtigen Grundes für den Widerruf der Bestellung umgehen und somit der bezweckten Unabhängigkeit des Vorstands zuwiderlaufen.249) b)

Einvernehmliches Ausscheiden

87 Im gegenseitigen Einvernehmen zwischen dem Gesamtaufsichtsrat und dem Vorstandsmitglied kann ein Ausscheiden jederzeit ohne weiteres, insbesondere ohne wichtigen Grund erfolgen.250) Der Aufsichtsrat handelt durch Beschluss (§ 108), die Entscheidung ist nach dem Rechtsgedanken des § 107 Abs. 3 Satz 4 nicht auf einen Ausschuss übertragbar.251) Bei mitbestimmten Gesellschaften richtet sich das Verfahren entsprechend § 31 Abs. 5 MitbestG nach § 31 Abs. 2 bis 4 MitbestG.252) 6.

Suspendierung

88 Der Begriff Suspendierung umschreibt grundsätzlich eine kurzzeitige, vorübergehende Amtsenthebung.253) Deren Zulässigkeit und Voraussetzungen, insbesondere für eine einseitige Suspendierung, sind umstritten.254) Neben der einseitigen und einvernehmlichen Suspendierung wird auch eine einvernehmliche Dienstbefreiung diskutiert.255) 89 Die einseitige Suspendierung wird teilweise als echter, wenngleich zeitlich begrenzter Widerruf angesehen, für dessen Wirksamkeit und Voraussetzungen das Verfahren des § 84 zu beachten sei.256) Demnach hat die Suspendierung neben der Abberufung keine eigenständige Bedeutung. Nach a. A. liegt eine vorübergehende Enthebung von der Amtsausführung vor, was jedoch ebenfalls nur unter den Voraussetzungen des § 84 Abs. 4 möglich sei.257) Eine dritte Meinung lässt schließlich den hinreichenden Verdacht des Vorliegens eines

_____________ 247) Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 20 Rz. 68. 248) OLG Nürnberg, Urt. v. 20.12.2013 – 12 U 49/13, NZG 2014, 222, 225 = ZIP 2014, 171; Schmolke, ZIP 2014, 897, 903. 249) Dazu eingehend Schmolke, ZIP 2014, 897, 904. 250) OLG Karlsruhe, Urt. v. 13.10.1995 – 10 U 51/95, AG 1996, 224 = WM 1996, 161; Bürgers/Körber/ Lieder-Bürgers, AktG, § 84 Rz. 35; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 63. 251) Vgl. BGH, Urt. v. 24.11.1980 – II ZR 182/79, BGHZ 79, 38 = NJW 1981, 757, 758 = ZIP 1981, 45; Hoffmann-Becking in: FS Stimpel, S. 589, 591; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 162. 252) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 377; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 20 Rz. 69. 253) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 19 Rz. 78. 254) Dörrwächter, NZG 2018, 54 ff.; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 89. 255) Vgl. Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 20 Rz. 73 ff. 256) LG München I, Beschl. v. 27.6.1985 – 5 HKO 9397/85, AG 1986, 142; Spindler in: MünchKommAktG, § 84 Rz. 157 f. 257) OLG München, Urt. v. 17.9.1985 – 7 W 1933/85, AG 1986, 234; Krieger, Personalentscheidungen des Aufsichtsrats, 1981, S. 154 ff.; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 65.

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Bestellung und Abberufung des Vorstands

§ 84

wichtigen Grundes ausreichen.258) Als Folge bleibt das Vorstandsmitglied formal im Amt, darf seine Organrechte jedoch nicht mehr ausüben.259) Hierfür spricht ein praktisches Interesse an einem vorläufigen Ruhen des Vorstandsamts bis zur Aufklärung der im Raum stehenden Widerrufsgründe.260) Die Dauer von einem Monat sollte die einseitige Suspendierung nur im Ausnahmefall überschreiten.261) Da für die einseitige Suspendierung keine gesetzliche Grundlage besteht und sie im Hinblick auf den Wortlaut und Zweck des § 84 Abs. 4 problematisch erscheint,262) ist die diesbezügliche Entscheidung des Aufsichtsrats der vollen gerichtlichen Kontrolle unterworfen.263) Die Möglichkeit einer einvernehmlichen Suspendierung wird von der h. M. unter den 90 gleichen Voraussetzungen und gleichen Grenzen wie die einseitige Suspendierung bei Zustimmung des Gesamtaufsichtsrats bejaht.264) Insofern ist jedenfalls nicht die von § 84 Abs. 4 geschützte Unabhängigkeit des Vorstands betroffen. Es bleibt jedoch bei erheblichen Unsicherheiten hinsichtlich der konkreten Rechtswirkung der Suspendierung. Insbesondere die Unsicherheit, ob es möglich ist, durch eine Suspendierung die Gesamtverantwortung eines Vorstandsmitglieds ohne einen echten Widerruf der Bestellung zu beseitigen, werden durch die Regelung zur Aussetzung der Bestellung durch das FüPoG II verstärkt. Denn mit § 84 Abs. 3 wurde ausweislich der Ausschussbegründung der Weg eines echten Widerrufs mit Zusicherung der Wiederbestellung gewählt, um das Vorstandsmitglied vollständig von allen Pflichten und Haftungsrisiken zu befreien,265) was im Umkehrschluss darauf hindeutet, dass der Gesetzgeber davon ausgeht, dass dies ohne einen echten Widerruf nicht möglich ist. Die einvernehmliche Dienstbefreiung soll dagegen für einen längeren Zeitraum als die 91 Suspendierung greifen. Sie setzt voraus, dass das Vorstandsmitglied für längere Zeit aus zwingenden Gründen, bspw. durch Krankheit, an der Ausübung seiner Tätigkeit gehindert ist.266) In diesem Fall soll der Betroffene von seiner Tätigkeitspflicht entbunden werden, ohne seine sonstigen Rechte und Pflichten aus dem Vorstandsamt zu verlieren.267) Angesichts der Regelung zur Aussetzung der Bestellung nach § 84 Abs. 3 dürfte es für diese Gestaltung keine Grundlage mehr geben. VII. Kündigung des Anstellungsvertrags (§ 84 Abs. 4 Satz 5) 1.

Allgemeines

Aufgrund des Trennungsprinzips sind der Widerruf der organschaftlichen Bestellung und 92 die Kündigung des schuldrechtlichen Anstellungsvertrags voneinander unabhängig, wie § 84 Abs. 4 Satz 5 verdeutlicht (siehe oben Rz. 2). Demnach gelten für die Ansprüche des _____________ 258) Dörrwächter, NZG 2018, 54, 57; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 147; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 10 Rz. 150; Kort in: GroßKomm-AktG, § 84 Rz. 238; Mertens/ Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 189. 259) Dörrwächter, NZG 2018, 54, 58; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 149; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 10 Rz. 150; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 192. 260) Dörrwächter, NZG 2018, 54, 57; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 146. 261) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 19 Rz. 81; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 20 Rz. 75; für eine Einzelfallbetrachtung Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 147. 262) Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 84 Rz. 68. 263) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 19 Rz. 81. 264) Dörrwächter, NZG 2018, 54, 58; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 43; Mertens/Cahn in: KölnKommAktG, § 84 Rz. 196; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 20 Rz. 77. 265) Beschlussempfehlung d. Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG II, BTDrucks. 19/30514, S. 22. 266) Kort in: GroßKomm-AktG, § 84 Rz. 258. 267) Fleischer, NZG 2010, 561, 566; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 20 Rz. 78.

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§ 84

Bestellung und Abberufung des Vorstands

Vorstandsmitglieds aus dem Anstellungsvertrag die allgemeinen Vorschriften. Dies sind insbesondere § 626 BGB für die außerordentliche sowie § 620 BGB für die ordentliche Kündigung. 2.

Zuständigkeit und Verfahren

93 Die Zuständigkeit für die Kündigung des Anstellungsvertrags liegt gemäß §§ 84 Abs. 4 Satz 5, 112 beim Aufsichtsrat als Vertreter der Gesellschaft. Die Entscheidung kann, anders als beim Widerruf der Bestellung, grundsätzlich an einen mindestens dreiköpfigen Ausschuss delegiert werden.268) Dieser darf jedoch nicht dem Bestellungswiderruf vorgreifen, bspw. indem er vor der Entscheidung des Gesamtaufsichtsrats über die Beendigung der Organstellung die Kündigung ausspricht.269) Möglich bleibt eine Kündigung mit der Maßgabe, dass diese dem Vorstand erst nach einem erfolgten Widerruf der Organstellung erklärt wird.270) Gleiches gilt auch für die einvernehmliche Aufhebung des Anstellungsvertrags.271) Sofern i. R. des Ausscheidens des Vorstandsmitglieds eine Abfindungsvereinbarung getroffen wird, ist eine Delegation dagegen unzulässig, da insofern eine Festsetzung von Bezügen vorliegt, für die gemäß § 107 Abs. 3 Satz 4 zwingend der Gesamtaufsichtsrat zuständig ist.272) 94 Der Aufsichtsrat entscheidet durch Beschluss (§ 108) mit einfacher Mehrheit. Dies gilt auch bei mitbestimmten Gesellschaften, da § 31 MitbestG nur den Widerruf der Bestellung betrifft.273) Liegt kein Beschluss vor oder ist dieser nicht ordnungsgemäß zustande gekommen, ist die Kündigung unwirksam.274) Der Beschluss muss hinreichend klar, unbedingt und endgültig sein.275) Obwohl ein konkludenter Beschluss grundsätzlich nicht in Betracht kommt, kann die Entscheidung über die Kündigung im Beschluss über den Widerruf der Bestellung enthalten sein.276) 95 Die Kündigung muss dem betroffenen Vorstandsmitglied gegenüber erklärt werden. Hierbei kann sich der Aufsichtsrat vertreten lassen oder einen Boten einschalten.277) Ebenso wie beim Widerruf der Bestellung sollte eine Urkunde über die Ermächtigung erstellt werden, um eine Zurückweisung gemäß § 174 BGB zu verhindern.278) Die Erklärung bedarf weder einer formellen Begründung, noch der Schriftform, da § 623 BGB nicht anwendbar ist.279) Auf Verlangen müssen dem betroffenen Vorstandsmitglied jedoch gemäß § 626 Abs. 2 _____________ 268) BGH, Urt. v. 23.10.1975 – II ZR 90/73, BGHZ 65, 190, 192 f. = NJW 1976, 145; OLG Düsseldorf, Urt. v. 17.11.2003 – 15 U 225/02, AG 2014, 321, 322 = ZIP 2004, 1850 = DB 2004, 920; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 68. 269) BGH, Urt. v. 14.11.1983 – II ZR 33/83, BGHZ 89, 48, 56 = ZIP 1984, 55 = NJW 1984, 733 – zur GmbH; Fleischer-Thüsing, Hdb. VorstandsR, § 5 Rz. 53; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 93. 270) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 156; Hoffmann-Becking in: FS Stimpel, S. 589, 595. 271) BGH, Urt. v. 24.11.1980 – II ZR 182/79, BGHZ 79, 38 = NJW 1981, 757, 758 = ZIP 1981, 45; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 49. 272) Hoffmann-Becking/Krieger, NZG Beilage z. Heft 26/2009, S. 1, 9; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 93. 273) Oetker in: GroßKomm-AktG, § 31 MitbestG Rz. 24; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 84 Rz. 73. 274) OLG Karlsruhe, Urt. v. 28.4.2004 – 7 U 62/03, ZIP 2004, 2377, 2378 f.; Tschöpe/Wortmann, NZG 2009, 85, 88; abweichend für eine Heilungsmöglichkeit analog § 244: Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 158. 275) OLG Karlsruhe, Urt. v. 28.4.2004 – 7 U 62/03, ZIP 2004, 2377, 2378 f.; Tschöpe/Wortmann, NZG 2009, 85, 88. 276) BGH, Urt. v. 29.3.1973 – II ZR 20/71, BGHZ 60, 333 = NJW 1973, 1122, 1123 f.; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 165; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 92. 277) Bauer/Krieger, ZIP 2004, 1247, 1248; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 68. 278) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 149. 279) BGH, Urt. v. 18.6.1984 – II ZR 221/83, NJW 1984, 2689 = ZIP 1984, 947 – zur Genossenschaft; Bauer/Krieger, ZIP 2004, 1247, 1250; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 94.

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Bestellung und Abberufung des Vorstands

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Satz 3 BGB die Kündigungsgründe mitgeteilt werden. Grundsätzlich bedarf es keiner Anhörung vor der Kündigung, es sei denn es liegt ein Fall der Verdachtskündigung vor.280) 3.

Außerordentliche Kündigung durch die Gesellschaft

a)

Allgemeines

Soll der Anstellungsvertrag einseitig beendet werden, erfolgt dies in den ganz überwie- 96 genden Fällen durch Kündigung aus wichtigem Grund gemäß § 626 BGB. Dieses Kündigungsrecht ist zwingend und kann nicht durch Satzung oder Vereinbarung beschränkt oder ausgeschlossen werden.281) Gleiches gilt für eine tatsächliche Einschränkung des Kündigungsrechts, bspw. durch Vereinbarung einer Abfindung für den Fall der außerordentlichen Kündigung des Anstellungsvertrags. Entsprechende Regelungen sind gemäß § 134 BGB nichtig.282) b)

Vorliegen eines wichtigen Grundes

Ein wichtiger Grund gemäß § 626 BGB liegt vor, wenn unter Berücksichtigung aller Um- 97 stände des Einzelfalls und unter Abwägung der relevanten beiderseitigen Interessen eine Fortsetzung des Anstellungsvertrags bis zu seiner ordentlichen Beendigung für die Gesellschaft unzumutbar ist.283) Es sind insbesondere die Schwere der Pflichtverletzung, der Grad des Verschuldens, die Folgen für die Gesellschaft, die Wiederholungsgefahr sowie soziale Folgen für das betroffene Vorstandsmitglied, dessen Lebensalter und Verdienste zu berücksichtigen.284) Da der wichtige Grund gemäß § 626 BGB nicht zwingend mit demjenigen der Abberufung gemäß § 84 Abs. 4 Satz 1 identisch ist, muss hierbei eine eigene Interessenabwägung bezogen auf das Anstellungsverhältnis erfolgen.285) Zwar ist ein wichtiger Grund zur Kündigung des Anstellungsvertrags stets auch ein wichtiger Grund gemäß § 84 Abs. 4 Satz 1. Umgekehrt erfüllt ein wichtiger Grund zum Widerruf der Bestellung jedoch nicht immer die Voraussetzungen des § 626 BGB.286) Hintergrund ist, dass bei der Beendigung des Anstellungsvertrags insbesondere zu prüfen ist, ob dem Betroffenen die sozialen Folgen der Beendigung des Vorstandsamts zuzumuten sind.287) Durch eine sog. Gleichlaufklausel kann jedoch die Beendigung des Anstellungsvertrags durch eine Bedingung gemäß § 158 BGB mit dem Widerruf der Bestellung verbunden werden (siehe oben Rz. 28). _____________ 280) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 164; Fleischer-Thüsing, Hdb. VorstandsR, § 5 Rz. 57; Tschöpe/Wortmann, NZG 2009, 161, 162. 281) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 51; Wiesner in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 107. 282) BGH, Urt. v. 3.7.2000 – II ZR 282/98, ZIP 2000, 1442 = NJW 2000, 2983 – zur GmbH; BGH, Urt. v. 17.3.2008 – II ZR 239/06, ZIP 2008, 1114 = NJW-RR 2008, 1488, dazu EWiR 2008, 621 (Rohde) – zur Genossenschaft; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 62; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 165. 283) BGH, Urt. v. 23.10.1995 – II ZR 130/94, NJW-RR 1996, 156; OLG Celle, Beschl. v. 25.5.2011 – 3 U 65/11, AG 2011, 916, 917; Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 84 Rz. 38; Lutter/Krieger/ Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 429. 284) OLG Hamm, Urt. v. 25.11.2009 – 8 U 61/09, GmbHR 2010, 477 = BeckRS 2010, 02823 – zur GmbH; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 153; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 153; Wiesner in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 108. 285) BGH, Urt. v. 29.5.1989 – II ZR 220/88, NJW 1989, 2683 = ZIP 1989, 1190; Tschöpe/Wortmann, NZG 2009, 161. 286) BGH, Urt. v. 29.5.1989 – II ZR 220/88, NJW 1989, 2683 = ZIP 1989, 1190; OLG München, Urt. v. 14.3.2012 – 7 U 681/11, ZIP 2012, 1671 = AG 2012, 753; Kort in: GroßKomm-AktG, § 84 Rz. 482. 287) OLG München, Urt. v. 14.3.2012 – 7 U 681/11, ZIP 2012, 1671 = AG 2012, 753; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 96.

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Bestellung und Abberufung des Vorstands

98 Bedeutendster Einzelfall eines wichtigen Grundes ist die grobe Pflichtverletzung des Vorstandsmitglieds. Darunter fällt bspw. die unberechtigte Amtsniederlegung,288) das Ausnutzen von Geschäftschancen der Gesellschaft für eigene Zwecke,289) die Fälschung von Belegen und die Annahme von Schmiergeldern,290) die Verletzung von Organisations- und Überwachungspflichten sowie mangelhaftes Risikomanagement.291) Kompetenzverstöße stellen bei einer gewissen Erheblichkeit eine grobe Pflichtverletzung dar.292) Darüber hinaus stellt die Unfähigkeit zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung einen personenbezogenen Kündigungsgrund dar. Diese liegt insbesondere bei fachlicher Unzulänglichkeit,293) fehlender Eignung in Krisensituationen294) sowie dauerhafter Dienstunfähigkeit wegen Krankheit295) vor. Im Fall des Vertrauensentzugs durch die Hauptversammlung ist für die Frage des wichtigen Grundes gemäß § 626 BGB entscheidend, auf welcher Ursache dieser basiert.296) Eine betriebsbedingte Kündigung kommt nur in Betracht, wenn eine angemessene Beschäftigungsmöglichkeit des Vorstandsmitglieds aufgrund des wirtschaftlichen Niedergangs des Unternehmens wegfällt.297) Eine bloße Verlagerung der Geschäftstätigkeit innerhalb eines Konzerns stellt dagegen keinen wichtigen Grund dar.298) Ein Abberufungsverlangen Dritter (sog. Druckabberufung) kann nur in extremen, gegenüber der Abberufung strengeren Ausnahmefällen einen wichtigen Grund gemäß § 626 BGB darstellen.299) 99 Eine vorherige Abmahnung ist nach ständiger Rechtsprechung nicht erforderlich.300) 100 Der Vorstand übt die Arbeitgeberfunktion aus und ist deshalb nicht auf die Schutz- und Warnfunktion dieser Maßnahme angewiesen.301) Auch aus § 314 Abs. 2 Satz 1 BGB ergibt sich nichts anderes, da insofern ein besonderer Umstand vorliegt, der die sofortige Kündigung rechtfertigt.302) c)

Kündigungsfrist

101 Gemäß § 626 Abs. 2 BGB muss die Kündigung innerhalb von zwei Wochen ab Kenntniserlangung des Kündigungsberechtigten von den maßgebenden Tatsachen erfolgen. Dieser kurze Zeitraum kann in der Praxis erhebliche Probleme bereiten. Eine nicht frist_____________ 288) BGH, Urt. v. 14.7.1980 – II ZR 161/79, BGHZ 78, 82, 85 = ZIP 1980, 768 = NJW 1980, 2415; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 52. 289) BGH, Urt. v. 13.2.1995 – II ZR 225/93, ZIP 1995, 567 = DStR 1995, 695. 290) OLG München, Urt. v. 7.2.2007 – 7 U 4952/06, OLGR München 2007, 440 = AG 2007, 361. 291) LG Berlin, Urt. v. 3.7.2002 – 2 O 358/01, AG 2002, 682 = BKR 2002, 969; Fleischer in: BeckOGKAktR, § 84 AktG Rz. 165. 292) BGH, Urt. v. 9.4.2013 – II ZR 273/11, WM 2013, 931, 933 = ZIP 2013, 971, dazu EWiR 2013, 371 (Nolting). 293) BGH, Urt. v. 22.4.1982 – VII ZR 160/81, BGHZ 83, 371 = NJW 1982, 1708, 1709 = ZIP 1982, 876; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 135. 294) OLG München, Urt. v. 13.10.2005 – 23 U 1949/05, NZG 2006, 313 = = ZIP 2006, 712. 295) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 160. 296) Kort in: GroßKomm-AktG, § 84 Rz. 497; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 186. 297) BGH, Urt. v. 21.4.1975 – II ZR 2/73, WM 1975, 761, 762. 298) Vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2002 – II ZR 353/00, DStR 2003, 40, 41 ff. = NJW 2003, 431. 299) LG München I, Urt. v. 15.10.2010 – 5HK O 2122/09, AG 2011, 258 = ZIP 2010, 2451; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 137. 300) BGH, Urt. v. 10.9.2001 – II ZR 14/00, ZIP 2001, 1957, 1958 = DB 2001, 2438; BGH, Beschl. v. 2.7.2007 – II ZR 71/06, ZIP 2007, 1566 = NZG 2007, 674; OLG Düsseldorf, Urt. v. 2.7.2007 – I-9 U 3/07, AG 2008, 166; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 73. 301) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 20 Rz. 42. 302) So BGH, Beschl. v. 2.7.2007 – II ZR 71/06, ZIP 2007, 1566 = NZG 2007, 674 – zu § 314 Abs. 2 Satz 2 BGB a. F., der auf § 323 Abs. 2 Nr. 3 BGB verwies.

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gerechte Kündigung ist unwirksam.303) Die Beweislast für die Einhaltung der Frist liegt bei der Gesellschaft.304) Maßgeblich ist die Kenntnis des Aufsichtsrats als für die Kündigung zuständiges Kollegialorgan, oder eines entsprechend befugten Ausschusses.305) Die Kenntnis einzelner Aufsichtsratsmitglieder oder des Vorsitzenden reicht nicht aus.306) Erlangt ein einzelnes Mitglied Kenntnis, so hat es jedoch unverzüglich den Gesamtaufsichtsrat einzuberufen.307) Die zweiwöchige Frist beginnt mit dem Tag der Aufsichtsratssitzung, sofern diese ohne unangemessene Verzögerung einberufen wurde.308) Andernfalls ist der Zeitpunkt maßgeblich, an dem die Sitzung unter Berücksichtigung der Eilbedürftigkeit hätte einberufen werden können.309) Kenntnis setzt sicheres Wissen über den für die Kündigung maßgeblichen Gesamtsach- 102 verhalt voraus, Kennenmüssen oder grob fahrlässige Unkenntnis genügen nicht.310) Ist zunächst eine weitere Aufklärung und ggf. Anhörung des Betroffenen erforderlich, ist die Zwei-Wochen-Frist jedenfalls dann gehemmt, wenn die weitere Aufklärung mit der gebotenen Beschleunigung betrieben wird.311) Bei mitbestimmten Gesellschaften ergeben sich Besonderheiten durch die Monatsfrist des 103 § 31 Abs. 5, Abs. 3 MitbestG. Findet dieses mehrstufige mitbestimmungsrechtliche Verfahren für den Widerruf der Bestellung Anwendung, kommt es bis zu seinem Abschluss zu einer Hemmung der zweiwöchigen Frist des § 626 Abs. 2 BGB.312) d)

Rechtsschutz

Das betroffene Vorstandsmitglied kann gegen die Kündigung eine Feststellungsklage er- 104 heben, die sich gegen die Gesellschaft, vertreten durch den Aufsichtsrat (§ 112), richtet.313) Eine Verbindung mit der Klage gegen den Widerruf der Bestellung ist möglich.314) Die Fortzahlung der Bezüge kann im Wege der Leistungsklage geltend gemacht werden, für _____________ 303) Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 9 Rz. 138. 304) BGH, Urt. v. 5.4.1990 – IX ZR 16/89, NJW-RR 1990, 1330 = WM 1990, 1028; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 102. 305) Vgl. BGH, Urt. v. 15.6.1998 – II ZR 318/96, BGHZ 139, 89 = ZIP 1998, 1269 – zur GmbH; Janzen, NZG 2003, 468, 474; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 170. 306) BGH, Urt. v. 19.5.1980 – II ZR 169/79, ZIP 1980, 896 = NJW 1981, 166; BGH Urt. v. 10.9.2001 – II ZR 14/00, ZIP 2001, 1957, 1958 = DB 2001, 2438; OLG München, Urt. v. 14.3.2012 – 7 U 681/11, ZIP 2012, 1671 = AG 2012, 753; Densch/Kahlo, DB 1983, 811; Wiesner, BB 1981, 1533, 1536; a. A. noch: BGH, Urt. v. 6.4.1964 – II ZR 75/62, BGHZ 41, 282 = NJW 1964, 1367. 307) BGH Urt. v. 15.6.1998 – II ZR 318/96, BGHZ 139, 89, 92 = ZIP 1998, 1269 – zur GmbH; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 71; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 104. 308) BGH Urt. v. 15.6.1998 – II ZR 318/96, BGHZ 139, 89, 92 = ZIP 1998, 1269 – zur GmbH; BGH, Urt. v. 10.9.2001 – II ZR 14/00, ZIP 2001, 1957, 1958 = DB 2001, 2438 – zur GmbH; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 54. 309) BGH, Urt. v. 5.4.1990 – IX ZR 16/89, WM 1990, 1028, 1030 = NJW-RR 1990, 1330; Grumann/ Gillmann, DB 2003, 770, 774; Stein, ZGR 1999, 264, 275 ff. 310) BGH, Urt. v. 26.2.1996 – II ZR 114/95, ZIP 1996, 636 = DStR 1996, 676 – GmbH; BGH, Urt. v. 9.4.2013 – II ZR 273/11, WM 2013, 931 = ZIP 2013, 971 – zur GmbH; Fleischer-Thüsing, Hdb. VorstandsR, § 5 Rz. 66. 311) BGH, Urt. v. 26.2.1996 – II ZR 114/95, ZIP 1996, 636 = DStR 1996, 676 – zur GmbH; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 175; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 139. 312) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 104; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 84 Rz. 33; Krieger, Personalentscheidungen des Aufsichtsrats, 1981, S. 180; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 124; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 141; a. A. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 174; Kort in: GroßKomm-AktG, § 84 Rz. 525. 313) BGH Urt. v. 9.10.1986 – II ZR 284/85, ZIP 1986, 1381, 1382 = NJW 1987, 254; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 448. 314) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 84 Rz. 185; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 179; im Detail zur Zwei-Wochen-Frist bei außerordentlicher Kündigung Arnold/Schansker, NZG 2013, 1172.

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Bestellung und Abberufung des Vorstands

die sich regelmäßig ein Urkundenprozess (§§ 592 ff. ZPO) empfiehlt, da die Verteidigung der AG hier erheblich eingeschränkt ist.315) Sachlich zuständig sind regelmäßig gemäß § 13 GVG die Zivilgerichte.316) e)

Nachschieben von Gründen

105 Die maßgeblichen Gründe der Kündigung müssen nicht angegeben und dem Betroffenen lediglich auf Verlangen mitgeteilt werden. Nach ständiger Rechtsprechung können die Gründe ohne weitere Beschlussfassung im Rechtsstreit nachgeschoben werden, soweit sie bei Ausspruch der Kündigung objektiv vorlagen und dem kündigenden Gesellschaftsorgan nicht länger als zwei Wochen zuvor bekannt geworden waren.317) Es ist unerheblich, ob die nachgeschobenen Gründe die ursprüngliche Begründung nur ergänzen oder einen völlig neuen Sachverhalt darstellen, auf den die Kündigung nun gestützt wird.318) 106 Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens liegt das Recht zum Nachschieben von Gründen bei dem Insolvenzverwalter. Das Nachschieben ist dabei weder davon abhängig, ob dem die Kündigung aussprechenden Organ die Gründe ursprünglich bekannt waren, noch ist die Frist des § 626 Abs. 2 BGB einzuhalten.319) 4.

Ordentliche Kündigung durch die Gesellschaft

107 Eine ordentliche Kündigung kommt in Betracht, wenn der Anstellungsvertrag auf unbestimmte Zeit abgeschlossen oder diese bei einem befristeten Vertrag vereinbart wurde.320) Sie ist aufgrund der Regelung des § 84 Abs. 4 Satz 1 jedoch nur zulässig, wenn zuvor oder gleichzeitig ein Widerruf der Bestellung stattfindet, da ansonsten faktisch die Beendigung der Bestellung erzwungen werden könnte.321) 5.

Kündigung durch das Vorstandsmitglied

108 Auch der Vorstand kann gegenüber der Gesellschaft, vertreten durch den Aufsichtsrat (§ 112), die Kündigung aus wichtigem Grund erklären. Ein wichtiger Grund ist bspw. der Widerruf der Bestellung ohne wichtigen Grund,322) die Nichtzahlung der Vergütung323) oder die willkürliche Verweigerung der Entlastung324).325) 109 Durch sog. Change-of-Control-Klauseln können darüber hinaus bestimmte Kündigungsrechte verbunden mit Abfindungsansprüchen zugunsten des Vorstands im Fall eines Kontrollwechsels vereinbart werden.326) _____________ 315) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 78; Tschöpe/Wortmann, NZG 2009, 161, 167 f. 316) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 448. 317) BGH, Urt. v. 11.7.1978 – II ZR 266/77, WM 1978, 1123; BGH, Urt. v. 13.7.1998 – II ZR 131/97, AG 1998, 519 = WM 1998, 1779; BGH, Urt. v. 1.12.2003 – II ZR 161/02, BGHZ 157, 151 = ZIP 2004, 92, 93 = AG 2004, 142; OLG Düsseldorf, Urt. v. 24.2.2012 – I-16 U 177/10, AG 2012, 511, 512 f. = GWR 2012, 344. 318) BGH, Urt. v. 14.10.1991 – II ZR 239/90, ZIP 1992, 32, 35 = DB 1992, 260 – zur GmbH; Bauer/ Krieger, ZIP 2004, 1247, 1251. 319) BGH, Urt. v. 20.6.2005 – II ZR 18/03, NZA 2005, 1415, 1417 = ZIP 2005, 1365 – zur GmbH. 320) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 20 Rz. 16. 321) Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 110; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 142. 322) BAG, Urt. v. 8.8.2002 – 8 AZR 574/011, NZG 2002, 1177 = NZA 2002, 1323. 323) BAG, Urt. v. 8.8.2002 – 8 AZR 574/011, NZG 2002, 1177 = NZA 2002, 1323. 324) Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 108. 325) Vgl. mit weiteren Bsp.: Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 181. 326) Ausführlich: Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 79 f.

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§ 85

Bestellung durch das Gericht 6.

Einvernehmliche Aufhebung

Der Anstellungsvertrag kann jederzeit einvernehmlich aufgehoben werden.327) Aufhe- 110 bungsverträge sind von hoher praktischer Relevanz, da sie die einvernehmliche Aufhebung ermöglichen, wenn ein Grund für die außerordentliche Kündigung fehlt, die Gesellschaft und das Vorstandsmitglied die Zusammenarbeit aber bspw. aufgrund persönlicher Differenzen oder eines nicht den Erwartungen entsprechenden Geschäftsverlaufs beenden möchten.328) Über die Aufhebung entscheidet grundsätzlich der Gesamtaufsichtsrat durch Beschluss gemäß § 108, sofern die Zuständigkeit nicht an einen Ausschuss übertragen wurde.329) Um in einer solchen Konstellation die Entscheidungshoheit des Aufsichtsrats über den Widerruf der Bestellung zu wahren, muss der Aufhebungsvertrag unter einer entsprechenden aufschiebenden Bedingung abgeschlossen werden.330) VIII. Bestellung und Abberufung des Arbeitsdirektors in mitbestimmten Gesellschaften (§ 84 Abs. 5) § 84 Abs. 5 bezieht sich für die Abberufung des Arbeitsdirektors in montanmitbestimm- 111 ten Gesellschaften auf die Spezialregelungen des § 13 Abs. 1 Satz 2, Satz 3 MontanMitbestG. Danach kann ein Arbeitsdirektor nicht gegen die Stimmen der Mehrheit der an der Abstimmung beteiligten Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat bestellt oder abberufen werden. Eine Abberufung unter Verletzung des § 13 Abs. 1 Satz 2, Satz 3 MontanMitbestG ist unwirksam.331) _____________ 327) 328) 329) 330) 331)

Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 183; Kort in: GroßKomm-AktG, § 84 Rz. 573. Seyfarth, Vorstandsrecht, § 20 Rz. 59. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 84 AktG Rz. 183. Hoffmann-Becking, ZIP 2007, 2101, 2102. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 84 Rz. 83; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 84 Rz. 212.

§ 85 Bestellung durch das Gericht Simon Link

(1) 1Fehlt ein erforderliches Vorstandsmitglied, so hat in dringenden Fällen das Gericht auf Antrag eines Beteiligten das Mitglied zu bestellen. 2Gegen die Entscheidung ist die Beschwerde zulässig. (1a) § 76 Absatz 3a gilt auch für die gerichtliche Bestellung. (2) Das Amt des gerichtlich bestellten Vorstandsmitglieds erlischt in jedem Fall, sobald der Mangel behoben ist. (3) 1Das gerichtlich bestellte Vorstandsmitglied hat Anspruch auf Ersatz angemessener barer Auslagen und auf Vergütung für seine Tätigkeit. 2Einigen sich das gerichtlich bestellte Vorstandsmitglied und die Gesellschaft nicht, so setzt das Gericht die Auslagen und die Vergütung fest. 3Gegen die Entscheidung ist die Beschwerde zulässig; die Rechtsbeschwerde ist ausgeschlossen. 4Aus der rechtskräftigen Entscheidung findet die Zwangsvollstreckung nach der Zivilprozeßordnung statt. Literatur: Mertens, Zulässigkeit der Bestellung eines Arbeitsdirektors nach § 85 trotz vorhandenem Personalvorstand?, AG 1979, 334.

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§ 85

Bestellung durch das Gericht Übersicht

I. Regelungsgegenstand und Regelungszweck ................................ II. Voraussetzungen der gerichtlichen Bestellung (Abs. 1) ............... 1. Fehlen eines erforderlichen Vorstandsmitglieds ............................ 2. Dringlichkeit ...................................... 3. Bestellungsverfahren ......................... I.

1 3 3 5 6

III. Rechtsstellung der gerichtlich bestellten Vorstandsmitglieder ........ 9 1. Allgemeines ......................................... 9 2. Dauer der Bestellung (§ 85 Abs. 2) ..................................... 10 3. Auslagenersatz und Vergütung (§ 85 Abs. 3) ..................................... 11

Regelungsgegenstand und Regelungszweck

1 § 85 Abs. 1 regelt die gerichtliche Ersatzbestellung eines Vorstandsmitglieds in dringenden Fällen. § 85 Abs. 2 betrifft die Bestelldauer und § 85 Abs. 3 die Vergütung des gerichtlich bestellten Vorstandsmitglieds. 2 Die Norm dient der Beseitigung einer Unterbesetzung des Vorstands, wenn der Aufsichtsrat seine Bestellungskompetenz gemäß § 84 nicht wahrnimmt. Ziel ist der Erhalt der Handlungs- und Prozessfähigkeit der Gesellschaft.1) § 85 geht dabei als abschließende lex specialis dem § 29 BGB vor.2) II.

Voraussetzungen der gerichtlichen Bestellung (Abs. 1)

1.

Fehlen eines erforderlichen Vorstandsmitglieds

3 Erste Voraussetzung von § 85 Abs. 1 ist das Fehlen eines erforderlichen Vorstandsmitglieds. Zu bejahen ist dies bei einem endgültigen Ausscheiden des Vorstandsmitglieds durch Tod, Amtsniederlegung, Widerruf der Bestellung oder Zeitablauf.3) Gleiches gilt bei Nichtigkeit der Bestellung, Nichtbesetzung einer neu geschaffenen Vorstandsposition oder wenn entgegen § 76 Abs. 3a die Mindestbeteiligungsquote beider Geschlechter nicht berücksichtigt oder entgegen § 76 Abs. 2 Satz 2 in mitbestimmten Gesellschaften kein Arbeitsdirektor bestellt wird. Außerdem greift § 85 bei einer schweren Krankheit, die die Annahme erlaubt, dass das Mitglied sein Amt gar nicht mehr ausüben kann.4) Wie sich aus einem Umkehrschluss zu § 105 ergibt, genügt dagegen eine bloß vorübergehende Verhinderung nicht.5) Kein Fehlen ist außerdem anzunehmen, wenn die erforderliche Mindestzahl von Vorstandsmitgliedern zwar durch den Aufsichtsrat bestellt wurde, die Wirksamkeit dieser Bestellung aber rechtlich zweifelhaft ist, weil die Wahl einzelner mitwirkender Aufsichtsratsmitglieder mit der Anfechtungs- oder Nichtigkeitsklage angegriffen wurde, über die noch nicht rechtskräftig entschieden wurde.6) 4 Das fehlende Vorstandsmitglied muss für eine Vertretungs- oder Geschäftsführungsmaßnahme erforderlich sein. Dies ist zu bejahen, wenn das Vorstandsmitglied für die Vertretung oder die Durchführung der jeweiligen Maßnahme notwendig ist.7) Etwa bei Aufgaben, die vom Gesamtvorstand wahrzunehmen sind (v. a. Leitungsaufgaben), ist der Vorstand _____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7)

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Begr. RegE in: Kropff, AktG, S. 107. Henssler/Strohn-Dauner-Lieb, GesR, § 85 AktG Rz. 1; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 85 Rz. 3. Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 85 Rz. 2; Hölters-Weber, AktG, § 85 Rz. 2. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 85 Rz. 2; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 3 Rz. 76; Hölters-Weber, AktG, § 85 Rz. 2; a. A. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 85 Rz. 2. Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 6 Rz. 90; Kort in: GroßKomm-AktG, § 85 Rz. 12; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 3 Rz. 76. OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 28.1.2008 – 20 W 399/07, OLGR Frankfurt 2008, 422 = AG 2008, 419. Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 85 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 85 Rz. 2.

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§ 85

Bestellung durch das Gericht

bei Unterbesetzung nicht handlungsfähig (siehe auch § 76 Rz. 64).8) Zur Passivvertretung hingegen genügt gemäß § 78 Abs. 2 Satz 2 bereits ein einzelnes Vorstandsmitglied; auch bei der Aktivvertretung kann vom Grundsatz der Gesamtvertretung durch oder aufgrund der Satzung abgewichen werden (siehe oben § 78 Rz. 21 ff.). Der Vorstandsvorsitzende kann vom Gericht nicht bestellt werden.9) In mitbestimmten Gesellschaften ist die Mitwirkung des Arbeitsdirektors für Entscheidungen im Bereich Arbeit und Soziales stets erforderlich.10) 2.

Dringlichkeit

Dringlichkeit liegt vor, wenn der Aufsichtsrat die Neubestellung nicht oder nicht schnell 5 genug vornimmt und der Gesellschaft, den Aktionären, Arbeitnehmern, Gläubigern oder sonstigen Dritten dadurch erhebliche Nachteile drohen.11) Der Wegfall des Arbeitsdirektors in mitbestimmten Gesellschaften begründet nach h. M. stets Dringlichkeit.12) 3.

Bestellungsverfahren

Die gerichtliche Bestellung erfolgt gemäß § 85 Abs. 1 auf Antrag eines Beteiligten. Dieser 6 muss schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle (§ 25 Abs. 1 FamFG) gestellt werden. Sachlich zuständig ist das AG gemäß § 23a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 4 GVG i. V. m. § 375 Nr. 3 FamFG. Örtlich zuständig ist gemäß § 377 FamFG i. V. m. § 14 AktG das Gericht am Sitz der Gesellschaft. Antragsberechtigter Beteiligter ist jeder, der ein schutzwürdiges Interesse an der Bestellung glaubhaft macht (Organmitglieder, Aktionäre, Gläubiger, Geschäftspartner, Arbeitnehmer).13) Mit dem Antrag kann ein für das Gericht unverbindlicher Personalvorschlag verbunden werden.14) Bei der Auswahl des Vorstandsmitglieds muss das Gericht die gesetzlichen Ausschluss- 7 gründe des § 76 Abs. 3 beachten. Gleiches gilt für die statuarischen Eignungsvoraussetzungen, sofern die Dringlichkeit der Notbestellung nicht entgegensteht.15) Ein Verstoß gegen diese satzungsmäßigen Voraussetzungen hat jedoch keinen Einfluss auf die Wirksamkeit der gerichtlichen Bestellung.16) Nach dem durch das FüPoG II17) neu eingefügten § 85 Abs. 1a gilt i. R. der gerichtlichen Bestellung auch das Mindestbeteiligungsgebot des § 76 Abs. 3a, das aber gemäß § 26l EGAktG erst ab dem 1.8.2022 Anwendung findet.

_____________ 8) BGH, Urt. v. 12.11.2001 – II ZR 225/99 (Sachsenmilch III), BGHZ 149, 158, 161 = ZIP 2002, 172, dazu EWiR 2002, 885 (Saenger/Bergjan); Seyfarth, Vorstandsrecht, § 3 Rz. 77. 9) Seyfarth, Vorstandsrecht, 2016, § 3 Rz. 77. 10) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 85 Rz. 2; Mertens, AG 1979, 334, 343 f.; Spindler in: MünchKommAktG, § 85 Rz. 5. 11) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 85 AktG Rz. 8; Heidel-Oltmanns, AktR, § 85 AktG Rz. 3; HöltersWeber, AktG, § 85 Rz. 4. 12) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 85 AktG Rz. 8; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 85 Rz. 4; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 20 Rz. 32; a. A. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 85 Rz. 3; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 85 Rz. 7 – „im Regelfall“; Hölters-Weber, AktG, § 85 Rz. 4. 13) KG Berlin, Beschl. v. 20.2.2007 – 1 W 323/06, AG 2007, 400, 401 = NZG 2007, 475, 476; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 85 Rz. 4; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 3 Rz. 78. 14) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 85 AktG Rz. 9; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 85 Rz. 14. 15) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 85 Rz. 6; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 85 Rz. 13; GrigoleitGrigoleit, AktG, § 85 Rz. 7; a. A. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 85 Rz. 14. 16) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 85 Rz. 6; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 85 Rz. 14. 17) Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (Zweites Führungspositionengesetz – FüPoG II) v. 7.8.2021, BGBl. I 2021, 3311.

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625

§ 85

Bestellung durch das Gericht

Liegen die Voraussetzungen für eine Ersatzbestellung vor, muss das Gericht dem Antrag stattgeben.18) 8 Die Entscheidung ergeht durch Beschluss, der mit Bekanntgabe (§ 40 FamFG) und Annahme des Amts durch den Bestellten wirksam wird. Der Beschluss ist gemäß § 38 Abs. 3 Satz 1 FamFG zu begründen. Die Bestellung ist gemäß § 81 Abs. 1 zur Eintragung ins Handelsregister anzumelden. Gegen die Entscheidung ist das Rechtsmittel der Beschwerde zulässig (§ 85 Abs. 1 Satz 2, §§ 58 ff. FamFG). Gemäß § 59 Abs. 2 FamFG ist im Falle der Zurückweisung des Antrags der Antragsteller beschwerdebefugt, gemäß § 59 Abs. 1 FamFG bei Stattgabe jeder Beeinträchtigte. Dies sind etwa die AG, die übrigen Vorstandsmitglieder, der Aufsichtsrat, mangels unmittelbarer eigener rechtlicher Betroffenheit jedoch nicht die Aktionäre.19) Gegen die Entscheidung des Beschwerdegerichts kann Rechtsbeschwerde zum BGH eingereicht werden, § 133 GVG, wenn sie nach § 70 FamFG statthaft ist. III.

Rechtsstellung der gerichtlich bestellten Vorstandsmitglieder

1.

Allgemeines

9 Die gerichtlich bestellte Person wird mit Annahme der Bestellung ein vollwertiges Vorstandsmitglied mit allen Rechten und Pflichten.20) Die Vertretungsmacht in Form der Allein- oder Gesamtvertretung (§ 78) richtet sich nach derjenigen des ersetzten Vorstandsmitglieds.21) In sachlicher Hinsicht bleibt es bei der Unbeschränktheit und Unbeschränkbarkeit der Vertretungsmacht aus § 82 Abs. 1.22) Die Beschränkung gilt jedoch nicht in der Insolvenz.23) Enthält der Bestellungsbeschluss keine Angaben über Umfang der Geschäftsführungsbefugnis gelten die Regelungen von Gesetz oder Satzung.24) 2.

Dauer der Bestellung (§ 85 Abs. 2)

10 Gemäß § 85 Abs. 2 endet das Amt des Notvorstands spätestens, sobald der Mangel behoben ist, also insbesondere durch ordnungsgemäße Vorstandsbestellung und deren Annahme durch den Bestellten. Die Organstellung endet in diesem Fall von Rechts wegen, es bedarf keiner Abberufung.25) Die Erfüllung der dem Notvorstand übertragenen Aufgabe oder der Entfall der Dringlichkeit allein ist dagegen kein Fall der Mangelbehebung.26) Der gerichtlich bestellte Notvorstand kann vor dem in § 85 Abs. 2 bestimmten Zeitpunkt nur durch das Gericht von Amts wegen bei Vorliegen eines wichtigen Grundes abberufen werden, der Aufsichtsrat ist dagegen hierzu nicht befugt.27) Dieser kann lediglich entsprechend § 112 einen diesbezüglichen Antrag an das Gericht stellen.28) _____________ 18) Kort in: GroßKomm-AktG, § 85 Rz. 48; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 85 Rz. 11. 19) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 11.10.1955 – W 210/55, NJW 1955, 1929; Fleischer in: BeckOGKAktR, § 85 AktG Rz. 13; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 85 Rz. 4; Kort in: GroßKomm-AktG, § 85 Rz. 66; a. A. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 85 Rz. 13. 20) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 85 Rz. 5; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 3 Rz. 82; Grigoleit-Vedder, AktG, § 85 Rz. 7; Hölters-Weber, AktG, § 85 Rz. 9. 21) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 85 AktG Rz. 13; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 85 Rz. 15. 22) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 85 Rz. 9. 23) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 85 AktG Rz. 14; Grigoleit-Grigoleit, AktG, § 85 Rz. 8. 24) Heidel-Oltmanns, AktR, § 85 AktG Rz. 5. 25) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 85 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 85 Rz. 10; Hölters-Weber, AktG, § 85 Rz. 10. 26) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 85 AktG Rz. 16; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 85 Rz. 17; Heidel-Oltmanns, AktR, § 85 AktG Rz. 6. 27) Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 85 Rz. 7; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 3 Rz. 83; HöltersWeber, AktG, § 85 Rz. 10. 28) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 85 Rz. 22.

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§ 87

Grundsätze für die Bezüge der Vorstandsmitglieder 3.

Auslagenersatz und Vergütung (§ 85 Abs. 3)

Die Bestellung gemäß § 85 begründet eine Organstellung, jedoch kein schuldrechtliches 11 Anstellungsverhältnis.29) Gemäß § 85 Abs. 3 Satz 1 hat das gerichtlich bestellte Vorstandsmitglied daher einen Anspruch auf Ersatz angemessener barer Auslagen sowie auf eine Vergütung für seine Tätigkeit. Sofern die AG, vertreten durch den Aufsichtsrat, und das Vorstandsmitglied sich über deren Höhe nicht einigen, wird diese gemäß § 85 Abs. 3 Satz 2 durch das Gericht festgesetzt. Gegen diese Entscheidung ist gemäß § 85 Abs. 3 Satz 3 die Beschwerde zulässig. Eine Rechtsbeschwerde ist dagegen gemäß § 85 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 2 ausgeschlossen. Aus der rechtskräftigen Festsetzung von Auslagen und Vergütung findet gemäß § 85 Abs. 3 Satz 4 die Zwangsvollstreckung nach den Regelungen der ZPO statt. _____________ 29) Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 20 Rz. 35.

§ 86 (aufgehoben)

1) Simon Link

_____________ 1)

Aufgehoben durch Art. 1 des Gesetzes v. 19.7.2002 – TrPublG, BGBl. I 2002, 2681.

§ 87 Grundsätze für die Bezüge der Vorstandsmitglieder Simon Link

(1) 1Der Aufsichtsrat hat bei der Festsetzung der Gesamtbezüge des einzelnen Vorstandsmitglieds (Gehalt, Gewinnbeteiligungen, Aufwandsentschädigungen, Versicherungsentgelte, Provisionen, anreizorientierte Vergütungszusagen wie zum Beispiel Aktienbezugsrechte und Nebenleistungen jeder Art) dafür zu sorgen, dass diese in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben und Leistungen des Vorstandsmitglieds sowie zur Lage der Gesellschaft stehen und die übliche Vergütung nicht ohne besondere Gründe übersteigen. 2Die Vergütungsstruktur ist bei börsennotierten Gesellschaften auf eine nachhaltige und langfristige Entwicklung der Gesellschaft auszurichten. 3Variable Vergütungsbestandteile sollen daher eine mehrjährige Bemessungsgrundlage haben; für außerordentliche Entwicklungen soll der Aufsichtsrat eine Begrenzungsmöglichkeit vereinbaren. 4Satz 1 gilt sinngemäß für Ruhegehalt, Hinterbliebenenbezüge und Leistungen verwandter Art. (2) 1Verschlechtert sich die Lage der Gesellschaft nach der Festsetzung so, dass die Weitergewährung der Bezüge nach Absatz 1 unbillig für die Gesellschaft wäre, so soll der Aufsichtsrat oder im Falle des § 85 Absatz 3 das Gericht auf Antrag des Aufsichtsrats die Bezüge auf die angemessene Höhe herabsetzen. 2Ruhegehalt, Hinterbliebenenbezüge und Leistungen verwandter Art können nur in den ersten drei Jahren nach Ausscheiden aus der Gesellschaft nach Satz 1 herabgesetzt werden. 3Durch eine Herabsetzung wird der Anstellungsvertrag im übrigen nicht berührt. 4Das Vorstandsmitglied kann jedoch seinen Anstellungsvertrag für den Schluß des nächsten Kalendervierteljahrs mit einer Kündigungsfrist von sechs Wochen kündigen.

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§ 87

Grundsätze für die Bezüge der Vorstandsmitglieder

(3) Wird über das Vermögen der Gesellschaft das Insolvenzverfahren eröffnet und kündigt der Insolvenzverwalter den Anstellungsvertrag eines Vorstandsmitglieds, so kann es Ersatz für den Schaden, der ihm durch die Aufhebung des Dienstverhältnisses entsteht, nur für zwei Jahre seit dem Ablauf des Dienstverhältnisses verlangen. (4) Die Hauptversammlung kann auf Antrag nach § 122 Absatz 2 Satz 1 die nach § 87a Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 festgelegte Maximalvergütung herabsetzen. Literatur: Annuß/Theusinger, Das VorstAG – Praktische Hinweise zum Umfang mit dem neuen Recht, BB 2009, 2434; Arnold/Herzberg/Zeh, Vorstandsvergütung und Nachhaltigkeit, AG 2021, 141; Bauer/Arnold, Festsetzung und Herabsetzung der Vorstandsvergütung nach dem VorstAG, AG 2009, 717; Bauer/Baeck/v. Medem, Altersversorgung und Übergangsgeld in Vorstandsanstellungsverträgen, NZG 2010, 721; Bayer/Meier-Wehrsdorfer, Abfindungsleistungen an Manager, AG 2013, 477; Boeckmann, Die Zulässigkeit von Leistungen Dritter an Mitglieder des Vorstands der unabhängigen Aktiengesellschaft, 2018; Bosse, Das Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG) – Überblick und Handlungsbedarf, BB 2009, 1650; Brandes, Rückzahlung überhöhter Vorstandsgehälter, ZIP 2013, 1107; Deilmann/Dornbusch, Drittanstellungen im Konzern, NZG 2016, 201; Diekmann/Punte, Aktuelles zu Drittanstellung, Drittvergütung und Haftung von Mitgliedern des AG-Vorstands, WM 2016, 681; Diller, Nachträgliche Herabsetzung von Vorstandsvergütungen und -ruhegeldern nach dem VorstAG, NZG 2009, 1006; Dreher, Change of control-Klauseln bei Aktiengesellschaften, AG 2002, 214; Fleischer, Aufsichtsratsverantwortlichkeit für die Vorstandsvergütung und Unabhängigkeit der Vergütungsberater, BB 2010, 67; Fleischer, Das Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG), NZG 2009, 801; Fleischer, Zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung im Aktienrecht (Teil II), DStR 2005, 1318; Fleischer/Bauer, Von Vorstandsbezügen, Flugreisen, Festschriften, Firmensponsoring und Festessen: Vorstandshaftung für übermäßige Vergütung und „fringe benefits“, ZIP 2015, 1901; Fonk, Die Zulässigkeit von Vorstandsbezügen dem Grunde nach – Aktienrechtliche Anmerkungen zum Urteil des LG Düsseldorf, NZG 2004, 1057 – Mannesmann, NZG 2005, 248; Gaul, Das Vergütungsvotum der Hauptversammlung nach § 120 Abs. 4 AktG im Lichte der Reform der Aktionärsrechte-Richtlinie, AG 2017, 178; Göcke/Greubel, Herabsetzung der Vorstandsvergütung in der Insolvenz, ZIP 2009, 2086; Götze, Aktienrechtsnovelle – und ein (vorläufiges) Ende!, NZG 2016, 48; Habersack, Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung – Grundsatz- und Anwendungsfragen im Lichte der Aktionärsrechterichtlinie, NZG 2018, 127; Herrler, Das Vergütungsvotum der Hauptversammlung, ZHR 184 (2020) 408; Hohaus/Weber, Die Angemessenheit der Vorstandsvergütung gem. § 87 AktG nach dem VorstAG, DB 2009, 1515; Hoffmann-Becking, Vorstandsvergütung nach Mannesmann, NZG 2006, 127; Hoffmann-Becking, Rechtliche Anmerkungen zur Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung, ZHR 169 (2005) 155; Hoffmann-Becking, Gestaltungsmöglichkeiten bei Anreizsystemen, NZG 1999, 797; Hoffmann-Becking/Krieger, Leitfaden zur Anwendung des Gesetzes zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG), NZG Beilage z. Heft 26/2009, S. 1; Hohenstatt, Das Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung, ZIP 2009, 1349; Hohenstatt/Kuhnke, Vergütungsstruktur und variable Vergütungsmodelle für Vorstandsmitglieder nach dem VorstAG, ZIP 2009, 1981; Hohenstatt/Seibt, DCGK-Reform 2019: Neue Leitplanken für die Gestaltung unternehmenswohlfördernder Vorstandsvergütung?, ZIP 2019, 11; Hohenstatt/Seibt/Wagner, Einbeziehung von Vorstandsmitgliedern in ergebnisabhängige Vergütungssysteme von Konzernobergesellschaften, ZIP 2008, 2289; Hüffer, Unangemessenheit der Vorstandsvergütung als Haftungsrisiko von Aufsichtsratsmitgliedern, in: Festschrift für Hoffmann-Becking, 2013, S. 589; Ihrig/Wandt/Wittgens, Die angemessene Vorstandsvergütung drei Jahre nach Inkrafttreten des VorstAG, ZIP Beilage z. Heft 40/2012, S. 1; Kalb/Fröhlich, Die Drittvergütung von Vorständen, NZG 2014, 167; van Kann/Eigler, Aktuelle Neuerungen des Corporate Governance Kodex, DStR 2007, 1730; Kling, Die Angemessenheit der Vorstandsvergütung gemäß § 87 AktG n. F., DZWIR 2010, 221; Koch, Die Herabsetzung der Vorstandsbezüge gem. § 87 II AktG nach dem VorstAG, WM 2010, 49; Kort, Herabsetzung von Vorstandsbezügen gem. § 87 II AktG in der

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Grundsätze für die Bezüge der Vorstandsmitglieder

§ 87

Insolvenz der AG, NZG 2015, 369; Kort, Zivilrechtliche Folgen unangemessen hoher Vorstandsvergütung – eine „Mannesmann“-Spätlese, DStR 2007, 1127; Kort, Voraussetzungen der Zulässigkeit einer D&O-Versicherung von Organmitgliedern, DStR 2006, 799; Kort, Das „Mannesmann”-Urteil im Lichte von § 87 AktG, NJW 2005, 333; Korts, Die Vereinbarung von Kontrollwechselklauseln in Vorstandsverträgen, BB 2009, 1876; Lanfermann/Maul, Maßnahmenpaket der Europäischen Kommission zum Gesellschaftsrecht und Corporate Governance, BB 2014, 1283; Leuering, Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung in der geänderten Aktionärsrechterichtlinie, NZG 2017, 646; Leuering/Rubner, Vorstandsvergütung: Neue Mitspracherechte der Hauptversammlung, NJW Spezial 2013, 335; Lingemann, Angemessenheit der Vorstandsvergütung – Das VorstAG ist in Kraft, BB 2009, 1918; Louven/Ingwersen, Wie nachhaltig muss Vorstandsvergütung sein?, BB 2013, 1219; Lücke, Die Angemessenheit von Vorstandsbezügen – Der erste unbestimmbare unbestimmte Rechtsbegriff?, NZG 2005, 692; Mayer-Uellner, Zur Zulässigkeit finanzieller Leistungen Dritter an die Mitglieder des Vorstands, AG 2011, 193; Mense/Klie, Deutscher Corporate Governance Kodex 2017 – Auswirkungen der aktuellen Änderungen für die Praxis, BB 2017, 771; Mertens, Vorstandsvergütung in börsennotierten Aktiengesellschaften, AG 2011, 57; Mutter, Zur Anpassung der Vergütung von Aufsichtsräten an den Deutschen Corporate Governance Kodex, ZIP 2002, 1230; Poelzig, Rückforderung der variablen Vorstandsvergütung (Clawback) in börsennotierten Gesellschaften, NZG 2020, 41; Rahlmeyer/v. Eiff, Die Herabsetzung der Vorstandsvergütung gem. § 87 II AktG, NZG 2021, 397; Redenius-Hövermann/Siemens, Zur Herabsetzung der Vorstandsvergütung gem. § 87 Abs. 2 AktG de lege lata und de lege ferenda, ZIP 2020, 1585; Reuter, Die aktienrechtliche Zulässigkeit von Konzernanstellungsverträgen, AG 2011, 274; Säcker/Stenzel, Das zivilrechtliche Schicksal von gegen § 87 I AktG verstoßenden Vergütungsvereinbarungen, JZ 2006, 1151; Schüppen, Die Vorstandsvergütungs-Empfehlung des Kodex zu Change of Control-Klauseln – Problem erkannt, Gefahr gebannt?, in: FS Seibert, 2019, S. 793; Schwark, Zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung, in: Festschrift für Thomas Raiser, 2005, S. 377; Seibert, Die Koalitionsarbeitsgruppe „Managervergütungen“: Rechtspolitische Überlegungen zur Beschränkung der Vorstandsvergütung (Ende 2007 bis März 2009), in: Festschrift für Uwe Hüffer, 2010, S. 955; Seibert, Das VorstAG – Regelungen zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung und zum Aufsichtsrat, WM 2009, 1489; Seibert, Finanzmarktkrise, Corporate Governance, Aufsichtsrat, DB 2009, 1167; Semler, Das VorstAG – ein in weiten Teilen überflüssiges Gesetz, in Festschrift für Uwe H. Schneider, 2011, S. 1227; Semler, Rechenschaftslegung im Wandel, in: Festschrift für Wolfgang Dieter Budde, 1995, S. 599; Spindler, Rechtsfolgen einer unangemessenen Vorstandsvergütung, AG 2011, 725; Spindler, Die Neuregelung der Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung im ARUG II, AG 2020, 61; Sünner, Die zukünftige Beschlussfassung der Hauptversammlung über das Vorstandsvergütungssystem, CCZ 2013, 169; Thole/Schmidberger, Die Insolvenzanfechtung von (überhöhten) Gehältern und Vergütungen von Geschäftsleitern und Sanierungsberatern, BB 2014, 3; Thüsing, Das Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung, AG 2009, 517; Thüsing, ECLR – Auf der Suche nach dem iustum pretium der Vorstandstätigkeit, ZGR 2003, 457; Tröger, Anreizorientierte Vorstandsvergütung im faktischen Konzern, ZGR 2009, 447; Velte, Say on Pay-Regulierung nach der Neufassung der Richtlinie 2007/36/EU und 2013/34/EU, NZG 2017, 368; Velte, „Nachhaltige“ Vorstandsvergütung bei börsennotierten Aktiengesellschaften – Notwendige Einbeziehung von nichtfinanziellen Leistungsindikatoren?, NZG 2016, 294; Velte, „Nachhaltige und langfristige“ Vorstandsvergütung nach dem ARUG II, NZG 2020, 12; Verse, Regulierung der Vorstandsvergütung – mehr Macht für Aktionäre? Überlegungen zur geplanten Reform des say on pay, NZG 2013, 921; Wagner, Nachhaltige Unternehmensentwicklung als Ziel der Vorstandsvergütung, AG 2010, 778; Waldhausen/Schüller, Variable Vergütung von Vorständen und weiteren Führungskräften im AG-Konzern, AG 2009, 179; Weber-Rey, Änderung des Deutschen Corporate Governance Kodex 2009, WM 2009, 2255; Weber-Rey/Buckel, Die Pflichten des Aufsichtsrats bei der Mandatierung des Vergütungsberaters, NZG 2010, 761; Weisner/Kölling, Herausforderung für den Aufsichtsrat: Herabsetzung von Vorstandsbezügen in Zeiten der Krise, NZG 2003, 465; Weller, Die Systemkohärenz des § 87 II AktG – Eingeschränkte Vertragstreue beim Vorstandsvertrag auf Grund Fremdinteres-

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§ 87

Grundsätze für die Bezüge der Vorstandsmitglieder

senwahrung, NZG 2010, 7; Wilsing/Winkler, Deutscher Corporate Governance Kodex 2019 – ein Überblick, BB 2019, 1603.

Übersicht I. Überblick ........................................... 1 II. Festsetzung der Vorstandsbezüge (§ 87 Abs. 1) ....................................... 4 1. Allgemeines ........................................ 4 2. Erfasste Leistungen ........................... 6 a) Gesamtbezüge (§ 87 Abs. 1 Satz 1) .......................................... 7 b) Versorgungsbezüge (§ 87 Abs. 1 Satz 4) ................... 10 3. Angemessenheit ............................... 11 a) Gesetzliche Kriterien ................ 14 aa) Aufgaben des Vorstandsmitglieds ..................................... 15 bb) Leistungen des Vorstandsmitglieds ..................................... 16 cc) Lage der Gesellschaft ................ 17 dd) Üblichkeit der Vergütung ......... 19 b) Weitere Kriterien ....................... 22 c) Ausrichtung an einer nachhaltigen und langfristigen Entwicklung ............................... 23 d) Begrenzungsmöglichkeit für außerordentliche Entwicklungen ................................. 28 I.

4. Einzelfragen ...................................... 29 a) Sondervergütungen, Anerkennungsprämien ............................. 29 b) Change-of-Control-Klauseln .... 30 5. Rechtsfolgen einer unangemessenen Vorstandsvergütung für die Organmitglieder ............................... 31 III. Herabsetzung der Vorstandsbezüge (§ 87 Abs. 2) ......................... 32 1. Allgemeines ....................................... 32 2. Voraussetzungen (§ 87 Abs. 2 Satz 1) ................................................ 33 3. Verfahren .......................................... 35 4. Kündigungsrecht und Rechtsschutz der Vorstandsmitglieder (§ 87 Abs. 2 Satz 4) .......................... 38 IV. Beschränkung von Schadensersatzansprüchen bei Insolvenz (§ 87 Abs. 3) ..................................... 39 V. Herabsetzung der Maximalvergütung durch die Hauptversammlung (§ 87 Abs. 4) ............. 40

Überblick

1 Gemäß § 87 Abs. 1 ist der Aufsichtsrat verpflichtet, für eine angemessene Vorstandsvergütung zu sorgen und die Vergütungsstruktur bei börsennotierten Gesellschaften an einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung auszurichten. Nach § 87 Abs. 2 soll der Aufsichtsrat die Bezüge auf eine angemessene Höhe herabsetzen, wenn sich die Lage der Gesellschaft so verschlechtert, dass die volle Weitergewährung der Bezüge unbillig wäre. Kommt es aufgrund Insolvenz zu einer Kündigung des Anstellungsvertrages, werden durch § 87 Abs. 3 mögliche Schadensersatzansprüche des betroffenen Vorstandsmitglieds beschränkt. 2 Die Norm dient dem Schutz der AG, ihrer Aktionäre, Gläubiger und Arbeitnehmer vor übermäßig hohen Vorstandsbezügen.1) § 87 ist dagegen keine Schutznorm zugunsten der Vorstandsmitglieder und gewährt keinen Anspruch auf ein angemessenes Gehalt.2) In der Krise bezweckt die Regelung des § 87 Abs. 2, den Vorstand unter Abweichung von dem Grundsatz „pacta sunt servanda“ i. R. von dessen Treupflicht am Schicksal der Gesellschaft teilhaben zu lassen.3) Die Vorgaben des § 87 beschränken die Vertragsfreiheit und gehen über die allgemeinen Grenzen der §§ 134, 138, 242 BGB hinaus. Durch die Neufas_____________ 1) 2) 3)

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Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 87 Rz. 1; Deilmann/Dornbusch, NZG 2016, 201, 202; Grigoleit-Schwennicke, AktG, § 87 Rz. 1; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 87 Rz. 2. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 1; Hölters-Weber, AktG, § 84 Rz. 45. BGH, Urt. v. 27.10.2015 – II ZR 296/14, NZG 2016, 264, 265 = ZIP 2016, 310, dazu EWiR 2016, 199 (Seibt); Weller, NZG 2010, 7, 10.

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Grundsätze für die Bezüge der Vorstandsmitglieder

§ 87

sung i. R. des VorstAG mit Wirkung vom 5.8.2009 sollten strengere Kriterien für die Angemessenheit der Bezüge eingeführt und insbesondere eine Orientierung der Vergütungsstruktur an einer langfristigen, nachhaltigen Unternehmensführung erreicht werden.4) Der DCGK enthält in G. 1 bis G. 16 Empfehlungen zur Vorstandsvergütung. Durch das ARUG II5) mit Wirkung vom 1.1.2020 wurde die Formulierung des Absatz 1 3 Satz 2 geändert und „langfristig“ ergänzt sowie in Absatz 4 die Möglichkeit der Hauptversammlung, die Maximalvergütung des Vorstands herabzusetzen, eingeführt. Die Regelung in § 87 Abs. 4 ist nicht durch die Zweite Aktionärsrechterichtlinie (ARRL II)6) erforderlich, sondern eine national-staatlich autonome Regelung.7) II.

Festsetzung der Vorstandsbezüge (§ 87 Abs. 1)

1.

Allgemeines

Zuständig für die Festsetzung der Vorstandsbezüge ist der Gesamtaufsichtsrat. Die Ent- 4 scheidung kann gemäß § 107 Abs. 3 Satz 4 nicht auf einen Ausschuss übertragen werden. Dieser kann lediglich vorbereitende oder ausführende Aufgaben übernehmen, bspw. durch Sammeln von Informationen, Führen von Verhandlungen mit den Vorstandskandidaten und Ausarbeitung eines Kandidatenvorschlags.8) Sonstige Führungskräfte sind nicht erfasst. Deren Bezüge hat der Vorstand unter Beachtung von § 93 Abs. 1 Satz 1 in angemessener Höhe festzusetzen.9) Nach wohl herrschender, allerdings im Einzelnen stark umstrittener Auffassung bedarf 5 auch eine von Dritten gewährte Vergütung der Zustimmung des Aufsichtsrats, jedenfalls soweit sie einen Interessenkonflikt für die Vorstandsmitglieder begründen kann.10) 2.

Erfasste Leistungen

§ 87 regelt sowohl die Gesamt- als auch die Versorgungsbezüge für aktive Vorstands- 6 mitglieder und ihre Stellvertreter (§ 94). a)

Gesamtbezüge (§ 87 Abs. 1 Satz 1)

Gesamtbezüge sind alle Leistungen, die einem aktiven Vorstandsmitglied mit Rück- 7 sicht auf seine Tätigkeit für die Gesellschaft gewährt werden.11) Der Begriff ist also weit zu verstehen. Die Aufzählung im Klammerzusatz des § 87 Abs. 1 Satz 1 (Gehalt, Gewinnbeteiligungen, Aufwandsentschädigungen, Versicherungsentgelte, Provisionen, anreizorientierte Vergütungszusagen wie z. B. Aktienbezugsrechte und Nebenleistungen jeder Art) ist insofern nicht abschließend.12) _____________ 4) Begr. RegE VorstAG, BT-Drucks. 16/12278, S. 5 f.; eingehend: Seibert in: FS Hüffer, S. 955 ff. 5) Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2637 ff. 6) Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre (Zweite Aktionärsrechterichtlinie – ARRL II), ABl. (EU) L 132/1 v. 20.5.2017. 7) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 49. 8) Annuß/Theusinger, BB 2009, 2434, 2439; Lingemann, BB 2009, 1918, 1922; Thüsing, AG 2009, 517, 524. 9) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 9; Hölters-Weber, AktG, § 87 Rz. 4. 10) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87 AktG Rz. 14; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 7; Boeckmann, Die Zulässigkeit von Leistungen Dritter an Mitglieder des Vorstands der unabhängigen Aktiengesellschaft, S. 179; a. A.: Kalb/Fröhlich, NZG 2014, 167, 169. 11) Hoffmann-Becking, ZHR 169 (2005) 155, 156; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 87 Rz. 24. 12) Hoffmann-Becking/Krieger, NZG Beilage z. Heft 26/2009, S. 1; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 12 Rz. 197.

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§ 87

Grundsätze für die Bezüge der Vorstandsmitglieder

8 Unter die im Klammerzusatz genannten Nebenleistungen fallen etwa privat genutzte Kommunikationseinrichtungen, Wohnrechte, die Abordnung von Personal für den privaten Bereich, das Recht zur privaten Nutzung von PKW und Flugzeugen oder die Übernahme von medizinischen Kosten.13) Ob Beiträge für D&O-Versicherungen Teil der Gesamtbezüge oder dienstliche Fürsorgeaufwendungen der Gesellschaft für den Vorstand sind, ist dagegen umstritten. Diese Frage ist zum einen für die Zuständigkeit zum Abschluss entsprechender Versicherungen und zum anderen für die Geltung der in § 87 geltenden Anforderungen relevant.14) In der Praxis entschärfen Satzungsregelungen häufig das Problem.15) Da Hauptzweck entsprechender Versicherungen die Gewährleistung der Bonität des haftenden Vorstands im Innenverhältnis gegenüber der Gesellschaft ist, fallen diese nach überzeugender Ansicht nicht unter die Gesamtbezüge.16) Leistungszusagen i. R. sog. Change-of-Control-Klauseln17) werden ebenso wie Abfindungszahlungen bei vorzeitigem Ausscheiden aus dem Amt von § 87 erfasst und müssen dessen Voraussetzungen erfüllen.18) Als Orientierung kann die Grenze des Abfindungs-Caps in G. 13 DCGK herangezogen werden, wobei nach G. 14 DCGK nun für den Fall einer einseitigen Beendigung durch den Vorstand keine Leistungszusagen gewährt werden sollen.19) 9 Anreizorientierte Vergütungszusagen umfassen Gewinnbeteiligungen, Aktienbezugsrechte (Stock Options) und sonstige aktienbasierte Vergütungen wie Phantom-Stock-Programme.20) Auch Drittvergütungen, die dem Vorstandsmitglied für seine Tätigkeit gewährt werden, fallen unter § 87 und zwar unabhängig davon, ob eine Erstattungsvereinbarung vorliegt.21) Dazu zählen insbesondere von Konzerngesellschaften gezahlte Bezüge. Nicht erfasst sind dagegen Zahlungen der AG i. R. von Verkehrsgeschäften mit dem Vorstand, sofern diese einem Drittvergleich standhalten und keine verdeckte Vorstandsvergütung darstellen.22) Vergütungen für eine Tätigkeit in einer Drittgesellschaft, z. B. als Aufsichtsratsoder Beiratsmitglied, zählen jedoch nicht zu den Gesamtbezügen.23) b)

Versorgungsbezüge (§ 87 Abs. 1 Satz 4)

10 Bei den Versorgungsbezügen handelt es sich um Leistungen, die ehemaligen Vorstandsmitgliedern oder deren Hinterbliebenen durch die Gesellschaft oder einem Dritten auf deren Rechnung gewährt werden.24) Versorgungsbezüge sind grundsätzlich zulässig, unterliegen gemäß § 87 Abs. 1 Satz 4 jedoch auch dem Angemessenheitsgebot.25) _____________ 13) LG Essen, Urt. v. 9.9.2013 – 44 O 164/10, ZIP 2015, 1901 = BeckRS 2014, 22313; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 6; Semler in: FS Schneider, S. 1227, 1229 f. 14) Kort, DStR 2006, 799, 802; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 87 Rz. 26. 15) Mutter, ZIP 2002, 1230, 1231. 16) Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 12 Rz. 197; Kort, DStR 2006, 799, 802; Mertens/ Cahn in: KölnKomm-AktG, § 87 Rz. 19 f.; Hölters-Weber, AktG, § 87 Rz. 7; a. A. Schwark in: FS Raiser, S. 377, 380. 17) Dazu ausführlich Hoffmann-Becking, ZHR 169 (2005) 155, 170 ff.; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 55 ff. 18) Bayer/Meier-Wehrsdorfer, AG 2013, 477, 482; Dreher, AG 2002, 214, 216; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 33; van Kann/Eigler, DStR 2007, 1730 ff. 19) Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Bachmann, DCGK, G. 14 Rz. 6 ff. 20) Hölters-Weber, AktG, § 87 Rz. 5. 21) Diekmann/Punte, WM 2016, 681, 685 – jedoch mit weiteren Angemessenheitskriterien; Mayer-Uellner, AG 2011, 193, 198 f.; a. A. Deilmann/Dornbusch, NZG 2016, 201, 202 ff.; Kalb/Fröhlich, NZG 2014, 167, 169; Reuter, AG 2011, 274, 279. 22) Kort in: GroßKomm-AktG, § 87 Rz. 49 f. 23) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 10. 24) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 87 Rz. 34. 25) Vgl. dazu ausführlich Bauer/Baeck/v. Medem, NZG 2010, 721 ff.

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Grundsätze für die Bezüge der Vorstandsmitglieder 3.

§ 87

Angemessenheit

Gemäß § 87 Abs. 1 Satz 1 hat der Aufsichtsrat bei der Festsetzung der Bezüge dafür zu 11 sorgen, dass diese in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben und Leistungen des Vorstandsmitglieds sowie der Lage der Gesellschaft stehen und die übliche Vergütung nicht ohne besondere Gründe übersteigen. Diese gesetzlichen Bewertungskriterien sind nicht abschließend.26) Darüber hinaus sind bei der Entscheidung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls weitere Gesichtspunkte heranzuziehen. Bei börsennotierten Gesellschaften enthalten außerdem G. 2 bis G. 11 DCGK-Empfehlungen zur Festlegung einer angemessenen Vergütung. Die Angemessenheitsprüfung hat sowohl die Gesamtbezüge als auch die Versorgungs- 12 bezüge zum Gegenstand.27) Der Aufsichtsrat hat dabei die Angemessenheit in einer komplexen Gemengelage von verschiedenen Faktoren im Einzelfall zu beurteilen.28) Dabei kann, bspw. in Krisensituationen, auch eine relativ niedrige Basisvergütung und eine hohe variable Vergütung für das Erreichen eines Turnarounds vereinbart werden.29) Die Angemessenheit ist im Zeitpunkt der Festsetzung der Bezüge zu beurteilen. Soweit nichts anderes vereinbart ist, kann eine nachträgliche Änderung der Umstände nur i. R. einer Anpassung der Vergütung gemäß Absatz 2 relevant werden.30) Bei der Festlegung der Bezüge handelt es sich um eine unternehmerische Entscheidung des Aufsichtsrats, so dass die Business Judgement Rule gemäß §§ 116 i. V. m. 93 Abs. 1 Satz 2 gilt.31) Dabei sollten die Entscheidungsprozesse sorgfältig dokumentiert werden, um möglichen Haftungsrisiken vorzubeugen.32) Die Hinzuziehung eines Vergütungsberaters steht regelmäßig im Ermessen des Aufsichts- 13 rats.33) Auch in diesem Fall trifft der Aufsichtsrat jedoch eine eigene Vergütungsentscheidung. Dabei kann er sich auf den Berater nur verlassen, wenn er vernünftigerweise von dessen Unabhängigkeit ausgehen durfte und dessen Empfehlung einer Plausibilitätskontrolle unterzogen hat.34) Gemäß § 120 Abs. 4 Satz 1 kann die Hauptversammlung börsennotierter Gesellschaften über die Billigung des Systems zur Vorstandsvergütung beschließen. Dieser Beschluss begründet jedoch weder Rechte noch Pflichten und lässt insbesondere die Verpflichtung des Aufsichtsrats gemäß § 87 unberührt.35)

_____________ 26) OLG München, Urt. v. 7.5.2008 – 7 U 5618/07, ZIP 2008, 1237 = AG 2008, 593; Henssler/StrohnDauner-Lieb, GesR, § 87 AktG Rz. 14; Grigoleit-Schwennicke, AktG, § 87 Rz. 13; Lücke, NZG 2005, 692, 696. 27) Bauer/Baeck/v. Medem, NZG 2010, 721, 725 f.; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 87 Rz. 21; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 7; a. A. – Durchführung einer getrennten Angemessenheitsprüfung für Gesamtbezüge und Versorgungsbezüge – Hölters-Weber, AktG, § 87 Rz. 9. 28) Thüsing, ZGR 2003, 457, 468. 29) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 11; Hölters-Weber, AktG, § 87 Rz. 5. 30) Begr. RegE in: Kropff, AktG, S. 111; Fleischer-Thüsing, Hdb. VorstandsR, § 6 Rz. 4; Hölters-Weber, AktG, § 87 Rz. 18. 31) Fleischer, BB 2010, 67, 70; Hoffmann-Becking, NZG 2006, 127, 128; Grigoleit-Schwennicke, AktG, § 87 Rz. 6. 32) Fleischer, DStR 2005, 1318, 1319. 33) Weber-Rey/Buckel, NZG 2010, 761, 762; Fleischer, BB 2010, 67, 70; Hoffmann-Becking/Krieger, NZG Beilage z. Heft 26/2009, S. 1, 2. 34) Fleischer, BB 2010, 67, 74. 35) Sünner, CCZ 2013, 169.

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§ 87 a)

Grundsätze für die Bezüge der Vorstandsmitglieder Gesetzliche Kriterien

14 Nach dem Gesetzeswortlaut hat sich die Angemessenheitsprüfung an folgenden vier Aspekten zu orientieren: –

Aufgaben des Vorstandsmitglieds,



Leistungen des Vorstandsmitglieds,



Lage der Gesellschaft und



Üblichkeit der Vergütung.

aa)

Aufgaben des Vorstandsmitglieds

15 Die Aufgaben eines Vorstandsmitglieds ergeben sich aus dem Tätigkeitsbereich, der dem Vorstandsmitglied durch Anstellungsvertrag, Satzung oder Geschäftsordnung zugewiesen ist.36) Maßgeblich ist dabei die Art, Umfang und Komplexität der übernommenen Tätigkeit sowie das Maß an Verantwortung.37) Insbesondere die tatsächlich herausgehobene Aufgabenstellung des Vorstandsvorsitzenden kann deutlich höhere Bezüge rechtfertigen.38) Unterschiede in der Vergütung verstoßen dabei nicht gegen die grundsätzliche Gleichberechtigung der Vorstandsmitglieder und deren Gesamtverantwortung.39) bb)

Leistungen des Vorstandsmitglieds

16 Das Leistungskriterium, das bereits vor seiner ausdrücklichen Normierung für die Angemessenheitsbeurteilung herangezogen wurde, wurde durch das VorstAG in den Wortlaut des Absatz 1 aufgenommen.40) Da die Leistung erst nach Festsetzung der Bezüge erfolgt, kann diese bei der Bestellung regelmäßig nur vorausschauend an den zu erfüllenden Aufgaben und den dafür erforderlichen Leistungen des Vorstandsmitglieds ausgerichtet werden.41) Bei Vertragsverlängerungen können auch bereits erbrachte Leistungen als Anhaltspunkt dienen.42) cc)

Lage der Gesellschaft

17 Für die Lage der Gesellschaft ist deren wirtschaftliche Gesamtsituation entscheidend. Bei Konzernen kommt es auf die Lage des Gesamtkonzerns an. Neben der Vermögens-, Finanzund Ertragslage schließt dies auch die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft sowie externe Faktoren ein.43) Im Fall des faktischen Konzerns ist umstritten, ob die variable Vergütung des Vorstands einer Tochtergesellschaft an den wirtschaftlichen Erfolg der herrschenden Gesellschaft geknüpft werden kann.44) Eine Ansicht verneint dies unter Hinweis auf drohende Fehlanreize.45) Die zu befürwortende Gegenmeinung hält entsprechende Vereinba_____________ 36) LG Düsseldorf, Urt. v. 22.7.2004 – XIV 5/03, NJW 2004, 3275, 3277 = ZIP 2004, 2044; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87 AktG Rz. 16; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 42. 37) Schwark in: FS Raiser, S. 377, 384; Semler in: FS Budde, S. 599, 601; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 87 Rz. 45. 38) Kort, NJW 2005, 333; Schwark in: FS Raiser, S. 377, 384. 39) Schwark in: FS Raiser, S. 377, 383 ff.; Hölters-Weber, AktG, § 87 Rz. 19. 40) Bosse, BB 2009, 1650; Fleischer, NZG 2009, 801, 802. 41) Hoffmann-Becking, ZHR 169 (2005) 155, 159. 42) Begr. RegE VorstAG, BT-Drucks. 16/12278, S. 5; Hölters-Weber, AktG, § 87 Rz. 21. 43) LG Düsseldorf, Urt. v. 22.7.2004 – XIV 5/03, NJW 2004, 3275, 3278= ZIP 2004, 2044; Fleischer, DStR 2005, 1279, 1280; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 87 Rz. 53. 44) Offengelassen in BGH, Beschl. v. 9.11.2009 – II ZR 154/08, ZIP 2009, 2436. 45) OLG München, Urt. v. 7.5.2008 – 7 U 5618/07, ZIP 2008, 1237= AG 2008, 593; Hoffmann-Becking, NZG 1999, 797, 803; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 87 Rz. 11; Tröger, ZGR 2009, 447 ff.

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Grundsätze für die Bezüge der Vorstandsmitglieder

§ 87

rungen unter Verweis auf das Schutzsystem der §§ 311 ff. und den durch das KonTraG geänderten § 192 Abs. 2 Nr. 3 für zulässig.46) Liegt ein Beherrschungsvertrag vor, sei eine entsprechende Konstruktion dagegen unproblematisch möglich.47) Eine wirtschaftlich schlechte Lage der Gesellschaft spricht in der Regel für die Festset- 18 zung moderater Bezüge. Bei laufenden Verträgen kann gemäß § 87 Abs. 2 eine Anpassung der Vergütung geboten sein. Andererseits unterliegt der Vorstand in Krisenfällen häufig einem erhöhten persönlichen Haftungsrisiko. Darüber hinaus drohen Reputationsschäden, sollte eine Rettung des Unternehmens scheitern. Schließlich sind gerade in Krisensituationen besonders qualifizierte Vorstandsmitglieder erforderlich. Vor allem in Sanierungsfällen kann daher die Gewährung höherer Bezüge angemessen sein.48) dd)

Üblichkeit der Vergütung

Die Bezüge der Vorstandsmitglieder dürfen die übliche Vergütung nicht ohne besondere 19 Gründe übersteigen. Eine entsprechende Rechtfertigung kann sich aus besonderen Leistungen, besonders hohen Anforderungen an das Vorstandsmitglied oder seine besondere Eignung ergeben.49) Die Üblichkeit der Vergütung allein indiziert jedoch noch nicht ihre Angemessenheit.50) Im Rahmen der horizontalen Vergleichbarkeit sind dabei zunächst die Branchen-, Größen- 20 und Landesüblichkeit zu berücksichtigen.51) Die Vergleichsunternehmen müssen derselben Branche angehören sowie eine ähnliche Größe und Komplexität aufweisen.52) Grundsätzlich ist auf die Bundesrepublik Deutschland abzustellen. Bei international ausgerichteten Unternehmen können auch übliche Bezüge im Ausland herangezogen werden. Dies gilt auch dann, wenn davon auszugehen ist, dass das Vorstandsmitglied auch mit ausländischen Unternehmen im Wettbewerb um qualifiziertes Vorstandspersonal steht. Besonderheiten wie höhere Haftungsrisiken und kürzere Vertragslaufzeiten sind in diesem Fall jedoch zu berücksichtigen.53) Darüber hinaus ist auch das Lohn- und Gehaltsgefüge im Unternehmen heranzuziehen 21 (Vertikalität).54) Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Vorstandsvergütung nicht Maß und Bezug zu den Vergütungsgepflogenheiten im Unternehmen i. Ü. verliert.55) Starre Vergütungsstaffeln, wie etwa eine Beschränkung auf den 20-fachen Verdienst eines Facharbeiters, konnten sich jedoch nicht durchsetzen und wurden auch im Gesetzgebungsver-

_____________ 46) Habersack, NZG 2008, 634, 635 (Urteilsanm.); Hohenstatt/Seibt/Wagner, ZIP 2008, 2289, 2291 ff.; Waldhausen/Schüller, AG 2009, 179, 180 f.; Scholz in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 64 Rz. 106. 47) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 33; Kort in: GroßKomm-AktG, § 87 Rz. 71. 48) Fleischer, DStR 2005, 1279, 1280; Hoffmann-Becking, NZG 1999, 797, 798; Thüsing, ZGR 2003, 457, 470. 49) Annuß/Theusinger, BB 2009, 2434, 2435; Hohaus/Weber, DB 2009, 1515, 1516. 50) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 10; Bauer/Arnold, AG 2009, 717, 719; Fleischer, NZG 2009, 801, 802; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 12; Lingemann, BB 2009, 1918; Seibert, WM 2009, 1489, 1490; Thüsing, AG 2009, 517, 518; a. A. Fleischer in: BeckOGKAktR, § 87 AktG Rz. 21; Hölters-Weber, AktG, § 87 Rz. 24. 51) Begr. RegE VorstAG, BT-Drucks. 16/12278, S. 5; Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 10. 52) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 10. 53) Bauer/Arnold, AG 2009, 717, 720; Fleischer, NZG 2009, 801, 802; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 18; einschränkend Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87 AktG Rz. 22; Kling, DZWIR 2010, 221, 225. 54) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 10; Seibert, WM 2009, 1489 1490. 55) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 10.

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Grundsätze für die Bezüge der Vorstandsmitglieder

fahren zum VorstAG abgelehnt.56) Führt die Orientierung an vertikalen Aspekten zu Konflikten mit der horizontalen Angemessenheit, geht letztere vor.57) Gemäß G. 4 DCGK soll der Aufsichtsrat das Verhältnis der Vorstandsvergütung zur Vergütung des oberen Führungskreises und der Belegschaft insgesamt auch in der zeitlichen Entwicklung berücksichtigen. Ein Vorschlag zur gesetzlichen Normierung dieser Empfehlung i. R. der Aktienrechtsnovelle 201658) fand keine ausreichende Mehrheit.59) b)

Weitere Kriterien

22 Nach ganz h. M. sind neben den gesetzlich normierten Kriterien auch Umstände wie z. B. besondere Fähigkeiten, Kenntnisse, Erfahrungen, Marktwert, Dauer der Zugehörigkeit zur Gesellschaft und die konkrete Verhandlungslage heranzuziehen.60) Die Berücksichtigungsfähigkeit von Familienverhältnissen ist dagegen umstritten.61) c)

Ausrichtung an einer nachhaltigen und langfristigen Entwicklung

23 Bei börsennotierten Gesellschaften hat gemäß § 87 Abs. 1 Satz 2 darüber hinaus eine Ausrichtung der Vergütungsstruktur an einer nachhaltigen und langfristigen Unternehmensentwicklung zu erfolgen. Vor dem Hintergrund der Ergänzung des Wortlauts um den Begriff „langfristig“ ist umstritten ob in die variable Vergütung zwingend auch nicht-finanzielle Parameter einzubeziehen sind.62) Vorzugswürdig erscheint die Auffassung, nach der sich auch der Begriff nachhaltig auf den wirtschaftlichen Erfolg bezieht, zumal dies dem bisherigen Verständnis dieses bereits vor der Änderung im Gesetzeswortlaut enthaltenen Begriffs entspricht. Eine entsprechende Regelung findet sich auch in G. 23 DCGK. Variable Vergütungsbestandteile sollen gemäß § 87 Abs. 1 Satz 3 eine mehrjährige Bemessungsgrundlage haben. Eine derartige Bemessungsgrundlage sollte auch bei nicht börsennotierten Gesellschaften herangezogen werden, obwohl diese nicht ausdrücklich genannt sind. Insofern bestand die Absicht, die Auswahl der geeigneten Instrumente den Eigentümern zu überlassen.63) Während § 87 Abs. 1 Satz 3 die mehrjährige Bemessungsgrundlage nicht weiter spezifiziert, enthält G. 6 DCGK die Empfehlung, dass die variable Vergütung sich überwiegend an langfristigen Zielen orientieren soll. Hintergrund ist, dass die Vorstandsmitglieder gerade an der künftigen Entwicklung des Unternehmens partizipieren sollen.64) Aufgrund der Einschränkung des Wortlauts („im Wesentlichen“) ist die Erklärung einer _____________ 56) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87 AktG Rz. 24; Hohenstatt, ZIP 2009, 1349, 1351; Kling, DZWIR 2010, 221, 226; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 13; Seibert, DB 2009, 1167, 1169. 57) Bauer/Arnold, AG 2009, 717, 720; Hoffmann-Becking/Krieger, NZG Beilage z. Heft 26/2009, S. 1, 2; Kort in: GroßKomm-AktG, § 87 Rz. 92. 58) Gesetz zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2016) v. 22.12.2015, BGBl. I 2016, 2565. 59) Götze, NZG 2016, 48, 50. 60) BGH, Urt. v. 14.5.1990 – II ZR 126/89, BGHZ 111, 224, 228 = ZIP 1990, 784 – zur GmbH; Ihrig/ Wandt/Wittgens, ZIP Beilage z. Heft 40/2012, S. 1, 7; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 87 Rz. 14; Thüsing, ZGR 2003, 457, 468. 61) Dafür Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 87 Rz. 6; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 15; Thüsing, AG 2009, 517, 518; a. A. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87 AktG Rz. 25; Hölters-Weber, AktG, § 87 Rz. 27. 62) So Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses R/V, BT-Drucks. 19/15153, S. 62; Velte, NZG 2020, 12, 14; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87 AktG Rz. 36; Grigoleit-Schwennicke, AktG, § 87 Rz. 20; a. A. – keine Änderung im Vergleich zur vorherigen Fassung – Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 27; Spindler in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 87 Rz. 78; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 23. 63) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 10. 64) Mense/Klie, BB 2017, 771, 775.

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Grundsätze für die Bezüge der Vorstandsmitglieder

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Abweichung nach § 161 nicht erforderlich, wenn teilweise auch vergangenheitsbezogene Parameter berücksichtigt werden. Ziel der Regelung ist, dass die durch den Vorstand zu treffenden Entscheidungen nicht 24 der kurzfristigen Ergebnismaximierung oder der Erreichung anderer unmittelbarer Ziele dienen, sondern vielmehr den langfristigen Bestand des Unternehmens sichern sollen.65) Nachhaltigkeit erfordert daher eine Orientierung am dauerhaften, jedenfalls periodenübergreifenden Erfolg des Unternehmens.66) Ein durch die stichtagsbezogene Betrachtung bestimmter Erfolgsparameter verursachtes „Strohfeuer“ soll dagegen verhindert werden.67) Das Gesetz macht keine konkreten Vorgaben hinsichtlich der Ausgestaltung einer nach- 25 haltigen und langfristig orientierten Vergütungsstruktur. So erfordert diese nicht zwingend, dass Clawback-Regelungen vorgesehen werden.68) Auch kurzfristige Verhaltensanreize bleiben weiterhin zulässig, sofern sie derart mit langfristigen Anreizen kombiniert werden, dass sie einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung nicht zuwiderlaufen.69) Die Vereinbarung von Jahresboni kommt also nach wie vor in Betracht.70) Auch variable Vergütungsbestandteile müssen nicht zwingend vereinbart werden.71) Sind diese jedoch im Vergütungssystem vorgesehen, kommt dem Kriterium der Nachhaltigkeit besondere Bedeutung zu. § 87 Abs. 1 Satz 3, der eine mehrjährige Bemessungsgrundlage für variable Vergütungsbestandteile fordert, dient insofern der Konkretisierung des in § 87 Abs. 1 Satz 2 formulierten Leitgedankens.72) Durch die mehrjährige Bemessungsgrundlage darf dabei nicht nur die Auszahlung hinausgeschoben werden, sondern vielmehr müssen die variablen Bestandteile von negativen Entwicklungen im gesamten Bemessungszeitraum beeinflusst werden.73) Zudem enthält G. 12 DCGK i. d. F. vom 16.12.2019 die Anregung, mehrjährige variable Vergütungsbestandteile nicht vorzeitig auszuzahlen, damit die AG nicht auf ggf. undurchsetzbare Rückforderungen beschränkt ist. Eine konkrete Zeitvorgabe für die Mehrjährigkeit enthält das Gesetz nicht. Teilweise werden 26 bereits zwei Jahre als ausreichend für die Mehrjährigkeit erachtet.74) Andere Autoren sprechen sich für Zeiträume zwischen drei und fünf Jahren aus.75) Aufgrund dieser rechtlichen Unsicherheit und der Praxis, die sich seit 2009 herausgebildet hat, ist eine dreijährige Bemessungsgrundlage empfehlenswert.76) In Anlehnung an G. 10 DCGK wird teilweise auch eine vierjährige Bemessungsgrundlage empfohlen.77) _____________ 65) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 5 Rz. 65. 66) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 27; Louven/Ingwersen, BB 2013, 1219; Mertens, AG 2011, 57, 58. 67) Fleischer, NZG 2009, 801, 803; Hohenstatt/Kuhnke, ZIP 2009, 1981, 1982; Mertens, AG 2011, 57, 58; Thüsing, AG 2009, 517, 520. 68) Poelzig, NZG 2020, 41, 49. 69) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 10; Fleischer, NZG 2009, 801, 803; Hohaus/Weber, DB 2009, 1515, 1517; Hohenstatt, ZIP 2009, 1349, 1351; Velte, NZG 2016, 294, 297. 70) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 5 Rz. 67. 71) Annuß/Theusinger, BB 2009, 2434, 2435 f.; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 24; Thüsing, AG 2009, 517, 520. 72) Annuß/Theusinger, BB 2009, 2434, 2436; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 12 Rz. 222. 73) Beschlussempfehlung und Bericht de. RA z. VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 10. 74) Hoffmann-Becking/Krieger, NZG Beilage z. Heft 26/2009, S. 1, 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 30. 75) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87 AktG Rz. 39 – drei bis fünf Jahre; Seibert, WM 2009, 1489, 1490 – drei oder vier Jahre; Thüsing, AG 2009, 517, 521 – fünf Jahre; Weber-Rey, WM 2009, 2255, 2259 – drei bis fünf Jahre. 76) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 5 Rz. 68. 77) Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Bachmann, DCGK, G. 6 Rz. 11.

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Grundsätze für die Bezüge der Vorstandsmitglieder

27 Da § 87 Abs. 1 Satz 3 nur eine Soll-Vorschrift darstellt, müssen nicht sämtliche variablen Vergütungsbestandteile eine mehrjährige Bemessungsgrundlage haben. Vielmehr ist dies nur in dem Umfang nötig, der erforderlich ist, um die Ausrichtung auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung zu gewährleisten. Da der fixe Teil der Vergütung keine kurzfristigen Verhaltensanreize setzt, wird als Anhaltspunkt davon ausgegangen, dass die Summe aus fixer und langfristiger variabler Vergütung mindestens 50 % der Gesamtvergütung (ohne Berücksichtigung von Nebenleistungen) ausmachen sollte.78) Bei variablen Vergütungskomponenten ist dabei jeweils auf den Zielbetrag für eine 100 %ige Zielerreichung abzustellen.79) Nach Empfehlung G. 6 DCGK soll die langfristige variable Vergütung die kurzfristige variable Vergütung übersteigen. d)

Begrenzungsmöglichkeit für außerordentliche Entwicklungen

28 Für den Fall einer außerordentlichen Entwicklung soll der Aufsichtsrat gemäß § 87 Abs. 1 Satz 3 Halbs. 2 bei variablen Vergütungselementen Begrenzungsmöglichkeiten vereinbaren. Ziel ist es zu verhindern, dass der Vorstand von außerordentlichen Entwicklungen (z. B. Unternehmensübernahme, Veräußerung von Unternehmensteilen, Hebung stiller Reserven, externe Einflüsse) ohne Beschränkung profitiert.80) Wie eine Begrenzung konkret ausgestaltet wird, insbesondere ob bestimmte Höchstgrenzen (Cap) vereinbart werden, liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Aufsichtsrats.81) Im Rahmen des § 87 genügt es, wenn der Aufsichtsrat sich vertraglich vorbehält, einseitig eine Begrenzungsmöglichkeit durchzusetzen.82) G. 1 DCGK empfiehlt jedoch betragsmäßige Höchstgrenzen. 4.

Einzelfragen

a)

Sondervergütungen, Anerkennungsprämien

29 Sondervergütungen, bspw. in Form von Transaktionsboni, sind grundsätzlich zulässig, solange der langfristige Anreizcharakter der Vergütungsstruktur insgesamt gewahrt wird und deren Ziele nicht im Widerspruch zu einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung stehen.83) Insbesondere bei nachträglichen Anerkennungsprämien wirkt sich in der Praxis jedoch die Rechtsprechung des BGH im Fall „Mannesmann“ aus. Eine dienstvertraglich vereinbarte Prämie ist demnach in den Grenzen des § 87 möglich. Fehlt eine entsprechende vertragliche Regelung ist eine nachträgliche Anerkennungsprämie dagegen nur zulässig, soweit dem Unternehmen zugleich Vorteile in angemessener Höhe zufließen. Andernfalls liegt eine treupflichtwidrige Schädigung des Gesellschaftsvermögens vor.84) Die ganz überwiegende Meinung in der Literatur lehnt diese Beschränkung auf den zukunftsbezogenen _____________ 78) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87 AktG Rz. 42; s. a. Bauer/Arnold, AG 2009, 717, 722 – 50 % Festvergütung, 20 % kurzfristig variable und 30 % langfristig variable Bezüge; Hoffmann-Becking/Krieger, NZG Beilage z. Heft 26/2009, S. 1, 2 – langfristiges Vergütungselement pro anno nicht weniger als die Hälfte aller variablen Vergütungselemente; Lingemann, BB 2009, 1918, 1919 – 40 % fix, 20 % Jahresboni, 20 % langfristig ausgerichtete Boni, 20 % aktienbasierte Vergütung. 79) Vgl. Hoffmann-Becking/Krieger, NZG Beilage z. Heft 26/2009, S. 1, 2 f. 80) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 10. 81) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 10; Hölters-Weber, AktG, § 87 Rz. 39. 82) Hohenstatt/Kuhnke, ZIP 2009, 1981, 1988. 83) Fleischer, NZG 2009, 801, 803; Hoffmann-Becking/Krieger, NZG Beilage z. Heft 26/2009, S. 1, 3; Hohenstatt/Kuhnke, ZIP 2009, 1981, 1987; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 30; Thüsing, AG 2009, 517, 520. 84) Vgl. BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, ZIP 2006, 72 = NJW 2006, 522, dazu EWIR 2006, 187 (Reiner).

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Grundsätze für die Bezüge der Vorstandsmitglieder

§ 87

Nutzen der Anerkennungsprämie zu Recht ab.85) In der Praxis sollte die Rechtsprechung des BGH jedoch berücksichtigt und entsprechende Möglichkeiten nachträglicher Abfindungen im Anstellungsvertrag vereinbart werden.86) b)

Change-of-Control-Klauseln

Für den Fall eines Kontrollwechsels sehen in der Praxis häufig Change-of-Control-Klau- 30 seln ein Sonderkündigungsrecht des Vorstandsmitglieds, verbunden mit einer zuvor fest vereinbarten Leistungszusage vor.87) Sie werden wie Abfindungszahlungen bei vorzeitigem Ausscheiden aus dem Amt von § 87 erfasst und müssen dessen Voraussetzungen erfüllen.88) Für derartige Klauseln sieht G. 13 DCGK i. H. des Abfindungs-Caps von zwei Jahresvergütungen vor. G. 14 DCKG enthält die Empfehlung, keine Leistungszusagen bei einer Sonderkündigung durch das Vorstandsmitglied zu vereinbaren.89) Auch wenn die MannesmannEntscheidung des BGH nicht direkt Change-of-Control-Klauseln zum Gegenstand hatte, bestehen gewisse Unsicherheiten über die Zulässigkeit der Vereinbarung solcher Klauseln erst i. R. einer konkreten Übernahmesituation.90) 5.

Rechtsfolgen einer unangemessenen Vorstandsvergütung für die Organmitglieder

Ein Verstoß gegen § 87 Abs. 1 führt nicht zur Nichtigkeit des Dienstvertrags, da die Norm 31 kein Verbotsgesetz gemäß § 134 BGB ist.91) Wenn der Aufsichtsrat schuldhaft gegen das Angemessenheitsgebot des § 87 Abs. 1 verstößt, macht er sich gemäß § 116 Satz 1, Satz 3 i. V. m. § 93 Abs. 2 schadensersatzpflichtig.92) Darüber hinaus kann auch der Vorstand einer Haftung gemäß § 93 Abs. 2 unterliegen. Die bloße Entgegennahme einer überhöhten Vergütung stellt jedoch grundsätzlich noch keine Verletzung der Treupflicht gegenüber der Gesellschaft dar.93) Eine Haftung ist daher nur in Ausnahmefällen denkbar. Die Berufung auf die Wirksamkeit der Vergütungsvereinbarung kann dem Vorstandsmitglied jedoch im Fall eines Missbrauchs der Vertretungsmacht des Aufsichtsrats verwehrt sein. Dazu muss ihm der Missbrauch bekannt gewesen sein oder sich aufgedrängt haben.94) Bei vorsätzlichem Pflichtverstoß kommt sowohl für den Vorstand als auch den Aufsichtsrat _____________ 85) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87 AktG Rz. 57; Fonk, NZG 2005, 248, 249 f.; Hoffmann-Becking, NZG 2006, 127, 129; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 20; Kort, NJW 2005, 333, 335; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 87 Rz. 35. 86) Ein Muster für eine derartige Klausel findet sich in Happ-Happ, AktienR, Nr. 8.08. 87) Hierzu näher: Korts, BB 2009, 1876; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 79 f. 88) Bayer/Meier-Wehrsdorfer, AG 2013, 477, 482; Dreher, AG 2002, 214, 216; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 33; van Kann/Eigler, DStR 2007, 1730 ff. 89) Kritisch – aufgrund der weiten Verbreitung und da diese eine Offenheit des Vorstands in Übernahmesituation befördern können – Hohenstatt/Seibt, ZIP 2019, 11, 19; Wilsing/Winkler, BB 2019, 1603, 1605 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 24; a. A. – da der Vorstand ohnehin zum Handeln im Unternehmensinteresse verpflichtet ist und ein zusätzliche Prämie hierfür nicht im Unternehmensinteresse liege und Change-of-Control-Klauseln auch zu eigennützigem Handeln gegen das Unternehmensinteresse verleiten können – Schüppen in: FS Seibert, S. 793, 799 ff. 90) Vgl. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 23; Kort, AG 2006, 106, 108; Hölters-Weber, AktG, § 87 Rz. 44 f. 91) Kort in: GroßKomm-AktG, § 87 Rz. 331; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 87 Rz. 5; K. Schmidt/ Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 36; Spindler in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II § 87 Rz. 141; a. A. Säcker/Stenzel, JZ 2006, 1151. 92) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87 AktG Rz. 64; Hüffer in: FS Hoffmann-Becking, S. 589, 591; Kort, DStR 2007, 1127, 1132. 93) Brandes, ZIP 2013, 1107, 1108; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 23; Mertens/Cahn in: KölnKommAktG, § 87 Rz. 5; a. A. Fleischer, DStR 2005, 1318, 1322; Fleischer/Bauer, ZIP 2015, 1901, 1903 f. 94) LG Essen, Urt. v. 9.9.2013 – 44 O 164/10, ZIP 2015, 1901 = BeckRS 2014, 22313; Brandes, ZIP 2013, 1107, 1110 f.; Spindler, AG 2011, 725, 729 f.

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§ 87

Grundsätze für die Bezüge der Vorstandsmitglieder

eine Strafbarkeit wegen Untreue gemäß § 266 StGB in Betracht.95) Im Fall einer Insolvenz können die überhöhten Bezüge ggf. angefochten werden.96) III.

Herabsetzung der Vorstandsbezüge (§ 87 Abs. 2)

1.

Allgemeines

32 Wenn sich die Lage der Gesellschaft nach der Festsetzung verschlechtert und eine Weitergewährung der vollen Bezüge für die Gesellschaft unbillig wäre, soll der Aufsichtsrat diese in angemessener Höhe gemäß § 87 Abs. 2 Satz 1 herabsetzen. Die Anforderungen wurden durch das VorstAG gegenüber der Vorgängervorschrift, die noch eine wesentliche Verschlechterung und eine schwere Unbilligkeit vorsah, verringert. Dadurch sollte die Handlungsschwelle für den Aufsichtsrat deutlich herabgesetzt werden.97) § 87 Abs. 2 ist ein Sonderfall der Störung der Geschäftsgrundlage und durchbricht den Grundsatz pacta sunt servanda.98) Die Vorschrift ist nicht von vornherein verfassungswidrig,99) sollte jedoch vor dem Hintergrund der gemäß Art. 14 GG geschützten Anspruchsposition des Vorstandsmitglieds restriktiv ausgelegt werden.100) Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass eine schlechte Unternehmensentwicklung bereits negativen Einfluss auf die Höhe (richtig ausgestalteter) variabler Vergütungselemente hat und die Bezüge sich insofern ohnehin verringern.101) 2.

Voraussetzungen (§ 87 Abs. 2 Satz 1)

33 Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse muss nach der Festsetzung der Bezüge eingetreten sein. Worauf diese beruht ist unerheblich. Sie ist jedenfalls dann gegeben, wenn die Gesellschaft insolvenzreif ist.102) Da die Verschlechterung nach der neuen Fassung des § 87 Abs. 2 Satz 1 nicht mehr wesentlich sein muss, sind auch sonstige negative Entwicklungen erfasst.103) Es reicht aus, wenn die Gesellschaft aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage in erheblichem Umfang Entlassungen oder Lohnkürzungen vornehmen muss und keine Gewinne mehr ausschütten kann.104) Dies soll regelmäßig (aber nicht zwingend) der Fall sein, wenn die Voraussetzungen zur Anmeldung von Kurzarbeit vorliegen.105) Entscheidend ist die Lage der Gesellschaft, nicht des Konzerns.106) Die Voraussetzungen des § 87 Abs. 2 Satz 1 sind dagegen nicht erfüllt, wenn die wirtschaftlichen Schwierigkeiten schon bei Abschluss des Anstellungsvertrags bekannt waren.107) Gleiches gilt nach

_____________ 95) 96) 97) 98) 99) 100)

101) 102) 103) 104) 105) 106) 107)

640

BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, ZIP 2006, 72 = NJW 2006, 522; Spindler, AG 2011, 725, 728. Thole/Schmidberger, BB 2014, 3 ff. Seibert, WM 2009, 1489, 1490. Weller, NZG 2010, 7, 8. Verfassungsrechtliche Bedenken: Hohenstatt, ZIP 2009, 1349, 1352 f. BGH, Urt. v. 27.10.2015 – II ZR 296/14, NZG 2016, 264, 265 = ZIP 2016, 310; OLG Stuttgart, Urt. v. 1.10.2014 – 20 U 3/13, AG 2015, 128 = NZG 2015, 194, dazu EWiR 2015, 409 (Theusinger/ Schilha); K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 38. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87 AktG Rz. 67; Hölters-Weber, AktG, § 87 Rz. 50. BGH, Urt. v. 27.10.2015 – II ZR 296/14, NZG 2016, 264, 267= ZIP 2016, 310; Begr. RegE VorstAG, BT-Drucks. 16/12278, S. 6. Vgl. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 50. Begr. RegE VorstAG, BT-Drucks. 16/12278, S. 6. Redenius-Hövermann/Siemens, ZIP 2020, 1585, 1593. Diller, NZG 2009, 1006. Kort, NZG 2015, 369, 371; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 87 Rz. 94; Spindler in: MünchKommAktG, Nachtrag ARUG II § 87 Rz. 175.

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Grundsätze für die Bezüge der Vorstandsmitglieder

§ 87

der Rechtsprechung, wenn das Vorstandsmitglied die ursprünglichen Erwartungen enttäuscht.108) Entscheidendes Kriterium ist schließlich die Unbilligkeit der Weitergewährung der Bezüge. 34 Dabei kommt es auf die Lage der Gesellschaft an. Allgemeine Stimmungen in der Öffentlichkeit sind nicht relevant.109) Auch die persönlichen Verhältnisse des Vorstandsmitglieds können berücksichtigt werden.110) Das Vorstandsmitglied muss die Verschlechterung nicht pflichtwidrig herbeigeführt haben, sie muss jedoch in die Zeit seiner Vorstandsverantwortung fallen und ihm zurechenbar sein.111) Aufgrund der Gesamtverantwortung des Vorstands kommt es nicht darauf an, in wessen Ressortverantwortung die Verschlechterung fällt.112) Wenn die schlechte Lage bereits zu einem angemessenen Rückgang variabler Vergütungsbestandteile führt, ist die Weiterzahlung der resultierenden Vergütung nicht unbillig. 3.

Verfahren

Die Herabsetzung der Bezüge ist ein einseitiges Gestaltungsrecht der AG, das durch eine 35 Gestaltungserklärung des Aufsichtsrats ausgeübt wird.113) Zuständig ist der Gesamtaufsichtsrat. Die Delegation an einen Ausschuss kommt gemäß § 107 Abs. 3 Satz 4 nicht in Betracht. Der Aufsichtsrat entscheidet gemäß § 108 Abs. 1 durch Beschluss. Die Entscheidung wird mit Kundgabe gegenüber dem Vorstandsmitglied wirksam.114) Bei einem gemäß § 85 gerichtlich bestellten Vorstandsmitglied erfolgt die Herabsetzung gemäß § 87 Abs. 2 Satz 1 durch das Gericht auf Antrag des Aufsichtsrats.115) Nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens ist der Insolvenzverwalter zuständig, da es sich um vermögensbezogene Maßnahme handelt.116) Nach dem Wortlaut des § 87 Abs. 2 Satz 1 soll der Aufsichtsrat die Bezüge herabsetzen. 36 Liegen die Voraussetzungen der §§ 116, 93 vor, ergibt sich eine Pflicht des Aufsichtsrats, unter den Gegebenheiten des § 87 Abs. 2 die Bezüge herabzusetzen, es sei denn es liegen besondere Umstände vor, die eine Untätigkeit rechtfertigen.117) In Krisensituationen mag ein Interesse daran bestehen, ein für den Turnaround besonders entscheidendes Vorstandsmitglied zu halten und die aus der Herabsetzung der Bezüge folgende Kündigungsmöglichkeit gemäß § 87 Abs. 2 Satz 4 auszuschließen.118) Hierbei handelt es sich um eine unternehmerische Entscheidung des Aufsichtsrats gemäß § 116 Satz 1 i. V. m. § 93 Abs. 1 Satz 2.119) _____________ 108) 109) 110) 111) 112) 113) 114) 115) 116) 117)

118) 119)

OLG Frankfurt/M., Urt. v. 25.5.2011 – 7 U 268/08, AG 2011, 790, 792. Bauer/Arnold, AG 2009, 717, 726; Hoffmann-Becking/Krieger, NZG Beilage z. Heft 26/2009, S. 1, 5. Koch, WM 2010, 49, 50; Spindler in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II § 87 Rz. 176. Begr. RegE VorstAG, BT-Drucks. 16/12278, S. 6; BGH, Urt. v. 27.10.2015 – II ZR 296/14, NZG 2016, 264, 267 ff. = ZIP 2016, 310. Hoffmann-Becking/Krieger, NZG Beilage z. Heft 26/2009, S. 1, 5. BGH, Urt. v. 27.10.2015 – II ZR 296/14, NZG 2016, 264 = ZIP 2016, 310. BGH, Urt. v. 27.10.2015 – II ZR 296/14, NZG 2016, 264 = ZIP 2016, 310. Begr. RegE in: Kropff, AktG, S. 111. Göcke/Greubel, ZIP 2009, 2086, 2088; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 61; Kort in: GroßKommAktG, § 87 Rz. 434; Hölters-Weber, AktG, § 87 Rz. 52a; a. A. Grigoleit-Schwennicke, AktG, § 87 Rz. 39. BGH, Urt. v. 27.10.2015 – II ZR 296/14, NZG 2016, 264, 268 = ZIP 2016, 310; Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 10; Ihrig/Wandt/Wittgens, ZIP Beilage z. Heft 40/2012, S. 1, 22. OLG Karlsruhe, Urt. v. 24.11.2011 – 9 U 18/11, NZG 2011, 299, 301 = AG 2012, 464; Bauer/Arnold, AG 2009, 717, 727; Bosse, BB 2009, 1650, 1651; Hohenstatt, ZIP 2009, 1349, 1352. Bauer/Arnold, AG 2009, 717, 731; Hoffmann-Becking/Krieger, NZG Beilage z. Heft 26/2009, S. 5.

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§ 87

Grundsätze für die Bezüge der Vorstandsmitglieder

37 Erforderlich ist die Herabsetzung auf eine angemessene Höhe. Dieser Maßstab ist strenger als die „angemessene Herabsetzung“ nach § 87 a. F.120) Grundsätzlich sind alle Vorstandsmitglieder gleichmäßig zu belasten.121) Die Herabsetzung ist regelmäßig zu befristen, es sei denn, eine nachhaltige Besserung ist auf lange Zeit ausgeschlossen.122) Sofern eine unbefristete Herabsetzung erfolgt, hat eine (ggf. schrittweise) Anhebung auf das ursprüngliche Niveau zu erfolgen, soweit die Unbilligkeit der Vergütung entfallen ist.123) Neben laufenden Bezügen und Ruhegehältern sind auch etwaige Abfindungsansprüche erfasst.124) Eine rückwirkende Herabsetzung ist dagegen nicht möglich. Eine einmal verdiente Tantieme muss auch ausbezahlt werden, wenn sich die Gesellschaft zum Auszahlungszeitpunkt in der Krise befindet.125) 4.

Kündigungsrecht und Rechtsschutz der Vorstandsmitglieder (§ 87 Abs. 2 Satz 4)

38 Durch die Herabsetzung der Bezüge wird der Anstellungsvertrag zwar geändert, bleibt im Übrigen aber vollumfänglich wirksam. Deshalb gewährt § 87 Abs. 2 Satz 4 ein Sonderkündigungsrecht für das betroffene Vorstandsmitglied mit einer Frist von sechs Wochen zum Ende des nächsten Kalendervierteljahres.126) Das betroffene Vorstandsmitglied kann außerdem gegen die Gesellschaft, vertreten durch den Aufsichtsrat (§ 112), Leistungsklage auf Weitergewährung der bisherigen Bezüge erheben.127) Sofern der Betroffene die Entscheidung des Aufsichtsrats gerichtlich angegriffen hat, kann er sein Kündigungsrecht noch nach rechtskräftiger Feststellung der Rechtmäßigkeit der Herabsetzung der Bezüge ausüben, wenn er die Klage innerhalb der Kündigungsfrist erhoben hat.128) IV.

Beschränkung von Schadensersatzansprüchen bei Insolvenz (§ 87 Abs. 3)

39 Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens lässt den Bestand der Anstellungsverträge der Vorstandsmitglieder zunächst unberührt. Gemäß § 113 InsO kann jedoch der Insolvenzverwalter den Vertrag unter Einhaltung der gesetzlichen Frist kündigen. Dem betroffenen Vorstandsmitglied steht in diesem Fall wegen der vorzeitigen Beendigung gemäß § 113 Satz 3 InsO ein Schadenersatzanspruch als Insolvenzgläubiger zu. § 87 Abs. 3 beschränkt diesen Anspruch auf den Schaden, der bis zum Ablauf von zwei Jahren seit Ende des Anstellungsvertrags entsteht. Versorgungsleistungen gemäß § 87 Abs. 1 Satz 4 sind hiervon nicht erfasst.129) V.

Herabsetzung der Maximalvergütung durch die Hauptversammlung (§ 87 Abs. 4)

40 Mit dem neu eingeführten § 87 Abs. 4 hat die Hauptversammlung die Möglichkeit, die Maximalvergütung des Vorstands per Beschluss verbindlich herabzusetzen. Die Regelung stellt einen Kompromiss dar, indem die grundsätzliche Vergütungskompetenz beim Aufsichtsrat

_____________ 120) 121) 122) 123) 124) 125) 126) 127) 128)

Fleischer, NZG 2009, 801, 804; Spindler in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 87 Rz. 204. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 19a; Weisner/Kölling, NZG 2003, 465, 467. Bauer/Arnold, AG 2009, 717, 727; Hölters-Weber, AktG, § 87 Rz. 51a. Rahlmeyer/v. Eiff, NZG 2021, 397, 398 f. Begr. RegE VorstAG, BT-Drucks. 16/12278, S. 6; Fleischer in: BeckOGK-AktG, § 87 Rz. 76 ff. Thüsing, AG 2009, 517, 522. Eingehend zum Kündigungsrecht Rahlmeyer/v. Eiff, NZG 2021, 397, 399. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87 AktG Rz. 85; Hölters-Weber, AktG, § 87 Rz. 54. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 63; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 44; Spindler in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II § 87 Rz. 218. 129) Kort in: GroßKomm-AktG, § 87 Rz. 484.

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Grundsätze für die Bezüge der Vorstandsmitglieder

§ 87

verbleibt und der Hauptversammlung eine optionale und punktuelle Entscheidungskompetenz über die Maximalvergütung eingeräumt wird.130) Die Hauptversammlung kann die Höhe der Maximalvergütung gemäߧ 87 Abs. 4 herab- 41 setzen. Sie ist ansonsten aber an das bestehende Vergütungssystem gebunden und kann weder ein eigenes Vergütungssystem beschließen noch Beschlüsse für zukünftige Vergütungssysteme fassen.131) Laufende Verträge werden von einer Herabsetzung der Maximalvergütung nicht berührt.132) Allerdings soll die Herabsetzung für Verträge gelten, die sich aufgrund einer erneuten Bestellung des Vorstandsmitglieds automatisch verlängern.133) Die Maximalgrenze gilt für Verträge, die nach dem Beschluss geändert oder neu geschlossen werden. Bei der Herabsetzung einer Gesamtmaximalvergütung für alle Vorstandsmitglieder muss sich nur die Summe der Vergütungen neu abgeschlossener Verträge i. R. der Gesamtmaximalvergütung halten.134) Umstritten ist, ob sich der Herabsetzungsbeschluss auch auf Einzelelemente der Maxi- 42 malvergütung (Vergütung eines einzelnen Vorstands) beziehen kann.135) Überwiegend wird dies als unzulässiger Eingriff in das Vergütungssystem abgelehnt.136) Richtigerweise ist davon auszugehen, dass sich der Herabsetzungsbeschluss an die Systematik des Vergütungssystems halten muss, die der Aufsichtsrat im Vergütungssystem vorgesehen hat. Handelt es sich dabei um eine gemeinsame Maximalvergütung für alle Vorstandsmitglieder, kann die Hauptversammlung diese herabsetzen. Geht das Vergütungssystem von einer Maximalvergütung je Vorstandsmitglied (ggf. differenziert nach Ressort) oder sogar für einzelne Vergütungskomponenten aus, muss sich der Herabsetzungsbeschluss auch insoweit i. R. des Vergütungssystems halten. Gleiches gilt für sonstige Einzelheiten der Strukturierung der Maximalvergütung (siehe hierzu im Einzelnen § 87a Rz. 43 ff.). Für diese Sichtweise spricht die Ausschussbegründung, wonach im Hinblick auf die häufig komplexe und fein austarierte Struktur des Vergütungssystems die „inhaltliche Ausgestaltung der Maximalvergütung […] weiterhin dem Aufsichtsrat [obliegt] und […] sich aus dem Vergütungssystem“ ergibt.137) Ein Beschluss nach § 87 Abs. 4 kann durch einen Tagesordnungsergänzungsantrag i. S. des 43 § 122 Abs. 2 Satz 1 mit einem Quorum von 5 % oder 500.000 € zur Abstimmung gebracht werden. Der Beschluss ergeht mit einfacher Mehrheit nach § 133 Abs. 1 und richtet sich auch sonst nach den allgemeinen Vorschriften für Hauptversammlungsbeschlüsse.138) Der Hauptversammlungsbeschluss ist anfechtbar. Im Falle einer Anfechtung ist der 44 Aufsichtsrat bereits bevor ein Urteil über die Nichtigkeit ergeht, unter Ausübung pflichtgemäßen Ermessens berechtigt, vom Beschluss abzuweichen.139) _____________ 130) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 47. 131) Spindler, AG 2020, 61, Rz. 56; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 50. 132) Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses R/V, BT-Drucks. 19/15153, S. 55; Spindler, AG 2020, 61, Rz. 56; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 52; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87 AktG Rz. 90; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 66. 133) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 66. 134) Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses R/V, BT-Drucks. 19/15153, S. 63; Spindler in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II § 87 Rz. 241; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 66. 135) So K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 50. 136) Herrler, ZHR 184 (2020) 408, 448; Spindler in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II § 87 Rz. 237. 137) Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses R/V, BT-Drucks. 19/15153, S. 55 und ebenso auf S. 56. 138) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87 AktG Rz. 91; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 55. 139) Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses R/V, BT-Drucks. 19/15153, S. 56; K. Schmidt/LutterSeibt, AktG, § 87 Rz. 55; kritisch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 67, der dem Ergebnis zwar zustimmt, dieses aber für dogmatisch nicht tragfähig hält.

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§ 87a

Vergütungssystem börsennotierter Gesellschaften

45 Für den Fall, dass die Voraussetzungen für eine Abweichung vom Vergütungssystem nach § 87a Abs. 2 Satz 2 vorliegen, ist der Aufsichtsrat auch berechtigt, von einer durch die Hauptversammlung herabgesetzten Maximalvergütung abzuweichen.140) _____________ 140) Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses R/V, BT-Drucks. 19/15153, S. 63; Spindler in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II § 87 Rz. 240; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87 Rz. 66.

§ 87a Vergütungssystem börsennotierter Gesellschaften Simon Link

(1) 1Der Aufsichtsrat der börsennotierten Gesellschaft beschließt ein klares und verständliches System zur Vergütung der Vorstandsmitglieder. 2Dieses Vergütungssystem enthält mindestens die folgenden Angaben, in Bezug auf Vergütungsbestandteile jedoch nur, soweit diese tatsächlich vorgesehen sind: 1. die Festlegung einer Maximalvergütung der Vorstandsmitglieder; 2. den Beitrag der Vergütung zur Förderung der Geschäftsstrategie und zur langfristigen Entwicklung der Gesellschaft; 3. alle festen und variablen Vergütungsbestandteile und ihren jeweiligen relativen Anteil an der Vergütung; 4. alle finanziellen und nichtfinanziellen Leistungskriterien für die Gewährung variabler Vergütungsbestandteile einschließlich a) einer Erläuterung, wie diese Kriterien zur Förderung der Ziele gemäß Nummer 2 beitragen, und b) einer Darstellung der Methoden, mit denen die Erreichung der Leistungskriterien festgestellt wird; 5. Aufschubzeiten für die Auszahlung von Vergütungsbestandteilen; 6. Möglichkeiten der Gesellschaft, variable Vergütungsbestandteile zurückzufordern; 7. im Falle aktienbasierter Vergütung: a) Fristen, b) die Bedingungen für das Halten von Aktien nach dem Erwerb und c) eine Erläuterung, wie diese Vergütung zur Förderung der Ziele gemäß Nummer 2 beiträgt; 8. hinsichtlich vergütungsbezogener Rechtsgeschäfte: a) die Laufzeiten und die Voraussetzungen ihrer Beendigung, einschließlich der jeweiligen Kündigungsfristen, b) etwaige Zusagen von Entlassungsentschädigungen und c) die Hauptmerkmale der Ruhegehalts- und Vorruhestandsregelungen; 9. eine Erläuterung, wie die Vergütungs- und Beschäftigungsbedingungen der Arbeitnehmer bei der Festsetzung des Vergütungssystems berücksichtigt wurden, einschließlich einer Erläuterung, welcher Kreis von Arbeitnehmern einbezogen wurde; 10. eine Darstellung des Verfahrens zur Fest- und zur Umsetzung sowie zur Überprüfung des Vergütungssystems, einschließlich der Rolle eventuell betroffener Ausschüsse und der Maßnahmen zur Vermeidung und zur Behandlung von Interessenkonflikten; 644

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Vergütungssystem börsennotierter Gesellschaften

§ 87a

11. im Fall der Vorlage eines gemäß § 120a Absatz 3 überprüften Vergütungssystems: a) eine Erläuterung aller wesentlichen Änderungen und b) eine Übersicht, inwieweit Abstimmung und Äußerungen der Aktionäre in Bezug auf das Vergütungssystem und die Vergütungsberichte berücksichtigt wurden. (2) 1Der Aufsichtsrat der börsennotierten Gesellschaft hat die Vergütung der Vorstandsmitglieder in Übereinstimmung mit einem der Hauptversammlung nach § 120a Absatz 1 zur Billigung vorgelegten Vergütungssystem festzusetzen. 2Der Aufsichtsrat kann vorübergehend von dem Vergütungssystem abweichen, wenn dies im Interesse des langfristigen Wohlergehens der Gesellschaft notwendig ist und das Vergütungssystem das Verfahren des Abweichens sowie die Bestandteile des Vergütungssystems, von denen abgewichen werden kann, benennt. Literatur: Anzinger, Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung: Kompetenzverteilung und Offenlegung nach der zweiten Aktionärsrechterichtlinie, ZGR 2019, 39; Arnold/Gralla, Gestaltung von Vorstandsverträgen nach dem DCGK 2020, NZG 2020, 529; Arnold/Herzberg/Zeh, Vorstandsvergütung und Nachhaltigkeit, AG 2021, 141; Arnold/Herzberg/Zeh, Das Vergütungssystem börsennotierter Aktiengesellschaften nach § 87a AktG, AG 2020, 313; Bachmann, Neue Vergütungsregeln im Kodex, ZHR 184 (2020) 127-138; Bachmann/Pauschinger, Die Neuregelung der Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung durch das ARUG II, ZIP 2019, 1; Bayer, Die Vergütung von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften nach dem RefE für das ARUG II, DB 2018, 3034; Böcking/Bundle, Die Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II), Der Konzern 2020, 15; Bungert/Berger, Say on Pay und Related Party Transactions: Der RefE des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (Teil 1), DB 2018, 2801; Bungert/Wansleben, Umsetzung der überarbeiteten Aktionärsrechterichtlinie in das deutsche Recht: Say on Pay und Related Party Transaction, DB 2017, 1190; DAV, Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II), NZG 2019, 12; Diekmann, Say on Pay – Umsetzung ins deutsche Recht nach dem ARUG II-Referentenentwurf, BB 2018, 3010; Diekmann, „Say on Pay“ – Wesentliche Änderungen bei der Vergütung von Vorständen und Aufsichtsräten aufgrund der geänderten Aktionärsrechterichtlinie, WM 2018, 796; Dörrwächter/Leuering, Die Maximalvergütung für Vorstandsmitglieder nach ARUG II, NJW-Spezial 2020, 15; Florstedt, Die wesentlichen Änderungen des ARUG II nach den Empfehlungen des Rechtsausschusses, ZIP 2020, 1; Florstedt, Die neuen Aktionärsvoten zur Organvergütung, ZGR 2019, 630; Gärtner/ Himmelmann, Beschlüsse der Hauptversammlung zur Vorstandsvergütung nach ARUG II, AG 2021, 259; Goslar, Organvergütung nach ARUG II und dem neuen DCGK, DB 2020, 937; Grimm/Freh, Die neuen Regeln der Vorstandsvergütung nach dem ARUG II, ArbRB 2020, 192; Habersack, Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung – Grundsatz- und Anwendungsfragen im Lichte der Aktionärsrechterichtlinie, NZG 2018, 127; Häller/Hoegen, Aktuelle Herausforderungen bei der Gestaltung der Vorstandsvergütung, ZVglRWiss 120 (2021) 209; Heldt, „Say on Pay“ und „Related Party Transactions“ im Referentenentwurf des ARUG II aus gesellschaftsrechtspolitischer Sicht, AG 2018, 905; Herrler, Das Vergütungsvotum der Hauptversammlung, ZHR 184 (2020) 408; Hopt/Leyens, Der Deutsche Corporate Governance Kodex 2020, ZGR 2019, 929; Kiethe, Höchstgrenzen für Vorstandsbezüge im Maßnahmenkatalog der Bundesregierung zur Aktienrechtsreform 2003 – verfassungswidrig und standortgefährdend, BB 2003, 1573; Löbbe/Fischbach, Die Neuregelungen des ARUG II zur Vergütung von Vorstand und Aufsichtsrat börsennotierter Aktiengesellschaften, AG 2019, 373; Müller-Bonnani/Jenner/ Denninger, Praxisfragen der Vorstandsvergütung nach ARUG II und neuem DCGK, AG 2021, 339; Pacher/Woopen/Flottmann, Die Rolle des Aufsichtsrats in der Strategiediskussion, ZCG 2020, 127; Poelzig, Rückforderung der variablen Vorstandsvergütung (Clawback) in börsennotierten Gesellschaften, NZG 2020, 41; Redenius-Hövermann/Siemens, Zum aktuellen Stand betreffend Clawback-Klauseln, ZIP 2020, 145; Schmidt, J., Die Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie 2017: der Referentenentwurf für das ARUG II, NZG 2018, 1201; Seulen, RefE für

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§ 87a

Vergütungssystem börsennotierter Gesellschaften

das ARUG II – Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie, DB 2018, 2915; Seyfarth, Clawback-Vereinbarungen in Vorstandsverträgen (Teil I), WM 2019, 521, (Teil II), WM 2019, 569; Spindler, Die Neuregelung der Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung im ARUG II, AG 2020, 61; Stenzel, Neue Regeln für die variable Vorstandsvergütung, BB 2020, 970; Velte, Say on Pay als wirkungsvolles europäisches Regulierungsinstrument?, EuZW 2013, 893; Verse, Regulierung der Vorstandsvergütung – mehr Macht für die Aktionäre? Überlegungen zur geplanten Reform des say on pay, NZG 2013, 921; Vetter, E., Zuständigkeit zum Beschluss über das Vorstandsvergütungssystem gem. § 87a AktG, NZG 2020, 1161; Vetter, J./Lauterbach, Flexibilität wahrende Ausgestaltung der Vorstandsvergütung und Bindungswirkung des Vergütungssystems nach § 87a Abs. 2 AktG, AG 2021, 89; Wandt/Vossen, Die Übergangsbestimmungen für das Vergütungssystem des Vorstands, AG 2020, 705; v. Zehmen, Die Selbstbindung des Aufsichtsrats an das Vorstandsvergütungssystem und ihre weitreichenden Praxisfolgen, BB 2021, 1098; v. Zehmen, Vergütungssysteme für Vorstände auf dem Prüfstand, BB 2021, 628; Zetzsche, Langfristigkeit im Aktienrecht? – Der Vorschlag der Europäischen Kommission zur Reform der Aktionärsrechterichtlinie, NZG 2014, 1121.

Übersicht I. Regelungsgegenstand und systematische Zusammenhänge ...... 1 1. Gegenstand und systematischer Zusammenhang mit § 120a ............... 1 2. Vorgängerregelung und bisherige Praxis .................................................. 2 3. Vorgaben der Aktionärsrechterichtlinie ............................................. 4 4. Regelungsziel ..................................... 5 II. Anwendungsbereich ...................... 10 III. Beschluss eines Vergütungssystems durch den Aufsichtsrat (§ 87a Abs. 1) ................................... 19 1. Begriff und Bedeutung des Vergütungssystems .................................... 19 2. Allgemeine Anforderungen ............ 23 a) Klarheit und Verständlichkeit .... 23 b) Detailgrad und Reichweite der Pflichtangaben ........................... 26 c) Keine materiellen Vorgaben für die inhaltliche Ausgestaltung ............................................ 32 3. Festlegung durch den Aufsichtsrat ...................................... 37 4. Gesetzlich vorgegebene Angaben ... 41 a) § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 – Maximalvergütung ..................... 41 b) § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 – Beitrag der Vergütung zur Förderung der Geschäftsstrategie und zur langfristigen Entwicklung der Gesellschaft ... 55

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c) § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 – alle festen und variablen Vergütungsbestandteile und ihren jeweiligen relativen Anteil an der Vergütung ............................. 59 d) § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 – Leistungskriterien für die Gewährung und Höhe der variablen Vergütungsbestandteile ....... 66 e) § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 – Aufschubzeiten für die Auszahlung von variablen Vergütungsbestandteilen ..................... 78 f) § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 – Rückforderung von variablen Vergütungsbestandteilen ........... 84 g) § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 – Fristen, Bedingungen der aktienbasierten Vergütung ............... 89 h) § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 – vergütungsbezogene Rechtsgeschäfte ..................................... 95 i) § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 9 – Erläuterung zur Berücksichtigung der Vergütungs- und Beschäftigungsbedingungen der Arbeitnehmer ........................... 102 j) § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 – Verfahren zur Fest- und Umsetzung sowie zur Überprüfung des Vergütungssystems ...................................... 106

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Vergütungssystem börsennotierter Gesellschaften k) § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 11 – Angaben zu überprüftem Vergütungssystem .......................... 111 IV. Festlegung der Vergütung in Übereinstimmung mit einem vorgelegten Vergütungssystem (§ 87a Abs. 2 Satz 1) ...................... 113 1. Anforderungen ............................... 113 2. Auswirkungen auf Verträge mit Vorstandsmitgliedern ..................... 123

§ 87a

3. Festlegung bei Herabsetzung der Maximalvergütung durch die Hauptversammlung nach § 87 Abs. 4 .............................................. 128 V. Vorübergehende Abweichungen vom Vergütungssystem (§ 87a Abs. 2 Satz 2) ................................. 130 VI. Übergangsvorschriften ................. 134

I.

Regelungsgegenstand und systematische Zusammenhänge

1.

Gegenstand und systematischer Zusammenhang mit § 120a

Die Vorschrift wurde durch das Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechte- 1 richtlinie (ARUG II) vom 12.12.2019 eingeführt. Nach ihr hat der Aufsichtsrat einer börsennotierten AG für die Vergütung der Vorstandsmitglieder ein Vergütungssystem zu beschließen. Hieran anknüpfend sieht § 120a Abs. 1 vor, dass die Hauptversammlung über die Billigung des vom Aufsichtsrat vorgelegten Vergütungssystems beschließt und zwar bei jeder wesentlichen Änderung, mindestens jedoch alle vier Jahre. Hieran knüpft wiederum § 87a Abs. 2 an, wonach der Aufsichtsrat die Vergütung der Vorstandsmitglieder in Übereinstimmung mit einem der Hauptversammlung nach § 120a Abs. 1 vorgelegten (nicht unbedingt gebilligten) Vergütungssystems festzusetzen hat (siehe hierzu § 120a Rz. 22 f.). Verweigert die Hauptversammlung die Billigung des Vergütungssystems, ist spätestens in der darauffolgenden ordentlichen Hauptversammlung ein überprüftes (nicht unbedingt angepasstes) Vergütungssystem zum Beschluss vorzulegen (siehe hierzu § 120a Rz. 26 f.). 2.

Vorgängerregelung und bisherige Praxis

Bis zum Inkrafttreten der so angepassten §§ 87a, 120a war lediglich in § 120 Abs. 4 a. F. 2 vorgesehen, dass die Hauptversammlung börsennotierter AGs fakultativ über die Billigung des Vorstandsvergütungssystems beschließen kann. Allerdings hatte sich diese Möglichkeit in Publikumsgesellschaften zu einer faktischen Pflicht entwickelt, da große institutionelle Investoren und Stimmrechtsberater die Vorlage des Vergütungssystems verlangten und andernfalls die Entlastung des Aufsichtsrats sowie u. U. die Wiederwahl der Mitglieder des für Vergütung zuständigen Ausschusses und des Aufsichtsratsvorsitzenden verweigert hätten.1) Auch verlangten (und verlangen) institutionelle Investoren und Stimmrechtsberater eine 3 Anpassung und Neuvorlage des Vergütungssystems, wenn sich i. R. des Say-on-Pay-Beschlusses zeigt, dass ein signifikanter Anteil der Aktionäre das Vergütungssystem nicht billigt, auch wenn in Summe ein zustimmender Beschluss zustande gekommen ist. Auch diese Erwartung wird mit der Drohung sanktioniert, Aufsichtsratsmitgliedern die Entlastung zu verweigern. Damit legt die Marktpraxis (weiterhin) einen deutlich strengeren Maßstab an, als das AktG.

_____________ 1)

Vgl. etwa ISS Continental Europe Proxy Voting Guidelines v. 19.11.2020, Stand: 13.12.2001, S. 24, abrufbar unter https://www.issgovernance.com/file/policy/active/emea/Europe-Voting-Guidelines.pdf (Abrufdatum: 23.6.2022).

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§ 87a 3.

Vergütungssystem börsennotierter Gesellschaften Vorgaben der Aktionärsrechterichtlinie

4 § 87a setzt zusammen mit § 120a die Vorgaben des Art. 9a der Aktionärsrechterichtlinie (ARRL)2) in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2017/828 vom 17.5.20173) (ARRL II) um. Dabei orientiert sich die Umsetzung sehr eng an den Vorgaben der Richtlinie.4) Diese gibt bereits einen großen Teil der Regelungen zum Vergütungssystem (dort unter dem Begriff „Vergütungspolitik“)5) und der Beschlussfassung der Hauptversammlung darüber vor.6) Art. 9a ARRL II sieht in Absatz 2 eigentlich einen verbindlichen Charakter des Beschlusses der Hauptversammlung über die Vergütungspolitik vor und räumt lediglich in Absatz 3 ein Mitgliedstaatenwahlrecht zu einer empfehlenden Beschlussfassung der Hauptversammlung ein. Von diesem Mitgliedstaatenwahlrecht macht Deutschland mit der Regelung in § 87a Abs. 2 Satz 1 Gebrauch, wonach es ausreicht, dass der Aufsichtsrat die Vergütung in Übereinstimmung mit einem vorgelegten Vergütungssystem festsetzt, unabhängig davon, ob es gebilligt wurde. 4.

Regelungsziel

5 Nach ErwG 29 der 2. ARRL dient die Vorlage eines Vergütungssystems und die Abstimmung der Hauptversammlung dazu, den Einfluss der Aktionäre auf die Vergütungspolitik sicherzustellen und damit die Aktionärsrechte zu stärken.7) Gleichzeitig sollte aber gemäß ErwG 28 die Vielfalt der Corporate-Governance-Systeme in der EU respektiert werden. Diese Formulierung dürfte sich insbesondere auf die Besonderheiten des deutschen dualen Systems der Unternehmensleitung und -überwachung sowie die deutsche unternehmerische Mitbestimmung beziehen, denn das Say-on-Pay-Konzept entstammt vorwiegend Rechtssystemen mit monistischer Struktur.8) 6 Im deutschen dualistischen Corporate Governance System ist die Festlegung der Vergütung eine der zentralen Aufgaben des Aufsichtsrats und wesentliche Säule seines Einflusses auf die Unternehmensleitung. Kompetenzen der Hauptversammlung in diesem Bereich beeinträchtigen daher die Stellung des Aufsichtsrats. In Unternehmen, für die die unternehmerische Mitbestimmung gilt, führt eine Einschränkung der Kompetenzen des Aufsichtsrats gleichzeitig zu einer Verringerung des Einflusses der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat auf die Unternehmensleitung.9) Da der Gesetzgeber bestrebt, war, die geltende Kompetenzordnung so weit wie möglich beizubehalten,10) hat er das Mitgliedstaaten_____________ 2) Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften (Aktionärsrechterichtlinie – ARRL), ABl. (EU) L 184/17 v. 14.7.2007. 3) Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre (Zweite Aktionärsrechterichtlinie – ARRL II), ABl. (EU) L 132/1 v. 20.5.2017. 4) Vgl. Bungert/Berger, DB 2018, 2801; zur Entstehung der Richtlinie vgl. Anzinger, ZGR 2019, 39, 66 ff., zur Umsetzung 73 ff. 5) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 20. 6) Kritisch zu dem von der Richtlinie vorgegebenen Detailgrad der Regelung DAV-Stellungnahme zum RefE des ARUG II, NZG 2019, 12, 16, Rz. 39; Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 16; Bayer, DB 2018, 3034, 3037. 7) Vgl. z. B. Art. 9a und ErwG 29 der ARRL II; Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 34 f. 8) Zur Entwicklung dieses Konzepts in Großbritannien vgl. Anzinger, ZGR 2019, 39, 61 – 64; zur rechtspolitischen Kritik an der ursprünglich ausschließlich an der monistischen Gesellschaftsstruktur orientierten Richtlinie Florstedt, ZGR 2019, 630, 642 f. 9) Konsequent hatten sich die Gewerkschaften, aber auch die Industrieverbände gegen ein verbindliches HV-Votum ausgesprochen – vgl. Bayer, DB 2018, 3034, 3037. 10) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 34 f.; Löbbe/Fischbach, AG 2019, 373, 375; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87a AktG Rz. 7.

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Vergütungssystem börsennotierter Gesellschaften

§ 87a

wahlrecht zu einer empfehlenden Beschlussfassung der Hauptversammlung genutzt.11) Die Gesetzesbegründung stellt auch ausdrücklich klar, dass die Verantwortung des Aufsichtsrats für die Festlegung der Vorstandsvergütung von der Beschlussfassung der Hauptversammlung unberührt bleibt.12) Eine Ausnahme bildet der erst spät im Gesetzgebungsverfahren eingefügte § 87a Abs. 4, 7 der vorsieht, dass die Hauptversammlung die nach § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 verpflichtend anzugebende Maximalvergütung verbindlich herabsetzen kann.13) Dies ist zwar in der Richtlinie nicht unmittelbar vorgesehen, von dieser aber gedeckt, da die Richtlinie im Regelfall ein insgesamt verbindliches Votum der Aktionäre vorsieht.14) Mit § 87a Abs. 4 ist somit das Mitgliedstaatenwahlrecht nur teilweise genutzt worden. Neben den konkreten Auswirkungen der Regelung auf die Governance scheint mit ihr 8 zumindest teilweise auch das Ziel verfolgt zu werden, eine Mäßigung bei dem als zu hoch empfundenen Niveau der Vorstandsvergütung zu erreichen,15) insbesondere auch im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Vergütung des Vorstands und der Arbeitnehmer.16) Ob dieses Ziel erreicht wird, werden erst künftige Erfahrungen mit dem neuen GovernanceMechanismus zeigen.17) Rechtspolitisch wird der seit längerer Zeit zu beobachtende gesetzgeberische Fokus auf die Vorstandsvergütung und die damit verbundene zunehmende Komplexität vermehrt kritisch gesehen.18) Dass von materiellen Vorgaben, insbesondere absoluten oder relativen Vergütungsgren- 9 zen abgesehen wurde, ist sehr zu begrüßen,19) da das bloße Empfinden, dass das Vergütungsniveau zu hoch sei,20) einen so gravierenden Eingriff in den marktwirtschaftlichen Mechanismus und die Grundrechte der Aktionäre und Vorstandsmitglieder nicht zu rechtfertigen vermag.21) Die Forderungen nach derartigen Eingriffen, die die Attraktivität Deutschlands als Standort für die Zentrale großer Konzerne nachhaltig beeinträchtigen, stehen auch in Kontrast zu dem Bestreben, die Zentralen bedeutender Unternehmen in wichtigen Branchen in Deutschland zu halten.

_____________ 11) Dies begrüßend: Bayer, DB 2018, 3034, 3037 m. w. N; s. a. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87a AktG Rz. 8; kritisch hingegen Bachmann/Pauschinger, ZIP 2019, 1, 5; Bungert/Berger, DB 2018, 2801, 2803; J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1203. 12) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 74. 13) Aus rechtspolitischer Sicht sehr kritisch zu dieser Regelung: K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 48; ebenfalls kritisch Florstedt, ZIP 2020, 1, 5; grundsätzlich befürwortend dagegen GrigoleitGrigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 14. 14) Näher Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 37. 15) Hierzu Bayer, DB 2018, 3034 f.; tendenziell auch Habersack, NZG 2018, 127; zumindest aus ökonomischer Sicht eher ablehnend Anzinger, ZGR 2019, 39, 40 ff.; Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 7 ff.; vgl. auch Florstedt, ZGR 2019, 630, 332; Florstedt, ZIP 2020, 1, 4. 16) Mit Statistiken zur Entwicklung der Pay Ratio Habersack, NZG 2018, 127, 129 f.; zur entsprechenden Angabepflicht im Vergütungssystem s. unten § 162 Rz. 19. 17) Zweifelnd Florstedt, ZGR 2019, 630, 639 f.; ähnlich Verse, NZG 2013, 921, 924 ff.; mit Verweis auf empirische Untersuchungen auch Velte, EuZW 2013, 893; dagegen Bayer, DB 2018, 3034 f.; GrigoleitGrigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 13 ff.; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87a Rz. 5. 18) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87a Rz. 1 („legislative […] Hyperaktivität“) und § 87 Rz. 2 f.; kritisch auch Goslar, DB 2020, 937, 942. 19) Habersack, NZG 2018, 127, 133; Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 14. 20) Vgl. Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 14, der darauf hinweist, dass aus ökonomischer Sicht keine Anhaltspunkte für ein großflächiges Marktversagen bestünden. 21) Zur verfassungsrechtlichen Problematik von Vergütungsgrenzen s. Kiethe, BB 2003, 1573.

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§ 87a II.

Vergütungssystem börsennotierter Gesellschaften Anwendungsbereich

10 § 87a gilt nur für börsennotierte AGs. Wann eine AG börsennotiert ist, richtet sich nach § 3 Abs. 2.22) 11 Umstritten ist, ob § 87a auch für die börsennotierte KGaA gilt.23) Für eine Anwendung wird angeführt, dass die Aktionärsrechterichtlinie auch für die KGaA Geltung beanspruche.24) In der Tat ist nach Art. 9a der II. ARRL eine Vergütungspolitik für die Mitglieder der Unternehmensleitung zu erarbeiten und Mitglied der Unternehmensleitung bezeichnet nach Art. 2 lit. i Ziff. i „jedes Mitglied des Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans einer Gesellschaft“. Bei der KGaA ist der Komplementär Geschäftsführungsorgan25) und unterfällt damit dem Anwendungsbereich der Richtlinie. 12 In der deutschen Umsetzung stellt sich die Frage, ob § 87a vor dem Hintergrund, dass der Aufsichtsrat der KGaA gerade keine Personal- oder Vergütungskompetenz für die Komplementäre oder die Organmitglieder der Komplementär-Kapitalgesellschaft hat, gemäß § 278 Abs. 3 unanwendbar ist. Dafür spricht, dass auch § 87a Abs. 1 für unanwendbar gehalten wird (siehe hierzu § 288 Rz. 7), § 87a im Katalog des § 283 nicht genannt wird und § 87a ein System zur Vergütung der Vorstandsmitglieder vorsieht, die die KGaA ja gerade nicht hat. Mangels Festsetzung der Vergütung des Komplementärs und seiner Organmitglieder kann die durch § 87a angestrebte Selbstbindung des Aufsichtsrats gerade nicht erreicht werden. Die Vergütung der Komplementäre wird ohnehin bereits durch die Satzung festgelegt, so dass die Kommanditaktionäre darauf Einfluss haben. 13 Dem steht allerdings entgegen, dass sich dann ein Umsetzungsdefizit der Aktionärsrechterichtlinie ergäbe26) und der deutsche Gesetzgeber gerade bei § 87a bestrebt war, diese möglichst genau umzusetzen. Das könnte vermieden werden, indem im Wege richtlinienkonformer Auslegung § 87a auch in der KGaA zumindest in modifizierter Form angewandt wird. Die fehlende Nennung in § 283 muss dem nicht entgegenstehen, da § 87a sich an den Aufsichtsrat richtet und nicht an den Komplementär. 14 § 87a kann insoweit angewandt werden, als er vorsieht, dass der Aufsichtsrat ein Vergütungssystem ein Vergütungssystem erarbeitet und beschließt. Dieses kann auch nach § 120a der Hauptversammlung zur Billigung vorgelegt werden. Wenn die Komplementärin eine Kapitalgesellschaft ist und somit deren Vorstand oder Geschäftsführer die Geschäfte der KGaA führen, dürfte jedenfalls dann, wenn die KGaA letztlich den Aufwand der Vergütung trägt, zu fordern sein, dass das Vergütungssystem sich auf die Mitglieder des Geschäftsführungsorgans der Komplementär-Kapitalgesellschaft bezieht. 15 Hingegen kann der Aufsichtsrat der KGaA mangels Kompetenz hierzu die Vergütung nicht gemäß § 87a Abs. 2 in Übereinstimmung mit einem vorgelegten Vergütungssystem festsetzen. Dies gilt auch im Falle einer KGaA, deren Komplementärin eine AG ist, denn auch hier hat der Aufsichtsrat der KGaA keine Kompetenz zur Festlegung der Vergütung des Vorstands der Komplementär-AG. § 87a Abs. 2 ist daher auf die KGaA nicht anzuwenden.

_____________ 22) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87a Rz. 3. 23) Dafür Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87a Rz. 3, dagegen Gärtner in: Goette/Arnold, Hdb. Aufsichtsrat, § 4 Rz. 1936 ff. 24) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87a Rz. 3. 25) Bachmann in: BeckOGK-AktR, § 278 AktG Rz. 19. 26) A. A. Gärtner in: Goette/Arnold, Hdb. Aufsichtsrat, § 4 Rz. 1938, mit Hinweis darauf, dass das Regelungsziel der Richtlinie bereits dadurch erreicht sei, dass die Hauptversammlung ohnehin über die Vergütung des Komplementärs entscheidet. Allerdings wird allein deshalb den Aktionären noch kein Vergütungssystem vorgelegt, wie es Art. 9a ARRL verlangt.

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§ 87a

Auf eine Komplementär-AG ist § 87a im Regelfall insgesamt nicht anzuwenden, da diese 16 typischerweise nicht börsennotiert ist. Die Komplementär-AG aufgrund der Börsennotierung der KGaA in den Anwendungsbereich einzubeziehen würde die Trennung zwischen beiden Rechtsträgern ignorieren und die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung überschreiten. Soweit allerdings der Aufsichtsrat der KGaA mit der Komplementärin eine Vergütungs- 17 vereinbarung27) schließt oder die Mitglieder des Geschäftsführungsorgans der Komplementär-Kapitalgesellschaft direkt von der KGaA vergütet werden,28) dürfte gemäß § 87a Abs. 2 zu verlangen sein, dass der Aufsichtsrat beim Abschluss entsprechender Vereinbarungen ein der Hauptversammlung vorgelegtes Vergütungssystem beachtet. Falls die KGaA natürliche Personen als Komplementäre hat, kann für diese ein Vergü- 18 tungssystem in ähnlicher Weise vorgelegt und ggf. eine Anpassung der Vergütungsregelung in der Satzung daran zur Beschlussfassung vorgeschlagen werden. III.

Beschluss eines Vergütungssystems durch den Aufsichtsrat (§ 87a Abs. 1)

1.

Begriff und Bedeutung des Vergütungssystems

Das Vergütungssystem stellt die wesentlichen Eckpunkte der Vergütung des Vorstands 19 zusammen und gibt dafür Leitlinien vor. Der Aufsichtsrat gibt sich damit selbst einen Rahmen für die individuelle Festlegung der Vergütung der Vorstandsmitglieder.29) Die Darstellung im Vergütungssystem macht diesen Rahmen für die Aktionäre transparent. Dadurch, dass die Hauptversammlung nach § 120a Abs. 4 auch über den Vergütungsbericht beschließt, wird es den Aktionären ermöglicht, die Übereinstimmung der tatsächlich gewährten Vergütung mit dem Vergütungssystem zu kontrollieren. Die individuelle Festlegung erfolgt durch vertragliche Vereinbarung im Anstellungsvertrag des Vorstandsmitglieds (siehe hierzu nachfolgend Rz. 116). Das Vergütungssystem erfasst alle den Vorstandsmitgliedern durch die Gesellschaft ge- 20 währten Vergütungsbestandteile. Der Vergütungsbegriff ist weit zu verstehen.30) Nach Art. 9a Abs. 6 Unterabs. 1 Satz 2 ARRL II gilt das Vergütungssystem für alle „festen und variablen Vergütungsbestandteile, einschließlich sämtlicher Boni und anderer Vorteile in jeglicher Form, die Mitgliedern der Unternehmensleitung gewährt werden können“. Wenngleich nicht in der ARRL II erwähnt, muss ein Bezug zur Vorstandstätigkeit in Form eines Gegenleistungscharakters bestehen.31) Leistungen i. R. von Austauschgeschäften außerhalb der Vorstandstätigkeit sind daher nicht erfasst. Insgesamt dürfte Übereinstimmung mit dem Begriff der Bezüge in § 87 bestehen (siehe hierzu § 87 Rz. 6 ff.). Fraglich ist, inwieweit auch Drittzahlungen erfasst sind. § 87a soll einen Rahmen für die 21 Festlegung der Vergütung des Aufsichtsrats schaffen und diesen für die Aktionäre transparent machen. Das spricht dafür, Drittzahlungen insoweit zu erfassen, als der Aufsichtsrat über sie mitentscheidet, insbesondere soweit sie seiner Zustimmung bedürfen (siehe dazu § 87 Rz. 5, 9).32) _____________ 27) 28) 29) 30) 31) 32)

Hierzu etwa Herfs in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 79 Rz. 29. Hierzu Gärtner in: Goette/Arnold, Hdb. Aufsichtsrat, § 4 Rz. 1939. Vgl. Bachmann/Pauschinger, ZIP 2019, 1, 4; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87a Rz. 2. Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 20. Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 20. Etwas enger Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 20: „Soweit […] Drittzahlungen das Gesellschaftsvermögen mittelbar belasten und durch eine Entscheidung in der in Rede stehenden Gesellschaft ausgelöst werden […]“ sowie Spindler in MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 87a Rz. 12.

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§ 87a

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22 Bereits aus den Angabepflichten nach § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 lit. c ergibt sich, dass das Vergütungssystem auch Leistungen an ehemalige Vorstandsmitglieder aufgrund ihrer Vorstandstätigkeit erfasst. 2.

Allgemeine Anforderungen

a)

Klarheit und Verständlichkeit

23 Nach § 87a Abs. 1 Satz 1 muss das Vergütungssystem „klar und verständlich“ sein. Ziel dieser Vorgabe ist nach der Regierungsbegründung, den Aktionären eine informierte Entscheidung zu ermöglichen. Der relevante Empfängerhorizont sei der des durchschnittlich informierten, situationsadäquat aufmerksamen und verständigen Aktionärs.33) Gegenüber der noch im Referentenentwurf verwendeten Formulierung „allgemein verständlich“ wird betont, dass das Vergütungssystem nicht für jedermann, sondern für den durchschnittlichen Aktionär, also einen mit der Materie befassten Personenkreis verständlich sein müsse. Es seien keine überzogenen Anforderungen zu stellen. Es wird anerkannt, dass sich aufgrund der Vielzahl der Anforderungen in der Praxis eine gewisse Komplexität nicht vermeiden lasse. Um dem Maßstab gerecht zu werden, seien langatmige Ausführungen mit technischen Begriffen zu vermeiden und Schaubilder und Beispiele sinnvoll. Die Grundsätze zum Transparenzgebot in § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB seien nicht übertragbar.34) 24 Vor dem Hintergrund des Gesetzeswortlauts und der Regierungsbegründung stellt sich die Frage, ob die Anforderung der Klarheit und Verständlichkeit sich auf die Ausgestaltung des Vergütungssystems selbst oder dessen Darstellung zur Vorlage an die Hauptversammlung bezieht. Der Gesetzeswortlaut spricht für ersteres, ebenso die Formulierung in der ARRL II. Hingegen deuten ErwG 29 der ARRL II sowie die Regierungsbegründung für letzteres (vgl. insb. die Hinweise zur Verwendung technischer Begriffe und Beispiele). 25 Im Ergebnis dürfte die Regelung so zu verstehen sein, dass den Aktionären eine klare und verständliche Darstellung des Vergütungssystems vorgelegt werden muss. Dies setzt mittelbar voraus, dass auch das zugrunde liegende Vergütungssystem einen gewissen Komplexitätsgrad nicht überschreiten darf, zumal auch die Sorgfaltspflicht des Aufsichtsrats es verlangen dürfte, die Komplexität des Vergütungssystems in einem vernünftigen Rahmen zu halten. Denn mit der Komplexität steigt das Risiko, dass es zu Fehlanreizen für den Vorstand kommt oder die Aufsichtsratsmitglieder die Anreizwirkung falsch einschätzen. Vor diesem Hintergrund dürften aktuelle Vergütungssysteme börsennotierter Gesellschaften sich bereits nahe der Grenze vertretbarer Komplexität bewegen und die Aufsichtsräte sollten einer weiteren Steigerung der Komplexität entgegenwirken. Das stellt allerdings keine leichte Aufgabe dar, da die Anforderungen des Gesetzgebers, des Corporate Governance Kodex, der Proxy Adviser und Investoren eine stetige Komplexitätserhöhung begünstigen, zuletzt etwa durch die Forderung nach der Berücksichtigung von ESG-Zielen bei der Bemessung der Vergütung. b)

Detailgrad und Reichweite der Pflichtangaben

26 Nicht vollständig geklärt sind die Anforderungen an den Detailgrad des Vergütungssystems. Unklar ist insbesondere inwieweit das Vergütungssystem dem Aufsichtsrat Gestaltungsspielräume offenhalten darf. Teilweise wird betont, dass das Vergütungssystem dem Aufsichtsrat erhebliche Anwendungsspielräume belassen dürfe; eine Grenze sei erst erreicht, _____________ 33) Näher zu diesem Maßstab: K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87a Rz. 4; kritisch zum Erfordernis der Verständlichkeit DAV, Stellungnahme zum RefE des ARUG II, NZG 2019, 12, 16, Rz. 38. 34) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 72.

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wenn das Vergütungssystem „derart generisch und abstrakt gehalten ist, dass es keinen Orientierungsrahmen für die konkrete Vorstandsvergütung mehr vorgibt und praktisch eine hohe Anzahl diverser, strukturell unterschiedlicher Ausgestaltungen der Vorstandsvergütung abdeckt“.35) Mit Blick auf die engen Voraussetzungen, die § 87a Abs. 2 Satz 2 für ein Abweichen vom Vergütungssystem vorsieht, wird von anderen Autoren hingegen die Notwendigkeit einer etwas stärkeren („mittleren“) Konkretisierung betont.36) Zudem wird argumentiert, die Regelung des § 120a Abs. 1 Satz 1, wonach wesentliche Änderungen des Vergütungssystems einer erneuten Legitimation durch die Hauptversammlung bedürfen, dürfe nicht durch weitgehende Änderungsvorbehalte des Aufsichtsrats unterlaufen werden.37) Für Aktionäre müsse anhand des vorgelegten Vergütungssystems erkennbar sein, in welchem Rahmen sich die Vorstandsvergütung bewegen wird, so dass sie eine informierte Entscheidung treffen können.38) Zunächst ergibt sich der erforderliche Detailgrad bereits aus der Auflistung der Pflicht- 27 angaben des § 87a Abs. 1. Insbesondere dadurch, dass nach § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 die Maximalvergütung, nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 alle festen und variablen Vergütungsbestandteile und ihr jeweiliger relativer Anteil an der Vergütung sowie nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 4 die Leistungskriterien für die variable Vergütung festgelegt werden müssen, ergibt sich zwangsläufig eine sehr weitgehende Festlegung. Welche Spielräume innerhalb dieser Angabepflichten bestehen, ist eine Frage der Auslegung der einzelnen Tatbestände (hierzu jeweils nachfolgend). In der Tat sollten dabei keine zu hohen Anforderungen an den Detailgrad gestellt werden, um zu vermeiden, dass das Vergütungssystem zu einem zu starren Korsett wird, das dem Aufsichtsrat notwendige Handlungsspielräume versagt. Eine allgemeine Schranke für den Detailgrad der erforderlichen Angaben stellen die be- 28 rechtigten Vertraulichkeitsinteressen der Gesellschaft dar. Soweit durch die Darstellung im Vergütungssystem wesentliche Nachteile drohen würden, etwa weil wettbewerbsrelevante Informationen offengelegt werden müssten, kann sich die Darstellung auf generischere Angaben beschränken um einen Schaden für die Gesellschaft zu vermeiden.39) Relevant werden kann dies insbesondere bei der Festlegung der Leistungskriterien nach § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 4, da diese wettbewerbsrelevante Informationen beinhalten können. Soweit nicht bereits der Auslegungsspielraum i. R. des Katalogs des Absatz 1 Satz 2 ausreicht, um schädliche Angaben zu vermeiden, sind die Anforderungen telelogisch zu reduzieren, um den Geheimhaltungsinteressen der Gesellschaft Rechnung zu tragen.40) Für Aspekte der Vergütung, die in keine der Kategorien des § 87a Abs. 1 fallen, braucht 29 der Aufsichtsrat keine Festlegungen zu treffen und kann sich insoweit Flexibilität bei der Umsetzung erhalten.41) Wegen der schwerfälligen Anforderungen an eine Änderung des Vergütungssystems ist die Praxis gut beraten, dies auch nicht zu tun. Gemäß § 87a Abs. 1 Satz 2 sind Angaben zu Vergütungsbestandteilen nur dann zwin- 30 gend erforderlich, wenn diese tatsächlich im Vergütungssystem vorgesehen sind. Angaben nach Absatz 1 Satz 2, die keine Vergütungsbestandteile betreffen, müssen dagegen in jedem Fall erfolgen; dies betrifft die § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 2 und 9 – 11.42) Zu Recht nicht _____________ 35) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87a Rz. 3. 36) Spindler in MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 87a Rz. 12a, ebenso mit Empfehlungen zur Ausgestaltung des Vergütungssystems in der Praxis J. Vetter/Lauterbach, AG 2021, 89, 91 f., Rz. 7 – 14. 37) J. Vetter/Lauterbach, AG 2021, 89, 91, Rz. 10. 38) J. Vetter/Lauterbach, AG 2021, 89, 91, Rz. 12. 39) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 31. 40) Mit ausführlicher Begr. Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 31. 41) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 30. 42) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 27.

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durchgesetzt hat sich dagegen wohl die Ansicht, dass zumindest eine Fehlanzeige erfolgen muss,43) wenn das Vergütungssystem die Gewährung von im Katalog des § 87a Abs. 1 Satz 2 genannten Vergütungsbestandteilen nicht vorsieht.44) Das zu verlangen, würde der Regelung in § 87a Abs. 1 Satz 2 gerade widersprechen. Allerdings muss sich das Vergütungssystem in jedem Fall zu den in § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 2 und 9 – 11 genannten Aspekten äußern, so dass insoweit u. U. auch eine Fehlanzeige erforderlich sein kann. 31 Umgekehrt ergibt sich aus dem Wortlaut „mindestens“, dass das Vergütungssystem über § 87a Abs. 1 Satz 2 hinausgehende Angaben enthalten kann, wovon aber in der Praxis sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht werden sollte.45) c)

Keine materiellen Vorgaben für die inhaltliche Ausgestaltung

32 § 87a selbst macht keine materiellen Vorgaben für die individuelle Ausgestaltung der Vergütung von Vorstandsmitgliedern, sondern verpflichtet den Aufsichtsrat lediglich, ein Vergütungssystem aufzustellen, das sich zu den in § 87a Abs. 1 Satz 2 genannten Mindestangaben äußert.46) 33 Somit verbleibt es dabei, dass das Gesetz nur in § 87 materiell-rechtliche Vorgaben für die Vorstandsvergütung macht.47) Diese müssen bereits bei der Ausgestaltung des Vergütungssystems berücksichtigt werden.48) 34 Gewisse Zweifel an dieser Sichtweise weckt allerdings die nachträglich durch den Rechtsausschuss in § 87a Abs. 1 Satz 2 eingefügte Nr. 1, die die Festlegung einer Maximalvergütung der Vorstandsmitglieder in Form einer konkreten Zahl vorschreibt (siehe hierzu Rz. 47 ff.). Dies kann eine bestimmte inhaltliche Ausgestaltung der Vergütung bedingen, damit die Angabe einer solchen Obergrenze überhaupt möglich ist. Insbesondere wenn sich die Höhe einer variablen Vergütungskomponente aus einer finanziellen Kennziffer ergibt, die theoretisch unbegrenzt ansteigen kann, muss dafür eine Obergrenze eingeführt werden, damit eine Maximalvergütung angegeben werden kann. 35 Will man daher bei der Grundlinie bleiben, dass § 87a keine materiellen Vorgaben macht, wäre es konsequent in solchen Fällen (etwa bei einer aktienkursabhängigen Vergütung) auch die Angabe im Vergütungssystem zuzulassen, dass sich die Obergrenze für eine bestimmte Vergütungskomponente nur aus einer Formel auf Basis der jeweiligen Bezugsgröße (also etwa des Aktienkurses) ergibt (siehe hierzu Rz. 51). 36 Jedenfalls sollte man die Anforderungen an die Konkretisierung der Maximalvergütung nach § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 nicht überspannen. Außerdem sollte kein Rückschluss auf die weiteren Angabepflichten des Absatzes 1 Satz 2 gezogen werden.49) Vielmehr sollte es für diese dabei bleiben, dass auch die Angabe zulässig ist, dass eine bestimmte Ausgestaltung (etwa ein zeitlicher Aufschub für die Auszahlung) nicht vorgesehen ist. 3.

Festlegung durch den Aufsichtsrat

37 Nach § 87a Abs. 1 Satz 2 beschließt der Aufsichtsrat das Vergütungssystem. _____________ Dafür Florstedt, ZGR 2019, 630, 646. Spindler, AG 2020, 61, 64, Rz. 11; Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 30. Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 28. Löbbe/Fischbach, AG 2019, 373, 377; zum RefE ARUG II Bungert/Berger, DB 2018, 2801, 2802; Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 33. 47) Vgl. überblicksartig auch Spindler, AG 2020, 61 f., Rz. 1. 48) Florstedt, ZGR 2019, 630, 652. 49) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 33, sehen § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 als Ausnahmefall. 43) 44) 45) 46)

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Die Vorbereitung des Beschlusses über das Vergütungssystem kann ohne weiteres auf 38 einen Ausschuss des Aufsichtsrats delegiert werden.50) Fraglich ist hingegen, ob auch die Beschlussfassung selbst auf einen Ausschuss übertragen 39 werden kann. Dies wird teils befürwortet, weil § 87a nicht in der Aufzählung des § 107 Abs. 3 Satz 7 genannt ist, der Aufsichtsrat unstrittig auch die Vorbereitung des Vergütungssystems auf einen Ausschuss übertragen könne und der Aufsichtsrat später bei der Vereinbarung der konkreten Vergütung noch ausreichend Gestaltungspielraum habe.51) Nach a. A. ist die Delegation des Beschlusses über das Vergütungssystem unzulässig.52) Dies ergebe sich aus einem Erst-Recht-Schluss aus der Nennung des § 87 in § 107 Abs. 3 Satz 7, da dem Beschluss des Vergütungssystems und der darin liegenden Selbstbindung des Aufsichtsrats grundlegendere Bedeutung zukomme, als der Festlegung der Vergütung.53) Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich jedenfalls in der Praxis das Vergütungssystem im Plenum zu beschließen.54) Die Einbeziehung von Vergütungsberatern bei der Erstellung des Vergütungssystems ist 40 nach allgemeinen Regeln möglich.55) 4.

Gesetzlich vorgegebene Angaben

a)

§ 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 – Maximalvergütung

§ 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 verlangt die Angabe einer Maximalvergütung als Pflichtangabe 41 des Vergütungssystems, die stets aufzunehmen ist, unabhängig von den vorgesehenen Vergütungsbestandteilen.56) Die Auslegung des Begriffs wirft eine Reihe von Fragen auf. Zunächst dürfte die Maximal- 42 vergütung entsprechend dem weiten Vergütungsbegriff des § 87a (siehe hierzu vorstehend Rz. 20) alle Vergütungskomponenten, die für die Vorstandstätigkeit gewährt werden, erfassen. Damit scheiden umgekehrt Leistungen ohne Vergütungscharakter aus, insbesondere Leistungen i. R. von Austauschgeschäften wie unter Dritten. Nicht vom Gesetzeswortlaut vorgegeben ist die Bewertung der einzelnen Vergütungs- 43 komponenten. In der Literatur wird hierfür an den der Gesellschaft entstehenden Aufwand und damit an die Bewertung nach den anwendbaren Rechnungslegungsgrundsätzen angeknüpft.57) Alternativ denkbar wäre auch, an den Wert für das einzelne Vorstandsmitglied anzuknüpfen. Richtigerweise sollte es der Ausgestaltung im jeweiligen Vergütungssystem überlassen bleiben, wie der Wert der Vergütungskomponenten für Zwecke der Anwendung der Maximalvergütung zu ermitteln ist, da das Gesetz hierfür keine Vorgaben macht. Dafür spricht auch die Begründung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz, mit dessen Beschlussvorschlag die Maximalvergütung in das Gesetzgebungsverfahren _____________ 50) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87a AktG Rz. 11 unter IV. 51) So die wohl überwiegende Ansicht: vgl. noch zum RegE Bachmann/Pauschinger, ZIP 2019, 1, 2; Gärtner/Himmelmann, AG 2021, 259, 260, Rz. 13; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87a AktG Rz. 11 unter IV., der allerdings von § 107 Abs. 3 Satz 4 spricht, ebenso K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87a Rz. 21. 52) Ausführlich E. Vetter, NZG 2020, 1161. 53) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 21. 54) Bachmann/Pauschinger, ZIP 2019, 1, 2; Gärtner/Himmelmann, AG 2021, 259, 260, Rz. 13. 55) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 23. 56) Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses R/V, BT-Drucks. 19/15153, S. 56. 57) J. Vetter/Lauterbach, AG 2021, 89, 99, Rz. 51; Begr. z. G. 1 DCGK, abrufbar unter https://www.dcgk.de/ files/dcgk/usercontent/de/download/kodex/191216_Begruendung_DCGK.pdf (Abrufdatum: 23.6.2022); Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87a Rz. 5; Spindler in MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 87a Rz. 16; v. Zehmen, BB 2021, 628, 629.

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eingebracht wurde. Danach obliegt im Hinblick auf die häufig komplexe und fein austarierte Struktur des Vergütungssystems die „inhaltliche Ausgestaltung der Maximalvergütung […] weiterhin dem Aufsichtsrat und ergibt sich aus dem Vergütungssystem“.58) 44 Die Ausschussbegründung stellt ausdrücklich klar, dass die Maximalvergütung nicht für alle Vergütungskomponenten einheitlich festgelegt werden muss – sie könne etwa für fixe und variable Vergütungsbestandteile gesondert festgelegt werden.59) 45 Neben der Bewertung der Vergütungskomponenten stellt sich auch die Frage des zeitlichen Bezugs der Maximalvergütung. Um praktikabel zu sein, muss sich die Maximalvergütung auf eine bestimmte Periode beziehen. Wenngleich dies weder im Gesetzeswortlaut noch in der Ausschussbegründung deutlich wird, dürfte in der Praxis allein eine jährliche Festlegung praktikabel sein, wie sie auch durchgängig üblich ist. Daran schließt sich aber die Frage an, wie gewährte Vergütung einer einzelnen Periode zuzuordnen ist. Denkbar ist hier, auf den Zeitpunkt des Zuflusses der Vergütung (etwa i. S. des § 11 EStG) abzustellen.60) Alternativ kann darauf abgestellt werden, für welche Tätigkeitsperiode die Vergütung gewährt wird.61) Letzteres entspricht der überwiegenden Praxis für Zwecke der bisherigen Kodexempfehlung zur Festlegung einer Maximalvergütung. Richtigerweise sollte auch hier aus der fehlenden Festlegung durch das Gesetz darauf geschlossen werden, dass der Aufsichtsrat in der Ausgestaltung der Maximalvergütung insoweit frei ist und die Periodenzuordnung (u. U. auch für einzelne Vergütungskomponenten unterschiedlich) festlegen und so die Maximalvergütung auf die Struktur des Vergütungssystems abstimmen kann. Auch dies wird von der Ausschussbegründung gestützt, die betont, dass der Aufsichtsrat in der Ausgestaltung der Maximalvergütung frei ist.62) Für viele Fälle hat sich allerdings in der Praxis eine Anwendung der Obergrenze auf die gesamte Vergütung, die für ein Tätigkeitsjahr gewährt wird, bewährt. 46 § 87a legt nicht fest, ob für Zwecke der Maximalvergütung auch Drittvergütung zu berücksichtigen ist. Nach der wohl h. M. sind aber jedenfalls sog. Konzernbezüge in die Berechnung der Maximalvergütung miteinzubeziehen.63) Teilweise wird vertreten, dass auch sonstige Leistungen Dritter im Hinblick auf die Vorstandstätigkeit miterfasst werden müssen.64) Im Hinblick darauf, dass sich der Aufsichtsrat mit dem Vergütungssystem einen gegenüber den Aktionären transparenten Rahmen für die eigene Entscheidung über die Festsetzung der Vorstandsvergütung setzen soll, sollte die Maximalvergütung auch solche Drittvergütung erfassen, die für die Vorstandstätigkeit bei der Gesellschaft gewährt wird und der der Aufsichtsrat zustimmen muss. Nach wohl h. M. sind das zumindest solche Vergütungskomponenten, die von Tochtergesellschaften gewährt werden, oder die einen Interessenkonflikt begründen können, etwa weil sie von einem herrschenden Unternehmen gewährt werden (siehe dazu § 87 Rz. 5, 9 und zum Ganzen bereits oben Rz. 21). 47 Umstritten ist, ob die Maximalvergütung als konkrete Zahl anzugeben ist oder die Angabe einer Berechnungsmethode, anhand derer sich die Maximalvergütung unter Bezugnahme auf

_____________ 58) Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses R/V, BT-Drucks. 19/15153, S. 55 und ebenso S. 56. 59) Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses R/V, BT-Drucks. 19/15153, S. 55 und ebenso S. 56. 60) Stenzel, BB 2020, 970, 971; unklar Böcking/Bundle, Der Konzern 2020, 15, 16, „es könnte eine Begrenzung der zugesagten, i. S. d. in Aussicht gestellten (Ziel-)Vergütung oder der gewährten, i. S. d. zugeflossenen Vergütung erfolgen“. 61) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 39. 62) Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses R/V, BT-Drucks. 19/15153, S. 55 und ebenso S. 56. 63) Ausführlich: v. Zehmen, BB 2021, 628, 629. 64) So wohl K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87a Rz. 8.

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gewisse Kenngrößen bestimmen lässt, ausreicht.65) Jedenfalls müsse die Angabe der Maximalvergütung in einer Formel dem Gebot der Klarheit und Verständlichkeit des Vergütungssystems Rechnung tragen und dürfe insbesondere nicht die Befugnis der Hauptversammlung, die Maximalvergütung herabzusetzen (§ 87 Abs. 4), unterlaufen.66) Die Begründung des Rechtsausschusses zu § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 ist zu dieser Frage nicht 48 ganz klar. Danach müsse die Festlegung der Maximalvergütung konkrete Zahlen benennen, könne sich aber zu deren Berechnung z. B. an einem Vielfachen der durchschnittlichen Belegschaftsvergütung orientieren. Das spricht dafür, dass die eigentliche Festlegung in Form einer konkreten Zahl erfolgen muss und lediglich deren Herleitung (die nicht zwingend im Vergütungssystem dargestellt werden muss) sich aus einer Berechnung ergeben darf.67) Allerdings sollte es danach ausreichen, diese Festlegung in Form einer konkreten Zahl für 49 einen oder mehrere anfängliche Bezugszeiträume zu treffen. Hieran kann dann für weitere Bezugszeiträume auch eine Berechnungsformel unter Einbeziehung weiterer Parameter (wie etwa der vom Ausschuss genannten Belegschaftsvergütung) anknüpfen, insbesondere um eine Dynamisierung zu erreichen.68) Solange das Ergebnis der Berechnung transparent und nachvollziehbar zu ermitteln ist, wird dadurch auch nicht die Herabsetzungsbefugnis der Hauptversammlung unterlaufen. Fordert man tatsächlich die Festlegung einer Maximalvergütung in Form einer konkreten 50 Zahl, so kann dies dazu führen, dass § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 entgegen dem Grundprinzip des § 87a Abs. 1 Satz 2 zu einer materiellen Vorgabe für das Vergütungssystem wird. Denn wenn variable Vergütungsbestandteile an Parameter anknüpfen, die nicht theoretisch begrenzt sind (wie z. B. der Aktienkurs), dann muss eine absolute Obergrenze zusätzlich vorgesehen werden, damit eine Maximalvergütung in Form einer konkreten Zahl angegeben werden kann.69) Vorzugswürdig erscheint es, das Grundprinzip des § 87a aufrechtzuerhalten und die An- 51 gabe der Maximalvergütung nur insoweit zu verlangen, wie dies auf Basis der tatsächlichen Ausgestaltung möglich ist, und ggf. auch die Angabe einer relativen Obergrenze im Verhältnis zu einer zugrunde liegenden Kenngröße zuzulassen. Die Herabsetzungskompetenz der Hauptversammlung ist dadurch nicht beeinträchtigt, denn die Hauptversammlung kann auch in einem solchen Fall beschließen, die Vergütung auf eine bestimmte absolute Obergrenze herabzusetzen.70) Die von der Ausschussbegründung71) angedeutete Möglichkeit der gesonderten Festlegung 52 der Maximalvergütung für einzelne Vergütungskomponenten eröffnet die Möglichkeit zum Umgang mit Sondersituationen, etwa dem Erfordernis einem Vorstandsmitglied einen Signon-Bonus zum Ausgleich für den durch einen Wechsel ausgelösten Verlust von Vergütung

_____________ 65) Ausführlich J. Vetter/Lauterbach, AG 2021, 89, 99, Rz. 49 m. w. N; v. Zehmen, BB 2021, 628, 629; Arnold/Herzberg/Zeh, AG 2020, 313, 315, Rz. 14. 66) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 38. 67) S. hierzu J. Vetter/Lauterbach, AG 2021, 89, 99, Rz. 49; Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses R/V, BT-Drucks. 19/15153, S. 56; v. Zehmen, BB 2021, 628, 629. 68) J. Vetter/Lauterbach, AG 2021, 89, 99, Rz. 50. 69) So die wohl h. M. – vgl. etwa Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 33; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87a Rz. 5; Johannsen-Roth/Illert/Ghassemi-Tabar-Johannsen-Roth, DCGK, Empf. G. 1 Rz. 7; Dörrwächter/Leuering, NJW-Spezial 2020, 15, 15 f.; Stenzel, BB 2020, 970, 971. 70) S. hierzu Spindler in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 87a Rz. 16a; Goslar, DB 2020, 937, 938. 71) Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses R/V, BT-Drucks. 19/15153, S. 56.

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aus der bisherigen Tätigkeit zu gewähren. Nach der Ausschussbegründung erscheint es möglich, einen gesonderten Maximalwert für einen solchen Sign-on-Bonus festzulegen.72) 53 Aus der Stellungnahme des Rechtsausschusses geht hervor, dass es möglich sein soll, die Maximalvergütung als kollektive Obergrenze einheitlich für den Gesamtvorstand auszuweisen, anstelle einer auf einzelne Vorstandsmitglieder bezogenen Angabe.73) Dies weicht nach ganz h. M.74) von der Empfehlung G. 1 des DCGK ab, wonach die Maximalvergütung für jedes Vorstandsmitglied einzeln anzugeben ist. Schon aus praktischen Gründen wird meist davon abgeraten, eine kollektive Maximalvergütung vorzusehen.75) Teilweise wird diese Möglichkeit sogar – entgegen der Auffassung des Rechtsausschusses – rechtlich für unzulässig erachtet.76) Nach den Empfehlungen G. 1 und G. 2 des DCGK soll zusätzlich die Angabe einer Ziel-Gesamtvergütung erfolgen, die primär der Visualisierung der durch das Vergütungssystem gesetzten Vergütungsanreize dienen soll und geht auch insoweit über die gesetzlichen Vorgaben hinaus.77) 54 Von Teilen der Literatur wird empfohlen, anzugeben, welche Vergütungsbestandteile bei Überschreiten der Obergrenze gekürzt werden.78) Zwar ist eine solche Festlegung durchaus zu empfehlen, um die Anwendung der Maximalvergütung praktikabel zu machen. Allerdings erscheint es ausreichend (und aufgrund der dadurch bestehenden größeren Flexibilität auch vorzugswürdig), diese Festlegung in den Anstellungsverträgen der Vorstandsmitglieder zu treffen. b)

§ 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 – Beitrag der Vergütung zur Förderung der Geschäftsstrategie und zur langfristigen Entwicklung der Gesellschaft

55 Nach § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 hat das Vergütungssystem den Beitrag der Vergütung zur Förderung der Geschäftsstrategie und zur langfristigen Entwicklung der Gesellschaft anzugeben. Da es sich dabei nicht um einen Vergütungsbestandteil handelt, sind Angaben hierzu zwingend. 56 Zusammen mit § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 9 handelt es sich bei § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 um eine erläuternde Angabe, die nicht die konkrete Ausgestaltung des Vergütungssystems betrifft. Sie stellt in der Governance der deutschen AG einen Fremdkörper dar, da die Festlegung der Geschäftsstrategie Aufgabe und Verantwortung des Vorstands und nicht des Aufsichtsrats ist (§ 76 Abs. 1). Dies lässt sich auch nicht dadurch vermeiden, dass (wie in der Praxis bereits zu beobachten) der Aufsichtsrat an eine bestehende Strategie anknüpft und Anreize zu deren Umsetzung in das Vergütungssystem einbaut. Denn erweist sich diese Geschäftsstrategie im Zeitverlauf als nicht mehr richtig, ist es die zentrale Aufgabe des Vorstands, sie zu ändern. Ein Vergütungssystem, das einer solchen Änderung der Geschäftsstrategie entgegenwirkt, widerspricht dem Unternehmensinteresse in einem besonders wichtigen Punkt und kann im Extremfall sogar als pflichtwidrig anzusehen sein. Der _____________ 72) Zu alternativen Lösungsansätzen s. J. Vetter/Lauterbach, AG 2021, 89, 98 ff., Rz. 45 und Rz. 52; v. Zehmen, BB 2021, 628, 630. 73) Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses R/V, BT-Drucks. 19/15153, S. 56. 74) Vgl. statt vieler Bachmann, ZHR 184 (2020) 127, 133; Spindler in MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 87a Rz. 16; anders Arnold/Herzberg/Zeh, AG 2020, 313, 315, Rz. 12; Müller-Bonanni/Jenner/ Denninger, AG 2021, 339, 341, Rz. 8. 75) So z. B. J. Vetter/Lauterbach, AG 2021, 89, 99, Rz. 48; Arnold/Herzberg/Zeh, AG 2020, 313, 315, Rz. 13; Grimm/Freh, ArbRB 2020, 192, 194. 76) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 41. 77) Ausführlich Arnold/Gralla, NZG 2020, 529, 531 f.; vgl. auch v. Zehmen, BB 2021, 628, 631; Spindler, AG 2020, 61, 62, Rz. 6. 78) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87a Rz. 9; Arnold/Herzberg/Zeh, AG 2020, 313, 316, Rz. 18; für nicht geboten hält dies dagegen v. Zehmen, BB 2021, 628, 630.

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Literaturauffassung, die § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 als Bestätigung eines Trends ansieht, den Aufsichtsrat stärker in die Strategiediskussion einzubeziehen,79) ist insoweit zu widersprechen. Zwar ist eine intensive Diskussion zwischen Vorstand und Aufsichtsrat über die Unternehmensstrategie zu begrüßen und sie gehört sicherlich zur Überwachungs- und Beratungsaufgabe des Aufsichtsrats. Das bedeutet aber nicht, dass es sinnvoll wäre, das Ergebnis dieser Strategiediskussion im schwerfälligen Vergütungssystem (und gerade in der langfristigen Vergütung) festzuhalten, das dann für die Zukunft einen Anreiz setzt, von einer einmal eingeschlagenen Strategie nicht mehr abzuweichen, selbst wenn die Marktentwicklung dies längst erfordern würde.80) Vor diesem Hintergrund kann die Regelung der § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 nur als miss- 57 glückt bezeichnet werden. Sie resultiert aus der Umsetzung von Art. 9a Abs. 6 Unterabs. 1 Satz 1 ARRL II81), der ersichtlich nicht das deutsche duale Governance-System vor Augen hatte. Vor diesem Hintergrund sind an die Umsetzung des § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 in konkre- 58 ten Vergütungssystemen keine hohen Anforderungen zu stellen.82) Insbesondere genügt es (und ist für die Praxis ratsam), wenn sich der Aufsichtsrat darauf beschränkt, darzulegen, wie das Vergütungssystem Anreize zur Verwirklichung von Unternehmenszweck und -gegenstand sowie zur Förderung der langfristigen Entwicklung der Gesellschaft setzt, ohne dabei an die Aspekte der Strategie anzuknüpfen, die dem Wandel unterworfen sind und eine Reaktion auf Marktentwicklungen erfordern. c)

§ 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 – alle festen und variablen Vergütungsbestandteile und ihren jeweiligen relativen Anteil an der Vergütung

Nach § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 sind alle festen und variablen Vergütungsbestandteile und 59 ihre jeweiligen relativen Anteile an der Vergütung anzugeben. Hierbei handelt es sich neben der Maximalvergütung um eine der zentralen Festlegungen des Vergütungssystems, mit der die Vergütungsstruktur definiert wird. Die Ziffer setzt Art. 9a Abs. 6 Unterabs. 1 Satz 2 ARRL II um. Für § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 gilt die Regelung des Satzes 2, dass Vergütungsbestandteile nur angegeben werden müssen, soweit sie tatsächlich vorgesehen sind. Eine Angabe wird aber stets erforderlich sein, denn ein Vergütungssystem, das keine Vergütungskomponenten vorsieht, dürfte in der Praxis nicht vorkommen. Weder im Gesetz selbst noch in der Begründung oder der Richtlinie ist näher festgelegt, was 60 der Begriff „Vergütungsbestandteil“ bezeichnet oder wie einzelne Vergütungsbestandteile voneinander zu unterscheiden sind. Es werden lediglich feste von variablen Vergütungsbestandteilen unterschieden. Art. 9a Abs. 6 Unterabs. 1 Satz 2 ARRL II erwähnt außerdem Boni und andere Vorteile. In der Praxis unterscheidet man typischerweise neben der Fixvergütung die kurzfristige und die langfristige variable Vergütung, die Altersversorgung sowie die Nebenleistungen. Vor diesem Hintergrund liegt ein separater Vergütungsbestandteil nach § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 dann vor, wenn sich ein Teil der Vergütung hinsichtlich der Bemessung oder der Gewährung erheblich von anderen Teilen der Ver_____________ 79) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87a AktG Rz. 16; ebenso Pacher/Woopen/Flottmann, ZCG 2020, 127, 129, die in § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 als Bestandteil des Trends zu einer stärkeren Einbeziehung des Aufsichtsrats in die Strategiediskussion ausmachen; ähnlich Florstedt, ZGR 2019, 630, 646; a. A. Spindler, AG 2020, 61, 65, Rz. 13. 80) Ebenfalls ablehnend Spindler, AG 2020, 61, 63, Rz. 8: Der Aufsichtsrat dürfe die Geschäftsstrategie nicht durch eine übermäßig detaillierte Gestaltung der Vergütungselemente indirekt steuern. 81) An der Richtlinienkonformität der Umsetzung zweifelnd Bachmann/Pauschinger, ZIP 2019, 1, 3; für eine richtlinienkonforme Umsetzung durch § 87 Abs. 1 Sätze 2, 3 dagegen Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 33. 82) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 44 – kurze pauschale Angaben ausreichend.

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gütung unterscheidet. Die Bemessung betrifft etwa die Variabilität, die Leistungskriterien und die Bezugszeiträume für die Leistungskriterien. Die Gewährung betrifft etwa die Form (Barzahlung, Sachbezug, Aktien, Bezugsrechte etc.) und Wartezeiten oder Auszahlungszeitpunkte. Auch wenn sie sich in der Gewährungsform im Detail unterscheiden mögen, können verschiedene Nebenleistungen (wie Versicherungen, Dienstwagen, Ersatz bestimmter privater Aufwendungen) zu einem Vergütungsbestandteil zusammengefasst werden, da die Unterscheidung insoweit nicht wesentlich ist. 61 Auch § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 macht keine inhaltlichen Vorgaben, welche Vergütungsbestandteile vorzusehen sind, sondern soll nur Transparenz über die möglichen Bestandteile schaffen.83) Insbesondere bleibt auch eine reine Festvergütung weiterhin zulässig.84) 62 Zusätzlich zu den einzelnen Vergütungsbestandteilen ist anzugeben, welchen relativen Anteil diese an der Vergütung haben. Da variable Vergütungsbestandteile abhängig von der jeweiligen Zielerreichung in unterschiedlicher Höhe zur Auszahlung kommen können, stellt sich für diese die Frage, wie ihr Anteil im Vergütungssystem ex ante zu bestimmen ist. Nach der Regierungsbegründung ist hierfür eine feste Kenngröße festzulegen, die mit anderen Vergütungsbestandteilen ins Verhältnis gesetzt werden kann.85) Die Bestimmung dieser Kenngröße legt sie aber in das Ermessen der Gesellschaft, da je nach Vergütungsbestandteil unterschiedliche Kenngrößen sachgerecht sein können. In der Praxis wird bei variablen Vergütungskomponenten üblicherweise an die Zielvergütung bei 100 %iger Zielerreichung angeknüpft. Möglich ist nach der Regierungsbegründung aber etwa auch ein Anknüpfen an die Maximalvergütung oder andere Kenngrößen. Die Festlegung muss lediglich klar und verständlich sein und im Vergütungssystem benannt werden. 63 Ebenfalls nicht vom Gesetzeswortlaut festgelegt ist, wie der Nenner der Festlegung des Anteils der Vergütungsbestandteile zu ermitteln ist. Es ist lediglich vom Anteil an der Vergütung die Rede. Naheliegend und in der Praxis üblich ist die Angabe des Anteils an der gesamten Vergütung für einen bestimmten Bezugszeitraum. Auch dies erscheint aber nicht zwingend, zumal die einzelnen Vergütungsbestandteile unterschiedliche Bezugszeiträume haben können (siehe hierzu oben Rz. 60). Daher sollte der Gesellschaft auch insoweit Ermessen eingeräumt werden, das lediglich dadurch begrenzt wird, dass die Angabe klar und verständlich bleiben muss, so dass etwa auch an die Gesamtvergütung über einen längeren Zeitraum hinweg angeknüpft werden könnte. 64 Aus ErwG 29 der ARRL II ergibt sich außerdem, dass für den Anteil der einzelnen Vergütungskomponenten Bandbreiten angegeben werden können, so dass Spielraum für die Festlegung der Ausgestaltung der konkreten Vergütung gelassen werden kann. Erst recht müssen keine festen Beträge für einzelne Vergütungsbestandteile angegeben werden.86) Dies entspricht dem Charakter des Vergütungssystems als Rahmenvorgabe,87) denn andernfalls würde die Festlegung von Maximalvergütung, Vergütungskomponenten und deren relativem Anteil zu einem sehr starren System und einer sehr weitgehenden Fixierung der Vorstandsvergütung führen. 65 Die Empfehlungen des DCGK enthalten gegenüber der gesetzlichen Regelung nochmals detailliertere Vorgaben für die Struktur des Vergütungssystems. Zunächst soll danach die _____________ 83) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87a Rz. 11. 84) Spindler, AG 2020, 61, 65, Rz. 15; ebenso mit Blick auf § 87 Abs. 1 Satz 2 Arnold/Herzberg/Zeh, AG 2021, 141, 145, Rz. 23. S. allerdings zu den Empfehlungen des DCGK unten Rz. 65. 85) J. Vetter/Lauterbach, AG 2021, 89, 98, Rz. 43; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87a Rz. 6; K. Schmidt/LutterSeibt, AktG, § 87a Rz. 11; Spindler, AG 2020, 61, 65, Rz. 14. 86) Hierzu J. Vetter/Lauterbach, AG 2021, 89, 98, Rz. 43. 87) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 73.

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Maximalvergütung für jedes Vorstandsmitglied individuell festgelegt werden. Außerdem soll nach dem Konzept des DCGK das Vergütungssystem jeweils von einer Ziel-Gesamtvergütung des einzelnen Vorstandsmitglieds ausgehen. Für diese soll im Vergütungssystem nur angegeben werden, wie sie für die einzelnen Vorstandsmitglieder bestimmt wird. Das Vergütungssystem soll dann aber den relativen Anteil der fixen, der kurzfristigen variablen sowie der langfristigen variablen Vergütung an der Ziel-Gesamtvergütung bestimmen. Dabei soll die variable Vergütung, die sich aus dem Erreichen langfristig orientierter Ziele ergibt, den Anteil aus kurzfristig orientierten Zielen übersteigen. Damit sind nach dem DCGK eine reihe zusätzlicher Festlegungen im Vergütungssystem für Parameter erforderlich, für die sich der Aufsichtsrat nach der gesetzlichen Konzeption noch Flexibilität erhalten könnte. Dadurch wird das Vergütungssystem zu einem recht starren System, das Abweichungen oder Neuvorlagen an die Hauptversammlung erfordert, wenn sich die Lage der Gesellschaft oder ihr Marktumfeld deutlich verändert. d)

§ 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 – Leistungskriterien für die Gewährung und Höhe der variablen Vergütungsbestandteile

Die meisten Vergütungssysteme börsennotierter Gesellschaften enthalten variable Ver- 66 gütungsbestandteile. Für diese ist § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 eine weitere zentrale Angabe über die Funktionsweise des Vergütungssystems, da die Leistungskriterien die Anreizwirkung des Vergütungssystems festlegen. Um die resultierende Vergütung zu maximieren, müssen Vorstandsmitglieder ihre Unternehmensführung darauf ausrichten, die in den Leistungskriterien enthaltenen Erfolgsparameter zu maximieren. Darüber kommt dem Vergütungssystem steuernde Wirkung für die Unternehmensführung zu und ist ein wichtiges Instrument zu deren Beeinflussung für den Aufsichtsrat. Die Regelung setzt Art. 9a Abs. 6 Unterabs. 3 ARRL II um. Falls das Vergütungssystem 67 keine variablen Vergütungsbestandteile vorsieht, entfällt die Angabepflicht. Neben der bloßen Angabe der Leistungskriterien muss außerdem erläutert werden, wie 68 diese zur Förderung der Ziele nach § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 beitragen und mit welchen Methoden die Erreichung der Ziele festgestellt wird. Nicht im Vergütungssystem angegeben werden müssen hingegen die konkreten Ziele i. R. 69 der Leistungskriterien, bei einem auf das EBIT bezogenen Leistungskriterium also etwa das EBIT, das in einem Geschäftsjahr erreicht werden muss, um 100 % der betreffenden variablen Vergütungskomponente zu erhalten. Eine solche Anforderung ergibt sich nicht aus dem Wortlaut und würde auch den erforderlichen Handlungsspielraum des Aufsichtsrats deutlich zu weit einschränken. Die konkreten Zielvorgaben werden üblicherweise zu Beginn eines Bemessungszeitraums (siehe unten Rz. 78 ff.) für die Zukunft festgelegt und hängen von den jeweils aktuellen Erwartungen für die Geschäftsentwicklung ab. Die Regelung unterscheidet zwischen finanziellen und nicht finanziellen Leistungskri- 70 terien. Finanzielle Leistungskriterien knüpfen an die Messung der finanziellen Ergebnisse der Unternehmensführung an und beziehen sich in der Regel auf betriebswirtschaftliche Kennziffern,88) die i. R. der Rechnungslegung und des Controlling ermittelt werden. Verbreitet ist die Anknüpfung an verschiedene Ertragskenngrößen wie EBIT, EBITA oder EBITDA. Auch die Entwicklung des Börsenkurses der Aktien der Gesellschaft ist zu den finanziellen Leistungskriterien zu zählen, wenngleich der Börsenkurs kein Element der unternehmensinternen Erfolgsmessung ist. Um einen Einfluss allgemeiner Marktschwankungen auf die Vergütung der Vorstandsmitglieder zu vermeiden, ist die Anknüpfung an die Börsenkursentwicklung im Verhältnis zu einem Vergleichsindex oder der Börsenkurse _____________ 88) Näher K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87a Rz. 12.

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vergleichbarer Unternehmen (sog. Peer Group) gegenüber einer Anknüpfung an den absoluten Börsenkurs vorzugswürdig. 71 Nicht finanzielle Leistungskriterien knüpfen an Ergebnisse und Auswirkungen der Unternehmensführung jenseits des finanziellen Erfolgs an und umfassen gemäß ErwG 29 der ARRL II insbesondere Ziele aus dem Bereich Corporate Social Responsibility.89) In der Praxis gerade bei langfristigen Vergütungskomponenten verbreitet ist die Anknüpfung an mehrere Leistungskriterien. So wird häufig zunächst für einen einjährigen Bemessungszeitraum auf Basis von Ertragskenngrößen eine variable Vergütung ermittelt, deren Höhe auf Basis der Erreichung von ESG-Zielen modifiziert wird und die dann für einen mehrjährigen Zeitraum gemäß der (relativen) Aktienkursperformance noch steigen oder fallen kann. 72 Zu den Leistungskriterien gehören systematisch auch sog. Malusregelungen, die meist im Zusammenhang mit Clawback-Regelungen (siehe hierzu nachfolgend Rz. 84 ff.) diskutiert werden. Malusregelungen sehen vor, dass eine noch nicht ausgezahlte Vergütung gegenüber dem Niveau, das sich aus den primären Leistungskriterien ergibt, reduziert werden kann, weil negative Entwicklungen zutage getreten sind, die eine Reduktion der Vergütung begründen. Dazu gehören etwa Compliance-Vorfälle (sog. Compliance-Malus), die Erkenntnis, dass die der Ermittlung der Leistungskriterien zugrunde liegende Rechnungslegung unzutreffend war oder nachträgliche negative Entwicklungen, die indizieren, dass der Unternehmenserfolg, der in die Bemessung der Vergütung Eingang finden würde, nicht nachhaltig war (sog. Performance-Malus). 73 Aus Investorensicht besteht ein Interesse daran, dass die Anreize des Managements dieselben Parameter angeglichen werden, nach denen auch der Kapitalmarkt den Unternehmenserfolg bemisst, so dass die Leistungskriterien möglichst eng mit den Erfolgskenngrößen übereinstimmen sollten, die das Unternehmen auch in seiner externen Berichterstattung gegenüber dem Kapitalmarkt verwendet. Dies gilt sowohl für finanzielle als auch für nicht finanzielle Leistungskriterien. Für letztere bietet sich etwa ein Anknüpfen an Parameter, die in der nicht finanziellen Erklärung nach §§ 289b, 289c HGB bzw. im nicht finanziellen Bericht nach § 289b Abs. 3 HGB offengelegt werden, an.90) 74 Die geforderte Erläuterung, inwieweit die Leistungskriterien zur Förderung der Ziele gemäß § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 beitragen, dient dazu, dass der Aufsichtsrat im Vergütungssystem Rechenschaft über die intendierte Anreizwirkung der Leistungskriterien ablegt und diese zu der beabsichtigten Förderung der Geschäftsstrategie und der langfristigen Entwicklung der Gesellschaft ins Verhältnis setzt. Auch hier erscheint es ratsam, wenn der Aufsichtsrat Eingriffe in die konkrete strategische Unternehmensführung, die auf die Entwicklung des Marktes und des gesamtwirtschaftlichen Umfelds reagieren muss, unterlässt und stattdessen Leistungskriterien verwendet, die auf die allgemeine Förderung der langfristigen Entwicklung der Gesellschaft zielen. Es wird vertreten, dass die Definition von Erfolgsparametern, die im Widerspruch zu der vom Vorstand entwickelten Unternehmensstrategie stehen, sogar einen unzulässigen Eingriff in die Kompetenz des Vorstands darstellen kann.91) Mindestens ebenso misslich wäre aber die Zementierung einer einmal eingeschlagenen Strategie durch die Erfolgskriterien, die den Vorstand dann davon abhält, diese Strategie zu revidieren, wenn sie sich als nicht (mehr) Erfolg versprechend erweist. _____________ 89) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87a Rz. 12; mit Hinweisen zur konkreten Ausgestaltung in der Praxis: Häller/Hoegen, ZVglRWiss 120 (2021) 209, 216 ff.; Arnold/Herzberg/Zeh, AG 2021, 141, 145, Rz. 24 f. 90) Hüffer/Koch-Koch, AktG § 87a Rz. 7. 91) Hirte/Heidel-Lochner/Beneke, Das neue Aktienrecht, § 87a Rz. 13; näher zu dieser in Wissenschaft und Praxis noch nicht ausreichend geklärten Frage K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87 Rz. 6.

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Die Darstellung der Methoden zur Feststellung der Leistungskriterien sollte darauf ein- 75 gehen, wie (einschließlich für welche Bezugszeiträume) die Verwirklichung der Leistungskriterien ermittelt und bemessen wird. Dabei bleibt es auch möglich, dem Aufsichtsrat ein Ermessen bei der Ermittlung der Zielerreichung einzuräumen,92) da ansonsten die Gefahr besteht, dass das Vergütungssystem zu komplex und/oder zu starr wird und daher letztlich zu Fehlanreizen führt. Allerdings muss das Ermessen so ausgestaltet werden, dass das Transparenzgebot gewahrt bleibt. Dazu ist es erforderlich, dass das Ermessen jeweils auf eine zutreffende und sinnvolle Ermittlung der Zielerreichung gerichtet ist und diese Zielrichtung für die Aktionäre deutlich wird (siehe hierzu oben Rz. 26 ff.). Um den Charakter des Vergütungssystems als Rahmen für die konkrete Festsetzung der 76 Vergütung93) zu wahren, ist es auch als zulässig anzusehen, wenn mehrere Leistungskriterien und/oder Ermittlungsmethoden vorgesehen werden, aus denen der Aufsichtsrat bei der Festsetzung der konkreten Vergütung wählen kann. Auch zu den Leistungskriterien gehen die Empfehlungen des DCGK nochmals über die 77 Anforderungen des Gesetzes hinaus und führen zu einer zusätzlichen Fixierung der Vergütung durch das Vergütungssystem. Danach soll angegeben werden, welche finanziellen und nicht finanziellen Leistungskriterien für die Gewährung variabler Vergütungsbestandteile maßgeblich sind und welcher Zusammenhang zwischen der Erreichung der vorher vereinbarten Leistungskriterien und der variablen Vergütung besteht. Auch die Praxis, zu Beginn des Geschäftsjahres die Ziele für das kommende Geschäftsjahr festzulegen und nach Ablauf des Geschäftsjahres die Zielerreichung festzustellen, wird in den Rang einer Empfehlung erhoben. Eine nachträgliche Änderung der Zielwerte oder der Vergleichsparameter soll ausgeschlossen sein. Die Leistungskriterien sollen sich neben operativen vor allem an strategischen Zielsetzungen orientieren. e)

§ 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 – Aufschubzeiten für die Auszahlung von variablen Vergütungsbestandteilen

Zum Verständnis der Regelung in § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 müssen verschiedene für die 78 Vergütung relevante Zeiträume unterschieden werden. Zunächst gibt es den Tätigkeitszeitraum, während dessen das Vorstandsmitglied sein Mandat ausübt. Dieser wird in Perioden eingeteilt (bei der Fixvergütung üblicherweise Monate, bei variabler Vergütung in der Regel das Geschäftsjahr), in denen die Tätigkeit des Vorstandsmitglieds durch einen korrespondierenden Vergütungsanspruch entlohnt wird. Davon zu unterscheiden ist der Bemessungszeitraum, an den die Leistungskriterien der variablen Vergütung anknüpfen. Beim kurzfristigen Bonus ist dieser in der Regel mit dem Tätigkeitszeitraum identisch. Bei der mittel- und langfristigen Vergütung ist der Beginn des Bemessungszeitraums in der Regel identisch mit dem Tätigkeitszeitraum, geht aber über dessen Ende hinaus und erstreckt sich bei der langfristigen Vergütung über mehrere Jahre. Teilweise ist der Bemessungszeitraum auch nochmals unterteilt in verschiedene Phasen, die an unterschiedliche Leistungskriterien anknüpfen – häufig in der Form, dass zunächst eine Vergütung auf Basis von Leistungskriterien, die an die Rechnungslegung anknüpfen, ermittelt wird, die dann während einer weiteren Periode in Abhängigkeit vom Börsenkurs steigen oder fallen kann. Schließlich gibt es die Zeit bis zur Auszahlung der Vergütung für einen bestimmten Tä- 79 tigkeitszeitraum. Bei der fixen Vergütung erfolgt die Auszahlung in der Regel jeweils nach Ablauf des Tätigkeitszeitraums. Bei der variablen Vergütung erfolgt die Auszahlung nach Ablauf des Bemessungszeitraums sowie einer weiteren Periode, die erforderlich ist, um die _____________ 92) Ähnlich Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 52. 93) Vgl. ErwG 29 der ARRL II.

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Erreichung der Leistungskriterien zu ermitteln. Bei variabler Vergütung, die an finanzielle Leistungskriterien anknüpft, dauert diese Phase in der Regel bis nach Feststellung des Jahresabschlusses, da die Ermittlung an die darin enthaltenen finanziellen Ergebnisse anknüpft. Denkbar, jedoch in der Praxis jedenfalls zuletzt weniger häufig, aber weiterhin zulässig,94) sind vorausgehende Abschlagszahlungen auf die variable Vergütung. Schließlich wäre es denkbar, auch nach Ablauf des Bemessungszeitraums noch eine zusätzliche Wartezeit vorzusehen, mit der die Auszahlung der Vergütung weiter hinausgeschoben wird und während derer ggf. nachträgliche Ereignisse, die eine Veränderung (insbesondere Reduktion) der Vergütung erfordern könnten, berücksichtigt werden können. 80 Da § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 dem Wortlaut nach auf Wartezeiten für die „Auszahlung“ abstellt, könnte die Regelung so verstanden werden, dass sie allein den letztgenannten Fall einer hinausgezögerten Auszahlung noch über das Ende des Bemessungszeitraums hinaus erfasst. So scheint die Regelung von manchen Stellungnahmen in der Literatur verstanden zu werden.95) Dagegen spricht, dass der Bemessungszeitraum selbst im Hinblick auf die Anreizwirkung der Vergütung der wesentlich wichtigere Parameter ist und sonst die Liste des § 87a Abs. 1 Satz 2 nicht diesen, sondern mit einem zusätzlichen Auszahlungsaufschub lediglich einen Parameter erfassen würde, der in der Praxis deutlich geringere Bedeutung hat. Darauf, dass bewusst der Fokus auf einen Auszahlungsaufschub gelegt werden sollte, enthält die Regierungsbegründung keinen Hinwies.96) Auch spricht die zugrunde liegende ARRL II lediglich von „Aufschubzeiträumen“, ohne die Auszahlung zu erwähnen. Dies spricht dafür, dass § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 auch die Bemessungszeiträume für die Vergütung und damit den entscheidenden Parameter erfasst.97) 81 Wäre dies nicht so, würde das allerdings für die Praxis der Gestaltung des Vergütungssystems keine wesentliche Bedeutung haben. Wären die Bemessungszeiträume nicht von § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 erfasst, müssten sie wohl nach Nr. 4 angegeben werden, da die Leistungskriterien nicht vollständig beschrieben sind, wenn nicht auch festgelegt wird, auf welchen Bemessungszeitraum sie sich beziehen. Auch lässt sich aus § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 nicht folgern, dass ein zusätzlicher Auszahlungsaufschub über den Bemessungszeitraum hinaus zwingend vorgesehen werden müsste, denn wie bereits ausgeführt, soll der Katalog des § 87a Abs. 1 Satz 2 keine materiellen Vorgaben für die Ausgestaltung des Vergütungssystems machen. 82 In der Literatur wird weiterhin diskutiert, wie präzise die Angabe der Aufschubzeiten erfolgen muss und ob insbesondere auch die Angabe von Bandbreiten möglich ist, die vom Aufsichtsrat im Einzelfall ausgefüllt werden können. Der Charakter des Vergütungssystems als Rahmenwerk spricht für letzteres.98) 83 Nach Empfehlung G. 10 des DCGK sollen Vorstandsmitglieder über die langfristig variablen Gewährungsbeträge jeweils erst nach vier Jahren verfügen können. _____________ 94) Spindler, AG 2020, 61, 66; Poelzig, NZG 2020, 41, 43. 95) Arnold/Herzberg/Zeh, AG 2020, 313, 317, Rz. 30; nicht ganz klar Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 57 („lediglich die Fälligkeit […] im Hinblick auf zu besorgende Ausschlussgründe hinausgeschoben ist") vs. Rz. 58 („ausschlaggebend ist […] dass innerhalb der Aufschubzeit die Weiterentwicklung der Leistungskriterien verfolgt […] werden kann“). 96) Allein aus dem Hinweis in Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 73, wonach der Begriff der Aufschubzeiten nach Nr. 5 enger sei als der Begriff der Fristen in Nr. 7 lit. a, ergibt sich dies nach hier vertretener Auffassung nicht, da Nr. 7 lit. a spezielle Fälle von aktienbasierter Vergütung betrifft und damit zwangsläufig enger ist. A. A. aber Arnold/Herzberg/Zeh, AG 2020, 313, 317, Rz. 33. 97) In diese Richtung wohl auch Spindler, AG 2020, 61, 66. 98) Spindler in MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 87a Rz. 26; enger Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 56.

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§ 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 – Rückforderung von variablen Vergütungsbestandteilen

Nach § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 sind in das Vergütungssystem Angaben zu den Möglich- 84 keiten der Gesellschaft, variable Vergütungsbestandteile zurückzufordern (sog. Clawback)99), aufzunehmen. Nach dem Wortlaut erfasst die Regelung nur die Möglichkeit zur Rückforderung bereits ausbezahlter Vergütungsbestandteile, nicht hingegen den Einbehalt von Vergütungsbestandteilen aufgrund negativer Entwicklungen (sog. Malus). Im Ergebnis macht dies aber keinen Unterschied, da Malusregelungen Einfluss auf die Bemessung der auszuzahlenden Vergütung haben und damit zu den Leistungskriterien zählen, die nach § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 anzugeben sind (siehe hierzu oben Rz. 72). Nach h. M. handelt es sich bei § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 ebenfalls um einen Vergütungs- 85 bestandteil, zu dem Angaben nach dem Einleitungssatz in § 87a Abs. 1 Satz 2 nur erforderlich sind, wenn er tatsächlich vorgesehen ist.100) Von einer abweichenden Auffassung werden die Rückforderungsmöglichkeiten als eigenständige Kategorie oder als eine von einzelnen Vergütungsbestandteilen unabhängige Regelung im Vergütungssystem angesehen, so dass sich die Beschreibung des Vergütungssystems in jedem Fall dazu verhalten muss, ggf. durch eine Fehlmeldung.101) In jedem Fall ist aber § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 keine materielle Pflicht zu entnehmen, Clawback-Regelungen in das Vergütungssystem aufzunehmen.102) Teilweise wird eine solche materielle Pflicht aus der ARRL II gefolgert und daraus auf ein Umsetzungsdefizit in § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 geschlossen. Diese Auffassung ist abzulehnen, da auch die Richtlinie nur „Informationen zur Möglichkeit der Gesellschaft, variable Vergütungsbestandteile zurückzufordern“ verlangt.103) In der Praxis ergibt sich vor allem für große börsennotierte Gesellschaften mit institutionellen Investoren das Erfordernis, Clawback-Regelungen vorzusehen, aus den Empfehlungen der Stimmrechtsberater, die diese in ihren Richtlinien fordern.104) Außerdem empfiehlt der DCGK in G. 11 Malusoder Clawback-Regelungen. In der Praxis unterscheidet man einerseits sog. Performance Clawbacks, bei denen eine 86 Rückforderung dadurch ausgelöst wird, dass sich nachträglich erweist, dass die variable Vergütung auf Basis der Erreichung von Erfolgszielen ausbezahlt wurde, die entweder unzutreffend ermittelt wurden, oder die aufgrund nachträglicher negativer Entwicklungen den tatsächlich erreichten Unternehmenserfolg nicht zutreffend widerspiegeln. Die meisten Gesellschaften beschränken den Clawback allerdings auf den Fall der unzutreffenden Ermittlung. Eine Clawback-Regelung stellt es auch dar, wenn variable Vergütungsbestandteile vor Ablauf des Bemessungszeitraums in Form von Abschlägen ausbezahlt werden und dann zurückgefordert werden können, wenn sich am Ende ergibt, dass die Erfolgsziele nicht oder nur teilweise erreicht wurden und deshalb mit den Abschlägen ein zu hoher Betrag ausbezahlt wurde.105) Je nach Ausgestaltung der Leistungskriterien der variablen Vergütung kann sich ein gewisser Performance Clawback bereits aus den bereicherungsrechtlichen Regelungen des besonderen Schuldrechts ergeben, wenn sich nachträglich er_____________ 99) Umfassend zu Clawbacks Seyfarth, WM 2019, 521 ff., 569 ff. 100) Spindler in MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 87a Rz. 14; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87a Rz. 5; Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 27. 101) Redenius-Hövermann/Siemens, ZIP 2020, 145, 148 f. 102) Poelzig, NZG 2020, 41, 44. 103) Denkbar ist, die Aufnahme von Clawback-Regelungen nach § 87 zu fordern, um die Ausrichtung auf eine langfristige und nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft sicherzustellen. Ob das tatsächlich erforderlich ist, hängt aber davon ab, wie die Leistungskriterien selbst ausgestaltet sind, denn diese Anforderung kann bereits dadurch gewahrt sein, ohne dass es einer zusätzlichen Clawback-Regelung bedarf. S. hierzu § 87 Rz. 25. 104) Poelzig, NZG 2020, 41, 44. 105) Poelzig, NZG 2020, 41, 43.

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weist, dass die Vergütung rechtsgrundlos gezahlt worden ist.106) Auf diese kann zwar in der Beschreibung des Vergütungssystems hingewiesen werden.107) Eine Pflicht zur Erläuterung geltenden gesetzlichen Rechts sollte § 87a aber nicht entnommen werden, da das zu redundanten gleichlautenden Erläuterungen in vielen Vergütungssystemen ohne Erkenntnisgewinn führen würde. 87 Andererseits sind sog. Compliance Clawbacks gebräuchlich, bei denen aufgrund nachträglich aufgetretener Compliance-Vorfälle oder sonstiger schwerwiegender Pflichtverletzungen Vergütungsbestandteile zurückgefordert werden können. Bei der Ausgestaltung von Compliance Clawbacks stellen sich in der Praxis viele Detailfragen, etwa für wie lange Vergütungskomponenten für einen bestimmten Tätigkeitszeitraum (zur Unterscheidung der verschiedenen Zeiträume siehe oben Rz. 78 f.) noch zurückgefordert werden können, und ob es darauf ankommt, in welchem Zeitraum die Ursachen für den Compliance-Verstoß gelegt wurden oder wann er aufgedeckt wurde, ob es auf ein Verschulden des Vorstandsmitglieds bzw. dessen Nachweis oder auf einen zurechenbaren Schaden für die Gesellschaft ankommt.108) 88 Clawback-Regelungen unterliegen, wie andere Vereinbarungen zur Vorstandsvergütung, meist den AGB-rechtlichen Vorschriften nach den §§ 305 ff. BGB. In der Regierungsbegründung zu § 87a kommt zum Ausdruck, dass diese eine grundsätzliche Anerkennung von Clawback-Klauseln darstellt.109) Damit sollten entsprechende Regelungen in Vorstandsverträgen grundsätzlich nicht mehr als überraschend i. S. des § 305c BGB anzusehen sein, zumal wenn sie auch im Vergütungssystem der Gesellschaft beschrieben sind.110) Es können sich aber Grenzen für die Ausgestaltung von Clawbacks aus der Inhaltskontrolle nach den §§ 307 ff. BGB ergeben.111) Weniger problematisch erscheinen insoweit Performance-Clawback-Regelungen, die darauf gerichtet sind, eine Vergütung zurückzufordern, wenn sich erweist, dass die Ziele, deren Erreichung Grundlage für die Gewährung waren, nicht nachhaltig erreicht wurden. Auch Compliance Clawback-Regelungen sind aber nicht grundsätzlich als unangemessen anzusehen; problematisch können aber verschuldensunabhängige Rückforderungsregelungen sein.112) g)

§ 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 – Fristen, Bedingungen der aktienbasierten Vergütung

89 Die Vorschrift setzt Art. 9a Abs. 6 Unterabs. 4 ARRL II um. § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 fordert für die aktienbasierte Vergütung die Angabe von Fristen (lit. a), Bedingungen für das Halten der Aktien (lit. b) sowie Erläuterungen dazu, wie die aktienbasierte Vergütung zur Förderung der Geschäftsstrategie und zur langfristigen Entwicklung der Gesellschaft beiträgt (lit. c). 90 Die Anforderungen gelten für alle Vergütungskomponenten, bei denen die Höhe oder der Wert der Vergütung von der Entwicklung des Aktienkurses abhängt.113) Bezugspunkt sind regelmäßig die Aktien der Gesellschaft, deren Vorstand vergütet wird. Das ist aber nach dem Wortlaut nicht zwingend, solange die Leistung noch den Charakter einer Vergütung für die Vorstandstätigkeit hat und die Kursentwicklung eine Komponente der Incentivie_____________ 106) So auch Redenius-Hövermann/Siemens, ZIP 2020, 145, 150 f. 107) Ausführlich hierzu Poelzig, NZG 2020, 41, 45. 108) Eingehend hierzu Poelzig, NZG 2020, 41, 46; Seyfarth, WM 2019, 569, 574; zur Anwendbarkeit der Business Judgement Rule Müller-Bonanni/Jenner/Denninger, AG 2021, 339, 345 f., Rz. 40 ff. 109) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 73. 110) Poelzig, NZG 2020, 41, 47. 111) Näher hierzu Seyfarth, WM 2019, 569, 572 ff. 112) Ausführlich hierzu Poelzig, NZG 2020, 41, 47 f. 113) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 62.

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rung darstellt, gelten die Angabepflichten auch bei einer Bezugnahme auf den Kurs der Aktien einer anderen Gesellschaft, etwa einer Tochtergesellschaft.114) Die Angabepflicht erfasst sowohl klassische Aktienoptionsprogramme, andere Vergütungskomponenten, bei denen dem Vorstandsmitglied Aktien zugesagt oder übertragen werden, sowie Komponenten, bei denen eine Barzahlung zugesagt wird, deren Höhe aber von der absoluten oder relativen Kursentwicklung abhängt. Unter “Fristen” i. S. des § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 lit. a werden, anders als in der Richtlinie, 91 die nur Vorgaben für Wartefristen macht, alle einschlägigen Fristen erfasst.115) Bezweckt ist damit die Angabe sämtlicher zeitlicher Parameter für die Ausgestaltung der aktienbasierten Vergütung. Die Regierungsbegründung nennt die bei klassischen Aktienoptionsprogrammen üblichen Fristen. Dort gilt zunächst eine Wartefrist, bis die Option erstmals ausgeübt werden kann, diese Ausübung ist dann innerhalb der Ausübungsfrist möglich, an die sich dann ggf. eine Sperr- oder Haltefrist anschließt, während derer die erworbenen Aktien nicht veräußert werden können. Die Haltefristen sind auch von Nr. 7 lit. b erfasst, nach dem die Bedingungen für das Halten von Aktien nach dem Erwerb anzugeben sind. Letztere erfassen aber neben der bloßen Frist auch weitere Parameter, wie etwa einen bestimmten Mindestwert an Aktien, die das Vorstandsmitglied halten muss, ggf. für die gesamte Dauer seiner Bestellung. Nach einer Auffassung unterfallen Nr. 7 lit. b auch allgemein sog. Share Ownership 92 Guidelines.116) Dabei handelt es sich um Vorgaben für die Vorstandsmitglieder, Aktien der Gesellschaft in einem bestimmten Volumen zu halten. Diese sollen dazu führen, dass die Vorstandsmitglieder ein ähnliches Kursrisiko tragen wie die Aktionäre der Gesellschaft. Soweit (wie häufig) die Share Ownership Guidelines an eine aktienbasierte Vergütung anknüpfen und Haltepflichten für die gewährten Aktien vorgeben, ist die Anwendbarkeit von Nr. 7 lit. b unzweifelhaft. Die Angabepflicht würde sich dann wohl bereits aus Nr. 7 lit. a ergeben. Zweifelhaft ist die Geltung von Nr. 7 lit. b im Falle von Share Ownership Guidelines, die nicht an eine Vergütungskomponente anknüpfen, sondern davon unabhängig vorschreiben, dass Vorstandsmitglieder einen bestimmten Bestand an Aktien der Gesellschaft halten und diese Aktien aus eigenen Mitteln erwerben müssen, da dann nicht notwendigerweise ein Bezug zur Vergütung besteht. Wenn aber – wie häufig – vorgesehen ist, dass für den Aktienerwerb nur Beträge aufgewandt werden müssen, die das Vorstandsmitglied als Vergütung erhält und kein Rückgriff auf sonstiges Privatvermögen erfolgen muss, resultiert daraus der Bezug zur Vergütung und damit die Anwendbarkeit der Nr. 7 lit. b. In der Praxis wird man die Regelungen der Share Ownership Guidelines ohnehin im Vergütungssystem beschreiben, nicht zuletzt weil Stimmrechtsberater und institutionelle Investoren diese regelmäßig verlangen. Die Angabepflicht nach Nr. 7 lit. c erscheint redundant zu § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, denn 93 bereits danach ist der Beitrag der Vergütung zur Förderung der Geschäftsstrategie und der langfristigen Entwicklung der Gesellschaft anzugeben. Der erneuten Nennung nach § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 lit. c wird man entnehmen können, dass nach § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 nicht auf jede einzelne Vergütungskomponente einzugehen ist, während für die aktienbasierte Vergütung in jedem Fall eine besondere Erläuterung erforderlich ist. Nach der in dieser Form sehr weitgehenden Empfehlung in G. 10 des DCGK sollen den 94 Vorstandsmitgliedern gewährte variable Vergütungsbeträge von diesen überwiegend in Ak_____________ 114) Ebenso für den Fall von Tochtergesellschaften Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 62. 115) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 73. 116) Arnold/Herzberg/Zeh, AG 2020, 313, 319, Rz. 35.

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tien der Gesellschaft angelegt oder entsprechend aktienbasiert gewährt werden. Entsprechende Regelungen sind nach § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 im Vergütungssystem darzustellen. h)

§ 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 – vergütungsbezogene Rechtsgeschäfte

95 § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 sieht die Angabe von bestimmten Charakteristika vergütungsbezogener Rechtsgeschäfte vor. Nach der Regierungsbegründung umfassen diese alle Rechtsgeschäfte, die die Begründung, Änderung oder Aufhebung der Vergütung oder von Vergütungsbestandteilen betreffen.117) Primär sind hiervon der Anstellungsvertrag des Vorstandsmitglieds sowie etwaige Nebenabreden dazu erfasst, soweit sie die Vergütung betreffen, etwa eine gesonderte Vereinbarung über die Teilnahme an einem Altersversorgungsprogramm, Ruhestands- und Vorruhestandsvereinbarungen oder Optionsvereinbarungen.118) 96 Nach der Regierungsbegründung dürfte die Regelung auch Aufhebungsvereinbarungen erfassen, die im Falle einer vorzeitigen Beendigung des Vorstandsmandats geschlossen werden. 97 Die Unterpunkte von § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 sind recht heterogen. Angaben, die auf alle Arten von vergütungsbezogenen Rechtsgeschäften passen, enthält nur § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 lit. a, wonach die Laufzeiten und Beendigungsvoraussetzungen einschließlich Kündigungsfristen anzugeben sind. § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 lit. b verlangt die Angabe von Zusagen von Entlassungsentschädigungen, während nach Nr. 7 lit. c die Hauptmerkmale der Ruhegehalts- und Vorruhestandsregelungen anzugeben sind. 98 Bloße gesetzliche Beendigungsgründe und sonstige einschlägige gesetzliche Regelungen brauchen im Vergütungssystem nicht dargestellt werden, da dies nur zu redundanten Ausführungen in vielen Vergütungssystemen ohne zusätzlichen Erkenntnisgewinn führen würde.119) Hierzu zählt auch der Fall, dass bei einer isolierten Beendigung der Bestellung bei weiterlaufendem Anstellungsvertrag die Vergütung weiter gewährt werden muss. Hierbei handelt es sich um eine Folge der gesetzlichen Regelung, die nicht im Vergütungssystem beschrieben werden muss.120) 99 § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 lit. b ist an § 158 Abs. 1 SGB III angelehnt und zielt auf die Zusage von Abfindungen für den Fall der Vertragsaufhebung ab. Sieht der Anstellungsvertrag das Recht einer Partei vor, den Vertrag (und die Organbestellung) zu beenden, wenn ein Dritter eine kontrollierende Beteiligung an der Gesellschaft erwirbt (sog. Change-ofControl-Klausel), ist dies bereits nach § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 lit. a als Regelung zur Beendigung des Anstellungsvertrags anzugeben. Nach § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 lit. b sind sodann für diesen Fall getroffene Vergütungsregelungen, insbesondere eine für den Fall des Change-of-Control zugesagte Abfindung anzugeben.121) Eine parallele Offenlegungspflicht für den Lagebericht enthält § 289a Satz 1 Ziff. 8 HGB. 100 § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 lit. b dürfte nach seiner Intention nicht nur die vorherige Zusage von Abfindungen im Anstellungsvertrag, sondern auch eine konkrete Abfindung, die anlässlich einer einvernehmlichen vorzeitigen Beendigung in einer Aufhebungsvereinbarung vereinbart wird. Zwar spricht dagegen, dass letztere keine Vergütung für die Vorstandstätigkeit mehr darstellt, sondern eine Entschädigung gerade für deren vorzeitige Beendigung. _____________ 117) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 73 f. 118) Hirte/Heidel-Lochner/Beneke, Das neue Aktienrecht, § 87a Rz. 19; näher zu den erfassten Rechtsgeschäften auch Arnold/Herzberg/Zeh, AG 2020, 313, 319, Rz. 36 f.; gegen eine Erfassung gesonderter Rechtsgeschäfte neben dem Anstellungsvertrag Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 66. 119) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 74; s. a. Spindler, AG 2020, 61, 67, Rz. 23.; GrigoleitGrigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 67. 120) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 68, mit dem Hinweis, dass Abweichungen von der rein gesetzlichen Folge wiederum aufzunehmen sind. 121) Goslar, DB 2020, 937, 939; Spindler, AG 2020, 61, 67, Rz. 23.

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Dennoch geht es § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 insgesamt ersichtlich um eine möglichst umfassende Angabe der vertraglichen und ökonomischen Bedingungen der Beendigung des Anstellungsvertrags. Dies führt dazu, dass das Vergütungssystem den Einigungsspielraum im Falle einer vorzeitigen Beendigung des Anstellungsvertrags erheblich einschränken kann. Das ist insbesondere dann relevant, wenn sich die Gesellschaft von einem Vorstandsmitglied trennen will, ohne dass ein wichtiger Grund für eine vorzeitige Abberufung nach § 84 Abs. 4 Satz 1 und eine korrespondierende außerordentliche Kündigung des Anstellungsvertrags vorläge. Deshalb sind Gesellschaften gut beraten, an dieser Stelle keine zu detaillierten Vorgaben im Vergütungssystem zum machen, um eine gewisse Flexibilität zu erhalten. Die von § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 lit. c angesprochenen Ruhegehalts- und Vorruhestands- 101 regelungen erfassen die Zusage von Vergütung für die Zeit nach der Vorstandstätigkeit, aber auch sonstige Elemente der Altersvorsorge (wie etwa Direktversicherungen), die von der Gesellschaft finanziert oder sonst bereitgestellt werden. Ausreichend ist hier nach dem Wortlaut eine Beschreibung der Hauptmerkmale, so dass nicht auf Details eingegangen werden muss. Allerdings muss die Größenordnung der von der Gesellschaft geleisteten Zahlungen ersichtlich werden.122) i)

§ 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 9 – Erläuterung zur Berücksichtigung der Vergütungsund Beschäftigungsbedingungen der Arbeitnehmer

Nach Nr. 9 muss in das Vergütungssystem eine Erläuterung aufgenommen werden, wie 102 die Vergütungs- und Beschäftigungsbedingungen der Arbeitnehmer bei der Festsetzung des Vergütungssystems berücksichtigt wurden, einschließlich einer Erläuterung, welcher Kreis von Arbeitnehmern einbezogen wurde. Dabei handelt es sich nicht um eine Angabe zu einem Vergütungsbestandteil, so dass die Erläuterung in jedem Fall aufzunehmen ist.123) Auch hier werden aber keine materiellen Vorgaben gemacht, so dass die Erläuterung auch dahin gehen, kann, dass diese nicht berücksichtigt wurden.124) Eine entsprechende Empfehlung enthält aber Empfehlung G. 4 des DCGK 2020, so dass im Falle einer Nichtberücksichtigung eine Abweichung von den Kodex-Empfehlungen erklärt werden muss. Allerdings schreibt § 162 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 für den Vergütungsbericht zwingend vor, 103 dass die Entwicklung der Vorstandsvergütung der Entwicklung der durchschnittlichen Vergütung von Arbeitnehmern gegenübergestellt wird. Das führt letztlich zwangsläufig dazu, dass sich der Aufsichtsrat mit dem Verhältnis der Vorstandsvergütung zur Vergütung der Beschäftigten auseinandersetzen muss. Neben dem Vertikalvergleich der § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 9 empfiehlt G. 3 DCGK 2020 104 auch einen horizontalen Peer-Group-Vergleich der Vorstandsgehälter mit denen vergleichbarer Unternehmen, wobei die Zusammensetzung der Peer Group offengelegt werden soll.125) Gesetzlich ergibt sich das Erfordernis eines Horizontalvergleichs zu einem gewissen Grad bereits aus § 87 Abs. 1 Satz 1,126) da die Vergütung danach die übliche Vergütung nicht ohne besondere Gründe übersteigen darf. Der Peer-Group-Vergleich stellt einen wesentlichen Anhaltspunkt für die Höhe der üblichen Vergütung dar. _____________ 122) 123) 124) 125)

Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 69. Spindler, AG 2020, 61, 67, Rz. 24. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 74. Hopt/Leyens, ZGR 2019, 929, 978; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87a Rz. 19; für eine auf objektive Nachvollziehbarkeit beschränkte Beschreibung Müller-Bonanni/Jenner/Denninger, AG 2021, 339, 343. 126) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87 AktG Rz. 22; Spindler in MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 87 Rz. 56.

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105 Da § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 9 keine materiellen Vorgaben macht, liegen die Einzelheiten des angestellten Vertikalvergleichs im Ermessen des Aufsichtsrats.127) Dies gilt neben dem Ob des Vertikalvergleichs auch für die Wahl der Vergleichsgruppe und der zu berücksichtigenden Beschäftigungsbedingungen.128) Der Gesetzgeber wollte hier bewusst keine Vorgaben machen; insbesondere ist auch die Einbeziehung von Arbeitnehmern aus Tochterunternehmen und von leitenden Angestellten möglich.129) Nach der ausdrücklichen Regelung muss aber der Kreis der einbezogenen Arbeitnehmer erläutert werden. Der DCGK verengt wiederum den vom Gesetzgeber geschaffenen Spielraum, indem er einen Vergleich mit der Vergütung des oberen Führungskreises sowie der Belegschaft insgesamt verlangt, wobei eine konzernweite Betrachtung anzulegen ist.130) j)

§ 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 – Verfahren zur Fest- und Umsetzung sowie zur Überprüfung des Vergütungssystems

106 Auch § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 stellt eine von einzelnen Vergütungskomponenten unabhängige Pflichtangabe dar. Die Regelung setzt Art. 9a Abs. 4 Unterabs. 6 Satz 1 ARRL II um. Da wesentliche Anforderungen an das vom Aufsichtsrat zu beachtende Verfahren gesetzlich vorgegeben sind, sollten an den Detailgrad der Angaben keine zu großen Anforderungen gestellt werden, um redundante, bei vielen Gesellschaften ähnliche Ausführungen zu vermeiden. Aus dem Rahmencharakter des Vergütungssystems ergibt sich auch, dass keine Details zur Genese des aktuellen Vergütungssystems (Abstimmungsergebnisse, Diskussionsinhalte etc.) berichtet werden müssen – es geht vielmehr um die Darstellung des Rahmens, der allgemein für Zustandekommen und Umsetzung des Vergütungssystems gilt.131) 107 Die Festlegung des Vergütungssystems betrifft dessen Ausarbeitung und Verabschiedung durch den Aufsichtsrat sowie seine Vorlage an die Hauptversammlung. Die Umsetzung betrifft die Vereinbarung über die Vergütung mit den Vorstandsmitgliedern, in der Regel in deren Anstellungsverträgen. Ebenfalls zur Umsetzung gehören die übliche periodische Festsetzung von konkreten Erfolgszielen für die variablen Vergütungsbestandteile sowie die Feststellung der Zielerreichung und die darauf basierende Ermittlung der auszuzahlenden variablen Vergütung. Die Überprüfung betrifft die regelmäßige Prüfung, ob das Vergütungssystem, insbesondere die Ausgestaltung der variablen Vergütungskomponenten (weiterhin) die richtigen Anreize für die erfolgreiche und nachhaltige Unternehmensleitung setzt und zu einem angemessenen Vergütungsniveau führt. Außerdem gehört dazu das Verfahren zur Reaktion auf Abstimmungsergebnisse und Diskussion in der Hauptversammlung, der das Vergütungssystem vorgelegt wurde.132) 108 Für diese verschiedenen Schritte im Vergütungsprozess sollten im Vergütungssystem die Zuständigkeit eines Ausschusses sowie die Abgrenzung der Ausschusstätigkeit von der Tätigkeit des Plenums dargestellt werden. Eine detailliertere Darstellung, etwa der abzuhaltenden Sitzungen o. Ä. ist nicht zu fordern, da es dafür in der Regel keinen festen Ablauf gibt und etwa die Anzahl erforderlicher Sitzungen variieren kann. Ebenso wenig ist eine Darstellung technischer Verfahrensaspekte, wie etwa der Protokollierung von Sitzungen _____________ Hopt/Leyens, ZGR 2019, 929, 978. Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 72. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 74. Johannsen-Roth/Illert/Ghassemi-Tabar-Johannsen-Roth, DCGK, G. 4 Rz. 9. Ähnlich, auch mit Verweis auf das Beratungsgeheimnis des Aufsichtsrats, Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 74. 132) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 75. 127) 128) 129) 130) 131)

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etc. erforderlich.133) Für die Überprüfung des Vergütungssystems sollte angegeben werden, in welchem Turnus diese erfolgt. Hinsichtlich der Maßnahmen zur Vermeidung von Interessenkonflikten sollte bei Ge- 109 sellschaften, in denen solche nicht naheliegend sind, der Hinweis ausreichen, dass über die gesetzlichen Anforderungen (die nicht dargestellt werden müssen) hinaus keine besonderen Vorkehrungen getroffen wurden.134) Lediglich bei Gesellschaften, in denen Interessenkonflikte konkret naheliegen, etwa bei Vertretern von herrschenden Aktionären im Aufsichtsrat, können sich detailliertere Angaben zum Umgang damit empfehlen. Teilweise wird empfohlen, Angaben zur Heranziehung von Vergütungsberatern zu ma- 110 chen,135) wobei allerdings fraglich erscheint, ob dies zwingend ist, da es sich dabei nicht um einen Teil des gesellschaftsinternen Verfahrens handelt, sondern der Aufsichtsrat den Vergütungsberater unterstützend heranzieht. k)

§ 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 11 – Angaben zu überprüftem Vergütungssystem

§ 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 11 setzt Art. 9a Abs. 6 Unterabs. 6 Satz 2 ARRL II um und stellt 111 ebenfalls eine von einzelnen Vergütungskomponenten unabhängige Pflichtangabe dar, die allerdings nur erforderlich ist, wenn nach Ablehnung eines Vergütungssystems durch die Hauptversammlung gemäß § 120a Abs. 3 ein überprüftes Vergütungssystem vorgelegt wird.136) Da nach § 120a Abs. 3 keine Pflicht zur Vornahme von Änderungen am Vergütungssystem besteht (siehe hierzu § 120a Rz. 26), zielt § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 11 primär darauf, ein gewisses Rechtfertigungserfordernis zu schaffen, indem der Aufsichtsrat erläutern muss, wie Abstimmungen und Aktionärsäußerungen zum zuletzt vorgelegten Vergütungssystem bei der Überprüfung des Vergütungssystems berücksichtigt wurden. Nach der Regierungsbegründung sind außerdem Abstimmungen und Aktionärsäußerungen zu allen vorgelegten Vergütungsberichten seit der letzten Abstimmung über das Vergütungssystem durch die Hauptversammlung einzubeziehen.137) Allerdings verlangt § 120a Abs. 3, dass in der nächsten ordentlichen Hauptversammlung, nachdem die Hauptversammlung ein Vergütungssystem nicht gebilligt hat, ein überprüftes Vergütungssystem vorgelegt wird. Daher kann § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 11 nur den letzten Vergütungsbericht erfassen, der in derselben Hauptversammlung wie das abgelehnte Vergütungssystem vorgelegt wurde. Unklarheit besteht, wann eine wesentliche Änderung des Vergütungssystems vorliegt, 112 da dies weder in der Richtlinie noch in den Gesetzgebungsmaterialien näher erörtert wird. Mit dem Argument, dass § 87a von der Maximalvergütung abgesehen keine Aussagen über die Vergütung selbst treffen wolle, wird daher vertreten, dass nur gravierende Änderungen angegeben werden müssten.138) Teilweise wird aus dem Telos der Norm abgeleitet, dass an das Kriterium der Wesentlichkeit keine hohen Anforderungen zu stellen sind.139) Nach wieder a. A. soll es darauf ankommen, ob eine veränderte Meinungsbildung in der Hauptversammlung wahrscheinlich erscheint.140) Da es § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 11 vorrangig um _____________ 133) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 74; Spindler in MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 87a Rz. 33. 134) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 75. 135) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 74. 136) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 74. 137) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 74. 138) Spindler in MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 87a Rz. 34; Arnold/Herzberg/Zeh, AG 2020, 313, 320, Rz. 41. 139) Hirte/Heidel-Lochner/Beneke, Das neue Aktienrecht, § 87a Rz. 24. 140) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 79.

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die Erläuterung geht, wie die Äußerungen der Aktionäre in der Hauptversammlung berücksichtigt wurden, erscheint die zuletzt genannte Auffassung überzeugend. Außerdem sind vor diesem Hintergrund insbesondere solche Änderungen anzugeben, die solche Aktionärsäußerungen umsetzen. IV.

Festlegung der Vergütung in Übereinstimmung mit einem vorgelegten Vergütungssystem (§ 87a Abs. 2 Satz 1)

1.

Anforderungen

113 § 87a Abs. 2 Satz 1 verpflichtet den Aufsichtsrat als Organ, die Vergütung von Vorstandsmitgliedern in Übereinstimmung mit dem der Hauptversammlung gemäß § 120a Abs. 1 zur Billigung vorgelegten Vergütungssystem festzusetzen. Durch das beschlossene und der Hauptversammlung vorgelegte Vergütungssystem bindet sich der Aufsichtsrat beim Abschluss von Anstellungsverträgen mit Vorstandsmitgliedern selbst.141) Neben der Beachtung der materiell-rechtlichen Vorgaben des § 87 müssen daher alle individualvertraglich vereinbarten Ausgestaltungen von im Katalog des Absatz 1 Satz 2 aufgeführten Kriterien bereits im Vergütungssystem angelegt sein und sich innerhalb der Grenzen dieses abstrakt-generellen Rahmens halten.142) 114 § 87a Abs. 2 Satz 1 erfordert nur, dass das Vergütungssystem, das der Aufsichtsrat umsetzen möchte, der Hauptversammlung vorgelegt wurde. Das Votum der Hauptversammlung hat folglich rein empfehlenden Charakter (vgl. § 120a Abs. 1 Satz 2). Daher kann der Aufsichtsrat die konkrete Vergütung auch im Einklang mit einem der Hauptversammlung vorgelegten, aber abgelehnten Vergütungssystem festsetzen.143) Überwiegend wird aber erwartet, dass das Votum der Hauptversammlung zumindest faktisch einen erheblichen Handlungsdruck erzeugt.144) Nicht möglich dürfte es hingegen sein, bei der Umsetzung Elemente aus verschiedenen vorgelegten Vergütungssystemen zu kombinieren, denn ein System impliziert auch das Zusammenspiel der verschiedenen Vergütungselemente, das verlorenginge, wenn mehrere Systeme kombiniert würden. 115 Nach dem Wortlaut von § 87a Abs. 2 Satz 1 ist der Aufsichtsrat lediglich verpflichtet, die Vergütung in Übereinstimmung mit einem der Hauptversammlung nach § 120a Abs. 1 vorgelegten Vergütungssystem festzusetzen. 116 Dies wird überwiegend so interpretiert, dass der Aufsichtsrat grundsätzlich jedes Vergütungssystem, das einmal der Hauptversammlung gemäß § 120a zum Beschluss vorlag, als Grundlage für die individuelle Festsetzung der Vergütung eines Vorstandsmitglieds im Anstellungsvertrag verwenden darf; danach gibt es keine Pflicht zur Verwendung des zuletzt beschlossenen und vorgelegten Vergütungssystems.145) Ein Rückgriff auf frühere Vergütungssysteme soll jedenfalls dann zulässig sein, wenn ein sachlicher Grund dafür vorliegt.146) Teilweise wird einschränkend vertreten, dass das Auswahlermessen des Aufsichtsrats auf Vergütungssysteme beschränkt sei, die der Hauptversammlung vor nicht mehr als vier

_____________ Spindler in MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 87a Rz. 35. Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 82. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87a AktG Rz. 29. Vgl. z. B. Gärtner/Himmelmann, AG 2021, 259, 260, Rz. 2. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 87a AktG Rz. 29; Spindler in MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 87a Rz. 35; Hirte/Heidel-Lochner/Beneke, Das neue Aktienrecht, § 87a Rz. 27; Henssler/StrohnDauner-Lieb, AktG, § 87a Rz. 11; Wandt/Vossen, AG 2020, 705, 707 ff.; v. Zehmen, BB 2021, 1098, 1100. 146) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87a Rz. 24.

141) 142) 143) 144) 145)

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Jahren vorlagen und die der Aufsichtsrat seit der Vorlage nicht wesentlich geändert hat, da andernfalls die regelmäßige Vorlagepflicht des § 120a ad absurdum geführt werde.147) Nach a. A. ist der Aufsichtsrat an das der Hauptversammlung zuletzt vorgelegte Vergü- 117 tungssystem gebunden, wenn dies von der Hauptversammlung gebilligt wurde.148) Die Möglichkeit des Rückgriffs auf ein irgendwann vorgelegtes Vergütungssystem soll nicht mit der Richtlinie und dem von ihr verfolgten Zweck, dem Votum der Aktionäre ein größeres Gewicht beizumessen, vereinbar sein.149) Ein Rückgriff auf früher vorgelegte Vergütungssysteme soll nur möglich sein, wenn das Vergütungssystem durch die Hauptversammlung missbilligt wurde.150) Diese einschränkenden Ansichten sind abzulehnen, da sie gerade den vom deutschen 118 Gesetzgeber i. R. des Mitgliedstaatenwahlrechts gewählten Weg eines nur empfehlenden Hauptversammlungsvotums aushebeln würden. Nach § 120a ist der Aufsichtsrat befugt, unwesentliche Änderungen am Vergütungssystem 119 vornehmen, ohne sie zuvor der Hauptversammlung vorzulegen. Mit Blick auf die Bindungswirkung des § 87a Abs. 2 Satz 1 stellt sich daher die Frage, ob der Aufsichtsrat, bei der Festsetzung der Vorstandsvergütung vom vorgelegten Vergütungssystem abweichen darf, solange die Änderungen nur unwesentlich sind. Dies wird aufgrund des zwingenden Wortlauts des Absatzes 2 Satz 1 abgelehnt,151) dürfte aber wegen der Möglichkeit zur Vornahme unwesentlicher Änderungen am Vergütungssystem kaum praktische Bedeutung haben. Diskutiert wird ebenfalls, ob der Aufsichtsrat die Möglichkeit hat, das Vergütungssystem 120 infolge eines missbilligenden Hauptversammlungsvotums punktuell abzuändern, um dann die Vorstandsvergütung in Übereinstimmung mit diesem abgeänderten Vergütungssystem ohne erneute Vorlage festzusetzen. Dies wird überwiegend mit Blick auf den insoweit eindeutigen Wortlaut von § 87a Abs. 2 Satz 1 abgelehnt.152) Auch Absatz 2 Satz 2, der punktuelle Anpassungen nur in engen Ausnahmekonstellationen zulässt, spreche gegen die Möglichkeit einer solchen Änderung infolge des missbilligenden Aktionärsvotums.153) Demgegenüber seien unangemessene Ergebnisse im Einzelfall hinzunehmen.154) Die a. A. hält die Festsetzung der Vergütung auf Grundlage eines infolge der Missbilligung der Hauptversammlung abgeänderten Vergütungssystems für zulässig und für vereinbar mit dem Zweck von Absatz 2 Satz 1, eine gewisse Vorhersehbarkeit und Transparenz der Vergütung zu schaffen.155) Damit zusammenhängend ist streitig, ob Änderungsmöglichkeiten durch dem Vergütungs- 121 system immanente Öffnungsklauseln, die Änderungsmöglichkeiten des Aufsichtsrats vor_____________ 147) Gärtner/Himmelmann, AG 2021, 259, 264, Rz. 23. 148) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, Rz. 399; Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 87; dies für die Praxis empfehlend auch v. Zehmen, BB 2021, 1098, 1100; für eine Bindung Herrler, ZHR 184 (2020) 408, 436 f., der allerdings in außergewöhnlichen Konstellationen Ausnahmen zulassen will; ausdrücklich gegen eine derartige Bindung Gärtner/Himmelmann, AG 2021, 259, 264, Rz. 26. 149) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 87. 150) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 88. 151) J. Vetter/Lauterbach, AG 2021, 89, 91, Rz. 8 f. 152) Herrler, ZHR 184 (2020) 408, 439 f.; Heldt, AG 2018, 905, 908 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87a Rz. 13; Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 88; kritisch insoweit DAV, Stellungnahme zum RefE des ARUG II, NZG 2019, 12, 15, Rz. 35. 153) Spindler in MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 87a Rz. 35. 154) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87a Rz. 24. 155) Löbbe/Fischbach, AG 2019, 373, 379 f.; Henssler/Strohn-Dauner-Lieb, AktG, § 87a Rz. 11; wohl auch Diekmann WM 2018, 796, 798 – noch zur Richtlinie.

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sehen, geschaffen werden können.156) Der Umstand, dass nach § 120a Abs. 1 Satz 1 das Vergütungssystem bei wesentlichen Änderungen erneut der Hauptversammlung vorgelegt werden muss sowie die engen Voraussetzungen für ein Abweichen nach § 87a Abs. 2 Satz 2 sprechen gegen die Möglichkeit weitreichende Öffnungsklauseln vorzusehen.157) Nach dem Sinn und Zweck von Absatz 2 Satz 1 muss für den Aktionär vorhersehbar sein, welche Änderungen aufgrund einer solchen Klausel durch den Aufsichtsrat vorgenommen werden können – damit ist jedenfalls eine generelle Öffnungsklausel unvereinbar.158) 122 Bei der erstmaligen Beschlussfassung über das Vergütungssystem durch die Hauptversammlung stellt sich die Frage, ob die Bindungswirkung des § 87a Abs. 2 Satz 1 auch dann eintritt, wenn das Vergütungssystem durch die Hauptversammlung abgelehnt wird, mit der Folge, dass der Aufsichtsrat das abgelehnte Vergütungssystem verwenden muss. Dafür spricht, dass das abgelehnte Vergütungssystem regelmäßig als einziges den Vorgaben des § 87a entspricht.159) Gegen diese Ansicht wird überzeugend der Wortlaut von § 26j Abs. 1 Satz 2 EGAktG angeführt, der für die Pflicht zur Anwendung des Vergütungssystems auf dessen erstmalige Billigung durch die Hauptversammlung abstellt.160) Die a. A. argumentiert, dass es nicht die Intention des Gesetzgebers gewesen sein könne, durch die intertemporale Norm des § 26j Abs. 1 Sätze 2 und 3 EGAktG die Anwendung von § 87a auf möglicherweise unbestimmte Zeit (bis zur erstmaligen Zustimmung durch die Hauptversammlung) hinauszuzögern.161) 2.

Auswirkungen auf Verträge mit Vorstandsmitgliedern

123 Wie auch § 26j Abs. 1 Satz 3 Halbs. 2 EGAktG klarstellt, hat das nach § 87a zu beschließende Vergütungssystem keine rechtlichen Auswirkungen auf Altverträge; auch ist der Aufsichtsrat nach Beschluss und Vorlage eines neuen Vergütungssystems nach h. M. nicht verpflichtet, Altverträge anzupassen.162) Er kann, muss aber auch keine Öffnungsklauseln in Vorstandsverträgen vereinbaren, die eine Anpassung an geänderte Vergütungssysteme zulassen.163) 124 Grundsätzlich bildet das Vergütungssystem nur den abstrakten Rahmen für die individuelle Vergütungsvereinbarung und wirkt als solches nicht unmittelbar für den zwischen Vorstandsmitglied und Aufsichtsrat abzuschließenden Vertrag.164) § 87a ist daher als reine Ordnungsvorschrift zu qualifizieren und stellt kein Verbotsgesetz i. S. des § 134 BGB dar.165) Diskutiert wird aber, ob die Wirksamkeit des Anstellungsverhältnisses mittelbar _____________ 156) Für die Zulässigkeit von Öffnungsklauseln im Hinblick auf Anpassungen infolge eines missbilligenden Aktionärsvotums: Bachmann/Pauschinger, ZIP 2019, 1, 5; für eine nur eingeschränkte Zulässigkeit J. Vetter/Lauterbach, AG 2021, 89, 91, Rz. 10 ff.; Häller/Hoegen, ZVglRWiss 120 (2021) 209, 212 f.; noch strenger Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 116. 157) J. Vetter/Lauterbach, AG 2021, 89, 91, Rz. 10 f.; Häller/Hoegen, ZVglRWiss 120 (2021) 209, 212. 158) J. Vetter/Lauterbach, AG 2021, 89, 92, Rz. 13. 159) Hirte/Heidel-Lochner/Beneke, Das neue Aktienrecht, § 87a Rz. 26. 160) Ausführlich Wandt/Vossen, AG 2020, 705, 708 ff., Rz. 15 ff.; Böcking/Bundle, Der Konzern 2020, 15, 16; vgl. auch Gärtner/Himmelmann, AG 2021, 259, 264, Rz. 24; Spindler in MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 87a Rz. 36. 161) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 124; Herrler, ZHR 184 (2020) 408, 441 f. 162) Wandt/Vossen, AG 2020, 705, 707, Rz. 7; Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 90 – dort auch zu den Problemen, die sich aus der ex-nunc-Wirkung bei der Herabsetzung einer kollektiven Maximalvergütung ergeben können; a. A. offenbar Diekmann, BB 2018, 3010, 3011, wonach der Aufsichtsrat verpflichtet sei, mit den Vorstandsmitgliedern über eine Änderung zu sprechen. 163) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 124. 164) Ausführlich: Gärtner/Himmelmann, AG 2021, 259, 265, Rz. 27; Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 96. 165) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 96.

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durch einen Verstoß des Aufsichtsrats gegen § 87a beeinträchtigt werden kann. Namentlich betrifft dies die Frage, welche Folgen ein Verstoß gegen § 87a auf die Vertretungsmacht des Aufsichtsrats beim Abschluss des Anstellungsvertrags hat. Denkbar ist ein Mangel der Vertretungsmacht, wenn man annimmt, dass die Pflichtenstel- 125 lung des Aufsichtsrats im Innenverhältnis auch seine Vertretungsmacht gegenüber dem Vorstand beschränkt.166) Zudem wird diskutiert, ob eine Unwirksamkeit der Vereinbarung zwischen Aufsichtsrat und Vorstandsmitglied unter dem Gesichtspunkt des Missbrauchs der Vertretungsmacht in Betracht kommt.167) Dies wird von der wohl überwiegenden Ansicht mit Blick auf die Möglichkeit des Aufsichtsrats, nach § 87a Abs. 2 Satz 2 vom Vergütungssystem abzuweichen, abgelehnt.168) Zudem sei die Überprüfung der Einhaltung der Vorgaben des Vergütungssystems für Vorstandsmitglieder praktisch kaum möglich und jedenfalls unzumutbar.169) Ein Verstoß gegen das Vergütungssystem durch den Aufsichtsrat stellt allerdings gemäß 126 §§ 93, 116 eine Pflichtverletzung dar und kann folglich einen gegen die Aufsichtsratsmitglieder gerichteten Schadensersatzanspruch auslösen.170) Parallel zu der Diskussion zu § 87 wird auch für einen Verstoß gegen § 87a teilweise diskutiert, ob zudem ein Schadensersatzanspruch gegen das (künftige) Vorstandsmitglied in Betracht kommt.171) Umgekehrt entlastet auch ein von der Hauptversammlung gebilligtes Vergütungssystem 127 den Aufsichtsrat nicht von seiner Pflicht, die materiellen Vorgaben des § 87a zu beachten.172) Steht das Vergütungssystem selbst im Konflikt mit materiellen Vergütungsvorschriften (z. B. § 87 AktG, § 25a KWG) sind letztere für die Frage des Vorliegens einer Pflichtverletzung maßgeblich.173) 3.

Festlegung bei Herabsetzung der Maximalvergütung durch die Hauptversammlung nach § 87 Abs. 4

Im Falle einer Herabsetzung der vom Vergütungssystem vorgesehenen Maximalvergütung 128 durch die Hauptversammlung nach § 87 Abs. 4 hat der Aufsichtsrat auch diese Herabsetzung bei der Vereinbarung von Anstellungsverträgen zu berücksichtigen. Bereits bestehende Verträge bleiben auch hier unberührt.174) Der Aufsichtsrat muss auch nicht etwa die Festsetzung von Erfolgszielen oder die Feststellung der Zielerreichung modifizieren, um die von der Hauptversammlung herabgesetzte Maximalvergütung einzuhalten. Denn darin läge ein Verstoß gegen die mit dem Vorstandsmitglied verbindlich getroffene Vergütungsvereinbarung. Nach überzeugender Auffassung kann der Aufsichtsrat die von der Hauptversammlung 129 herabgesetzte Maximalvergütung nicht dadurch umgehen, dass er auf ein früher vorgelegtes Vergütungssystem ausweicht, das nicht Gegenstand des Herabsetzungsbeschlusses der _____________ 166) In diesem Sinne Verse, NZG 2013, 921, 928; vgl. auch ablehnend Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 93. 167) Nach Gärtner/Himmelmann, AG 2021, 259, 265, Rz. 27 soll regelmäßig ein evidenter Missbrauch der Vertretungsmacht vorliegen; vgl. auch Florstedt, ZGR 2019, 630, 649; noch zum Entwurf der ARRL II Zetzsche, NZG 2014, 1121, 1130. 168) Spindler in MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 87a Rz. 6. 169) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 95. 170) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 99; für das Überschreiten der Maximalvergütung Hirte/Heidel-Lochner/Beneke, Das neue Aktienrecht, § 87a Rz. 7. 171) Ablehnend Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 100 m. w. N. 172) Bungert/Berger, DB 2018, 2801, 2804; Florstedt, ZGR 2019, 630, 650. 173) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 102. 174) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 118.

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Hauptversammlung war.175) Durch eine solche formelle Sichtweise würde die Herabsetzungskompetenz der Hauptversammlung untergraben. Der Aufsichtsrat kann der Hauptversammlung aber ein neues Vergütungssystem vorlegen, für das der Herabsetzungsbeschluss dann nicht mehr gilt. Allerdings kann die Hauptversammlung auch für das neue Vergütungssystem wieder die Maximalvergütung herabsetzen. V.

Vorübergehende Abweichungen vom Vergütungssystem (§ 87a Abs. 2 Satz 2)

130 Durch § 87a Abs. 2 Satz 2 wurde Art. 9a Abs. 4 ARRL II umgesetzt, der dem Umsetzungsgesetzgeber die Möglichkeit einräumt, zu gestatten, dass die Gesellschaft unter außergewöhnlichen Umständen vorübergehend von ihrer Vergütungspolitik abweichen kann. 131 Gemäß § 87a Abs. 2 Satz 2 setzt eine Abweichung voraus, dass sie im Interesse des langfristigen Wohlergehens der Gesellschaft notwendig ist. Nach ErwG 30 und Art. 9a Abs. 4 Unterabs. 2 ARRL II ist eine Abweichung in „außergewöhnlichen Umständen“ gerechtfertigt, wenn sie den langfristigen Interessen und der Tragfähigkeit der Gesellschaft insgesamt dient oder ihre Rentabilität gewährleistet. Die Regierungsbegründung nennt die Finanzkrise 2008/2009 oder sonstige Unternehmenskrisen als Beispiele.176) Veränderungen bei der Anzahl oder die Bestellung neuer Vorstandsmitglieder sollen dagegen zumindest für sich genommen keine Abweichung rechtfertigen.177) Wann nach diesen relativ vagen Kriterien ein Abweichen möglich sein soll, erscheint bisher nicht hinreichend geklärt. Nach manchen Autoren soll ein Rückgriff auf § 87a Abs. 2 Satz 2 nur in „absoluten Ausnahmesituationen“ möglich sein.178) Die zu befürwortende überwiegende Ansicht in der Literatur vertritt hingegen einen großzügigeren Maßstab.179) So soll teilweise der Anwendungsbereich des § 87a Abs. 2 Satz 2 bereits dann eröffnet sein, wenn die Abweichung im Interesse der Gesellschaft liegt.180) Teilweise wird gefordert, dass ein „deutlich überwiegendes Gesellschaftsinteresse“ an der Abweichung besteht.181) 132 § 87a Abs. 2 Satz 2 setzt zudem voraus, dass das Vergütungssystem das Verfahren des Abweichens, sowie die Bestandteile, von denen abgewichen werden kann, benennt. Die Aufnahme einer allgemeinen, nur den Gesetzeswortlaut wiederholenden Klausel soll nicht ausreichen, um diesen Anforderungen gerecht zu werden.182) Allerdings sollen für die Konkretisierung der Angaben auch keine allzu hohen Anforderungen gelten.183) Auch hier ist der zuletzt genannten, großzügigeren Auffassung zuzustimmen, da das Verfahren für Maßnahmen des Aufsichtsrats größtenteils gesetzlich vorgegeben ist und ein Verlangen nach detaillierten Ausführungen lediglich redundante Texte ohne erheblichen Erkenntnisgewinn fördert. Ähnlich wie bei § 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 11 sollte es ausreichen, Ausschusszuständigkeiten und die Abgrenzung zwischen Ausschuss- und Plenum darzustellen. Auch ist es zuzulassen, dass alle Elemente des Vergütungssystems zur Disposition gestellt werden, solange dies deutlich zum Ausdruck kommt. _____________ 175) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 119; im Ergebnis auch J. Vetter/Lauterbach, AG 2021, 89, 97, Rz. 39. 176) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 75. 177) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 75; vgl. dazu auch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87a Rz. 14; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87a Rz. 27; großzügiger wohl Bungert/Wansleben, DB 2017, 1190, 1191. 178) Hirte/Heidel-Lochner/Beneke, Das neue Aktienrecht, § 87a Rz. 28; ähnlich v. Zehmen, BB 2021, 628, 636. 179) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 87a Rz. 14; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87a Rz. 27; GrigoleitGrigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 104. 180) Seulen, DB 2018, 2915, 2916. 181) Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 104. 182) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87a Rz. 28 – dort auch mit einem Formulierungsvorschlag. 183) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87a Rz. 28.

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§ 88

Wettbewerbsverbot

Die Abweichung darf nur vorübergehend erfolgen. Auch bezüglich der Auslegung dieses 133 Tatbestandsmerkmals besteht noch Unklarheit. Teilweise wird vertreten, die Dauer der Abweichung müsse deutlich unter dem Zeitraum in § 120a vorgesehenen Zeitraum von vier Jahren liegen (in der Regel nicht mehr als zwei Jahre);184) nach a. A. gilt hingegen keine Maximalbefristung; danach soll bspw. auch der Abschluss eines fünfjährigen Anstellungsvertrags in Abweichung vom Vergütungssystem zulässig sein.185) Dem ist zuzustimmen, da der vorübergehende Charakter der Abweichung auf die Maßnahmen des Aufsichtsrats, also den Abschluss eines abweichenden Anstellungsvertrags, und nicht auf dessen Laufzeit bezogen werden sollte. VI.

Übergangsvorschriften

Die Anwendung des § 87a wird in § 26j Abs. 1 EGAktG geregelt. Danach hatte der Auf- 134 sichtsrat erstmals bis zur ersten ordentlichen Hauptversammlung nach dem 31.12.2020 ein Vergütungssystem zu beschließen. Spätestens zwei Monate nach erstmaliger Billigung eines Vergütungssystems durch die Hauptversammlung greift § 87a Abs. 2 Satz 1 und der Aufsichtsrat muss in Übereinstimmung mit einem vorgelegten (nicht notwendigerweise dem gebilligten) Vergütungssystem die Vergütung festsetzen, wobei auch hier zuvor abgeschlossene Anstellungsverträge unberührt bleiben. Bis zur erstmaligen Billigung eines Vergütungssystems durch die Hauptversammlung kann der Aufsichtsrat die Vergütung nach der bestehenden Vergütungspraxis gewähren (siehe hierzu bereits oben Rz. 122). _____________ 184) Spindler in MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 87a Rz. 39 – Zeitraum von „weniger als 4 Jahren“; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 87a Rz. 29. 185) J. Vetter/Lauterbach, AG 2021, 89, 101, Rz. 58; Grigoleit-Grigoleit/Kochendörfer, AktG, § 87a Rz. 110.

§ 88 Wettbewerbsverbot Simon Link

(1) 1Die Vorstandsmitglieder dürfen ohne Einwilligung des Aufsichtsrats weder ein Handelsgewerbe betreiben noch im Geschäftszweig der Gesellschaft für eigene oder fremde Rechnung Geschäfte machen. 2Sie dürfen ohne Einwilligung auch nicht Mitglied des Vorstands oder Geschäftsführer oder persönlich haftender Gesellschafter einer anderen Handelsgesellschaft sein. 3Die Einwilligung des Aufsichtsrats kann nur für bestimmte Handelsgewerbe oder Handelsgesellschaften oder für bestimmte Arten von Geschäften erteilt werden. (2) 1Verstößt ein Vorstandsmitglied gegen dieses Verbot, so kann die Gesellschaft Schadenersatz fordern. 2Sie kann statt dessen von dem Mitglied verlangen, daß es die für eigene Rechnung gemachten Geschäfte als für Rechnung der Gesellschaft eingegangen gelten läßt und die aus Geschäften für fremde Rechnung bezogene Vergütung herausgibt oder seinen Anspruch auf die Vergütung abtritt. (3) 1Die Ansprüche der Gesellschaft verjähren in drei Monaten seit dem Zeitpunkt, in dem die übrigen Vorstandsmitglieder und die Aufsichtsratsmitglieder von der zum Schadensersatz verpflichtenden Handlung Kenntnis erlangen oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müssten. 2Sie verjähren ohne Rücksicht auf diese Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in fünf Jahren von ihrer Entstehung an. Literatur: Armbrüster, Wettbewerbsverbote im Kapitalgesellschaftsrecht, ZIP 1997, 1269; Fleischer, Wettbewerbs- und Betätigungsverbote für Vorstandsmitglieder im Aktienrecht, AG 2005, 336;

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Wettbewerbsverbot

Fleischer, Gelöste und ungelöste Probleme der gesellschaftsrechtlichen Geschäftschancenlehre, NZG 2003, 985; Korkmaz, Konzernweite nachvertragliche Wettbewerbsverbote für Vorstandsmitglieder, NJOZ 2014, 481; Meyer, Das „Eintrittsrecht“ der Aktiengesellschaft gemäß § 88 Abs. 2 S. 2 AktG, AG 1988, 259.

Übersicht I. Regelungsgegenstand und Regelungszweck ................................ 1 II. Verbotsadressaten ............................. 5 III. Umfang des Verbots ......................... 8 1. Verbotsinhalt ..................................... 8 a) Betrieb eines Handelsgewerbes (§ 88 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1) ................................ 8 b) Geschäfte im Geschäftszweig der Gesellschaft (§ 88 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2) ......................................... 10 I.

c) Vorstandsmitglied, Geschäftsführer oder persönlich haftender Gesellschafter einer anderen Handelsgesellschaft (§ 88 Abs. 1 Satz 2) .............................. 13 2. Einwilligung des Aufsichtsrats ........ 14 IV. Rechtsfolgen eines Verstoßes (§ 88 Abs. 2) ..................................... 16 1. Unterlassungsanspruch .................... 16 2. Schadensersatzanspruch ................... 17 3. Eintrittsrecht .................................... 18 V. Verjährung (§ 88 Abs. 3) ................ 20

Regelungsgegenstand und Regelungszweck

1 Gemäß § 88 ist es Vorstandsmitgliedern untersagt, in Wettbewerb zu der Gesellschaft zu treten. In § 88 Abs. 1 sind die verbotenen Tätigkeiten genannt. Bei Verstößen gegen das Verbot bestimmt § 88 Abs. 2 einen Schadensersatzanspruch der Gesellschaft sowie alternativ ein Eintrittsrecht in das getätigte Geschäft. § 88 Abs. 3 betrifft schließlich die Verjährung der Ansprüche der AG. Grundsatz 19 DCGK wiederholt das umfassende gesetzliche Wettbewerbsverbot für den Vorstand einer börsennotierten AG in stark verkürzter Form.1) 2 Die Norm hat einen doppelten Schutzzweck. Zum einen soll der Gesellschaft der volle Arbeitseinsatz ihrer Vorstandsmitglieder zukommen.2) Zum anderen dient die Vorschrift dem Schutz der Gesellschaft vor Wettbewerbshandlungen ihrer Vorstandsmitglieder. 3 Die Regelung des § 88 ist nicht zwingend, es können Verschärfungen und Erleichterungen sowohl im Anstellungsvertrag als auch in der Satzung geregelt werden.3) In der Praxis werden zudem häufig nachvertragliche Wettbewerbsverbote vereinbart.4) 4 Problematisch ist das Verhältnis zur Rechtsfigur der sog. Geschäftschancenlehre.5) Inhalt ist das an Vorstandsmitglieder gerichtete Verbot, Geschäftschancen der Gesellschaft für eigene Zwecke zu nutzen.6) Sowohl die Geschäftschancenlehre als auch das Wettbewerbsverbot _____________ 1) 2)

3)

4)

5) 6)

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Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Bachmann, DCGK, G. 19 Rz. 15. BGH, Urt. v. 16.3.2017 – IX ZR 253/15, BGHZ 214, 220 = NZG 2017, 627 Rz. 18; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 88 AktG Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 88 Rz. 1; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 88 Rz. 1; Krieger/Schneider-Verse, Hdb. Managerhaftung, § 26 Rz. 26.5; Hölters-Weber, AktG, § 88 Rz. 1. Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 116; a. A. für die Abänderungsmöglichkeit in der Satzung Heidel-Oltmans, AktienR, § 88 AktG Rz. 6; zu den Grenzen der Zulässigkeit: Spindler in: MünchKommAktG, § 88 Rz. 7; Fleischer, AG 2005, 336, 345 f. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 88 AktG Rz. 42 ff.; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 88 Rz. 16; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 48 ff.; zu konzernweiten nachvertraglichen Wettbewerbsverboten – Korkmaz, NJOZ 2014, 481 ff. Zu Reichweite und Grenzen der Geschäftschancenlehre Fleischer, NZG 2003, 985 ff. Seyfarth, Vorstandsrecht, § 10 Rz. 4.

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§ 88

Wettbewerbsverbot

sind als selbständige Ausprägungen der Treupflicht der Vorstandsmitglieder einzuordnen.7) Auf der einen Seite ist das Wettbewerbsverbot strenger, weil es im Gegensatz zur Geschäftschancenlehre nicht voraussetzt, dass der Gesellschaft im Einzelfall ein Schaden droht.8) Auf der anderen Seite ist es weniger weitreichend, weil es solche Fälle ausgrenzt, in denen Vorstandsmitglieder Geschäftschancen der Gesellschaft zu privaten Zwecken verwerten. Ist ein Vorstandsverhalten also weder aufgrund vertraglicher Regeln noch wegen des Wettbewerbsverbots nach § 88 unzulässig, kann sich eine Unzulässigkeit aus der Geschäftschancenlehre ergeben.9) II.

Verbotsadressaten

Verbotsadressaten des § 88 sind alle – auch die gerichtlich bestellten (§ 85) – Vorstands- 5 mitglieder sowie deren Stellvertreter (§ 94).10) Auch bei fehlerhafter Bestellung gilt das Tätigkeitsverbot.11) § 88 richtet sich hingegen nicht an Aufsichtsratsmitglieder. Das Verbot gilt daher für diese auch dann nicht, wenn sie gemäß § 105 Abs. 2 Satz 4 vorübergehend zu Stellvertretern von fehlenden oder verhinderten Vorstandsmitgliedern bestellt sind.12) Für Abwickler gilt das Wettbewerbsverbot nach ausdrücklicher Anordnung in § 268 Abs. 3 ebenfalls nicht.13) Maßgeblich für die Geltung des Wettbewerbsverbots ist im Grundsatz allein die Amts- 6 stellung unabhängig vom Anstellungsvertrag. Das Wettbewerbsverbot gilt daher ab der Bestellung zum Vorstandsmitglied und endet – unabhängig von den Gründen – mit der Amtsbeendigung.14) Umstritten sind allerdings drei Konstellationen. Dies betrifft zum einen den Fall des Wi- 7 derrufs der Bestellung bei ungekündigtem Anstellungsvertrag. Zum Teil wird bei Weiterzahlung der Vorstandsbezüge von einer Fortgeltung des Wettbewerbsverbots ausgegangen.15) Die Gegenansicht hält die sich aufgrund des fortbestehenden Anstellungsverhältnisses aus der allgemeinen Treupflicht ergebenden schuldrechtlichen Unterlassungspflichten dagegen für ausreichend.16) Unklar sind darüber hinaus die Konsequenzen einer unberechtigten Amtsniederlegung durch das Vorstandsmitglied. Hier ist die wohl h. M. der Auffassung, dass das Verbot weiter gilt.17) Geht das Vorstandsmitglied einer aus wettbewerbsrechtlicher Sicht relevanten Tätigkeit nach, nachdem es sein Mandat nicht einvernehmlich niedergelegt hat, besteht demnach das Risiko eines Verstoßes gegen § 88.

_____________ Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 88 Rz. 5. Fleischer, AG 2005, 336, 337 f.; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 88 AktG Rz. 5. Seyfarth, Vorstandsrecht, § 10 Rz. 4. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 88 AktG Rz. 7. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 88 AktG Rz. 7; Hölters-Weber, AktG, § 88 Rz. 4. Kort in: GroßKomm-AktG, § 88 Rz. 12 und 14; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 9. Kort in: GroßKomm-AktG, § 88 Rz. 13. Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 10 f.; Hölters-Weber, AktG, § 88 Rz. 5. OLG Frankfurt/M., Urt. v. 5.11.1999 – 10 U 257/98, AG 2000, 518, 519 = NZG 2000, 738, 739; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 11; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 117. 16) Fleischer, AG 2005, 336, 341; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 88 AktG Rz. 10; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 88 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 88 Rz. 5; Hölters-Weber, AktG, § 88 Rz. 5. 17) Fleischer, AG 2005, 336, 340; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 88 AktG Rz. 12; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 88 Rz. 2; Kort in: GroßKomm-AktG, § 88 Rz. 112; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 11; Wentrup in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 21 Rz. 117; a. A. Armbrüster, ZIP 1997, 1269 f.; Mertens/ Cahn in: KölnKomm-AktG, § 88 Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 88 Rz. 5; Fleischer-Thüsing, Hdb. VorstandsR, § 4 Rz. 86. 7) 8) 9) 10) 11) 12) 13) 14) 15)

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§ 88 III.

Wettbewerbsverbot Umfang des Verbots

1.

Verbotsinhalt

a)

Betrieb eines Handelsgewerbes (§ 88 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1)

8 § 88 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 verbietet den Betrieb eines Handelsgewerbes i. S. der §§ 1 ff. HGB. Da primärer Schutzzweck des Tätigkeitsverbots die Erhaltung der vollen Arbeitskraft der Vorstandsmitglieder ist, kommt es nicht darauf an, ob tatsächlich eine Konkurrenzsituation mit der Gesellschaft eintritt. Verboten ist demnach der Betrieb eines jeden Handelsgewerbes.18) Aus dem gleichen Grund kann sich das Vorstandsmitglied dem Verbot nicht durch Einschaltung eines Strohmanns oder sonstige Umgehungsgestaltungen entziehen.19) 9 Schließlich wird das Tätigkeitsverbot auf Grund des Schutzzwecks teilweise auch auf sonstige gewerbliche und freiberufliche Tätigkeiten erstreckt.20) b)

Geschäfte im Geschäftszweig der Gesellschaft (§ 88 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2)

10 § 88 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 verbietet darüber hinaus, dass Vorstandsmitglieder für eigene oder fremde Rechnung Geschäfte machen. Insoweit beschränkt sich das Verbot allerdings auf Geschäfte, die i. R. des Geschäftszweigs der Gesellschaft liegen.21) Dafür kommt es auf den tatsächlichen Geschäftszweig der Gesellschaft an, der ggf. nicht den gesamten satzungsmäßigen Unternehmensgegenstand ausschöpft.22) Davon zu trennen ist die Frage, ob das Wettbewerbsverbot sich auch dann nach dem tatsächlichen Geschäftszweig richtet, wenn dieser über die Satzungsbestimmung hinausgeht.23) 11 Erstreckt wird das Tätigkeitsverbot darüber hinaus auf die Geschäftszweige aller konzernverbundenen Unternehmen.24) Diese Konzerndimension steht im Einklang mit Grundsatz 19 DCGK.25) Voraussetzung ist hingegen nicht, dass tatsächlich eine Konkurrenzsituation mit der Gesellschaft eintritt.26) 12 Über den Wortlaut der Norm hinaus ist es Vorstandsmitgliedern entsprechend ihrer Treupflicht verboten, Geschäftschancen der Gesellschaft wahrzunehmen.27) Unter „Geschäftemachen“ versteht man jede, wenn auch nur spekulative, auf Gewinnerzielung gerichtete Teilnahme am geschäftlichen Verkehr, die nicht nur zur Befriedigung eigener privater _____________ 18) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 88 AktG Rz. 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 88 Rz. 3; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 88 Rz. 10. 19) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 88 Rz. 10; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 13. 20) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 5.11.1999 – 10 U 257/98, AG 2000, 518, 519 = NZG 2000, 738, 739; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 88 Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 88 Rz. 6; a. A. – Begrenzung der Analogie unter Hinweis auf Art. 12 GG – Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 88 AktG Rz. 18; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 88 Rz. 3; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 12. 21) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 88 Rz. 3. 22) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 5.11.1999 – 10 U 257/98, AG 2000, 518, 519 = NZG 2000, 738, 739; BGH, Urt. v. 21.2.1978 – KZR 6/77, BGHZ 70, 331 = NJW, 1978, 1001 – zum insoweit vergleichbaren Fall des § 112 HGB; Kort in: GroßKomm-AktG, § 88 Rz. 28; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 88 Rz. 13; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 88 Rz. 7; a. A. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 88 AktG Rz. 21; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 16; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 88 Rz. 3. 23) Dies ist umstritten; dafür Kort in: GroßKomm-AktG, § 88 Rz. 28; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 16; Hölters-Weber, AktG, § 88 Rz. 8; dagegen OLG Köln, Beschl. v. 19.10.2018 – 18 W 53/17, ZIP 2019, 1010 = NZG 2019, 582 Rz. 36 ff.; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 88 Rz. 13; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 88 AktG Rz. 21; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 88 Rz. 3. 24) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 88 AktG Rz. 24; Kort in: GroßKomm-AktG, § 88 Rz. 30; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 24; Hölters-Weber, AktG, § 88 Rz. 8. 25) Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Bachmann, DCGK, G. 9 Rz. 17. 26) Henssler/Strohn-Dauner-Lieb, GesR, § 88 AktG Rz. 4; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 14. 27) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 88 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 88 Rz. 7.

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§ 88

Wettbewerbsverbot

Bedürfnisse (wie z. B. der eigenen Vermögensanlage) erfolgt.28) Dabei reicht bereits eine vereinzelte Geschäftstätigkeit aus. c)

Vorstandsmitglied, Geschäftsführer oder persönlich haftender Gesellschafter einer anderen Handelsgesellschaft (§ 88 Abs. 1 Satz 2)

Nach § 88 Abs. 1 Satz 2 ist es untersagt, als Vorstandsmitglied, Geschäftsführer oder per- 13 sönlich haftender Gesellschafter einer anderen Handelsgesellschaft (SE, AG, GmbH, KG, OHG, PartG) tätig zu werden. Zweck ist wiederum, der Gesellschaft die volle Arbeitskraft ihrer Vorstandsmitglieder zu erhalten.29) Auch Doppelmandate innerhalb des Konzerns sind nur mit Zustimmung der Aufsichtsratsgremien beider Gesellschaften zulässig.30) Nach dem Schutzzweck der Norm erscheint außerdem eine Erstreckung auf geschäftsführende Kommanditisten und vergleichbare Positionen in ausländischen Handelsgesellschaften sowie GbRs geboten.31) Erlaubt ist hingegen die Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied sowie die Beteiligung als Gesellschafter.32) 2.

Einwilligung des Aufsichtsrats

Die Vorstandsmitglieder können von den Verboten des Absatz 1 durch Einwilligung, d. h. 14 durch vorherige Zustimmung (§ 183 BGB), des Aufsichtsrats befreit werden. Voraussetzung dafür ist eine Beschlussfassung des Aufsichtsrats (§ 108 Abs. 1), ein widerspruchsloses Dulden von Verstößen gegen das Wettbewerbsverbot genügt hingegen nicht.33) Ausreichend ist, dass dem jeweiligen Beschluss des Aufsichtsrats sinngemäß eine Einwilligung entnommen werden kann.34) So kann die vorbehaltlose Bestellung eines Vorstandsmitglieds trotz Kenntnis einer wettbewerbsrelevanten Tätigkeit eine konkludente Billigung darstellen.35) Eine nachträgliche Genehmigung scheidet wegen des Verbots der Verfügung über Schadensersatzansprüche der Gesellschaft nach § 93 Abs. 4 zwar als Einwilligung aus, kann aber ggf. als eine Einwilligung in gleichartige, zukünftige Tätigkeiten ausgelegt werden.36) Zu beachten ist die Beschränkung des § 88 Abs. 1 Satz 3, nach der die Einwilligung nur 15 für bestimmte Handelsgewerbe oder Handelsgesellschaften oder für bestimmte Arten von Geschäften erteilt werden kann. Dadurch wird die Möglichkeit einer Blankoeinwilligung ausgeschlossen.37) Der Aufsichtsrat muss folglich eine eindeutige Abgrenzung des Umfangs der Einwilligung vornehmen. Bezüglich der Erteilung der Einwilligung steht dem Aufsichtsrat ein Ermessen zu, was zugleich bedeutet, dass er die ordnungsgemäße Sorgfalt gemäß §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 1 Satz 1 zu beachten hat.38) _____________ 28) BGH, Urt. v. 17.2.1997 – II ZR 278/95, NJW 1997, 2055, 2056 = ZIP 1997, 1063. 29) Begr. RegE in: Kropff, AktG, S. 112; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 88 AktG Rz. 25. 30) BGH, Urt. v. 9.3.2009 – II ZR 170/07, BGHZ 180, 105 = ZIP 2009, 1162, dazu EWiR 2009, 525 (Blasche); Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 88 AktG Rz. 25; Hölters-Weber, AktG, § 88 Rz. 10. 31) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 88 Rz. 4; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 88 Rz. 15; HöltersWeber, AktG, § 88 Rz. 11; a. A. für den Kommanditisten K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 88 Rz. 8; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 21. 32) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 88 Rz. 4; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 20 f. 33) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 88 AktG Rz. 27; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 88 Rz. 16; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 25. 34) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 88 Rz. 16. 35) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 88 AktG Rz. 27; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 25. 36) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 88 Rz. 17; Hölters-Weber, AktG, § 88 Rz. 12. 37) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 88 AktG Rz. 26; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 26. 38) Kort in: GroßKomm-AktG, § 88 Rz. 10; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 27 f.; HöltersWeber, AktG, § 88 Rz. 13.

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§ 88

Wettbewerbsverbot

IV.

Rechtsfolgen eines Verstoßes (§ 88 Abs. 2)

1.

Unterlassungsanspruch

16 Rechtsfolge des § 88 ist eine Unterlassungspflicht der Vorstandsmitglieder, die von der Gesellschaft klageweise – auch vorbeugend (§ 259 ZPO) – geltend gemacht werden kann.39) Dabei kommt es nicht auf ein Verschulden des Vorstandsmitglieds an.40) 2.

Schadensersatzanspruch

17 Verstöße gegen das Wettbewerbsverbot können darüber hinaus Schadensersatzansprüche der Gesellschaft begründen (§ 88 Abs. 2). Diese setzen – anders als der Unterlassungsanspruch – ein Verschulden des Vorstandsmitglieds voraus. Dass ein solches fehlt, muss das Vorstandsmitglied entsprechend § 93 Abs. 2 nachweisen.41) Der Schadensersatzanspruch wird inhaltlich durch die §§ 249 ff. BGB determiniert. 3.

Eintrittsrecht

18 Anstatt Schadensersatz zu verlangen, kann die Gesellschaft von dem Eintrittsrecht des § 88 Abs. 2 Satz 2 Gebrauch machen.42) Rechtsfolge des Verlangens ist, dass der aus der verbotswidrigen Tätigkeit gezogene Gewinn der Gesellschaft zugutekommt, ohne dass ein Schadensnachweis erforderlich wäre.43) Da das Eintrittsrecht an die Stelle des Schadensersatzanspruchs tritt und es dabei ebenfalls um die Sanktionierung von Loyalitätspflichtverstößen geht, ist auch dafür ein Verschulden erforderlich.44) 19 Das Vorstandsmitglied ist gemäß § 666 BGB zur Auskunft und Rechenschaftslegung verpflichtet. Im Gegenzug kann das Vorstandsmitglied gegen die Gesellschaft einen Aufwendungsersatzanspruch geltend machen.45) Eine Außenwirkung gegenüber dem Vertragspartner entfaltet der Eintritt nicht.46) Die Gesellschaft kann auch nach anfänglichem Schadensersatzverlangen noch von dem Eintrittsrecht Gebrach machen, es sei denn, dass das Vorstandsmitglied im Einzelfall bereits schutzwürdig auf diese bestimmte Rechtsfolge vertraut hat.47) V.

Verjährung (§ 88 Abs. 3)

20 § 88 Abs. 3 enthält eine doppelte Verjährungsfrist. Vorgesehen ist eine Frist von drei Monaten, beginnend ab dem Zeitpunkt, zu dem die übrigen Vorstandsmitglieder (einschließlich der stellvertretenden Mitglieder)48) sowie Aufsichtsratsmitglieder Kenntnis von dem Verstoß erlangt haben oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätten erlangen müssen (§ 88 Abs. 3 Satz 1). _____________ 39) 40) 41) 42) 43) 44)

45) 46)

47) 48)

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Kort in: GroßKomm-AktG, § 88 Rz. 11; Hölters-Weber, AktG § 88 Rz. 14. Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 29; Hölters-Weber, AktG, § 88 Rz. 14. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 88 AktG Rz. 34; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 10 Rz. 53. Zum Eintrittsrecht Meyer, AG 1988, 259 ff. K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 88 Rz. 13; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 32. Kort in: GroßKomm-AktG, § 88 Rz. 74; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 88 Rz. 13; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 10 Rz. 53; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 33; a. A. Fleischer in: BeckOGKAktR, § 88 AktG Rz. 37; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 88 Rz. 7; Mertens/Cahn in: MünchKommAktG, § 88 Rz. 23; Hölters-Weber, AktG, § 88 Rz. 16. Kort in: GroßKomm-AktG, § 88 Rz. 83; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 36. BGH, Urteil v. 6.12.1962 – KZR 4/62, Rz. 17, BGHZ 38, 306 = WM 1963, 245 – zur vergleichbaren Vorschrift des § 113 HGB; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 88 AktG Rz. 38; Mertens/Cahn in: KölnKommAktG, § 88 Rz. 25; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 88 Rz. 34. Bürgers/KörberȀLieder-Bürgers, AktG, § 88 Rz. 11; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 88 Rz. 7; Kort in: GroßKomm-AktG, § 88 Rz. 96; Hölters-Weber, AktG, § 88 Rz. 18. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 88 Rz. 9.

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Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder

§ 89

Spätestens fünf Jahre nach Anspruchsentstehung tritt die Verjährung aber in jedem Fall ein (§ 88 Abs. 2 Satz 2). Für die Anspruchsentstehung kommt es auf die Vornahme der pflichtwidrigen Handlung 21 an, wenn es um eine Tätigkeit im Geschäftszweig der Gesellschaft geht (§ 88 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2).49) Bei den anderen Anwendungsfällen des § 88 Abs. 1 entsteht der Anspruch hingegen erst mit Ende der verbotenen (Dauer-)Tätigkeit.50) Der Anwendungsbereich der Verjährungsregelung des § 88 Abs. 3 geht über Absatz 2 22 hinaus, d. h. die Regelung gilt auch für andere im Zusammenhang mit der verbotswidrigen Tätigkeit stehende Ansprüche (z. B. Anspruch auf Unterlassung und Vertragsstrafe).51) Allerdings richtet sich die Verjährung von deliktischen Ansprüchen nach den allgemeinen Regeln der §§ 195, 199 BGB.52) _____________ 49) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 88 AktG Rz. 41; Hölters-Weber, AktG, § 88 Rz. 21. 50) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 88 AktG Rz. 41; Kort in: GroßKomm-AktG, § 88 Rz. 102; Mertens/ Cahn in: KölnKomm-AktG, § 88 Rz. 31; Hölters-Weber, AktG, § 88 Rz. 21. 51) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 88 Rz. 15; Hölters-Weber, AktG, § 88 Rz. 22. 52) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 88 Rz. 29; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 88 Rz. 15; a. A. BAG, Urt. v. 28.1.1986 – 3 AZR 449/84, AP HGB § 61 Nr. 2 = VersR 1986, 1224 – zur vergleichbaren Vorschrift des § 61 HGB; differenzierend Kort in: GroßKomm-AktG, § 88 Rz. 182.

§ 89 Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder Simon Link

(1) 1Die Gesellschaft darf ihren Vorstandsmitgliedern Kredit nur auf Grund eines Beschlusses des Aufsichtsrats gewähren. 2Der Beschluß kann nur für bestimmte Kreditgeschäfte oder Arten von Kreditgeschäften und nicht für länger als drei Monate im voraus gefaßt werden. 3Er hat die Verzinsung und Rückzahlung des Kredits zu regeln. 4 Der Gewährung eines Kredits steht die Gestattung einer Entnahme gleich, die über die dem Vorstandsmitglied zustehenden Bezüge hinausgeht, namentlich auch die Gestattung der Entnahme von Vorschüssen auf Bezüge. 5Dies gilt nicht für Kredite, die ein Monatsgehalt nicht übersteigen. (2) 1Die Gesellschaft darf ihren Prokuristen und zum gesamten Geschäftsbetrieb ermächtigten Handlungsbevollmächtigten Kredit nur mit Einwilligung des Aufsichtsrats gewähren. 2Eine herrschende Gesellschaft darf Kredite an gesetzliche Vertreter, Prokuristen oder zum gesamten Geschäftsbetrieb ermächtigte Handlungsbevollmächtigte eines abhängigen Unternehmens nur mit Einwilligung ihres Aufsichtsrats, eine abhängige Gesellschaft darf Kredite an gesetzliche Vertreter, Prokuristen oder zum gesamten Geschäftsbetrieb ermächtigte Handlungsbevollmächtigte des herrschenden Unternehmens nur mit Einwilligung des Aufsichtsrats des herrschenden Unternehmens gewähren. 3Absatz 1 Satz 2 bis 5 gilt sinngemäß. (3) 1Absatz 2 gilt auch für Kredite an den Ehegatten, Lebenspartner oder an ein minderjähriges Kind eines Vorstandsmitglieds, eines anderen gesetzlichen Vertreters, eines Prokuristen oder eines zum gesamten Geschäftsbetrieb ermächtigten Handlungsbevollmächtigten. 2Er gilt ferner für Kredite an einen Dritten, der für Rechnung dieser Personen oder für Rechnung eines Vorstandsmitglieds, eines anderen gesetzlichen Vertreters, eines Prokuristen oder eines zum gesamten Geschäftsbetrieb ermächtigten Handlungsbevollmächtigten handelt.

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683

§ 89

Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder

(4) 1Ist ein Vorstandsmitglied, ein Prokurist oder ein zum gesamten Geschäftsbetrieb ermächtigter Handlungsbevollmächtigter zugleich gesetzlicher Vertreter oder Mitglied des Aufsichtsrats einer anderen juristischen Person oder Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft, so darf die Gesellschaft der juristischen Person oder der Personenhandelsgesellschaft Kredit nur mit Einwilligung des Aufsichtsrats gewähren; Absatz 1 Satz 2 und 3 gilt sinngemäß. 2Dies gilt nicht, wenn die juristische Person oder die Personenhandelsgesellschaft mit der Gesellschaft verbunden ist oder wenn der Kredit für die Bezahlung von Waren gewährt wird, welche die Gesellschaft der juristischen Person oder der Personenhandelsgesellschaft liefert. (5) Wird entgegen den Absätzen 1 bis 4 Kredit gewährt, so ist der Kredit ohne Rücksicht auf entgegenstehende Vereinbarungen sofort zurückzugewähren, wenn nicht der Aufsichtsrat nachträglich zustimmt. (6) Ist die Gesellschaft ein Kreditinstitut oder Finanzdienstleistungsinstitut, auf das § 15 des Gesetzes über das Kreditwesen anzuwenden ist, gelten anstelle der Absätze 1 bis 5 die Vorschriften des Gesetzes über das Kreditwesen. Literatur: Bayer/Scholz, Vertretung durch den Aufsichtsrat nach § 112 AktG und Rechtsirrtümer im Kernbereich des Aktienrechts (§ 112 AktG) – Überlegungen anlässlich des BGHUrteils vom 28.4.2015 – II ZR 53/14, ZIP 2015, 1853; Deilmann, Kreditgewährung an Vorstands-Aktionäre, AG 2006, 62; Fleischer, Aktienrechtliche Zweifelsfragen der Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder, WM 2004, 1057; Kuhlmann, Die Einwilligung des Aufsichtsrats bei Darlehen und Vorschüssen an Prokuristen einer Aktiengesellschaft, AG 2009, 109; Meincke/Hingst, Der Kreditbegriff im deutschen Recht – de lege lata und de lege ferenda, WM 2011, 633.

Übersicht I. Regelungsgegenstand und Regelungszweck ................................ 1 II. Kreditbegriff ..................................... 3 III. Relevante Kreditnehmer ................. 5 1. Vorstandsmitglieder (§ 89 Abs. 1 Satz 1) ................................................. 5 2. Prokuristen und Generalhandlungsbevollmächtigte (§ 89 Abs. 2) ................................................ 7 3. Nahe Angehörige und Strohmänner (§ 89 Abs. 3) ......................... 9 4. Gesellschaften bei personeller Verflechtung (§ 89 Abs. 4) ............. 10 I.

IV. Beschlussfassung des Aufsichtsrats ..................................................... 13 1. Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder (§ 89 Abs. 1 Satz 2) ........ 13 2. Kreditgewährung an leitende Angestellte und nahestehende Personen ............................................ 16 V. Durchführung der Kreditgewährung ........................................ 17 VI. Rechtsfolgen bei Verstößen (§ 89 Abs. 5) ..................................... 18 VII. Organkredite (§ 89 Abs. 6) ........... 21

Regelungsgegenstand und Regelungszweck

1 § 89 regelt die Kreditvergabe der AG an Vorstandsmitglieder, bestimmte leitende Angestellte und ihnen nahestehende Personen. Zum Zwecke der Transparenz und zur Prävention von Missbrauch und verdeckter Selbstbegünstigung ist danach eine Gewährung von entsprechenden Krediten nur mit Zustimmung des Aufsichtsrats durch Beschluss möglich.1) 2 Da eine satzungsmäßige Erleichterung der in § 89 festgesetzten Anforderungen den Schutz der AG und ihrer Aktionäre untergraben würde, ist eine entsprechende Regel nichtig.2) Mög_____________ 1) 2)

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Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 89 Rz. 1; Kort in: GroßKomm-AktG, § 89 Rz. 1 f. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 89 AktG Rz. 2; Kort in: GroßKomm-AktG, § 89 Rz. 148; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 89 Rz. 3; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 89 Rz. 5.

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Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder

§ 89

lich sind nach § 23 Abs. 5 Satz 2 allerdings Satzungsbestimmungen, die den Schutz erhöhen, indem sie die Kreditgewährung erschweren oder ausschließen.3) II.

Kreditbegriff

Der Schutzzweck des § 89 erfordert eine weite Auslegung des Kreditbegriffs nach einer 3 wirtschaftlichen Betrachtungsweise, die über den Begriff des BGB (§§ 488, 607 BGB) hinausgeht.4) Umfasst sind daher etwa Geld- und Warenkredite, Darlehen, Wechsel- und Kontokorrentkredite, Bürgschaften, ungewöhnliche Stundungen und Bereitstellungen von Sicherheiten für die Kreditvergabe durch Dritte.5) Die Gestattung einer Entnahme steht der Gewährung eines Kredits gleich (§ 89 Abs. 1 Satz 4). Eine Entnahme ist insbesondere die vorfällige Inanspruchnahme von Leistungen, die dem Vorstandsmitglied geschuldet werden, wie Gehalt, Provisionen oder Boni.6) Nicht unter den Kreditbegriff fallen ferner die Vorverlegung der Fälligkeit von Ansprüchen gegen die Gesellschaft und die Entnahme für künftige Auslagen (Reisekostenvorschuss).7) Ob der Kredit der Gesellschaft einen Vorteil bringt oder einem Drittvergleich standhält, ist unerheblich.8) Nicht erst die Gewährung, sondern bereits die Zusage des Kredits steht dabei unter dem Vorbehalt der Einwilligung des Aufsichtsrates.9) Kleinkredite, die ein Monatsgehalt nicht übersteigen, sind gemäß § 89 Abs. 1 Satz 5 nicht 4 dem Genehmigungsvorbehalt des Aufsichtsrats unterworfen. Diese Ausnahme gilt nach § 89 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Satz 1 allerdings nur für den in § 89 Abs. 1 – 3 genannten Personenkreis, nicht hingegen für die in Absatz 4 aufgeführten Konstellationen.10) Ein Monatsgehalt berechnet sich nach dem Bruttojahresgehalt (vor Steuern und Sozialversicherung) einschließlich garantierter Boni und Sachleistungen.11) Bei der maßgeblichen Kreditgröße werden mehrere in einem Geschäftsjahr gewährte Kredite zusammengerechnet.12) III.

Relevante Kreditnehmer

1.

Vorstandsmitglieder (§ 89 Abs. 1 Satz 1)

§ 89 Abs. 1 Satz 1 erfasst alle amtierenden Vorstandsmitglieder, also auch Stellvertreter 5 (§ 94), gerichtlich bestellte Vorstandsmitglieder (§ 85) und entsandte Aufsichtsratsmitglieder (§ 105 Abs. 2). Außerdem erfasst sind Abwickler (§ 268 Abs. 2) sowie persönlich haftende Gesellschafter einer KGaA (§ 283 Nr. 5). Vorstandsaktionäre, also Vorstandsmitglieder, die zugleich Aktionäre der Gesellschaft sind, 6 unterliegen nicht zusätzlich den Schranken des § 57, da § 89 insoweit eine Spezialregelung _____________ 3) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 89 AktG Rz. 2; Kort in: GroßKomm-AktG, § 89 Rz. 148; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 89 Rz. 5. 4) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 89 Rz. 2; Kort in: GroßKomm-AktG, § 89 Rz. 19; Meincke/Hingst, WM 2011, 633, 634; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 4 Rz. 100. 5) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 89 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 89 Rz. 4; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 4 Rz. 99. 6) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 89 Rz. 2; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 89 Rz. 15. 7) OLG Stuttgart, Urt. v. 28.7.2004 – 20 U 5/04, OLGR Stuttgart 2004, 548 = ZIP 2004, 2004; Spindler/ Stilz-Fleischer, AktG, § 89 Rz. 7; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 89 Rz. 13; K. Schmidt/LutterSeibt, AktG, § 89 Rz. 4; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 4 Rz. 99. 8) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 89 Rz. 9; Hölters-Weber, AktG, § 89 Rz. 4. 9) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 89 AktG Rz. 6; Fleischer, WM 2004, 1057, 1064; Kort in: GroßKommAktG, § 89 Rz. 21. 10) Kort in: GroßKomm-AktG, § 89 Rz. 57. 11) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 89 Rz. 3; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 4 Rz. 99. 12) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 89 AktG Rz. 8; Hölters-Weber, AktG, § 89 Rz. 5.

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§ 89

Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder

enthält.13) Kreditgewährungen unter Beachtung des § 89 müssen deshalb nicht nach § 62 zurückgezahlt werden, auch wenn das gebundene Vermögen der Gesellschaft betroffen ist.14) Der Aufsichtsrat muss allerdings ermessensfehlerfrei handeln; dazu gehört ggf. seine Zustimmung unter den Vorbehalt der Bestellung einer Sicherheit zu stellen.15) 2.

Prokuristen und Generalhandlungsbevollmächtigte (§ 89 Abs. 2)

7 Der Einwilligungsvorbehalt gilt nach § 89 Abs. 2 Satz 1 auch für Kredite an Prokuristen (§§ 48 ff. HGB) und Generalhandlungsbevollmächtigte (§ 54 Abs. 1 Alt. 1 HGB). Auch Generalbevollmächtigte, deren Befugnisse über die eines Prokuristen oder Generalhandlungsbevollmächtigten hinausgehen, fallen in den Anwendungsbereich der Norm,16) nicht jedoch sonstige leitende Angestellte.17) 8 Gemäß § 89 Abs. 2 Satz 2 muss der Aufsichtsrat der herrschenden AG im Konzern der Kreditvergabe an gesetzliche Vertreter und leitende Angestellte (Prokurist, Generalhandlungsbevollmächtigter oder Generalbevollmächtigter; siehe Rz. 16) eines abhängigen Unternehmens sowie der Kreditvergabe durch das beherrschte Unternehmen zustimmen. Besteht aufgrund der Rechtsform der Gesellschaft kein Aufsichtsrat, so muss in letztgenanntem Fall der entsprechende Funktionsträger des herrschenden Unternehmens über die Kreditvergabe beschließen.18) 3.

Nahe Angehörige und Strohmänner (§ 89 Abs. 3)

9 Um einen effektiven Umgehungsschutz zu gewährleisten, erstreckt § 89 Abs. 3 Satz 1 das Zustimmungserfordernis auch auf Ehegatten, Lebenspartner (§ 1 LPartG) und minderjährige Kinder der gesetzlichen Vertreter und leitenden Angestellten.19) § 89 Abs. 3 Satz 2 erfasst die Kreditvergabe an den mittelbaren Stellvertreter (Strohmann), der für Rechnung einer in § 89 Abs. 2 oder Abs. 3 Satz 1 genannten Person handelt. 4.

Gesellschaften bei personeller Verflechtung (§ 89 Abs. 4)

10 Wenn der gesetzliche Vertreter oder das Aufsichtsratsmitglied einer kreditnehmenden juristische Person (vor allem AG oder GmbH) oder der Gesellschafter einer kreditnehmenden Personengesellschaft (OHG, KG, unternehmerisch tätige GbR)20) gleichzeitig Vorstandsmitglied oder leitender Angestellter der kreditgewährenden AG ist, bedarf nach § 89 Abs. 4 Satz 1 auch die Kreditvergabe an diese juristische Person oder Personengesellschaft der Einwilligung des Aufsichtsrats. Die Kreditvergabe an eine Gesellschaft ist analog auch dann unter das Einwilligungserfordernis gestellt, wenn das Vorstandsmitglied oder der leitende Angestellte der kreditgewährenden AG zugleich eine Tätigkeit in einem Beirat der kreditnehmenden Gesellschaft, der aufsichtsratstypische Aufgaben wahrnimmt, innehat.21) In Kombination mit § 89 Abs. 3 werden zudem Fälle erfasst, in denen nahestehen_____________ 13) Deilmann, AG 2006, 62, 64 f.; Grigoleit-Schwennicke, AktG, § 89 Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 89 Rz 15; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 4 Rz. 104. 14) Deilmann, AG 2006, 62, 65. 15) Deilmann, AG 2006, 62, 65. 16) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 89 Rz. 10; Hölters-Weber, AktG, § 89 Rz. 10. 17) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 89 AktG Rz. 16; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 89 Rz. 5. 18) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 89 AktG Rz. 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 89 Rz. 5. 19) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 89 Rz. 6. 20) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 89 Rz. 7. 21) LG Bochum, Urt. v. 27.6.1989 – 12 O 133/88, ZIP 1989, 1557, 1563; Hüffer/Koch-Koch, AktG § 89 Rz. 7; distanziert Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 89 Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 89 Rz. 14.

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Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder

§ 89

de Personen oder Strohmänner als gesetzliche Vertreter, Aufsichtsratsmitglieder oder Gesellschafter beim Kreditnehmer fungieren.22) Zweck der Vorschrift ist der Schutz vor Umgehung des Einwilligungsvorbehalts durch 11 Zwischenschaltung einer anderen Gesellschaft. Außerdem soll durch Vermeidung einer Vergabe des Kredits zu unangemessenen Konditionen aufgrund von Beeinflussung eines Vorstandsmitglieds der kreditgewährenden AG das Vermögen der kreditgewährenden AG geschützt werden.23) § 89 Abs. 4 Satz 2 nimmt Kredite an verbundene Unternehmen (§ 15) sowie Kredite für 12 die Bezahlung von Waren (nicht Dienstleistungs- und Finanzierungskredite)24) aus dem Anwendungsbereich des Einwilligungsvorbehalts aus, um eine übermäßige Behinderung des gewöhnlichen Geschäftsverkehrs zu vermeiden.25) IV.

Beschlussfassung des Aufsichtsrats

1.

Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder (§ 89 Abs. 1 Satz 2)

Gemäß § 112 ist der Aufsichtsrat zuständig, die Gesellschaft gegenüber Vorstandsmit- 13 gliedern zu vertreten. § 89 Abs. 1 Satz 1 greift die Zuständigkeitszuweisung auf und ergänzt sie um das Formerfordernis eines formellen Aufsichtsratsbeschlusses i. S. des § 108.26) Der Aufsichtsrat kann daher der Kreditvergabe nicht konkludent zustimmen.27) Die Beschlussfassung kann aber durch einen Ausschuss erfolgen, dem die Aufgabe gemäß § 107 Abs. 3 übertragen wurde.28) Eine Delegation der Entscheidung auf nur ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied hingegen erscheint aufgrund des Kollektivprinzips29) bedenklich.30) Da Kredite nur „auf Grund“ eines Beschlusses gewährt werden können, ist grundsätzlich eine vorherige Zustimmung des Aufsichtsrates i. S. des § 183 BGB erforderlich. Die Rechtsfolgen einer nachträglichen Genehmigung regelt § 89 Abs. 5.31) Zum Gegenstand der Beschlussfassung ist zu beachten, dass der Aufsichtsrat gemäß § 89 14 Abs. 1 Satz 2, Satz 3 jeweils nur bestimmten Kreditgeschäften zustimmen kann, sodass das jeweilige Kreditgeschäft in seinen wesentlichen Zügen (Grund, Höhe, Verzinsung, Rückzahlung, Sicherheiten) festgelegt sein muss.32) Der Kredit muss außerdem ein Kündigungsrecht für die Gesellschaft vorsehen.33) Fehlt ein solches, steht der AG dennoch ein außerordentliches Kündigungsrecht zu, sobald die Bestellung des Vorstandsmitglieds oder dessen Dienstvertrag beendet wird.34) _____________ 22) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 89 AktG Rz. 20; Hölters-Weber, AktG, § 89 Rz. 14. 23) Begr. RegE in: Kropff, AktG, S. 114; Hölters-Weber, AktG, § 89 Rz. 14. 24) Begr. RegE in: Kropff, AktG, S. 115; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 89 Rz. 14; Spindler in: MünchKommAktG, § 89 Rz. 33; Hölters-Weber, AktG, § 89 Rz. 15. 25) Begr. RegE in: Kropff, AktG, S. 115; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 89 Rz. 7. 26) Zum Verhältnis von § 112 und § 89 Bayer/Scholz, ZIP 2015, 1853, 1856 f. 27) Begr. RegE in: Kropff, AktG, S. 114; Kort in: GroßKomm-AktG, § 89 Rz. 4; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 4 Rz. 102. 28) BGH, Urt. v. 27.5.1991 – II ZR 87/90, ZIP 1991, 869 = WM 1991, 1258; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 89 Rz. 4; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 4 Rz. 102. 29) Beschlussfassung im Aufsichtsrat erfordert in der Regel drei Mitglieder, BGH, Urt. v. 23.10.1975 – II ZR 90/73, BGHZ 65, 190, 192 f. = NJW 1976, 145; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 32 Rz. 43; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 21. 30) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 89 Rz. 17; a. A. Kuhlmann, AG 2009, 109, 111 f. 31) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 89 Rz. 4; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 4 Rz. 102. 32) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 89 Rz. 7a; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 4 Rz. 102. 33) K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 89 Rz. 7a; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 89 Rz. 42. 34) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 4 Rz. 102.

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§ 89

Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder

15 Der Aufsichtsratsbeschluss darf nach § 89 Abs. 1 Satz 2 maximal drei Monate vor der tatsächlichen Kreditgewährung gefasst werden, um Risiken in Bezug auf Kreditwürdigkeit des Vorstands und finanzielle Lage der Gesellschaft zu beschränken.35) 2.

Kreditgewährung an leitende Angestellte und nahestehende Personen

16 Bei Kreditgeschäften mit leitenden Angestellten und nahestehenden Personen i. S. von § 89 Abs. 2 – 4 wird die Gesellschaft zwar grundsätzlich nicht vom Aufsichtsrat, sondern vom Vorstand vertreten, §§ 78, 112. Allerdings muss der Aufsichtsrat dennoch gemäß § 89 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3, Abs. 4 Satz 1 seine Einwilligung erteilen. Die Anforderungen an den Beschluss entsprechen gemäß § 89 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3, Abs. 4 Satz 1 Halbs. 2 den Voraussetzungen für die Zustimmung zu einer Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder (siehe Rz. 13 f.). V.

Durchführung der Kreditgewährung

17 Für die Auszahlung des Kredits ist der Vorstand zuständig, der keine weitere Erlaubnis des Aufsichtsrates braucht.36) Die Kreditgewährung muss drei Monate nach Beschlussfassung durch den Aufsichtsrat erfolgen (siehe Rz. 15 m. w. N.). Bei der Kündigung des Kredits wird die AG durch ihren Aufsichtsrat vertreten, § 112.37) VI.

Rechtsfolgen bei Verstößen (§ 89 Abs. 5)

18 Bei einem Verstoß gegen die Kompetenzzuweisung an den Aufsichtsrat (§ 112) ist das Kreditgeschäft nach § 134 BGB nichtig und nach Bereicherungsrecht rückabzuwickeln.38) 19 Sonstige Verstöße gegen die Vorgaben des § 89 führen gemäß Absatz 5 nicht zur Nichtigkeit des Geschäfts, sondern lediglich dazu, dass der Kredit – ohne Rücksicht auf entgegenstehende Vereinbarungen – sofort zurückzugewähren ist.39) Bei diesem Rückgewähranspruch handelt es sich um eine Ausprägung des vertraglichen Anspruchs, die dessen Fälligkeit vorverlagert,40) so dass die für den Kredit bestellten Sicherheiten auch für den Anspruch aus § 89 Abs. 5 haften.41) Ist der Kredit noch nicht ausgezahlt, so kann die Gesellschaft die Leistung verweigern.42) Ein Aufrechnungsverbot besteht dagegen nicht.43) Die Rückzahlungspflicht entfällt, sobald der Aufsichtsrat die Kreditgewährung genehmigt (§ 89 Abs. 5 Halbs. 2). 20 Bei ermessensfehlerhafter und damit pflichtwidriger Kreditvergabe ist eine Schadensersatzpflicht des Aufsichtsrats denkbar.44) Bei Nichtbeachtung der Vorschriften des § 89 kann _____________ 35) Fleischer, WM 2004, 1057, 1066; Kuhlmann, AG 2009, 109, 110 f.; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 89 Rz. 43; a. A. Kort in: GroßKomm-AktG, § 89 Rz. 42; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 89 Rz. 18; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 4 Rz. 102. 36) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 4 Rz. 102. 37) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 4 Rz. 102; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 89 Rz. 46. 38) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 89 AktG Rz. 22; Grigoleit-Schwennicke, AktG, § 89 Rz. 20; Mertens/ Cahn in: KölnKomm-AktG, § 89 Rz. 22; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 89 Rz. 15; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 4 Rz. 103. 39) Fleischer, WM 2004, 1057, 1067; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 89 Rz. 8; Mertens/Cahn in: KölnKommAktG, § 89 Rz. 22; K. Schmidt/Lutter-Seibt, AktG, § 89 Rz. 15; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 4 Rz. 103. 40) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 89 AktG Rz. 23; Kort in: GroßKomm-AktG, § 89 Rz. 137. 41) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 89 Rz. 8; Kort in: GroßKomm-AktG, § 89 Rz. 137. 42) Fleischer, WM 2004, 1057, 1067; Kort in: GroßKomm-AktG, § 89 Rz. 135; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 4 Rz. 104. 43) BGH, Urt. v. 27.5.1991 – II ZR 87/90, ZIP 1991, 869, 870 = AG 1991, 398, 399; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 89 Rz. 8. 44) Deilmann, AG 2006, 62, 65.

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§ 90

Berichte an den Aufsichtsrat

auch der Vorstand der AG sich schadensersatzpflichtig machen (§ 93 Abs. 3 Nr. 8). Aufgrund § 93 Abs. 4 Satz 2 und Satz 3 entfallen etwaige Schadensersatzansprüche auch nicht bei Genehmigung des Geschäfts durch den Aufsichtsrat.45) VII. Organkredite (§ 89 Abs. 6) Gemäß § 89 Abs. 6 findet § 89 keine Anwendung, wenn die kreditgewährende AG ein 21 Kredit- oder Finanzdienstleistungsinstitut i. S. der §§ 1, 2 KWG ist, so dass § 15 KWG Anwendung findet. Sofern § 15 KWG aufgrund der Einschlägigkeit eines Ausnahmetatbestands des § 2 KWG keine Anwendung findet, bleibt es bei der Anwendbarkeit des § 89.46) _____________ 45) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 89 Rz. 8; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 4 Rz. 104. 46) Begr. RegE Begleitgesetz zum Gesetz zur Umsetzung von EG-Richtlinien zur Harmonisierung bankund wertpapieraufsichtsrechtlicher Vorschriften, BT-Drucks. 13/7143, S. 33; ferner Grigoleit-Schwennicke, AktG, § 89 Rz. 22.

§ 90 Berichte an den Aufsichtsrat Simon Link

(1) 1Der Vorstand hat dem Aufsichtsrat zu berichten über 1. die beabsichtigte Geschäftspolitik und andere grundsätzliche Fragen der Unternehmensplanung (insbesondere die Finanz-, Investitions- und Personalplanung), wobei auf Abweichungen der tatsächlichen Entwicklung von früher berichteten Zielen unter Angabe von Gründen einzugehen ist; 2. die Rentabilität der Gesellschaft, insbesondere die Rentabilität des Eigenkapitals; 3. den Gang der Geschäfte, insbesondere den Umsatz, und die Lage der Gesellschaft; 4. Geschäfte, die für die Rentabilität oder Liquidität der Gesellschaft von erheblicher Bedeutung sein können. 2

Ist die Gesellschaft Mutterunternehmen (§ 290 Abs. 1, 2 des Handelsgesetzbuchs), so hat der Bericht auch auf Tochterunternehmen und auf Gemeinschaftsunternehmen (§ 310 Abs. 1 des Handelsgesetzbuchs) einzugehen. 3Außerdem ist dem Vorsitzenden des Aufsichtsrats aus sonstigen wichtigen Anlässen zu berichten; als wichtiger Anlaß ist auch ein dem Vorstand bekanntgewordener geschäftlicher Vorgang bei einem verbundenen Unternehmen anzusehen, der auf die Lage der Gesellschaft von erheblichem Einfluß sein kann. (2) 1Die Berichte nach Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 sind wie folgt zu erstatten: 1. die Berichte nach Nummer 1 mindestens einmal jährlich, wenn nicht Änderungen der Lage oder neue Fragen eine unverzügliche Berichterstattung gebieten; 2. die Berichte nach Nummer 2 in der Sitzung des Aufsichtsrats, in der über den Jahresabschluß verhandelt wird; 3. die Berichte nach Nummer 3 regelmäßig, mindestens vierteljährlich; 4. die Berichte nach Nummer 4 möglichst so rechtzeitig, daß der Aufsichtsrat vor Vornahme der Geschäfte Gelegenheit hat, zu ihnen Stellung zu nehmen. (3) 1Der Aufsichtsrat kann vom Vorstand jederzeit einen Bericht verlangen über Angelegenheiten der Gesellschaft, über ihre rechtlichen und geschäftlichen Beziehungen zu verbundenen Unternehmen sowie über geschäftliche Vorgänge bei diesen Unter-

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§ 90

Berichte an den Aufsichtsrat

nehmen, die auf die Lage der Gesellschaft von erheblichem Einfluß sein können. 2Auch ein einzelnes Mitglied kann einen Bericht, jedoch nur an den Aufsichtsrat, verlangen. (4) 1Die Berichte haben den Grundsätzen einer gewissenhaften und getreuen Rechenschaft zu entsprechen. 2Sie sind möglichst rechtzeitig und, mit Ausnahme des Berichts nach Absatz 1 Satz 3, in der Regel in Textform zu erstatten. (5) 1Jedes Aufsichtsratsmitglied hat das Recht, von den Berichten Kenntnis zu nehmen. 2Soweit die Berichte in Textform erstattet worden sind, sind sie auch jedem Aufsichtsratsmitglied auf Verlangen zu übermitteln, soweit der Aufsichtsrat nichts anderes beschlossen hat. 3Der Vorsitzende des Aufsichtsrats hat die Aufsichtsratsmitglieder über die Berichte nach Absatz 1 Satz 3 spätestens in der nächsten Aufsichtsratssitzung zu unterrichten. Literatur: Böcking/Kiehne, Zur Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats, Der Konzern 2010, 296; Bost, Das neue Auskunftsrecht der Mitglieder des Prüfungsausschusses gemäß § 107 IV 4 AktG n. F., NZG 2021, 865; Brandi, Ermittlungspflicht des Aufsichtsrates über die wirtschaftliche Situation des Unternehmens „am Vorstand vorbei“, ZIP 2000, 173; Burgard/Heimann, Respice finem – Eine Replik, NZG 2014, 1294; Burgard/Heimann, Information des Aufsichtsrats – Kommentar zu OLG Frankfurt v. 1.10.2013 – 5 U 214/12, AG 2014, 360; Cahn, Gesellschaftsinterne Informationspflichten bei Zusammenschluss und Akquisitionsvorhaben, AG 2014, 525; Elsing/ Schmidt, Individuelle Informationsrechte von Aufsichtsratsmitgliedern einer Aktiengesellschaft, BB 2002, 1705; Fuchs, Prüfung und Überwachung der unterjährigen Finanzberichte durch den Aufsichtsrat, NZG 2016, 1015; Götz, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats nach dem Transparenz- und Publizitätsgesetz, NZG 2002, 599; Hüffer, Die leitungsbezogene Verantwortung des Aufsichtsrats, NZG 2007, 47; Kropff, Zur Information des Aufsichtsrats über das interne Überwachungssystem, NZG 2003, 346; Kropff, Die Unternehmensplanung im Aufsichtsrat, NZG 1998, 613; Lutter, Der Aufsichtsrat im Konzern, AG 2006, 517; Lutter, Vergleichende Corporate Governance – Die deutsche Sicht, ZGR 2001, 224; Mertens, Zur Berichtspflicht des Vorstands gegenüber dem Aufsichtsrat, AG 1980, 67; Rieger/Rothenfußer, Zusammenwirken von Vorstand und Aufsichtsrat bei wesentlichen Unternehmensentscheidungen, NZG 2014, 1012; Semler, Die Unternehmensplanung einer Aktiengesellschaft: eine Betrachtung unter rechtlichen Aspekten, ZGR 1983, 1.

Übersicht I. Regelungsgegenstand und Regelungszweck ................................ 1 II. Systematik ......................................... 3 III. Berichtspflichten ohne gesonderte Aufforderung durch den Aufsichtsrat (§ 90 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2) ............. 4 1. Beabsichtigte Geschäftspolitik und Unternehmensplanung (§ 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Abs. 2 Nr. 1) .................................................. 5 a) Berichtsgegenstand ...................... 5 b) Berichtsfrequenz ......................... 8 2. Rentabilität der Gesellschaft (§ 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i. V. m. Abs. 2 Nr. 2) .................................................. 9 a) Berichtsgegenstand ...................... 9 b) Berichtsfrequenz ....................... 11 690

3. Gang der Geschäfte (§ 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i. V. m. Abs. 2 Nr. 3) ................................................. 12 a) Berichtsgegenstand .................... 12 b) Berichtsfrequenz ........................ 15 4. Geschäfte von erheblicher Bedeutung (§ 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 i. V. m. Abs. 2 Nr. 4) ........................ 16 a) Berichtsgegenstand .................... 16 b) Berichtsfrequenz ........................ 17 5. Berichte zu Tochter- und Gemeinschaftsunternehmen (§ 90 Abs. 1 Satz 2) ................................................ 19 6. Berichte aus sonstigen wichtigen Anlässen (§ 90 Abs. 1 Satz 3) .......... 20 IV. Anforderungsberichte (§ 90 Abs. 3) ..................................... 22 1. Berichtsgegenstand ........................... 23

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Berichte an den Aufsichtsrat 2. Berichtsgläubiger und Berichtsschuldner ........................................... 25 V. Anforderungen an Form, Inhalt und Zeitpunkt der Berichte (§ 90 Abs. 4) ..................................... 28 I.

VI. Information innerhalb des Aufsichtsrats (§ 90 Abs. 5) ............. 33 VII. Durchsetzung der Berichtspflichten/Rechtsfolgen bei Verstoß ............................................. 35

Regelungsgegenstand und Regelungszweck

Durch § 90 wird der Vorstand zur Berichterstattung an den Aufsichtsrat verpflichtet. Die 1 Vorschrift ermöglicht dem Aufsichtsrat folglich die Überwachung des Vorstandes, für die er nach § 111 zuständig ist. Bezweckt wird dadurch eine präventive Kontrolle von solchen Entscheidungen, die zu langfristigen Verpflichtungen des Unternehmens führen könnten.1) Aufgrund der Berührung öffentlicher Interessen hat § 90 zwingenden Charakter.2) Die 2 Vorschrift ist jedoch nicht abschließend.3) Eine Berichtspflicht des Vorstandes besteht vielmehr stets dann, wenn die Herbeiführung eines obligatorischen oder optionalen Aufsichtsratsbeschlusses beabsichtigt ist; in diesem Fall sind Vorlageberichte zu erstatten.4) Zu beachten ist außerdem, dass es sich bei § 90 nur um einen Mindeststandard handelt, der die Etablierung weitergehender Berichtspflichten nicht ausschließt. Diese können durch den Aufsichtsrat in der Geschäftsordnung für den Vorstand sowie in einer eigenen Informationsordnung festgelegt werden.5) Nach dem Grundsatz 15 des DCGK i. d. F. vom 16.12.2019 ist die Information des Aufsichtsrats Aufgabe des Vorstands. Der Aufsichtsrat muss jedoch seinerseits sicherstellen, dass er angemessen informiert wird. II. Systematik § 90 enthält in Absatz 1 zunächst eine Aufzählung von Berichtsgegenständen, für die im 3 Anschluss in § 90 Abs. 2 festgelegt wird, in welchen Zeitabständen eine entsprechende Berichterstattung jeweils stattzufinden hat. Außerdem normiert § 90 Abs. 3 ein Recht des Aufsichtsrats, eine darüber hinausgehende Berichterstattung zu verlangen. § 90 Abs. 4 der Vorschrift enthält Anforderungen für die Art und Weise der Berichterstattung. In § 90 Abs. 5 werden schließlich die Rechte der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder im Hinblick auf die Berichte festgelegt. III.

Berichtspflichten ohne gesonderte Aufforderung durch den Aufsichtsrat (§ 90 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2) Über die in § 90 Abs. 1 genannten Angelegenheiten hat eine Berichterstattung nach der 4 Gesetzessystematik ohne vorherige Aufforderung durch den Aufsichtsrat zu erfolgen. Neben den Berichten zur beabsichtigten Geschäftspolitik und Unternehmensplanung zählen zu dieser Fallgruppe auch die Rentabilität der AG, der Gang der Geschäfte und Geschäfte von erheblicher Bedeutung. 1.

Beabsichtigte Geschäftspolitik und Unternehmensplanung (§ 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. Abs. 2 Nr. 1) a) Berichtsgegenstand Eine Berichtspflicht des Vorstandes besteht zunächst für die beabsichtigte Geschäftspolitik 5 und andere grundsätzliche Fragen der Unternehmensplanung. Die Unternehmensplanung _____________ 1) 2) 3) 4) 5)

Begr. RegE KonTraG, BT-Drucks. 13/9712, S. 15. Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 90 Rz. 1; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 90 Rz. 8. Kort in: GroßKomm-AktG, § 90 Rz. 170; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 90 Rz. 4. K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 3. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 90 AktG Rz. 13; Hüffer, NZG 2007, 47, 51; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 6 Rz. 317; Lutter, ZGR 2001, 224, 232.

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§ 90

Berichte an den Aufsichtsrat

erfasst sowohl die kurzfristige als auch die mehrjährige Planung.6) Das konkrete Verhältnis zwischen Geschäftspolitik und Unternehmensplanung ist unklar. Der Wortlaut legt nahe, dass die Unternehmensplanung der Oberbegriff und die Geschäftspolitik ein besonders wichtiger Teilbereich daraus ist.7) Unter die Geschäftspolitik fallen auch die zu ihrer Umsetzung jeweils erforderlichen Maßnahmen.8) 6 § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 nennt als konkrete Gegenstände der Berichtspflicht die Finanz-, Investitions- und Personalplanung. Dadurch soll aber weder ein Mindestumfang der Berichterstattung festgelegt werden9) noch hat die Auflistung abschließenden Charakter.10) Die Berichtspflicht erstreckt sich auf solche Maßnahmen, die der Vorstand i. R. seiner unmittelbar aus §§ 76 Abs. 1, 93 Abs. 1 Satz 1 folgenden Leitungsverantwortung ergreift.11) Maßgeblich für Inhalt und Umfang der Berichterstattung sind die Gegebenheiten des jeweiligen Unternehmens, insbesondere seine Größe, Struktur und das Geschäftsfeld.12) Inwieweit § 90 selbst eine Rechtspflicht des Vorstands zur Planung zu entnehmen ist, ist in der Literatur umstritten.13) Nach dem Wortlaut der Norm geht der Gesetzgeber davon aus, dass der Vorstand entsprechende Planungen zu unternehmen hat, da die Berichtspflicht anderenfalls ins Leere liefe. 7 Der Umfang der Berichtspflicht beschränkt sich dem Wortlaut des § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 nach auf „grundsätzliche Fragen der Unternehmensplanung“. Erforderlich ist mithin keine Information über Einzelheiten, sondern lediglich über Grundzüge.14) Insbesondere hat aber eine sog. Follow-up-Berichterstattung zu erfolgen, d. h. es ist auf Abweichungen gegenüber der ursprünglichen Planung hinzuweisen, sofern über diese ebenfalls vom Vorstand berichtet worden war.15) Dies gilt nicht, wenn die Information auf andere Art und Weise, also z B. in der Presse oder auf einer Betriebsversammlung, gegeben wurde. b)

Berichtsfrequenz

8 § 90 Abs. 2 Nr. 1 sieht vor, dass eine Berichterstattung mindestens einmal jährlich zu erfolgen hat. Allerdings kann ein Bericht auch unabhängig von dieser Mindestvorgabe wegen einer Änderung der Lage oder neuer Fragen erforderlich werden. 2.

Rentabilität der Gesellschaft (§ 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i. V. m. Abs. 2 Nr. 2)

a)

Berichtsgegenstand

9 Der Vorstand hat außerdem über die Rentabilität der Gesellschaft Bericht zu erstatten. Dabei handelt es sich um einen Bericht mit einem spezifischen Zweck: Auf dieser Grund_____________ 6) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 8. 7) Kort in: GroßKomm-AktG, § 90 Rz. 23; Heidel-Oltmanns, AktR, § 90 AktG Rz. 2. 8) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 9; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 90 Rz. 18; a. A. wohl Kropff, NZG 1998, 613, 614. 9) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 90 Rz. 18. 10) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 4b; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 8. 11) Ganz h. M.: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 4a; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 12; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 25 Rz. 67. 12) Begr. RegE KonTraG, BT-Drucks. 13/9712, S. 15; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 8; Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 90 Rz. 5; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 90 Rz. 18. 13) Zum Streitstand K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 12. 14) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 90 AktG Rz. 21; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 13 – mit Verweis auf geringe Bedeutung in der Praxis; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 90 Rz. 19; a. A. Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, AktG, § 90 Rz. 16; Lutter, Information und Vertraulichkeit im AR, Rz. 46; differenzierend Semler, ZGR 1983, 1, 16 ff. 15) Götz, NZG 2002, 599, 600; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 4c; Heidel-Oltmans, AktR, § 90 AktG Rz. 6.

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lage soll der Aufsichtsrat die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft beurteilen können, was wiederum für seine Entscheidung über den Jahresabschluss (§ 172 Satz 1) und den Gewinnverwendungsvorschlag an die Hauptversammlung (§ 124 Abs. 3 Satz 1) erforderlich ist.16) Vom Umfang her wird eine Berichterstattung auch zu den einzelnen Bereichen gefordert, d. h. eine Angabe der Zahlen allein für das gesamte Unternehmen genügt nicht.17) Aus dem oben beschriebenen Zweck der Berichterstattung ergibt sich, welche Art von 10 Angaben gemacht werden müssen. Über die konkret im Gesetz bezeichnete Rentabilität des Eigenkapitals (§ 266 Abs. 3 A. HGB) hinaus wird meist die Information über Cashflow, Umsatzrendite, Return on Investment (ROI), Gesamtkapitalrendite und Rendite größerer Investitionen gefordert.18) Hinzu kommt bei börsennotierten Gesellschaften der Gewinn je Aktie.19) Insgesamt sollte aber der Berichtsgegenstand nicht auf einzelne Messgrößen fixiert werden. Vielmehr ist zu fordern, dass der Vorstand über die wesentlichen Messgrößen berichtet, anhand derer er auch selbst das Unternehmen führt. b)

Berichtsfrequenz

§ 90 Abs. 2 Nr. 2 stellt für die Berichtspflicht auf die Sitzung des Aufsichtsrats ab, in der über 11 den Jahresabschluss verhandelt wird. Daraus ergibt sich eine jährliche Berichtspflicht.20) 3.

Gang der Geschäfte (§ 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i. V. m. Abs. 2 Nr. 3)

a)

Berichtsgegenstand

Die Berichterstattung über den Gang der Geschäfte umfasst einen Überblick über den 12 Stand der operativen Tätigkeiten des Unternehmens, wozu insbesondere Informationen zu Umsatz, Auftragssituation, Marktentwicklung, Finanz- und Ertragslage sowie Liquidität gehören.21) Welche Informationen konkret erforderlich sind, um dem Aufsichtsrat die Gesamtsituation des Unternehmens vor Augen zu führen, hängt von den Einzelfallumständen ab.22) Inhaltlich muss der Bericht über den Gang der Geschäfte zwar nicht so detailliert sein wie 13 der jährliche Geschäftsbericht.23) Dennoch ist eine sachgerechte und aussagekräftige Berichterstattung erforderlich, was einen ausreichenden Grad der Detaillierung voraussetzt.24) Auch müssen die aktuellen Angaben mit denen des Vorjahres und den Prognosen verglichen werden.25) Ergeben sich dabei besondere Auffälligkeiten, ist eine Erklärung erforderlich.

_____________ 16) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 17; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 90 Rz. 36; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 90 Rz. 26. 17) Kort in: GroßKomm-AktG, § 90 Rz. 49; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 18; Semler, Leitung und Überwachung der AG, Rz. 151. 18) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 90 AktG Rz. 26; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 5; K. Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 17; Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 90 Rz. 7; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 25 Rz. 69. 19) Kort in: GroßKomm-AktG, § 90 Rz. 48; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 6 Rz. 204; Fleischer-Pentz, Hdb. VorstandsR, § 16 Rz. 68. 20) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 90 Rz. 27. 21) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 90 AktG Rz. 28; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 6; Kort in: GroßKomm-AktG, § 90 Rz. 58; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 90 Rz. 37. 22) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 23. 23) Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 90 Rz. 8; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 90 Rz. 28. 24) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 90 AktG Rz. 28; Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 90 Rz. 8. 25) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 90 AktG Rz. 28; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 21; Hoffmann-Becking in: Münch Hdb. GesR, Bd. 4, § 25 Rz. 70.

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14 Umstritten ist, ob die Vorlage der unterjährigen Finanzberichte Bestandteil der Berichtspflicht nach § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Abs. 2 Nr. 3 ist.26) Dafür spricht, dass sich die nach dieser Vorschrift zu machenden Angaben im Wesentlichen mit den im unterjährigen Finanzbericht enthaltenen Angaben decken. Zudem sei es widersprüchlich, wenn eine Pflicht zur Vorlage an die Öffentlichkeit, aber nicht an den Aufsichtsrat bestünde. Deshalb erscheint eine Vorlage an den Aufsichtsrat vor Veröffentlichung oder jedenfalls in der nächsten Aufsichtsratssitzung nach Veröffentlichung sinnvoll.27) b)

Berichtsfrequenz

15 § 90 Abs. 2 Nr. 3 sieht eine mindestens vierteljährliche Berichterstattung vor. Hintergrund ist die in § 110 Abs. 3 Satz 1 vorgesehene Frequenz von zwei Aufsichtsratssitzungen pro Kalenderhalbjahr.28) Allerdings ist die in § 90 Abs. 2 Nr. 3 vorgesehene Berichtsfrequenz auch dann einzuhalten, wenn der Aufsichtsrat den Vierteljahresrhythmus für seine Sitzungen nicht beachtet.29) Zudem handelt es sich dabei um eine Mindestanforderung, so dass bei entsprechendem Bedarf eine Berichterstattung auch häufiger geboten sein kann, etwa wenn es unvorhergesehen zu Entwicklungen von erheblicher Tragweite kommt oder auch wenn die Geschäfte in einer bestimmten Branche besonderen Schwankungen unterliegen.30) 4.

Geschäfte von erheblicher Bedeutung (§ 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 i. V. m. Abs. 2 Nr. 4)

a)

Berichtsgegenstand

16 Eine Berichtspflicht besteht außerdem noch im Hinblick auf Geschäfte, die für die Rentabilität oder Liquidität der Gesellschaft von erheblicher Bedeutung sein können. Die Grenze der „erheblichen Bedeutung“ lässt sich nicht abstrakt bestimmen; es kommt auf die Einzelfallumstände, insbesondere Größe, Gegenstand und wirtschaftliche Lage des Unternehmens sowie Risiken und Chancen des Geschäfts an.31) Die Abgrenzung erfolgt nicht anhand der Genehmigungspflicht eines Geschäfts nach § 111 Abs. 4 Satz 2.32) Entscheidend ist vielmehr, ob – positive oder negative – materielle Auswirkungen auf die Rentabilität oder Liquidität zumindest möglich sind.33) b)

Berichtsfrequenz

17 Anders als für die übrigen Berichtsgegenstände sieht § 90 Abs. 2 Nr. 4 keinen festen Turnus für die Berichterstattung vor. Diese hat vielmehr so rechtzeitig zu erfolgen, dass der Aufsichtsrat vor Vornahme des Geschäfts Gelegenheit hat, Stellung zu beziehen. Grund dafür

_____________ 26) Dafür: Böcking/Kiehne, Der Konzern 2010, 296, 300 ff.; Fuchs, NZG 2016, 1015, 1018; wohl auch MarschBarner/Schäfer-Nonnenmacher, Hdb. börsennotierte AG, § 57 Rz. 12; dagegen: Mock in: KölnKommWpHG, § 37w Rz. 134. 27) Fuchs, NZG 2016, 1015, 1018. 28) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 90 Rz. 28. 29) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 24; Hoffmann-Becking in: Münch Hdb. GesR, Bd. 4, § 25 Rz. 70. 30) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 24. 31) Begr. RegE in: Kropff, AktG, S. 117; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 90 AktG Rz. 29; K. Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 26. 32) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 26; Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 90, Rz. 9; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 90 Rz. 29; Hofmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 25 Rz. 71. 33) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 90 AktG Rz. 29; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 7; Lutter, Information und Vertraulichkeit im AR, Rz. 61; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 90 Rz. 29.

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ist, dass die Berichtspflicht stets nur anlassbezogen entsteht, wenn ein Geschäft von erheblicher Bedeutung geplant ist.34) Im Einzelfall kann es geboten sein, das geplante Geschäft sofort abzuschließen. Es hat 18 jedoch – soweit möglich – eine Information des Aufsichtsratsvorsitzenden, jedenfalls aber eine unverzügliche nachträgliche Information zu erfolgen.35) 5.

Berichte zu Tochter- und Gemeinschaftsunternehmen (§ 90 Abs. 1 Satz 2)

§ 90 Abs. 1 Satz 2 erweitert die in Absatz 1 Satz 1 genannten Berichtsgegenstände um 19 eine konzernweite Perspektive, da i. R. dieser Berichte auch auf Tochterunternehmen (§ 290 Abs. 1, 2 HGB) und Gemeinschaftsunternehmen (§ 310 Abs. 1 HGB) einzugehen ist. Schließlich kann sich auch aus Vorgängen in diesen Unternehmen eine wesentliche Bedeutung für das Mutterunternehmen selbst ergeben.36) Um eine vollständige Weitergabe solcher Informationen an den Aufsichtsrat zu gewährleisten, war eine Klarstellung durch § 90 Abs. 1 Satz 2 geboten.37) Die entsprechend erforderlichen Informationen hat der Vorstand „von sich aus im Rahmen des nach den gesetzlichen Bestimmungen Zulässigen, des ihm faktisch Möglichen und konkret Zumutbaren“ zu beschaffen. 6.

Berichte aus sonstigen wichtigen Anlässen (§ 90 Abs. 1 Satz 3)

§ 90 Abs. 1 Satz 3 enthält zusätzlich eine Berichtspflicht an den Aufsichtsratsvorsitzen- 20 den aus „sonstigen wichtigen Anlässen“. Ausgehend von den bereits über § 90 Abs. 1 Satz 1 erfassten Fällen ergibt sich daraus eine Pflicht zur Information insbesondere über Ereignisse, die von außen in negativer Weise auf das Unternehmen einwirken. Das können bspw. erhebliche Betriebsstörungen, Liquiditätsprobleme in Folge einer Kreditkündigung, Gefährdung größerer Außenbestände, empfindliche behördliche Auflagen, der Verlust der Hälfte des Grundkapitals oder schwerwiegender Streit im Vorstand sein.38) Auch hier genügen nach dem Wortlaut der Norm geschäftliche Vorgänge bei einem verbundenen Unternehmen, vorausgesetzt sie können erheblichen Einfluss auf die Gesellschaft selbst haben. Bei der Entscheidung über die Erstattung eines Sonderberichts hat der Vorstand von seinem 21 pflichtgemäßen Ermessen Gebrauch zu machen. Aufgrund des Charakters als Kollegialentscheidung erfolgt ein Bericht nur bei entsprechender einheitlicher Einschätzung im Vorstand. In dieser Konstellation kann aber eine Berechtigung bzw. Verpflichtung der einzelnen Vorstandsmitglieder zur Information des Aufsichtsratsvorsitzenden über die mangelnde Konsensbildung bestehen, so dass dieser entscheiden kann, ob er einen Bericht nach § 90 Abs. 3 verlangt.39) In zeitlicher Hinsicht wird Unverzüglichkeit gemäß § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB gefordert. IV.

Anforderungsberichte (§ 90 Abs. 3)

Das Informationsrecht des Aufsichtsrats aus § 90 Abs. 3 begründet zugleich eine Pflicht, 22 davon angemessen Gebrauch zu machen. Der Aufsichtsrat kann sich nämlich aufgrund dieser _____________ 34) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 10; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 90 Rz. 38. 35) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 29; Mertens/ Cahn in: KölnKomm-AktG, § 90 Rz. 38. 36) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 7a. 37) Begr. RegE TransPuG, BT-Drucks. 14/8769, S. 14. 38) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 33; HöltersMüller-Michaels, AktG, § 90 Rz. 11; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 25 Rz. 72. 39) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 35.

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ihm zustehenden Informationsmöglichkeit nicht auf eine etwaige fehlende Kenntnis bestimmter Umstände berufen.40) Vielmehr muss er selbst dafür sorgen, dass er die Informationen erhält, die er zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner Kontrollpflicht benötigt. Unterlässt er dies, kann er gegenüber der Gesellschaft nach § 116 Satz 1 i. V. m. § 93 Abs. 2 zum Schadensersatz verpflichtet sein.41) Nach dem Grundsatz 15 Satz 1 DCGK i. d. F. vom 16.12.2019 ist die Information des Aufsichtsrats primär Aufgabe des Vorstands („Bringschuld“). Nach dem Grundsatz 15 Satz 2 DCGK muss der Aufsichtsrat jedoch seinerseits sicherstellen, dass er ausreichend informiert wird („Holschuld“).42) 1.

Berichtsgegenstand

23 § 90 Abs. 3 Satz 1 nennt als taugliche Berichtsgegenstände die Angelegenheiten der Gesellschaft, ihre rechtlichen und geschäftlichen Beziehungen zu verbundenen Unternehmen (§ 15) sowie geschäftliche Vorgänge bei diesen Unternehmen, die auf die Lage der Gesellschaft von erheblichem Einfluss sein können. 24 Auch wenn daraus zwecks Erfüllung der Überwachungsaufgabe übereinstimmend ein weites Informationsrecht abgeleitet wird,43) ist dieses nicht schrankenlos. Vielmehr ist eine Verweigerung der Berichterstattung möglich. Diese kann zum einen bei konkreten Anhaltspunkten für einen Missbrauch des Informationsrechts geboten sein, z. B. wenn der Aufsichtsrat die Vertraulichkeit der Information nicht angemessen berücksichtigt und dadurch das Gesellschaftsinteresse beeinträchtigt.44) Zum anderen darf der Aufsichtsrat den Vorstand durch sein Informationsrecht nicht schikanieren.45) Darüber hinaus muss der Vorstand solche Informationen nicht erteilen, bei denen schon kein Funktions- oder Gesellschaftsbezug besteht46) oder durch die er sich der Gefahr einer Strafverfolgung aussetzen würde.47) Schließlich kommt eine Informationsverweigerung auch dann in Betracht, wenn aus objektiv erheblichen Gründen die möglichst sichere Geheimhaltung bestimmter Informationen geboten ist und zugleich die Kontrollmöglichkeiten des Aufsichtsrats nur im erforderlichen Maße beschränkt werden.48) 2.

Berichtsgläubiger und Berichtsschuldner

25 Das Auskunftsverlangen des § 90 Abs. 3 Satz 1 ist durch den Gesamtaufsichtsrat – auf der Grundlage eines Mehrheitsbeschlusses (§ 108) – zu formulieren.49) Darüber hinaus sieht § 90 Abs. 3 Satz 2 ein entsprechendes Auskunftsrecht des einzelnen Aufsichtsratsmit_____________ 40) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 90 AktG Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 1a. 41) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 1a („Pflichtrechte“); K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG § 90 Rz. 36; Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 90 Rz. 17. 42) Hüffer/Koch-Koch, § 90 Rz 1a. 43) Elsing/Schmidt, BB 2002, 1705, 1707; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 90 AktG Rz. 41; K. Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 37; Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 90 Rz. 14; Seyfarth, Vorstandsrecht, 2016, § 1 Rz. 180; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 25 Rz. 74. 44) Begr. RegE TransPuG, BT-Drucks. 14/8769, S. 14; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 90 AktG Rz. 49; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 12a; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 45, die jedoch davon ausgeht, dass der Vorstand grundsätzlich auf die Verschwiegenheit des Aufsichtsrats vertrauen darf; Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 90 Rz. 15. 45) Begr. RegE TransPuG, BT-Drucks. 14/8769, S. 14; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 90 AktG Rz. 49; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 47. 46) Elsing/Schmidt, BB 2002, 1705, 1707; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 90 AktG Rz. 58; K. Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 48; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 90 Rz. 52. 47) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, § 90 Rz. 44. 48) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, § 90 Rz. 46; Lutter, Information und Vertraulichkeit im AR, Rz. 138 ff; Mertens, AG 1980, 67, 74. 49) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 11; Kort in: GroßKomm-AktG, § 90 Rz. 87.

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glieds vor. Auch in diesem Fall erfolgt die Berichterstattung jedoch an den Gesamtaufsichtsrat. Der Aufsichtsrat wird dabei stets durch seinen Vorsitzenden vertreten. Werden ihm die 26 entsprechenden Informationen erteilt, leitet er diese an die übrigen Mitglieder weiter. In der Praxis leitet der Vorstand Regelberichte den einzelnen Aufsichtsratsmitgliedern oft direkt zu. Die Pflicht zur Berichterstattung trifft den Vorstand. Ausreichend für die Entstehung der 27 Pflicht ist gemäß § 78 Abs. 2 Satz 2 analog, dass sich der Aufsichtsrat an eines der Vorstandsmitglieder wendet.50) Ein Recht des Aufsichtsrats, unmittelbar die Mitarbeiter des Unternehmens zu adressieren, gewährt § 90 Abs. 3 nicht.51) Allerdings sieht § 107 Abs. 4 Satz 4 nunmehr die Möglichkeit für Mitglieder des Prüfungsausschusses vor, über den Ausschussvorsitzenden unmittelbar bei den Leitern derjenigen Zentralbereiche der Gesellschaft, deren Zuständigkeiten den Prüfungsausschuss betreffen, Auskünfte einzuholen.52) Wenn im Einzelfall eine Auskunft von Mitarbeitern erforderlich ist, so ist diese zunächst vom Vorstand einzuholen, der sie sodann an den Aufsichtsrat weiterleitet. Nur ausnahmsweise gilt etwas anderes, wenn nämlich die Einbeziehung des Vorstandes den Zweck des Informationsverlangens vereiteln würde. Das ist insbesondere der Fall, wenn der Verdacht einer groben, durch den Vorstand begangenen Pflichtverletzung im Raum steht.53) In der Praxis geht die Tendenz dahin, die Ansprechpartner zentraler Bereiche (z. B. Recht, Compliance, interne Revision) in die Sitzungen des Prüfungsausschusses einzubeziehen und auf diese Weise eine direkte Berichterstattung zu ermöglichen.54) V.

Anforderungen an Form, Inhalt und Zeitpunkt der Berichte (§ 90 Abs. 4)

In § 90 Abs. 4 Satz 1 ist die allgemeine Vorgabe enthalten, dass die Berichte des Vorstands 28 einer gewissenhaften und getreuen Rechenschaft zu entsprechen haben. Deshalb gilt für die Berichterstattung als Maßnahme der Geschäftsführung auch der allgemeine Sorgfaltsmaßstabs des ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters (§ 93 Abs. 1 Satz 1).55) In inhaltlicher Hinsicht ergibt sich aus § 90 Abs. 4 Satz 1 und aufgrund des Zusammen- 29 hangs mit der Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrates, dass die Berichte wahr und vollständig sowie übersichtlich und klar gegliedert sein müssen.56) Diese Anforderung erstreckt sich auch auf Tatsachen, die zur Beurteilung einer etwaigen Schadensersatzpflicht oder sogar Strafbarkeit des Vorstandes entscheidend sind.57) Aus Transparenzgründen hat _____________ 50) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 11; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 37; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 90 Rz. 38. 51) Brandi, ZIP 2000, 173, 175; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 90 AktG Rz. 43; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 11; Kort in: GroßKomm-AktG, § 90 Rz. 94; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 39; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 6 Rz. 249; Lutter, AG 2006, 517, 520 f.; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 90 Rz. 39; a. A. Kropff, NZG 2003, 346, 348 f.; Leyens, Information des Aufsichtsrats, 2006, S. 182 ff. 52) Näher hierzu Bost, NZG 2021, 865, 867 ff. 53) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 11; Kort in: GroßKomm-AktG, § 90 Rz. 94 ff.; K. Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 39; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 6 Rz. 248. 54) Hierzu auch Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 90 AktG Rz. 44 ff.; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 111 Rz. 569 ff. 55) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 52. 56) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 90 AktG Rz. 50; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 13; K. Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 52; Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 90 Rz. 19; HoffmannBecking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 25 Rz. 79. 57) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 54.

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der Vorstand Wertungen in erkennbarer Weise von Fakten abzugrenzen58) sowie wesentliche Unstimmigkeiten innerhalb des Vorstands darzustellen.59) 30 Nach § 90 Abs. 4 Satz 2 erfolgt die Berichterstattung in Textform. Dafür genügt gemäß § 126b BGB auch eine einfache E-Mail sowie ein Telefax.60) Eine Ausnahme vom Formerfordernis gilt für die Berichte aus sonstigen wichtigen Anlässen nach § 90 Abs. 1 Satz 3. Entsprechend dem Grundsatz der Formfreiheit kann die Berichterstattung hier in beliebiger Form erfolgen. 31 Die Berichte sind gemäß § 90 Abs. 4 Satz 2 möglichst rechtzeitig zu erstatten. Bei sitzungsvorbereitenden Berichten bedeutet dies, dass die Aufsichtsratsmitglieder in die Lage versetzt werden müssen, diese vor der Sitzung zu lesen. Im Übrigen hat eine Information so zu erfolgen, dass noch eine Reaktion des Aufsichtsrats möglich ist und dieser nicht vor vollendete Tatsachen gestellt wird.61) Eine Abweichung von dieser zeitlichen Vorgabe ist in Ausnahmefällen denkbar, wenn das Gesellschaftsinteresse dies gebietet, z. B. bei besonderer Eil- oder Geheimhaltungsbedürftigkeit.62) Der Vorstand soll durch diese Vorgaben zur Berichterstattung nämlich nicht bei der Leitung des Unternehmens beeinträchtigt werden, für die es u. U. einer schnellen Reaktion bedarf.63) 32 Umstritten ist die Frage, ab welchem Zeitpunkt über geplante Zusammenschlüsse zu informieren ist. Das OLG Frankfurt am Main lehnte eine mangelhafte Information des Aufsichtsrats im Hinblick auf einen geplanten Zusammenschluss als Anfechtungsgrund für den Beschluss der Hauptversammlung über die Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat ab.64) Zwar habe die Unterrichtung gemäß § 90 Abs. 4 Satz 2 möglichst rechtzeitig zu erfolgen, das Gesetz nenne jedoch keine konkreten Fristen. An einem die Anfechtbarkeit begründenden eindeutigen und schweren Gesetzesverstoß soll es fehlen, solange noch keine endgültige Entscheidung getroffen worden sei und der Aufsichtsrat daher noch in einer Sitzung über die Fusion beraten und beschließen könne.65) Die Reaktionen des Schrifttums auf diese Entscheidung gehen weit auseinander.66) VI.

Information innerhalb des Aufsichtsrats (§ 90 Abs. 5)

33 Über das Informationsrecht des Gesamtaufsichtsrats hinaus enthält § 90 in Absatz 5 auch noch Regelungen zu Rechten der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder. Nach § 90 Abs. 5 Satz 1 besteht ein Recht auf Kenntnisnahme von den Berichten. Wie sich im Umkehrschluss aus Satz 2 ergibt, bedeutet das noch nicht zugleich, dass die Berichte auch auszuhändigen sind. Eine Übermittlung hat nur auf Verlangen des Aufsichtsratsmitglieds hin zu erfolgen, sofern dem nicht ein gegenteiliger Beschluss des Aufsichtsrats entgegensteht. Von der Aushändigung des Berichts in Textform an alle oder einzelne Aufsichtsratsmitglieder kann _____________ 58) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 13; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 90 Rz. 49. 59) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 90 AktG Rz. 48; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 53. 60) Begr. RegE TransPuG, BT-Drucks. 14/8769, S. 15; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 13; FleischerPentz, Hdb. VorstandsR, § 16 Rz. 54. 61) Begr. RegE TransPuG, BT-Drucks. 14/8769, S. 15. 62) Begr. RegE TransPuG, BT-Drucks. 14/8769, S. 15; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 90 AktG Rz. 52 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 13b; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 56, 58; Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 90 Rz. 19. 63) Begr. RegE TransPuG, BT-Drucks. 14/8769, S. 15. 64) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 1.10.2013 – 5 U 214/12 (Deutsche Börse AG), NZG 2014, 1017 ff. = AG 2014, 373 ff. 65) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 1.10.2013 – 5 U 214/12 (Deutsche Börse AG), NZG 2014, 1017, 1019 = AG 2014, 373, 374 f. 66) Burgard/Heimann, AG 2014, 360; Burgard/Heimann, NZG 2014, 1294; Cahn, AG 2014, 525; Rieger/ Rothenfußer, NZG 2014, 1012.

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der Aufsichtsrat bspw. aufgrund der besonderen Geheimhaltungsbedürftigkeit der Information absehen.67) Ebenso kann es entsprechend der internen Organisation des Aufsichtsrats sinnvoll sein, den Personenkreis, an den der Bericht übermittelt wird, zu beschränken, z. B. auf die Mitglieder eines bestimmten Ausschusses.68) Das Recht auf Kenntnisnahme nach § 90 Abs. 5 Satz 1 unterliegt hingegen keinen Einschränkungen. Dies gilt jedoch nicht für Vorlageberichte, die auf einer anderen Grundlage als § 90 beruhen.69) § 90 Abs. 5 Satz 3 sieht schließlich für Sonderberichte nach Absatz 1 Satz 3 vor, dass die 34 Aufsichtsratsmitglieder spätestens in der nächsten Aufsichtsratssitzung zu informieren sind. VII. Durchsetzung der Berichtspflichten/Rechtsfolgen bei Verstoß Die Berichtspflichten gewähren den jeweils Berechtigten klagbare Ansprüche. Dabei 35 handelt es sich grundsätzlich um Ansprüche der Gesellschaft, die durch den Aufsichtsrat (§ 112) gegen die Vorstandsmitglieder (in notwendiger Streitgenossenschaft) geltend gemacht werden.70) Eine Ausnahme stellt das Informationsrecht des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds nach § 90 Abs. 3 Satz 2 dar, welches gegenüber der Gesellschaft besteht, die wiederum durch den Vorstand vertreten wird.71) Bei Verstößen gegen die Berichtspflicht durch den Vorstand ist nach allgemeinen Grund- 36 sätzen eine Beendigung des organschaftlichen Verhältnisses durch Abberufung sowie des Anstellungsvertrags durch Kündigung denkbar.72) Darüber hinaus kommen Schadensersatzansprüche nach § 93 Abs. 2 in Betracht. Weiterhin kann gemäß § 407 Abs. 1 ein Ordnungsverfahren gemäß §§ 388 ff. FamFG 37 eingeleitet werden, in dem eine Ordnungsstrafe zuerst angedroht und anschließend ggf. festgesetzt wird.73) _____________ 67) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 90 AktG Rz. 61; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 63; Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 90 Rz. 20. 68) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 63. 69) Ausführlich K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 65. 70) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 15; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 90 Rz. 61; Fleischer in: BeckOGk-AktR, § 90 AktG Rz. 69; a. A. – Aufsichtsrat aktivlegitimiert – Lutter, Information und Vertraulichkeit im AR, Rz. 230 ff.; Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 90 Rz. 22. 71) BGH, Urt. v. 28.11.1988 – II ZR 57/88, BGHZ 106, 54, 62 = ZIP 1989, 23 = AG 1989, 89; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 21; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 90 Rz. 71; a. A. – Klage gegen den Vorstand – LG Bonn, Urt. v. 16.10.1985 – 10 O 166/85, AG 1987, 24; Lutter, Information und Vertraulichkeit im AR, Rz. 237. 72) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 90 AktG Rz. 68; Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 90 Rz. 21; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 90 Rz. 65; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 25 Rz. 84. 73) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 15; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 90 Rz. 65.

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(1) Der Vorstand hat dafür zu sorgen, daß die erforderlichen Handelsbücher geführt werden. (2) Der Vorstand hat geeignete Maßnahmen zu treffen, insbesondere ein Überwachungssystem einzurichten, damit den Fortbestand der Gesellschaft gefährdende Entwicklungen früh erkannt werden. (3) Der Vorstand einer börsennotierten Gesellschaft hat darüber hinaus ein im Hinblick auf den Umfang der Geschäftstätigkeit und die Risikolage des Unternehmens anSimon Link

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gemessenes und wirksames internes Kontrollsystem und Risikomanagementsystem einzurichten. Literatur: Berg, Korruption in Unternehmen und Risikomanagement nach § 91 Abs. 2 AktG, AG 2007, 271; Bicker, Compliance – organisatorische Umsetzung im Konzern, AG 2012, 542; Bihr/Kalinowsky, Risikofrüherkennungssysteme bei nicht börsennotierten Aktiengesellschaften – Haftungsfalle für Vorstand, Aufsichtsrat und Wirtschaftsprüfer, DStR 2008, 620; Blasche, Die Mindestanforderungen an ein Risikofrüherkennungs- und Überwachungssystem nach § 91 Abs. 2 AktG, CCZ 2009, 62; Bunting, Das Früherkennungssystem des § 91 Abs. 2 AktG in der Prüfungspraxis – eine kritische Betrachtung des IDW PS 340, ZIP 2012, 357; Eggemann/ Konradt, Risikomanagement aus dem Blickwinkel des Wirtschaftsprüfers, BB 2000, 503; Fischer/ Schuck, Die Einrichtung von Corporate Governance-Systemen nach dem FISG, NZG 2021, 534; Fleischer, Aktienrechtliche Compliance-Pflichten im Praxistest: Das Siemens/NeubürgerUrteil des LG München, NZG 2014, 321; Gernoth, Die Überwachungspflichten des Aufsichtsrats im Hinblick auf das Risiko-Management, DStR 2001, 299; Götz, Das Risikofrüherkennungssystem des § 91 II AktG in rechtlicher Sicht, NJW-Sonderheft für H. Weber 2001, S. 21; Helmrich, Zur Strafbarkeit bei fehlenden oder unzureichenden Risikomanagementsystemen in Unternehmen am Beispiel der AG, NZG 2011, 1252; Hoffmann-Becking, Zur rechtlichen Organisation der Zusammenarbeit im Vorstand der AG, ZGR 1998, 497; Hommelhoff/Mattheus, Risikomanagementsystem im Entwurf des BilMoG als Funktionselement der Corporate Governance, BB 2007, 2787; Hopt/Kumpan, Governance in börsennotierten und anderen bedeutenden Aktiengesellschaften, AG 2021, 129; Huth, Grundsätze ordnungsmäßiger Risikoüberwachung, BB 2007, 2167; Kießling/Kießling, Kontrolle durch Interne Revision in Kreditinstituten, WM 2003, 513; Kless, Beherrschung der Unternehmensrisiken: Aufgaben und Prozesse eines Risikomanagements, DStR 1998, 93; Kremer/Klahold, Compliance-Programme in Industriekonzernen, ZGR 2010, 113; Liebscher/Rinker, Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz, BKR 2021, 466; Lutter, Konzernphilosophie vs. konzernweite Compliance und konzernweites Risikomanagement, in: Festschrift für Wulf Goette, 2011, S. 289; Pott/Heilmann/Freches, Auswirkungen des FISG auf die Corporate Governance von Unternehmen, BB 2021, 1835; Preußner/Becker, Ausgestaltung von Risikomanagementsystemen durch die Geschäftsleitung, NZG 2002, 846; Schmidbauer, Risikomanagement im Kontext wertorientierter Unternehmensführung – zugleich Erwiderung zu Pollanz, DB 2000, 153; Schneider, U./Schneider, S., Vorstandshaftung im Konzern, AG 2005, 57; Schnorr, Geschäftsleiterhaftung für fehlerhafte Buchführung, ZHR 170 (2006) 9; Schwintowski, Gesellschaftsrechtliche Anforderungen an Vorstandshaftung und Corporate Governance durch das neue System der kartellrechtlichen Legalausnahme, NZG 2005, 200; Spindler, Von der Früherkennung von Risiken zum umfassenden Risikomanagement – zum Wandel des § 91AktG unter europäischem Einfluss, in: Festschrift für Uwe Hüffer, 2010, S. 985; Spindler, Compliance in der multinationalen Bankengruppe, WM 2008, 905; Vetter, Die Änderungen 2007 des Deutschen Corporate Governance Kodex, DB 2007, 1963; Velte/Graewe, Zwingende Einrichtung von Compliance-Management-Systemen bei der börsennotierten AG nach dem Wirecard-Skandal?, DB 2020, 2529; Windolph, Risikomanagement und Riskcontrol durch das Unternehmensmanagement nach dem Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG), ius cogens für die treuhänderische Sorge i. S. von § 266 StGB – Untreue?, NStZ 2000, 522.

Übersicht I. Regelungsgegenstand und Regelungszweck ................................ 1 II. Buchführungspflicht (§ 91 Abs. 1) ....................................... 2 1. Adressat der Buchführungspflicht .... 2

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2. Gegenstand der Buchführungspflicht .................................................. 3 3. Beginn und Ende der Buchführungspflicht ................................... 4

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Organisation. Buchführung III. Früherkennung bestandsgefährdender Entwicklungen (§ 91 Abs. 2) ....................................... 5 1. Allgemeines ........................................ 5 2. Früherkennung bestandsgefährdender Entwicklungen als Organisationsziel ............................................ 6 3. Konzernweites Früherkennungssystem ................................................. 9 4. Geeignete Maßnahmen, insbesondere Einrichtung eines Überwachungssystems .................................. 10 I.

a) Geeignete Maßnahmen .............. b) Überwachungssystem ................ 5. Einrichtung eines internen Kontrollsystems und eines Risikomanagementsystems bei börsennotierten Gesellschaften (§ 91 Abs. 3) ..................................... IV. Rechtsfolgen bei Pflichtenverstoß .............................................. 1. Zivilrechtliche Haftung .................... 2. Strafrechtliche Folgen ......................

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Regelungsgegenstand und Regelungszweck

Durch § 91 werden zunächst zwei zentrale Vorstandspflichten, die sich aus der in § 76 1 normierten Leitungsaufgabe ergeben, konkretisiert: die Buchführungspflicht des § 91 Abs. 1 und die Pflicht des § 91 Abs. 2 zur Sicherung des Fortbestandes der AG. Daneben begründet § 91 Abs. 3 für den Vorstand der börsennotierten AG die Verpflichtung zur Einrichtung eines angemessenen und wirksamen internen Kontrollsystems und Risikomanagementsystems. Im Einklang mit dem Grundsatz der Gesamtverantwortung sind diese Pflichten an den Vorstand als Kollegialorgan gerichtet.1) II.

Buchführungspflicht (§ 91 Abs. 1)

1.

Adressat der Buchführungspflicht

Die AG trifft aufgrund ihrer (Form-)Kaufmannseigenschaft nach §§ 238 Abs. 1 HGB 2 i. V. m. § 6 Abs. 1 HGB, § 3 Abs. 1 AktG die Pflicht, Bücher zu führen und darin sowohl ihre Handelsgeschäfte als auch die Lage ihres Vermögens nach den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung ersichtlich zu machen. Bereits nach allgemeinen Grundsätzen ist der Vorstand das für die Erfüllung dieser Pflicht zuständige Gesellschaftsorgan. Durch § 91 Abs. 1 werden diese Aufgabenzuweisung sowie die Gesamtverantwortung aller Vorstandsmitglieder noch einmal hervorgehoben.2) Zwar wird dadurch die Möglichkeit einer Ressortzuweisung innerhalb des Vorstands nicht insgesamt ausgeschlossen,3) es werden aber aufgrund der Bedeutung der Buchführungspflicht besondere Anforderungen an die Erfüllung der Überwachungspflicht durch die übrigen Vorstandsmitglieder begründet.4) Auch eine Delegation der technischen Durchführung auf Angestellte der Gesellschaft oder externe Dritte bleibt dem Vorstand unbenommen, bewirkt aber wiederum eine Umwandlung der Buchführungspflicht in eine entsprechende Organisations-, Auswahl- und Überwachungspflicht (siehe oben § 76 Rz. 23).5)

_____________ 1) 2) 3) 4) 5)

LG Berlin, Urt. v. 3.7.2002 – 2 O 358/01, BKR 2002, 969 = AG 2002, 682; Fleischer in: BeckOGK AktR, § 91 AktG Rz. 1; Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 91 Rz. 1. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 91 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 91 Rz. 3. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 91 AktG Rz. 11; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 91 Rz. 7. K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 91 Rz. 3; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 91 Rz. 15; Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 91 Rz. 2. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 91 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 91 Rz. 4; HöltersMüller-Michaels, AktG, § 91 Rz. 2.

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§ 91 2.

Organisation. Buchführung Gegenstand der Buchführungspflicht

3 Wie die Buchführungspflicht im Einzelnen zu erfüllen ist, ergibt sich aus den entsprechenden handelsrechtlichen Vorschriften der §§ 238 ff. HGB (allgemeine Vorschriften für Kaufleute) i. V. m. §§ 264 ff. HGB (zusätzliche Vorschriften für Kapitalgesellschaften) und ergänzend aus den speziellen aktienrechtlichen Regelungen der §§ 150 ff.6) Dabei hat der Vorstand neben der Verpflichtung, den Jahresabschluss durch sämtliche (auch stellvertretende, § 94) Vorstandsmitglieder gemäß § 245 Satz 1 HGB7) zu unterzeichnen auch eine Aufbewahrungspflicht gemäß §§ 238 Abs. 2, 257 ff. HGB8). Letztere kann in elektronischer Form erfüllt werden, mit Ausnahme der Eröffnungsbilanzen und Abschlüsse, § 257 Abs. 3 HGB. Für Gesellschaften mit besonderem Geschäftsgegenstand bestehen darüber hinaus Sonderregelungen, so z. B. nach §§ 340 bis 340o HGB für Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute sowie nach §§ 341 bis 341p HGB für Versicherungsunternehmen und Pensionsfonds. 3.

Beginn und Ende der Buchführungspflicht

4 Die Pflicht zur Buchführung entsteht mit dem ersten buchungspflichtigen Geschäftsvorfall, d. h. mit dem Entstehen der Einlageforderungen, unabhängig davon, ob bereits eine Eintragung der Gesellschaft erfolgt ist oder ob diese sich noch im Stadium der Vor-AG befindet.9) Für das Erlöschen der Pflicht kommt es hingegen auf die Löschung der Gesellschaft an, nicht auf ihre Auflösung.10) Dabei geht die Buchführungspflicht während Insolvenz bzw. Abwicklung auf den Insolvenzverwalter (§ 155 Abs. 1 Satz 2 InsO) bzw. den Abwickler (§ 268 Abs. 2 AktG) über.11) III.

Früherkennung bestandsgefährdender Entwicklungen (§ 91 Abs. 2)

1.

Allgemeines

5 In § 91 Abs. 2 ist die Pflicht des Vorstands, bestandsgefährdende Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und die dafür notwendigen Maßnahmen, insbesondere die Einrichtung eines Überwachungssystems, zu ergreifen, ausdrücklich normiert. Dadurch wird die Leitungsverantwortung des Vorstands aus §§ 76 Abs. 1, 93 Abs. 1 hervorgehoben und konkretisiert.12) Ob der Vorstand ein geeignetes und funktionsfähiges Überwachungssystem eingerichtet hat, muss bei börsennotierten Gesellschaften durch den Abschlussprüfer gemäß § 317 Abs. 4 HGB beurteilt werden.13)

_____________ 6) Vgl. auch K. Schmidt/Lutter-Kleindiek, AktG, Vor § 150 Rz. 1 ff. 7) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 91 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 91 Rz. 5; Mertens/ Cahn in: KölnKomm-AktG, § 91 Rz. 7. 8) Kort in: GroßKomm-AktG, § 91 Rz. 8; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 91 Rz. 11. 9) Kort in: GroßKomm-AktG, § 91 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 91 Rz. 5; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 91 Rz. 6. 10) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 91 Rz. 5; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 91 Rz. 6; a. A. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 91 AktG Rz. 19; Kort in: GroßKomm-AktG, § 91 Rz. 5 – Abschluss der Liquidation. 11) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 91 AktG Rz. 19; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 91 Rz. 5; Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 91 Rz. 3. 12) Begr. RegE KonTraG, BT-Drucks. 13/9712, S. 15; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 91 AktG Rz. 29; Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 91 Rz. 4. 13) Baumbach/Hopt-Hopt/Merkt, HGB, § 317 Rz. 13; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 91 Rz. 6.

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§ 91

Organisation. Buchführung 2.

Früherkennung bestandsgefährdender Entwicklungen als Organisationsziel

Zweck des § 91 Abs. 2 ist die Feststellung unternehmensbezogener nachteiliger Prozesse 6 im Gegensatz zu statischen Risikozuständen.14) Dazu zählen ausweislich der Gesetzesbegründung insbesondere risikobehaftete Geschäfte (z. B. im Derivatehandel), Unrichtigkeiten der Rechnungslegung und Verstöße gegen gesetzliche Vorschriften.15) Bedrohliche Prozesse sollen so rechtzeitig erkannt werden, dass der Bestandsgefährdung durch geeignete Maßnahmen noch entgegen getreten werden kann.16) Eine Bestandsgefährdung geht von solchen Vorgängen aus, die die Vermögens-, Finanz- 7 und Ertragslage der Gesellschaft dergestalt betreffen können, dass sie ein Insolvenzrisiko hervorrufen oder vertiefen.17) Eine bloße dauerhafte Gefährdung der Unternehmensrentabilität begründet keine Bestandsgefährdung in diesem Sinne.18) Der Vorstand darf die jeweiligen Entwicklungen nicht isoliert betrachten, sondern hat 8 diese in den Gesamtzusammenhang einzuordnen.19) Zum Teil ergibt sich nämlich erst daraus, d. h. in Kombination mit anderen Umständen, eine Bestandsgefährdung. Erforderlich ist daher, dass der Vorstand einen Gesamtüberblick hat und auf dieser Basis in der Lage ist, zu beurteilen, mit welcher Wahrscheinlichkeit welche Szenarien eintreten können. 3.

Konzernweites Früherkennungssystem

Inwieweit die Pflicht des § 91 Abs. 2 konzernbezogen ist, ist umstritten. Ausweislich der 9 Regierungsbegründung ist die Überwachungs- und Organisationspflicht bei Mutterunternehmen i. S. des § 290 HGB „im Rahmen der bestehenden gesellschaftsrechtlichen Möglichkeiten konzernweit zu verstehen, sofern von Tochtergesellschaften den Fortbestand der Gesellschaft gefährdende Entwicklungen ausgehen können.“20) Teilweise wird daraus eine Pflicht abgeleitet, ein konzernweites Überwachungssystem durch das Mutterunternehmen zu etablieren.21) Richtigerweise ist wohl allein entscheidend, ob die Muttergesellschaft in ihrem Bestand gefährdet ist. Durch welche Art von Entwicklungen diese Gefährdung eintritt und worin diese ihren Ursprung nehmen, ist dabei irrelevant. Daher hat die Früherkennung insoweit einen Konzernbezug, als dass sie auch Prozesse mit Ursprung in den Tochtergesellschaften einbezieht.22) Zur Durchsetzung hat der Vorstand alle jeweils zur Verfügung stehenden Einflussmöglichkeiten zu nutzen, d. h. im Vertragskonzern und gegenüber einer eingegliederten Gesellschaft insbesondere das Weisungsrecht gemäß § 308 Abs. 1

_____________ 14) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 91 AktG Rz. 31; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 91 Rz. 8; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 91 Rz. 20. 15) Begr. RegE KonTraG, BT-Drucks. 13/9712, S. 15. 16) Begr. RegE KonTraG, BT-Drucks. 13/9712, S. 15; Blasche, CCZ 2009, 62, 63; Spindler in: MünchKommAktG, § 91 Rz. 24. 17) Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 91 Rz. 9; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 91 AktG Rz. 32; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 91 Rz. 6. 18) Kort in: GroßKomm-AktG, § 91 Rz. 37; so aber Lange/Wall-Zimmer/Sonneborn, Risikomanagement nach dem KonTraG, § 1 Rz. 182. 19) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 91 Rz. 9; Götz, NJW-Sonderheft für H. Weber, S. 21, 22. 20) Begr. RegE KonTraG, BT-Drucks. 13/9712, S. 15. 21) Ballwieser in: Hommelhoff/Hopt/v. Werder, Hdb. Corporate Governance, S. 453; Preußner/Becker, NZG 2002, 846, 847; differenzierend U. Schneider/S. Schneider, AG 2005, 57, 58 f. 22) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 91 AktG Rz. 41; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 91 Rz. 10; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 91 Rz. 18; Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 91 Rz. 8; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 91 Rz. 80 f.

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§ 91

Organisation. Buchführung

Satz 1 bzw. § 323 Abs. 1 Satz 1.23) Hingegen ist die Muttergesellschaft nicht dazu verpflichtet, auf die Erkennung von Bestandsgefährdungen für die Tochtergesellschaften selbst hinzuwirken.24) 4.

Geeignete Maßnahmen, insbesondere Einrichtung eines Überwachungssystems

a)

Geeignete Maßnahmen

10 Die Erfüllung der Pflicht des § 91 Abs. 2 erfordert die Ergreifung von Maßnahmen, die geeignet sind, ein wirkungsvolles Risikofrüherkennungssystem zu etablieren. Die Geeignetheit einer Maßnahme setzt voraus, dass sie nach der Erfahrung eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters für die rechtzeitige Versorgung des Vorstands mit den erforderlichen Informationen sorgt.25) Bezüglich der Beurteilung der Geeignetheit von Maßnahmen im Einzelfall steht dem Vorstand ein unternehmerisches Ermessen zu, bei dessen Ausübung er die relevanten Umstände (z. B. Größe, Branche, Struktur und Kapitalmarktzugang des Unternehmens) in seine Entscheidung einzubeziehen hat.26) b)

Überwachungssystem

11 Zu beachten ist die Bedeutung des im Gesetz eigenständig aufgeführten Überwachungssystems. Dabei handelt es sich um ein Kontrollinstrument für die zur Risikoerkennung eingeleiteten Maßnahmen, nicht hingegen um eine solche Maßnahme selbst.27) Hinsichtlich der Ausgestaltung des Überwachungssystems gilt wieder der Grundsatz des weiten Vorstandsermessens. Zentral gesteuerte Controlling- und Revisionsfunktionen werden jedoch ab einer bestimmten Unternehmensgröße als erforderliches Minimum angesehen.28) Wesentliche Elemente sind darüber hinaus eine klar bestimmte Überwachungszuständigkeit sowie eine detaillierte Berichterstattung und Dokumentation.29) 12 Vor allem in der betriebswirtschaftlichen Literatur30) wird aus § 91 Abs. 2 vielfach die Pflicht zur Einrichtung eines umfassenden Risikomanagementsystems abgeleitet. Ein solches umfasst zusätzliche Elemente, die an die Risiko(früh)erkennung anknüpfen und über diese hinausführen (z. B. die Risikosteuerung).31) In eine ähnliche Richtung geht der vom Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) erstellte Prüfungsstandard IDW PS 340, der die Vorgaben zur Prüfung der vom Vorstand nach § 91 Abs. 2 ergriffenen Maßnahmen _____________ 23) LG Stuttgart, Urt. v. 19.12.2017 – 31 O 33/16 Kf, Rz. 215, NZG 2018, 665; K. Schmidt/Lutter-SailerCoceani, AktG, § 91 Rz. 10; Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 91 Rz. 8; Spindler in: MünchKommAktG, § 91 Rz. 80; ebenso zum Compliance-System und Risiko-Management Lutter in: FS Goette, S. 289, 293 f. 24) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 91 Rz. 10. 25) Baums, Geschäftsleitervertrag, S. 218, 262 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 91 Rz. 7; K. Schmidt/LutterSailer-Coceani, AktG, § 91 Rz. 12. 26) Begr. RegE z. KonTraG, BT-Drucks. 13/9712, S. 15; Huth, BB 2007, 2167; Kießling/Kießling, WM 2003, 513, 521; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 91 Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 91 Rz. 12; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 91 Rz. 28; Spindler in: FS Hüffer, S. 985, 993 f. 27) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 91 Rz. 13; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 91 Rz. 29; a. A. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 91 Rz. 26. 28) Marsch-Barner/Schäfer-Arnold, Hdb börsennotierte AG, § 19 Rz. 19; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 91 AktG Rz. 36; Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, AktG, § 91 Rz. 8. 29) Vgl. LG München I, Urt. v. 5.4.2007 – 5 HK O 15964/06, ZIP 2007, 1951 = NZG 2008, 319; Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 91 Rz. 11; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 91 AktG Rz. 36; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 91 Rz. 29. 30) Gernoth, DStR 2001, 299 ff.; Hommelhoff/Mattheus, BB 2007, 2787 ff.; Preußner/Becker, NZG 2002, 846 ff.; Schmidbauer, DB 2000, 153 ff.; Spindler, WM 2008, 905, 906 f. 31) Eggemann/Konradt, BB 2000, 503 ff.; Hommelhoff/Mattheus, BB 2007, 2787, 2789; Kless, DStR 1998, 93, 95; Heidel-Oltmanns, AktR, § 91 AktG Rz. 8; Preußner/Becker, NZG 2002, 846, 848.

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festlegt. In der juristischen Fachliteratur wird dies jedoch zu Recht als zu weitgehend abgelehnt. Auch hier ist vielmehr das Ermessen des Vorstands zu berücksichtigen.32) Dafür spricht auch, dass durch das Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität (FISG),33) die Einrichtung eines vollen Risikomanagementsystems nur für börsennotierte Gesellschaften vorgeschrieben wurde. Allerdings ergeben sich aus der allgemeinen Pflicht, Bestand und Ertragskraft des Unternehmens zu sichern, Anforderungen an den Umgang mit identifizierten Risiken (wie etwa deren Beobachtung und die Prüfung, wie den Risiken begegnet werden kann), die Elementen umfassender Risikomanagementsysteme entsprechen. Damit ist die Einrichtung und Ausgestaltung eines Risikomanagementsystems außerhalb des Anwendungsbereichs des neuen § 91 Abs. 3 eine Frage der Sorgfaltspflicht des Vorstands.34) Auch die Pflicht, durch Einrichtung eines Compliance-Systems dafür zu sorgen, dass 13 Unternehmensangehörige gesetzliche Bestimmungen sowie unternehmensinterne Richtlinien einhalten, folgt nicht aus § 91 Abs. 2, sondern aus §§ 76, 93 Abs. 1.35) 5.

Einrichtung eines internen Kontrollsystems und eines Risikomanagementsystems bei börsennotierten Gesellschaften (§ 91 Abs. 3)

Durch das FISG wurde in § 91 Abs. 3 die zusätzliche Pflicht für börsennotierte Gesell- 14 schaften aufgenommen, ein im Hinblick auf den Umfang der Geschäftstätigkeit und die Risikolage des Unternehmens angemessenes und wirksames internes Kontrollsystem und Risikomanagementsystem einzurichten. Dies dient ausweislich der Regierungsbegründung zum FISG der Stärkung der unternehmensinternen Kontrollsysteme und der Verantwortungsstrukturen.36) Die Pflicht gilt nach der gesetzlichen Regelung nur für börsennotierte Gesellschaften, die 15 durch § 3 Abs. 2 definiert sind. Dies erscheint sachgerecht, da in börsennotierten Gesellschaften ob der Breite an verschiedenen Aktionären ein gesteigertes Transparenzbedürfnis besteht, andererseits aber auch deshalb, da es erklärtes Regelungsziel des FISG ist, das Vertrauen in den Kapitalmarkt zu stärken.37) Allerdings betont die Regierungsbegründung zum FISG, dass sich auch in anderen Gesellschaften aus der allgemeinen Sorgfaltspflicht des Vorstands eine Pflicht zur Einrichtung entsprechender Systeme ergeben kann.38) Das interne Kontrollsystem umfasst nach der Regierungsbegründung zum FISG die 16 Grundsätze, Verfahren und Maßnahmen zur Sicherung der Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der Geschäftstätigkeit, zur Sicherung der Ordnungsmäßigkeit der Rechnungslegung und zur Sicherung der Einhaltung der maßgeblichen rechtlichen Vorschriften.39) Eine Untergliederung erfolgt typischerweise in Regelungen zur Steuerung der Unternehmens_____________ 32) Bunting, ZIP 2012, 357, 358 f.; Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497, 513; Kort in: GroßKomm-AktG, § 91 Rz. 50 ff.; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 91 Rz. 14; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 91 Rz. 31. 33) Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität (Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz – FISG) v. 3.6.2021, BGBl. I 2021, 1534. 34) So auch Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 113. 35) Umstritten, offengelassen von LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HKO 1387/10, ZIP 2014, 570 = AG 2014, 332, dazu EWiR 2014, 175 (Hahn); wie hier: Bicker, AG 2012, 542, 543; Fleischer in: BeckOGKAktR, § 91 AktG Rz. 47; Fleischer, NZG 2014, 321, 322; Kremer/Klahold, ZGR 2010, 113, 119 f.; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 91 Rz. 352; Vetter, DB 2007, 1963, 1964; a. A. Berg, AG 2007, 271, 274 ff.; Schwintowski, NZG 2005, 200, 201 f. 36) Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 2, 55. 37) Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 1 f.; ebenso hierauf verweisend Fischer/Schuck, NZG 2021, 534, 536. 38) Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 113. 39) Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 113.

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aktivitäten (internes Steuerungssystem) und Regelungen zur Überwachung der Einhaltung dieser Regelungen (internes Überwachungssystem).40) 17 Keine explizite Aussage trifft § 91 Abs. 3 darüber, inwiefern es auch der Implementierung einer internen Revision und eines Compliance-Management-Systems bedarf. Im Schrifttum wird richtigerweise davon ausgegangen, dass die interne Revision Teil des internen Kontrollsystems ist und die Vornahme von prozessunabhängigen Prüfungen innerhalb des Überwachungssystems sicherstellt.41) Daneben wird diskutiert, ob aus § 91 Abs. 3 auch die Pflicht zur Implementierung eines Compliance-Management-Systems folgt. Dies wird zunächst unter Hinweis auf die Gesetzgebungsgeschichte vertreten: Die ursprüngliche explizite Feststellung seitens des Gesetzgebers, dass es der Implementierung nicht bedürfe, wurde infolge von kritischen Stellungnahmen gestrichen.42) Dessen ungeachtet ist die bloße Streichung der Formulierung nicht damit gleichzusetzen, dass eine Implementierung zwingend erforderlich ist. Vielmehr bleibt es dabei, dass das Erfordernis, ein Compliance-Management-System einzurichten, eine Frage der Sorgfaltspflicht des Vorstands ist (siehe hierzu § 93 Rz. 18 ff.). 18 Eine Definition des Risikomanagementsystems fehlt in der Regierungsbegründung zum FISG. Festgestellt wird darin nur, dass die hieran zu knüpfenden Anforderungen über diejenigen des Früherkennungssystems des § 91 Abs. 2 hinausgehen.43) Zur Konkretisierung bestünde einerseits die Möglichkeit, den sektorspezifischen Anforderungen der §§ 25a ff. KWG und §§ 26 ff. VAG eine verbindliche Ausstrahlungswirkung zuzusprechen. Zum Teil werden diese Vorschriften für die Ausgestaltung des Risikomanagementsystems als Anhaltspunkt für das Pflichtenprogramm des Unternehmens herangezogen.44) Dies ist zutreffend, jedoch können sie nicht mehr als Anhaltspunkte darstellen, da sonst die gesetzgeberische Differenzierung zwischen sektorspezifischen und allgemeinen Anforderungen übergangen würde. Daher bedarf es stehts einer Prüfung im Einzelfall, inwiefern eine Übertragung aufsichtsrechtlicher Standards mit den aktienrechtlichen Wertungen in Einklang zu bringen ist.45) Auch der pauschale Rückgriff auf betriebswirtschaftliche Standards wie diejenigen des IDW (insbesondere PS 340) ist abzulehnen,46) da diesen keine rechtliche Verbindlichkeit zukommt.47) 19 § 91 Abs. 3 verlangt lediglich, dass das interne Kontrollsystem und das Risikomanagementsystem dem Umfang der Geschäftstätigkeit und der Risikolage des Unternehmens angemessen und wirksam sind. Jenseits dieser Anforderung unterliegt die Ausgestaltung der Systeme weiterhin dem Leitungsermessen des Vorstands,48) woraus sich auch ein Spielraum zur pflichtgemäßen Einschätzung der Angemessenheit ergibt. Wirksamkeit bedeutet dabei im Hinblick auf das Risikomanagementsystem nicht, dass das System die Verwirklichung aller Risiken verhindern muss, denn das ist nicht das Ziel eines Risikomanagementsystems. Nach der Regierungsbegründung muss das Risikomanagementsystem lediglich _____________ 40) Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Bachmann, DCGK, G. 4 Rz. 15; Fischer/Schuck, NZG 2021, 534, 537. 41) Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Bachmann, DCGK, G. 4 Rz. 15, 32; Johannsen-Roth/Illert/ Ghassemi-Tabar-Ghassemi-Tabar, DCGK, G. 4 Rz. 23, 32; Fischer/Schuck, NZG 2021, 534, 537. 42) Hopt/Kumpan, AG 2021, 129, 132; Fischer/Schuck, NZG 2021, 534, 537. 43) Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 113. 44) Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Bachmann, DCGK, G. 4 Rz. 22; Fischer/Schuck, NZG 2021, 534, 539 f. 45) Ähnlich Fischer/Schuck, NZG 2021, 534, 539 f. 46) Offen hierfür jedoch bspw. Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Bachmann, DCGK, G. 4 Rz. 23. 47) Fischer/Schuck, NZG 2021, 534, 540. 48) Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 113.

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Vorstandspflichten bei Verlust, Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit

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zur Aufdeckung, Steuerung und Bewältigung aller wesentlichen Risiken geeignet sein,49) ohne dass damit eine „Erfolgsgarantie“ verbunden wäre.50) IV.

Rechtsfolgen bei Pflichtenverstoß

1.

Zivilrechtliche Haftung

Eine Verletzung der Pflichten des § 91 begründet nach § 93 Abs. 2 Satz 1 einen gesamt- 20 schuldnerischen Schadensersatzanspruch der Gesellschaft, der sich gegen die jeweiligen Vorstandsmitglieder richtet. Dritte können aus einem solchen Verstoß mangels Schutzgesetzcharakter von § 91 Abs. 1 und Abs. 2 hingegen keine Ansprüche auf Basis des § 823 Abs. 2 BGB geltend machen.51) 2.

Strafrechtliche Folgen

Bei Verstoß gegen die Buchführungspflichten ist darüber hinaus eine Strafbarkeit des 21 Vorstands denkbar. In Betracht kommen §§ 283 Abs. 1 Nr. 5 – 7, Abs. 2 StGB (Bankrott), § 283a StGB (Besonders schwerer Fall des Bankrotts) oder § 283b Abs. 1 Nr. 1 – 3 StGB (Verletzung der Buchführungspflicht). Auch ein Verstoß gegen die Pflicht des § 91 Abs. 2 kann strafrechtliche Folgen haben. 22 Kommt es dadurch zu einem Vermögensschaden der Gesellschaft, kann die Untreuestrafbarkeit nach § 266 StGB eingreifen.52) _____________ 49) Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 113. 50) So auch Hopt/Kumpan, AG 2021, 129, 131. 51) Kort in: GroßKomm-AktG, § 91 Rz. 186; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 91 Rz. 20; a. A. für die Buchführungspflicht Schnorr, ZHR 170 (2006) 9, 14 ff. 52) Bihr/Kalinowsky, DStR 2008, 620, 625; Helmrich, NZG 2011, 1252, 1253 f.; Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 91 Rz. 11; Windolph, NStZ 2000, 522, 524.

§ 92 Vorstandspflichten bei Verlust, Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit Simon Link

(1) Ergibt sich bei Aufstellung der Jahresbilanz oder einer Zwischenbilanz oder ist bei pflichtmäßigem Ermessen anzunehmen, daß ein Verlust in Höhe der Hälfte des Grundkapitals besteht, so hat der Vorstand unverzüglich die Hauptversammlung einzuberufen und ihr dies anzuzeigen. (2) (aufgehoben) Literatur: Kropff, Nettoausweis des Gezeichneten Kapitals und Kapitalschutz, ZIP 2009, 1137; Müller, W., Der Verlust der Hälfte des Grund- oder Stammkapitals – Überlegungen zu den §§ 92 Abs. 1 AktG und 49 Abs. 3 GmbHG, ZGR 1985, 191; Plagemann, Beseitigung des Verlusts gem. § 92 I AktG vor Durchführung der Hauptversammlung, NZG 2014, 207; Reuter, „Krisenrecht“ im Vorfeld der Insolvenz – das Beispiel der börsennotierten AG, BB 2003, 1797.

Übersicht I. Verlustanzeigepflicht ........................ 1 1. Regelungsgegenstand und Regelungszweck .......................................... 1

2. Verlust i. H. der Hälfte des Grundkapitals ..................................... 3 3. Vorstandspflichten ............................. 6

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§ 92

Vorstandspflichten bei Verlust, Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit

4. Rechtsfolgen bei Verstoß gegen § 92 ................................................... 12

II. Zahlungsverbot nach § 92 Abs. 2 a. F. ........................................ 13

I.

Verlustanzeigepflicht

1.

Regelungsgegenstand und Regelungszweck

1 § 92 betrifft die Pflichten des Vorstands bei Eintritt einer finanziellen Krise der Gesellschaft. Der Vorstand wird dazu verpflichtet, bei einem Verlust i. H. der Hälfte des Grundkapitals die Hauptversammlung einzuberufen und Verlustanzeige zu erstatten. Dadurch haben die Aktionäre die Möglichkeit, frühzeitig angemessen auf die Unternehmenskrise zu reagieren, vgl. § 118.1) Geeignete Maßnahmen sind vor allem Kapitalveränderungen (§§ 182 ff., §§ 229 ff.), aber auch ein Auflösungsbeschluss (§ 262 Abs. 1 Nr. 2) kann in Betracht kommen.2) Der Informationsbedarf ist auch bei der Vor-AG zu bejahen.3) Nicht Zweck, sondern allenfalls Nebenfolge der Einberufung der Hauptversammlung ist die Publizitätswirkung.4) 2 Der Vorstand kann nicht durch Satzung oder Weisung des Aufsichtsrats von seiner Pflicht aus § 92 befreit werden. Der auf die Information der Aktionäre gerichtete Schutzzweck wird hingegen nicht unterlaufen, wenn die Aktionäre auf die Erfüllung der Vorstandspflicht im konkreten Fall verzichten.5) Das wird insbesondere bei Einpersonen-AGs in Betracht kommen.6) 2.

Verlust i. H. der Hälfte des Grundkapitals

3 Die Hälfte des Grundkapitals berechnet sich nicht nach dem eingezahlten, sondern nach dem satzungsmäßigen Grundkapital.7) Nach zutreffender h. M. entsteht die Handlungspflicht, wenn das vorhandene Gesellschaftsvermögen auf die Hälfte des Grundkapitals reduziert ist, unabhängig davon, ob es sich um einen Einzelverlust handelt oder ob der Verlust aus fortlaufenden, sich kumulierenden Verlusten entsteht.8) Die gegenteilige Auffassung, nach der bereits ein einmaliger Jahresfehlbetrag i. S. von § 266 Abs. 3 A. HGB i. H. der Hälfte des Grundkapitals ausreicht, so dass Gewinn- und Kapitalrücklagen unberücksichtigt bleiben,9) steht bereits im Widerspruch zum Wortlaut des § 92. Dieser spricht von einem „Verlust“ und gerade nicht von einem „Jahresfehlbetrag“ (rein bilanzielle Betrachtungsweise).10) Auch das Telos der Norm, die Hauptversammlung zwecks einer Reaktion der Aktionäre zu informieren, spricht für die h. M., weil ein einmaliger Jahresfehlbetrag nicht zwingend Kapitalmaßnahmen nach sich zieht.11) _____________ 1) Habersack in: GroßKomm-AktG, § 92 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 92 Rz. 1; K. Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 92 Rz. 1. 2) Habersack in: GroßKomm-AktG, § 92 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 92 Rz. 1. 3) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 92 AktG Rz. 11. 4) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 92 Rz. 1. 5) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 92 Rz. 11; ebenso zur Parallelvorschrift im GmbHG – Altmeppen-Altmeppen, GmbHG, § 49 Rz. 17; Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt-Römermann, GmbHG, § 49 Rz. 127; a. A. Spindler in: MünchKomm-AktG, § 92 Rz. 5. 6) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 92 Rz. 11. 7) Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 92 Rz. 4; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 18 Rz. 98. 8) BGH, Urt. v. 9.10.1958 – II ZR 348/56, WM 1958, 1416, 1417 = BB 1958, 1181; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 92 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 92 Rz. 3; Kropff, ZIP 2009, 1137, 1144 f.; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 18 Rz. 98 f.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 25 Rz. 101. 9) Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 92 Rz. 15 ff. 10) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 92 AktG Rz. 7; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 92 Rz. 2. 11) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 18 Rz. 99.

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Vorstandspflichten bei Verlust, Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit

§ 92

Gesellschaftsvermögen ist die Summe aus Grundkapital, Kapitalrücklage, gesetzlicher 4 und satzungsmäßiger Rücklage, anderen Gewinnrücklagen, Bilanzgewinn (einschließlich Gewinnvortrag) sowie Eigenkapitalanteil in den Sonderposten mit Rücklagenanteil abzüglich des Bilanzverlustes (Verlust und Verlustvortrag).12) Rücklagen für eigene Anteile sind allerdings nicht in die Berechnung mit einzubeziehen.13) Eigenkapitalersetzende Aktionärsdarlehen oder Darlehen mit Rangrücktritt sind bis zum endgültigen Forderungsverzicht des jeweiligen Gläubigers als Fremdkapital zu behandeln.14) Nach dem Wortlaut des § 92 erfolgt die Ermittlung des Verlustes auf Grundlage der für 5 die Jahresbilanz geltenden handelsrechtlichen Ansatz- und Bewertungsregeln (§§ 252 ff. HGB).15) Nach § 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB sind bei der Bewertung der Vermögensgegenstände der Gesellschaft daher grundsätzlich Going-Concern-Werte anzusetzen (Fortführungswerte).16) Liquidationswerte sind hingegen maßgebend bei einer negativen Fortführungsprognose.17) Bei der Auflösung stiller Reserven sind ebenfalls die Regeln über den Jahresabschluss anzuwenden.18) 3.

Vorstandspflichten

Da § 92 auf das „pflichtgemäße Ermessen“ abstellt, muss der Vorstand nicht nur bei Auf- 6 stellung der Jahres- oder Zwischenbilanz eine Krisensituation zur Anzeige bringen, sondern er ist fortlaufend dazu verpflichtet, die Vermögens- und Finanzlage zu prüfen („Pflicht zur selbstständigen wirtschaftlichen Selbstprüfung“)19). Ist ein Verlust i. H. der Hälfte des Grundkapitals danach denkbar, hat der Vorstand eine Zwischenbilanz zu erstellen, um die nötige Gewissheit zu schaffen.20) Die Einberufung der Hauptversammlung beschließt der Vorstand gemäß § 121 Abs. 2 Satz 1 7 mit einfacher Mehrheit. Die Pflicht zur Anzeige einer Krisensituation betrifft aber das einzelne, auch fehlerhaft bestellte, Vorstandsmitglied; das von der Krise überzeugte Mitglied muss notfalls darauf drängen, dass der Aufsichtsrat den Vorstand zur Einberufung anhält oder diese selbst vornimmt (vgl. § 111 Abs. 3).21)

_____________ 12) Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, AktG, § 92 Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 92 Rz. 3; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 92 Rz. 9; Müller, ZGR 1985, 191, 207; Hölters-MüllerMichaels, AktG, § 92 Rz. 4. 13) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 92 Rz. 3; a. A. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 92 Rz. 9. 14) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 92 Rz. 3; Müller, ZGR 1985, 191, 207 f. 15) Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 34 Rz. 1434; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 92 Rz. 4; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 18 Rz. 102. 16) Winkeljohann/Förschle/Deubert-Förschle/Hoffmann, Sonderbilanzen, Kap. P, Rz. 35; K. Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 92 Rz. 4; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 18 Rz. 102. 17) H. M., Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 92 AktG Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 92 Rz. 4; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 18 Rz. 102; einschränkend Habersack/Förster in: GroßKomm-AktG, § 92 Rz. 23. 18) Näher Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 92 AktG Rz. 8; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 92 Rz. 4; K. Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 92 Rz. 5; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 92 Rz. 9; a. A. Reuter, BB 2003, 1797, 1802. 19) Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 34 Rz. 1432. 20) BGH, Urt. v. 20.2.1995 – II ZR 9/94, ZIP 1995, 560, 561 = GmbHR 1995, 299 – zur GmbH; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 92 AktG Rz. 1 – „Kardinalpflicht“; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 34 Rz. 1432, 1433; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 18 Rz. 101. 21) Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 92 Rz. 29; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 92 Rz. 19; Reuter, BB 2003, 1797, 1802; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 18 Rz. 104; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 92 Rz. 17.

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Vorstandspflichten bei Verlust, Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit

8 Liegen die Voraussetzungen des § 92 vor, ist die Hauptversammlung unverzüglich (§ 121 Abs. 1 Satz 1 BGB) einzuberufen, um ihr die Krisensituation anzuzeigen.22) Eine Hinauszögerung der Einberufung, um eine für die Gesellschaft schädliche Publizitätswirkung zu vermeiden, ist nicht möglich. Das gilt nicht nur für börsennotierte Gesellschaften, wenn der eingetretene Verlust nach Art. 17 der Marktmissbrauchsverordnung23) meldepflichtig ist; vielmehr muss die Unverzüglichkeit auch im Falle einer nicht-börsennotierten Gesellschaft gewahrt werden.24) Allerdings hat der Vorstand Zeit, Gegenmaßnahmen zur Beseitigung der Krise vorzubereiten, die er den Aktionären sodann in der Hauptversammlung vorlegt; bei konkreten, erfolgversprechenden Sanierungsverhandlungen ist eine Höchstfrist von drei Wochen in Anlehnung an § 15a Abs. 1 Satz 2 InsO angemessen.25) War der Verlust nur vorübergehend und wurde er vor Durchführung der bereits einberufenen Hauptversammlung wieder ausgeglichen, so kann die Durchführung der Hauptversammlung abgesagt werden.26) 9 Die Verlustanzeige muss als Tagesordnungspunkt bereits in der Einberufung der Hauptversammlung unmissverständlich bekannt gegeben werden.27) Eine Beschlussfassung über Sanierungsmaßnahmen kann ebenfalls in die Tagesordnung aufgenommen werden, eine dahingehende Pflicht besteht jedoch nicht.28) Es gelten die §§ 121 ff. 10 In der Insolvenz ist die Einberufung der Hauptversammlung nicht mehr erforderlich, sofern der Vorstand bereits Insolvenzantrag gestellt hat, da der Informationszweck damit bereits erfüllt ist und die Aktionäre keine Gegenmaßnahmen mehr beschließen können.29) In der Abwicklung einer Gesellschaft, die ihren Geschäftsbetrieb noch fortführt, ist eine Einberufung sinnvoll; bei bloßer Vermögensverwertung nach Einstellung des Geschäftsbetriebs hingegen ist § 92 nicht mehr anzuwenden.30) 11 Der Vorstand muss den festgestellten Verlust auch dem Aufsichtsratsvorsitzenden nach § 90 Abs. 1 Satz 3 mitteilen (siehe § 90 Rz. 20).31) Außerdem muss er sich gemäß § 93 Abs. 1 um eine Sanierung bemühen. 4.

Rechtsfolgen bei Verstoß gegen § 92

12 § 401 sanktioniert die Verletzung der Pflicht aus § 92 als Straftat mit Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe. Die Norm richtet sich an amtierende und faktische Vorstandsmitglieder.32) Außerdem haftet das pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglied _____________ 22) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 92 Rz. 5; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 18 Rz. 106. 23) Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.4.2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung) und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinien 2003/124/EG, 2003/125/EG und 2004/72/EG der Kommission, ABl. (EU) L 173/1 v. 12.6.2014. 24) Habersack in: GroßKomm-AktG, § 92 Rz. 28; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 92 Rz. 9; Plagemann, NZG 2014, 207; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 18 Rz. 107. 25) Habersack in: GroßKomm-AktG, § 92 Rz. 28; für die Heranziehung der Drei-Wochen-Frist als maximale Grenze nur in Einzelfällen K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 92 Rz. 9; zurückhaltend auch Plagemann, NZG 2014, 207; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 18 Rz. 108. 26) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 92 Rz. 6; a. A. Plagemann, NZG 2014, 207; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 18 Rz. 109. 27) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 18 Rz. 110; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 25 Rz. 103. 28) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 92 Rz. 5; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 18 Rz. 111. 29) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 92 AktG Rz. 11; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 92 Rz. 5; K. Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 92 Rz. 10; Plagemann, NZG 2014, 207. 30) Henssler/Strohn-Dauner-Lieb, GesR, § 92 AktG Rz. 8; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 92 AktG Rz. 11; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 92 Rz. 10; Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 92 Rz. 12. 31) Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 34 Rz. 1435. 32) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 18 Rz. 114.

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Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder

§ 93

der Gesellschaft nach § 93 Abs. 2 auf Schadensersatz; der kausale Schadensnachweis dürfte allerdings nur schwer zu erbringen sein.33) Da die Norm die Information und den Schutz der Aktionäre bezweckt, ist § 92 kein Schutzgesetz i. S. des § 823 Abs. 2 BGB zugunsten der Gläubiger.34) In Bezug auf die Aktionäre ist der Schutzgesetzcharakter der Vorschrift hingegen umstritten. Nach einer Ansicht gewährt § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 92 AktG den Aktionären einen Schadensersatzanspruch.35) Eine Qualifikation als Schutzgesetz ist nach richtiger Ansicht jedoch zu verneinen, da § 92 die Aktionäre nicht individuell, sondern lediglich mittelbar in ihrer Gesamtheit schützen will, um die Handlungsfähigkeit der Hauptversammlung zu garantieren.36) II.

Zahlungsverbot nach § 92 Abs. 2 a. F.

Die Zahlungsverbote nach § 92 Abs. 2 a. F. wurden mit Wirkung vom 1.1.2021 durch das 13 SanInsFoG37) vom 22.12.2020 aufgehoben. Sie finden sich nun in modifizierter Weise in § 15b InsO. _____________ 33) Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 34 Rz. 1433; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 92 Rz. 12. 34) BGH, Urt. v. 9.7.1979 – II ZR 211/76, NJW 1979, 1829, 1831 = WM 1979, 853; K. Schmidt/LutterSailer-Coceani, AktG, § 92 Rz. 12; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 18 Rz. 116. 35) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 92 AktG Rz. 18; Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 92 Rz. 31; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 92 Rz. 21. 36) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 92 Rz. 12; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 92 Rz. 21; Hölters-Müller-Michaels, AktG, § 92 Rz. 28. 37) Art. 15 des Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetzes (SanInsFoG) v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256.

§ 93 Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder Simon Link

(1) 1Die Vorstandsmitglieder haben bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. 2Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. 3Über vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft, namentlich Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse, die den Vorstandsmitgliedern durch ihre Tätigkeit im Vorstand bekanntgeworden sind, haben sie Stillschweigen zu bewahren. (2) 1Vorstandsmitglieder, die ihre Pflichten verletzen, sind der Gesellschaft zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens als Gesamtschuldner verpflichtet. 2Ist streitig, ob sie die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewandt haben, so trifft sie die Beweislast. 3Schließt die Gesellschaft eine Versicherung zur Absicherung eines Vorstandsmitglieds gegen Risiken aus dessen beruflicher Tätigkeit für die Gesellschaft ab, ist ein Selbstbehalt von mindestens 10 Prozent des Schadens bis mindestens zur Höhe des Eineinhalbfachen der festen jährlichen Vergütung des Vorstandsmitglieds vorzusehen.

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§ 93

Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder

(3) Die Vorstandsmitglieder sind namentlich zum Ersatz verpflichtet, wenn entgegen diesem Gesetz 1. Einlagen an die Aktionäre zurückgewährt werden, 2. den Aktionären Zinsen oder Gewinnanteile gezahlt werden, 3. eigene Aktien der Gesellschaft oder einer anderen Gesellschaft gezeichnet, erworben, als Pfand genommen oder eingezogen werden, 4. Aktien vor der vollen Leistung des Ausgabebetrags ausgegeben werden, 5. Gesellschaftsvermögen verteilt wird, 6. (aufgehoben) 7. Vergütungen an Aufsichtsratsmitglieder gewährt werden, 8. Kredit gewährt wird, 9. bei der bedingten Kapitalerhöhung außerhalb des festgesetzten Zwecks oder vor der vollen Leistung des Gegenwerts Bezugsaktien ausgegeben werden. (4) 1Der Gesellschaft gegenüber tritt die Ersatzpflicht nicht ein, wenn die Handlung auf einem gesetzmäßigen Beschluß der Hauptversammlung beruht. 2Dadurch, daß der Aufsichtsrat die Handlung gebilligt hat, wird die Ersatzpflicht nicht ausgeschlossen. 3Die Gesellschaft kann erst drei Jahre nach der Entstehung des Anspruchs und nur dann auf Ersatzansprüche verzichten oder sich über sie vergleichen, wenn die Hauptversammlung zustimmt und nicht eine Minderheit, deren Anteile zusammen den zehnten Teil des Grundkapitals erreichen, zur Niederschrift Widerspruch erhebt. 4Die zeitliche Beschränkung gilt nicht, wenn der Ersatzpflichtige zahlungsunfähig ist und sich zur Abwendung des Insolvenzverfahrens mit seinen Gläubigern vergleicht oder wenn die Ersatzpflicht in einem Insolvenzplan geregelt wird. (5) 1Der Ersatzanspruch der Gesellschaft kann auch von den Gläubigern der Gesellschaft geltend gemacht werden, soweit sie von dieser keine Befriedigung erlangen können. 2Dies gilt jedoch in anderen Fällen als denen des Absatzes 3 nur dann, wenn die Vorstandsmitglieder die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters gröblich verletzt haben; Absatz 2 Satz 2 gilt sinngemäß. 3Den Gläubigern gegenüber wird die Ersatzpflicht weder durch einen Verzicht oder Vergleich der Gesellschaft noch dadurch aufgehoben, daß die Handlung auf einem Beschluß der Hauptversammlung beruht. 4 Ist über das Vermögen der Gesellschaft das Insolvenzverfahren eröffnet, so übt während dessen Dauer der Insolvenzverwalter oder der Sachwalter das Recht der Gläubiger gegen die Vorstandsmitglieder aus. (6) Die Ansprüche aus diesen Vorschriften verjähren bei Gesellschaften, die zum Zeitpunkt der Pflichtverletzung börsennotiert sind, in zehn Jahren, bei anderen Gesellschaften in fünf Jahren. Literatur: Altmeppen, Organhaftung wegen des Verjährenlassens von Ansprüchen der Kapitalgesellschaft, ZIP 2019, 1253; Bachmann, Die Geschäftsleiterhaftung im Fokus von Rechtsprechung und Rechtspolitik, BB 2015, 771; Bachmann, Zehn Thesen zur deutschen Business Judgment Rule, WM 2015, 105; Bachmann, Das „vernünftige“ Vorstandsmitglied – Zum richtigen Verständnis der deutschen Business Judgment Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG), in: Festschrift für Eberhard Stilz, 2014, S. 25; Bachmann, Gutachten E zum 70. Deutschen Juristentag 2014, in: Reform der Organhaftung? Materielles Haftungsrecht und seine Durchsetzung in privaten und öffentlichen Unternehmen, Empfehlung Nr. 9 zur Vorstandshaftung; Bachmann, Reformbedarf bei der Business Judgment Rule, ZHR 177 (2013) 1; Bachmann, Der „Deutsche Corporate Governance Kodex“: Rechtswirkungen und Haftungsrisiken, WM 2002, 2137; Balke/Klein, Vorstandshaftung für fehlerhafte Ausrichtung der Compliance-Organisation, Bedeutung von Compliance-Risikoanalyse und Business Judgement Rule, ZIP 2017, 2038; Balthasar/Hamelmann,

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Finanzkrise und Vorstandshaftung nach § 93 Abs. 2 AktG: Grenzen der Justiziabilität unternehmerischer Entscheidungen, WM 2010, 589; Bank, Die Verschwiegenheitspflicht von Organmitgliedern in Fällen multipler Organmitgliedschaften, NZG 2013, 801; Bauer, Zur Darlegungs- und Beweislast des Vorstands in organschaftlichen Haftungsprozesse, NZG 2015, 549; Baums, Kurzbeitrag Managerhaftung und Verjährung, ZHR 174 (2010) 593; Baur/Holle, Bußgeldregress im Kapitalgesellschaftsrecht nach der (Nicht-)Entscheidung des BAG, ZIP 2018, 459; Baur/Holle, Zur privilegierenden Wirkung der Business Judgment Rule bei Schaffung einer angemessenen Informationsgrundlage – Haften unbefangene Vorstandsmitglieder im Rahmen unternehmerischer Entscheidungen nur für grobe Fehler?, AG 2017, 597; Bayer/Scholz, Haftungsbegrenzung und D&O-Versicherung im Recht der aktienrechtlichen Organhaftung – Grundsatzüberlegungen zum 70. DJT, NZG 2014, 926; Bayer/Scholz, Organhaftung wegen Nichtdurchsetzung von Ansprüchen der Gesellschaft, NZG 2019, 201; Bicker, Legalitätspflicht des Vorstands – ohne Wenn und Aber?, AG 2014, 8; Binder, Mittelbare Einbringung eigener Aktien als Sacheinlage und Informationsgrundlagen von Finanzierungsentscheidungen in Vorstand und Aufsichtsrat, ZGR 2012, 757; Bings, Änderungen des DCGK betreffen Compliance Management Systeme, CCZ 2017, 118; Blasche, Auswirkungen von Verstößen gegen das KWG sowie von Abweichungen von den MaRisk auf die zivilrechtliche Haftung des Bankvorstands, WM 2011, 343; Blasche, Die Anwendung der Business Judgement Rule bei Kollegialentscheidungen und Vorliegen eines Interessenkonflikts bei einem der Vorstandsmitglieder, AG 2010, 692; Bosch/Lange, Unternehmerischer Handlungsspielraum des Vorstandes zwischen zivilrechtlicher Verantwortung und strafrechtlicher Sanktion, JZ 2009, 225; Böttcher, Compliance: DER IDW PS 980 – keine Lösung für alle (Haftungs-)Fälle!, NZG 2011, 1054; Böttcher, Bankvorstandshaftung im Rahmen der Sub-Prime Krise, NZG 2009, 1047; Brock, Legalitätspflicht des Geschäftsführers bei auslandsbezogenen Rechtsverletzungen, BB 2019, 1292; Brommer, Folgen einer reformierten Aktionärsklage für die Vorstandsinnenhaftung, AG 2013, 121; Buschmann, EU-Grünbuch zur Corporate Governance: Alter Wein in neuen Schläuchen?, NZG 2011, 87; Cahn, Business Judgement Rule und Rechtsfragen, Der Konzern 2015, 105; Cahn, Aufsichtsrat und Business Judgment Rule, WM 2013, 1293; Canaris, Hauptversammlungsbeschlüsse und Haftung der Verwaltungsmitglieder im Vertragskonzern, ZGR 1978, 207; Dauner-Lieb/Tettinger, Vorstandshaftung, D&O-Versicherung, Selbstbehalt, ZIP 2009, 1555; DAV (Handelsrechtsausschuss), Stellungnahme zur Verlängerung der Verjährungsfrist der aktienrechtlichen Organhaftung nach Art. 5 und 6 des Referentenentwurfs für ein Restrukturierungsgesetz, NZG 2010, 897; Deilmann/Otte, Verteidigung ausgeschiedener Organmitglieder gegen Schadensersatzklagen – Zugang zu Unterlagen der Gesellschaft, BB 2011, 1291; Diekmann/Fleischmann, Umgang mit Interessenkonflikten in Aufsichtsrat und Vorstand der Aktiengesellschaft, AG 2013, 141; Dietz-Vellmer, Hauptversammlungsbeschlüsse nach § 119 II AktG – geeignetes Mittel zur Haftungsvermeidung für Organe?, NZG 2014, 721; Dietz-Vellmer, Organhaftungsansprüche in der Aktiengesellschaft: Anforderungen an Verzicht oder Vergleich durch die Gesellschaft, NZG 2011, 248; Dreher, Ausstrahlungen des Aufsichtsrechts auf das Aktienrecht, ZGR 2010, 496; Dreher, Die kartellrechtliche Bußgeldverantwortlichkeit von Vorstandsmitgliedern – Vorstandshandeln zwischen aktienrechtlichem Legalitätsprinzip und kartellrechtlicher Unsicherheit, in: Festschrift für Horst Konzen, 2006, S. 85 ff.; Eisenberg, Die Sorgfaltspflicht im amerikanischen Gesellschaftsrecht, Der Konzern 2004, 386; Emde, Gesamtverantwortung und Ressortverantwortung im Vorstand der AG, in: Festschrift für Uwe H. Schneider, 2011, S. 295; v. Falkenhausen, Die Haftung außerhalb des Business Judgment Rule – Ist die Business Judgment Rule ein Haftungsprivileg für Vorstände?, NZG 2012, 644; Fischer, Haftung und Abberufung von Bankvorständen, DStR 2007, 1083; Fleischer, Aufsichtsratshaftung – Anspruchsverjährung Selbstbezichtigung: Das Easy-Software-Urteil des BGH, ZIP 2018, 2341; Fleischer, Ruinöse Managerhaftung: Reaktionsmöglichkeiten de lege lata und de lege ferenda, ZIP 2014, 1305; Fleischer, Verjährung von Organhaftungsansprüchen: Rechtspraxis – Rechtsvergleichung – Rechtspolitik, AG 2014, 457; Fleischer, Aktienrechtliche Compliance-Pflichten im Praxistest: Das Siemens/Neubürger-Urteil des LG München I, NZG 2014, 321; Fleischer, Verbotsirrtum und Vertrauen auf Rechtsrat im Europäischen Wettbewerbsrecht, EuZW 2013, 326; Fleischer, Vor-

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standshaftung und Vertrauen auf anwaltlichen Rat, NZG 2010, 121; Fleischer, Aktuelle Entwicklungen der Managerhaftung, NJW 2009, 2337; Fleischer, Vertrauen von Geschäftsleitern und Aufsichtsratsmitgliedern auf Informationen Dritter, ZIP 2009, 1397; Fleischer, Kompetenzüberschreitungen von Geschäftsleitern im Personen- und Kapitalgesellschaftsrecht. Schaden – rechtmäßiges Alternativverhalten – Vorteilsausgleichung, DStR 2009, 1204; Fleischer, Vorstandspflicht bei rechtswidrigen Hauptversammlungsbeschlüssen, BB 2005, 2025; Fleischer, Die „Business Judgment Rule“: Vom Richterrecht zur Kodifizierung, ZIP 2004, 685; Franz, Der gesetzliche Selbstbehalt in der D&O-Versicherung nach dem VorstAG – Wie weit geht das Einschussloch in der Schutzweste der Manager?, DB 2009, 2764; Freitag/Korch, Die Angemessenheit der Information im Rahmen der Business Judgment Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG), ZIP 2012, 2281; Freund, Konturierungen der Organpflichten von Geschäftsführern und Vorständen, GmbHR 2011, 238; Froesch, Managerhaftung – Risikominimierung durch Delegation?, DB 2009, 722; Gädtke, Impliziertes Verbot der D&O-Selbstbehaltsversicherung?, VersR 2009, 1565; Gädtke/ Wax, D&O-Selbstbehalt auf dem Prüfstand, AG 2010, 851; Goette, Grundsätzliche Verfolgungspflicht des Aufsichtsrats bei sorgfaltswidrig schädigendem Verhalten im AG-Vorstand?, ZHR 176 (2012) 588; Goette, Zur ARAG/GARMENBECK-Doktrin, in: Liber Amicorum für Martin Winter, 2011, S. 153; Goette, Leitung, Aufsicht, Haftung, in: Festschrift 50 Jahre BGH, 2000, S. 123; Grigoleit, Begründungslinien der Legalitätsverantwortung im Kapitalgesellschaftsrecht, in: Festschrift für Karsten Schmidt, Bd. 1, 2019, S. 367; Grooterhorst, Das Einsichtnahmerecht des ausgeschiedenen Vorstandsmitgliedes in Geschäftsunterlagen im Haftungsfall, AG 2011, 389; Grunewald, Rechtmäßiges Alternativverhalten – gibt es Besonderheiten im Gesellschaftsrechts?, in: Festschrift für Klaus J. Hopt, 2020, S. 325; Grunewald, Haftungsvereinbarungen zwischen Aktiengesellschaft und Vorstandsmitgliedern, AG 2013, 813; Guntermann, Der Gesamtschuldnerregress unter Vorstandsmitgliedern, AG 2017, 606; Habersack, 19 Jahre „ARAG/ Garmenbeck“ – und viele Fragen offen, NZG 2016, 321; Habersack, Perspektiven der aktienrechtlichen Organhaftung, ZHR 177 (2013) 782; Habersack, Die Legalitätspflicht des Vorstandes in der AG, in: Festschrift für Uwe H. Schneider, 2011, S. 429; Habersack, Managerhaftung, in: Karlsruher Forum 2009: Managerhaftung, S. 5; Habersack, Die UMTS-Auktion – ein Lehrstück des Aktienkonzerns, ZIP 2006, 1327; Habersack, Gesteigerte Überwachungspflichten des Leiters eines „sachnahen“ Vorstandsressorts?, WM 2005, 2360; Habersack/Schürnbrand, Die Rechtsnatur der Haftung aus §§ 93 Abs. 3 AktG, 43 Abs. 3 GmbHG, WM 2005, 957; Habscheid, Prozessuale Probleme hinsichtlich der „Geltendmachung von Gläubigerrechten“ durch den Konkursverwalter beim Konkurs einer Aktiengesellschaft (§ 93 Abs. 5 AktG), in: Festschrift für Friedrich Weber, 1975, S. 197; Haertlein, Vorstandshaftung wegen (Nicht-)Ausführung eines Gewinnverwendungsbeschlusses mit Dividendenausschüttung, ZHR 168 (2004) 437; Harbarth, Unternehmerisches Ermessen des Vorstands im Interessenkonflikt, in: Festschrift für Peter Hommelhoff, 2012, S. 323 Harbarth/Jaspers, Verlängerung der Verjährung von Organhaftungsansprüchen durch das Restrukturierungsgesetz, NZG 2011, 368; Harzenetter, der Selbstbehalt in der D&O-Versicherung nach dem VorstAG und der Neufassung des Deutschen Corporate Governance Kodex (DCKG), DStR 2010, 653; Hasselbach, Haftungsfreistellung für Vorstandsmitglieder, NZG 2016, 890; Hasselbach/Ebbinghaus, Anwendung der Business Judgement Rule bei unklarer Rechtslage, AG 2014, 873; Hasselbach/Seibel, Die Freistellung von Vorstandsmitgliedern und leitenden Angestellten von der Haftung für Kartellrechtsverstöße, AG 2008, 770; Hauschka, Ermessensentscheidungen bei der Unternehmensführung, GmbHR 2007, 11; Hefermehl, Zur Haftung der Vorstandsmitglieder bei Ausführung von Hauptversammlungsbeschlüssen, in: Festschrift für Wolfgang Schilling, 1973, S. 159; v. Hein, Vom Vorstandsvorsitzenden zum CEO?, ZHR 166 (2002) 464; Hellgardt, Wider die Legalitätspflicht im Kapitalgesellschaftsrecht, in: Festschrift Hopt, 2020, S. 403; Heyers, Gestaltungsperspektiven aktienrechtlicher Organhaftung am Beispiel der Regressansprüche der Gesellschaft infolge von Kartellordnungswidrigkeiten, WM 2016, 581; Hirte/Stoll, Die Enthaftung insolventer Geschäftsleiter und Aufsichtsratsmitglieder durch Abwendungsvergleich, ZIP 2010, 253; Hoffmann, Existenzvernichtende Haftung von Vorständen und Aufsichtsräten?, NJW 2012, 1393; Hohenstatt, Das Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung, ZIP 2009, 1349; Holle, Rechtsbindung und Business Judgment Rule, AG 2011,

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778; Hopt, Die Verantwortlichkeit von Vorstand und Aufsichtsrat: Grundsatz und Praxisprobleme – unter besonderer Berücksichtigung der Banken, ZIP 2013, 1793; Horn, Die Haftung des Vorstands der AG nach § 93 AktG und die Pflichten des Aufsichtsrats, ZIP 1997, 1129; Jaeger/ Balke, Zu den Auswirkungen des VorstAG auf bestehende Vorstandsdienstverträge, ZIP 2010, 1471; Jenne/Miller, Verjährungsbeginn und Selbstbezichtigung in der Organhaftung, AG 2019, 112; Junker/Biederbick, Dürfen Organmitglieder auf den Rat der Rechtsabteilung hören?, AG 2012, 898; van Kann, Zwingender Selbstbehalt bei der D&O-Versicherung – Gut gemeint, aber auch gut gemacht? – Änderungsbedarf an D&O-Versicherungen durch das VorstAG, NZG 2009, 1010; Kerst, Haftungsmanagement durch die D&O-Versicherung nach Einführung des aktienrechtlichen Selbstbehaltes in § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG, WM 2010, 594; Kindler, Vorstandsund Geschäftsführerhaftung mit Augenmaß – über einige neuere Grundsatzentscheidungen des II. Zivilsenats des BGH zu §§ 93 AktG und 43 GmbH, in: Festschrift für Wulf Goette, 2011, S. 231; Kleindiek, Organhaftung und Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens, in: Festschrift für Gerd Krieger, 2020, S. 489; Klöhn, Geschäftsleiterhaftung und unternehmensinterner Rechtsrat – wie unabhängig sind Unternehmensjuristen?, DB 2013, 1535; Koch, Begriff und Rechtsfolgen von Interessenkonflikten und Unabhängigkeit im Aktienrecht, ZGR 2014, 697; Koch, Regressreduzierung im Kapitalgesellschaftsrecht – eine Sammelreplik, AG 2014, 513; Koch, Die Anwendung der Business Judgment Rule bei Interessenkonflikten innerhalb des Vorstands, in: Festschrift für Franz Jürgen Säcker, 2011, S. 403; Koch, Einführung eines obligatorischen Selbstbehalts in der D&O-Versicherung durch das VorstAG, AG 2009, 637; Koch, Das Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG), ZGR 2006, 769; Koch/Dinkel, Die zivilrechtliche Haftung von Vorständen für unternehmerische Entscheidungen – Die geplante Kodifizierung der Business Judgment Rule im Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts, NZG 2004, 441; Kocher, Zur Reichweite der Business Judgment Rule, CCZ 2009, 215; Krekeler, Gesellschaftsrechtliche Aspekte des Risikomanagements, ZBB 2012, 351; Krieger, Rechtmäßiges Alternativverhalten bei Verletzung eines Zustimmungsvorbehalts eines Aufsichtsrats, in: Festschrift für Ulrich Seibert, 2019, S. 511; Krieger, Wie viele Rechtsberater braucht ein Geschäftsleiter?, ZGR 2012, 496; Lange, Die D&O-Selbstbehalt-Versicherung, RuS 2010, 92; Lange, Die Selbstbehaltvereinbarungspflicht gem. § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG n. F., VersR 2009, 1011; Langenbucher, Vorstandshaftung und Legalitätspflicht in regulierten Branchen, ZBB/JBB 2013, 16; Lorenz, Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Restrukturierung und geordneten Abwicklung von Kreditinstituten – Überblick und erste Einordnung, NZG 2010, 1046; Löbbe/Fischbach, Die Business Judgment Rule bei Kollegialentscheidungen des Vorstands, AG 2014, 717; Lutter, Zum Beschluss des Aufsichtsrats über den Verzicht auf eine Haftungsklage gegen den Vorstand, in: Festschrift für Michael Hoffmann-Becking, 2013, S. 747; Lutter, Bankenkrise und Organhaftung, ZIP 2009, 197; Lutter, Die Business Judgment Rule und ihre praktische Anwendung, ZIP 2007, 841; Lutter, Verhaltenspflichten von Organmitgliedern bei Interessenskonflikten, in: Festschrift für Hans-Joachim Priester, 2007, S. 417; Lutter, Interessenkonflikte und Business Judgment Rule, in: Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, Bd. 2, 2007, S. 245; Marsch-Barner, Vorteilsausgleich bei der Schadensersatzhaftung nach § 93 AktG, ZHR 173 (2009) 723; Mense/Klie, Deutscher Corporate Governance Kodex 2017 – Auswirkungen der aktuellen Änderungen für die Praxis, BB 2017, 771; Merkt/ Mylich, Einlage eigener Aktien und Rechtsrat durch den Aufsichtsrat – Zwei aktienrechtliche Fragen im Lichte der ISION-Entscheidung des BGH, NZG 2012, 525; Meyer, ComplianceVerantwortlichkeit von Vorstandsmitgliedern – Legalitätsprinzip und Risikomanagement, DB 2014, 1063; Moosmayer, Modethema oder Pflichtprogramm guter Unternehmensführung? – Zehn Thesen zu Compliance, NJW 2012, 3013; Müller, Geschäftsleiterhaftung und Vertrauen auf fachkundigen Rat, DB 2014, 1301; Olbrich/Kassing, Der Selbstbehalt in der D&O Versicherung: Gesetzliche Neuregelung lässt viele Fragen offen, BB 2009, 1659; Paefgen, Organhaftung: Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektiven, AG 2014, 554; Paefgen, Die Darlegungs- und Beweislast bei der Business Judgment Rule, NZG 2009, 891; Peltzer, Mehr Ausgewogenheit bei der Vorstandshaftung, in: Festschrift für Michael Hoffmann-Becking, 2013, S. 861; Redeke, Zu den Organpflichten bei bestandsgefährdenden Risiken, ZIP 2010, 159; Reichert, Existenzge-

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fährdung bei der Durchsetzung von Organhaftungsansprüchen, ZHR 177 (2013) 756; Säcker, Gesellschafts- und dienstvertragsrechtliche Fragen bei Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung, WuW 2009, 362; Schäfer, Die Binnenhaftung von Vorstand und Aufsichtsrat nach der Renovierung durch das UMAG, ZIP 2005, 1253; v. Schenk, Handlungsbedarf bei der D&O-Versicherung, NZG 2015, 494; Schneider, Uwe H., Anwaltlicher Rat zu unternehmerischen Entscheidungen bei Rechtsunsicherheit, DB 2011, 99; Schöne/Petersen, Regressansprüche gegen (ehemalige) Vorstandsmitglieder – quo vadis?, AG 2012, 700; Schnorbus/Klormann, Verzicht des Vorstands auf die Einrede der Verjährung nach § 93 Abs. 4 AktG und die Verfolgungspflicht des Aufsichtsrats nach ARAG/ Garmenbeck, NZG 2015, 938; Scholderer, Unabhängigkeit und Interessenkonflikte der Aufsichtsratsmitglieder, Systematik, Kodexänderung, Konsequenzen, NZG 2012, 168; Scholz, Die Haftung bei Verstößen gegen die Business Judgement Rule, AG 2015, 222; Schulz, Compliance-Management im Unternehmen – Grundfragen, Herausforderungen und Orientierungshilfen, BB 2017, 1475; Schürnbrand, Überwachung des insolvenzrechtlichen Zahlungsverbots durch den Aufsichtsrat, NZG 2010, 1207; Schwab, Vorstandsregress und Streitverkündung, NZG 2013, 521; Seibert, Das VorstAG – Regelungen zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung und zum Aufsichtsrat, WM 2009, 1489; Seibt, Deutscher Corporate Governance Kodex und Entsprechens-Erklärung (§ 161 AktG-E), AG 2002, 249; Seibt/Cziupka, 20 Thesen zur Compliance-Verantwortung im System der Organhaftung aus Anlass des Siemens/Neubürger-Urteils, DB 2014, 1598; Seibt/ Wollenschläger, Revision des Europäischen Transparenzregimes: Regelung der TRL 2013 und Umsetzungsbedarf, ZIP 2014, 545; Selter, Haftungsrisiken von Vorstandsmitgliedern bei fehlendem und von Aufsichtsratsmitgliedern bei vorhandenem Fachwissen, AG 2012, 11; Strohn, Beratung der Geschäftsleitung durch Spezialisten als Ausweg aus der Haftung?, ZHR 176 (2012) 137; Thole, Managerhaftung für Gesetzesverstöße – Die Legalitätspflicht des Vorstands gegenüber seiner Aktiengesellschaft, ZHR 173 (2009) 504; Thüsing, Das Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung, AG 2009, 517; Thüsing/Traut, Angemessener Selbstbehalt bei D&O-Versicherungen, NZA 2010, 140; Verse, Compliance im Konzern – Zur Legalitätskontrollpflicht der Geschäftsleiter einer Konzernobergesellschaft, ZHR 175 (2011) 401; Vetter, Aktienrechtliche Organhaftung und Satzungsautonomie – Überlegungen de lege ferenda, NZG 2014, 921; Wagner, Die Rolle der Rechtsabteilung bei fehlenden Rechtskenntnissen der Mitglieder von Vorstand und Geschäftsführung, BB 2012, 651; Wahlers/Wolff, Individualabreden zur Verhinderung der drohenden Verjährung von Organhaftungsansprüchen, AG 2011, 605; Waschbusch/Kiszka/Runco, Nachhaltigkeitsrisiken und Bankenaufsichtsrecht, BKR 2020, 615; Weiß/Buchner, Wird das UMAG die Haftung und Inanspruchnahme der Unternehmensleiter verändern?, WM 2005, 162; Wicke, Der CEO im Spannungsverhältnis zum Kollegialprinzip – Gestaltungsüberlegungen zur Leitungsstruktur der AG, NJW 2007, 3755; Zimmermann, Kartellrechtliche Bußgelder gegen Aktiengesellschaft und Vorstand: Rückgriffsmöglichkeiten, Schadensumfang und Verjährung, WM 2008, 433.

Übersicht I. Allgemeines ....................................... 1 II. Anwendungsbereich, zwingender Charakter .......................................... 2 III. Verhaltenspflichten und Sorgfaltsmaßstab (§ 93 Abs. 1) ................ 6 1. Allgemeines ........................................ 6 2. Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters (§ 93 Abs. 1 Satz 1) ........................... 7 a) Allgemeine Pflichten für das Handeln des Vorstands ............... 7 b) Legalitätspflicht ......................... 12 c) Organisationspflicht ................. 13

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d) Organisationspflicht i. R. der Legalitätspflicht .......................... 18 3. Sorgfaltspflichten bei unternehmerischen Entscheidungen – Business Judgement Rule ................. 22 a) Unternehmerische Entscheidung .................................... 26 b) Angemessene Informationen .... 31 aa) Auswahl von Informationsquellen ......................................... 31 bb) Unterstützung bei der Schaffung der Informationsgrundlage .............................................. 34

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Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder (1) Fachliche Qualifikation ............. 35 (2) Unabhängigkeit .......................... 36 (3) Umfassende Information .......... 39 (4) Plausibilitätskontrolle ................ 40 c) Im guten Glauben zum Wohl der Gesellschaft .......................... 42 d) Handeln ohne Sonderinteresse und sachfremde Einflüsse .......... 46 4. Organschaftliche Treupflicht .......... 51 5. Verschwiegenheitspflicht (§ 93 Abs. 1 Satz 3) .......................... 52 a) Vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft ......... 53 b) Umfang und Grenzen der Verschwiegenheitspflicht ................. 56 c) Rechtsfolgen bei Verstoß gegen die Verschwiegenheitspflicht .................................. 62 IV. Schadensersatzpflicht (§ 93 Abs. 2) ..................................... 63 1. Haftungsadressaten .......................... 64 2. Pflichtverletzung .............................. 65 3. Verschulden ...................................... 67 I.

§ 93

4. Schaden und Kausalität .................... 70 5. Regressreduzierung .......................... 74 6. Darlegungs- und Beweislast (§ 93 Abs. 2 Satz 2) .......................... 75 7. D&O-Versicherung (§ 93 Abs. 2 Satz 3) ............................................... 77 V. Sondertatbestände des § 93 Abs. 3 ........................................ 80 VI. Haftungsausschluss, Verzicht und Vergleich (§ 93 Abs. 4) ............ 81 1. Haftungsausschluss durch Hauptversammlungsbeschluss ................... 81 2. Verzicht und Vergleich .................... 85 VII. Anspruchsverfolgung ................... 91 1. Durch den Aufsichtsrat ................... 91 2. Durch Aktionäre .............................. 92 3. Durch Gesellschaftsgläubiger (§ 93 Abs. 5) ..................................... 93 VIII. Verjährung (§ 93 Abs. 6) ............. 99 IX. Allgemeines zur Schadensersatzpflicht des Vorstands gegenüber der Gesellschaft und gegenüber Dritten ............................................ 102

Allgemeines

§ 93 Abs. 1 regelt die allgemeinen Pflichten der Vorstandsmitglieder bei der Ausübung 1 ihres Amtes und die dabei anzuwendende Sorgfalt. Daneben gewährt § 93 Abs. 2 der Gesellschaft einen Anspruch auf Schadenersatz gegen Vorstandsmitglieder, die ihre Sorgfaltspflichten verletzen. Daneben verlangt er, dass bei Abschluss einer D&O-Versicherung für die Vorstandsmitglieder ein Selbstbehalt vorgesehen wird. § 93 Abs. 3 enthält einen Katalog von Sondertatbeständen, bei deren Vorliegen Vorstandsmitglieder schadensersatzpflichtig sind. Liegt dem Vorstandshandeln ein gesetzmäßiger Beschluss der Hauptversammlung zugrunde, scheidet gemäß § 93 Abs. 4 eine Schadensersatzpflicht aus. § 93 Abs. 4 beschränkt darüber hinaus die Möglichkeiten der Gesellschaft zum Vergleich über und Verzicht auf Schadensersatzansprüche. Die unmittelbare Anspruchsverfolgung durch die Gesellschaftsgläubiger ist gemäß § 93 Abs. 5 unter bestimmten Voraussetzungen möglich. § 93 Abs. 6 statuiert schließlich für Ansprüche von nicht börsennotierten AGs eine Verjährungsfrist von fünf, für börsennotierte AGs von zehn Jahren. II.

Anwendungsbereich, zwingender Charakter

Da § 93 für Vorstandsmitglieder gilt, beginnt die Haftung im Zeitpunkt der Aufnahme 2 der Vorstandstätigkeit mit Wissen des Aufsichtsrats, unabhängig davon, wann der Anstellungsvertrag in Kraft tritt.1) Wird das Vorstandsamt wirksam beendet, endet auch die Haftung nach § 93.2) Ein fehlerhaft bestelltes Vorstandsmitglied unterliegt bei Tätigwerden für die AG ebenfalls der Haftung aus § 93.3) _____________ 1) 2) 3)

Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 351; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 11, 13. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 37; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 2. BGH, Urt. v. 6.4.1964 – II ZR 75/62, BGHZ 41, 282 = NJW 1964, 1367 f.; Hopt/Roth in: GroßKommAktG, § 93 Rz. 358.

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3 § 93 gewährt grundsätzlich allein der Gesellschaft Ansprüche gegenüber den Vorstandsmitgliedern.4) Dem einzelnen Aktionär stehen aus dieser Norm keine Rechte gegenüber dem Vorstand zu.5) § 93 gilt auch nicht als Schutzgesetz i. S. des § 823 Abs. 2 BGB.6) 4 Auch innerhalb von Konzernbeziehungen gilt § 93.7) Kommt es zu nachteiligen Veranlassungen des Vorstands einer abhängigen Gesellschaft durch das herrschende Unternehmen, greifen jedoch weitgehend Sondervorschriften ein (§§ 310, 318, 323 Abs. 1 Satz 2 und 3).8) Der Vorstand des herrschenden Unternehmens haftet gegenüber der abhängigen Gesellschaft nach §§ 309, 317, 323 Abs. 1 Satz 2 und 3.9) Dem herrschenden Unternehmen haftet aber der eigene Vorstand nach § 93. 5 Da § 93 zwingendes Recht darstellt, kann von dieser Norm weder durch die Satzung noch durch einen Aufsichtsratsbeschluss oder den Anstellungsvertrag abgewichen werden.10) Weder eine Erleichterung noch eine Verschärfung der Haftung sind möglich.11) De lege ferenda ist zu erwägen, eine Regelung der Haftung in der Satzung, etwa in Form von Höchstbeträgen zuzulassen12) (zur Diskussion um eine Haftungserleichterung siehe unten Rz. 74 m. w. N.). III.

Verhaltenspflichten und Sorgfaltsmaßstab (§ 93 Abs. 1)

1.

Allgemeines

6 Nach § 93 Abs. 1 Satz 1 müssen die Vorstandsmitglieder bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anwenden. Diese Regelung erfüllt eine Doppelfunktion.13) Zum einen legt sie die objektiven Verhaltenspflichten des Vorstandes bei dessen Amtsführung fest.14) Zum anderen regelt sie den Verschuldensmaßstab, der i. R. des § 93 Abs. 2 Anwendung findet (siehe unten Rz. 67). § 93 Abs. 1 Satz 2 enthält die Business Judgement Rule, die dem Vorstand unter bestimmten Voraussetzungen einen Handlungsspielraum eröffnet, innerhalb dessen er nicht befürchten muss, sich durch eine Sorgfaltspflichtverletzung haftbar zu machen. § 93 Abs. 1 Satz 3 enthält die Vertraulichkeitspflicht, die eine besonders geregelte Ausprägung der Sorgfaltspflicht darstellt. 2.

Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters (§ 93 Abs. 1 Satz 1)

a)

Allgemeine Pflichten für das Handeln des Vorstands

7 Die Sorgfaltspflicht des § 93 Abs. 1 Satz 1 ist zunächst in Anknüpfung an § 76 zu sehen. Danach hat der Vorstand die AG in eigener Verantwortung zu leiten und dabei i. R. des in _____________ 4) Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 6; Krieger/Schneider-Krieger, Hdb. Managerhaftung, § 3 Rz. 3.2; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 1. 5) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 346; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 61. 6) BGH, Urt. v. 13.4.1994 – II ZR 16/93, BGHZ 125, 366, 375 = ZIP 1994, 867, 870; Hüffer/KochKoch, AktG, § 93 Rz. 61; Fleischer-Spindler, Hdb. VorstandsR, § 13 Rz. 41. 7) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 4. 8) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 3; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 10. 9) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 4. 10) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 47; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 11; Vetter, NZG 2014, 921, 922. 11) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 4, 5; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 3; a. A. Hoffmann, NJW 2012, 1393, 1395, der sich für eine Haftungsbegrenzung im Anstellungsvertrag ausspricht. 12) Bachmann, Gutachten E zum 70. DJT 2014, Empfehlung Nr. 9 zur Vorstandshaftung. 13) Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 93 Rz. 2; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 11; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 27. 14) Fleischer-Fleischer, Hdb. VorstandsR, § 7 Rz. 1; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 6.

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§ 93

der Satzung festgelegten Unternehmensgegenstands das Unternehmensinteresse zu fördern. Insbesondere hat er nach hier vertretener Auffassung den nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens und dessen dauerhafte Rentabilität anzustreben (siehe oben § 76 Rz. 41). § 93 Abs. 1 Satz 1 legt nun fest, dass er dies mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters zu tun hat, der nicht eigene, sondern gleich einem Treuhänder fremde Vermögensinteressen wahrnimmt.15) Deshalb muss er seine Entscheidungen an den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit ausrichten.16) Bei der Beurteilung der Sorgfalt des Vorstands ist auf ein Unternehmen der konkreten 8 Art abzustellen,17) so dass die wirtschaftliche Situation, die Art der Tätigkeit sowie die Größe des Unternehmens zu berücksichtigen sind. In verschiedenen Einzelnormen wird die Pflicht zur sorgfältigen Unternehmensführung bereits konkretisiert (z. B. §§ 76 Abs. 1, 80, 81, 83, 88, 90, 91, 92 AktG, § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO).18) Es versteht sich, dass der Vorstand nicht vorsätzlich zum Schaden der Gesellschaft han- 9 deln oder sich bei seinen Entscheidungen von sachfremden Gesichtspunkten leiten lassen darf.19) Er muss die profitable Entwicklung des Unternehmens fördern und Schaden von ihm abwenden. Dazu gehört es in der Regel, dass der Vorstand Ansprüche, die der Gesellschaft zukommen, auch geltend macht,20) es sei denn, dies liegt im Einzelfall nicht im Interesse des Unternehmens, etwa weil die Durchsetzung nicht wirtschaftlich wäre oder Nachteile auslösen würde, die den Wert des Anspruchs überkompensieren, wie z. B. der drohende Verlust eines Kunden. Die Sorgfaltspflicht des Vorstands ist ein normativer Maßstab. Eine eventuelle tatsächliche 10 Unfähigkeit des Geschäftsleiters führt nicht dazu, dass das Vorstandsmitglied von seiner Verantwortlichkeit frei würde.21) Auch Nachlässigkeiten, die bei anderen Unternehmen gängig sind, entlasten den Vorstand nicht.22) Hat aber ein Vorstandsmitglied besondere Fähigkeiten und Kenntnisse, so muss es diese auch zur Anwendung bringen und verletzt seine Sorgfaltspflicht, wenn es dies nicht tut.23) Bei der Beurteilung der Sorgfaltspflichten ist nach einer ex-ante-Betrachtung die Situation 11 zum Zeitpunkt der Vorstandsentscheidung maßgeblich.24) Wenn der Vorstand eine Ent_____________ 15) BGH, Urt. v. 20.2.1995 – II ZR 143/93, BGHZ 129, 30, 34 = ZIP 1995, 591, 592 – zum GmbHGeschäftsführer; OLG Koblenz, Urt. v. 10.6.1991 – 6 U 1650/89, ZIP 1991, 870, 871; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 58; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 6. 16) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 10. 17) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 6; HeidelU. Schmidt, AktR, § 93 Rz. 74. 18) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 6; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 21. 19) BGH, Urt. v. 27.9.1956 – II ZR 144/55, BGHZ 21, 354, 357 = WM 1956, 1753, 1754. 20) BGH, Urt. v. 9.12.1991 – II ZR 43/91, BGHR GmbHG § 43 Abs. 3 Kapitalersatz 1 = ZIP 1992, 108, 109 – zur GmbH; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 199; Mertens/Cahn in: KölnKommAktG, § 93 Rz. 89. 21) BGH, Urt. v. 14.3.1983 – II ZR 103/82, LM Nr. 11 § 43 GmbHG = ZIP 1983, 824; BGH, Urt. v. 20.2.1995 – II ZR 143/93, BGHZ 129, 30, 34 = ZIP 1995, 591, 592; Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 27; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 59. 22) Böttcher, NZG 2009, 1047, 1052. Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 25. 23) BGH, Urt. v. 20.2.1995 – II ZR 143/93, BGHZ 129, 30, 34 = ZIP 1995, 591; Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 27; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 12 a. E.; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 25. 24) BGH, Urt. v. 3.3.2008 – II ZR 124/06 (UMTS), BGHZ 175, 365 = ZIP 2008, 785, 786; BGH, Urt. v. 1.12.2008 – II ZR 102/07 (MPS), BGHZ 179, 71 = ZIP 2009, 70, 72, dazu EWiR 2009, 129 (Blasche); LG Essen, Urt. v. 25.4.2012 – 41 O 45/10 (Arcandor), ZIP 2012, 2061, 2062 = NZG 2012, 1307, 1309, dazu EWiR 2012, 645 (Redeke); Habersack, ZIP 2006, 1327, 1330 (Urteilsanm.); Spindler in: MünchKommAktG, § 93 Rz. 25.

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Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder

scheidung für ein bestimmtes Vorgehen sorgfältig getroffen hat, haftet er nicht dafür, dass sich diese Entscheidung später dennoch als falsch erweist.25) b)

Legalitätspflicht

12 Nach nahezu26) einhelliger Auffassung ist der Vorstand stets verpflichtet, bei seiner Unternehmensführung anwendbares Recht einzuhalten, die Geschäftsführung durch den Vorstand muss also rechtmäßig sein.27) Dies meint zum einen die Beachtung der Satzung und Geschäftsordnung28) sowie Hauptversammlungsbeschlüsse29) und damit die aktienrechtliche Kompetenzordnung als interne Bindung (vgl. § 82 Abs. 2).30) Zum anderen ist im Grundsatz auch eine externe Bindung an Vorschriften, welche die AG selbst einhalten muss, anerkannt.31) Die Begründung für das Bestehen letzterer Pflicht (auch) im Innenverhältnis zur Gesellschaft bereitet jedoch Schwierigkeiten, wenn der Rechtsbruch für diese eine Erhöhung des Gewinns auslösen würde (sog. nützlicher Rechtsbruch) und damit im Einklang mit der Pflicht zur Herbeiführung nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolgs stünde (siehe oben § 76 Rz. 41).32) Sie wird in diesen Fällen auf den Gedanken der Generalprävention33) oder einen allgemeinen Vorrang der Rechtsordnung gestützt.34) Von diesem Ausgangspunkt stellt sich die Frage der genauen Reichweite der Legalitätspflicht, welche noch nicht abschließend geklärt ist. Einfache Vertragsverletzungen werden von der h. M. überzeugend ausgeklammert,35) während sonstige Einschränkungen überwiegend abgelehnt werden.36) Verstößt der Vorstand ausschließlich gegen Normen ausländischen Rechts, erfordert der Geltungsanspruch der nationalen Rechtsordnung eine Sanktionierung nur für den Fall, dass auch deutsches Kollisionsrecht die Norm für anwendbar erklärt.37) c)

Organisationspflicht

13 Die Sorgfaltspflicht des § 93 Abs. 1 gilt nicht nur dann, wenn der Vorstand selbst Maßnahmen ergreift oder Entscheidungen trifft (wie z. B. über eine Investition, eine Änderung des _____________ 25) Eisenberg, Der Konzern 2004, 386, 394; Fleischer-Fleischer, Hdb. VorstandsR, § 7 Rz. 46; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 80; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 19; Spindler in: MünchKommAktG, § 93 Rz. 26. 26) S. aber Hellgardt in: FS Hopt, S. 403 ff. 27) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 6; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 63; Thole, ZHR 173 (2009) 504, 509 f. 28) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 7; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 13. 29) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 74. 30) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 20 ff. 31) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 28; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 7. 32) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 6; Grigoleit in: FS K. Schmidt, S. 367, 368 ff. 33) Grigoleit in: FS K. Schmidt, S. 367, 371 ff.; Habersack in: FS Uwe H. Schneider, S. 429, 435;, Die aktienrechtliche Legalitätspflicht, S. 37 f.; kritisch dazu Hellgardt in: FS Hopt, S. 403, 407 f. 34) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 6; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 29; kritisch dazu Hellgardt in: FS Hopt, S. 403, 408 f. 35) Habersack, NZG 2016, 321, 324; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 40; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 102. 36) Für umfassende Erfassung von Ordnungswidrigkeiten: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 6; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 28; Bicker, AG 2014, 8, 11; aufgrund nicht erforderlicher Generalprävention für eine generelle Ausklammerung von Ordnungswidrigkeiten und Deliktsverletzungen: Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, AktG, § 93 Rz. 17 f.; zumindest für eine Ausklammerung von Bagatellverstößen: Habersack in: FS Uwe H. Schneider, S. 429, 438 f. 37) Brock, BB 2019, 1292, 1294; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 6a; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 110; aufgrund fehlender generalpräventiver Gründe die Erfassung ausländischer Normen gänzlich ablehnend: Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, AktG, § 93 Rz. 19; für eine Erfassung ausländischer Normen unabhängig vom Kollisionsrecht, sofern sie nicht „totes Recht“ sind, Bicker AG 2014, 8, 12.

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Produktangebots oder ein Entwicklungsprojekt), sondern auch bei der Ausfüllung seiner Organisationspflicht: Je größer das Unternehmen der Gesellschaft ist, desto mehr tritt die Aufgabe in den Vordergrund, dieses durch Bildung einer Organisationsstruktur mit Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten, Berichtslinien und Überwachungs- und Kontrollmechanismen so zu organisieren, dass der Unternehmenszweck i. R. des Unternehmensgegenstands effektiv verfolgt werden kann.38) Bei dieser Aufgabe kommt dem Vorstand das Geschäftsleiterermessen nach der Business Judgement Rule zu (siehe hierzu unten Rz. 22).39) Eine ordnungsgemäße Unternehmensorganisation erfordert in der Regel eine angemesse- 14 ne Unternehmensplanung und -steuerung, ein zweckmäßiges System der Berichterstattung sowie ein effektives Controlling.40) Der Vorstand muss durch die gewählte Organisation in die Lage versetzt werden, sich jederzeit ein Bild von der wirtschaftlichen und finanziellen Situation der Gesellschaft zu machen, so dass er seine Pflichten erfüllen kann.41) Die Einrichtung eines Erkennungssystems für bestandsgefährdende Risiken nach § 91 Abs. 2 ist eine konkrete Ausprägung dieser Organisationspflicht.42) § 91 Abs. 3 schreibt für börsennotierte AGs die Einrichtung eines im Hinblick auf den Umfang der Geschäftstätigkeit und die Risikolage des Unternehmens angemessenen und wirksamen internen Kontrollsystems und Risikomanagementsystems vor. Auch außerhalb des Kreises börsennotierter Gesellschaften kann, abhängig von Größe und Komplexität der Unternehmensorganisation, die allgemeine Sorgfaltspflicht des Vorstands die Einrichtung entsprechender Systeme oder zumindest einzelner ihrer Elemente erfordern.43) Nicht einheitlich beantwortet wird in der Literatur die Frage, welche Rolle die Einhaltung 15 betriebswirtschaftlicher Standards für die Erfüllung der Organisationspflicht hat.44) Zuzustimmen ist zunächst der Auffassung, dass die Sorgfaltspflicht des Vorstands nicht die Umsetzung eines bestimmten betriebswirtschaftlichen Organisationsmodells erfordert.45) Ein solches Petitum scheitert schon daran, dass die betriebswirtschaftliche Forschung verschiedene Organisationsmodelle zur Auswahl stellt und deren Erkenntnisse im Laufe der Zeit einem Wandel unterliegen. Auch ist die theoretische Forschung stark ausdifferenziert. Sehr komplexe Organisationssysteme wird der Vorstand kleinerer und mittlerer Unternehmen so anpassen müssen, dass sie für die eigene Gesellschaft praktikabel sind. Deshalb verbietet es sich auch im Falle von Fehlentwicklungen, das praktisch eingesetzte Modell am theoretischen Ideal zu messen. Umgekehrt wird auch bestritten, dass die Anwendung eines bestimmten Management- 16 systems den Vorstand entlasten könne, da sonst die Beweislastregel des § 93 Abs. 2 aus_____________ 38) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 151, 153; Krekeler, ZBB 2012, 351, 352 f.; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 114; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 25 Rz. 7. 39) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 153, 156; Kort, in: GroßKomm-AktG, § 91 Rz. 66; Krekeler, ZBB 2012, 351, 354; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 115; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 79 ff. 40) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 67 ff.; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 9; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 25 Rz. 7 ff. 41) BGH, Urt. v. 19.6.2012 – II ZR 243/11, ZIP 2012, 1557, 1558 – zur GmbH, dazu EWiR 2012, 559 (Schodder); Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 153. 42) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 70; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 115; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 114. 43) Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 113. 44) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 36; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 37. 45) Böttcher, NZG 2011, 1054, 1055 f.; Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 91 Rz. 12; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 64; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 36 ff., 86; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 76 Rz. 17, § 91 Rz. 10; Moosmayer, NJW 2012, 3013, 3016 f.; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 91 Rz. 31.

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gehebelt würde.46) Dem ist in dieser Form nicht zuzustimmen.47) Zwar ist es richtig, dass nicht ein bestimmtes Modell unreflektiert übernommen werden kann. Aber wenn der Vorstand ein in Theorie und Praxis für ein bestimmtes Organisationsproblem anerkanntes Modell einsetzt und dabei geprüft hat, ob dieses auch den Besonderheiten und der Situation des eigenen Unternehmens angemessen ist, so hat er gerade die Anforderungen erfüllt, die § 93 Abs. 1 Satz 1 an ihn stellt. Indem er dies darlegt und ggf. beweist, kommt der Vorstand gerade der Darlegungs- und Beweislast nach, die § 93 Abs. 2 ihm auferlegt. Für einen solchen Beweis kann auch eine Zertifizierung oder das Testat eines Wirtschaftsprüfers bedeutend sein.48) Im Umkehrschluss heißt das nicht, dass eine Zertifizierung oder Testat zwingend erforderlich sind. 17 Hinsichtlich der Bedeutung des DCGK ist der h. M. zu folgen, wonach die Empfehlungen und Anregungen des Kodex nicht den Sorgfaltsmaßstab des § 93 konkretisieren. Folgt das Unternehmen einer Kodexempfehlung nicht, bedeutet dies daher keinen Sorgfaltsverstoß.49) Umgekehrt führt die Einhaltung des Kodex auch nicht zu einer Vermutung sorgfaltsgemäßen Handelns.50) Hierfür sind die Kodexempfehlungen in aller Regel zu abstrakt. d)

Organisationspflicht i. R. der Legalitätspflicht

18 Auch die Legalitätspflicht wandelt sich in einer arbeitsteiligen Organisation in die Pflicht, das Unternehmen so zu organisieren, dass anwendbare Rechtsvorschriften eingehalten werden.51) Was dazu erforderlich ist, hängt vom konkreten Unternehmen ab. 19 Es bedarf hier einer Abgrenzung von der absoluten Geltung der Legalitätspflicht, die keiner Abwägung der Vor- und Nachteile eines Rechtsverstoßes zugänglich ist, wenn der Vorstand selbst handelt (siehe hierzu oben Rz. 12). Bei der Aufgabe, das Unternehmen so zu organisieren, dass Rechtsverstöße vermieden werden, gilt zwar ebenfalls ein absolutes Verbot, Rechtsverstöße zu tolerieren. Im Übrigen muss der Vorstand aber im Einzelfall entscheiden, welche Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, um rechtmäßiges Verhalten der Organisation sicherzustellen.52) Je nach Tätigkeitsbereich des Unternehmens, Vertriebsmodellen, Präsenz in korruptionsanfälligen Absatzmärkten etc. bestehen große Unterschiede bei den erforderlichen Präventionsmaßnahmen. 20 Da keine Organisation denkbar ist, die alle Rechtsverstöße zuverlässig ausschließt, ist die Ausgestaltung der Organisation zur Einhaltung von Rechtsvorschriften einer Abwägung von Aufwand und Nutzen zugänglich.53) Der Vorstand muss mit der Sorgfalt des ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters entscheiden, welche Maßnahmen erforderlich und sinnvoll sind, um Rechtsverstöße des Unternehmens zu vermeiden.54) Dabei ist ihm nach hier vertretener Auffassung ein Beurteilungsspielraum nach den Grundsätzen der _____________ 46) Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 91 Rz. 12; Fleischer-Spindler, Hdb. VorstandsR, § 19 Rz. 66; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 37. 47) So wohl auch Dörner/Horváth/Kagermann-Hommelhoff/Mattheus, Praxis des Risikomanagements, S. 13 f., die von einer Vermutungswirkung sprechen. 48) Anders Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 37. 49) Bachmann, WM 2002, 2137, 2138 f.; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 33; Hüffer/KochKoch, AktG, § 161 Rz. 27; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 7; Spindler in: MünchKommAktG, § 93 Rz. 39, 42. 50) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 62; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 34; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 42.; a. A. Seibt, AG 2002, 249, 251. 51) Schulz, BB 2017, 1475, 1478; vgl. auch Grigoleit in: FS K. Schmidt, S. 367, 380 ff.; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 22 Rz. 590 ff.; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 67; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 35 ff., 39. 52) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 133 f. 53) Grigoleit in: FS K. Schmidt, S. 367, 383 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 6c. 54) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 39.

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Business Judgement Rule zuzubilligen.55) Die Anwendung anerkannter Compliance-Systeme unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Unternehmens ist geeignet, die Einhaltung der Sorgfaltsanforderungen des § 93 Abs. 1 nachzuweisen. Ab einer gewissen Größe und Risikoexposition der Gesellschaft wird der Vorstand aus § 93 auch verpflichtet sein, ein Compliance-System einzurichten.56) In seinem Anwendungsbereich begründet außerdem das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG)57) die Pflicht zur Einrichtung eines Risikomanagementsystems für menschenrechtliche und umweltbezogene Risiken (siehe hierzu § 76 Rz. 53a). Der DCGK empfiehlt in A. 2 Satz 1 i. d. F. vom 16.12.2019, ein Compliance-Manage- 21 ment-System einzurichten und dessen Grundzüge offenzulegen. Die genaue Ausgestaltung dieses Compliance-Management-Systems liegt dabei grundsätzlich im unternehmerischen Ermessen des Vorstands.58) Die Offenlegung des Systems kann bspw. an geeigneter Stelle im Geschäftsbericht erfolgen.59) Darüber hinaus soll für Beschäftigte gemäß A. 2 Satz 2 i. d. F. vom 16.12.2019 ein Whistleblower-System eingerichtet werden. Ein derartiges System kann entweder durch Schaffung von internen Strukturen oder durch Rückgriff auf einen externen Dienstleister etabliert werden.60) Die Öffnung des Whistleblower-Systems für Dritte ist lediglich als Anregung ausgestaltet. 3.

Sorgfaltspflichten bei unternehmerischen Entscheidungen – Business Judgement Rule

Eine Pflichtverletzung des Vorstandsmitglieds scheidet nach der in § 93 Abs. 1 Satz 2 nor- 22 mierten Business Judgement Rule aus, wenn das Vorstandsmitglied auf Grundlage angemessener Informationen davon ausgehen durfte, zum Wohl der Gesellschaft zu handeln. Dieser Grundsatz wurde 2005 durch das UMAG61) in das Aktienrecht aufgenommen.62) In der Rechtsprechung des BGH war das Interesse am Schutz eines weiten unternehmerischen Handlungsspielraums als Basis des unternehmerischen Handelns bereits zuvor anerkannt.63) Die Business Judgement Rule erfüllt die Funktion, zu verhindern, dass im Falle von nach- 23 teiligen Entwicklungen in der rückschauenden Aufarbeitung durch die Gerichte die Haftung des Vorstands doch zu einer Erfolgshaftung gerät.64) Denn obwohl anerkannt ist, dass die Einhaltung der Sorgfaltsanforderungen aus der ex-ante-Sicht zu beurteilen ist (siehe oben Rz. 11), ist dies in der Praxis nicht ganz leicht umzusetzen. Wenn es zu einer gerichtlichen Entscheidung kommt, hat sich bereits erwiesen, dass die ursprüngliche Entscheidung des Vorstands falsch war und zu einem Schaden für die Gesellschaft geführt hat. Das erscheint in _____________ 55) Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 22 Rz. 595; Schulz, BB 2017, 1475, 1478; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 40. 56) Bachmann, ZIP 2014, 579, 580 (Urteilsanm.); Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 91 AktG Rz. 47; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 8. 57) Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten (Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz – LkSG) v. 16.7.2021, BGBl. I 2021, 2959. 58) Fleischer, NZG 2014, 321, 324; Meyer, DB 2014, 1063, 1065; Schulz, BB 2017, 1475, 1478; Seibt/ Cziupka, DB 2014, 1598, 1599 f. 59) Bings, CCZ 2017, 118, 119; Mense/Klie, BB 2017, 771, 773 f. 60) Mense/Klie, BB 2017, 771, 774. 61) Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) v. 22.9.2005, BGBl. I 2005, 2802. 62) Begr. RegE UMAG, BR-Drucks. 3/05, S. 18 f. 63) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95 (ARAG/Garmenbeck), BGHZ 135, 244, 253 = ZIP 1997, 883, 885 f.; BGH, Urt. v. 3.12.2001 – II ZR 308/99, ZIP 2002, 213, 214 = DB 2002, 473, dazu EWiR 2002, 341 (Schäfer) – zur Genossenschaft; Henssler/Strohn-Dauner-Lieb, GesR, § 93 AktG Rz. 17; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 43. 64) Vgl. Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 61.

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der rückschauenden Perspektive stets viel vorhersehbarer, als es zum Entscheidungszeitpunkt tatsächlich war (sog. Hindsight-Bias).65) Dieses Problem wird noch durch die Beweislastregel des § 93 Abs. 2 verschärft. Deshalb bildet die Business Judgement Rule ein Gegengewicht, indem sie bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen dem Vorstand einen gerichtlich nicht nachprüfbaren Beurteilungsspielraum einräumt, innerhalb dessen er nicht haftet, auch wenn sich die getroffene Entscheidung später als falsch erweist und es zu einem Schaden für die Gesellschaft kommt.66) 24 Tatbestandlich setzt die Business Judgement Rule folgendes voraus:67) – eine unternehmerische Entscheidung des Vorstands; – auf Basis angemessener Informationen; – im guten Glauben zum Wohl der Gesellschaft; – Handeln ohne Sonderinteressen und sachfremde Einflüsse. 25 Schon die Pflichtverletzung, nicht erst das Verschulden, scheidet aus, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 erfüllt sind. Die Norm hat also einen materiell-rechtlichen Inhalt und dient nicht nur der Regelung der Beweislast.68) Umgekehrt liegt nicht bereits dann eine Pflichtverletzung des Vorstands vor, wenn sein Handeln nicht den Anforderungen der Business Judgement Rule entspricht.69) In diesem Fall muss die Pflichtverletzung unter Berücksichtigung der Beweislastregel zulasten des Vorstandsmitglieds gemäß § 93 Abs. 2 Satz 2 durch das Gericht festgestellt werden.70) a)

Unternehmerische Entscheidung

26 Die Business Judgement Rule ist nur im Falle einer unternehmerischen Entscheidung des Vorstands anwendbar. Voraussetzung ist also, dass der Vorstand die Freiheit hat, zwischen verschiedenen Handlungsalternativen zu wählen und nach unternehmerischer Zweckmäßigkeit zu entscheiden.71) Daran fehlt es gerade bei rechtlich gebundenen Entscheidungen. Hier trifft der Vorstand keine bewusste unternehmerische Entscheidung, sondern muss dem Normbefehl folgen.72) 27 Die Pflichtaufgaben des Vorstands (z. B. §§ 83, 90, 91 Abs. 1, 92, 124 Abs. 3, 131, 161, 170 Abs. 1) unterfallen als gebundene Entscheidungen nicht der Business Judgement Rule.73) In diese Entscheidungskategorie fallen auch Pflichten, die sich aus der Satzung, dem Anstellungsvertrag oder der Geschäftsordnung ergeben.74) 28 Nach hier vertretener Auffassung verbleibt dem Vorstand stets ein eigener Gestaltungsspielraum, wenn es darum geht, die Unternehmensorganisation so auszurichten, dass rechtlichen _____________ 65) Balke/Klein, ZIP 2017, 2038, 2043; Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 93 Rz. 9; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 61 und Rz. 63. 66) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 18 f. 67) Die beiden letztgenannten sind nach der Gesetzesbegründung implizit normierte Tatbestandsmerkmale, Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11 f.; zur sachlichen Unbefangenheit eingehend: Koch in: FS Säcker, S. 403, 405 ff. 68) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 14; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 19. 69) Bachmann, WM 2015, 105, 107; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 20; Spindler in: MünchKommAktG, § 93 Rz. 47; a. A. Scholz, AG 2015, 222, 223 ff. 70) Bachmann in: FS Stilz, S. 25, 27 f.; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 14. 71) Lutter, ZIP 2007, 841, 843. 72) Begr. RegE UMAG, BR-Drucks. 3/05, S. 19; Lutter, ZIP 2007, 841, 843; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 21. 73) Koch, ZGR 2006, 769, 784 f.; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 15; Weiß/Buchner, WM 2005, 162, 163. 74) Begr. RegE UMAG, BR-Drucks. 3/05, S. 19; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 74, 79; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 16; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 21.

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Vorgaben entsprochen wird. Auch wenn das Gesetz konkret bestimmte Organisationsmaßnahmen, wie etwa die Einrichtung eines Frühwarnsystems i. S. des § 91 Abs. 2, verlangt, bleibt dem Vorstand somit ein Beurteilungs- oder Ermessensspielraum für die konkrete Ausgestaltung.75) In diesen Fällen ist die Anwendbarkeit der Business Judgement Rule umstritten.76) Teil- 29 weise wird die unmittelbare Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 aufgrund des Wortlauts und Sinn und Zwecks der Norm abgelehnt, zugleich aber von einem vergleichbaren, auf anderer Grundlage beruhenden, Beurteilungsspielraum ausgegangen. Vertreter dieser Auffassung halten die Business Judgement Rule insofern nur für eine Teilkodifizierung unternehmerischer Entscheidungen.77) Den Vorzug verdient die erstgenannte Auffassung, da dem Vorstand i. R. seiner Aufgaben ein Ermessensspielraum verbleibt und sein Handeln somit gerade nicht durch das Gesetz oder eine andere Rechtsquelle gebunden ist. Deshalb ist es als unternehmerisches Handeln zu qualifizieren.78) Auch wenn der Vorstand im Falle einer unklaren oder umstrittenen Rechtslage eine Ent- 30 scheidung treffen muss, sollte die Business Judgement Rule Anwendung finden.79) Die Situation entspricht aus haftungsrechtlicher Sicht derjenigen, dass er eine unternehmerische Entscheidung fällt, da es gerade mehrere Rechtsmeinungen gibt, die gut vertretbar sind, und damit das Risiko einer abweichenden Beurteilung durch die Gerichte im Nachhinein besteht.80) Die Entscheidung des Vorstands bei unklarer Rechtslage ist folglich genau wie die unternehmerische Entscheidung im engeren Sinne mit Unsicherheit behaftet, so dass der Schutz der Business Judgement Rule gewährt werden sollte. Dabei ist es dann auch nicht erforderlich, dass der Vorstand einer sog. „am besten vertretbaren“ Rechtsauffassung (die es in der Praxis in vielen Fällen nicht gibt) folgt.81) Lediglich in Fällen, in denen eine etablierte, obergerichtlich gefestigte Rechtsprechung besteht, bedarf es wohl besonderer Gründe und besonders sorgfältiger Abwägung der damit verbundenen Risiken, wenn sich der Vorstand entscheidet, dieser nicht zu folgen.82) Liegen diese Voraussetzungen vor, handelt der Vorstand dann nach hier vertretener Auffassung dennoch i. R. des ihm zukommenden Ermessensspielraums.

_____________ 75) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 70; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 22. 76) Überblick bei Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 75 f. 77) Bicker, AG 2014, 8 f.; Cahn, WM 2013, 1293, 1294; Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, AktG, § 93 Rz. 21; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 88; Habersack in: FS Uwe H. Schneider, S. 429, 436 f.; Habersack in: Karlsruher Forum 2009, S. 28 f.; Holle, AG 2011, 778 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 11; Paefgen, AG 2014, 554, 558 ff. 78) Bachmann, ZIP 2014, 579, 580 f. (Urteilsanm.); Bachmann, ZHR 177 (2013) 1, 8 f.; Balke/Klein, ZIP 2017, 2038, 2043; Hasselbach/Ebbinghaus, AG 2014, 873, 875 ff.; Hauschka, GmbHR 2007, 11, 12 f.; Hopt in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 75 f.; Kocher, CCZ 2009, 215, 217 ff.; Mertens/Cahn in: KölnKommAktG, § 93 Rz. 19; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 20; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 115; v. Falkenhausen, NZG 2012, 644, 647. 79) Cahn, Der Konzern 2015, 105, 106 ff.; Hasselbach/Ebbinghaus, AG 2014, 873, 882; K. Schmidt/LutterSailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 16; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 22; umfassend dazu Grigoleit in: FS K. Schmidt, S. 367, 376 ff. 80) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 16. 81) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 16; Grigoleit in: FS K. Schmidt, S. 367, 378 f.; a. A. Langenbucher, ZBB/JBB 2013, 16, 22. 82) BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09 (Ision), ZIP 2011, 2097 = NZG 2011, 1271, dazu EWiR 2011, 793 (Vetter); Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 38; Haertlein, ZHR 168 (2004) 437, 463; Hopt/ Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 138; Thole, ZHR 173 (2009) 504, 524.

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Angemessene Informationen

aa)

Auswahl von Informationsquellen

31 § 93 Abs. 1 Satz 2 findet nur Anwendung, wenn die als Entscheidungsgrundlage erforderlichen Informationen sorgfältig ermittelt83) und gründlich vorbereitet wurden.84) Diese Voraussetzung ist aus Sicht des jeweiligen Vorstandsmitglieds zu beurteilen.85) Im Zeitpunkt der Entscheidung muss das Vorstandsmitglied die Information vernünftigerweise als angemessen eingeschätzt haben. Da der Wortlaut der Norm eine angemessene Information verlangt, genügt eine Informationseinholung, die der konkreten Entscheidungssituation unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Zeit und der Zugänglichkeit der Informationen gerecht wird.86) Die vom BGH aufgestellte Anforderung, die Geschäftsleitung habe „in der konkreten Entscheidungssituation alle verfügbaren Informationsquellen tatsächlicher und rechtlicher Art“ auszuschöpfen,87) geht deshalb zu weit.88) Vielmehr ist dem Vorstand gerade auch bei der Frage der Angemessenheit der Informationsgrundlage ein Beurteilungsspielraum zuzubilligen.89) 32 Dies ist schon deshalb erforderlich, um Tendenzen in der Rechtsprechung entgegenzuwirken, die die Business Judgement Rule durch überzogene Anforderungen an die Informationsgrundlage90) auszuhebeln drohen.91) Denn ebenso wie es in der rückblickenden Beurteilung immer so wirkt, als habe sich aufdrängen müssen, dass die vom Vorstand getroffene Entscheidung zu einem Schaden für das Unternehmen führen wird, wird sich rückblickend immer auch noch eine weitere Informationsquelle finden, die, wäre sie nur ausgeschöpft worden, die Fehleinschätzung des Vorstands offensichtlich hätte werden lassen. 33 Vor dem Hintergrund der strengen Position des BGH (die allerdings auch Raum für die Berücksichtigung der konkreten Entscheidungssituation lässt)92) wird es sich aber in der Praxis dennoch empfehlen, alle greifbaren Informationsquellen, deren Nutzung im konkreten Fall möglich und vertretbar ist, heranzuziehen. Ebenso große Bedeutung kommt der Dokumentation der genutzten Informationsquellen zu. Denn dafür, dass die Informationsgrundlage angemessen war, trägt der Vorstand die Beweislast und gerade dieser Beweis lässt sich im Nachhinein schwer führen, wenn der Entscheidungsprozess nicht hin_____________ 83) BGH, Beschl. v. 14.7.2008 – II ZR 202/07, ZIP 2008, 1675, 1676 f. = NJW 2008, 3361, 3362 f.; – zur GmbH; BGH, Beschl. v. 3.11.2008 – II ZR 236/07, ZIP 2009, 223 = AG 2009, 117 – zur Genossenschaft; Fleischer-Fleischer, Hdb. VorstandsR, § 7 Rz. 58. 84) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 89. 85) Begr. RegE UMAG, BR-Drucks. 3/05, S. 20 f.; BGH, Beschl. v. 3.11.2008 – II ZR 236/07, ZIP 2009, 223 = AG 2009, 117. 86) Begr. RegE UMAG, BR-Drucks. 3/05, S. 20; OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 15.6.2011 – 21W 18/11 (Commerzbank/Dresdner Bank), ZIP 2011, 1764 = AG 2011, 755, dazu EWiR 2011, 725 (Mock); Baur/Holle, AG 2017, 597, 603; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 17; Lutter, ZIP 2007, 841, 844 f.; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 33. 87) BGH, Beschl. v. 14.7.2008 – II ZR 202/07, ZIP 2008, 1675, 1676 = NJW 2008, 3361, 3362. 88) So auch Goette in: FS 50 Jahre BGH, S. 123, 140 f.; kritisch hierzu Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 91; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 20; vgl. auch Kindler in: FS Goette, S. 231, 232 f.; noch weitergehend Freitag/Korch, ZIP 2012, 2281, 2284 f., die die Business Judgement Rule auch auf die Informationsgrundlage anwenden wollen. 89) OLG Celle, Urt. v. 28.5.2008 – 9 U 184/07, WM 2008, 1745, 1746= AG 2008, 711; Bosch/Lange, JZ 2009, 225, 231; Schäfer, ZIP 2005, 1253, 1258; Heidel-U. Schmidt, AktR, § 93 AktG Rz. 87. 90) BGH, Urt. v. 22.2.2011 – II ZR 146/09, NZG 2011 549, 551 = ZIP 2011, 766; BGH, Urt. v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, Rz. 30, ZIP 2013, 1712 = GmbHR 2013, 1044, dazu EWiR 2013, 775 (Weipert) – zur GmbH. 91) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 17. 92) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 20; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 57.

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Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder

§ 93

reichend dokumentiert wurde.93) In der Praxis bietet es sich insbesondere an, die der Entscheidung zugrunde liegenden Informationen in ausführlichen Vorstandsvorlagen zu dokumentieren. bb)

Unterstützung bei der Schaffung der Informationsgrundlage

Bei der Beschaffung der Informationen, die Grundlage seiner Entscheidung sind, kann 34 sich der Vorstand durch Mitarbeiter des Unternehmens sowie durch externe Berater unterstützen lassen. Wenn er selbst nicht über die erforderliche Sachkunde verfügt, ist er hierzu sogar verpflichtet.94) Es gelten dann die allgemeinen Grundsätze der Delegation von Geschäftsführungsaufgaben. Der Vorstand muss seine Ratgeber sorgfältig auswählen, und instruieren und deren Arbeit in geeigneter Form kontrollieren. Besonders differenzierte Anforderungen hat die Rechtsprechung für die Einholung von Rechtsrat durch den Vorstand entwickelt.95) Diese dürften, ggf. in vereinfachter Form, für jede Einholung von Expertenrat gelten.96) Danach muss der Vorstand einen sachlich qualifizierten Berater auswählen, der in der Lage ist, seinen Rat zu erteilen, ohne dabei von Eigeninteressen beeinflusst zu werden. Dabei kann es sich auch um unternehmensinterne Mitarbeiter handeln.97) Er muss den Berater so umfassend informieren, dass er seine Aufgabe erfüllen kann. Den erteilten Rat muss der Vorstand einer Plausibilitätskontrolle unterziehen. (1)

Fachliche Qualifikation

Ob der Ratgeber tatsächlich über die erforderliche Fachkompetenz verfügt, muss der Vor- 35 stand im Hinblick auf die von ihm eingeschaltete Auskunftsperson individuell und kritisch überprüfen bzw. hinterfragen.98) Dennoch ist es nicht erforderlich, dass die fachliche Geeignetheit durch eine Formalqualifikation, wie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgruppe oder einen Fachanwaltstitel, nachgewiesen wird.99) (2)

Unabhängigkeit

Die Unabhängigkeit des Ratgebers setzt grundsätzlich voraus, dass kein Interessenkonflikt 36 vorliegt.100) Eine Abhängigkeit ist nicht bereits dadurch indiziert, dass ein anwaltlicher Berater bereits vorab mit dem Fall befasst war101) oder der Ratgeber regelmäßig durch die AG beauftragt wird.102) Insofern kann es jedoch angezeigt sein, stichprobenartig Gegenmeinungen einzuholen. Ergeben sich Anhaltspunkte dafür, die an der Objektivität des Ratgebers Zweifel aufkommen lassen, müssen weitere Anwälte eingeschaltet werden.103) _____________ 93) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 81, 125, 438. 94) BGH, Urt. v. 14.5.2007 – II ZR 48/06, ZIP 2007, 1265, 1266 f. = NJW 2007, 2118, 2120, dazu EWiR 2007, 495 (Henkel/Mock); BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09 (Ision), ZIP 2011, 2097, 2099 = AG 2011, 876, 877; BGH, Urt. v. 27.3.2012 – II ZR 171/10, ZIP 2012, 1174, 1175 = WM 2012, 1124, 1126, dazu EWiR 2012, 457 (Wackerbarth); Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 108. 95) BGH, Urt. v. 20.09.2011 – II ZR 234/09 (Ision), ZIP 2011, 2097, 2099 = AG 2011, 876, 877 f.; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 139. 96) Kritisch Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 110. 97) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 109, 139. 98) OLG Stuttgart, Urt. v. 25.11.2009 – 20 U 5/09, ZIP 2009, 2386, 2389 = WM 2010, 120, 123, dazu EWiR 2010, 477 (Becker/Laubinger); Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 35. 99) Binder, ZGR 2012, 757, 770; Müller, DB 2014, 1301, 1302. 100) Fleischer, ZIP 2009, 1397, 1403; Merkt/Mylich, NZG 2012, 525, 528; Selter, AG 2012, 11, 14 f. 101) Krieger, ZGR 2012, 496, 500 f.; a. A. Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 249b; Strohn, ZHR 176 (2012) 137, 139 f. 102) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 94. 103) Krieger, ZGR 2012, 496, 501.

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§ 93

Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder

37 Grundsätzlich verfügt auch die Rechtsabteilung selbst über die notwendige Unabhängigkeit.104) Die „wirtschaftliche Abhängigkeit“ der Unternehmensjuristen von der AG als Arbeitgeber kann im Zweifel nicht anders zu beurteilen sein als bei externen Rechtsanwaltskanzleien, die von einem Unternehmen als wichtigem Groß- oder Dauermandant abhängen.105) Jedenfalls ist der Unternehmensjurist arbeitsvertraglich verpflichtet, Schaden von der Gesellschaft abzuwehren und unterliegt im Falle von strafrechtlich relevantem Verhalten der Strafverfolgung.106) Eine kritische Prüfung der Unabhängigkeit im Einzelfall ist dennoch angezeigt.107) Die Entlastungswirkung, die einem externen Ratgeber zukommt, wird in der Regel als höher eingestuft, da keine Weisungsabhängigkeit besteht.108) Dieser Grundsatz scheint sich auf europäischer Ebene verstärkt durchzusetzen.109) 38 Da jeder interne wie externe Experte bei der Erteilung seines Rates auch wirtschaftliche Ziele verfolgt und nicht seinen Auftrag verlieren bzw. auch den nächsten Auftrag für sich gewinnen bzw. seinen Arbeitsplatz behalten will, lässt sich eine gewisse Tendenz, ein (vermeintlich) gewünschtes Ergebnis zu liefern, nie gänzlich ausschließen. Gerade deshalb sollte der Fokus stärker darauf gelegt werden, dass der jeweilige Berater ernsthaft und glaubhaft dahingehend instruiert wird, dass eine unvoreingenommene Prüfung der zur Begutachtung stehenden Frage zu erfolgen hat.110) (3)

Umfassende Information

39 Des Weiteren muss der Vorstand den Ratgeber vorab informieren und dazu umfassend die für die anstehende Begutachtung relevanten Verhältnisse der Gesellschaft offenlegen und die erforderlichen Unterlagen zur Verfügung stellen.111) Gibt der Vorstand Informationen nicht heraus, weil er sie für unwichtig erachtete, gereicht ihm dies nicht zum Nachteil, wenn ihm dies nicht vorwerfbar ist.112) (4)

Plausibilitätskontrolle

40 Darüber hinaus entfaltet der eingeholte Rat nur dann haftungsausschließende Wirkung, wenn der Vorstand diesen einer Plausibilitätskontrolle unterzieht.113) In der Ision-Entscheidung hielt der BGH die nur mündliche gegebene Auskunft für ungeeignet, weil sich, ungeachtet der Frage, ob die Plausibilitätskontrolle durchgeführt worden war, nicht fest_____________ 104) Fleischer, ZIP 2009, 1397, 1403; Junker/Biederbick, AG 2012, 898 ff.; Krieger, ZGR 2012, 496, 502; Selter, AG 2012, 11, 14 f.; Strohn, ZHR 176 (2012) 137, 140 f.; Wagner, BB 2012, 651, 655 f.; zurückhaltender Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 249b; Uwe H. Schneider, DB 2011, 99, 102; Vetter, EWiR 2011, 793, 794 (Urteilsanm.). 105) Freund, GmbHR 2011, 238, 240; Junker/Biederbick, AG 2012, 898, 902. 106) Fleischer, NZG 2010, 121, 123; Klöhn, DB 2013, 1535, 1538 f.; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 94. 107) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 35. 108) Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 249b. 109) Vgl. EuGH, Urt. v. 14.9.2010 – C-550/07 P (Akzo Nobel), NJW 2010, 3557, 3560 = ZIP 2010, 1941, 1943 – zum Anwaltsprivileg, dazu EWiR 2010, 835 (Engelhoven/Todt); EuGH, Schlussanträge GA Juliane Kokott v. 28.2.2013 im Verfahren C-681/11 (Schenker), NZKart 2013, 147, 150; kritisch dazu Fleischer, EuZW 2013, 326, 329. 110) In diese Richtung auch BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, Rz. 36, ZIP 2015, 1220, 1223 = AG 2015, 535. 111) BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09 (Ision), ZIP 2011, 2097, 2099 = AG 2011, 876, 877; BGH, Urt. v. 14.5.2007 – II ZR 48/06, ZIP 2007, 1265, 1267 = NJW 2007, 2118; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 35. 112) Fleischer, NZG 2010, 121, 124; zurückhaltender Strohn, ZHR 176 (2012) 137, 139. 113) BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09 (Ision), ZIP 2011, 2097, 2099 f. = AG 2011, 876, 877 f.; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 36; kritisch dazu Krieger, ZGR 2012, 496, 502.

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Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder

§ 93

stellen ließ, ob diese Auskunft überhaupt einer solchen Kontrolle zugänglich war.114) Ohnehin empfiehlt sich eine schriftliche Dokumentation zu Beweiszwecken.115) Der Umfang der offengelegten Informationen, der zur Verfügung gestellt wurde, sollte in einem schriftlichen Gutachten aus den gleichen Gründen dokumentiert werden.116) Auch die Plausibilitätsprüfung als solche müssen die Vorstandsmitglieder im Einzelfall 41 darlegen und beweisen.117) Insofern bieten sich die Erörterung der Auskunft in der Vorstandssitzung, in der über die Maßnahme entschieden wird, und eine Protokollierung der Diskussion an.118) Wie hoch die Anforderungen an die Plausibilitätskontrolle des Vorstands sind, ist umstritten. Nach einer Ansicht müsse sich der Vorstand nach seinem laienhaften Verständnis von der Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit der Auskunft überzeugen.119) Bei Widersprüchen, oberflächlicher Bearbeitung, mangelhafter Gewichtung unterschiedlicher Interessen oder nicht erkennbarer Berücksichtigung ober- und höchstrichterlicher Rechtsprechung sei die Plausibilität abzulehnen. Bei Zugrundelegung eines laienhaften Verständnisses als Ausgangspunkt für die Plausibilitätskontrolle erscheint es hingegen überzeugender, keine überhöhten Anforderungen an diese Kontrolle zu stellen. Kommt der Vorstand zum Ergebnis, dass der Ratgeber die gestellte Frage unter Berücksichtigung aller relevanten Aspekte beantwortet und ist die konkret geplante Maßnahme auch von der Antwort erfasst, ist der Prüfpflicht Genüge getan.120) Insbesondere Rechtsauskünfte müssen nicht vom Vorstand selbst auf ihre rechtliche Richtigkeit hin kontrolliert werden.121) c)

Im guten Glauben zum Wohl der Gesellschaft

Ein Handeln zum Wohle der Gesellschaft liegt vor, wenn dieses der langfristigen Ertrags- 42 stärkung und Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens und seiner Produkte und Dienstleistungen dient.122) Ob dies der Fall ist, lässt sich mit Sicherheit erst in der Rückschau feststellen. Für die Beurteilung der Vorstandsverantwortung kommt es indes allein auf die ex-ante-Sicht an.123) Ein Handeln zum Wohle der Gesellschaft schließt nicht aus, dass der Vorstand bei seinen 43 Entscheidungen auch Risiken eingeht. Teilweise wird dabei das Eingehen existenzgefährdender Risiken grundsätzlich als mit dem Wohl der Gesellschaft unvereinbar angesehen.124) So eingängig die dabei verwendeten Formeln klingen mögen („Denn kein Vorstand handelt sorgfaltsmäßig, wenn er Risiken für sein Unternehmen eingeht, die, wenn sie sich verwirklichen, zum Untergang des Unternehmens führen.“)125), so wenig vermögen sie in dieser Pauschalität zu überzeugen.126) Jede Kausalkette lässt sich bei entsprechenden Annahmen so fortsetzen, dass am Ende der Untergang des Unternehmens droht. Gerade (aber nicht nur) in Kri_____________ 114) 115) 116) 117) 118) 119) 120) 121) 122) 123) 124) 125) 126)

BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09 (Ision), ZIP 2011, 2097, 2100 = AG 2011, 876, 878. Fleischer, NZG 2010, 121, 125; Krieger, ZGR 2012, 496, 498, 502 f.; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 37. Strohn, ZHR 176 (2012) 137, 139. BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09 (Ision), ZIP 2011, 2097, 2100 = AG 2011, 876, 878. Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 37. Strohn, ZHR 176 (2012) 137, 142. Müller, DB 2014, 1301, 1304 f.; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 37. BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220, 1223 = AG 2015, 535, 537; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 37. Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 23; Koch, ZGR 2006, 769, 790; Schäfer, ZIP 2005, 1253, 1258. Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11; Weiss/Buchner, WM 2005, 162, 164. Lutter, ZIP 2009, 197, 198 f.; Lutter, ZIP 2007, 841, 844; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 24. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.12.2009 – I-6 W 45/09, ZIP 2010, 28, 32 = AG 2010, 126. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 27.

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§ 93

Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder

senzeiten findet sich der Vorstand häufig in einer Situation, in der alle zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine Existenzbedrohung beinhalten. Diese Fälle können mit einem pauschalen Verbot, existenzgefährdende Risiken einzugehen, nicht angemessen bewältigt werden. 44 Überzeugend ist es vielmehr, zu verlangen, dass der Vorstand mit existenzgefährdenden Risiken mit der Sorgfalt des ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters umgeht.127) Das bedeutet, dass er sie vermeiden wird, wenn es nicht wirtschaftliche Gründe gibt, die die Eingehung rechtfertigen und dass er, wenn die Existenz des Unternehmens bedroht ist, besonderes sorgfältig die verschiedenen Handlungsalternativen untersucht und abwägt, den Grad der Wahrscheinlichkeit des Risikoeintritts berücksichtigt und verfügbare Absicherungsmöglichkeiten ausschöpft.128) 45 Der Handelnde muss selbst davon ausgehen, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Ist das nicht der Fall, greift die Business Judgement Rule nicht ein, selbst wenn objektiv eine Entscheidung im Interesse der Gesellschaft getroffen wird.129) In diesem Fall besteht keine Schutzwürdigkeit.130) Allerdings dürfte sich dann in der Regel auch keine Haftungsfrage stellen.131) d)

Handeln ohne Sonderinteresse und sachfremde Einflüsse

46 Nach der Gesetzesbegründung darf nur derjenige annehmen, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln, dessen Handeln nach seiner eigenen Überzeugung frei ist von Sonderinteressen und sachfremden Einflüssen.132) Daran fehle es in der Regel, wenn sich ein Vorstandsmitglied in einem Interessenkonflikt befindet.133) Wird die Anwendbarkeit der Business Judgement Rule jedoch bereits pauschal abgelehnt, sobald ein Interessenkonflikt objektiv besteht,134) bleibt kein Beurteilungsspielraum dafür, ob sich der Interessenkonflikt tatsächlich ausgewirkt hat. Interessengerechtere Ergebnisse lassen sich erzielen, wenn bei der Prüfung der Vorstandsentscheidung ein besonderes Augenmerk darauf gelegt wird, ob das Vorstandsmitglied dennoch von einer Entscheidung zum Wohle der Gesellschaft ausgehen durfte.135) 47 Abzulehnen ist die Auffassung136) es komme bei einem objektiv bestehenden Interessenkonflikt auf die Kenntnis der Konfliktlage nicht an,137) denn in diesen Fällen werde die unternehmerische Entscheidung nicht beeinflusst. Davon zu trennen ist freilich die Frage der Beweislast hinsichtlich der Unkenntnis, welche beim Vorstandsmitglied liegt.138) _____________ 127) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 18. 128) Balthasar/Hamelmann, WM 2010, 589, 590; Böttcher, NZG 2009, 1047, 1048 f.; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 88; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 18 f.; Redeke, ZIP 2010, 159 ff. 129) Vgl. Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11. 130) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 100. 131) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 24. 132) Begr. RegE UMAG, BR-Drucks. 3/05, S. 20. 133) Begr. RegE UMAG, BR-Drucks. 3/05, S. 20; Fleischer, ZIP 2004, 685, 690 f.; Lutter, ZIP 2007, 841, 844. 134) Lutter in: FS Priester, S. 417, 422 f.; Lutter, ZIP 2007, 841, 844; Koch in: FS Säcker, S. 403, 405 f. 135) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 19; Krieger/Schneider-Krieger, Hdb. der Managerhaftung, § 3 Rz. 3.15. 136) Lutter in: FS Priester, S. 417, 422 f. 137) Harbath in: FS Hommelhoff, S. 323, 329 f.; Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717, 727; Koch, ZGR 2014, 697, 703 f. 138) Koch, ZGR 2014, 697, 704; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 29.

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Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder

§ 93

Nach der Gesetzesbegründung liegt ein Interessenkonflikt offensichtlich dann vor, wenn 48 ein Handeln zum eigenen Nutzen oder zu dem Geschäftsleiter nahestehenden Personen oder Gesellschaften vorliegt.139) Zur Konkretisierung der Gruppe der nahestehenden Personen kann eine Orientierung an § 89 Abs. 3 Satz 1 AktG, § 15 Abs. 1 Satz 1 KWG, § 1795 Abs. 1 BGB, § 138 Abs. 1 InsO erfolgen.140) Darüber hinaus ist die Frage, ob ein Interessenkonflikt vorliegt im Einzelfall wertend danach zu bestimmen, ob eine Relevanzschwelle überschritten wird. Ohne dieses Erfordernis würde der Business Judgement Rule der Anwendungsbereich genommen.141) Nicht überzeugend ist schließlich die Auffassung, nach der bei Kollegialentscheidungen 49 der von den Übrigen unerkannte Interessenkonflikt eines Vorstandsmitglieds die anderen Vorstandsmitglieder infiziere, so dass niemand sich auf die Business Judgement Rule berufen könne.142) Dafür gibt es schon keinen Anhaltspunkt im Wortlaut.143) Vielmehr widerspricht die Auffassung der individuellen Perspektive („annehmen durfte“). Ein konfliktbefangenes Vorstandsmitglied muss den Interessenkonflikt gegenüber dem 50 Gesamtvorstand offenlegen und sich, soweit möglich, der Beteiligung an der Entscheidung enthalten, um sich nicht Haftungsrisiken auszusetzen, ohne vom Schutz der Business Judgement Rule zu profitieren.144) Erfolgt dies nicht, können die anderen Vorstandsmitglieder das befangene Vorstandsmitglied von der Entscheidung ausschließen.145) Entgegen einer insoweit vertretenen Ansicht146) verlieren aber auch die übrigen Vorstandsmitglieder nicht den Schutz der Business Judgement Rule, wenn ein solcher Ausschluss unterbleibt. Denn wenn sie selbst weiterhin annehmen dürfen, bei ihrer Entscheidung zum Wohle der Gesellschaft zu handeln, gibt es keinen Grund für eine solche Haftungsverschärfung.147) In prozessualer Hinsicht trifft die übrigen Vorstandsmitglieder allerdings eine erhöhte Darlegungslast dafür, dass die Argumente des befangenen Vorstandsmitglieds im Vorfeld der Abstimmung besonders kritisch geprüft wurden.148) 4.

Organschaftliche Treupflicht

Aus dem Organverhältnis lässt sich eine Treupflicht gegenüber der Gesellschaft ablei- 51 ten, der die Vorstandsmitglieder unterliegen.149) Das Wettbewerbsverbot gemäß § 88 Abs. 1 und die Verschwiegenheitspflicht nach § 93 Abs. 1 Satz 3 werden als gesetzliche Ausprägung der Treupflicht verstanden.150) Die Treupflicht fordert im Grundsatz ein loyales Verhalten von den Vorstandsmitgliedern gegenüber der Gesellschaft und die Wahrung der Gesellschaftsinteressen.151) Daraus folgt die Verpflichtung, in den Geschäftskreis der Gesellschaft _____________ 139) 140) 141) 142) 143) 144) 145) 146) 147) 148) 149)

Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11. Harbath in: FS Hommelhoff, S. 323, 330 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 25. Harbath in: FS Hommelhoff, S. 323, 333 ff.; Koch, ZGR 2014, 697, 706 f. Lutter in: FS Canaris, S. 245, 248 f.; Blasche, AG 2010, 692, 695 f.; Scholderer, NZG 2012, 168, 175. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 26. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 94, 154. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 26. Koch in: FS Säcker, S. 403, 414 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 26. Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717, 727 f.; Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 38. Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 94. BGH, Urt. v. 9.11.1967 – II ZR 64/67, BGHZ 49, 30 = WM 1968, 613, und BGH, Urt. v. 23.9.1985 – II ZR 257/84, ZIP 1985, 1482, 1483 = NJW 1986, 584, 585 – jeweils zur GmbH; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 28; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 95; Spindler in: MünchKommAktG, § 93 Rz. 125. 150) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 143; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 125. 151) Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 115; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 145; K. Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 21.

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§ 93

Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder

fallende Geschäftschancen für die Gesellschaft und weder zum eigenen Vorteil noch für nahe stehende Dritte zu nutzen.152) Demgemäß sollen die Vorstandsmitglieder Interessenkonflikte grundsätzlich vermeiden.153) Bei der Aushandlung der eigenen Anstellungsverträge dürfen die Vorstandsmitglieder jedoch ihre eigenen Interessen verfolgen.154) Alle anderen Geschäfte, die der Vorstand mit der Gesellschaft tätigt, müssen aufgrund der Treupflicht einem Drittvergleich standhalten.155) Wenn der Aufsichtsrat nach Prüfung der Geschäftschance auf Basis vollständiger Informationen zum Ergebnis gelangt, dass der Gesellschaft kein Nachteil entsteht, kann er dem Vorstandsmitglied die Nutzung der Geschäftschance analog § 88 Abs. 1 erlauben.156) 5.

Verschwiegenheitspflicht (§ 93 Abs. 1 Satz 3)

52 Nach § 93 Abs. 1 Satz 3 haben Vorstandsmitglieder über vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft, namentlich Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse, die den Vorstandsmitgliedern durch ihre Tätigkeit im Vorstand bekanntgeworden sind, Stillschweigen zu bewahren. Die Verschwiegenheitspflicht ergibt sich aus der organschaftlichen Treupflicht (siehe hierzu oben Rz. 51) und kann weder durch Satzung, noch Geschäftsordnung oder Anstellungsvertrag eingeschränkt157) oder erweitert158) werden, da sie gesetzlich zwingend ist. Verpflichtet sind sämtliche Vorstandsmitglieder, auch die gerichtlich bestellten (§ 85 Abs. 1), stellvertretenden (§ 94) und entsandten (§ 105 Abs. 2) Mitglieder.159) Die Pflicht richtet sich auch an faktische Organmitglieder160) und geht über die Beendigung des Mandats hinaus.161) Die aktienrechtliche Verschwiegenheitspflicht wird durch kapitalmarktrechtliche (z. B. Art. 14 lit. c Marktmissbrauchsverordnung162)), wettbewerbsrechtliche (z. B. § 17 UWG) und datenschutzrechtliche (z. B. §§ 27 ff. BDSG) Vorschriften ergänzt.163) a)

Vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft

53 Geheimnisse der Gesellschaft sind Tatsachen, die nicht offenkundig, sondern nur einem begrenzten Personenkreis bekannt sind und subjektiv nach dem (geäußerten oder mutmaßlichen) Willen der Gesellschaft nicht bekannt werden sollen und hinsichtlich derer objektiv

_____________ 152) BGH, Urt. v. 23.9.1985 – II ZR 246/84, ZIP 1985, 1484 f. = NJW 1986, 585 f. – zur GmbH; K. Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 21; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 25 Rz. 44 ff. 153) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 125; zum Umgang mit Interessenkonflikten Diekmann/ Fleischmann, AG 2013, 141, 145 ff. 154) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 243 ff.; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 108. 155) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 167; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 21. 156) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 105; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 25 Rz. 46. 157) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 22; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 161. 158) BGH, Urt. v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325 = NJW 1975, 1412 f.; K. Schmidt/Lutter-SailerCoceani, AktG, § 93 Rz. 22. 159) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 22; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 87. 160) Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers/Israel, AktG, § 93 Rz. 47; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 194. 161) Begr. RegE in: Kropff, AktG, S. 123; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 22; Mertens/ Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 122. 162) Verordnung Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.4.2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung), ABl. (EU) L 173/1 v. 12.6.2014, zuletzt geändert durch Art. 2 ÄndVO (EU) 2016/1033 v. 23.6.2016, ABl. (EU) L 175/1 v. 29.6.2016. 163) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 86.

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Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder

§ 93

ein berechtigtes Interesse an der Geheimhaltung besteht.164) Das Vorstandsermessen bei der Bestimmung des Geheimhaltungswillens findet seine Grenze in dem objektiven Bedürfnis nach Geheimhaltung; der Vorstand darf die Verschwiegenheitspflicht nicht „wegdefinieren“.165) Die Nennung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen ist nicht abschließend; erfasst sind technische Daten (z. B. Produktionsabläufe und Forschungsergebnisse), kaufmännisch-betriebswirtschaftliche Informationen (z. B. Kundendaten und Unternehmensplanungen) sowie gesellschaftsinterne Vorgänge (z. B. Verlauf und Ergebnisse von Vorstands- und Aufsichtsratssitzungen)166).167) Vertrauliche Angaben umfassen darüber hinausgehend alle, auch offenkundige Informa- 54 tionen, bzgl. derer die Gesellschaft ein Interesse daran hat, dass sie nicht weitergegeben werden.168) Die Abgrenzung zum Geheimnis ist vor allem für den Tatbestand des § 404 relevant, der sich nur auf die Offenlegung von Geheimnissen bezieht.169) Die Geheimnisse und vertraulichen Angaben müssen den Vorstandsmitgliedern durch 55 ihre Tätigkeit im Vorstand bekannt geworden sein. Ausreichend ist insoweit allerdings, dass die Vorstandsmitgliedschaft im weitesten Sinne ursächlich für die Kenntnis war.170) Aufgrund ihrer allgemeinen organschaftlichen Treupflicht (siehe hierzu oben Rz. 51) können die Vorstandsmitglieder zum Wohle der Gesellschaft jedoch auch dazu verpflichtet sein, Informationen vertraulich zu behandeln, die sie privat oder in anderen Funktion (z. B. als Aufsichtsratsmitglied einer anderen Gesellschaft) erlangt haben.171) b)

Umfang und Grenzen der Verschwiegenheitspflicht

Die Verschwiegenheitspflicht gilt grundsätzlich gegenüber jedermann, also insbesondere 56 im Verhältnis zu Aktionären, Arbeitnehmern, Betriebsräten, Wettbewerbern, Geschäftspartnern und der allgemeinen Öffentlichkeit.172) Es gibt allerdings einige gesetzliche Ausnahmen. Aktionären müssen Auskünfte etwa gemäß §§ 131, 175 Abs. 2, 176 Abs. 1 erteilt werden. Dem Betriebsrat stehen Auskunftsrechte nach §§ 90, 92, 99, 111 BetrVG zu, während der Wirtschaftsausschuss solche Rechte nach §§ 106 Abs. 2, 108 Abs. 5 BetrVG und die Arbeitnehmer nach § 110 BetrVG geltend machen können. Keine Pflicht zur Verschwiegenheit existiert außerdem innerhalb des Vorstands sowie 57 gegenüber dem Aufsichtsrat in Bezug auf Auskunfts- und Berichtspflichten, da die Aufsichtsratsmitglieder gemäß § 116 Satz 1 und 2 der gleichen Verschwiegenheitspflicht unterliegen. Auch der Abschlussprüfer (vgl. § 320 Abs. 2 HGB) ist von der Verschwiegenheitspflicht ausgenommen. Bis zum 31.12.2021 galt dies auch für die Prüfstelle für _____________ 164) BGH, Urt. v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325, 329 = NJW 1975, 1412; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 283; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 134; a. A. Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 14 Rz. 342, soweit es um das Erfordernis eines berechtigten wirtschaftlichen Interesses an der Geheimhaltung geht; darauf komme es nicht an, wenn die Tatsache vom Vorstand als Geheimnis qualifiziert worden sei. 165) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 88. 166) BGH, Urt. v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325 = NJW 1975, 1412, 1413; Fleischer in: BeckOGKAktR, § 93 AktG Rz. 164. 167) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 88. 168) Fleischer-Körber, Hdb. VorstandsR, § 10 Rz. 9; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 24; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 89. 169) Fleischer-Körber, Hdb. VorstandsR, § 10 Rz. 9; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 89. 170) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 90; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 139. 171) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 289; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 24; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 90. 172) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 26; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 91.

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Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder

Rechnungslegung i. S. von § 342b HGB; diese Ausnahme ist mit der Umstellung auf ein einstufiges Bilanzkontrollverfahren durch das FISG173) entfallen. 58 Im Vertragskonzern besteht gegenüber dem herrschenden Unternehmen keine Verschwiegenheitspflicht; vielmehr ist das abhängige Unternehmen bei entsprechender Weisung sogar zur Informationsweitergabe verpflichtet.174) Auch im faktischen Konzern ist der Vorstand berechtigt, Informationen an das herrschende Unternehmen weiterzugeben, ohne gegen § 93 Abs. 1 Satz 3 zu verstoßen.175) Allerdings gelten für die Informationserteilung die §§ 311 ff., so dass es zur Haftung kommt, wenn durch die Informationserteilung für das abhängige Unternehmen ein Nachteil entsteht, der nicht ausgeglichen wird.176) Bei Mitgliedschaft in Organen mehrerer Gesellschaften, die nicht miteinander verbunden sind, besteht keine Auskunftspflicht, für Informationen der jeweils anderen Gesellschaft, so dass die Informationsweitergabe hier nicht erlaubt ist.177) 59 Kapitalmarktrechtliche Auskunftspflichten ergeben sich darüber hinaus aus Art. 17 Marktmissbrauchsverordnung, § 40 WpHG und §§ 33 ff. WpHG. Schließlich gibt es eine Reihe weiterer behördlicher Auskunftsrechte von Behörden wie etwa der BaFin.178) 60 Eine Offenbarung von Informationen ist erlaubt, wenn die Gesellschaft ein überwiegendes Interesse daran hat.179) Davon ist auszugehen, wenn anderenfalls ein Geschäft nicht zustande kommt oder die Informationen i. R. von Darlehensverträgen mit Banken oder konzernverbundenen Unternehmen sowie i. R. von Verhandlungen über einen Sozialplan relevant sind.180) Auch wenn die Gesellschaft zur Vorbereitung einer Kapitalerhöhung Gespräche mit einem Großaktionär führt181) oder die Informationen zur Durchführung einer Due Diligence durch einen Kaufinteressenten erforderlich sind, ist die Offenlegung zulässig.182) Haben die preiszugebenden Informationen grundsätzliche Bedeutung für die Gesellschaft, so ist eine Entscheidung des Gesamtvorstands über die Offenbarung erforderlich.183) 61 Ist die Einhaltung der Verschwiegenheitspflicht dem einzelnen Vorstandsmitglied unzumutbar, etwa bei einem Rechtsstreit zwischen Gesellschaft und Vorstandsmitglied, wird die Verschwiegenheitspflicht ebenfalls begrenzt.184) c)

Rechtsfolgen bei Verstoß gegen die Verschwiegenheitspflicht

62 Die verbotene Offenlegung von Geheimnissen der Gesellschaft ist eine Straftat nach § 404. Möglich ist Tateinheit mit § 17 UWG und bei börsennotierten AGs mit § 119 Abs. 3 Nr. 3 WpHG i. V. m. Art. 14 lit. c Marktmissbrauchsverordnung. Der Verstoß kann außer_____________ 173) Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität (Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz – FISG) v. 3.6.2021, BGBl. I 2021, 1534. 174) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 26; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 25 Rz. 49. 175) Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 148; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 42. 176) Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 148; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 26; vgl. auch Verse, ZHR 175 (2011) 401, 420 f. 177) Bank, NZG 2013, 801, 803. 178) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 33; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 26. 179) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 120; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 93. 180) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 303; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 93. 181) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 303. 182) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 205; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 304 ff.; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 27. 183) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 93; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 158. 184) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 203; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 93.

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Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder

§ 93

dem ein wichtiger Grund zur Abberufung des pflichtwidrig handelnden Vorstandsmitglieds sein (§ 84 Abs. 3 Satz 1), sowie zur Kündigung des Anstellungsvertrages, § 626 BGB.185) Eine Schadensersatzpflicht gegenüber der Gesellschaft kann sich aus § 93 Abs. 2 ergeben. IV.

Schadensersatzpflicht (§ 93 Abs. 2)

Vorstandsmitglieder haften der Gesellschaft im Innenverhältnis (Organinnenhaftung) 63 im Falle einer Pflichtverletzung gemäß § 93 Abs. 2 auf Schadensersatz (zu weiteren Anspruchsgrundlagen und der Möglichkeit einer Organaußenhaftung siehe unten § 93 Rz. 102). Dies gilt gemäß § 48 Satz 2 auch schon vor Eintragung der Gesellschaft.186) Mehrere Vorstandsmitglieder, die ihre Pflichten verletzt haben, sind dabei Gesamtschuldner nach §§ 421 ff. BGB.187) Diese Regelung ist zwingend und kann nicht durch Satzung oder Dienstvertrag gemildert oder verschärft werden.188) 1.

Haftungsadressaten

Der Haftungstatbestand richtet sich an sämtliche Vorstandsmitglieder, also auch gerichtlich 64 bestellte (§ 85), stellvertretende (§ 94) und entsandte (§ 105 Abs. 2) Mitglieder.189) Haftbar sind zudem fehlerhaft bestellte190) oder faktische191) Organmitglieder, die für die Gesellschaft tätig geworden sind. Die Haftbarkeit beginnt mit der Amtszeit; Eintragung des Mitglieds in das Handelsregister oder Abschluss des Dienstvertrags sind nicht ausschlaggebend.192) Nach einer weit verbreiteten Ansicht verlängert sich der haftungsrelevante Zeitraum nach Amtsende so lange, wie das Vorstandsmitglied seine Funktion tatsächlich noch ausübt.193) Aufgrund des eindeutigen Wortlauts der Vorschrift („Vorstandsmitglieder, die ihre Pflichten verletzen […]“) muss die Haftbarkeit mit dem Ende der Organstellung jedoch ebenfalls enden.194) Lediglich in Bezug auf Pflichten, die ihrerseits nach Ende der Amtszeit fortbestehen (vor allem Treu- und Verschwiegenheitspflichten, siehe oben Rz. 51 ff.) haftet das ehemalige Vorstandsmitglied weiter.195) Eine ggf. einschlägige Haftung als faktisches Organmitglied bleibt unberührt.

_____________ 185) BGH, Urt. v. 13.7.1998 – II ZR 131/97, AG 1998, 519, 520 = NZG 1998, 726; Fleischer in: BeckOGKAktR, § 84 AktG Rz. 172; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 29; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 8 Rz. 93. 186) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 4. 187) Zum Gesamtschuldnerregress vgl. Guntermann, AG 2017, 606 ff. 188) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 3; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 26 Rz. 2. 189) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 344; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 212. 190) BGH, Urt. v. 6.4.1964 – II ZR 75/62, BGHZ 41, 282 = NJW 1964, 1367; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 37; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 5 f.; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 15. 191) BGH, Urt. v. 21.3.1988 – II ZR 194/87, BGHZ 104, 44 = ZIP 1988, 771, 772 f.; BGH, Urt. v. 25.2.2002 – II ZR 196/00, BGHZ 150, 61 = ZIP 2002, 848, 851, dazu EWiR 2002, 679 (Blöse) – zur GmbH; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 217 ff.; Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 229; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 362 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 38; Spindler in: MünchKommAktG, § 93 Rz. 18; a. A. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 43. 192) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 8. 193) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 214; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 14. 194) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 37; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 9; a. A. Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 26 Rz. 6. 195) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 9.

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§ 93 2.

Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder Pflichtverletzung

65 Die Norm setzt eine Pflichtverletzung durch den Vorstand voraus. Dabei enthält das AktG keine abschließende Aufzählung der Pflichten des Vorstands.196) Zentral sind die Leitungspflicht aus § 76 Abs. 1 und die Sorgfalts-, Treu- und Verschwiegenheitspflichten des § 93 Abs. 1, aber auch eine Verletzung weitergehender Pflichten aus dem Anstellungsvertrag fällt in den Anwendungsbereich der Norm.197) Kein Haftungsanspruch besteht hingegen bei einer Verletzung von Pflichten, die in keinem sachlichen Zusammenhang mit den organschaftlichen Aufgaben des Vorstandsmitglieds stehen.198) 66 Bei einem mehrköpfigen Vorstand kommt es für die Frage, ob ein bestimmtes Vorstandsmitglied haftet, darauf an, ob dieses konkrete Vorstandsmitglied seine Pflichten verletzt hat. Allerdings gilt grundsätzlich eine Gesamtverantwortung der Vorstandsmitglieder, nach der jedes Vorstandsmitglied grundsätzlich für die gesamte Geschäftsführung durch den Vorstand und dabei eingetretene Pflichtverletzungen verantwortlich ist.199) Im Falle zulässiger horizontaler oder vertikaler Delegation werden die Pflichten der Vorstandsmitglieder jedoch modifiziert:200) –

Im Falle einer Geschäftsverteilung (zur Geschäftsverteilung sowie zu Inhalt und Umfang der Aufsichtspflicht siehe oben § 77 Rz. 14 ff.) im Vorstand kann sich jedes einzelne Vorstandsmitglied grundsätzlich darauf verlassen, dass die anderen Vorstandsmitglieder ihre Geschäftsbereiche mit der erforderlichen Sorgfalt führen. Verletzt das zuständige Vorstandsmitglied seine Sorgfaltspflichten, so stellt dies nicht automatisch einen Sorgfaltspflichtverstoß der übrigen Vorstandsmitglieder dar. Allerdings gilt dies nur, solange die übrigen Vorstandsmitglieder sich auf die ordnungsgemäße Amtsführung des zuständigen Vorstands berechtigterweise verlassen können.201) Erlangen sie Kenntnis von Hinweisen oder Anhaltspunkten, dass diese nicht gewährleistet sein könnte, lebt die Gesamtverantwortung wieder auf und die unzuständigen Vorstandsmitglieder sind verpflichtet, den Hinweisen nachzugehen, Verdachtsmomente aufzuklären und Missstände auszuräumen. Andernfalls haften sie auch für Schäden aufgrund von Fehlern in anderen Geschäftsbereichen.202) Abzulehnen ist eine gegenüber diesen Grundsätzen gesteigerte Verantwortung der „sachnahen“ Vorstandsmitglieder203) oder des Vorstandsvorsitzenden.204) Um von der sich aus einer Geschäftsverteilung ergebenden Haftungsprivilegierung zu profitieren, müssen Vorstandsmitglieder darauf achten, dass diese

_____________ 196) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 11. 197) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 236; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 40; K. Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 31; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 11 f. 198) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 237; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 65. 199) Froesch, DB 2009, 722, 723 f.; Krieger/Schneider-Krieger, Hdb. Managerhaftung, § 3 Rz. 3.16; Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 32; Wicke, NJW 2007, 3755, 3756. 200) Emde in: FS Uwe H. Schneider, S. 295 ff.; Froesch, DB 2009, 722, 724 f.; Hopt/Roth in: GroßKommAktG, § 93 Rz. 374; Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 236. 201) Allg. zivilrechtlicher Vertrauensgrundsatz, BGH, Urt. v. 8.7.1985 – II ZR 198/84, NJW 1986, 54, 55 = ZIP 1985, 1135 – zur GmbH; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 163, 375; Wicke, NJW 2007, 3755, 3756; im Einzelnen auch Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 37 Rz. 1510. 202) BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370 = ZIP 1996, 2017 – zur GmbH; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 376; Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 32. 203) Dreher, ZGR 2010, 496, 526; Habersack, WM 2005, 2360, 2363 f.; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 377; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 42; a. A. VG Frankfurt/M., Urt. v. 8.7.2004 – 1 E 7363/03 (I), WM 2004, 2157 = AG 2005, 264. 204) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 77 AktG Rz. 67; v. Hein, ZHR 166 (2002) 464, 487 ff.; Hüffer/KochKoch, AktG, § 93 Rz. 42; a. A. Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 377.

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Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder

§ 93

Geschäftsverteilung klar und eindeutig erfolgt; eine schriftliche Dokumentation ist nicht zwingend erforderlich, aber zu Beweiszwecken empfehlenswert.205) –

Bei vertikaler Delegation auf nachgeordnete Ebenen schuldet der Vorstand eine sorgfältige und ordnungsgemäße Organisation der nachgeordneten Bereiche, der Auswahl der zuständigen Mitarbeiter (auf der Ebene unmittelbar unterhalb des Vorstands) sowie deren Anleitung und Überwachung.206) Besonders wichtig ist es in der Praxis auch hier, Anhaltspunkten für Fehlentwicklungen unverzüglich und entschlossen nachzugehen. In vielen Fällen, in denen Vorstandsmitglieder für Schäden haftbar gemacht werden, bestand der Sorgfaltspflichtverstoß der Vorstandsmitglieder vor allem darin, dass dies nicht geschehen ist.207)



Besonderheiten gelten im Bereich der Leitungsaufgaben (§ 76 Abs. 1), da die Leitung der Gesellschaft stets dem Gesamtvorstands obliegt und hier nur eine eingeschränkte horizontale und vertikale Delegation zulässig ist (siehe § 76 Rz. 18).208) Eine fehlende Pflichtverletzung einzelner Mitglieder aufgrund mangelnder Zuständigkeit ist daher im Bereich der Leitungsaufgaben weitestgehend ausgeschlossen.209)

3.

Verschulden

Das Vorstandsmitglied muss die Pflichtverletzung verschuldet haben, also vorsätzlich oder 67 fahrlässig die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters gemäß § 93 Abs. 1 Satz 1 verletzt haben. § 93 Abs. 1 Satz 1 erfüllt insoweit eine Doppelfunktion, als die Norm nicht nur einen objektiven Verhaltensmaßstab festlegt, sondern auch den erforderlichen Verschuldensmaßstab umschreibt.210) Auch leichte Fahrlässigkeit reicht aus.211) Eine vertragliche Beschränkung der Haftung kommt de lege lata angesichts ihrer gläubigerschützenden Funktion nicht in Betracht.212) § 93 Abs. 1 Satz 1 umschreibt einen typisierten Sorgfaltsmaßstab, so dass das Vorstandsmitglied dem Anspruch nicht entgegenhalten kann, ihm hätten die nötigen persönlichen Fähigkeiten gefehlt.213) Im Gegensatz dazu erhöht spezielles Fachwissen ggf. den Sorgfaltsmaßstab.214) Reicht das eigene Fachwissen nicht aus, ist ein entsprechender Rat einzuholen (siehe hierzu oben § 93 Rz. 34 ff.).215) Aufgrund der Doppelfunktion des Sorgfaltsmaßstabs des § 93 Abs. 1 Satz 1 scheidet bei 68 sorgfaltsgemäßem Verhalten des Vorstands bereits die Pflichtverletzung aus. Da gleichzeitig auch der Verschuldensmaßstab ein objektiver ist, so dass individuelle Schwächen nicht _____________ 205) BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, ZIP 2019, 261 – zur GmbH. 206) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 165; Krekeler, ZBB 2012, 351, 353; Krieger/SchneiderVetter, Hdb. Managerhaftung, § 22 Rz. 22.102. 207) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10 (Neubürger), ZIP 2014, 570 = NZG 2014, 345, dazu EWiR 2014, 175 (Hahn). 208) Krieger/Schneider-Krieger, Hdb. Managerhaftung, § 3 Rz. 3.16; Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 32. 209) Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 32. 210) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 43; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 5. 211) Fleischer-Fleischer, Hdb. VorstandsR, § 11 Rz. 56; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 38. 212) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 38. 213) BGH, Urt. v. 28.10.1971 – II ZR 49/70, WM 1971, 1548, 1549; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 199; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 43; Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 34; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 26 Rz. 13. 214) BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09 (Ision), ZIP 2011, 2097, 2101 = NZG 2011, 1271, 1274; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 34. 215) BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09 (Ision), ZIP 2011, 2097, 2099 = NZG 2011, 1271, 1272 f; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 34.

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zum Entfallen des Verschuldens führen, spielt das Verschuldenserfordernis in der Praxis keine signifikante Rolle.216) –

Lediglich der Verbotsirrtum wird als Konstellation anerkannt, in der der Vorsatz entfallen kann.217) War der Verbotsirrtum vermeidbar, etwa weil das Vorstandsmitglied sich nicht sachkundig hat beraten lassen, kommt allerdings noch eine Haftung wegen Fahrlässigkeit in Betracht, es sei denn die Einholung qualifizierten Rechtsrats war im Einzelfall nicht möglich, weil sofortiges Handeln erforderlich war.218)



Im Rahmen des Verschuldenserfordernisses wird außerdem der Fall diskutiert, dass das Vorstandsmitglied Rechtsrat eingeholt hat, jedoch falsch beraten wurde und deshalb gegen geltendes Recht verstoßen hat. In diesem Fall liegt kein Verschulden des Vorstandsmitglieds vor, wenn die bereits vorstehend dargestellten Kriterien (siehe oben Rz. 34 ff.) an Auswahl und Instruktion des Beraters und Plausibilisierung der Ergebnisse eingehalten wurden.219) Allerdings kann man fragen, ob es dann nicht auch wieder bereits an der objektiven Pflichtverletzung im Verhältnis zur Gesellschaft fehlt.220) Jedenfalls wenn der Vorstand unter Einhaltung der Sorgfaltsanforderungen der Rechtsprechung Rechtsrat eingeholt und auf Basis einer vertretbaren Rechtsauffassung eine Entscheidung getroffen hat, die aber aufgrund bestehender rechtlicher Unsicherheit später von einem Gericht anders beurteilt wird, liegt nach hier vertretener Auffassung schon keine Pflichtverletzung vor (siehe hierzu bereits oben Rz. 30 und Rz. 68).



Das gleiche gilt, wenn der Vorstand mit der Sorgfalt des gewissenhaften und ordnungsgemäßen Geschäftsleiters eine Organisation zur Vermeidung von Rechtsverstößen eingerichtet hat und es dann dennoch zu Rechtsverstößen kommt (siehe hierzu bereits oben Rz. 19 f.).

69 Vorausgesetzt wird eigenes Verschulden.221) Eine Zurechnung des Verschuldens anderer Vorstandsmitglieder, Mitarbeiter der Gesellschaft oder externer Berater kommt nicht in Betracht. § 278 BGB ist ebenso wenig anwendbar wie § 831 BGB, da die handelnden Personen Erfüllungs- bzw. Verrichtungsgehilfen der Gesellschaft und nicht des Vorstandsmitglieds sind.222) 4.

Schaden und Kausalität

70 Der zu ersetzende Schaden der Gesellschaft berechnet sich nach den allgemeinen Regeln der §§ 249 ff. BGB.223) Danach ist grundsätzlich derjenige Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn die Pflichtverletzung nicht stattgefunden hätte, wozu der Wert des _____________ 216) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 240; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 392; a. A. Hüffer-Koch, AktG, § 93 Rz. 43 f. 217) Bachmann, WM 2015, 105, 109; Harnos, Geschäftsleiterhaftung bei unklarer Rechtslage, S. 149 f.; Heidel-U. Schmidt, AktR, § 93 AktG Rz. 105; vgl. auch Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 240 a. E. 218) BGH, Urt. v. 27.3.2012 – II ZR 171/10, ZIP 2012, 1174 = WM 2012, 1124; Heidel-U. Schmidt, AktR, § 93 AktG Rz. 105; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 139 f. 219) OLG Stuttgart, Urt. v. 28.10.1997 – 12 U 83/97, GmbHR 1998, 89, 90 = NZG 1998, 232 – zur GmbH; Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 249. 220) A. A. – für eine Behandlung auf Ebene des Verschuldens – Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 44. 221) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 384; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 46; K. Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 35; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 202. 222) Fleischer-Fleischer, Hdb. VorstandsR, § 11 Rz. 57; Henssler/Strohn-Dauner/Lieb, GesR, § 93 AktG Rz. 34; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 384. 223) OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.11.1996 – 6 U 11/95, AG 1997, 231, 237 = ZIP 1997, 27; Hüffer/KochKoch, AktG, § 93 Rz. 47; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 213; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 50.

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Gesellschaftsvermögens vor und nach dem schädigenden Ereignis zu vergleichen ist.224) Ersatzpflichtig sind der entgangene Gewinn der Gesellschaft (§ 252 BGB) sowie alle Mittelabflüsse ohne adäquate Gegenleistung, also insbesondere Zahlungen, die der Vorstand zu privaten Zwecken getätigt hat, oder Beratungs- und Rechtsanwaltskosten aufgrund angemessener Honorarvereinbarung, die zum Zwecke der Schadensermittlung und Rechtsverfolgung entstanden sind.225) Inwiefern Bußgelder, die der Gesellschaft aufgrund des Pflichtverstoßes durch den Vor- 71 stand auferlegt wurden, einen umfänglich erstattungsfähigen Schaden darstellen, ist umstritten226) und durch die Rechtsprechung noch nicht eindeutig geklärt: Das LAG Düsseldorf hat zwar einen erstattungsfähigen Schaden im Fall von Kartellrechtsbußen gemäß § 81 GWB, die auch eine Gewinnabschöpfung beinhalten und sich sowohl gegen das Unternehmen als auch gegen die handelnde Person richten können, abgelehnt.227) Dieses Teilurteil wurde allerdings vom BAG aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an das LAG zurückverwiesen,228) welches die Sache zur Klärung kartellrechtlicher Vorfragen an das LG Dortmund verwiesen hat.229) Häufig erleidet die Gesellschaft durch den Pflichtenverstoß des Vorstands nicht nur einen 72 Verlust, sondern erlangt zugleich einen Vorteil, wie hohe Gewinne aus kartellrechtswidrigen Absprachen oder Zinsvorteile aus Zinsderivatgeschäften.230) Um einen windfall profit der Gesellschaft zu vermeiden, ist in solchen Fällen eine Vorteilsausgleichung vorzunehmen.231) Danach müssen Vorteile der Gesellschaft, die in adäquat kausalem Zusammenhang mit dem Schadensereignis stehen, berücksichtigt werden, soweit dies dem Geschädigten zumutbar ist und den Schädiger nicht unbillig entlastet.232) Der Schaden reduziert sich folglich um den erzielten Vorteil.233) Der Schaden muss nach allgemeinen Grundsätzen kausal durch die Pflichtwidrigkeit her- 73 beigeführt worden sein.234) Danach fehlt es an einem kausalen Schaden, wenn das Vorstandsmitglied darlegen kann, dass der Schaden auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten mit Sicherheit eingetreten wäre.235) Es ist umstritten, ob der Einwand rechtmäßi_____________ 224) Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 36. 225) Soweit eine Abrechnung nach RVG im Einzelfall unüblich ist, OLG München, Urt. v. 21.7.2010 – 7 U 1879/10, ZIP 2011, 868 = AG 2011, 204, dazu EWiR 2011, 265 (Redeke); Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 53. 226) Für eine Erstattungspflicht Horn, ZIP 1997, 1129, 1136; Dreher in: FS Konzen, S. 85, 103 ff.; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 37; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 54; a. A. MarschBarner, ZHR 173 (2009) 723, 730; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 56; Krieger/SchneiderWilsing, Hdb. Managerhaftung, § 31 Rz. 31.36 f.; Zimmermann, WM 2008, 433, 437. 227) LAG Düsseldorf, Urt. v. 20.1.2015 – 16 Sa 459/14, ZIP 2015, 829 = WM 2015, 1863, dazu EWiR 2015, 313 (Faerber/Engelhoven) – zur GmbH. 228) BAG, Urt. v. 29.6.2017 – 8 AZR 189/15, ZIP 2017, 2424, dazu EWiR 2017, 735 (Bunte). 229) LAG Düsseldorf v. 29.1.2018 – 14 Sa 591/17; vgl. zum Gang des Verfahrens und zur Gesamtproblematik Baur/Holle, ZIP 2018, 459 ff. 230) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 56. 231) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 259; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 38; Krieger/Schneider-Wilsing, Hdb. Managerhaftung, § 31 Rz. 31.325 ff.; Marsch-Barner, ZHR 173 (2009) 723, 729 f.; Zimmermann, WM 2008, 433, 439.; a. A. Säcker, WuW 2009, 362, 368. 232) BGH, Urt. v. 17.5.1984 – VII ZR 169/82, BGHZ 91, 206 = NJW 1984, 2457, 2458; K. Schmidt/LutterSailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 38; Heidel-U. Schmidt, AktR, § 93 AktG Rz. 102. 233) BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11 (Corealcredit Bank), ZIP 2013, 455 = NJW 2013, 1958 = AG 2013, 259, dazu EWiR 2013, 261 (E. Vetter); Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 49; K. Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 38. 234) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 40; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 58. 235) BGH, Urt. v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 = ZIP 2002, 2314, 2315 f., dazu EWiR 2003, 225 (Schimmer); Fleischer-Fleischer, Hdb. VorstandsR, § 11 Rz. 64; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 58.

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gen Alternativverhaltens auch bei Kompetenz-, Organisations- und Verfahrensregeln anwendbar ist (insbesondere Missachtung des Zustimmungsvorbehalts des Aufsichtsrats nach § 111 Abs. 4 Satz 2).236) Die frühere Literatur verneinte dies überwiegend, da andernfalls der Schutzzweck der Norm unterlaufen würde und die Nichterfüllung von Vorstandspflichten sanktionslos bliebe.237) Der BGH ist dem für die GmbH238) und mittlerweile auch für die AG239) nicht gefolgt. Der Schadensersatzanspruch habe keine dem Aktienrecht fremde Straffunktion; ferner sei eine Sanktionierung über die Personalkompetenz des Aufsichtsrats möglich.240) Allerdings muss der Vorstand nachweisen, dass der konkrete – nicht ein fiktiver, verantwortungsvoll handelnder – Aufsichtsrat zugestimmt hätte. Eine rechtliche Überlagerung der konkreten Betrachtungsweise erfolgt nur in den Ausnahmefällen der Zustimmungspflicht oder Zustimmungsverweigerungspflicht.241) 5.

Regressreduzierung

74 In der Literatur findet sich seit einigen Jahren eine breite Diskussion zur Erforderlichkeit von Haftungserleichterungen für Vorstandsmitglieder.242) Über die Notwendigkeit einer solchen Erleichterung wird kaum gestritten; geteilt sind die Meinungen vielmehr nur über die Art und den Umfang einer Haftungsbegrenzung.243) Diskutiert wird u. a. – in Anlehnung an den innerbetrieblichen Schadensausgleich – eine Regressreduzierung244) sowie eine summenmäßige Begrenzung des Schadensersatzanspruchs aufgrund der Fürsorgepflicht der Gesellschaft gegenüber dem Vorstandsmitglied.245) Da § 93 ausdrücklich eine unbeschränkte Organhaftung normiert, ist eine verpflichtende und universal geltende Haftungsbeschränkung de lege lata allerdings nicht durchführbar.246) Prozedural hat der Aufsichtsrat zwar ein gewisses Ermessen bei der Geltendmachung der Ansprüche gegen die Vorstandsmitglieder.247) Wünschenswert wäre aber die materielle Möglichkeit einer Haftungsmilderung etwa durch eine Regelung in der Satzung der Gesellschaft.248)

_____________ 236) Umfassend dazu Grunewald in: FS Hopt, S. 325 ff.; Kleindiek in: FS Krieger, S. 489 ff.; Krieger in: FS Seibert, S. 511 ff. 237) Blasche, WM 2011, 343, 348; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 416; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 55; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 196. 238) BGH, Urt. v. 21.7.2008 – II ZR 39/07, ZIP 2008, 1818 = NZG 2008, 783; BGH, Urt. v. 10.12.2007 – II ZR 289/06, ZIP 2008, 694 = NZG 2008, 316. 239) BGH, Urt. v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, BGHZ 219, 193 = ZIP 2018, 1923. 240) BGH, Urt. v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, Rz. 44, BGHZ 219, 193 = ZIP 2018, 1923. 241) BGH, Urt. v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, Rz. 51, BGHZ 219, 193 = ZIP 2018, 1923. 242) Bayer/Scholz, NZG 2014, 926; Heyers, WM 2016, 581; Spindler, AG 2013, 889; Wagner, ZHR 178 (2014) 227. 243) Vgl. Heyers, WM 2016, 581, 582; Koch, AG 2014, 513, 515; gegen eine Haftungsbegrenzung etwa Schöne/Petersen, AG 2012, 700 ff. 244) Casper, ZHR 176 (2012) 617, 639; Hoffmann, NJW 2012, 1393, 1396 f.; Koch, AG 2012, 429, 435 ff.; Hopt, ZIP 2013, 1793, 1804; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 398 ff.; Spindler, AG 2013, 889, 894 f. 245) Bachmann, ZIP 2014, 579, 582 (Urteilsanm.); Brommer, AG 2013, 121, 127 ff.; Casper, ZHR 176 (2012) 617, 636 ff.; Fleischer, ZIP 2014, 1305, 1307; Grunewald, AG 2013, 813, 815 ff.; Heyers, WM 2016, 581, 585 ff.; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 38 Rz. 1534 f.; Hüffer/KochKoch, AktG, § 93 Rz. 51 ff.; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 38; Peltzer in: FS HoffmannBecking, S. 861, 865; Seibt/Wollenschläger, ZIP 2014, 545, 552 f. 246) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 3, 39; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 143. 247) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 37 f.; Paefgen, AG 2014, 554, 571. 248) Heyers, WM 2016, 581, 582; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 3.

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Darlegungs- und Beweislast (§ 93 Abs. 2 Satz 2)

Die Beweispflichtigkeit der Gesellschaft beschränkt sich auf den Nachweis eines Schadens 75 in bestimmter Höhe, eines – potenziell pflichtwidrigen249) – Verhaltens des jeweiligen Vorstandsmitglieds sowie der dazwischen bestehenden Kausalität.250) Sodann obliegt es aufgrund der Beweislastumkehr des § 93 Abs. 2 Satz 2 dem Vorstandsmitglied, Beweis dafür zu erbringen, dass es an einer Pflichtwidrigkeit bzw. einem Verschulden fehlt oder der Schaden auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten eingetreten wäre.251) Dabei bezieht sich die Beweislastumkehr auch auf die Business Judgement Rule aus § 93 Abs. 1 Satz 2.252) Weitere Beweiserleichterungen für die Gesellschaft ergeben sich bei einem Verstoß gegen die in § 93 Abs. 3 aufgeführten Sondertatbestände (siehe unten Rz. 80). Die dargestellte Verteilung der Darlegungs- und Beweislast gilt ebenso für ausgeschiedene 76 Vorstandsmitglieder.253) Das ist insofern problematisch, als diese keinen Einblick mehr in die Gesellschaftsunterlagen haben, der für eine angemessene Verteidigung aber gerade erforderlich ist. Gelöst wird dieses Problem, indem den ausgeschiedenen Vorstandsmitgliedern ein auf § 810 BGB sowie der Treupflicht der Gesellschaft beruhendes Einsichtsrecht zugestanden wird.254) 7.

D&O-Versicherung (§ 93 Abs. 2 Satz 3)

Das Haftungsrisiko kann über eine sog. D&O-Versicherung versichert werden („Ver- 77 mögensschaden-Haftpflichtversicherung für Organmitglieder juristischer Personen“).255) Dafür schließt die Gesellschaft eine Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung mit der Versicherungsgesellschaft ab, die aber stets gemäß § 93 Abs. 2 Satz 3 einen Selbstbehalt für die begünstigten Organmitglieder vorsehen muss. Dadurch wird dem Präventionscharakter der durch das VorstAG eingeführten Vorschrift Rechnung getragen.256) Für das Eingreifen des Versicherungsschutzes gilt nach der Kautelarpraxis der Gestaltung der D&OVersicherung das sog. claims-made-Prinzip, d. h. es kommt darauf an, ob im Zeitpunkt _____________ 249) Zu den konkreten Anforderungen vgl. OLG Nürnberg, Beschl. v. 28.10.2014 – 12 U 567/13, ZIP 2015, 430 = AG 2015, 91, dazu EWiR 2015, 343 (Pläster); Bachmann, BB 2015, 771, 774 f.; Bauer, NZG 2015, 549. 250) St. Rspr., BGH, Urt. v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 = ZIP 2002, 2314, dazu EWiR 2003, 225 (Schimmer) – für die GmbH; BGH, Urt. v. 16.3.2009 – II ZR 280/07, ZIP 2009, 860 = AG 2009, 404, dazu EWiR 2009, 493 (Kiem/Giershausen); BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11 (Corealcredit Bank), ZIP 2013, 455 = NJW 2013, 1958 = AG 2013, 259; Deilmann/Otte, BB 2011, 1291; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 53; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 204. 251) St. Rspr., BGH, Urt. v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 = ZIP 2002, 2314 – für die GmbH; BGH, Urt. v. 16.3.2009 – II ZR 280/07, ZIP 2009, 860 = AG 2009, 404; BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11 (Corealcredit Bank), ZIP 2013, 455 = NJW 2013, 1958 = AG 2013, 259; Buschmann, NZG 2011, 87, 88; Deilmann/Otte, BB 2011, 1291; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 53; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 40 f.; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 204. 252) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 141; Lutter, ZIP 2007, 841, 846; Koch/Dinkel, NZG 2004, 441, 447 f.; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 41; a. A. Paefgen, NZG 2009, 891 ff.; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 42. 253) BGH, Urt. v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 = ZIP 2002, 2314 – für die GmbH; HöltersHölters, AktG, § 93 Rz. 270. 254) BGH, Urt. v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 = ZIP 2002, 2314 – für die GmbH; Grooterhorst, AG 2011, 389, 393 ff.; Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 270; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 56; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 147. 255) Der Begriff der D&O-Versicherung kommt aus der US-amerikanischen Terminologie der Directors‘ and Officers‘ Liability Insurance. 256) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 11; Hüffer/KochKoch, AktG, § 93 Rz. 58.

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Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder

der Geltendmachung ein gültiger Versicherungsvertrag besteht.257) § 93 Abs. 2 Satz 3 sieht für den obligatorischen Selbstbehalt eine Mindesthöhe von 10 % des jeweiligen Schadens bis zum 1,5fachen der festen jährlichen Vergütung des Vorstandsmitglieds pro Jahr vor.258) Zu beachten ist die Übergangsregelung des § 23 Abs. 1 EGAktG. Daraus ergibt sich, dass die Regelung des § 93 Abs. 2 Satz 3 auch auf Altverträge anzuwenden ist, wenn daraus nach dem 1.7.2010 Ansprüche erhoben werden. Folgt aus dem Altvertrag allerdings eine Verpflichtung zum Abschluss einer D&O-Versicherung ohne Selbstbehalt, so hat diese Gesellschaft diese nach § 23 Abs. 1 Satz 2 EGAktG weiterzuführen.259) Wird der Vorstandsvertrag anschließend verlängert, so muss darin ein Selbstbehalt vorgesehen werden.260) 78 Klärungsbedürftig ist weiterhin die Frage, welche Rechtsfolgen der Abschluss einer Versicherung ohne Selbstbehalt nach sich zieht. Die Literatur qualifiziert § 93 Abs. 2 Satz 3 überwiegend nicht als Verbotsgesetz i. S. des § 134 BGB, sondern sieht in der Vorschrift eine bloße Vorgabe für das gesellschaftsrechtliche Innenverhältnis.261) Liegt im Abschluss einer Versicherung ohne Selbstbehalt eine Pflichtverletzung, kommt eine entsprechende Haftung des handelnden Organs in Betracht.262) 79 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Versicherbarkeit des Selbstbehalts. Da eine solche Absicherung gesetzlich nicht ausgeschlossen ist, ist die grundsätzliche Zulässigkeit zwar anerkannt,263) jedoch wird dies in rechtspolitischer Hinsicht überwiegend kritisch gesehen.264) Jedenfalls eine Gestaltung, nach der die Gesellschaft die Prämien für die Eigenversicherung unmittelbar trägt, ist nicht gestattet.265) Insofern ist fraglich, welche Auswirkungen dieses Verbot auf das sog. Anrechnungsmodell hat.266) Das Modell sieht vor, dass die Selbstbehalts-Versicherung zwischen Vorstand und Versicherer mit dem gleichen Versicherer abgeschlossen wird, wie die D&O-Versicherung als solche. Der Versicherer rechnet in dieser Konstellation Leistungen aus der Selbstbehalts-Versicherung auf die Versicherungssumme der D&O-Versicherung an, mit der Folge, dass die Prämienzahlungen des Vorstandsmitglieds sinken. § 93 Abs. 2 Satz 3 schließt aber auch eine mit_____________ 257) OLG München, Urt. v. 8.5.2009 – 25 U 5136/08, NZG 2009, 714 = GWR 2009, 174 – zur Angemessenheit des Anspruchserhebungsprinzips; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 58b; v. Schenk, NZG 2015, 494, 495 f. 258) Weiterführend zum Selbstbehalt: Dauner-Lieb/Tettinger, ZIP 2009, 1555; Franz, DB 2009, 2764; Harzenetter, DStR 2010, 653; van Kann, NZG 2009, 1010; Kerst, WM 2010, 594; Koch, AG 2009, 637; Olbrich/Kassing, BB 2009, 1659. 259) Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 408; Jaeger/Balke, ZIP 2010, 1471, 1479; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 59; Lange, VersR 2009, 1011, 1013; Seibert, WM 2009, 1489, 1492. 260) Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 408; Lange, VersR 2009, 1011, 1013; Koch, AG 2009, 637, 640; Mertens/ Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 250. 261) Dauner-Lieb/Tettinger, ZIP 2009, 1555, 1556; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 252; Hohenstatt, ZIP 2009, 1349, 1354; Kerst, WM 2010, 594, 600 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 59; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 249; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 25 Rz. 58; Thüsing/Traut, NZA 2010, 140 f.; a. A. Gädtke, VersR 2009, 1565, 1567 ff.; Koch, AG 2009, 637, 639. 262) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 302; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 25 Rz. 58. 263) Gädtke/Wax, AG 2010, 851, 852; Kerst, WM 2010, 594, 602; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG § 93 Rz. 52; Lange, VersR 2009, 1011, 1022 f.; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 59; Thüsing/Traut, NZA 2010, 140, 142 f. 264) Thüsing, AG 2009, 517, 526; Thüsing/Traut, NZA 2010, 140, 142 f.; a. A. Hohenstatt, ZIP 2009, 1349, 1354; Olbrich/Kassing, BB 2009, 1659, 1662. 265) Harzenetter, DStR 2010, 653, 658; Kerst, WM 2010, 594, 602; Koch, AG 2009, 637, 645 f.; K. Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 52; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 25 Rz. 59; Thüsing/Traut, NZA 2010, 140, 142 f. 266) Gädtke/Wax, AG 2010, 851, 853 f.; Lange, RuS 2010, 92, 95 ff.; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 235.

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telbare Finanzierung des Selbstbehalts durch die Gesellschaft aus, so dass das Modell nicht mit dieser Norm vereinbar sein dürfte.267) V.

Sondertatbestände des § 93 Abs. 3

In § 93 Abs. 3 ist ein Katalog an besonders gravierenden Pflichtverletzungen, insb. Verstöße 80 gegen Vorschriften mit kapitalschützendem Charakter,268) normiert, die eine Schadensersatzpflicht begründen. Die h. M. sieht darin jeweils eigenständige Anspruchsgrundlagen, die ein Verschulden des Vorstandsmitglieds erfordern.269) Eigenständige Bedeutung erlangt die Vorschrift dadurch, dass ein Schaden der Gesellschaft widerleglich vermutet wird.270) Der Vorstand muss zu seiner Enthaftung also nachweisen, dass tatsächlich kein Schaden entstanden ist. Ein Rückzahlungs- oder Einlagenleistungsanspruch genügt insofern nicht, sondern es bedarf des tatsächlichen Zuflusses der Mittel.271) Auch auf die Business Judgement Rule kann der Vorstand sich insoweit nicht berufen.272) Eine Rechtfertigung der Verwirklichung eines der in § 93 Abs. 3 genannten Tatbestände ist ausgeschlossen. – § 93 Abs. 3 Nr. 1: Verstöße gegen das Verbot der Einlagenrückgewähr aus § 57 Abs. 1 und § 230; – § 93 Abs. 3 Nr. 2: Auszahlung von Zinsen oder Gewinnanteilen an Aktionäre unter Verstoß gegen §§ 57 Abs. 2 und 3, 58 Abs. 4, 233; – § 93 Abs. 3 Nr. 3: Zeichnung, Erwerb, Pfandnahme oder Einzug eigener Aktien der Gesellschaft oder einer anderen Gesellschaft unter Verletzung von §§ 56, 71 ff. und 237 ff.; – § 93 Abs. 3 Nr. 4: Ausgabe von Inhaberaktien vor der vollen Leistung des Ausgabebetrages unter Verstoß gegen § 10 Abs. 2; erfasst ist ebenfalls die Leistung einer nach § 27 Abs. 2 unwirksamen Sacheinlage;273) – § 93 Abs. 3 Nr. 5: Verteilung von Gesellschaftsvermögen unter Verstoß gegen §§ 57 Abs. 3, 225 Abs. 2, 230, 233, 237 Abs. 2, 271, 272; – § 93 Abs. 3 Nr. 6: aufgehoben;274) – § 93 Abs. 3 Nr. 7: Zahlung unzulässiger Vergütungen an Aufsichtsratsmitglieder unter Verstoß gegen §§ 113, 114; – § 93 Abs. 3 Nr. 8: Gesetzwidrige Kreditvergabe unter Verstoß gegen §§ 89, 115; – § 93 Abs. 3 Nr. 9: Ausgabe von Bezugsaktien bei einer bedingten Kapitalerhöhung, außerhalb des festgesetzten Zwecks oder vor Erhalt der vollen Leistung des Gegenwerts unter Verstoß gegen § 199 Abs. 1. _____________ 267) Lange, RuS 2010, 92, 97 f.; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 205; wohl auch K. Schmidt/LutterSailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 52; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 25 Rz. 60; a. A. Gädtke/Wax, AG 2010, 851, 853 f. 268) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 68; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 125; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 15. 269) Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 273; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 251; a. A. – verschuldensunabhängiger Folgenbeseitigungsanspruch – Habersack/Schürnbrand, WM 2005, 957; Schürnbrand, NZG 2010, 1207, 1209. 270) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 442, 343; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 57; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 17; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 252. 271) BGH, Urt. v. 29.9.2008 – II ZR 234/07, ZIP 2008, 2217 = NZG 2008, 908, dazu EWiR 2009, 23 (Kort) – zur GmbH; Habersack/Schürnbrand, WM 2005, 957, 958; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 57; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 134; Spindler in: MünchKommAktG, § 93 Rz. 252. 272) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 16. 273) BGH, Urt. v. 18.2.2008 – II ZR 132/06, BGHZ 175, 265 = ZIP 2008, 788, dazu EWiR 2008, 513 (Weipert). 274) Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG) v. 29.12.2020, BGBl. I 2020, 3256.

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VI.

Haftungsausschluss, Verzicht und Vergleich (§ 93 Abs. 4)

1.

Haftungsausschluss durch Hauptversammlungsbeschluss

81 Eine Haftung des Vorstandes gegenüber der Gesellschaft tritt nach § 93 Abs. 4 Satz 1 nicht ein, soweit sein Handeln auf einem gesetzmäßigen Beschluss der Hauptversammlung beruht. Hintergrund dieser Vorschrift ist, dass der Vorstand nach § 83 Abs. 2 zur Ausführung der von der Hauptversammlung i. R. ihrer Zuständigkeit beschlossenen Maßnahmen verpflichtet ist.275) Diese Ausnahme von der Haftung des Vorstandes wird überwiegend als eine Ausprägung des Arglisteinwands nach § 242 BGB eingeordnet.276) Der Haftungsausschluss reicht nur so weit wie die Folgepflicht des Vorstands aus dieser Norm,277) weshalb sich im Einzelfall Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben können.278) Auch in Fällen, in denen der Vorstand von sich aus gemäß § 119 Abs. 2 eine Entscheidung der Hauptversammlung einholt, greift die Haftungsentlastung.279) Auch bei einer Hauptversammlungsentscheidung im Falle einer Vorlage nach § 111 Abs. 4 Satz 3 nach Verweigerung der Aufsichtsratszustimmung handelt es sich um einen Beschluss, der sich unter § 93 Abs. 4 Satz 1 subsumieren lässt.280) 82 Voraussetzung für das Eingreifen des Haftungsausschlusses ist eine entsprechende vorherige Beschlussfassung durch die Hauptversammlung; eine nachträgliche Billigung genügt nicht, denn dann „beruht“ das Verhalten des Vorstandes nicht wie gefordert auf dem Beschluss.281) Als ausreichend gilt, wenn der Vorstand sein Handeln von vorneherein unter den Vorbehalt der nachträglichen Zustimmung stellt.282) Weitere Voraussetzung für den Haftungsausschluss ist, dass es sich um einen formellen Hauptversammlungsbeschluss handelt; informelle Meinungsäußerungen oder Empfehlungen einzelner, aber auch aller Aktionäre sind unbeachtlich.283) Teilweise wird für solche Fälle zwar angenommen, dass gegen die Geltendmachung des Ersatzanspruchs der Einwand unzulässiger Rechtsausübung vorgebracht werden kann.284) Nach dem BGH soll das jedoch nur in Ausnahmefällen möglich sein; die bloße Einwilligung des Alleinaktionärs genüge nicht.285) Diesem Ansatz ist allerdings generell nicht zu folgen, da ansonsten das Formalitätserfordernis ausgehebelt würde.286) Schließlich muss der Hauptversammlungsbeschluss die Anforderung der Gesetzmäßigkeit erfüllen, darf also weder nichtig noch anfechtbar sein.287) Mit Eintritt der _____________ 275) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 470; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 149; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 59; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 121. 276) Canaris, ZGR 1978, 207, 209; Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 294; Servatius, Strukturmaßnahmen als Unternehmensleitung, 2004, S. 377; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 121; dogmatisch a. A. Mertens/ Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 149. 277) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 471; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 149. 278) Dietz-Vellmer, NZG 2014, 721 ff.; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 471 ff. 279) Fleischer, BB 2005, 2025, 2028; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 122. 280) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 122; a. A. Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 270. 281) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 477; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 153; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 123. 282) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 477; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 59. 283) BGH, Urt. v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, Rz. 26, BGHZ 219, 193 = ZIP 2018, 1923; OLG Köln, Urt. v. 25.10.2012 – 18 U 37/12, NZG 2013, 872 = AG 2013, 396; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 318; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 73; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 60; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 150. 284) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 318; Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 295; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 150. 285) BGH, Urt. v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, Rz. 33, BGHZ 219, 193 = ZIP 2018, 1923. 286) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 60; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 269. 287) Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 300; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 320; K. Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 61.

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Heilungswirkung288) bzw. mit Ablauf der Anfechtungsfrist289) werden zunächst nichtige oder anfechtbare Beschlüsse jedoch gesetzmäßig und können Grundlage eines Haftungsausschlusses sein. Zu einer Schadensersatzpflicht des Vorstandes kann es in diesen Konstellationen dennoch kommen, wenn er es pflichtwidrig unterlassen hat, Nichtigkeits- oder Anfechtungsklage gegen den Beschluss zu erheben.290) Auch wenn ein vorheriger, formeller und gesetzmäßiger Hauptversammlungsbeschluss 83 vorliegt, kann im Einzelfall die haftungsausschließende Wirkung zu verneinen sein, wenn der Beschluss vom Vorstand pflichtwidrig herbeigeführt wurde. Das ist insbesondere bei unrichtiger oder unvollständiger Information der Hauptversammlung anzunehmen.291) Hätte die Hauptversammlung trotz der mangelhaften Information die Schädlichkeit des Beschlusses erkennen können, scheidet eine Anrechnung nach den Grundsätzen des Mitverschuldens nach § 254 BGB analog aus.292) Wie § 93 Abs. 4 Satz 2 klarstellt, hat die Billigung des Vorstandshandelns durch den Auf- 84 sichtsrat keinen Ausschluss der Ersatzpflicht zur Folge. 2.

Verzicht und Vergleich

§ 93 Abs. 4 Satz 3 enthält Vorgaben für den Verzicht auf den Vergleich über Ersatzansprüche 85 der Gesellschaft. Erfasst sind alle Ansprüche der Gesellschaft, egal aus welchem Rechtsgrund, sofern ein innerer Zusammenhang zur Organstellung des Anspruchsgegners bejaht werden kann.293) Erforderlich ist in jedem Fall ein zustimmender formeller Beschluss der Hauptversamm- 86 lung.294) Dadurch soll verhindert werden, dass Vorstand und Aufsichtsrat sich aufgrund kollegialer Rücksichtnahme gegenseitig entlasten.295) Mangels anderweitiger Regelung kann der Beschluss gemäß § 133 mit einfacher Stimmenmehrheit gefasst werden.296) Dabei sind betroffene Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder gemäß § 136 Abs. 1 nicht stimmberechtigt. Darüber hinaus darf gemäß § 93 Abs. 4 Satz 3 nicht von einer Aktionärsminderheit, deren 87 Anteile zusammen 10 % des Grundkapitals erreichen, gegen den Beschluss Widerspruch _____________ 288) BGH, Urt. v. 6.10.1960 – II ZR 150/58, BGHZ 33, 175 = NJW 1961, 26; Fleischer in: BeckOGKAktR, § 93 AktG Rz. 322; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 482; K. Schmidt/Lutter-SailerCoceani, AktG, § 93 Rz. 61; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 268; a. A. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 155. 289) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 486; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 61; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 267. 290) Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 300, 301; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 485, 487; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 61; a. A. Casper, Die Heilung nichtiger Beschlüsse im Kapitalgesellschaftsrecht, S. 188 f. 291) Canaris, ZGR 1978, 207, 213; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 324; Hefermehl in: FS Schilling, S. 159, 172 f.; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 488; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 62. 292) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 324; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 488; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 154; a. A. Canaris, ZGR 1978, 207, 209. 293) OLG München, Urt. v. 30.3.2017 – 23 U 3159/16, juris; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 129. 294) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 331; Hasselbach, NZG 2016, 890, 891 ff.; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 511. 295) BGH, Urt. v. 8.7.2014 – II ZR 174/13, BGHZ 202, 26 = ZIP 2014, 1728 = NZG 2014, 1058, dazu EWiR 2014, 609 (Maier-Reimer); Hasselbach/Seibel, AG 2008, 770, 772; Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 306; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 283. 296) Dietz-Vellmer, NZG 2011, 248, 250; Hirte/Stoll, ZIP 2010, 253, 254; Spindler in: MünchKomm-AktG § 93 Rz. 283.

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zur Niederschrift erhoben werden.297) Dadurch wurde ursprünglich das Minderheitsrecht auf Geltendmachung von Ersatzansprüchen aus § 147 a. F. abgesichert. Da dieses mittlerweile abgeschafft wurde, wäre auch eine Aufhebung des Widerspruchsrechts sinnvoll.298) Als zeitliche Einschränkung sieht § 93 Abs. 4 Satz 3 vor, dass der Beschluss erst nach Ablauf von drei Jahren ab Anspruchsentstehung gefasst werden kann. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Hauptversammlung den Beschluss nur in Kenntnis möglichst aller Auswirkungen des pflichtwidrigen Verhaltens fasst.299) Allerdings liegt es ggf. auch schon vor Ablauf der Frist im Interesse der Gesellschaft sowie der Organmitglieder, durch Abschluss eines Vergleichs eine Klärung der Rechtslage herbeizuführen.300) Daher wird in der Literatur teilweise eine Abschaffung der Frist gefordert.301) 88 Für die Fristberechnung sind die allgemeinen bürgerlich-rechtlichen Vorschriften der §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB maßgeblich.302) Auf die Kenntnis oder das Kennenmüssen kommt es nicht an.303) Auch ist unerheblich, ob und inwieweit das Ausmaß des Schadens überhaupt schon abgeschätzt werden kann.304) Allerdings formuliert § 93 Abs. 4 Satz 4 eine Ausnahme von der zeitlichen Beschränkung für den Fall, dass der Ersatzpflichtige zahlungsunfähig ist und sich zur Abwendung des Insolvenzverfahrens mit seinen Gläubigern vergleicht oder dass die Ersatzpflicht in einem Insolvenzplan geregelt wird. 89 Ein Verzicht erfolgt typischerweise in Form eines Erlassvertrages gemäß § 397 Abs. 1 BGB oder eines negativen Schuldanerkenntnisses gemäß § 397 Abs. 2 BGB.305) Er führt zu einem Erlöschen des Schadensersatzanspruchs der Gesellschaft. Ein Vergleich bewirkt eine Minderung des Schadensersatzanspruchs der Höhe nach. Erfasst wird nicht nur der prozessuale, sondern auch der außergerichtliche Vergleich nach § 779 BGB.306) Dazu zählen insbesondere auch Abfindungsvereinbarungen, die eine ein- oder beidseitige Anspruchserledigung vorsehen.307) Darüber hinaus sind die Voraussetzungen des § 93 Abs. 4 Satz 3 und 4 auch auf solche Rechtshandlungen anzuwenden, die einem Verzicht oder Vergleich wirtschaftlich gleichkommen.308) Das betrifft z. B. einen Klageverzicht nach § 306 ZPO, ein Anerkenntnis nach § 307 ZPO sowie ein pactum de non petendo oder eine Stundung.309) Aufgrund ihrer vergleichbaren wirtschaftlichen Folgen ist auch eine vor Fristablauf getroffene Schiedsgutachtenvereinbarung zwischen Vorstand und Gesellschaft erfasst.310) Hingegen erstreckt sich der Anwendungsbereich des § 93 Abs. 4 Satz 3 nicht auf sonstige Verfügungen über _____________ 297) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 67. 298) DAV (Handelsrechtsausschuss), NZG 2010, 897, 899 f.; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 67; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 284; a. A. Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 514. 299) Begr. RegE in: Kropff, AktG, S. 123; Hasselbach/Seibel, AG 2008, 770, 772; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 76; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 278; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 65. 300) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 65. 301) DAV (Handelsrechtsausschuss), NZG 2010, 897, 899 f.; Dietz-Vellmer, NZG 2011, 248, 249; Habersack, ZHR 177 (2013) 782, 804 f.; Hopt, ZIP 2013, 1793, 1802 f.; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 164; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 338; Fleischer, WM 2005, 909, 918 f. 302) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 520; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 282. 303) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 282; Hirte/Stoll, ZIP 2010, 253, 254. 304) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 520; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 282. 305) Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 308; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 170. 306) Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 308; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 170; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 129. 307) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 527; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 64. 308) OLG München, Urt. v. 30.3.2017 – 23 U 3159/16, juris. 309) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 341; Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 309; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 527; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 64; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 171. 310) OLG München, Urt. v. 30.3.2017 – 23 U 3159/16, juris, dazu GWR 2017, 357 (Stretz).

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den Ersatzanspruch, wie Abtretungen, Verpfändungen und Aufrechnungen, es sei denn, darin liegt eine Umgehung der Regelung.311) Werden die Anforderungen des § 93 Abs. 4 Satz 3 nicht gewahrt, ist die jeweilige Rechts- 90 handlung nichtig.312) Eine rückwirkende Heilung bei Nichteinhaltung der Frist ist nicht möglich, so dass das Rechtsgeschäft erneut vorgenommen werden muss.313) VII. Anspruchsverfolgung 1.

Durch den Aufsichtsrat

Nach § 112 ist der Aufsichtsrat für die Vertretung der Gesellschaft gegenüber Vorstands- 91 mitgliedern zuständig. Somit fällt auch die Inanspruchnahme wegen Schadensersatzansprüchen in seinen Zuständigkeitsbereich. Dabei ist zu beachten, dass der BGH seit der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung eine entsprechende Pflicht des Aufsichtsrats annimmt, bei deren Verletzung eine eigene Haftung des Aufsichtsrats droht.314) Diese Pflicht steht jedoch unter dem Vorbehalt entgegenstehender gewichtiger Gründe des Unternehmenswohls, d. h. der Aufsichtsrat kann von der Geltendmachung absehen, wenn er zu dem Ergebnis kommt, dass die gegen eine Rechtsverfolgung sprechenden Gründe mindestens gleichwertig sind.315) Solche entgegenstehenden Gründe können bspw. negative Auswirkungen auf die Geschäftstätigkeit, das Ansehen316) oder das Betriebsklima der Gesellschaft sowie eine Behinderung der Vorstandstätigkeit sein.317) Die Schonung des Vorstandsmitglieds bzw. dessen Familie ist hingegen kein beachtlicher Grund.318) Ebenfalls unbeachtlich ist der Umstand, dass die Anspruchsdurchsetzung zu einer Selbstbelastung des Aufsichtsrats führt. Die Grundsätze des Selbstbezichtigungsverbotes finden nach der Easy-SoftwareEntscheidung des BGH keine Anwendung, da der Aufsichtsrat als Überwachungsorgan in einem besonderen Pflichtenverhältnis zu der Gesellschaft steht319) und anderenfalls seine besondere Überwachungs- und Schutzfunktion unterlaufen würde.320) Berücksichtigungsfähig ist u. U. die Erwägung, dass eine unterlassene Geltendmachung möglicherweise eine erhöhte Kooperationsbereitschaft des Vorstandsmitglieds bewirkt.321) Bei der Entscheidungsfindung kommt dem Aufsichtsrat ein Ermessen mit der Privilegierung nach der Business Judgement Rule zu.322) _____________ 311) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 530. 312) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 342; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 533; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 174. 313) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 135; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 286. 314) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95 (ARAG/Garmenbeck), BGHZ 135, 244, 251 ff. = ZIP 1997, 883; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 291; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 46; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 77; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 215. 315) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95 (ARAG/Garmenbeck), BGHZ 135, 244, 251 ff. = ZIP 1997, 883; Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 292; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 46; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 80. 316) Spindler in: BeckOGK-AktR, § 116 AktG Rz. 64. 317) Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 292. 318) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95 (ARAG/Garmenbeck), BGHZ 135, 244, 251 ff. = ZIP 1997, 883. 319) Kritisch hierzu Fleischer, ZIP 2018, 2341, 2348; Jenne/Miller, AG 2019, 112, 121. 320) BGH, Urt. v. 18.9.2018 – II ZR 152/17, Rz. 45 f., BGHZ 219, 356 = ZIP 2018, 2117; zustimmend: Bayer/Scholz, NZG 2019, 201, 206 f.; Altmeppen, ZIP 2019, 1253, 1258 f.; kritisch zum Sebstbezichtigungsgebot Fleischer, ZIP 2018, 2341, 2347 ff. 321) Habersack, ZHR 177 (2013) 782, 787; Hasselbach/Seibel, AG 2008, 770, 774; K. Schmidt/LutterSailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 46; a. A. Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 292. 322) Goette, ZHR 176 (2012) 588, 608 ff.; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 46; Reichert, ZHR 177 (2013) 756, 768; Spindler, AG 2013, 889, 898; a. A. Koch, NZG 2014, 934; Lutter in: FS Hoffmann-Becking, S. 747, 752 f.

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§ 93 2.

Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder Durch Aktionäre

92 Die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen kann von den Aktionären durch Hauptversammlungsbeschluss gemäß § 147 Abs. 1 erzwungen werden. Einer Aktionärsminderheit, deren Anteile 1 % am Grundkapital oder 1.000.000 € erreichen, steht das Klagezulassungsverfahren nach § 148 offen (siehe unten § 148 Rz. 3 ff.). 3.

Durch Gesellschaftsgläubiger (§ 93 Abs. 5)

93 Obwohl grundsätzlich der Aufsichtsrat für die Geltendmachung der Ersatzansprüche zuständig ist, sieht § 93 Abs. 5 eine entsprechende Möglichkeit auch für die Gesellschaftsgläubiger vor – wenn auch nur unter bestimmten Voraussetzungen. Zweck der Vorschrift ist eine Erleichterung der Gläubigerbefriedigung. Diese müssten anderenfalls zuerst gegen die Gesellschaft vorgehen und anschließend den Ersatzanspruch der Gesellschaft gegenüber dem Vorstand nach §§ 829, 835 ZPO pfänden und sich überweisen lassen.323) 94 Dogmatisch wird in der Vorschrift überwiegend ein eigener materieller Anspruch des Gläubigers gesehen.324) Die Minderansicht nimmt eine Prozessstandschaft an.325) Dagegen spricht jedoch zum einen, dass die Vorschrift den Gläubigern gerade ermöglicht, Zahlung an sich selbst und nicht nur an die Gesellschaft zu verlangen.326) Darüber hinaus ließe sich auf der Grundlage einer Prozessstandschaft nicht erklären, warum der Gläubiger auch dann einen Anspruch hat, wenn der Gesellschaft z. B. infolge eines Vergleichs oder Verzichts ein solcher nicht mehr zusteht.327) 95 Voraussetzung für die Anspruchsgeltendmachung ist das Bestehen einer fälligen Forderung gegen die Gesellschaft, für die der Gläubiger keine Befriedigung durch die Gesellschaft erlangen kann. Das ist bereits dann anzunehmen, wenn die Gesellschaft objektiv nicht zahlen kann, ohne dass zwingend vorab erfolglose Vollstreckungsversuche unternommen werden müssten.328) Bloße Zahlungsunwilligkeit reicht hingegen nicht aus.329) Auf Rechtsgrund und Entstehungszeitpunkt des Anspruchs kommt es nicht an, solange er auf Geldleistung gerichtet ist bzw. in eine solche übergehen kann.330) 96 Für die erforderliche Schwere der Pflichtverletzung ist nach der Art des Ersatzanspruchs zu differenzieren. § 93 Abs. 5 Satz 2 fordert für andere als die Fälle des § 93 Abs. 3 eine gröbliche Verletzung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters. Folglich ist zumindest grobe Fahrlässigkeit erforderlich.331) Aus der Formulierung ergibt _____________ 323) Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 322; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 80; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 179; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 301. 324) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 348; Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 322; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 549; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 68; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 107. 325) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 21.10.1976 – 1 U 19/76, WM 1977, 59, 62; LG Köln, Urt. v. 13.1.1976 – 3 O 243/75, AG 1976, 105, 106; Habscheid in: FS Weber, S. 197, 202 ff. 326) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 348; Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, AktG, § 93 Rz. 156; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 551. 327) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 348; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 551; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 180. 328) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 69; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 82; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 182. 329) Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, AktG, § 93 Rz. 153; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 559; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 107; Heidel-U. Schmidt, AktR, § 93 AktG Rz. 151. 330) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 556; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 182; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 302. 331) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 561; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 182; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 303.

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Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder

§ 93

sich zugleich, dass für die Sondertatbestände des § 93 Abs. 3 leichte Fahrlässigkeit ausreicht.332) § 93 Abs. 5 Satz 3 sieht vor, dass die Ersatzpflicht gegenüber den Gläubigern nicht durch 97 Verzicht, Vergleich oder Hauptversammlungsbeschluss der AG aufgehoben werden kann. Liegt ein rechtmäßiger Hauptversammlungsbeschluss i. S. des § 83 Abs. 2 vor, ist allerdings zu beachten, dass es bereits an einem pflichtwidrigen Verhalten des Vorstandes fehlt, mithin schon kein Ersatzanspruch entsteht.333) Umstritten ist, ob sich die Anwendbarkeit des § 93 Abs. 5 Satz 3 auf Vergleiche nach Absatz 4 Satz 4 erstreckt, die zur Abwendung bzw. Beseitigung des Insolvenzverfahrens abgeschlossen werden. Nach dem Wortlaut ist das zwar grundsätzlich zu bejahen.334) Überwiegend wird aber unter Verweis auf den Zweck der Vorschrift eine Wirkung des Vergleichs auch gegenüber den Gläubigern angenommen, um die Gläubiger der AG nicht besser zu stellen. Kommt es zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Gesellschaftsvermögen, so ver- 98 lieren die Gläubiger ihre Aktivlegitimation.335) Das Recht zur Geltendmachung der Ersatzansprüche geht nach § 93 Abs. 5 Satz 4 auf den Insolvenz- bzw. Sachwalter über. VIII. Verjährung (§ 93 Abs. 6) § 93 Abs. 6 legt die Verjährungsfrist auf fünf bzw. zehn Jahre fest. Voraussetzung für das 99 Eingreifen der durch das Restrukturierungsgesetz336) eingeführten zehnjährigen Frist ist, dass die Gesellschaft zum Zeitpunkt der Pflichtverletzung börsennotiert war337) und ein Anspruch betroffen ist, der bei Inkrafttreten des Gesetzes am 15.12.2010 noch nicht verjährt war338). Die Verjährungsverlängerung wird in der Literatur überwiegend kritisch gesehen. Sie bewirkt in Kombination mit der Beweislastumkehr nicht nur eine unzumutbare Härte für die Vorstandsmitglieder,339) sondern auch eine fragwürde Differenzierung zwischen börsennotierten und nicht börsennotierten Unternehmen.340) Die Berechnung der Verjährungsfrist richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften der 100 §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB.341) Maßgeblich für den Beginn ist gemäß § 200 BGB die Anspruchsentstehung, unabhängig von der Kenntniserlangung.342) Der Anspruch entsteht nicht vor Beendigung des pflichtwidrigen Handelns. Eine Bezifferbarkeit des Schadens ist

_____________ 332) Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 327; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 303. 333) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 71; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 314. 334) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 543: K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 71; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 185; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 93 Rz. 315. 335) Bürgers/Körber/Lieder-Bürgers, AktG, § 93 Rz. 46; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 354. 336) Gesetz zur Restrukturierung und geordneten Abwicklung von Kreditinstituten, zur Errichtung eines Restrukturierungsfonds für Kreditinstitute und zur Verlängerung der Verjährungsfrist der aktienrechtlichen Organhaftung (Restrukturierungsgesetz) v. 9.12.2010, BGBl. I 2010, 1900. 337) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 357; Harbarth/Jaspers, NZG 2011, 368, 372; K. Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 74; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 67. 338) Fleischer, AG 2014, 457, 459; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 357; K. Schmidt/LutterSailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 74. 339) Fleischer, AG 2014, 457, 459, 467; DAV (Handelsrechtsausschuss), NZG 2010, 897; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 85; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 75; Lorenz, NZG 2010, 1046, 1052. 340) Baums, ZHR 174 (2010) 593 f.; DAV (Handelsrechtsausschuss), NZG 2010, 897, 898; K. Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 75. 341) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 87c; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 200. 342) BGH, Urt. v. 18.9.2018 – II ZR 152/17, Rz. 17, BGHZ 219, 356 = ZIP 2018, 2117; BGH, Urt. v. 29.9.2008 – II ZR 234/07, ZIP 2008, 2217, 2219 = NZG 2008, 908; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 68.

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§ 93

Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder

nicht erforderlich.343) Bei fortdauerndem pflichtwidrigem Unterlassen ist nach der Rechtsprechung des BGH zwischen den Fällen eines einheitlichen Dauerunterlassens (Verjährung beginnt erst mit Beendigung der Unterlassung) und den Fällen sich wiederholender einzelner Unterlassungen (Verjährung beginnt für jeden infolge der einzelnen Unterlassung eingetretenen Schaden gesondert) zu differenzieren.344) Im erstgenannten Fall endet die Unterlassung in dem Zeitpunkt des Eintritts der Nichtnachholbarkeit und die Frist beginnt zu laufen.345) Im zweitgenannten Fall ist auf den Eintritt des jeweiligen Teilschadens abzustellen.346) Auch für Hemmung und Neubeginn der Verjährung sind die allgemeinen Regeln der §§ 203 ff. BGB maßgeblich.347) 101 Inwieweit die Verjährungsfrist des § 93 Abs. 6 zwingenden Charakter hat, wird in der neueren Literatur diskutiert. Nachdem zunächst ganz überwiegend davon ausgegangen wurde, dass weder eine Verlängerung noch eine Verkürzung der Frist in Betracht käme,348) wird das mittlerweile bezweifelt. Zwar kann die Verjährung richtigerweise nicht durch Vertrag verkürzt werden.349) Erwogen wird insbesondere aber die Möglichkeit der Verjährungsverlängerung für bereits entstandene Ansprüche.350) Teilweise werden darüber hinaus individualvertragliche Vereinbarungen über eine Verjährungsverlängerung insgesamt für zulässig gehalten.351) Gegen eine Verlängerung innerhalb der Grenzen des § 202 Abs. 2 BGB von 30 Jahren bestehen keine Bedenken.352) Zum Zwecke der Rechtssicherheit empfiehlt sich ggf. als Alternative ein Verzicht auf die Einrede der Verjährung oder eine außergerichtliche Hemmung nach §§ 203 ff. BGB.353) Eine Zustimmung der D&O-Versicherung kann nach den Versicherungsbedingungen erforderlich sein, so dass es in jeden Fall empfehlenswert ist, den Verzicht mit der Versicherung abzustimmen.354) IX.

Allgemeines zur Schadensersatzpflicht des Vorstands gegenüber der Gesellschaft und gegenüber Dritten

102 In erster Linie ist die Haftung des Vorstands auf Schadensersatz als Organinnenhaftung ausgestaltet, d. h. die Vorstandsmitglieder haften gegenüber der Gesellschaft aus § 93 Abs. 2. Aufgrund des abgeschlossenen Dienstvertrages kommt außerdem eine vertragliche Haftung aus § 280 BGB in Betracht, die aber neben der aktienrechtlichen Spezialregelung keine eigenständige Bedeutung hat.355) Eine Haftung gegenüber Dritten (Organaußenhaftung) kann aufgrund vertraglicher, vertragsähnlicher und deliktsrechtlicher Anspruchsgrundlagen bestehen.356) Auch steuerrechtliche und sozialversicherungsrechtliche Haftungstatbestände sind denkbar. _____________ 343) Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 336; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 586; K. Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 77; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 69. 344) BGH, Urt. v. 18.9.2018 – II ZR 152/17, Rz. 18, BGHZ 219, 356 = ZIP 2018, 2117; zustimmend Fleischer, ZIP 2018, 2341, 2344. 345) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 87b; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 361. 346) BGH, Urt. v. 18.9.2018 – II ZR 152/17, Rz. 18, BGHZ 219, 356 = ZIP 2018, 2117. 347) OLG Stuttgart, Urt. v. 25.11.2009 – 20 U 5/09, ZIP 2009, 2386 = WM 2010, 120, dazu EWiR 2010, 477 (Becker/Laubinger); Hölters-Hölters, AktG, § 93 Rz. 338; Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 598. 348) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 93 Rz. 199. 349) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 67. 350) Hopt/Roth in: GroßKomm-AktG, § 93 Rz. 585; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 88; K. Schmidt/ Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rz. 77; Schnorbus/Klormann, NZG 2015, 938, 939; Schwab, NZG 2013, 521, 526; Wahlers/Wolff, AG 2011, 605, 606 ff. 351) In diese Richtung Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 365. 352) Schwab, NZG 2013, 521, 526; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 67 und 74. 353) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 88; Wahlers/Wolff, AG 2011, 605, 609 ff. 354) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 74. 355) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 93 Rz. 36; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 1. 356) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 23 Rz. 3.

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Stellvertreter von Vorstandsmitgliedern

§ 94

§ 94 Stellvertreter von Vorstandsmitgliedern Simon Link

Die Vorschriften für die Vorstandsmitglieder gelten auch für ihre Stellvertreter. Gemäß § 94 gelten die Vorschriften für die Vorstandsmitglieder auch für ihre Stellvertreter. Mit dem Begriff des „Stellvertreters“ ist hier kein Stellvertreter i. S. der §§ 164 ff. BGB gemeint, sondern ein vollwertiges, mit sämtlichen Rechten und Pflichten ausgestattetes Vorstandsmitglied, das dem ordentlichen Vorstandsmitglied im Außenverhältnis gleich steht und sich von diesem nur begrifflich, nicht aber rechtlich unterscheidet.1) Das stellvertretende Vorstandsmitglied trägt volle Leitungsverantwortung mit allen Konsequenzen (§ 93).2) Lediglich die Geschäftsführungsbefugnis des stellvertretenden Mitglieds im Innenverhältnis (§ 77) kann beschränkt werden, indem festgelegt wird, dass es für bestimmte Fälle nur bei Fehlen oder Verhinderung eines ordentlichen Mitglieds zuständig ist.3) Die Bestellung zum stellvertretenden Vorstandsmitglied bringt daher nicht mehr als eine interne hierarchische Unterordnung zum Ausdruck.4) In der Praxis ist eine Bestellung zum stellvertretenden Mitglied selten.5) Wenn der hierarchischen Abstufung sachliche Erwägungen zugrunde liegen (z. B. Dauer der Betriebszugehörigkeit, Dienstalter, Erfahrung), kann auch der Arbeitsdirektor in mitbestimmten Gesellschaften zum stellvertretenden Vorstandsmitglied ernannt werden.6) Es gelten für stellvertretende Mitglieder keine Besonderheiten, insbesondere Bestellung und Widerruf, aber auch die „Beförderung“ zum ordentlichen Vorstandsmitglied erfolgen nach den allgemeinen Bestimmungen des § 84.7) Erforderlich ist mithin ein Beschluss des Gesamtaufsichtsrats.8) Die Ernennung eines bisher stellvertretenden zum ordentlichen Vorstandsmitglied unterliegt in mitbestimmten Gesellschaften allerdings nicht den besonderen Regeln des § 31 Abs. 2 – 4 MitbestG.9) Die stellvertretenden Mitglieder sind im Handelsregister einzutragen (§ 81 Abs. 1). Allerdings ist ein Stellvertretervermerk weder erforderlich noch zulässig.10) Auch auf den Geschäftsbriefen sind die stellvertretenden Vorstandsmitglieder anzugeben, wiederum ohne einen entsprechenden Zusatz.11) _____________ 1) Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 8 Rz. 112; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 94 Rz. 1; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 3 Rz. 59 f. 2) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 94 Rz. 2; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 3 Rz. 60; einschränkend: Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 94 Rz. 7; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 8 Rz. 113. 3) Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 8 Rz. 112; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 489; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 3 Rz. 59. 4) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 94 Rz. 2; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 3 Rz. 60. 5) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 3 Rz. 60. 6) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 94 Rz. 9; Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 94 Rz. 14; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 94 Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 94 Rz. 4. 7) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 94 Rz. 3; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 3 Rz. 59. 8) K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 94 Rz. 3; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 3 Rz. 60; einschränkend: Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 94 Rz. 7; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 8 Rz. 113. 9) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 94 AktG Rz. 5; Habersack/Foerster in: GroßKomm-AktG, § 94 Rz. 13; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, § 8 Rz. 113; K. Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, AktG, § 94 Rz. 4; a. A. Seyfarth, Vorstandsrecht, § 3 Rz. 59. 10) BGH, Beschl. v. 10.11.1997 – II ZB 6/97, ZIP 1998, 152 = NJW 1998, 1071; Fleischer in: BeckOGKAktR, § 94 AktG Rz. 8; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 3 Rz. 60. 11) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 94 AktG Rz. 9; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 3 Rz. 60; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 24 Rz. 23, der die Angabe des Zustatzes gleichwohl für zulässig erachtet.

Simon Link

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1

2

3

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§ 95

Zahl der Aufsichtsratsmitglieder

Zweiter Abschnitt Aufsichtsrat § 95 Zahl der Aufsichtsratsmitglieder Werner Paul Schick

1

Der Aufsichtsrat besteht aus drei Mitgliedern. 2Die Satzung kann eine bestimmte höhere Zahl festsetzen. 3Die Zahl muß durch drei teilbar sein, wenn dies zur Erfüllung mitbestimmungsrechtlicher Vorgaben erforderlich ist. 4Die Höchstzahl der Aufsichtsratsmitglieder beträgt bei Gesellschaften mit einem Grundkapital bis zu

1.500.000 Euro neun,

von mehr als

1.500.000 Euro fünfzehn,

von mehr als

10.000.000 Euro einundzwanzig.

5

Durch die vorstehenden Vorschriften werden hiervon abweichende Vorschriften des Mitbestimmungsgesetzes des Montan-Mitbestimmungsgesetzes und des Mitbestimmungsergänzungsgesetzes nicht berührt. Literatur: Bayer/Scholz, Der Verzicht auf die Dreiteilbarkeit der Mitgliederzahl des Aufsichtsrats nach der Neufassung des § 95 Satz 3 AktG, ZIP 2016, 193; Göz, Statusverfahren bei Änderungen in der Zusammensetzung des Aufsichtsrats ZIP 1998, 1523; Harbarth/v. Plettenberg, Aktienrechtsnovelle 2016: Punktuelle Fortentwicklung des Aktienrechts, AG 2016, 145; Ihrig/Wandt, Die Aktienrechtsnovelle 2016, BB 2016, 6; Kort, Corporate Governance-Fragen der Größe und der Zusammensetzung des Aufsichtsrats bei AG, GmbH und SE, AG 2008, 137; Oetker, Der Anwendungsbereich des Statusverfahrens nach den §§ 97 ff. AktG, ZHR 149 (1985) 575; Paschos/ Goslar, Die Aktienrechtsnovelle 2016 – Ein Überblick, NJW 2016, 359; Söhner, Die Aktienrechtsnovelle 2016, ZIP 2016, 151; Stein, Rechtsschutz gegen gesetzeswidrige Satzungsnormen bei Kapitalgesellschaften, ZGR 1994, 472.

Übersicht I. Gegenstand und Zweck der Norm .................................................. 1 II. Satzungsregelungen ......................... 4 I.

III. Vorrang mitbestimmungsrechtlicher Vorschriften .......................... 10 IV. Rechtsfolgen eines Verstoßes ........ 11

Gegenstand und Zweck der Norm

1 Die Norm setzt den Aufsichtsrat als zwingend notwendiges Organ voraus, regelt die Zahl seiner Mitglieder und begrenzt die Satzungsautonomie.1) Die zahlenmäßige Zusammensetzung des Aufsichtsrats hängt von der Größe des Unternehmens und dem anzuwendenden Mitbestimmungsstatut ab. Nach der gesetzlichen Grundregel des § 95 Satz 1 i. V. m. Satz 2 besteht der Aufsichtsrat aus mindestens drei Mitgliedern. An diese Mindestzahl knüpft die Beschlussfähigkeit des Aufsichtsrats gemäß § 108 Abs. 2 Satz 3 an. 2 Die Norm schränkt die Gestaltungsmöglichkeiten der Hauptversammlung und der Satzung auf die Größe des Aufsichtsrats ein; zudem soll die Effektivität der Aufsichtsratstätigkeit gesichert werden, indem unabdingbare Höchstzahlen festgelegt werden.2) Nach § 95 Satz 5 gehen die mitbestimmungsrechtlichen Vorschriften über die Zusammensetzung der Auf_____________ 1) 2)

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Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 95 Rz. 13 und 37 ff.; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 95 Rz. 1. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 95 Rz. 37 f.; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 95 Rz. 1; Hüffer/KochKoch, AktG, § 95 Rz. 1.

Werner Paul Schick

§ 95

Zahl der Aufsichtsratsmitglieder

sichtsräte (§ 7 MitbestG, § 4 MontanMitbestG und § 5 MitbestErgG) vor; die Regelungen des § 95 sind relevant nur für Gesellschaften, die dem Drittelbeteiligungsgesetz3) unterliegen oder keinem der genannten Mitbestimmungsgesetze.4) Der Aufsichtsrat ist ein notwendiges Organ jeder AG; weder die Satzung noch die Haupt- 3 versammlung kann ihn abschaffen. Eine AG darf nur einen Aufsichtsrat haben, der auch als solcher bezeichnet sein muss.5) II.

Satzungsregelungen

Nach § 95 Satz 2 kann die Satzung eine bestimmte höhere Zahl als drei festsetzen;6) 4 niedrigere und variable Zahlen (Mindest- bzw. Höchstzahlen) sind unzulässig.7) Nach dem durch die Aktienrechtsnovelle 20168) geänderten Satz 3 muss die höhere Zahl nicht mehr generell durch drei teilbar sein; die Dreiteilbarkeit der Mitgliederzahl beschränkt sich auf die Fälle, in denen dies zur Erfüllung mitbestimmungsrechtlicher Vorgaben, mithin § 4 Abs. 1 DrittelbG, erforderlich ist.9) Nicht mitbestimmte AGs können die Größe des Aufsichtsrats, oberhalb der Mindestanzahl von drei Mitgliedern und unter Beachtung von Satz 4, nach ihrem Ermessen festlegen.10) Fehlende Aufsichtsratsmitglieder können auf Antrag des Vorstands, der anderen Aufsichtsratsmitglieder oder eines Aktionärs nach § 104 gerichtlich bestellt werden (siehe dort § 104 Rz. 2 ff. zu den weiteren Einzelheiten). Die gesetzlichen Höchstmitgliederzahlen (§ 95 Satz 4) beziehen sich auf das nach außen 5 wirksam gewordene Grundkapital: Erhöhungen des Grundkapitals sind erst zu berücksichtigen, wenn die Aktien ausgegeben wurden (siehe § 200 für die bedingte Kapitalerhöhung) oder die Kapitalerhöhung eingetragen wurde (siehe § 203 i. V. m. § 189 für das genehmigte Kapital bzw. § 211 für die Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln).11) Einzurechnen sind sämtliche Mitglieder, Ersatzmitglieder erst dann, wenn das zu ersetzende Mitglied weggefallen ist (§ 101 Abs. 3 Satz 2). Ehrenvorsitzende oder Ehrenmitglieder sind nicht zu berücksichtigen.12) Innerhalb der Grenzen des § 95 Satz 4 kann die Erhöhung der Mitgliederzahl durch Sat- 6 zungsänderung erfolgen, ohne dass ein Statusverfahren erforderlich ist.13) Wirksamkeit erlangt diese durch Eintragung ins Handelsregister (§ 181 Abs. 3). Die zusätzlichen Aufsichtsratsmitglieder können in der Hauptversammlung gewählt werden, in der die Satzungs_____________ 3) Gesetz über die Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat (Drittelbeteiligungsgesetz – DrittelbG) v. 18.5.2004, BGBl. I 2004, 974. 4) Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 95 Rz. 2; Kort, AG 2008, 137, 138 f. 5) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 95 Rz. 46; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 95 Rz. 5; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 95 Rz. 1. 6) S. dazu LG München I, Beschl. v. 27.2.2017 – 5 HK O 14748/16, ZIP 2017, 1326, 1327; Semler/ v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 95 Rz. 14. 7) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 95 Rz. 61; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 95 Rz. 9; Hüffer/KochKoch, AktG, § 95 Rz. 3. 8) Gesetz zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2016) v. 22.12.2015, BGBl. I 2015, 2565, in Kraft getreten am 31.12.2015; s. dazu etwa Söhner, ZIP 2016, 151 ff.; Paschos/Goslar, NJW 2016, 359 ff. 9) Bayer/Scholz, ZIP 2016, 193; Ihrig/Wandt, BB 2016, 6, 12; Harbarth/v. Plettenberg, AG 2016, 145, 149; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 95 Rz. 3. 10) Harbarth/v. Plettenberg, AG 2016, 145, 149; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 95 Rz. 3. 11) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 95 Rz. 70; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 95 Rz. 13. 12) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 95 Rz. 71; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 95 Rz. 14. 13) OLG Hamburg, Beschl. v. 26.8.1988 – 11 W 53/88, ZIP 1988, 1191, 1192; LAG Düsseldorf, Beschl. v. 18.12.1987 – 10 Ta BV 132/87, AG 1989, 66, 67 f.; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 95 Rz. 17; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 95 Rz. 28; Koch, AktG, § 95 Rz. 5.

Werner Paul Schick

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§ 95

Zahl der Aufsichtsratsmitglieder

änderung beschlossen wurde. Deren Amtszeit beginnt jedoch erst mit der Eintragung der Satzungsänderung in das Handelsregister.14) 7 Wenn aufgrund einer Kapitalerhöhung (nach deren Eintragung, § 181 Abs. 3) eine höhere Zahl an Aufsichtsratsmitgliedern zulässig ist, kann sie durch Satzungsänderung angepasst werden, was aber nicht obligatorisch ist.15) Erst die Satzungsänderung führt zu einer Änderung der Zahl der Aufsichtsratsmitglieder.16) 8 Wird durch eine Satzungsänderung während der laufenden Amtsperiode die Zahl der Aufsichtsratsmitglieder verringert, führt dies nicht zum automatischen Ausscheiden überzähliger Mitglieder aus ihrem Amt.17) In einer nicht der Mitbestimmung unterliegenden Gesellschaft kann die Hauptversammlung gemäß § 103 Abs. 1 überzählige Mitglieder vorzeitig ohne weiteren Grund abberufen.18) Durch eine Satzungsänderung während einer laufenden Amtsperiode dürfen die gewählten Arbeitnehmervertreter nicht in ihrer Rechtsstellung beeinträchtigt werden.19) Eine Abberufung der Mitglieder eines nach DrittelbG gebildeten Aufsichtsrats vor Ablauf ihrer Amtsperiode scheidet mit Blick auf § 103 Abs. 4, § 12 DrittelbG aus.20) Dies gilt entsprechend für die Anteilseignervertreter der mitbestimmten Gesellschaft,21) da andernfalls nicht das Verhältnis zwischen Anteilseigner- und Arbeitnehmervertretern gewahrt werden kann.22) Die Regeln des Statusverfahrens nach §§ 97 ff. sind bei den auf Satzungsrecht beruhenden Größenveränderungen des Aufsichtsrats nicht anwendbar.23) 9 Im Falle des Unterschreitens der Schwellenzahlen des § 95 Satz 4 durch eine Kapitalherabsetzung (§§ 222 ff. oder 229 ff.) ist ebenfalls danach zu unterscheiden, ob die Gesellschaft der Mitbestimmung unterliegt oder nicht. Bei einer nicht der Mitbestimmung unterliegenden Gesellschaft gelten die vorstehenden Ausführungen zur Satzungsänderung entsprechend. Kontrovers beurteilt wird, ob bei mitbestimmten Gesellschaften ein Statusverfahren durchzuführen ist,24) weshalb teilweise aus Vorsichtsgründen die Durchführung eines Statusverfahrens empfohlen wird.25)

_____________ 14) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 95 Rz. 17; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 95 Rz. 29. 15) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 95 Rz. 17; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 95 Rz. 30. 16) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 95 Rz. 5; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 95 Rz. 30. 17) BAG, Beschl. v. 3.10.1989 – 1 ABR 12/88, WM 1990, 633, 635; LAG Düsseldorf, Beschl. v. 18.12.1987 – 10 Ta BV 132/87, AG 1989, 66, 67 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 95 Rz. 5. 18) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 95 Rz. 18; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 95 Rz. 5; a. A. Oetker, ZHR 149 (1985) 575, 586. 19) OLG Dresden, Beschl. v. 18.2.1997 – 14 W 1396/96, ZIP 1997, 589, 591; LAG Düsseldorf, Beschl. v. 18.12.1987 – 10 Ta BV 132/87, AG 1989, 66, 67 f. 20) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 95 Rz. 19; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 95 Rz. 5; s. a. BAG, Beschl. v. 3.10.1989 – 1 ABR 12/88, WM 1990, 633, 635 f. 21) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 95 Rz. 19; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 95 Rz. 101. 22) Hölters-Simons, AktG, § 95 Rz. 14 – Gruppenparität. 23) OLG Hamburg, Beschl. v. 26.8.1988 – 11 W 53/88, ZIP 1988, 1191, 1192; LAG Düsseldorf, Beschl. v. 18.12.1987 – 10 Ta BV 132/87, AG 1989, 66, 67 f.; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 95 Rz. 18 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 95 Rz. 5; a. A. BAG, Beschl. v. 3.10.1989 – 1 ABR 12/88, WM 1990, 633, 635 f.; Göz, ZIP 1998, 1523, 1525; Oetker, ZHR 149 (1985) 575, 582 ff. 24) Für Statusverfahren: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 95 Rz. 5; Oetker, ZHR 149 (1985) 575, 582; ablehnend Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 61; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 95 Rz. 19. 25) Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 95 Rz. 42.

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Werner Paul Schick

§ 95

Zahl der Aufsichtsratsmitglieder III.

Vorrang mitbestimmungsrechtlicher Vorschriften

Der in § 95 Satz 5 erwähnte Vorrang mitbestimmungsrechtlicher Vorschriften26) hat wegen 10 deren Spezialität nur klarstellende Funktion.27) Nach diesen Vorschriften gelten von § 95 Sätze 1 bis 4 abweichende Regelungen. Es ist nicht auf das Grundkapital abzustellen; vielmehr hängt die Größe des Aufsichtsrats von der Arbeitnehmeranzahl ab (siehe etwa § 7 MitbestG) und es gelten andere Mindest- und Höchstzahlen für die Aufsichtsratsmitglieder.28) Im Geltungsbereich des MitbestG gelten gerade Mitgliederzahlen (§ 7 MitbestG: 12, 16 oder 20), nach dem MontanMitbestG bzw. des MitbestErgG liegt die Höchstzahl bei 21 Mitgliedern (siehe im Einzelnen § 96 Rz. 5 ff.).29) IV.

Rechtsfolgen eines Verstoßes

Verstoßen Satzungsbestimmungen gegen die gesetzlichen Regeln (zu kleine oder un- 11 bestimmte Mitgliederzahl, Verstoß gegen Höchstzahl oder Dreiteilbarkeit trotz mitbestimmungsrechtlichem Erfordernis) führt dies zur Nichtigkeit der entsprechenden Satzungsbestimmung (nach § 134 BGB bzw. § 241 Nr. 3 bei Satzungsänderung).30) Bei Verstößen gegen § 95 Satz 2 oder Satz 3 ist auf die Grundregel des § 95 Satz 1 zurückzugreifen, so dass der Aufsichtsrat aus drei Mitgliedern zu bestehen hat. Wird gegen § 95 Satz 4 verstoßen, gilt stattdessen die jeweilige gesetzliche Höchstzahl.31) Bei auf Basis nichtiger Satzungsbestimmungen erfolgten Wahlen sind nach § 250 Abs. 1 12 Nr. 3 die Wahlbeschlüsse nur nichtig, wenn die in Satz 4 oder Satz 5 höchst zulässige Mitgliederzahl überschritten wird.32) Bei Einzelwahlen sind die drei zuerst gewählten Mitglieder als gültig gewählt anzusehen, während bei Block- oder Listenwahl die Wahl insgesamt nichtig ist, sofern sich keine zeitliche Reihenfolge ermitteln lässt.33) Wählt die Hauptversammlung trotz Fehlens einer entsprechenden Satzungsbestimmung 13 mehr als drei Aufsichtsratsmitglieder, so tritt Nichtigkeit nur ein, wenn auch die gesetzliche Höchstzahl überschritten wird (§ 250 Abs. 1 Nr. 3). Andernfalls ist die Wahl nur anfechtbar (§§ 243, 251).34) Ein Unterschreiten der gesetzlichen Mindestzahl von drei Mitgliedern führt zur Beschluss- 14 unfähigkeit (§ 108 Abs. 2 Satz 3).

_____________ 26) LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 8.2.2010 – 1 HK O 8471/09, ZIP 2010, 372, 373, dazu EWiR 2010, 337 (Linnerz). 27) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 95 Rz. 15; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 95 Rz. 6. 28) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 95 Rz. 73; Habersack/Henssler-Henssler, MitbestR, § 7 MitbestG Rz. 14 ff. 29) Ausführlich dazu: Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 95 Rz. 74 ff.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 17 ff. und 26 ff. 30) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 95 Rz. 22; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 95 Rz. 77; a. A. Stein, ZGR 1994, 472, 488 – Anfechtbarkeit. 31) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 95 Rz. 22; Hölters-Simons, AktG, § 95 Rz. 21; a. A. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 95 Rz. 78. 32) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 95 Rz. 22; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 95 Rz. 7. 33) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 95 Rz. 24; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 95 Rz. 7 und § 250 Rz. 7. 34) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 95 Rz. 79 f.; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 95 Rz. 25.

Werner Paul Schick

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§ 96

Zusammensetzung des Aufsichtsrats

§ 96 Zusammensetzung des Aufsichtsrats Werner Paul Schick

(1) Der Aufsichtsrat setzt sich zusammen bei Gesellschaften, für die das Mitbestimmungsgesetz gilt, aus Aufsichtsratsmitgliedern der Aktionäre und der Arbeitnehmer, bei Gesellschaften, für die das Montan-Mitbestimmungsgesetz gilt, aus Aufsichtsratsmitgliedern der Aktionäre und der Arbeitnehmer und aus weiteren Mitgliedern, bei Gesellschaften, für die die §§ 5 bis 13 des Mitbestimmungsergänzungsgesetzes gelten, aus Aufsichtsratsmitgliedern der Aktionäre und der Arbeitnehmer und aus einem weiteren Mitglied, bei Gesellschaften, für die das Drittelbeteiligungsgesetz gilt, aus Aufsichtsratsmitgliedern der Aktionäre und der Arbeitnehmer, bei Gesellschaften für die das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung vom 21. Dezember 2006 (BGBl. I S. 3332) gilt, aus Aufsichtsratsmitgliedern der Aktionäre und der Arbeitnehmer, bei den übrigen Gesellschaften nur aus Aufsichtsratsmitgliedern der Aktionäre. (2) 1Bei börsennotierten Gesellschaften, für die das Mitbestimmungsgesetz, das MontanMitbestimmungsgesetz oder das Mitbestimmungsergänzungsgesetz gilt, setzt sich der Aufsichtsrat zu mindestens 30 Prozent aus Frauen und zu mindestens 30 Prozent aus Männern zusammen. 2Der Mindestanteil ist vom Aufsichtsrat insgesamt zu erfüllen. 3 Widerspricht die Seite der Anteilseigner- oder Arbeitnehmervertreter auf Grund eines mit Mehrheit gefassten Beschlusses vor der Wahl der Gesamterfüllung gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden, so ist der Mindestanteil für diese Wahl von der Seite der Anteilseigner und der Seite der Arbeitnehmer getrennt zu erfüllen. 4Es ist in allen Fällen auf volle Personenzahlen mathematisch auf- beziehungsweise abzurunden. 5 Verringert sich bei Gesamterfüllung der höhere Frauenanteil einer Seite nachträglich und widerspricht sie nun der Gesamterfüllung, so wird dadurch die Besetzung auf der anderen Seite nicht unwirksam. 6Eine Wahl der Mitglieder des Aufsichtsrats durch die Hauptversammlung und eine Entsendung in den Aufsichtsrat unter Verstoß gegen das Mindestanteilsgebot ist nichtig. 7Ist eine Wahl aus anderen Gründen für nichtig erklärt, so verstoßen zwischenzeitlich erfolgte Wahlen insoweit nicht gegen das Mindestanteilsgebot. 8Auf die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer sind die in Satz 1 genannten Gesetze zur Mitbestimmung anzuwenden. (3) 1Bei börsennotierten Gesellschaften, die aus einer grenzüberschreitenden Verschmelzung hervorgegangen sind und bei denen nach dem Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung das Aufsichts- oder Verwaltungsorgan aus derselben Zahl von Anteilseigner- und Arbeitnehmervertretern besteht, müssen in dem Aufsichts- oder Verwaltungsorgan Frauen und Männer jeweils mit einem Anteil von mindestens 30 Prozent vertreten sein. 2Absatz 2 Satz 2, 4, 6 und 7 gilt entsprechend. (4) Nach anderen als den zuletzt angewandten gesetzlichen Vorschriften kann der Aufsichtsrat nur zusammengesetzt werden, wenn nach § 97 oder nach § 98 die in der Bekanntmachung des Vorstands oder in der gerichtlichen Entscheidung angegebenen gesetzlichen Vorschriften anzuwenden sind. Literatur: Fromholzer/Simons, Die Festlegung von Zielgrößen für den Frauenanteil in Aufsichtsrat, Geschäftsleitung und Führungspositionen, AG 2015, 457; Göz, Statusverfahren bei

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§ 96

Zusammensetzung des Aufsichtsrats

Änderungen in der Zusammensetzung des Aufsichtsrats, ZIP 1998, 1523; Grobe, Die Geschlechterquote für Aufsichtsrat und Vorstand, AG 2015, 289; Habersack, Die Konzernmitbestimmung nach § 5 MitbestG und § 2 DrittelbG, AG 2007, 641; Habersack/Kersten, Chancengleiche Teilhabe an Führungspositionen in der Privatwirtschaft – Gesellschaftsrechtliche Dimensionen und verfassungsrechtliche Anforderungen, BB 2014, 2819; Hanau, Sicherung unternehmerischer Mitbestimmung, insbesondere durch Vereinbarung, ZGR 2001, 75; Herb, Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe an Führungspositionen – Umsetzung in der Praxis, DB 2015, 964; Hohenstatt/ Naber, Zum geplanten Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe an Führungspositionen. Gut gemeint – aber auch gut gemacht?, ZIP 2014, 2220; Jannott/Gressinger, Heilende Kraft des Kontinuitätsprinzips oder Perpetuierung nichtiger Aufsichtsratswahlen?, BB 2013, 2120; Kraack/ Steiner, Der Widerspruch gegen die Gesamterfüllung der festen Geschlechterquote im Aufsichtsrat, ZIP 2018, 49; Leßmann/Glattfeld, Der Aufsichtsrat beim Formwechsel einer GmbH in eine Aktiengesellschaft, ZIP 2013, 2390; Lutter, Das neue „Gesetz für kleine Aktiengesellschaften und zur Deregulierung des Aktienrechts“, AG 1994, 429; Raiser, Privatautonome Mitbestimmungsregelungen, BB 1977, 1461; Seibt, Schwellenwertzurechnung von Arbeitnehmern ausländischer Konzernunternehmen bei der Unternehmensmitbestimmung, DB 2016, 1743; Seibt, Geschlechterquote im Aufsichtsrat und Zielgrößen für die Frauenbeteiligung in Organen und Führungsebenen in der Privatwirtschaft, ZIP 2015, 1193; Seibt, Privatautonome Mitbestimmungsvereinbarungen: Rechtliche Grundlagen und Praxishinweise, AG 2005, 413; Stolzenberg, Vereinbarkeit des deutschen Mitbestimmungsgesetzes mit EU-Recht – Schlussanträge des Generalanwalts, DB 2017, 1077; Stüber, Frauenquote: Der Praxisleitfaden und weitere aktuelle Entwicklungen, BB 2015, 2243; Teichmann/Rüb, Die gesetzliche Geschlechterquote in der Privatwirtschaft, BB 2015, 898; Teichmann/Rüb, Der Regierungsentwurf zur Geschlechterquote in Aufsichtsrat und Vorstand, BB 2015, 259; Wasmann/Rothenburg, Praktische Tipps zum Umgang mit der Frauenquote, DB 2015, 291; Weber/Kiefner/Jobst, Die Nichtberücksichtigung ausländischer Arbeitnehmer bei der Berechnung der mitbestimmungsrechtlichen Schwellenwerte im Lichte von Art. 3 GG, AG 2018, 140.

Übersicht I. Gegenstand und Zweck der Norm ............................................ 1 II. Zusammensetzung des Aufsichtsrats (§ 96 Abs. 1) ...................... 2 1. Aufsichtsrat ohne Arbeitnehmervertreter nach dem AktG ................... 3 2. Drittelbeteiligungsgesetz – DrittelbG ............................................ 4 3. Paritätisch besetzter Aufsichtsrat nach dem Mitbestimmungsgesetz – MitbestG .......................................... 5 4. Montan-Mitbestimmungsgesetz – MontanMitbestG ................................ 6 5. Mitbestimmungsergänzungsgesetz – MitbestErgG .................................... 7 6. Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung – MgVG .............................................. 8

7. Europarechtskonformität des deutschen Mitbestimmungsrechts ................................................... 9 8. Mitbestimmungsvereinbarungen ........................................... 11 III. Geschlechterquote (§ 96 Abs. 2, Abs. 3) ............................................... 12 1. Grundsatz der Gesamterfüllung ............................................ 13 2. Widerspruchsmöglichkeit ................ 14 3. Rechtsfolgen bei Verstößen ............ 15 4. Sonderregelung in § 96 Abs. 3 ......... 17 5. Berichtspflicht .................................. 18 6. Übergangsregelungen ...................... 19 IV. Änderung der Zusammensetzung des Aufsichtsrats (§ 96 Abs. 4) ............................................... 20

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§ 96 I.

Zusammensetzung des Aufsichtsrats Gegenstand und Zweck der Norm

1 § 96 Abs. 1 enthält eine Aufzählung der mitbestimmungsrechtlichen Regelungen und verbindet so das Aktienrecht mit den Regelungen über die Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat.1) Mit dem ersten Führungspositionengesetz (FüPoG)2) sollte die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern gefördert werden, wozu Neuregelungen zur Zusammensetzung des Aufsichtsrats eingeführt wurden.3) In § 96 wurden in Absatz 2 und 3 Regelungen zur festen Geschlechterquote eingefügt. § 96 Abs. 4 enthält den Kontinuitätsgrundsatz und bezweckt die Schaffung von Rechtssicherheit, indem der Aufsichtsrat nur aufgrund eines außergerichtlichen Statusverfahrens nach § 97 oder eines gerichtlichen Verfahrens nach §§ 98 f. anders als bisher zusammengesetzt werden kann.4) II.

Zusammensetzung des Aufsichtsrats (§ 96 Abs. 1)

2 Die Vorschriften über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats sind zwingend.5) Nach § 96 Abs. 1 hängt die Zusammensetzung des Aufsichtsrats vom Mitbestimmungsstatut ab (zur Frage der Europarechtsvereinbarkeit des deutschen Mitbestimmungsrecht siehe nachfolgend unter Rz. 9 f.) und es sind die folgenden Fälle der Zusammensetzung zu unterscheiden. 1.

Aufsichtsrat ohne Arbeitnehmervertreter nach dem AktG

3 Hat eine nach dem 10.8.1994 eingetragene AG6) weniger als 500 Arbeitnehmer oder ist sie ein Tendenzunternehmen (§ 1 Abs. 2 Nr. 2 DrittelbG, § 1 Abs. 4 MitbestG) besteht der Aufsichtsrat gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 DrittelbG bzw. § 1 Abs. 4 MitbestG nur aus Anteilseignervertretern.7) Unterliegt eine AG mithin keinem Mitbestimmungsgesetz, werden die Aufsichtsratsmitglieder nach § 101 von der Hauptversammlung gewählt. _____________ 1) 2)

3)

4) 5) 6)

7)

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Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 96 Rz. 4; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 96 Rz. 1. Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im Öffentlichen Dienst (Führungspositionengesetz – FüPoG) v. 24.4.2015, BGBl. I 2015, 642, s. hierzu auch den vom BMFSFJ am 10.8.2015 veröffentlichten Praxisleitfaden zum Gesetz, abrufbar unter https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/zielsicher-mehr-frauen-in-fuehrung96204 (Abrufdatum: 23.6.2022). So die Begr. RegE FüPoG II (BT-Drucks. 19/26689, S. 1) des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (Zweites Führungspositionengesetz – FüPoG II) v. 7.8.2021, BGBl. I 2021, 3311; dort wird auch zur Entwicklung des Frauenanteils nach Inkrafttretens des FüPoG ausgeführt, dass die fixe Aufsichtsratsquote zu einer erheblichen Steigerung des durchschnittlichen Frauenanteils in Aufsichtsräten geführt habe; s. a. Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 22; Spindler in: BeckOGKAktR, § 96 AktG Rz. 3 f.; zweifelnd: Teichmann/Rüb, BB 2015, 898. OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 8.3.2018 – 21 W 5/18, ZIP 2018, 1025, 1027; OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 27.8.2018 – 21 W 29/18, ZIP 2018, 1874, 1876; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 96 Rz. 1. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 96 Rz. 20; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 96 Rz. 3. Mit Wirkung von diesem Datum wurde durch das Gesetz für kleine AGs und zur Deregulierung des Aktienrechts v. 2.8.1994, BGBl. I 1994, 1961, die Regelung eingeführt, dass auf AGs mit weniger als 500 beschäftigten Arbeitnehmern die Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat keine Anwendung findet; für vor dem 10.8.1994 eingetragene AGs galt dies nur, wenn es sich um Familiengesellschaften handelte; s. dazu Lutter, AG 1994, 429, 445. Vgl. Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 20; ausführlich zum Aufsichtsrat mit Drittelbeteiligung: HoffmannBecking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 9 ff.; insbesondere zur Differenzierung zwischen Altund Neugesellschaften: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 96 Rz. 18; zur Verfassungsmäßigkeit der drittelparitätischen Mitbestimmung in kleiner Alt-AG: BVerfG, Beschl. v. 9.1.2014 – 1 BvR 2344/11, ZIP 2014, 464, 465 ff., dazu EWiR 2014, 239 (Büdenbender) (Vorinstanz: OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27.7.2011 – I-26 W 7/10 (AktE), ZIP 2011, 1564, 1565 f.).

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Zusammensetzung des Aufsichtsrats 2.

§ 96

Drittelbeteiligungsgesetz – DrittelbG

Die Drittelbeteiligung gilt für nicht unter das MitbestG, MontanmitbestG oder MitbestErgG 4 fallende Gesellschaften mit weniger als 2.000 Beschäftigten (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 DrittelbG), sofern nicht eine, unter vorstehender Rz. 3 dargelegte Konstellation vorliegt. Bei einer vor dem 10.8.1994 eingetragenen AG, die keine Familiengesellschaft ist, besteht ein Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer nur, wenn die Gesellschaft mindestens fünf Arbeitnehmer hat.8) Der Aufsichtsrat ist dann nach § 4 Abs. 1 DrittelbG zu zwei Dritteln mit Vertretern der Aktionäre und zu einem Drittel mit Vertretern der Arbeitnehmer zu besetzen. Sind nur ein oder zwei Arbeitnehmervertreter zu wählen, so müssen diese dem Unternehmen angehören (§ 4 Abs. 2 Satz 1 DrittelbG).9) Sind auf Seiten der Arbeitnehmer mehr als zwei Plätze zu besetzen, so müssen mindestens zwei Vertreter dem Unternehmen angehören (§ 4 Abs. 2 Satz 2 DrittelbG); die anderen Arbeitnehmervertreter können unternehmensexterne Personen, z. B. Gewerkschaftsangestellte sein. In Konzernen werden die Arbeitnehmer abhängiger Unternehmen bei der Berechnung der Schwelle von 500 Arbeitnehmern mitgezählt, sofern ein Beherrschungsvertrag besteht oder die Tochtergesellschaft eingegliedert ist (§ 2 Abs. 2 DrittelbG).10) 3.

Paritätisch besetzter Aufsichtsrat nach dem Mitbestimmungsgesetz – MitbestG

Nach dem MitbestG setzt sich der Aufsichtsrat einer Gesellschaft, die in der Regel11) 5 mehr als 2.000 Arbeitnehmer beschäftigt (§ 1 Abs. 1 MitbestG) in Abhängigkeit von den in § 7 Abs. 1 MitbestG genannten Schwellenwerten bei der Arbeitnehmerzahl aus je sechs, acht oder zehn Anteilseigner- und Arbeitnehmervertretern zusammen (§ 7 Abs. 2 und 4 MitbestG).12) Das MitbestG verteilt die Sitze der Arbeitnehmervertreter unter die Arbeiter, Angestellten, leitenden Angestellten und Gewerkschaftsvertreter. Sind insgesamt sechs oder acht Mitglieder zu wählen, so müssen sich darunter zwei Vertreter der Gewerkschaften befinden, bei zehn Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer drei (§ 7 Abs. 2, 4 MitbestG). Ein weiterer Sitz ist den leitenden Angestellten vorbehalten; die übrigen drei, fünf oder sechs Sitze werden von Arbeitern und Angestellten nach dem Verhältnis ihres Anteils an der gesamten Belegschaft besetzt (§ 15 MitbestG). Im Unterordnungskonzern werden die in den abhängigen Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmer bei der Ermittlung der Schwelle von 2.000 Arbeitnehmern gemäß § 5 MitbestG mitgerechnet.13) 4.

Montan-Mitbestimmungsgesetz – MontanMitbestG

Im Anwendungsbereich des § 1 MontanMitbestG setzt sich der in der Regel elfköpfige Auf- 6 sichtsrat aus je vier Vertretern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer sowie drei weiteren Mitgliedern (Vertretern des öffentlichen Interesses) zusammen (§ 4 Abs. 1 MontanMitbestG). _____________ 8) BGH, Beschl. v. 7.2.2012 – II ZB 14/11, ZIP 2012, 669, 670, dazu EWiR 2012, 311 (Klasen); OLG Jena, Beschl. v. 14.6.2011 – 6 W 47/11, ZIP 2011, 1257, 1258 f., dazu EWiR 2011, 635 (Winstel). 9) ArbG Wuppertal, Beschl. v. 6.9.2011 – 7 BV 36/11, ZIP 2012, 1079, 1080 = AG 2012, 522, 523, dazu EWiR 2012, 381 (Mückl). 10) Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 20; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 96 Rz. 19; zum „Konzern im Konzern“ s. Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 12. 11) S. dazu Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks. 7/4845, S. 4: Durch die Anwendung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs soll es ermöglicht werden, „auch bevorstehende Veränderungen in der Beschäftigungszahl einzufangen“; LG Köln, Beschl. v. 12.1.2012 – 91 O 69/12, BeckRS 2012, 05768: Prognose über einen Zeitraum von 17 – 20 Monaten erforderlich. 12) Im Einzelnen Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 17 ff.; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 20. 13) Näher Habersack in: MünchKomm-AktG, § 96 Rz. 5 m. w. N.; zum „Konzern im Konzern“ s. HoffmannBecking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 12 und 20.

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§ 96

Zusammensetzung des Aufsichtsrats

Durch die Satzung kann bei einem Nennkapital von mehr als 10 Mio. € die Zahl der Mitglieder auf 15 oder bei einem Nennkapital von mehr als 25 Mio. € auf 21 erhöht werden. (§ 9 MontanMitbestG).14) 5.

Mitbestimmungsergänzungsgesetz – MitbestErgG

7 Im Anwendungsbereich des MitbestErgG (§§ 1, 3 MitbestErgG) besteht der fünfzehnköpfige Aufsichtsrat aus je sieben Vertretern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer sowie einem weiteren „neutralen“ Mitglied. Von den Arbeitnehmervertretern müssen fünf im Konzern beschäftigt sein. Ein den leitenden Angestellten vorbehaltener Sitz ist nicht vorgesehen. Die restlichen zwei Sitze stehen den im Konzern vertretenen Gewerkschaften zu (§§ 5, 6 MitbestErgG).15) 6.

Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung – MgVG

8 Das MgVG vom 21.12.2006 regelt die Mitbestimmung der aus einer grenzüberschreitenden Verschmelzung hervorgegangenen Gesellschaft mit Sitz im Inland (§§ 1 Abs. 1 Satz 1, 3 Abs. 1 Satz 1 MgVG). Die Zahl der Arbeitnehmervertreter richtet sich entweder nach der Vereinbarung (§ 22 Abs. 1 Nr. 3 MgVG) oder sie bemisst sich – wenn diese sog. Verhandlungslösung scheitert – nach der höchsten Zahl der Sitze, die den Arbeitnehmervertretern vor der Verschmelzung zustanden (§ 24 Abs. 1 Satz 2 MgVG).16) 7.

Europarechtskonformität des deutschen Mitbestimmungsrechts

9 Die bislang ganz h. A. folgt dem „Territorialitätsprinzip“ und geht davon aus, dass der Geltungsbereich des deutschen Mitbestimmungsrechts (nach DrittelbG oder MitbestG) sich auf Unternehmen beschränkt, die ihren Sitz im Geltungsbereich des Grundgesetzes haben.17) Dementsprechend sind Arbeitnehmer ausländischer Konzernunternehmen für die Schwellenwertberechnung (§ 1 Abs. 1 DrittelbG, § 1 Abs. 1 MitbestG) nicht mitzuzählen. Zudem sind Arbeitnehmer ausländischer Konzernunternehmen vom aktiven und passiven Wahlrecht bei der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat ausgeschlossen. 10 Nachdem Instanzgerichte die Europarechtskonformität divergierend beurteilten,18) hat das KG Berlin dem EuGH Ende 2015 die Frage vorgelegt, ob der Ausschluss des aktiven und passiven Wahlrechts der Arbeitnehmer ausländischer Konzernunternehmen gegen EURecht verstößt.19) Das OLG Frankfurt am Main hat die Europarechtswidrigkeit für nicht offenkundig ausgeschlossen gehalten und daher ein Statusverfahren, in dem es um die _____________ 14) Im Einzelnen Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 26 ff., 32 f.; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 20; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 96 Rz. 12. 15) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 29 ff., 35 a. E.; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 20 f. 16) Im Einzelnen Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG/DrittelbG, § 6 MitbestG Rz. 21; Habersack in: MünchKommAktG, § 96 Rz. 23 f. 17) Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks. 7/4845, S. 4; OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 25.5.2018 – 21 W 32/18, ZIP 2018, 1175, 1176; LG Frankfurt/M., Beschl. v. 21.12.2017 – 3-05 O 85/17, ZIP 2018, 128, 129; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 96 Rz. 4a; Weber/Kiefner/Jobst, AG 2018, 140, 147 m. w. N. 18) LG Frankfurt/M., Beschl. v. 16.2.2015 – 3-16 O 1/14, ZIP 2015, 634, 635, dazu EWiR 2015, 245 (Wansleben) (für Berücksichtigung der Arbeitnehmer ausländ. Konzernunternehmen); LG Berlin, Beschl. v. 1.6.2015 – 102 O 65/14, ZIP 2015, 1291, 1293 (kein aktives und passives Wahlrecht der Arbeitnehmer ausländischer Konzernunternehmen). 19) KG Berlin, Beschl. v. 16.10.2015 – 14 W 89/15 (TUI), ZIP 2015, 2172, 2173 f., dazu EWiR 2015, 761 (Giedinghagen/Angelé).

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Zusammensetzung des Aufsichtsrats

§ 96

Frage des Mitzählens von Arbeitnehmern ausländischer Konzernunternehmen geht, ausgesetzt.20) Der EuGH hat mit Urteil vom 18.7.2017 die Vorlagefrage des KG Berlin dahingehend entschieden, dass das MitbestG mit dem Recht der Europäischen Union vereinbar ist.21) Damit ist die für die Praxis erhebliche Unsicherheit über die Europarechtskonformität des deutschen Mitbestimmungsrechts und dessen konkrete Anwendung22) beseitigt worden. 8.

Mitbestimmungsvereinbarungen

Ob statusändernde Mitbestimmungsvereinbarungen zulässig sind, wird kontrovers beurteilt. 11 Überwiegend wird zutreffend angenommen, dass sie wegen Verstoßes gegen zwingendes Gesetzesrecht nichtig sind.23) § 96 hat zwingenden Charakter, weshalb ein mitbestimmter Aufsichtsrat allein auf gesetzlicher Grundlage und nicht qua privat-autonomer Vereinbarung zu bilden ist.24) Soweit gleichwohl Vereinbarungen zur einvernehmlichen Bereinigung zweifelhafter Rechts- und Sachfragen sowie Rationalisierungsvereinbarungen für zulässig erachtet werden,25) verbleibt für den Rechtsanwender ein gewisses Restrisiko, da die Zulässigkeit nicht zweifelsfrei ist.26) III.

Geschlechterquote (§ 96 Abs. 2, Abs. 3)

Durch das erste Führungspositionengesetz27) (FüPoG, siehe hierzu auch § 111 Rz. 26 ff.) 12 ist in § 96 Abs. 2 eine Regelung eingefügt worden, die eine feste – gender-neutral formu-

_____________ 20) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 17.6.2016 – 21 W 91/15 (Deutsche Börse), ZIP 2016, 2223; s. a. OLG München, Beschl. v. 20.2.2017 – 31 Wx 321/15, ZIP 2017, 476, 477 (das LG München I, Beschl. v. 27.8.2015 – 5 HK O 20285/14, ZIP 2015, 1929, 1930 f., hatte die Europarechtskonformität des Mitbestimmungsrechts bejaht); nach dem Urteil des EuGH v. 18.7.2017 hat das OLG München die Beschwerde gegen den vorgenannten Beschluss des LG München I als nicht begründet zurückgewiesen (OLG München, Beschl. v. 6.3.2018 – 31 Wx 321/15, ZIP 2017, 457 = Beck RS 2018, 2631); s. a. OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 25.5.2018 – 21 W 32/18 (STADA AG), ZIP 2018, 1175, 1176 ff. 21) EuGH, Urt. v. 18.7.2017 – C-566/15 (Erzberger), ZIP 2017, 1413, dazu EWiR 2017, 489 (Schilha); zuvor hatten sich sowohl die Europäische Kommission (s. deren Pressemitteilung, abrufbar unter www.europa.eu/rapid/press-release_STATEMENT-17-141 [Abrufdatum: 18.3.2022], als auch der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen (EuGH, GA (Saugmandsgaard Øe), Schlussanträge v. 4.5.2017 – C566/15 (Erzberger), ZIP 2017, 961; Stolzenberg, DB 2017, 1077) für die Europarechtskonformität des deutschen Mitbestimmungsrechts ausgesprochen; s. dazu Weber/Kiefner/Jobst, AG 2018, 140, 147 f. m. w. N. 22) Näher dazu Seibt, DB 2016, 1743, 1744, vor dem Urteil des EuGH v. 18.7.2017 – C-566/15 (Erzberger), ZIP 2017, 1413. 23) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 96 Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 96 Rz. 3; a. A. Raiser, BB 1977, 1461; Hanau, ZGR 2001, 75, 90 f. 24) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 44; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 96 Rz. 50; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 96 Rz. 54 f.; eingehend dazu Spindler in: BeckOGKAktR, § 96 AktG Rz. 36 ff. 25) Grundlegend Raiser, BB 1977, 1461, 1466 f.; differenzierend Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 52; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 96 Rz. 58; ablehnend Hüffer/KochKoch, AktG, § 96 Rz. 3; differenzierend Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG/DrittelbG, § 1 MitbestG Rz. 58; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 96 AktG Rz. 41 f. 26) S. dazu Habersack in: MünchKomm-AktG, § 96 Rz. 29; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 96 Rz. 3 a. E.; Seibt, AG 2005, 413, 415 ff. 27) Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im Öffentlichen Dienst (Führungspositionengesetz – FüPoG) v. 24.4.2015, BGBl. I 2015, 642.

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§ 96

Zusammensetzung des Aufsichtsrats

lierte – Geschlechterquote ohne Qualifikationsvorbehalt und ohne Härtefallregelung28) vorsieht. Für Aufsichtsräte von Unternehmen, die börsennotiert sind (§ 3 Abs. 2) und der paritätischen Mitbestimmung (nach dem MitbestG, dem Montan-MitbestG oder dem MitbestErgG) unterliegen,29) gilt nach Absatz 2 Satz 1 eine Geschlechterquote von 30 %. Beide Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen.30) Durch das FüPoG II31) sind die Regelungen des FüPoG „zur Erhöhung der Wirksamkeit“ ergänzt und geändert worden,32) § 96 Abs. 2 und 3 blieben jedoch unverändert (zu den Änderungen des § 111 Abs. 5 durch das FüPoG II siehe § 111 Rz. 26 ff.). 1.

Grundsatz der Gesamterfüllung

13 Die 30 %-Quote gilt nach Absatz 2 Satz 2 grundsätzlich für den gesamten Aufsichtsrat als Organ (Gesamterfüllung). Im Falle der Gesamterfüllung berechnet sich die Quote nach der Gesamtanzahl der Aufsichtsratsmitglieder.33) Sofern die Ermittlung von 30 % der Gesamtanzahl keine glatte Zahl ergibt, ist nach Absatz 2 Satz 4 mathematisch auf- oder abzurunden. Bei getrennter Berechnung wird die Quote für die jeweilige Bank berechnet und getrennt gerundet.34) 2.

Widerspruchsmöglichkeit

14 Der Gesamterfüllung kann jedoch nach Absatz 2 Satz 3 von der Anteilseigner- oder der Arbeitnehmerseite vor jeder Wahl widersprochen werden, so dass jede Bank die Mindestquote für diese Wahl gesondert zu erfüllen hat (Getrennterfüllung). Nach § 96 Abs. 2 Satz 3 ist ein Mehrheitsbeschluss der jeweiligen Bank erforderlich, ein Widerspruch einzelner Mitglieder genügt nicht.35) Auch ein Verzicht auf den Widerspruch ist möglich. Da der Widerspruch und der Verzicht gestaltende Wirkung haben, sind sie bis zur Wahl unwiderruflich.36) Der Widerspruch ist für jede Wahl (erneut) gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden zu erklären,37) wobei die zeitliche Grenze hierfür nicht klar definiert ist.38) Für die Praxis empfiehlt es sich, die Formulierung „vor der Wahl“ so zu verstehen, dass der Wi_____________ 28) Zur Kritik hieran aus verfassungs- und europarechtlicher Sicht: Habersack/Kersten, BB 2014, 2819, 2822 ff.; Hohenstatt/Naber, ZIP 2014, 2220, 2222 ff.; Seibt, ZIP 2015, 1193 f. (Regelung unterliegt vor allem wegen des Fehlens einer Härtefallregelung erheblichen Zweifeln der Verfassungs- und Unionsrechtsmäßigkeit); Teichmann/Rüb, BB 2015, 259, 261 f.; relativierend Spindler in: BeckOGK-AktR, § 96 AktG Rz. 4. 29) Nach dem Kontinuitätsgrundatz (§ 96 Abs. 4) werden nur solche Gesellschaften erfasst, deren Aufsichtsrat tatsächlich nach Maßgabe dieser Mitbestimmungsgesetze zusammengesetzt ist; auf einen (normativen) Soll-Zustand kommt es nicht an; vgl. Seibt, ZIP 2015, 1193, 1194; Fromholzer/Simons, AG 2015, 457, 458; s. a. Stüber, BB 2015, 2243, 2246. 30) Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 43. 31) Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (Zweites Führungspositionengesetz – FüPoG II) v. 7.8.2021, BGBl. I 2021, 3311. 32) Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 2. 33) Begr. RegE, BT-Drucks. 18/3784, S. 120; in der Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 44 ff., werden im Einzelnen die (rechnerischen) Auswirkungen der Quotenvorgabe je nach betroffenen Mitbestimmungsregelungen dargelegt. 34) Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 120, näher Spindler in: BeckOGK-AktR, § 96 AktG Rz. 35. 35) Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG, BT Drucks. 18/4227, S. 24. 36) Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG, BT Drucks. 18/4227, S. 25. 37) Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 120. 38) Näher hierzu Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 96 Rz. 16; Herb, DB 2015, 964, 965; Spindler in: BeckOGKAktR, § 96 AktG Rz. 51.

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Zusammensetzung des Aufsichtsrats

§ 96

derspruch „vor Beginn der Wahl“ erfolgen muss, um nicht in ein bereits eingeleitetes oder gar abgeschlossenes Wahlverfahren einzugreifen.39) Für den Fall des zeitlichen Auseinanderfallens der Wahlen auf Anteilseigner- und Arbeitnehmerseite wird im Wege der Auslegung angenommen, dass der Widerspruch vor der Wahl der anderen (zuerst wählenden) Seite auszuüben ist.40) Eine generelle (Vorab-)Regelung zum Widerspruch durch die Satzung oder die Geschäftsordnung des Aufsichtsrats ist nicht möglich; für Form und Frist des Widerspruchs sowie die Vertretung gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden gilt dies nicht41) – eine Regelung der Verfahrensfragen zum Widerspruch ist mithin zulässig und zu empfehlen.42) Der Widerspruch ist auch zu einem späteren Zeitpunkt noch möglich, hat dann aber nach § 96 Abs. 2 Satz 5 keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit einer bereits erfolgten Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern. Bei der nächsten zeitlich danach erfolgten Bestellung muss die 30 %-Quote dann jeweils von beiden Bänken getrennt erfüllt werden.43) 3.

Rechtsfolgen bei Verstößen

Eine Wahl oder Entsendung von Aufsichtsratsmitgliedern, die gegen die Regelungen der 15 30 %-Quote verstößt, ist nach § 96 Abs. 2 Satz 6 nichtig. Durch § 96 Abs. 2 Satz 7 soll verhindert werden, dass eine ursprünglich quotenkonforme Wahl oder Entsendung nachträglich unwirksam wird, weil eine Wahl aus anderen Gründen für nichtig erklärt wird.44) Im Fall der Blockwahl zum Aufsichtsrat ist die gesamte Wahl hinsichtlich des überrepräsentierten Geschlechts nichtig, wenn sie nicht zur Erfüllung der Mindestquote führt. Der dem unterrepräsentierten Geschlecht angehörende Kandidat ist aber wirksam gewählt. Es empfiehlt sich daher die Einzelwahl der Aufsichtsratsmitglieder, wie sie auch schon der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) empfiehlt (C. 15 Satz 1 DCGK i. d. F. 16.12.2019).45) Bei Einzelwahlen zum Aufsichtsrat durch die Hauptversammlung ist der Wahlbeschluss 16 nichtig, der in der chronologischen Abfolge als erster das Mindestanteilsgebot verletzt, ggf. sind auch die folgenden, unter Verletzung der Mindestquote beschlossenen Wahlen nichtig.46) Die für das unterrepräsentierte Geschlecht vorgesehenen Plätze bleiben rechtlich unbesetzt („leerer Stuhl“). 4.

Sonderregelung in § 96 Abs. 3

Die Regelungen zur Geschlechterquote gelten nach § 96 Abs. 3 auch für börsennotierte 17 Gesellschaften mit paritätischer Mitbestimmung, die aus einer grenzüberschreitenden _____________ 39) Da nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 der Wahlvorschlag hierzu Angaben enthalten muss, empfiehlt es sich für die Anteilseignerseite als Grenze den Zeitpunkt des Beschlusses über den Wahlvorschlag zu sehen (s. K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 96 Rz. 45) und für die Arbeitnehmerseite auf die Unternehmensmitteilung über die Mitgliederzahl nach der einschlägigen Wahlordnung abzustellen (so Grobe, AG 2015, 289, 292 f.); die 1., 2. und 3. Wahlordnung zum MitbestG sehen in § 2 Abs. 1 Nr. 3 und 4 jeweils Angaben zum Frauenanteil im Aufsichtsrat und zur Gesamt- bzw. Getrennterfüllung vor; s. a. Seibt, ZIP 2015, 1193, 1198; Hölters-Simons, AktG, § 96 Rz. 56. 40) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 96 Rz. 46; ausführlich zu dieser Frage: Kraack/Steiner, ZIP 2018, 49, 50 ff. 41) Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG, BT-Drucks. 18/4227, S. 25 f., und zwar explizit auch durch eine Geschäftsordnung der Bänke; s. dazu auch Spindler in: BeckOGK-AktR, § 96 AktG Rz. 48 a. E. 42) Kraack/Steiner, ZIP 2018, 49, 59 f.; Hölters-Simons, AktG, § 96 Rz. 57; Teichmann/Rüb, BB 2015, 898, 899. 43) Ausführlich dazu Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 121; Teichmann/Rüb, BB 2015, 898, 899. 44) Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG, BT-Drucks. 18/4227, S. 25. 45) S. dazu Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 122. 46) Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 121; s. dazu Wasmann/Rothenburg, DB 2015, 291, 292 f.

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Zusammensetzung des Aufsichtsrats

Verschmelzung hervorgegangen (MgVG) sind.47) Durch § 96 Abs. 3 Satz 2 wird klargestellt, dass wegen der fehlenden Verweisung auf Absatz 2 Satz 3 der Grundsatz der Gesamterfüllung gilt.48) 5.

Berichtspflicht

18 Über die Erfüllung des Mindestanteils bzw. über die Nichterfüllung und die Gründe hierfür ist innerhalb der Erklärung zur Unternehmensführung (§ 289f Abs. 2 Nr. 5 HGB) zu berichten49) (gilt gemäß § 315d HGB für die Konzernerklärung zur Unternehmensführung entsprechend). Durch das FüPoG II50) wurde die Regelung zur Berichtspflicht nach § 289f Abs. 2 Nr. 4 und 5 HGB a. F. neu gefasst,51) ohne die Anforderungen für die Berichterstattung über die Erfüllung des Mindestanteils nach § 96 Abs. 2 und 3 in § 289f Abs. 2 Nr. 5 HGB inhaltlich zu verändern. 6.

Übergangsregelungen

19 Nach § 25 Abs. 2 EGAktG ist die Mindestquote nach § 96 Abs. 2 bei erforderlich werdenden Neuwahlen und Entsendungen ab dem 1.1.2016 zu beachten. Reicht die Anzahl der nachzubesetzenden Posten nicht aus, um die Mindestquote zu erreichen, sind diese allein durch Vertreter des unterrepräsentierten Geschlechts zu besetzen. Bestehende Mandate können bis zu ihrem regulären Ende wahrgenommen werden (§ 25 Abs. 2 Satz 3 EGAktG). Die Neufassung des § 289f Abs. 2 HGB durch das FüPoG II ist erstmals auf Lage- und Konzernlageberichte sowie Erklärungen zur Unternehmensführung nach § 289f Abs. 4 Satz 3 HGB für das nach dem 31.12.2020 beginnende Geschäftsjahr anzuwenden (Art. 87 EGHGB). IV.

Änderung der Zusammensetzung des Aufsichtsrats (§ 96 Abs. 4)

20 Die Zusammensetzung des Aufsichtsrats nach anderen als den bisher angewandten Vorschriften bedarf der Durchführung eines Statusverfahrens.52) Solange das in den §§ 97 – 99 geregelte (außergerichtliche oder gerichtliche) Verfahren nicht abgeschlossen ist, gilt aus Gründen der Rechtssicherheit der Aufsichtsrat nach § 96 Abs. 4 als richtig zusammengesetzt und der bestehende Aufsichtsrat bleibt rechtmäßig im Amt (Kontinuitätsgrundsatz).53) Hierdurch wird dessen Arbeitsfähigkeit und die Wirksamkeit der Beschlüsse _____________ 47) Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. FüPoG, BT-Drucks. 18/4227, S. 25; ausführlich dazu Seibt, ZIP 2015, 1193, 1201 f.; Wasmann/Rothenburg, DB 2015, 291, 293. 48) Seibt, ZIP 2015, 1193, 1202; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 96 AktG Rz. 44; kritisch dazu Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 96 Rz. 27. 49) S. dazu auch Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 133, wonach die Angabe, „wie viele Mitglieder jeden Geschlechts in dem Aufsichtsrat auf jeder Bank vertreten sind“, empfohlen wird; durch das Gesetz zur Stärkung der nichtfinanziellen Berichterstattung der Unternehmen in ihren Lage- und Konzernlageberichten (CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz) v. 11.4.2017, BGBl. I 2017, 802, wurde der bisherige § 289a HGB zu § 289f HGB. 50) Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (Zweites Führungspositionengesetz – FüPoG II) v. 7.8.2021, BGBl. I 2021, 3311. 51) Begr. RegE FüPoG II, BT Drucks. 19/26689, S. 80 – „zur besseren Übersichtlichkeit“. 52) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 2.11.2010 – 20 W 362/10, ZIP 2011, 21, 22, dazu EWiR 2011, 101 (Seibt); ausführlich dazu Göz, ZIP 1998, 1523 ff.; OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 8.3.2018 – 21 W 5/18, ZIP 2018, 1025, 1026. 53) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 10.10.1995 – 19 W 5/95, ZIP 1995, 1752, 1753; Habersack in: MünchKommAktG, § 96 Rz. 32; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 54; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 28.

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Bekanntmachung über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats

§ 97

sichergestellt.54) Die (ordnungsgemäß) gefassten Beschlüsse treten auch nicht mit der Konstituierung des neuen (gesetzmäßig zusammengesetzten) Aufsichtsrats außer Kraft.55) Dies gilt auch im Falle des Eintritts der Mitbestimmungsfreiheit infolge eines dauerhaften Absinkens der Arbeitnehmerzahl unter 500.56) Verstöße gegen § 96 Abs. 4 führen zur Nichtigkeit der Wahl der Aufsichtsratsmitglieder 21 nach § 250 Abs. 1 Nr. 1.57) Auf die Wahl der Arbeitnehmervertreter ist diese Vorschrift nach h. M. entsprechend anzuwenden.58) _____________ 54) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 10.10.1995 – 19 W 5/95, ZIP 1995, 1752, 1753; Habersack in: MünchKommAktG, § 96 Rz. 32; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 27; zur Frage der Anwendung des § 96 Abs. 4 i. R. eines Formwechsels: Leßmann/Glattfeld, ZIP 2013, 2390, 2395 ff. 55) Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG/DrittelbG, § 6 MitbestG Rz. 4; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 96 Rz. 59. 56) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 2.11.2010 – 20 W 362/10, ZIP 2011, 21, 22. 57) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 96 Rz. 32; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 96 Rz. 140; Jannott/ Gressinger, BB 2013, 2120. 58) Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG/DrittelbG, § 22 MitbestG Rz. 21; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 96 Rz. 140.

§ 97 Bekanntmachung über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats Werner Paul Schick

(1) 1Ist der Vorstand der Ansicht, daß der Aufsichtsrat nicht nach den für ihn maßgebenden gesetzlichen Vorschriften zusammengesetzt ist, so hat er dies unverzüglich in den Gesellschaftsblättern und gleichzeitig durch Aushang in sämtlichen Betrieben der Gesellschaft und ihrer Konzernunternehmen bekanntzumachen. 2In der Bekanntmachung sind die nach Ansicht des Vorstands maßgebenden gesetzlichen Vorschriften anzugeben. 3Es ist darauf hinzuweisen, daß der Aufsichtsrat nach diesen Vorschriften zusammengesetzt wird, wenn nicht Antragsberechtigte nach § 98 Abs. 2 innerhalb eines Monats nach der Bekanntmachung im Bundesanzeiger das nach § 98 Abs. 1 zuständige Gericht anrufen. (2) 1Wird das nach § 98 Abs. 1 zuständige Gericht nicht innerhalb eines Monats nach der Bekanntmachung im Bundesanzeiger angerufen, so ist der neue Aufsichtsrat nach den in der Bekanntmachung des Vorstands angegebenen gesetzlichen Vorschriften zusammenzusetzen. 2Die Bestimmungen der Satzung über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats, über die Zahl der Aufsichtsratsmitglieder sowie über die Wahl, Abberufung und Entsendung von Aufsichtsratsmitgliedern treten mit der Beendigung der ersten Hauptversammlung, die nach Ablauf der Anrufungsfrist einberufen wird, spätestens sechs Monate nach Ablauf dieser Frist insoweit außer Kraft, als sie den nunmehr anzuwendenden gesetzlichen Vorschriften widersprechen. 3Mit demselben Zeitpunkt erlischt das Amt der bisherigen Aufsichtsratsmitglieder. 4Eine Hauptversammlung, die innerhalb der Frist von sechs Monaten stattfindet, kann an Stelle der außer Kraft tretenden Satzungsbestimmungen mit einfacher Stimmenmehrheit neue Satzungsbestimmungen beschließen. (3) Solange ein gerichtliches Verfahren nach §§ 98, 99 anhängig ist, kann eine Bekanntmachung über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats nicht erfolgen. Literatur: Göz, Statusverfahren bei Änderungen in der Zusammensetzung des Aufsichtsrats, ZIP 1998, 1523; Hellwig/Behme, Die Verpflichtung von Vorstand und Aufsichtsrat zur Einleitung des Statusverfahrens (§§ 97, 98 AktG), in: Festschrift für Peter Hommelhoff, 2012,

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Bekanntmachung über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats

S. 343; Nießen/Sandhaus, Das Statusverfahren, NJW-Spezial 2008, 687; Oetker, Der Anwendungsbereich des Statusverfahrens nach den §§ 97 ff. AktG, ZHR 149 (1985) 575; Parmentier, Das Statusverfahren beim Formwechsel in eine Aktiengesellschaft, AG 2006, 476; Schnitker/Grau, Aufsichtsratswahlen und Ersatzbestellung von Aufsichtsratsmitgliedern im Wechsel des Mitbestimmungsmodells, NZG 2007, 486.

Übersicht I. Allgemeines ....................................... 1 II. Bekanntmachungspflicht des Vorstands (§ 97 Abs. 1) ............. 4 III. Wirkungen der Bekanntmachung ............................................ 7 I.

1. Keine fristgemäße Anrufung des Gerichts ........................................ 8 2. Fristgerechte Anrufung ...................... 9 IV. Bekanntmachungssperre (§ 97 Abs. 3) ..................................... 10

Allgemeines

1 Die Norm regelt gemeinsam mit den §§ 98 und 99 das Statusverfahren, das der Rechtssicherheit dient und im Zusammenwirken mit § 96 Abs. 4 (Kontinuitätsgrundsatz) die Arbeitsfähigkeit und die Wirksamkeit der Beschlüsse des bestehenden Aufsichtsrats gewährleisten soll.1) Das Status- oder Überleitungsverfahren zielt darauf ab, das maßgebliche Mitbestimmungsmodell festzustellen, eine sichere Überleitung auf das zutreffende Modell zu gewährleisten und dem Aufsichtsrat eine sichere Rechtsgrundlage zu geben.2) Nur das Statusverfahren kann bewirken, dass der existierende Aufsichtsrat nach anderen Vorschriften zusammenzusetzen ist; weder die Hauptversammlung noch der Vorstand können dies (ohne die Durchführung eines Statusverfahrens) erreichen.3) 2 Das Statusverfahren erfolgt in zwei Stufen.4) Die erste Stufe dient der Klärung der anzuwendenden Vorschriften; es erfolgt eine Bekanntmachung des Vorstands nach § 97 oder (bei Streit oder Ungewissheit) ergeht eine gerichtliche Entscheidung gemäß §§ 98, 99. Auf der zweiten Stufe werden die Satzung und der Aufsichtsrat an die in der ersten Stufe festgestellten Vorschriften angepasst. Der bisherige Aufsichtsrat verbleibt solange bis die beiden Stufen durchlaufen sind im Amt und gilt als rechtmäßig zusammengesetzt.5) 3 Der Anwendungsbereich des Statusverfahrens6) erfasst die AG und KGaA (§ 278 Abs. 3), sämtliche mitbestimmte Gesellschaften (§ 6 Abs. 2 MitbestG, § 3 Abs. 2 MontanMitbestG, § 3 Abs. 1 Satz 2 MitbestErgG, § 1 Abs. 1 DrittelbG), die GmbH gemäß § 27 EGAktG oder nach § 24 Abs. 2 MgVG, Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit gemäß § 189 Abs. 3 VAG und dualistisch verfasste Europäische Gesellschaften (SE) gemäß § 17 Abs. 4 Satz 1 _____________ 1)

2) 3) 4) 5) 6)

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Zum Zusammenwirken von Kontinuitätsprinzip und Statusverfahren: OLG Düsseldorf, Beschl. v. 10.10.1995 – 19 W 5/95, ZIP 1995, 1752, 1753; OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 27.8.2018 – 21 W 29/18, ZIP 2018, 1874, 1875 = AG 2019, 252; OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 8.3.2018 – 21 W 5/18, ZIP 2018, 1025, 1026 f.; ausführlich zum Zweck des Statusverfahrens: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 97 Rz. 1; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 97 Rz. 3 ff.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 54; Oetker, ZHR 149 (1985) 575, 576 f. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 97 Rz. 1; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 97 Rz. 2 f.; Hellwig/Behme in: FS Hommelhoff, S. 343, 352 f. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 97 Rz. 1; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 97 Rz. 4; Schnitker/Grau, NZG 2007, 486. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 97 Rz. 2; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 56; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 97 Rz. 2, erachten es treffender, von „zwei Schritten“ zu sprechen. Begr. RegE, abgedr. in: Kropff, S. 126; Hüffer/Koch-Hüffer, AktG, § 97 Rz. 1; Semler/v. SchenckGittermann, Der Aufsichtsrat, § 97 Rz. 6. Näher dazu: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 97 Rz. 4; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 97 Rz. 9 f.

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Bekanntmachung über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats

§ 97

SEAG.7) Unmittelbar gelten die §§ 97 ff. für einen Wechsel der bislang angewendeten Vorschriften zur Zusammensetzung des Aufsichtsrats, mithin nicht für den ersten Aufsichtsrat. Bei der Bargründung einer AG ist für den zweiten Aufsichtsrat das Statusverfahren anzuwenden (§ 30 Abs. 3 Satz 2), bei einer Sachgründung nach § 31 Abs. 3 Satz 2 sinngemäß.8) II.

Bekanntmachungspflicht des Vorstands (§ 97 Abs. 1)

Nach § 97 Abs. 1 Satz 1 ist der Vorstand zur Bekanntmachung verpflichtet, wenn der 4 Aufsichtsrat nach Ansicht des Vorstands nicht nach den zutreffenden Vorschriften zusammengesetzt ist.9) Zuständig ist allein der Vorstand als Organ.10) Der Vorstand entscheidet hierüber durch Beschluss, der entweder einstimmig (§ 77 Abs. 1 Satz 1) oder mit der in der Satzung oder Geschäftsordnung vorgesehenen Mehrheit gefasst werden muss.11) Die Bekanntmachungspflicht kann sich daraus ergeben, dass die richtige Zusammen- 5 setzung des amtierenden Aufsichtsrats zweifelhaft ist oder dass er aufgrund von Änderungen der tatsächlichen Umstände anders als bisher zusammengesetzt werden muss. Die Änderung der maßgeblichen Vorschriften kann insbesondere aus einer veränderten Mitarbeiteranzahl,12) einer Über- oder Unterschreitung relevanter Schwellenwerte (etwa § 7 Abs. 1 MitbestG)13) oder einer Änderung der Unternehmensstruktur (etwa Verlust der Montanunternehmenseigenschaft, vgl. § 1 Abs. 3 MontanMitbestG) resultieren. Nach einer Satzungsänderung ist jedoch in Anbetracht des Gesetzeswortlauts kein Statusverfahren durchzuführen14) (siehe dazu § 95 Rz. 8 f.). Die Bekanntmachung mit den in § 97 Abs. 1 Satz 2 und 3 vorgesehenen Bestandteilen muss 6 unverzüglich vorgenommen werden, also ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 Abs. 1 BGB).15) Die Einholung eines Rechtsgutachtens oder die Konsultation der nach § 98 Abs. 2 Antragsberechtigten ist kein schuldhaftes Zögern.16) Die Bekanntmachung kann mit Blick auf den Wortlaut der Norm („ist“) und aus Gründen der Rechtssicherheit erst mit dem Eintritt der tatsächlichen Änderung der Arbeitnehmerzahl erfolgen, nicht bereits in deren Vorfeld.17) Die Angabe der Vorschriften, nach denen der Aufsichtsrat gebildet werden soll, muss möglichst genau sein, da die genannten Vorschriften die Grundlage für die künftige _____________ 7) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 27.8.2018 – 21 W 29/18, ZIP 2018, 1874, 1875 = AG 2019, 252, 253; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 97 Rz. 4. 8) Näher dazu: Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 57; Semler/v. SchenckGittermann, Der Aufsichtsrat, § 97 Rz. 10 und § 96 Rz. 51 f. 9) Göz, ZIP 1998, 1523; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 97 Rz. 37 ff.; Nießen/Sandhaus, NJW-Special 2008, 687; Parmentier, AG 2006, 476, 479 f. 10) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 97 Rz. 45; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 63; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 97 Rz. 36. 11) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 97 Rz. 46; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 97 Rz. 18. 12) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 2.11.2010 – 20 W 362/10, ZIP 2011, 21, 22 f., dazu EWiR 2011, 101 (Seibt). 13) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 20.6.1978 – 19 W 3/78, DB 1978, 1358, 1359; OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 27.8.2018 – 21 W 29/18, ZIP 2018, 1874, 1878 = AG 2019, 252; a. A. Göz, ZIP 1998, 1523, 1525 f. 14) OLG Hamburg, Beschl. v. 26.8.1988 – 11 W 53/88, ZIP 1988, 1191, 1193; LAG Düsseldorf, Beschl. v. 18.12.1987 – 10 Ta BV 132/87, AG 1989, 66, 67; Göz, ZIP 1988, 1523, 1525; Habersack in: MünchKommAktG, § 97 Rz. 14; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 97 Rz. 3; Hellwig/Behme in: FS Hommelhoff, S. 343, 353; für analoge Anwendung: Oetker, ZHR 149 (1985), 575, 583 ff. 15) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 97 Rz. 56; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 66. 16) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 97 Rz. 56; Hellwig/Behme in: FS Hommelhoff, S. 343, 358; Hüffer/KochKoch, AktG, § 97 Rz. 4. 17) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 66; Hölters-Simons, AktG, § 99 Rz. 20; differenzierend: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 97 Rz. 20; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 97 Rz. 56.

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§ 97

Bekanntmachung über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats

Bestellung des Aufsichtsrats bilden.18) Die Bekanntmachung muss im Bundesanzeiger erfolgen (§ 25). Zudem ist sie in sämtlichen inländischen19) Betrieben der Gesellschaft und ihrer Konzernunternehmen in der Form auszuhängen, dass sie allen Wahlberechtigten zugänglich ist.20) III.

Wirkungen der Bekanntmachung

7 Die Wirkungen der Bekanntmachung sind abhängig davon, ob das nach § 98 Abs. 1 zuständige Gericht innerhalb der Monatsfrist angerufen wird. Ein bloßer Widerspruch gegenüber dem Vorstand gegen die beabsichtigte Veränderung verhindert nicht den Wirkungseintritt.21) Maßgeblich für den Beginn der Monatsfrist ist aus Gründen der Rechtssicherheit die Bekanntmachung im Bundesanzeiger und nicht der Aushang in den Betrieben.22) Wenn nicht fristgemäß ein Antrag auf gerichtliche Feststellung der maßgeblichen gesetzlichen Vorschriften für die Zusammensetzung des Aufsichtsrats gestellt wird, ist die Bekanntmachung für alle Beteiligten verbindlich.23) 1.

Keine fristgemäße Anrufung des Gerichts

8 Wird das zuständige Gericht (§ 98 Abs. 1) nicht innerhalb der Monatsfrist angerufen, so steht nach Fristablauf fest, dass der Aufsichtsrat nach den in der Bekanntmachung genannten Vorschriften neu zu bilden ist (§ 97 Abs. 2 Satz 1). Sämtliche amtierende Aufsichtsratsmitglieder verlieren ihr Mandat erst mit Ende der ersten Hauptversammlung, die nach Ablauf der Monatsfrist einberufen wird, spätestens aber sechs Monate nach Fristablauf (§ 97 Abs. 2 Satz 2 und 3). Widersprechende Satzungsbestimmungen treten zum gleichen Zeitpunkt außer Kraft, so dass die Satzung anzupassen ist. 2.

Fristgerechte Anrufung

9 Wird fristgerecht ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 98 Abs. 1) gestellt, so ist diese (gerichtliche Entscheidung) maßgeblich und die Bekanntmachung wird unwirksam.24) Die Frist gilt auch dann als gewahrt (§ 99 Abs. 1 i. V. m. § 2 Abs. 3 FamFG), wenn ein örtlich unzuständiges Gericht angerufen wird.25) Bis zur rechtskräftigen Entscheidung gelten die bisherigen Regelungen fort und es bleibt bei der bestehenden Aufsichtsratszusammensetzung.26) IV.

Bekanntmachungssperre (§ 97 Abs. 3)

10 Während der Anhängigkeit eines gerichtlichen Verfahrens (§ 98 Abs. 1) ist eine Bekanntmachung des Vorstands ausgeschlossen bzw. eine gleichwohl veranlasste Bekanntmachung ist rechtlich unerheblich.27) Nach rechtskräftiger Entscheidung kann der Vorstand wieder _____________ 18) Oetker, ZHR 149 (1985) 575, 590 ff., 592; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 97 Rz. 23. 19) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 97 Rz. 21; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 97 Rz. 46 f. 20) Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG/DrittelbG, § 6 MitbestG Rz. 12; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 97 Rz. 21. 21) Begr.RegE, abgedr. in: Kropff, S. 127, 128; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 97 Rz. 29; Semler/ v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 97 Rz. 52. 22) Göz, ZIP 1998, 1523, 1524; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 64. 23) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 63. 24) LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 23.7.1971 – 4 AR 8/69, AG 1972, 21; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 97 Rz. 6. 25) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 97 Rz. 36; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 97 Rz. 51 (entsprechend dem „Rechtsgedanken“). 26) LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 23.7.1971 – 4 AR 8/69, AG 1972, 21; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 97 Rz. 6. 27) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 97 Rz. 73; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 97 Rz. 7.

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§ 98

Gerichtliche Entscheidung über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats

eine Bekanntmachung nach § 97 Abs. 1 veranlassen, auch wenn keine neuen Umstände vorliegen.28) Alle Tatsachen, die in dem früheren Verfahren vorgetragen wurden oder hätten vorgebracht werden können, sind dann jedoch in einem neuen Verfahren, das nach §§ 98 f. eingeleitet wird, präkludiert.29) _____________ 28) So Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 97 Rz. 7; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 97 Rz. 39; a. A. Spindler/Stilz-Spindler, AktG, § 97 Rz. 36; Semler in: MünchKomm-AktG, 2. Aufl., § 97 Rz. 84. 29) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 97 Rz. 39; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 97 Rz. 74.

§ 98 Gerichtliche Entscheidung über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats Werner Paul Schick

(1) Ist streitig oder ungewiss, nach welchen gesetzlichen Vorschriften der Aufsichtsrat zusammenzusetzen ist, so entscheidet darüber auf Antrag ausschließlich das Landgericht, in dessen Bezirk die Gesellschaft ihren Sitz hat. (2) 1Antragsberechtigt sind 1. der Vorstand, 2. jedes Aufsichtsratsmitglied, 3. jeder Aktionär, 4. der Gesamtbetriebsrat der Gesellschaft oder, wenn in der Gesellschaft nur ein Betriebsrat besteht, der Betriebsrat, 5. der Gesamt- oder Unternehmenssprecherausschuss der Gesellschaft oder, wenn in der Gesellschaft nur ein Sprecherausschuss besteht, der Sprecherausschuss, 6. der Gesamtbetriebsrat eines anderen Unternehmens, dessen Arbeitnehmer nach den gesetzlichen Vorschriften, deren Anwendung streitig oder ungewiß ist, selbst oder durch Delegierte an der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern der Gesellschaft teilnehmen, oder, wenn in dem anderen Unternehmen nur ein Betriebsrat besteht, der Betriebsrat, 7. der Gesamt- oder Unternehmenssprecherausschuss eines anderen Unternehmens, dessen Arbeitnehmer nach den gesetzlichen Vorschriften, deren Anwendung streitig oder ungewiss ist, selbst oder durch Delegierte an der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern der Gesellschaft teilnehmen, oder, wenn in dem anderen Unternehmen nur ein Sprecherausschuss besteht, der Sprecherausschuss, 8. mindestens ein Zehntel oder einhundert der Arbeitnehmer, die nach den gesetzlichen Vorschriften, deren Anwendung streitig oder ungewiß ist, selbst oder durch Delegierte an der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern der Gesellschaft teilnehmen, 9. Spitzenorganisationen der Gewerkschaften, die nach den gesetzlichen Vorschriften, deren Anwendung streitig oder ungewiß ist, ein Vorschlagsrecht hätten, 10. Gewerkschaften, die nach den gesetzlichen Vorschriften, deren Anwendung streitig oder ungewiß ist, ein Vorschlagsrecht hätten. 2

Ist die Anwendung des Mitbestimmungsgesetzes oder die Anwendung von Vorschriften des Mitbestimmungsgesetzes streitig oder ungewiß, so sind außer den nach Satz 1 Antragsberechtigten auch je ein Zehntel der wahlberechtigten in § 3 Abs. 1 Nr. 1 des

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§ 98

Gerichtliche Entscheidung über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats

Mitbestimmungsgesetzes bezeichneten Arbeitnehmer oder der wahlberechtigten leitenden Angestellten im Sinne des Mitbestimmungsgesetzes antragsberechtigt. (3) Die Absätze 1 und 2 gelten sinngemäß, wenn streitig ist, ob der Abschlußprüfer das nach § 3 oder § 16 des Mitbestimmungsergänzungsgesetzes maßgebliche Umsatzverhältnis richtig ermittelt hat. (4) 1Entspricht die Zusammensetzung des Aufsichtsrats nicht der gerichtlichen Entscheidung, so ist der neue Aufsichtsrat nach den in der Entscheidung angegebenen gesetzlichen Vorschriften zusammenzusetzen. 2§ 97 Abs. 2 gilt sinngemäß mit der Maßgabe, daß die Frist von sechs Monaten mit dem Eintritt der Rechtskraft beginnt. Literatur: Göz, Statusverfahren bei Änderungen in der Zusammensetzung des Aufsichtsrats, ZIP 1998, 1523; Hellwig/Behme, Die Verpflichtung von Vorstand und Aufsichtsrat zur Einleitung des Statusverfahrens (§§ 97, 98 AktG), in: Festschrift für Peter Hommelhoff, 2012, S. 343; Simons, Ungeklärte Zuständigkeitsfragen bei gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzungen, NZG 2012, 609.

Übersicht I. Gegenstand der Norm ..................... 1 II. Antragsverfahren (§ 98 Abs. 1) ....................................... 2 III. Antragsberechtigung (§ 98 Abs. 2) ................................................ 5 I.

IV. Sinngemäße Geltung bei Streit über das maßgebliche Umsatzverhältnis (§ 98 Abs. 3) ..................... 7 V. Gerichtliche Entscheidung und Durchführungspflicht (§ 98 Abs. 4) ................................................. 8

Gegenstand der Norm

1 Die Norm enthält zusammen mit § 99 die Regelungen über den gerichtlichen Teil des Statusverfahrens, in dem über die richtige Zusammensetzung des Aufsichtsrats entschieden wird1) (zum Zweck des Statusverfahrens siehe § 97 Rz. 1). § 98 Abs. 1 beinhaltet den Antragsgrundsatz und bestimmt die ausschließliche Zuständigkeit des Landgerichts des Sitzes der Gesellschaft. Letzteres soll eine Zuständigkeitsaufspaltung zwischen ordentlicher und Arbeitsgerichtsbarkeit verhindern, sowie Widerspruchsfreiheit und Verfahrensbeschleunigung erreichen.2) § 98 Abs. 2 regelt die Antragsberechtigung. § 98 Abs. 3 erstreckt den Anwendungsbereich des Statusverfahrens auf die Überprüfung, ob der Abschlussprüfer das nach §§ 3, 16 MitbestErgG maßgebliche Umsatzverhältnis richtig ermittelt hat. Absatz 4 regelt die Wirkungen der gerichtlichen Entscheidung, wenn der bisherige Aufsichtsrat nicht entsprechend den gesetzlichen Vorschriften zusammengesetzt ist. Für eine dualistische Europäische Gesellschaft (SE) gelten die §§ 98, 99 entsprechend,3) was in § 17 Abs. 4 SEAG vorausgesetzt wird.4) II.

Antragsverfahren (§ 98 Abs. 1)

2 Zur Beendigung von Streitigkeit oder Ungewissheit darüber, welche gesetzlichen Vorschriften für die Zusammensetzung des Aufsichtsrats anzuwenden sind, steht das gerichtliche Statusverfahren zur Verfügung – auch ohne vorhergehende Bekanntmachung des _____________ 1) 2) 3) 4)

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Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 98 Rz. 4; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 98 Rz. 1. Begr. RegE, abgedr. in: Kropff, S. 129; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 98 Rz. 1; Semler/v. SchenckGittermann, Der Aufsichtsrat, § 98 Rz. 3. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 98 Rz. 4; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 98 Rz. 5. OLG Stuttgart, Beschl. v. 11.8.2020 – 20 W 9/90, ZIP 2020, 2286; OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 27.8.2018 – 21 W 29/18, ZIP 2018, 1874, 1875.

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Gerichtliche Entscheidung über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats

§ 98

Vorstands nach § 97 Abs. 1.5) Für dessen Einleitung ist ein Antrag erforderlich, der den Antragsteller und das Antragsziel erkennen lassen muss. Der Antrag, der keinen besonderen Formvorschriften unterliegt, muss auf eine Änderung in der Zusammensetzung des Aufsichtsrats gerichtet sein.6) Der Antrag ist nach § 98 Abs. 1 Satz 1 nur zulässig, wenn Ungewissheit oder Streit über 3 die maßgeblichen Vorschriften für die Zusammensetzung des Aufsichtsrats herrscht.7) Ist weder streitig noch ungewiss, nach welchen gesetzlichen Vorschriften der Aufsichtsrat zusammenzusetzen ist, muss der Vorstand nach § 97 tätig werden, wenn er der Ansicht ist, dass die Zusammensetzung des Aufsichtsrats nicht der Rechtslage entspricht.8) Ist jedoch von vornherein streitig oder ungewiss, nach welchen Vorschriften der Aufsichtsrat zusammenzusetzen ist, kann nach § 98 Abs. 1 unmittelbar eine gerichtliche Entscheidung beantragt werden.9) Das LG, in dessen Bezirk die Gesellschaft ihren Sitz (§ 5) hat, ist sachlich und örtlich aus- 4 schließlich zuständig (§ 98 Abs. 1); die Kammer für Handelssachen ist – sofern beim LG gebildet – funktional zuständig (§§ 71 Abs. 2 Nr. 4 lit. b, 94, 95 Abs. 2 Nr. 2 GVG).10) III.

Antragsberechtigung (§ 98 Abs. 2)

Während das außergerichtliche (Status-)Verfahren nur durch den Vorstand eingeleitet 5 werden kann, sind im Verfahren nach §§ 98 f. noch weitere Personen und Personengruppen antragsberechtigt.11) Die Antragsberechtigten sind in § 98 Abs. 2 abschließend aufgezählt.12) Die dort genannten einzelnen Antragsberechtigten können unabhängig davon, ob der Vor- 6 stand ein Bekanntmachungsverfahren nach § 97 eingeleitet hat, tätig werden.13) Der Vorstand selbst ist nach § 98 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ebenfalls antragsberechtigt. Insoweit gelten die Ausführungen zu den Voraussetzungen der Bekanntmachung nach § 97 entsprechend (siehe § 97 Rz. 4 ff.). Ändern sich die für die Aufsichtsratszusammensetzung anzuwendenden Vorschriften oder setzt sich der Aufsichtsrat nach nicht (mehr) zutreffenden Vorschriften zusammen, so ist es primär die Pflicht des Vorstands nach § 98 oder § 97 tätig zu werden; ihn trifft dann eine Antragspflicht, deren Verletzung zu einer Haftung nach § 93 führen kann.14) IV.

Sinngemäße Geltung bei Streit über das maßgebliche Umsatzverhältnis (§ 98 Abs. 3)

Nach § 98 Abs. 3 gelten die Absätze 1 und 2 sinngemäß, wenn die Ermittlung des maß- 7 geblichen Umsatzverhältnisses nach §§ 3, 16 MitbestErgG streitig ist. Die behauptete Un_____________ 5) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 67; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 98 Rz. 2. 6) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 98 Rz. 3 f.; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 98 Rz. 7. 7) LAG Düsseldorf, Beschl. v. 18.12.1987 – 10 Ta BV 132/87, AG 1989, 66, 67; Habersack in: MünchKommAktG, § 98 Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 98 Rz. 3. 8) Näher zur „Ansicht“ i. S. des § 97: Hellwig/Behme in: FS Hommelhoff, S. 343, 357 ff. 9) BAG, Beschl. v. 16.4.2008 – 7 ABR 6/07, ZIP 2008, 1630, 1632; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 98 Rz. 5. 10) Spindler in: BeckOGK-AktR, § 98 AktG Rz. 5; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 98 Rz. 2 und 9; a. A. Simons, NZG 2012, 609, 610 (nur auf Antrag); Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 98 Rz. 2; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 98 Rz. 24. 11) Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 98 Rz. 22; Göz, ZIP 1998, 1523. 12) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 98 Rz. 5; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 98 Rz. 27. 13) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 98 Rz. 3; Spindler/Stilz-Spindler, AktG, § 98 Rz. 5. 14) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 98 Rz. 38; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 98 Rz. 13; Hellwig/ Behme in: FS Hommelhoff, S. 343, 363 f.

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§ 99

Verfahren

richtigkeit muss für die Zusammensetzung des Aufsichtsrats relevant sein; ansonsten fehlt es am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis.15) V.

Gerichtliche Entscheidung und Durchführungspflicht (§ 98 Abs. 4)

8 Hinsichtlich der Folgen der rechtskräftigen Entscheidung, die gemäß § 99 Abs. 5 Satz 2 für und gegen alle wirkt, ist zu differenzieren. Weist das Gericht den Antrag ab, so verändert sich die Zusammensetzung des Aufsichtsrats nicht. Der Aufsichtsrat gilt nach § 96 Abs. 4 nach wie vor als richtig zusammengesetzt und bleibt im Amt.16) Der Vorstand muss lediglich die gerichtliche Entscheidung zum Handelsregister einreichen (§ 99 Abs. 5 Satz 3).17) 9 Entscheidet das Gericht, dass andere als die bisher angewandten Vorschriften anzuwenden sind, so ist der Aufsichtsrat nach den in dem Beschluss für maßgeblich erklärten Vorschriften zusammenzusetzen (§ 98 Abs. 4 Satz 1) und die zweite Stufe des Statusverfahrens (zu den zwei Stufen des Statusverfahrens siehe § 97 Rz. 2) einzuleiten.18) Der Vorstand muss die rechtskräftige Entscheidung zum Handelsregister einreichen (§ 99 Abs. 5 Satz 3). Es gilt eine Anpassungsfrist von sechs Monaten ab Eintritt der Rechtskraft (§ 98 Abs. 4 Satz 2 i. V. m. § 97 Abs. 2).19) Der Aufsichtsrat ist neu zu bestellen, wofür der Vorstand insbesondere eine Hauptversammlung einberufen und Vorschläge für erforderliche Satzungsänderungen unterbreiten muss.20) Wenn die Hauptversammlung nicht innerhalb der Sechs-Monats-Frist stattfindet und die erforderlichen Beschlüsse fasst, treten entgegenstehende Satzungsbestimmungen außer Kraft21) und das Amt der bisherigen Aufsichtsratsmitglieder erlischt (§§ 98 Abs. 4 Satz 2, 97 Abs. 2 Satz 2).22) _____________ 15) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 98 Rz. 24; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 98 Rz. 6. 16) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 98 Rz. 27; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 98 Rz. 47. 17) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 98 Rz. 54; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 98 Rz. 6. 18) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 98 Rz. 28; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 98 Rz. 48. 19) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 98 Rz. 55; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 98 Rz. 6. 20) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 98 Rz. 55; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 98 Rz. 6. 21) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 70; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 98 AktG Rz. 16. 22) Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 98 Rz. 48; Göz, ZIP 1998, 1523, 1524.

§ 99 Verfahren Werner Paul Schick

(1) Auf das Verfahren ist das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit anzuwenden, soweit in den Absätzen 2 bis 5 nichts anderes bestimmt ist. (2) 1Das Landgericht hat den Antrag in den Gesellschaftsblättern bekanntzumachen. 2 Der Vorstand und jedes Aufsichtsratsmitglied sowie die nach § 98 Abs. 2 antragsberechtigten Betriebsräte, Sprecherausschüsse, Spitzenorganisationen und Gewerkschaften sind zu hören. (3) 1Das Landgericht entscheidet durch einen mit Gründen versehenen Beschluss. Gegen die Entscheidung des Landgerichts findet die Beschwerde statt. 3Sie kann nur auf eine Verletzung des Rechts gestützt werden; § 72 Abs. 1 Satz 2 und § 74 Abs. 2 und 2

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§ 99

Verfahren

3 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit sowie § 547 der Zivilprozessordnung gelten sinngemäß. 4 Die Beschwerde kann nur durch die Einreichung einer von einem Rechtsanwalt unterzeichneten Beschwerdeschrift eingelegt werden. 5Die Landesregierung kann durch Rechtsverordnung die Entscheidung über die Beschwerde für die Bezirke mehrerer Oberlandesgerichte einem der Oberlandesgerichte oder dem Obersten Landesgericht übertragen, wenn dies der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung dient. 6Die Landesregierung kann die Ermächtigung auf die Landesjustizverwaltung übertragen. (4) 1Das Gericht hat seine Entscheidung dem Antragsteller und der Gesellschaft zuzustellen. 2Es hat sie ferner ohne Gründe in den Gesellschaftsblättern bekanntzumachen. 3 Die Beschwerde steht jedem nach § 98 Abs. 2 Antragsberechtigten zu. 4Die Beschwerdefrist beginnt mit der Bekanntmachung der Entscheidung im Bundesanzeiger, für den Antragsteller und die Gesellschaft jedoch nicht vor der Zustellung der Entscheidung. (5) 1Die Entscheidung wird erst mit der Rechtskraft wirksam. 2Sie wirkt für und gegen alle. 3Der Vorstand hat die rechtskräftige Entscheidung unverzüglich zum Handelsregister einzureichen. (6) 1Die Kosten können ganz oder zum Teil dem Antragsteller auferlegt werden, wenn dies der Billigkeit entspricht. 2Kosten der Beteiligten werden nicht erstattet. Literatur: Jänig/Leißring, FamFG: Neues Verfahren für Streitigkeiten in AG und GmbH, ZIP 2010, 110; Simons, Die Änderungen des Aktiengesetzes durch das 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz, AG 2014, 182.

Übersicht I. II. 1. 2. 3. I.

Allgemeines ....................................... 1 Gerichtliches Verfahren ................... 2 Antragserfordernis ............................. 3 Amtsermittlungsgrundsatz ................ 4 Anhörung und Entscheidung ............ 5

4. Rechtsmittel ....................................... 8 III. Wirksamkeit und Rechtsfolgen (§ 99 Abs. 5) ..................................... 10 IV. Kosten (§ 99 Abs. 6) ........................ 12

Allgemeines

§ 99 regelt das gerichtliche Verfahren über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats und 1 ergänzt insoweit § 98. Nach § 99 Abs. 1 unterfällt das gerichtliche Statusverfahren als Streitverfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit nach dem FamFG.1) Der Zweck der Norm ist es insbesondere, dieses Verfahren dem Amtsermittlungsgrundsatz des § 26 FamFG zu unterstellen.2) § 99 Abs. 2 enthält Vorgaben zur Bekanntmachung und Anhörung, § 99 Abs. 3 und 4 regeln die gerichtliche Entscheidung und das Rechtsmittelverfahren, Absatz 5 enthält Vorgaben zur Rechtskraft und Absatz 6 zu den Kosten. Das durch § 99 geregelte aktienrechtliche Streitverfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit gilt auch für weitere Verfahren kraft Verweisung (etwa Streitigkeiten über die Zusammensetzung des ersten oder zweiten Aufsichtsrats, §§ 31 Abs. 3 Satz 2, 30 Abs. 3 Satz 2, über das Auskunftsrecht der Aktionäre, § 132 Abs. 3 Satz 1, sowie über abschließende Feststellungen der Sonderprüfer, §§ 259, 260 Abs. 3). _____________ 1) 2)

Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) v. 17.12.2008, BGBl. I 2008, 2586; dazu ausführlich: Jänig/Leißring, ZIP 2010, 110 ff. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 99 Rz. 1, 12; Grigoleit/Tomasic, AktG, § 99 Rz. 1; ausführlich zur Anwendung des FamFG im Aktienrecht: Jänig/Leißring, ZIP 2010, 110, 112 ff.

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§ 99 II.

Verfahren Gerichtliches Verfahren

2 Nach § 99 Abs. 1 gelten für das gerichtliche Statusverfahren primär die in § 99 Abs. 2 – 6 enthaltenen Regelungen und subsidiär die Bestimmungen des FamFG.3) 1.

Antragserfordernis

3 Für die Einleitung des Verfahrens gilt der Dispositionsgrundsatz; nach § 98 Abs. 1 Satz 1 ist ein Antrag erforderlich, der bis zur Rechtskraft der Entscheidung zurückgenommen werden kann (§ 22 Abs. 1 Satz 1 FamFG).4) Hierfür ist die Einwilligung der Gesellschaft bis zum Erlass der Endentscheidung nicht erforderlich (Umkehrschluss zu § 22 Abs. 1 Satz 2 FamFG).5) Ein Anwaltszwang besteht nicht6) (siehe aber für die Beschwerde Rz. 8). Nach § 99 Abs. 2 Satz 1 hat das Gericht den Antrag in den Gesellschaftsblättern (§ 25) bekannt zu machen. 2.

Amtsermittlungsgrundsatz

4 Mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung endet die Dispositionsbefugnis der Parteien und es gilt nach § 99 Abs. 1 i. V. m. § 26 FamFG der Amtsermittlungsgrundsatz. Die Gerichte sind berechtigt und verpflichtet, von Amts wegen Tatsachen zu ermitteln, in die Verhandlung einzubringen und den Sachverhalt festzustellen.7) Dies enthebt die Beteiligten jedoch nicht von der Verpflichtung durch eingehende Tatsachendarstellung an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken.8) 3.

Anhörung und Entscheidung

5 Nach § 99 Abs. 2 Satz 2 steht dem Vorstand als Organ und jedem einzelnen Aufsichtsratsmitglied ein Anhörungsrecht zu; die Betriebsräte, Sprecherausschüsse, Spitzenorganisationen und Gewerkschaften, die nach § 98 Abs. 2 antragsbefugt sind, sind ebenfalls anzuhören. Nach allgemeinen Grundsätzen sind auch alle Personen, die durch das Verfahren unmittelbar betroffen sind, auf ihr Verlangen anzuhören.9) Die Anhörung erfolgt indem Gelegenheit zur Stellungnahme gewährt wird; dem genügt die Bekanntmachung des Gerichts nach § 99 Abs. 2 Satz 1, wenn es zur Stellungnahme innerhalb angemessener Frist auffordert.10) 6 Das Gericht entscheidet nach § 99 Abs. 3 Satz 1 durch Beschluss, der, weil gegen ihn die Beschwerde eröffnet ist, mit Gründen zu versehen ist.11) _____________ 3) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 99 Rz. 6; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 99 Rz. 3; zum Verhältnis der Vorschriften: Jänig/Leißring, ZIP 2010, 110, 112. 4) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 8.4.2009 – 20 W 106/09, NZG 2009, 1185; Habersack in: MünchKommAktG, § 99 Rz. 7; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 99 Rz. 4; zur alten Rechtslage OLG Düsseldorf, Beschl. v. 28.8.1979 – 3 W 202/79, NJW 1980, 349. 5) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 8.4.2009 – 20 W 106/09, NZG 2009, 1185; Jänig/Leißring, ZIP 2010, 110, 115; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 99 Rz. 9; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 99 Rz. 13. 6) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 2.8.1994 – 19 W 1/93, AG 1995, 85, 86; Habersack in: MünchKommAktG, § 99 Rz. 11; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 99 Rz. 17. 7) Zur Amtsermittlungspflicht und zum Umfang der Ermittlungstätigkeit: BGH, Beschl. v. 21.6.2011 – II ZB 15/10, ZIP 2011, 1562, 1563, dazu EWiR 2011, 641 (Wachter); Jänig/Leißring, ZIP 2010, 110, 114 f. 8) OLG Hamburg, Beschl. v. 4.7.2017 – 11 W 19/17, Rz. 22, AG 2018, 87, 88 = ZIP 2017, 1621; LG Köln, Beschl. v. 12.1.2012 – 91 O 69/11, BeckRS 2012, 05768; Jänig/Leißring, ZIP 2010, 110, 114 f. 9) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 99 Rz. 14; zu den Beteiligten im Einzelnen: Jänig/Leißring, ZIP 2010, 110, 113 f. 10) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 99 Rz. 15; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 99 Rz. 21. 11) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 99 Rz. 16; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 99 Rz. 7.

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§ 99

Verfahren

Das Gericht hat den Beschluss mit Gründen dem Antragsteller und der Gesellschaft zu- 7 zustellen (§ 99 Abs. 4 Satz 1). Zudem muss das Gericht den Beschluss ohne Gründe in den Gesellschaftsblättern bekannt machen, mithin nach § 25 zumindest im Bundesanzeiger. 4.

Rechtsmittel

Der mit Gründen zu versehende Beschluss des LG gemäß § 99 Abs. 3 Satz 1 kann mit 8 dem Rechtsmittel der Beschwerde angegriffen werden, die nur auf Verletzung des Rechts gestützt werden kann (§ 99 Abs. 3 Satz 3).12) Für die Beschwerde besteht Anwaltszwang dahingehend, dass nur die Beschwerdeschrift gemäß § 99 Abs. 3 Satz 4 von einem Rechtsanwalt unterzeichnet sein muss.13) Die Beschwerde ist nach § 64 Abs. 1 FamFG beim Landgericht einzulegen.14) Hierfür gilt die Monatsfrist des § 63 Abs. 1 FamFG (§ 99 Abs. 4 Satz 4). Es besteht gemäß § 99 Abs. 3 Satz 8 und 9 die Möglichkeit der Verfahrenskonzentration, die einige Bundesländer ausgenutzt haben.15) Nach § 99 Abs. 4 Satz 3 ist beschwerdebefugt, wer gemäß § 98 Abs. 2 antragsberechtigt ist. Die Gesellschaft selbst ist ebenfalls beschwerdeberechtigt (§ 99 Abs. 4 Satz 4).16) Gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts kann Rechtsbeschwerde zum BGH ein- 9 gelegt werden, wenn diese vom Oberlandesgericht zugelassen wurde (§ 70 Abs. 1 FamFG).17) Das Oberlandesgericht ist hierzu verpflichtet, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Rechtsfortbildung oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung dies erfordert (§ 70 Abs. 1 Nr. 1 und 2 FamFG). III.

Wirksamkeit und Rechtsfolgen (§ 99 Abs. 5)

Nach § 99 Abs. 5 Satz 1 tritt die Wirksamkeit der gerichtlichen Entscheidung über die auf 10 die Aufsichtsratszusammensetzung anzuwendenden Vorschriften (§ 98 Abs. 3) mit Rechtskraft ein, d. h. mit Ablauf der Beschwerdefrist (Monatsfrist, § 63 Abs. 1 FamFG). Bis dahin gilt die Aufsichtsratszusammensetzung gemäß § 96 Abs. 4 als richtig und wird die Rechtsstellung der amtierenden Aufsichtsratsmitglieder nicht berührt.18) Nach § 99 Abs. 5 Satz 2 hat die rechtskräftige Entscheidung inter-omnes-Wirkung und 11 bindet daher nicht nur die Verfahrensbeteiligten, sondern jedermann und ist daher auch von Gerichten und Verwaltungsbehörden zu beachten.19) Sie ist gemäß § 99 Abs. 5 Satz 3 vom Vorstand unverzüglich, also ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 Abs. 1 Satz 1 BGB), zum Handelsregister einzureichen. _____________ 12) OLG Hamburg, Beschl. v. 4.7.2017 – 11 W 19/17, Rz. 21, AG 2018, 87 = ZIP 2017, 1621; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 99 Rz. 21; zur Unzulässigkeit der Beschwerde nach Erledigung des Statusverfahrens: BGH, Beschl. v. 27.1.2015 – II ZB 7/14, ZIP 2015, 655, 656, dazu EWiR 2015, 463 (v. d. Linden). 13) OLG München, Beschl. v. 26.3.2020 – 31 Wx 278/18, Rz. 13, NZG 2020, 783; Habersack in: MünchKommAktG, § 99 Rz. 19; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 99 Rz. 17 und Rz. 31. 14) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 99 Rz. 18; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 99 Rz. 24. 15) Bayern: OLG München, VO v. 16.11.2004, GVBl. I S. 471; NRW: OLG Düsseldorf, VO v. 31.5.2005, GV NRW 2005 S. 625; Rheinland-Pfalz: OLG Zweibrücken, VO v. 22.11.1985, GVBl. S. 267. 16) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 99 Rz. 19; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 99 Rz. 8; a. A. Spindler in: BeckOGK-AktR, § 99 AktG Rz. 12. 17) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 99 Rz. 23; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 99 Rz. 32. 18) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 99 Rz. 24; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 99 Rz. 35. 19) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 99 Rz. 25; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 99 Rz. 37.

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§ 100 IV.

Persönliche Voraussetzungen für Aufsichtsratsmitglieder Kosten (§ 99 Abs. 6)

12 Nach § 99 Abs. 6 Satz 2 sind die außergerichtlichen Kosten der Beteiligten (etwa Anwaltsgebühren) von diesen selbst zu tragen. Für die Gerichtskosten (die allgemein im GNotKG geregelt sind20) ist die Gesellschaft nach § 23 Nr. 10 GNotKG grundsätzlich Kostenschuldnerin, weil die gerichtliche Entscheidung vorwiegend in ihrem Interesse liegt. Nach § 99 Abs. 6 Satz 1 können ausnahmsweise die Kosten aus Billigkeitserwägungen ganz oder teilweise dem Antragsteller auferlegt werden, etwa bei offensichtlich unzulässigen oder unbegründeten Anträgen.21) 13 Im Berufungsverfahren sind die Kosten ebenfalls grundsätzlich von der Gesellschaft zu tragen.22) _____________ 20) Durch das 2. KostRMoG wurde die bisher in § 99 Abs. 6 a. F. enthaltene Kostenhaftung in das GNotKG übertragen, vgl. Bormann/Diehn/Sommerfeldt-Sommerfeldt, GNotKG, § 23 Rz. 13; ausführlich dazu Simons, AG 2014, 182 ff. 21) OLG Stuttgart, Beschl. v. 8.10.2018 – 20 W 21/18, Rz. 8 und Rz. 15, AG 2019, 315, 316; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 99 Rz. 27; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 99 Rz. 12; Simons, AG 2014, 182, 183. 22) OLG Stuttgart, Beschl. v. 8.10.2018 – 20 W 21/18, Rz. 9 ff., AG 2019, 315, 316; Spindler in: BeckOGKAktR, § 99 AktG Rz. 25; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 99 Rz. 12 a. E.; a. A. OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 25.5.2018 – 21 W 32/18, AG 2018, 578, 581.

§ 100 Persönliche Voraussetzungen für Aufsichtsratsmitglieder Werner Paul Schick

(1) 1Mitglied des Aufsichtsrats kann nur eine natürliche, unbeschränkt geschäftsfähige Person sein. 2Ein Betreuter, der bei der Besorgung seiner Vermögensangelegenheiten ganz oder teilweise einem Einwilligungsvorbehalt (§ 1903 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) unterliegt, kann nicht Mitglied des Aufsichtsrats sein. ) (2) 1Mitglied des Aufsichtsrats kann nicht sein, wer 1. bereits in zehn Handelsgesellschaften, die gesetzlich einen Aufsichtsrat zu bilden haben, Aufsichtsratsmitglied ist, 2. gesetzlicher Vertreter eines von der Gesellschaft abhängigen Unternehmens ist, 3. gesetzlicher Vertreter einer anderen Kapitalgesellschaft ist, deren Aufsichtsrat ein Vorstandsmitglied der Gesellschaft angehört, oder 4. in den letzten zwei Jahren Vorstandsmitglied derselben börsennotierten Gesellschaft war, es sei denn, seine Wahl erfolgt auf Vorschlag von Aktionären, die mehr als 25 Prozent der Stimmrechte an der Gesellschaft halten. 2 Auf die Höchstzahl nach Satz 1 Nr. 1 sind bis zu fünf Aufsichtsratssitze nicht anzurechnen, die ein gesetzlicher Vertreter (beim Einzelkaufmann der Inhaber) des herrschenden Unternehmens eines Konzerns in zum Konzern gehörenden Handelsgesellschaften, die gesetzlich einen Aufsichtsrat zu bilden haben, inne hat. 3Auf die Höchstzahl nach Satz 1 Nr. 1 sind Aufsichtsratsämter im Sinne der Nummer 1 doppelt anzurechnen, für die das Mitglied zum Vorsitzenden gewählt worden ist. (3) Die anderen persönlichen Voraussetzungen der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer sowie der weiteren Mitglieder bestimmen sich nach dem Mitbestimmungs_____________

)

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§ 100 Abs. 1 Satz 2 geändert durch Art. 15 Nr. 22 des Gesetzes zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts v. 4.5.2021, BGBl. I 2021, 882; gemäß Art. 16 Abs. 1 findet die Änderung ab dem 1.1.2023 Anwendung. Satz 2 in der geänderten Fassung lautet: „2Ein Betreuter, der bei der Besorgung seiner Vermögensangelegenheiten ganz oder teilweise einem Einwilligungsvorbehalt (§ 1825 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) unterliegt, kann nicht Mitglied des Aufsichtsrats sein“.

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Persönliche Voraussetzungen für Aufsichtsratsmitglieder

§ 100

gesetz, dem Montan-Mitbestimmungsgesetz, dem Mitbestimmungsergänzungsgesetz, dem Drittelbeteiligungsgesetz und dem Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung. (4) Die Satzung kann persönliche Voraussetzungen nur für Aufsichtsratsmitglieder fordern, die von der Hauptversammlung ohne Bindung an Wahlvorschläge gewählt oder auf Grund der Satzung in den Aufsichtsrat entsandt werden. (5) Bei Gesellschaften, die Unternehmen von öffentlichem Interesse nach § 316a Satz 2 des Handelsgesetzbuchs sind, muss mindestens ein Mitglied des Aufsichtsrats über Sachverstand auf dem Gebiet Rechnungslegung und mindestens ein weiteres Mitglied des Aufsichtsrats über Sachverstand auf dem Gebiet Abschlussprüfung verfügen; die Mitglieder müssen in ihrer Gesamtheit mit dem Sektor, in dem die Gesellschaft tätig ist, vertraut sein. Literatur: Bachmann, Zur Umsetzung einer Frauenquote im Aufsichtsrat, ZIP 2011, 1131; Bauer/Arnold, AGG und Organmitglieder – Klares und Unklares vom BGH, NZG 2012, 921; Behme/Zickgraf, Anforderungen an die Qualifikationen von Aufsichtsratsmitgliedern nach dem Abschlussprüfungsreformgesetz (AReG), AG 2016, R 132; Behringer/Unruh, Kein Grund zu bleiben, ist der beste Grund zu gehen – Ein Blick auf den Wechsel zwischen Vorstand und Aufsichtsrat, DB 2019, 621; Brandi/Gieseler, Der Aufsichtsrat in Kreditinstituten, NZG 2012, 1321; Bungert/Wansleben, Wechsel eines Vorstandsmitglieds in den Aufsichtsrat, DB 2012, 2617; Diekmann/Fleischmann, Umgang mit Interessenkonflikten in Aufsichtsrat und Vorstand der Aktiengesellschaft, AG 2013, 141; Dreher, Die Gesamtqualifikation des Aufsichtsrats, in: Festschrift für Michael Hoffmann-Becking, 2013, S. 313; v. Falkenhausen/Kocher, Wie wird der unabhängige Finanzexperte in den Aufsichtsrat gewählt? – Praktische Fragen der Umsetzung des BilMoG, ZIP 2009, 1601; Florstedt, Die Unabhängigkeit des Aufsichtsratsmitglieds vom kontrollierenden Aktionär, ZIP 2013, 337; Fromholzer/Hauser, Verschärfte Anforderungen und Haftungsrisiken für Aufsichtsräte nach dem RegE des Abschlussprüfungsreformgesetzes, DB 2016, 401; Gruber, Der unabhängige Finanzexperte im Aufsichtsrat nach dem Referentenentwurf des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes, NZG 2008, 12; Habersack, Aufsichtsrat und Prüfungsausschuss nach dem BilMoG, AG 2008, 98; Hasselbach/Jakobs, Die Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern, BB 2013, 643; Hennrichs, Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz (FISG) – die „richtigen Antworten auf Wirecard“?, DB 2021, 268; Hirte, Frauenquote oder Frauenförderung?, Der Konzern 2013, 367; Hirte, Geschlechterquoten in Aufsichtsrat und Vorstand, Der Konzern 2011, 519; Hoffmann-Becking, Unabhängigkeit im Aufsichtsrat, NZG 2014, 801; Hohenstatt/Naber, Diskriminierungsschutz für Organmitglieder: Konsequenzen für die Vertragsgestaltung. Zugleich Besprechung BGH v. 23.4.2012, ZIP 2012, 1989; Hopt/Kumpan, Governance in börsennotierten und anderen bedeutenden Gesellschaften – Vorstand und Aufsichtsrat auf dem Prüfstand nach dem Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz (FISG), AG 2021, 129; Hopt/Leyens, Der Deutsche Corporate Govenance Kodex 2020 – Grunsatz- und Praxisprobleme –, ZGR 2019, 929; Hopt/v. Werder, Aufseher im Aufsichtsrat – Governanceprobleme und Regulierungsansätze, in: Festschrift für Christine Windbichler, 2020, S. 775; Hüffer, Zur Wahl von Beratern des Großaktionärs in den Aufsichtsrat der Gesellschaft, ZIP 2010, 1979; Jaspers, Höchstgrenzen für Aufsichtsratsmandate nach Aktienrecht und DCGK, AG 2011, 154; Koch, Begriff und Rechtsfolgen von Interessenkonflikten und Unabhängigkeit im Aktienrecht, ZGR 2014, 697; Kremer/v. Werder, Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern: Konzept, Kriterien und Kandidateninformationen, AG 2013, 340; Krieger, Der Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat, in: Festschrift für Uwe Hüffer, 2010, S. 510; v. d. Linden, Deutscher Corporate Governance Kodex 2019 – Alles neu macht der Mai, DStR 2019, 1528; Löbbe/Fischbach, Wechsel von Vorstandsmitgliedern in den Aufsichtsrat auf Initiative der Verwaltungsorgane der Gesellschaft, AG 2012, 580; Lutter, Anwendbarkeit der Altersbestimmungen des AGG auf Organpersonen, BB 2007, 725; Lutter/Kirschbaum, Zum Wettbewerber im Aufsichtsrat, ZIP 2005, 103; Mader, Die internationale Besetzung des Aufsichtsrats einer deutschen Aktien-

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§ 100

Persönliche Voraussetzungen für Aufsichtsratsmitglieder

gesellschaft, ZGR 2014, 430; Merkelbach, Professionalisierung des Aufsichtsrats – CRD IV wirft ihren Schatten voraus, Der Konzern 2013, 227; Nodoushani, Das neue Anforderungsprofil für Aufsichtsräte von Unternehmen von öffentlichem Interesse, AG 2016, 381; Opitz, Zur Fortbildungsverantwortung von Vorstand und Aufsichtsrat. Zugleich ein Beitrag zu §§ 25c und 25d KWG i. d. F. von Art. 1 Nr. 48 CRD IV-UmsetzungsGE, BKR 2013, 177; Redenius-Hövermann, Zur Frauenquote im Vorstand, ZIP 2021, 1365; Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Die Kodex-Änderungen vom Mai 2012, NZG 2012, 1081; Roth, Unabhängige Aufsichtsratsmitglieder, ZHR 175 (2011) 605; Roth, Deutscher Corporate Governance Kodex – Grundlegende Kodexreform: Einführung von Grundsätzen und Stärkung der Unabhängigkeit, AG 2020, 278; Spindler, Die Empfehlungen der EU für den Aufsichtsrat und ihre deutsche Umsetzung im Corporate Governance Kodex, ZIP 2005, 2033; Staake, Arbeitnehmervertreter als unabhängige Aufsichtsratsmitglieder?, NZG 2016, 853; Staake, Der unabhängige Finanzexperte im Aufsichtsrat, ZIP 2010, 1013; Teichmann/ Rüb, Die gesetzliche Geschlechterquote in der Privatwirtschaft, BB 2015, 898; Wasse, Die Internationalisierung des Aufsichtsrats – Herausforderungen in der Praxis, AG 2011, 685; v. Werder, Zum Reformentwurf des Deutschen Corporate Governance Kodex, DB 2022, 511; v. Werder, Die aktuellen Änderungen des Deutschen Corporate Governance Kodex, DB 2019, 1721; Wirth, Anforderungsprofil und Inkompatibilitäten für Aufsichtsratsmitglieder, ZGR 2005, 327.

Übersicht I. Gegenstand und Zweck der Norm ........................................... 1 II. Persönliche Voraussetzungen (§ 100 Abs. 1) ..................................... 2 III. Gesetzliche Hinderungsgründe (§ 100 Abs. 2) ..................................... 7 IV. Persönliche Voraussetzungen für Arbeitnehmervertreter (§ 100 Abs. 3) ................................... 14 I.

V. Regelungen der Satzung (§ 100 Abs. 4) ................................... 15 VI. Finanzexperte/Vertrautheit mit dem Sektor (§ 100 Abs. 5) ................................... 17 VII. Rechtsfolgen bei Verstößen ......................................... 21

Gegenstand und Zweck der Norm

1 § 100 Abs. 1 – 4 enthalten persönliche Voraussetzungen für Aufsichtsratsmitglieder. Daneben enthält § 105 weitere persönliche Voraussetzungen.1) Hierdurch soll eine effektive Überwachungstätigkeit gewährleistet werden.2) Zudem soll durch die Hinderungsgründe des § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 – 4 der übermäßigen Konzentration von Aufsichtsratsmandaten entgegengewirkt werden.3) § 100 Abs. 5 wurde durch das FISG4) neu gefasst und verlangt, dass im Aufsichtsrat von Unternehmen von öffentlichem Interesse nach § 316a Satz 2 HGB n. F. (neben der bereits bisher verlangten Sektorvertrautheit) Sachverstand bezüglich Rechnungslegung und Abschlussprüfung – verteilt auf zwei Aufsichtsratsmitglieder – vorhanden sein muss.5) Da die Norm nicht abschließend ist, sind auch Anforderungen an die persönlichen Voraussetzungen oder Hinderungsgründe zu beachten, die sich aus anderen Vorschriften ergeben.6) II.

Persönliche Voraussetzungen (§ 100 Abs. 1)

2 Da das Amt des Aufsichtsratsmitglieds persönliches Tätigwerden voraussetzt (siehe auch § 111 Abs. 6, dazu § 111 Rz. 33), schließt § 100 Abs. 1 aus, dass eine juristische Person _____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6)

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Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 1; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 100 Rz. 1. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 12; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 1. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 1. Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität (Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz – FISG) v. 3.6.2021, BGBl. I 2021, 1534; s. dazu Hennrichs, DB 2021, 268 ff.; Hopt/Kumpan, AG 2021, 129 ff. Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 115 f. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 12; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 7.

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Persönliche Voraussetzungen für Aufsichtsratsmitglieder

§ 100

Aufsichtsratsmitglied werden kann.7) Aufsichtsratsmitglied kann nur eine natürliche Person sein, die unbeschränkt geschäftsfähig ist und nicht als Betreuer einem Einwilligungsvorbehalt (der in Abs. 1 Satz 2 beschriebenen Art) unterliegt.8) Darüber hinaus enthält § 100 Abs. 1 aber keine weiteren persönlichen Bestellungsvoraussetzungen, wie etwa besondere Sachkunde9) (siehe dazu auch Rz. 5). Für Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute gelten Sondervorschriften, die von deren Aufsichtsratsmitgliedern Zuverlässigkeit und besondere Sachkunde verlangen (etwa § 25d Abs. 1 und 2 KWG).10) Nach dem AktG ist es auch nicht erforderlich, dass das Aufsichtsratsmitglied Aktionär ist, es muss nicht Deutscher sein oder seinen Wohnsitz in Deutschland haben.11) Die Unabhängigkeit ist ebenfalls nicht als Bestellungsvoraussetzung aktiengesetzlich vor- 3 geschrieben.12) Die in § 100 Abs. 5 ursprünglich enthaltene Sonderregelung für kapitalmarktorientierte Gesellschaften, die die Unabhängigkeit des Finanzexperten vorsah, ist durch das Abschlussprüfungsreformgesetz (AReG) gestrichen worden13) (siehe dazu unten Rz. 17 f.). Die nunmehr erfolgte Neufassung des § 100 Abs. 5 hat dies unverändert gelassen, weshalb auch die beiden Finanzexperten nach dem AktG nicht unabhängig sein müssen.14) Das Gesetz enthält kein generelles Verbot der Wahl eines Organmitglieds eines Konkurrenten in den Aufsichtsrat.15) Der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) enthielt schon i. d. F. vom 7.2.2017 4 Empfehlungen zur Unabhängigkeit,16) die noch verschärft wurden17) (siehe dazu auch § 161 _____________ 7) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 24; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 2, stellt auf die persönliche Verantwortlichkeit ab. 8) Näher dazu Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 26; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 13. 9) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 27; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd 4, § 30 Rz. 4; Wirth, ZGR 2005, 327, 336 ff. 10) S. dazu: Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 29; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 35; Semler/ v. Schenck-Mutter, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 9 ff.; Brandi/Gieseler, NZG 2012, 1321, 1325 ff.; Dreher in: FS Hoffmann-Becking, S. 313, 325 ff.; Merkelbach, Der Konzern 2013, 227, 228 ff.; Opitz, BKR 2013, 177, 181 ff.; Hopt/v. Werder in: FS Windbichler, S. 775, 778. 11) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 3; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 27; Wasse, AG 2011, 685 ff.: zu den praktischen Problemen bei ausländischen Aufsichtsratsmitgliedern. 12) OLG Köln, Urt. v. 31.1.2013 – 18 U 21/12, ZIP 2013, 516, 517, dazu EWiR 2013, 163 (v. Falkenhausen); Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 17 und Rz. 83; Hoffmann-Becking, NZG 2014, 801, 805 f.; Koch, ZGR 2014, 697 ff.; Hopt/v. Werder in: FS Windbichler, S. 775, 788; s. aber auch LG Hannover, Urt. v. 17.3.2010 – 23 O 124/09 (Koerfer), ZIP 2010, 833, 837, dazu EWiR 2010, 345 (Reger/Theusinger), zur Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern i. S. des DCGK; ablehnend Hüffer, ZIP 2010, 1979, 1980 ff. 13) S. dazu Fromholzer/Hauser, DB 2016, 401 f.; Nodoushani, AG 2016, 381, 383 f.; kritisch Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 235 f.; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 100 Rz. 40 a. E. 14) Kritisch hierzu Hopt/Kumpan, AG 2021, 129, 136, Rz. 21. 15) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd 4, § 30 Rz. 6; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 27 und Rz. 138 ff.; Hüffer, ZIP 2010, 1979, 1983; Wirth, ZGR 2005, 327, 343 ff., 346; s. aber auch Lutter/ Kirschbaum, ZIP 2005, 103, 104 ff.; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 100 Rz. 27 f. 16) Danach sollten dem Aufsichtsrat „eine nach seiner Einschätzung angemessene Anzahl unabhängiger Mitglieder angehören“ (Ziff. 5.4.2 Satz 1) und Aufsichtsratsmitglieder keine Organfunktion oder Beratungsaufgaben bei wesentlichen Wettbewerbern des Unternehmens wahrnehmen (Ziff. 5.4.2 Satz 4); s. dazu Kremer/v. Werder, AG 2013, 340 ff.; Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, NZG 2012, 1081, 1087; Diekmann/Fleischmann, AG 2013, 141, 144; Florstedt, ZIP 2013, 337, 338 ff.; Hasselbach/Jakobs, BB 2013, 643 ff.; Hoffmann-Becking, NZG 2014, 801, 805 f.; Roth, ZHR 175 (2011) 605, 635 f.; Staake, NZG 2016, 853, 855 (zur Unabhängigkeit der Arbeitnehmervertreter); Spindler, ZIP 2005, 2033 ff. (zur EU-Empfehlung v. 15.2.2005 (2005/162/EG) und deren Umsetzung im DCGK). Nach Ziff. 5.4.1 Abs. 4 DCGK i. d. F. v. 7.2.2017 sollte über die nach Einschätzung des Aufsichtsrats angemessene Zahl unabhängiger Mitglieder der Anteilseigner und die Namen dieser Mitglieder im Corporate Governance Bericht informiert werden. 17) Hopt/Leyens, ZGR 2019, 929, 933 und 957; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 37; v. Werder, DB 2019, 1721, 1724 ff.

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§ 100

Persönliche Voraussetzungen für Aufsichtsratsmitglieder

Rz. 43). Der DCGK i. d. F. vom 16.12.2019 enthält in C. 6 – C. 12 detaillierte Empfehlungen zur Unabhängigkeit der Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat.18) Dem Aufsichtsrat soll auf Anteilseignerseite nach deren „Einschätzung eine angemessene Anzahl unabhängiger Mitglieder angehören“, wobei ein Aufsichtsratsmitglied als unabhängig anzusehen ist, „wenn es unabhängig von der Gesellschaft und deren Vorstand und unabhängig von einem kontrollierenden Aktionär ist“ (C. 6 Abs. 1 und 2 DCGK). Es sollen mehr als die Hälfte der Anteilseignervertreter unabhängig von der Gesellschaft und vom Vorstand sein (Empfehlung C. 7 Abs. 1 Satz 1 DCGK). Der Anteilseignerseite obliegt die Selbsteinschätzung der Unabhängigkeit19) von der Gesellschaft und vom Vorstand anhand eines Katalogs von Indikatoren (C. 7 Abs. 2 DCGK).20) Für die Unabhängigkeit von einem kontrollierenden Aktionär empfiehlt der DCGK in C. 9, dass mindestens zwei Anteilseignervertreter (bei mehr als sechs Aufsichtsratsmitgliedern) bzw. ein Anteilseignervertreter (bei einem Aufsichtsrat mit sechs oder weniger Mitgliedern) unabhängig vom kontrollierenden Aktionär sein sollen.21) Nach der Empfehlung C. 12 sollen Aufsichtsratsmitglieder keine Organfunktion oder Beratungsaufgabe bei wesentlichen Wettbewerbern des Unternehmens ausüben und nicht in einer persönlichen Beziehung zu einem wesentlichen Wettbewerber stehen.22) 5 Der BGH hat mangels gesetzlicher Vorgaben Leitlinien zur individuellen Qualifikation von Aufsichtsratsmitgliedern entwickelt; jedes Aufsichtsratsmitglied muss „diejenigen Mindestkenntnisse und -fähigkeiten besitzen oder sich aneignen, die es braucht, um alle normalerweise anfallenden Geschäftsvorgänge auch ohne fremde Hilfe verstehen und sachgerecht beurteilen zu können“.23) Hierbei handelt es sich primär um einen generellen Maßstab für die bei der Amtsausübung anzuwendende Sorgfalt und nicht um das Rechtsgebot einer besonderen Sachkunde als Bestellungsvoraussetzung.24) In G. 11 des DCGK findet sich die Anforderung, dass der Aufsichtsrat so zusammenzusetzen ist, dass seine Mitglieder insgesamt über die erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und fachlichen Erfahrungen verfügen.25) 6 Die in der Öffentlichkeit vermehrt geäußerten Forderungen nach einer verbindlichen Geschlechterquote im Aufsichtsrat26) wurden durch das Erste Führungspositionen-Gesetz27) _____________ 18) Näher dazu: Hopt/Leyens, ZGR 2019, 929, 956 ff.; Roth, AG 2020, 278, 289 ff., Rz. 57 ff.; v. Werder, DB 2019, 1721, 1724 ff. 19) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 38 („Einschätzungsprärogative“); kritisch zur Beschränkung der Empfehlung auf die Anteilseignerseite: Hopt/Leyens, ZGR 2019, 929, 958 f. 20) Hopt/Leyens, ZGR 2019, 929, 960 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 42 f.; v. Werder, DB 2019, 1721, 1725. 21) Ausführlich dazu Hopt/Leyens, ZGR 2019, 929, 963 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 44 ff.; v. Werder, DB 2019, 1721, 1726. 22) Hopt/Leyens, ZGR 2019, 929, 964, erachten diese Empfehlung in Anbetracht des Umstands, dass es de lege lata keine Inkompatibilität bei engen Beziehungen zu einem Wettbewerber gibt, als überzeugend; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 47. 23) BGH, Urt. v. 15.11.1982 – II ZR 27/82 (Hertie), BGHZ 85, 293, 295 f. = ZIP 1983, 55, 56; s. a. LG Hannover, Urt. v. 17.3.2010 – 23 O 124/09 (Koerfer), ZIP 2010, 833; s. dazu und zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtqualifikation Dreher in: FS Hoffmann-Becking, S. 313, 315 ff. 24) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 4; ausführlich dazu Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 28 ff. 25) So auch schon Ziff. 5.4.1 Abs. 1 DCGK i. d. F. v. 7.2.2017, insoweit handelte es sich gemäß dem Verständnis der Kodexkommission um die Darstellung der gesetzlichen Anforderungen, Ringleb/Kremer/ Lutter/v. Werder, NZG 2010, 1161, 1165; nach Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, G. 11 Rz. 1, fasst G. 11 rechtliche Vorgaben an die Zusammensetzung des Aufsichtsrats zusammen. 26) S. dazu Bachmann, ZIP 2011, 1131 ff.; Hirte, Der Konzern 2013, 367 ff.; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 17. 27) Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (Führungspositionengesetz – FüPoG) v. 24.4.2015, BGBl. I 2015, 642, s. hierzu auch den vom BMFSFJ am 10.8.2015 veröffentlichten Praxisleitfaden zum Gesetz, abrufbar unter https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/zielsicher-mehr-frauen-infuehrung-96204 (Abrufdatum: 23.6.2022).

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Persönliche Voraussetzungen für Aufsichtsratsmitglieder

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(siehe hierzu § 96 Rz. 12 ff. und § 111 Rz. 26 ff.) im April 2015 aufgegriffen.28) Der DCGK enthielt bereits seit 2010 eine Empfehlung zur angemessenen Beteiligung von Frauen,29) die durch das Gesetz zur Frauenquote entbehrlich und daher 2015 gestrichen wurde. Durch das FüPoG II30) sind die Regelungen zur gleichberechtigten Teilhabe von Frauen an Führungspositionen, die durch das erste Führungspositionengesetz eingeführt wurden, „zur Erhöhung der Wirksamkeit“31) ergänzt und geändert worden (siehe dazu § 111 Rz. 29 ff.). III. Gesetzliche Hinderungsgründe (§ 100 Abs. 2) Neben den gesetzlichen Hinderungsgründen in § 105 Abs. 1 (siehe dazu § 105 Rz. 3 f.) sind 7 die in § 100 Abs. 2 geregelten gesetzlichen Hinderungsgründe zu beachten. Nach § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ist nicht wählbar, wer bereits zehn Aufsichtsratsmandate in Handelsgesellschaften innehat, die gesetzlich einen Aufsichtsrat zu bilden haben (Höchstzahl von Aufsichtsratsmandaten). Von der wörtlich zu verstehenden Regelung werden Mandate in Genossenschaften, Kommanditgesellschaften und GmbH, die nicht unter die Mitbestimmungsgesetze fallen, sowie in ausländischen Gesellschaften nicht erfasst.32) Der DCGK sieht in den Empfehlungen C. 4 und C. 5 strengere Anforderungen für die Höchstzahl von Aufsichtsratsmandaten vor, um Overboarding zu verhindern.33) Danach sollen Aufsichtsratsmitglieder maximal fünf Aufsichtsratsmandate bei konzernexternen börsennotierten Gesellschaften oder vergleichbare Funktionen wahrnehmen (dabei Doppelzählung eines Aufsichtsratsvorsitzes); amtierende Vorstandsmitglieder einer börsennotierten Gesellschaft sollen maximal zwei Aufsichtsratssitze oder vergleichbare Funktionen und keinen Aufsichtsratsvorsitz wahrnehmen. Nach dem Konzernprivileg gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 werden bis zu fünf Aufsichtsratssitze 8 nicht angerechnet, die ein gesetzlicher Vertreter (Vorstandsmitglieder und Geschäftsführer) der herrschenden Gesellschaft eines Konzerns in einem Konzernunternehmen wahrnimmt.34) Nach § 100 Abs. 2 Satz 3 sind auf die nach § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 zulässige Mandats- 9 höchstzahl Vorsitzmandate doppelt anzurechnen (Doppelzählung von Aufsichtsratsvorsitzmandaten). Für die in einem Konzernunternehmen wahrgenommenen Mandate verbleibt es bei § 100 Abs. 2 Satz 2.35) Die Doppelzählung gilt nicht für Mandate als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender.36) _____________ 28) Auf europäischer Ebene hat die EU-Kommission einen entsprechenden Richtlinienvorschlag vorgelegt; Richtlinienvorschlag der EU-Kommission zur Gewährleistung einer ausgewogenen Vertretung von Frauen und Männern unter den nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften und über damit zusammenhängenden Maßnahmen (KOM (2012) 614); s. dazu Teichmann/Rüb, BB 2015, 898. 29) Die vom Aufsichtsrat für seine Zusammensetzung zu benennenden konkreten Ziele sollten „insbesondere eine angemessene Beteiligung von Frauen vorsehen“ (Ziff. 5.4.1 Abs. 2 Satz 2 i. d. F. v. 26.5.2010); s. dazu Bachmann, ZIP 2011, 1131, 1132 f.; Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, 7. Aufl. 2018, Rz. 1341 ff. 30) Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (Zweites Führungspositionengesetz – FüPoG II) v. 7.8.2021, BGBl. I 2021, 3311; s. dazu Redenius-Hövermann, ZIP 2021, 1365, 1378 ff. 31) Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 2; kritisch dazu Redenius-Hövermann, ZIP 2021, 1365, 1380 f. 32) H. M., s. Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 14; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 5 f.; für Einbeziehung von ausländischen Aufsichtsratsmandaten in ausländischen Gesellschaften: Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 59; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 23; ausführlich zum Meinungsstreit: Jaspers, AG 2011, 154, 155 f.; Mader, ZGR 2014, 430, 432 ff. 33) S. dazu Hopt/Leyens, ZGR 2019, 929, 955 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 56; v. d. Linden, DStR 2019, 1528, 1529; die Abstimmungsrichtlinien von Stimmrechtsberatern (wie etwa ISS oder Glass Lewis) enthalten ähnliche bzw. teils noch strengere Mandatsobergrenzen. 34) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 15; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 60 ff. 35) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 66; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 8. 36) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 67; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 8.

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Persönliche Voraussetzungen für Aufsichtsratsmitglieder

10 Die gesetzlichen Vertreter eines von der Gesellschaft abhängigen Unternehmens sind nach § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ausgeschlossen, da ansonsten die Kontrollierten zu Kontrolleuren gemacht würden bzw. hierin ein Verstoß gegen das „natürliche Organisationsgefälle“ läge37) (siehe dazu auch § 105 Rz. 5). 11 Die gesetzlichen Vertreter einer anderen Kapitalgesellschaft, deren Aufsichtsrat ein Vorstandsmitglied der Gesellschaft angehört, sind nach § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ebenfalls ausgeschlossen (Verbot der Überkreuzverflechtung).38) Dieses Verbot resultiert aus der Überlegung, dass derjenige, der als Aufsichtsratsmitglied überwachen soll, nicht selbst in einer anderen Gesellschaft der Überwachung durch den Überwachten unterliegen soll.39) Streitig ist, ob sich das Verbot auf die gesetzlichen Vertreter inländischer Kapitalgesellschaften beschränkt.40) Ein gesetzlicher Vertreter (Vorstandsmitglied) der Mutter-Gesellschaft kann jedoch Mitglied im Aufsichtsrat der Tochter-AG sein.41) Zulässig ist auch eine Doppelorganmitgliedschaft im Aufsichtsrat der Mutter-Gesellschaft und im Aufsichtsrat der Tochter.42) 12 Nach der im Jahr 2009 durch das VorstAG43) eingeführten Regelung des § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 kann nicht Aufsichtsratsmitglied sein, wer in den letzten zwei Jahren44) Vorstandsmitglied derselben börsennotierten Gesellschaft war, es sei denn, die Wahl erfolgt auf Vorschlag von Aktionären mit mindestens 25 % der Stimmrechte.45) Durch diese Karenzzeit (Cooling-off-Periode) soll verhindert werden, dass ein ehemaliges Vorstandsmitglied die Bereinigung strategischer Fehler oder die Beseitigung von Unregelmäßigkeiten aus der eigenen Vorstandszeit unterbindet.46) Die Regelung ist auf börsennotierte Gesellschaften beschränkt, da nur hier ein systematisches Kontrolldefizit durch die Eigentümergesamtheit angenommen wird.47) § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 erfasst nur den Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat derselben börsennotierten Gesellschaft.48) Der Wechsel vom Aufsichtsrat in den Vorstand wird auch nicht erfasst, sondern ist nach den Vorgaben des § 105 Abs. 2 zulässig49) (siehe dazu § 105 Rz. 7 ff.). 13 Die Karenzzeit gilt nicht, wenn das Aufsichtsratsmitglied aufgrund eines Aktionärsvorschlags gewählt wird, der dem 25 %-Quorum genügt.50) Für die Anwendbarkeit der in _____________ 37) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 78; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 31. 38) Ausführlich hierzu: Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 58 ff.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 21 f.; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 34 ff. 39) Ausschussbericht zu § 100, abgedr. in Kropff, S. 136. 40) Dafür Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 10; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 100 Rz. 37; a. A. Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 22; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 35 f. 41) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 82; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 20; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 33. 42) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 82; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 20; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 32 f. 43) Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG) v. 31.7.2009, BGBl. I 2009, 2509. 44) Der DCGK greift die zweijährige Karenzzeit für einen Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat i. R. der Empfehlungen zur Unabhängigkeit und dort konkret bei den Indikatoren für fehlende Unabhängigkeit (C. 7 Abs. 2 1. Spiegelstrich) auf; s. dazu Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 12; Roth, AG 2020, 278, 290 f., Rz. 67 f. 45) Zu den im Zeitraum von 2009 – 2018 erfolgten Wechseln, s. die empirische Untersuchung von Behringer/ Unruh, DB 2019, 621, 622 ff. 46) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 11; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 12. 47) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 11; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 39. 48) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 42; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 95. 49) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 42; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 100 Rz. 23. 50) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 11; näher dazu: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 45 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 15 ff.

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Persönliche Voraussetzungen für Aufsichtsratsmitglieder

§ 100

§ 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 vorgesehenen Ausnahme bei Vorliegen des Quorums kommt es aber nicht auf eine besondere Eigentümerstruktur an, insbesondere gilt sie auch für Gesellschaften in Streubesitz.51) Der Vorschlag muss nicht Wahlvorschlag i. S. des § 127 sein.52) Ausreichend ist es auch, wenn er an den Aufsichtsrat gerichtet wird („als Vorschlag gemäß § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4“) und der Aufsichtsrat sich dem anschließt;53) dies sollte in die Einberufung der Hauptversammlung aufgenommen werden.54) Die zweijährige Karenzzeit rechnet sich vom Tag des Ausscheidens aus dem Vorstand bis zum Tag des geplanten Eintritts in den Aufsichtsrat, wobei die Wahl durch die Hauptversammlung schon vorher erfolgen kann, sofern sie aufschiebend befristet ist.55) IV.

Persönliche Voraussetzungen für Arbeitnehmervertreter (§ 100 Abs. 3)

Für die Arbeitnehmervertreter und die weiteren Mitglieder des Aufsichtsrats gelten nach 14 § 100 Abs. 3 die dort genannten („anderen“) persönlichen Wählbarkeitsvoraussetzungen. Einerseits wird hierdurch klargestellt, dass diese Wählbarkeitsvoraussetzungen auch aktienrechtlich verbindlich sind.56) Anderseits wird klargestellt, dass die Hinderungsgründe des § 100 Abs. 2 auch für diesen Personenkreis gelten.57) Als besondere Wählbarkeitsvoraussetzungen sind insbesondere die Vorgaben des MitbestG zur Unternehmensangehörigkeit sowie zur Zahl der unternehmens- und gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmervertreter und zum Vertreter der leitenden Angestellten (§ 7 Abs. 2 – 4 MitbestG) zu nennen, die sich entsprechend auch im MontanmitbestG (§§ 4 Abs. 2, 6) und MitbestErgG (§§ 6 ff.) finden (das DrittelbG enthält Vorgaben nur zur Unternehmensangehörigkeit).58) Für Arbeitnehmervertreter, die im Zuge einer grenzüberschreitenden Verschmelzung nach dem MgVG ein Mandat übernehmen sollen, sind §§ 25 Abs. 3 Satz 2, 8 MgVG zu beachten.59) Die Mitgliedschaft im Betriebsrat ist kein Hinderungsgrund für die Wahl zum Aufsichtsrat.60) V.

Regelungen der Satzung (§ 100 Abs. 4)

Für Arbeitnehmervertreter kann die Satzung nach § 100 Abs. 4 persönliche Voraussetzun- 15 gen nicht vorsehen,61) zulässig ist dies jedoch für die Vertreter der Aktionäre. Allerdings dürfen die inhaltlichen Konkretisierungen nicht so weit gehen, dass die freie Auswahl durch die Hauptversammlung beschränkt wird.62) Zulässig als Voraussetzung sind etwa das _____________ 51) Löbbe/Fischbach, AG 2012, 580, 581; Bungert/Wansleben, DB 2012, 2617, 2618. 52) S. a. Löbbe/Fischbach, AG 2010, 580, 581 f.; Bungert/Wansleben, DB 2012, 2617, 2618. 53) Krieger in: FS Hüffer, S. 521, 525 und 530 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 18; eingehend zu den Praxisfragen bei der Umsetzung: Löbbe/Fischbach, AG 2012, 580, 581 ff.; zu den möglichen Vorgehensweisen: Bungert/Wansleben, DB 2012, 2617, 2618 ff. 54) Bungert/Wansleben, DB 2012, 2617, 2620; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 18; K. Schmidt/LutterDrygala, AktG, § 100 Rz. 19. 55) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 39; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 13. 56) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 207; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 19; K. Schmidt/LutterDrygala, AktG, § 100 Rz. 35. 57) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 53; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 19. 58) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 19; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 35; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 208. 59) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 54; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 19. 60) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 54; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 1 Rz. 20 a. E. 61) BGH, Urt. v. 21.2.1963 – II ZR 76/62, BGHZ 39, 116, 122 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 21. 62) Ausführlich dazu: Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 214; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 58 ff.

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Persönliche Voraussetzungen für Aufsichtsratsmitglieder

Festlegen eines Mindest- oder Höchstalters63) oder grundsätzlich einer besonderen beruflichen Qualifikation.64) Die Wahl von Arbeitnehmervertretern zu Aufsichtsratsmitgliedern der Aktionäre ist zulässig.65) Nach dem DCGK (Empfehlung C. 2, die weitgehend der hierzu bereits im DCGK 2017 enthaltenen Empfehlung in Ziff. 5.4.1 Abs. 2 entspricht)66) soll eine Altersgrenze für Aufsichtsratsmitglieder festgelegt werden; hierbei besteht Gestaltungsspielraum, weshalb die Festlegung durch Aufsichtsratsbeschluss, Bestimmung in der Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat oder in der Satzung erfolgen kann.67) 16 Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)68) ist grundsätzlich auch auf Mitglieder des Aufsichtsrats anwendbar, da diese als Mitglieder eines Gesellschaftsorgans vom Wortlaut des § 6 Abs. 3 AGG erfasst werden.69) Um der Gefahr einer (unzulässigen) Altersdiskriminierung vorzubeugen, sollte in der Praxis eine nach dem DCGK gemäß Empfehlung C. 2 festzulegende Altersgrenze für Aufsichtsratsmitglieder nicht die Regelaltersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung unterschreiten.70) VI.

Finanzexperte/Vertrautheit mit dem Sektor (§ 100 Abs. 5)

17 Durch das Abschlussprüfungsreformgesetz (AReG)71) wurde in § 100 Abs. 5 das Erfordernis der Unabhängigkeit des Finanzexperten gestrichen und der Anwendungsbereich erweitert. Nicht nur für Gesellschaften i. S. des § 264d HGB (kapitalmarktorientierte Kapitalgesellschaften), sondern auch für bestimmte (in Abs. 5 a. F. genannte) Kreditinstitute und Versicherungsunternehmen, die „Unternehmen von öffentlichem Interesse“ sind,72) wurden besondere persönliche Voraussetzungen für die Mitglieder des Aufsichtsrats und des Prüfungsausschusses verlangt. Es musste mindestens ein Aufsichtsratsmitglied über Sachverstand (alternativ) auf den Gebieten Rechnungslegung oder Abschlussprüfung verfügen.73) Durch das FISG (siehe dazu oben Rz. 1) ist § 100 Abs. 5 neu gefasst worden. Im Aufsichtsrat von Unternehmen von öffentlichem Interesse (nun definiert durch Verweisung auf Satz 2 des neu eingefügten § 316a HGB) muss (kumulativ) sowohl bezüglich Rechnungslegung als auch Abschlussprüfung Sachverstand vorhanden sein, der sich auf _____________ 63) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 215; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 36; Lutter, BB 2007, 725, 730 f. – zur Berücksichtigung des Altersdiskriminierungsverbots des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). 64) Ausführlich dazu: Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 100 Rz. 216; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 58. 65) BGH, Urt. v. 3.7.1975 – II ZR 35/79, AG 1975, 242, 244; s. dazu Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 36. 66) Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, C. 2 Rz. 1. 67) Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, C. 2 Rz. 2. 68) Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. I 2006, 1897; am 18.8.2006 in Kraft getreten. 69) Lutter, BB 2007, 725, 730, zu der Empfehlung Ziff. 5.4.1 Abs. 2 DCGK i. d. F. v. 7.2.2017. 70) Der BGH hat i. R. einer Entscheidung zum Diskriminierungsschutz nach dem AGG für einen GmbH-Geschäftsführer ausdrücklich offengelassen, ob eine Altersgrenze für Organmitglieder auch unterhalb von 65 Jahren bestimmt werden darf, BGH, Urt. v. 23.4.2012 – II ZR 163/10, Rz. 57, BGHZ 193, 110, 125 = ZIP 2012, 1291, dazu EWiR 2012, 437 (Bross); s. hierzu auch Bauer/Arnold, NZG 2012, 921, 925; Lutter, BB 2007, 725, 730, geht ausdrücklich davon aus, dass eine entsprechend Ziff. 5.4.1 DCGK a. F. festgelegte Altersgrenze gegen das AGG verstoßen kann; Kremer/Bachmann/ Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, 7. Aufl. 2018, Rz. 1325, empfehlen, dass die Altersgrenze für Aufsichtsratsmitglieder (deutlich) höher als die für Vorstandsmitglieder sein und nicht unterhalb des Renteneintrittsalters angesetzt sein sollte; ablehnend: Hohenstatt/Naber, ZIP 2012, 1989, 1999. 71) Gesetz zur Umsetzung der prüfungsbezogenen Regelungen der Richtlinie 2014/56/EU sowie zur Ausführung der entsprechenden Vorgaben der Verordnung (EU) Nr. 537/2014 im Hinblick auf die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse (Abschlussprüfungsreformgesetz – AReG) v. 10.5.2016, BGBl. I 2016, 1142. 72) Begr. RegE AReG, BT-Drucks. 18/7219, S. 56; ausführlich dazu Nodoushani, AG 2016, 381, 382 f. 73) Ausführlich dazu Staake, ZIP 2010, 1013, 1014 ff.; Habersack, AG 2008, 98, 104 ff.

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zwei Mitglieder verteilen muss.74) Es bleibt aber dabei, dass die Finanzexperten den erforderlichen Sachverstand nicht zwingend dadurch erworben haben müssen, dass sie einem „steuerberatenden oder wirtschaftsprüfenden Beruf angehören“, sondern auch durch entsprechende Weiterbildung.75) Da die Materialien insoweit auf die Begründung des RegE des BilMoG verweisen,76) ist davon auszugehen, dass der Sachverstand auch durch sonstige berufliche Erfahrung bzw. Tätigkeit (bspw. als Finanzvorstand, fachkundiger Angestellter aus dem Bereich Rechnungswesen und Controlling, Analyst oder langjähriges Mitglied im Prüfungsausschuss) erworben werden kann.77) Das Erfordernis, dass die Aufsichtsratsmitglieder in ihrer Gesamtheit mit dem Sektor 18 vertraut sein müssen, in dem die Gesellschaft tätig ist, ist weiterhin in § 100 Abs. 5 enthalten. Da für die Vertrautheit mit dem Sektor auf die Mitglieder „in ihrer Gesamtheit“ abgestellt wird,78) ist es nicht erforderlich, dass jedes einzelne Mitglied über sektorspezifische Kenntnisse verfügt.79) Unter „Sektor“ ist das Geschäftsfeld zu verstehen,80) und zwar i. S. einer Zuordnung des geschäftlichen Tätigkeitsfelds der Gesellschaft zu einer bestimmten Branche (etwa Automobilbranche, Großhandel).81) Obwohl das AktG die Unabhängigkeit nicht mehr verlangt, hält der DCGK an der Empfehlung zur Unabhängigkeit fest.82) Nach C. 10 Satz 1 DCGK soll der Vorsitzende des Prüfungsausschusses unabhängig von der Gesellschaft und vom Vorstand sein.83) Der für die beiden Finanzexperten erforderliche Sachverstand setzt voraus, dass das Auf- 19 sichtsratsmitglied beruflich mit Rechnungslegung oder Abschlussprüfung befasst ist oder war.84) Die Rechtsprechung folgt dem85) und verlangt als Voraussetzung für den erforderlichen Sachverstand, dass das betreffende Vorstandsmitglied fachlich in der Lage sein muss, die vom Vorstand gegebenen Informationen kritisch zu hinterfragen;86) es ist aber nicht erforderlich, dass der Finanzexperte seine Kenntnisse in Rechnungslegung oder Abschlussprüfung durch eine schwerpunktmäßige Tätigkeit in einem dieser Bereiche erlangt haben muss.87) _____________ 74) Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 115 f.; s. dazu Hennrichs, DB 2021, 268, 277 f. 75) Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 116; die Änderungen im Entwurf des DCGK v. 21.1.2022 gehen hierüber hinaus (Empfehlung D. 4 des Entwurfs) und verlangen vom Prüfungsausschussvorsitzenden „besondere Kenntnisse und Erfahrungen“, die nicht nur durch eine entsprechende Weiterbildung erworben werden können; s. S. 6 der Begr. der am 21.1.2022 vorgeschlagenen Änderungen des DCGK, abrufbar unter www.dcgk.de/de/konsultationen/aktuelle-konsultationen.html (Abrufdatum: 19.3.2022); s. dazu v. Werder, DB 2022, 511, 514. 76) Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 116. 77) Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 102; s. dazu Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 71; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 24. 78) S. hierzu Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 30, der zutreffend darauf hinweist, dass der DCGK mit seinen Regelungen „nach denen die Aufsichtsratsmitglieder insgesamt“ über die zur ordnungsgemäßen Wahrnehmung der Aufgaben erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und fachlichen Erfahrungen verfügen müssen und der Aufsichtsrat ein Kompetenzprofil für das Gesamtgremium erarbeiten soll (G. 11 und Empfehlung C. 1 Satz 1), in die gleiche Richtung zielt. 79) Begr. RegE AReG, BT-Drucks. 18/7219, S. 56; ausführlich dazu Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 73; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 27; Nodoushani, AG 2016, 381, 385. 80) Begr. RegE AReG, BT-Drucks. 18/7219, S. 65 (beide Begriffe werden synonym verwendet). 81) Behme/Zickgraf, AG 2016, R 132, 133; Nodoushani, AG 2016, 381, 386. 82) S. dazu Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, C. 10 Rz. 3. 83) Dazu Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 47; Roth, AG 2020, 278, 292, Rz. 75. 84) Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 102; s. dazu Habersack, AG 2008, 98, 104 ff. 85) OLG München, Beschl. v. 28.4.2010 – 23 U 5517/09, ZIP 2010, 1082, 1083, dazu EWiR 2010, 591 (Mense). 86) Kritisch zu dieser, die präventive Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats vernachlässigenden Sicht: Scheffler, AG 2010, R 368. 87) OLG München, Hinw.-Beschl. v. 28.4.2010 – 23 U 5517/09, ZIP 2010, 1082, 1083 f.; LG München I, Urt. v. 5.11.2009 – 5 HKO 15312/09, ZIP 2010, 627.

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§ 101

Bestellung der Aufsichtsratsmitglieder

20 Nach der Übergangsvorschrift in § 12 Abs. 6 EGAktG muss die Neufassung des § 100 Abs. 5 durch das FISG so lange nicht angewandt werden, wie alle Mitglieder des Aufsichtsrats und des Prüfungsausschusses vor dem 1.7.2021 bestellt worden sind. VII. Rechtsfolgen bei Verstößen 21 Gemäß § 250 Abs. 1 Nr. 4 führen Verstöße gegen § 100 Abs. 1 oder 2, die nicht vor Beginn der Amtszeit beseitigt werden, zur Nichtigkeit des Wahlbeschlusses der Hauptversammlung.88) Tritt nach Beginn der Amtszeit ein Hinderungsgrund nach § 100 Abs. 1 oder § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 oder 3 ein, so erlischt die Mitgliedschaft im Aufsichtsrat kraft Gesetzes. Das Fehlen von Satzungsanforderungen nach § 100 Abs. 4 führt zur Anfechtbarkeit der Wahl nach § 251 Abs. 1.89) 22 Soweit die Vorgaben des § 100 Abs. 5 (a. F.) zum (unabhängigen) Finanzexperten nicht beachtet wurden, führte dies nach der Rechtsprechung zur Anfechtbarkeit des Wahlbeschlusses.90) In der Literatur wird dies teilweise abgelehnt und zutreffend damit begründet, dass § 100 Abs. 5 eine Anforderung für die Zusammensetzung des Organs enthält und keine persönliche Voraussetzung für Aufsichtsratsmitglieder, die daher auch nicht auf den einzelnen Wahlbeschluss durchschlägt.91) _____________ 88) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 59; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 30. 89) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 100 Rz. 61; Spindler, BeckOGK-AktR, § 100 AktG Rz. 90. 90) LG München I, Urt. v. 26.2.2010 – 5 HKO 14083/09, ZIP 2010, 2098, 2101; a. A. K. Schmidt/LutterDrygala, AktG, § 100 Rz. 62; ausführlich zu den Umsetzungsfragen und dem Anfechtungsrisiko: v. Falkenhausen/Kocher, ZIP 2009, 1601 ff.; zum Streitstand Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 29. 91) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 32; Gruber, NZG 2008, 12, 14; a. A. Habersack in: MünchKommAktG, § 100 Rz. 93 (Anfechtbarkeit) m. w. N.; s. a. Staake, ZIP 2010, 1013, 1018.

§ 101 Bestellung der Aufsichtsratsmitglieder Werner Paul Schick

(1) 1Die Mitglieder des Aufsichtsrats werden von der Hauptversammlung gewählt, soweit sie nicht in den Aufsichtsrat zu entsenden oder als Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer nach dem Mitbestimmungsgesetz, dem Mitbestimmungsergänzungsgesetz, dem Drittelbeteiligungsgesetz oder dem Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung zu wählen sind. 2An Wahlvorschläge ist die Hauptversammlung nur gemäß §§ 6 und 8 des Montan-Mitbestimmungsgesetzes gebunden. (2) 1Ein Recht, Mitglieder in den Aufsichtsrat zu entsenden, kann nur durch die Satzung und nur für bestimmte Aktionäre oder für die jeweiligen Inhaber bestimmter Aktien begründet werden. 2Inhabern bestimmter Aktien kann das Entsendungsrecht nur eingeräumt werden, wenn die Aktien auf Namen lauten und ihre Übertragung an die Zustimmung der Gesellschaft gebunden ist. 3Die Aktien der Entsendungsberechtigten gelten nicht als eine besondere Gattung. 4Die Entsendungsrechte können insgesamt höchstens für ein Drittel der sich aus dem Gesetz oder der Satzung ergebenden Zahl der Aufsichtsratsmitglieder der Aktionäre eingeräumt werden. (3) 1Stellvertreter von Aufsichtsratsmitgliedern können nicht bestellt werden. 2Jedoch kann für jedes Aufsichtsratsmitglied mit Ausnahme des weiteren Mitglieds, das nach dem Montan-Mitbestimmungsgesetz oder dem Mitbestimmungsergänzungsgesetz auf

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Bestellung der Aufsichtsratsmitglieder

Vorschlag der übrigen Aufsichtsratsmitglieder gewählt wird, ein Ersatzmitglied bestellt werden, das Mitglied des Aufsichtsrats wird, wenn das Aufsichtsratsmitglied vor Ablauf seiner Amtszeit wegfällt. 3Das Ersatzmitglied kann nur gleichzeitig mit dem Aufsichtsratsmitglied bestellt werden. 4Auf seine Bestellung sowie die Nichtigkeit und Anfechtung seiner Bestellung sind die für das Aufsichtsratsmitglied geltenden Vorschriften anzuwenden. Literatur: Arnold/Gayk, Auswirkungen der fehlerhaften Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern – Handlungsempfehlungen für die Unternehmenspraxis, DB 2013, 1830; Austmann/Rühle, Wahlverfahren bei mehreren für einen Aufsichtsratsvorsitz vorgeschlagenen Kandidaten, AG 2011, 805; Bürk/Wentz, Das aktienrechtliche Entsendungsrecht im Lichte der neuen Rechtsprechung, ZIP 2020, 2219; Buckel/Vogel, Die angegriffene Wahl des Aufsichtsrats – Gutglaubensschutz statt Rechtsfigur des fehlerhaften Organs, ZIP 2014, 58; Dietz, Zulässigkeit einer Blockabstimmung der Hauptversammlung der AG, BB 2004, 452; Fuhrmann, Die Blockabstimmung in der Hauptversammlung, ZIP 2004, 2081; Lieder, Die Rechtsstellung von Aufsichtsratsmitgliedern bei fehlerhafter Wahl, ZHR 178 (2014) 282; v. d. Linden, Die Qual der Wahl – Neues vom BGH zur Wahlanfechtung, Entsprechenserklärung und DCGK, DStR 2019, 802; Linnerz, Unzulässige Blockwahl des Aufsichtsrats bei Antrag auf Einzelwahl eines in der Hauptversammlung anwesenden Aktionärs, BB 2004, 963; Mutter, Plädoyer für die Listenwahl von Aufsichtsräten, AG 2004, 305; Ramm, Gegenantrag und Vorschlagsliste – Zur Gestaltung des aktienrechtlichen Verfahrens für die Wahlen zum Aufsichtsrat, NJW 1991, 2753; Reger/Jud, Verletzung des Gleichbehandlungsverbots durch nachträgliche Zulassung zur Hauptversammlung und Anfechtbarkeit von Wahlbeschlüssen bei Abweichung vom DCGK, AG 2019, 173; Scholz, Keine Anfechtungsrelevanz der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG?, ZIP 2019, 407; Segna, Blockabstimmung und Bestellungshindernisse bei der Aufsichtsratswahl, DB 2004, 1135; Seulen/Janning, Wahl des Aufsichtsrats: Keine Beschlussanfechtung wegen Abweichung von Empfehlungen des DCGK, DB 2019, 775; Verse, Aktienrechtliche Entsendungsrechte am Maßstab des Gleichbehandlungsgrundsatzes und der Kapitalverkehrsfreiheit, ZIP 2008, 1754.

Übersicht I. Grundlagen ........................................ 1 II. Wahl durch die Hauptversammlung (§ 101 Abs. 1) .................. 3 1. Tagesordnung der Hauptversammlung ....................................... 4 2. Abstimmung in der Hauptversammlung ....................................... 5 I.

III. Entsendung (§ 101 Abs. 2) ............... 8 IV. Ersatzmitglieder (§ 101 Abs. 3) ................................... 10 V. Fehlerhafte Bestellung ................... 11 VI. Deutscher Corporate Governance Kodex (DCGK) .................... 12

Grundlagen

Die Norm regelt die Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern, und bezweckt die Ver- 1 zahnung von Aktien- und Mitbestimmungsrecht.1) Die Bestellung erfolgt nach § 101 Abs. 1 Satz 1 grundsätzlich durch die Hauptversammlung, sofern keine Entsendungsrechte nach § 101 Abs. 2 eingreifen oder die Arbeitnehmervertreter nach den mitbestimmungsrechtlichen Vorschriften gewählt werden.2) § 101 Abs. 2 enthält die Regularien für die Entsendung von Aufsichtsratsmitgliedern. Ausgehend vom Verbot der Bestellung von Stellvertretern in § 101 Abs. 3 Satz 1 erlaubt § 101 Abs. 3 Satz 2 die Bestellung von Ersatzmitgliedern, die nachrücken, wenn ein Aufsichtsratsmitglied vorzeitig ausscheidet.3) _____________ 1) 2) 3)

Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 101 Rz. 7; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 101 Rz. 1. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 101 Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 101 Rz. 3. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 101 Rz. 9; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 101 Rz. 1.

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Bestellung der Aufsichtsratsmitglieder

Der Begriff der Bestellung wird als Oberbegriff sowohl für die Wahl, sei es durch die Hauptversammlung oder nach dem Mitbestimmungsrecht (siehe etwa § 9 MitbestG – Wahl durch Delegierte oder unmittelbar durch die Arbeitnehmer, § 5 Abs. 1 DrittelbG), als auch für die Entsendung von Aufsichtsratsmitgliedern verwendet.4) Die Wahl der Arbeitnehmervertreter wird außerhalb des AktG in den in § 101 Abs. 1 Satz 1 genannten Gesetzen geregelt,5) was zugleich aktienrechtlich anerkannt wird.6) 2 Zwischen dem einzelnen Aufsichtsratsmitglied und der Gesellschaft besteht ein Verhältnis korporationsrechtlicher Art, dessen Inhalt sich aus dem Gesetz, der Satzung und den ausfüllenden Hauptversammlungsbeschlüssen ergibt.7) Daneben besteht kein Anstellungsverhältnis (ein Aushandeln der Vertragsbedingungen kommt insbesondere nicht in Betracht); auch die persönlichen Rechte und Pflichten (wie etwa der Vergütungsanspruch) sind dem korporationsrechtlichen Verhältnis zuzuordnen.8) II.

Wahl durch die Hauptversammlung (§ 101 Abs. 1)

3 Das AktG geht – vorbehaltlich der in § 101 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 genannten Ausnahmen – vom Grundsatz der Bestellung der Aufsichtsratsmitglieder durch die Hauptversammlung aus.9) Die Aufsichtsratsmitglieder der Aktionäre werden von der Hauptversammlung mit einfacher Mehrheit gewählt (§ 101 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 133), sofern die Satzung nicht eine qualifizierte Mehrheit vorsieht oder Erleichterungen nach § 133 Abs. 2 enthält.10) Die Aktionäre sind hierbei nicht an Wahlvorschläge gebunden; Ausnahmen bestehen nur nach den in § 101 Abs. 1 Satz 2 genannten Vorschriften.11) 1.

Tagesordnung der Hauptversammlung

4 Die Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern ist als Gegenstand der Tagesordnung bekannt zu machen. Hierbei ist nach § 124 Abs. 2 Satz 1 in der Bekanntmachung anzugeben, nach welchen gesetzlichen Vorschriften sich der Aufsichtsrat zusammensetzt; eine Bindung der Hauptversammlung an Wahlvorschläge ist nur anzugeben, sofern sie besteht (siehe hierzu § 124 Rz. 8). Gelten für die Wahl die Voraussetzungen des § 96 Abs. 2 zur Geschlechterquote muss die Bekanntmachung auch Angaben zu einem etwaigen Widerspruch gegen die Gesamterfüllung (§ 96 Abs. 2 Satz 3) und zum Mindestanteilsgebot (§ 96 Abs. 2 Satz 1) enthalten (§ 124 Abs. 2 Satz 2) (siehe hierzu § 124 Rz. 9 f.). Der Aufsichtsrat hat der Hauptversammlung einen – nicht bindenden – Wahlvorschlag zu unterbreiten (§ 124 Abs. 3 Satz 1) (siehe hierzu § 124 Rz. 22). Sofern der Aufsichtsrat auch aus Arbeitnehmervertretern _____________ 4) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 46; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 101 Rz. 3. 5) S. dazu etwa Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, Teil I MitbestG, Vorbem. § 9 MitbestG und Teil II DrittelbG, und die dort enthaltenen Kommentierungen der Arbeitnehmervertreter-Wahlen; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 11 ff., 25, 33 ff.; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 101 AktG Rz. 48; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 39 ff. 6) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 101 Rz. 2; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 46. 7) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 101 Rz. 67; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 101 AktG Rz. 8 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 101 Rz. 2 (ein Doppelnatur-Verhältnis korporations- und schuldrechtlicher Art). 8) LG München I, Urt. v. 27.12.2012 – 5 HK O 9109/12, ZIP 2013, 217, dazu EWiR 2013, 567 (Jänig/ Schiemzik); Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 101 Rz. 111; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 842; offengelassen in: BGH, Hinw.-Beschl. v. 7.7.2008 – II ZR 71/07, Rz. 3, ZIP 2008, 1821, dazu EWiR 2008, 737 (Paul). 9) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 101 Rz. 17; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 101 Rz. 7. 10) BGH, Urt. v. 13.3.1980 – II ZR 54/78, BGHZ 76, 191, 193. 11) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 101 Rz. 25; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 28 Rz. 35 und § 30 Rz. 34.

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zu bestehen hat, sind diese bei der Abstimmung über den Wahlvorschlag nicht stimmberechtigt (§ 124 Abs. 3 Satz 5). Bei börsennotierten Gesellschaften ist die nach § 125 Abs. 1 Satz 5 geltende Pflicht zu Informationen über andere Mandate der Kandidaten zu beachten. 2.

Abstimmung in der Hauptversammlung

Der Leiter der Hauptversammlung bestimmt – sofern die Satzung hierzu keine Vorgaben 5 enthält – die Wahlmodalitäten, insbesondere die Abstimmungsreihenfolge. Ein Beschluss der Hauptversammlung, der eine bestimmte Abstimmungsreihenfolge festlegt, bindet den Leiter der Hauptversammlung.12) Wenn mehrere Aufsichtsratsmitglieder zu wählen sind, kann dies im Wege der Einzel- 6 wahl, aber auch als Block- oder Listenwahl erfolgen. In C. 15 Satz 1 des Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) wird Einzelwahl empfohlen. Durch die Satzung kann der Leiter der Hauptversammlung zur Anordnung der Listenwahl ermächtigt werden; diese Satzungsregelung kann nicht durch einen Geschäftsordnungsantrag einzelner Aktionäre außer Kraft gesetzt werden.13) Den gegen die Zulässigkeit der Listenwahl bei Fehlen einer Satzungsregelung grundsätzlich erhobenen Bedenken14) kann nicht gefolgt werden.15) Nach der Rechtsprechung des BGH ist die Listenwahl zulässig, wenn der Versammlungsleiter zuvor darauf hinweist, dass durch (mehrheitliche) Ablehnung der Beschlussvorlage eine Einzelabstimmung herbeigeführt werden kann und kein anwesender Aktionär Einwände gegen diese Verfahrensweise erhebt.16) Sofern ein anwesender Aktionär Einwände erhebt, ist streitig, ob der Versammlungsleiter dann sofort zur Einzelabstimmung übergehen muss17) oder ob dies als Verfahrensantrag über die Durchführung der Einzelabstimmung zu werten ist, der zunächst – vor dem Sachantrag – zur Abstimmung zu stellen ist.18) Der zweiten Auffassung ist zu folgen, was schon daraus folgt, dass selbst im ausdrücklich geregelten Fall des § 120 Abs. 1 Satz 2 der bloße Widerspruch eines Aktionärs nicht genügt, um die Einzelentlastung zu erzwingen.19) Noch weitergehend wird es teilweise als zulässig angesehen, dass der Versammlungsleiter unmittelbar über die Liste abstimmen lässt und dabei darauf hinweist, dass der Verfahrensantrag auf Einzelabstimmung bei Annahme des Listenvorschlags inzident abgelehnt ist.20) Dies erscheint in Anbetracht des verbreiteten Verständnisses21) der vorstehend erwähnten Rechtsprechung des BGH unter Aspekten der Risikoabwägung als nicht ratsam. Die Wahl eines Aufsichtsratsmitglieds wird erst dann wirksam, wenn der Gewählte die 7 Wahl annimmt.22) Die Annahme kann konkludent durch Aufnahme der Amtstätigkeit, _____________ 12) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 101 Rz. 5; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 101 Rz. 5. 13) BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 185/07, ZIP 2009, 460, 465; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 17.7.2007 – 5 U 229/05, ZIP 2007, 1463, 1464; s. a. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 101 Rz. 6; zum Wahlverfahren bei mehreren für einen Aufsichtsratsvorsitz vorgeschlagenen Kandidaten: Austmann/Rühle, AG 2011, 805 ff. 14) Ramm, NJW 1991, 2753, 2754; s. dazu LG München I, Urt. v. 15.4.2004 – 5 HK O 10813/03, ZIP 2004, 853, 854; Fuhrmann, ZIP 2004, 2081, 2082 ff.; Mutter, AG 2004, 305. 15) S. Mutter, AG 2004, 305 f. 16) BGH, Urt. v. 21.7.2003 – II ZR 109/02, ZIP 2003, 1788, 1789; LG München I, Urt. v. 15.4.2004 – 5 HKO 10813/03, ZIP 2004, 853, 854; ausführlich dazu: Fuhrmann, ZIP 2004, 2081 ff. 17) So das Verständnis von Segna, DB 2004, 1135, 1137; Linnerz, BB 2004, 963, 964. 18) S. Dietz, BB 2004, 452, 455 (li. Sp.) und 457; Fuhrmann, ZIP 2004, 2081, 2085. 19) S. Mutter, AG 2004, 305; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 55. 20) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 101 Rz. 7; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 55, sieht dies als „im Regelfall“ als zulässig an. 21) So das Verständnis von Segna, DB 2004, 1135, 1137; Linnerz, BB 2004, 963, 964. 22) BGH, Urt. v. 17.4.1967 – II ZR 157/64, AG 1967, 233, 235; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 58; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 101 Rz. 98.

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Bestellung der Aufsichtsratsmitglieder

aber auch schon vorab oder in der Hauptversammlung gegenüber dem Versammlungsleiter erklärt werden.23) Nach der Hauptversammlung kann die Annahme auch gegenüber dem Vorstand erklärt werden.24) Bis zur Annahme ist die Wahl schwebend unwirksam.25) Die Wahl kann auch aufschiebend befristet (zu einem späteren Termin) erfolgen.26) Eine aufschiebend bedingte Wahl ist ebenfalls zulässig, wenn der Eintritt der aufschiebenden Bedingung aus Sicht der Gesellschaft eindeutig feststellbar ist.27) III.

Entsendung (§ 101 Abs. 2)

8 Das Entsendungsrecht eröffnet bestimmten (auch juristischen) Personen mit großem Interesse an der Gesellschaft eine besondere Einflussmöglichkeit, indem sie Personen ihres Vertrauens in den Aufsichtsrat entsenden können.28) Es bedarf einer satzungsmäßigen Grundlage (in der ursprünglichen Satzung oder durch spätere Satzungsänderung).29) Bei den in § 101 Abs. 2 Satz 1 vorgesehenen beiden Möglichkeiten für die Einräumung eines Entsendungsrechts durch die Satzung handelt es sich in der ersten Alternative um ein höchstpersönliches, nicht übertragbares Recht des namentlich benannten Aktionärs und in der zweiten Alternative um ein übertragbares Inhaberentsendungsrecht.30) Ohne die Zustimmung des Berechtigten kann das Sonderrecht in beiden Alternativen nicht entzogen werden (§ 35 BGB). Ein Entsendungsrecht kann auch in einer mitbestimmten Gesellschaft durch satzungsändernden Hauptversammlungsbeschluss eingeführt werden.31) Der entsprechende Beschluss unterliegt keiner Inhaltskontrolle;32) da § 101 Abs. 2 die Ungleichbehandlung ausdrücklich zulässt, liegt auch kein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot des § 53a vor.33) Teilweise wird jedoch angenommen, dass ein Verstoß gegen § 53a vorliegt, wenn das Entsenderecht nicht an einen bestimmten Anteil des Grundkapitals gebunden ist und daher auch bei einem verschwindend kleinen Anteil ausgeübt werden kann.34) 9 Das Entsendungsrecht wird durch Erklärung des Entsendungsberechtigten gegenüber dem Vorstand ausgeübt, eine besondere Form ist hierfür nicht vorgeschrieben.35) Entsandte Auf_____________ 23) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 58; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 101 Rz. 8. 24) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 58; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 101 Rz. 8. 25) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 58; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 101 Rz. 61. 26) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 79; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 101 Rz. 107. 27) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 79; Hölters-Simons, AktG, § 102 Rz. 6 (unzulässig ist wegen § 101 Abs. 3 Satz 3 eine auf das vorzeitige Ausscheiden eines bereits bestellten Aufsichtsratsmitglieds bedingte Wahl). 28) BGH, Urt. v. 29.1.1962 – II ZR 1/61, BGHZ 36, 296, 307; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 101 AktG Rz. 49; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 42. 29) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 61; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 101 AktG Rz. 50. 30) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 101 Rz. 130; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 101 Rz. 93. 31) OLG Hamm, Urt. v. 31.3.2008 – 8 U 222/07 (ThyssenKrupp), ZIP 2008, 1530, 1532 f., dazu EWiR 2008, 449 (Ogorek) und Verse, ZIP 2008, 1754, 1755 ff. (auch zur Vereinbarkeit des Entsendungsrecht mit Europarecht und Grundgesetz); bestätigt durch BGH, Beschl. v. 8.6.2009 – II ZR 111/08, ZIP 2009, 1566, dazu EWiR 2010, 103 (Nikoleyczik); ausführlich zur Europarechtskonformität: Bürk/Wentz, ZIP 2020, 2219, 2220 f. 32) LG Essen Urt. v. 29.6.2007 – 45 O 15/07, AG 2007, 797, 798; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 101 Rz. 31. 33) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 101 Rz. 31; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 101 Rz. 14. 34) LG München I, Urt. v. 19.12.2019 – 5 HK O 12082/18, ZIP 2020, 915, 918; ablehnend Bürk/Wentz, ZIP 2020, 2219, 2221 f. und 2225 ff., aber Einschränkung der Ausübung des Entsenderechts qua Treuepflicht annehmend. 35) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 63; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 101 AktG Rz. 69.

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Bestellung der Aufsichtsratsmitglieder

§ 101

sichtsratsmitglieder haben die gleichen Rechte und Pflichten wie gewählte Aufsichtsratsmitglieder, sie unterliegen insbesondere nicht den Weisungen des Entsendungsberechtigten.36) IV.

Ersatzmitglieder (§ 101 Abs. 3)

Zwar können gemäß § 101 Abs. 3 Satz 1 keine Stellvertreter von Aufsichtsratsmitgliedern 10 bestellt werden, es kann jedoch nach § 101 Abs. 3 Satz 2 für ein Aufsichtsratsmitglied gleichzeitig ein Ersatzmitglied bestellt werden, und zwar sowohl für Aktionärsvertreter als auch für Arbeitnehmervertreter.37) Hierbei ist anerkannt, dass ein Ersatzmitglied auch für mehrere bestimmte Aufsichtsratsmitglieder bestellt werden kann, so dass es dann in den Aufsichtsrat nachrückt, wenn eines der bestimmten Aufsichtsratsmitglieder ausscheidet.38) Die bestimmten Aufsichtsratsmitglieder müssen derselben Gruppe (etwa gewählte oder entsandte Anteilseignervertreter oder jeweilige Arbeitnehmervertreter) angehören, d. h. nach denselben Vorschriften gewählt werden.39) Das Ersatzmitglied wird nur dann Aufsichtsratsmitglied, wenn das Aufsichtsratsmitglied, für das er bestellt wurde, vor Ablauf der Amtszeit ausscheidet.40) Eine Annahme ist hierfür nicht erforderlich, da das Ersatzmitglied schon durch die Annahme der Wahl antizipiert die Annahme des Amtes erklärt hat.41) Während seiner Amtszeit hat das Ersatzmitglied dieselbe Rechtsstellung wie die anderen Aufsichtsratsmitglieder.42) Bestimmt die Satzung nichts anderes, so richtet sich die Amtszeit des nachgerückten Ersatzmitglieds nach der des zu ersetzenden Aufsichtsratsmitglieds; die Höchstdauer ergibt sich aus § 102 Abs. 2.43) V.

Fehlerhafte Bestellung

Die Wahl eines Aufsichtsratsmitglieds durch die Hauptversammlung kann gemäß §§ 241 11 Nr. 1, 2 und 5, 250 nichtig und nach § 251 anfechtbar sein; für die Arbeitnehmervertreter gelten die Sonderregeln des Mitbestimmungsrechts.44) Ist die Wahl eines Aufsichtsratsmitglieds nichtig oder wird sie für nichtig erklärt, finden für die Pflichten, die Haftung und die Vergütung die Grundsätze der fehlerhaften Bestellung Anwendung.45) Dies gilt jedoch nach Auffassung des BGH nicht für die Stimmabgabe und Beschlussfassung im Aufsichtsrat; das Aufsichtsratsmitglied, dessen Wahl nichtig ist oder für nichtig erklärt wird, wird insoweit wie ein Nichtmitglied behandelt (siehe dazu auch § 108 Rz. 25).46) Zwar wird diese Auffassung des BGH (teilweise sehr) kritisch gesehen, sie ist aber für die Praxis _____________ 36) BGH, Urt. v. 29.1.1962 – II ZR 1/61, BGHZ 36, 296, 306. 37) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 53; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 101 Rz. 13. 38) BGH, Urt. v. 15.2.1986 – II ZR 18/86 (Heidelberger Zement), BGHZ 99, 211, 214 = ZIP 1987, 366, 367; näher dazu: Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 14 Rz. 1053; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 101 Rz. 209. 39) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 101 Rz. 210; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 66; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 14 Rz. 1052. 40) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 101 Rz. 202 und 218; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 68. 41) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 68; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 101 Rz. 15. 42) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 101 Rz. 223; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 14 Rz. 1059. 43) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 101 Rz. 225 f.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 68. 44) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 101 Rz. 68; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 101 Rz. 20; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 101 AktG Rz. 110. 45) BGH, Urt. v. 3.7.2006 – II ZR 151/04, Rz. 14, BGHZ 168, 188 = ZIP 2006, 1529; s. dazu Spindler in: BeckOGK-AktR, § 101 AktG Rz. 111. 46) BGH, Urt. v. 19.2.2013 – II ZR 56/12, Rz. 20 f., BGHZ 196, 195 = ZIP 2013, 720, 722, dazu EWiR 2013, 333 (Schatz); ausführlich zum Ganzen: Lieder, ZHR 178 (2014) 282, 285 ff.

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§ 102

Amtszeit der Aufsichtsratsmitglieder

maßgeblich.47) Danach begründet allein die Mitwirkung des nichtig bestellten Aufsichtsratsmitglieds noch nicht die Nichtigkeit eines Beschlusses. Wenn die Stimme nicht ursächlich für die Beschlussfassung geworden ist (die erforderliche Mehrheit auch so erreicht wurde), bleibt der Beschluss wirksam. Wäre der Beschluss jedoch nicht ohne dessen Stimme zustande gekommen, ist der Beschluss nichtig.48) Soweit Aufsichtsratsbeschlüsse gegenüber außenstehenden Dritten vollzogen wurden, sind Dritte, die die Nichtigkeit nicht kennen oder kennen müssen, dadurch geschützt, dass sie auf die Handlungsbefugnis desjenigen vertrauen dürfen, der die Aufsichtsratsbeschlüsse vollzieht.49) VI.

Deutscher Corporate Governance Kodex (DCGK)

12 Der DCGK empfiehlt nicht nur die Wahl der Anteilseignervertreter als Einzelwahl durchzuführen (C. 15 Satz 1), sondern enthält auch Empfehlungen zur Zusammensetzung des Aufsichtsrats (etwa Höchstgrenzen für die Zahl der Aufsichtsratsmandate, C. 4 und C. 5 DCGK). Ein Beschluss der Hauptversammlung über die Wahl eines Aufsichtsratsmitglieds ist aber nicht anfechtbar, weil der Wahlvorschlag des Aufsichtsrats gegen den DCGK verstößt (siehe hierzu § 124 Rz. 44).50) Insoweit geht der BGH davon aus, dass ein etwaiger Verstoß gegen § 161 AktG den Wahlvorschlag des Aufsichtsrats unberührt lasse;51) zudem sei eine Pflicht zur Aktualisierung der Entsprechenserklärung erst dann geboten, wenn die Hauptversammlung dem Wahlvorschlag des Aufsichtsrats zugestimmt und der Kandidat die Wahl angenommen habe.52) Erst dann werde die Entsprechenserklärung unrichtig, weshalb der Wahlvorschlag nicht zu beanstanden sei.53) _____________ 47) S. dazu Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 101 Rz. 22 (mit ausführlicher Darstellung des Streitstands in Rz. 20 f.); Spindler in: BeckOGK-AktR, § 101 AktG Rz. 114 ff.; Arnold/Gayk, DB 2013, 1830, 1831 ff.; Buckel/Vogel, ZIP 2014, 58, 59 ff. 48) BGH, Urt. v. 19.2.2013 – II ZR 56/12, Rz. 21, BGHZ 196, 195 = ZIP 2013, 720, 722. 49) BGH, Urt. v. 19.2.2013 – II ZR 56/12, Rz. 22, BGHZ 196, 195 = ZIP 2013, 720, 722. 50) BGH, Urt. v. 9.10.2018 – II ZR 78/17, LS 2 und Rz. 22 ff., ZIP 2019, 322, 324 f.; OLG Stuttgart, Hinweisbeschl. v. 7.8.2020 – 20 U 6/17, AG 2021, 522, 528; ausführlich dazu: v. d. Linden, DStR 2019, 802 ff.; Reger/Jud, AG 2019, 173, 174 f.; Scholz, ZIP 2019, 407 ff.; ablehnend: K. Schmidt/LutterZiemons, AktG, § 124 Rz. 31. 51) BGH, Urt. v. 9.10.2018 – II ZR 78/17, Rz. 29, ZIP 2019, 322, 325. 52) BGH, Urt. v. 9.10.2018 – II ZR 78/17, Rz. 30, ZIP 2019, 322, 325. 53) BGH, Urt. v. 9.10.2018 – II ZR 78/17, Rz. 30, ZIP 2019, 322, 325; kritisch dazu: Scholz, ZIP 2019, 407, 409 ff.; v. d. Linden, DStR 2019, 802, 805; zustimmend: Reger/Jud, AG 2019, 173; Seulen/Janning, DB 2019, 775.

§ 102 Amtszeit der Aufsichtsratsmitglieder Werner Paul Schick

(1) 1Aufsichtsratsmitglieder können nicht für längere Zeit als bis zur Beendigung der Hauptversammlung bestellt werden, die über die Entlastung für das vierte Geschäftsjahr nach dem Beginn der Amtszeit beschließt. 2Das Geschäftsjahr, in dem die Amtszeit beginnt, wird nicht mitgerechnet. (2) Das Amt des Ersatzmitglieds erlischt spätestens mit Ablauf der Amtszeit des weggefallenen Aufsichtsratsmitglieds. Literatur: Blasche, Satzungsregelungen zur Amtszeit der Aufsichtsratsmitglieder, AG 2017, 112; Gärtner, Endet das Aufsichtsratsmandat bei Erreichen der gesetzlichen Höchstdauer auch vor Abschluss der Rechnungslegung automatisch?, NZG 2013, 652.

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Werner Paul Schick

§ 102

Amtszeit der Aufsichtsratsmitglieder Übersicht I. Gegenstand und Zweck der Norm ............................................ 1 II. Höchstdauer der Amtszeit (§ 102 Abs. 1) ..................................... 2 I.

III. Amtszeit der Ersatzmitglieder (§ 102 Abs. 2) ..................................... 8

Gegenstand und Zweck der Norm

§ 102 Abs. 1 legt die Höchstdauer der Amtszeit der Aufsichtsratsmitglieder fest. Hierdurch 1 soll eine zu lange Bindung an ein Aufsichtsratsmitglied verhindert werden, ohne die Wiederwahl gesetzlich auszuschließen.1) Nach § 102 Abs. 2 hängt die Amtszeit eines Ersatzmitglieds von der des weggefallenen Aufsichtsratsmitglieds ab. § 102 Abs. 1 gilt für den ersten Aufsichtsrat (§ 30) nicht. Dessen Mitglieder können nicht länger als bis zur Beendigung der Hauptversammlung bestellt werden, die über die Entlastung für das erste Voll- oder Rumpfgeschäftsjahr beschließt (§ 30 Abs. 3 Satz 1).2) Bei § 102 handelt es sich insofern um zwingendes Recht (§ 23 Abs. 5), als von der Höchstdauer nicht abgewichen werden kann.3) Für Arbeitnehmervertreter, die bei einer Sachgründung gemäß § 30 Abs. 3 bestellt werden, gilt § 30 Abs. 3 Satz 1 nicht (§ 31 Abs. 5).4) II.

Höchstdauer der Amtszeit (§ 102 Abs. 1)

Durch § 102 Abs. 1 wird die Höchstdauer für die Bestellung zum Aufsichtsratsmitglied für 2 die einzelnen Aufsichtsratsmitglieder festgelegt, nicht für das Organ.5) Geht man bei der Berechnung der Höchstdauer davon aus, dass das Geschäftsjahr, in dem die Amtszeit beginnt, nicht mitgerechnet wird, zählen die folgenden vier Geschäftsjahre und die Zeit bis zur Hauptversammlung, die über die Entlastung für das vierte Geschäftsjahr beschließt, hinzu; damit beträgt die Höchstdauer in der Regel etwa fünf Jahre.6) Maßgeblich für die Berechnung des Beginns der Höchstdauer ist der Zeitpunkt des Be- 3 ginns der Amtszeit, nicht der Bestellung7) (siehe dazu § 101 Rz. 7). Im gesetzlichen Regelfall erlischt das Amt eines Aufsichtsratsmitglieds mit dem Ende der 4 Hauptversammlung, die über die Entlastung für das vierte Geschäftsjahr nach dem Beginn der Amtszeit beschließt (§ 102 Abs. 1 Satz 1). Streitig ist, wann die Amtszeit endet, wenn nicht rechtzeitig über die Entlastung der Aufsichtsratsmitglieder beschlossen wird.8) Von der Mindermeinung wird angenommen, dass dann trotz des zwingenden Charakters des § 102 Abs. 1 die Stellung als Aufsichtsratsmitglied so lange bestehe, bis ein Beschluss über die Entlastung gefasst worden sei.9) Nach der Rechtsprechung des BGH und der überwiegenden Ansicht endet die Amtszeit des betroffenen Aufsichtsratsmitglieds spätestens in dem Zeitpunkt, in dem die Hauptversammlung über die Entlastung für das vierte Geschäftsjahr seit Amtsbeginn hätte beschließen müssen,10) mithin nach Ablauf von acht Monaten _____________ Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 102 Rz. 3; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 102 Rz. 2. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 102 Rz. 6; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 102 Rz. 1. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 102 Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 102 Rz. 1. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 102 Rz. 6; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 102 Rz. 1. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 102 Rz. 10; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 102 Rz. 2. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 102 Rz. 11; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 80. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 102 Rz. 12; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 79. Ausführlich dazu: Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 102 Rz. 14 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 102 Rz. 3; Gärtner, NZG 2013, 652, 653 ff. 9) AG Essen, Urt. v. 4.6.1969 – HRB 400, MDR 1970, 336; Frodermann/Jannott-Henning, Hdb. Aktienrecht, Kap. 8 Rz. 52; Hölters-Simons, AktG, § 102 Rz. 8. 10) BGH, Urt. v. 24.6.2002 – II ZR 296/01, ZIP 2002, 1619, 1620, dazu EWiR 2003, 45 (Pötter); so auch OLG München, Beschl. v. 9.11.2009 – 31 Wx 136/09, NZG 2009, 1430, 1431. 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8)

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§ 102

Amtszeit der Aufsichtsratsmitglieder

seit Ende des vierten Geschäftsjahres (§ 120 Abs. 1 Satz 1) nach Amtsbeginn.11) Auch wenn der Wortlaut des § 102 Abs. 1 Satz 1 („beschließt“) für die Mindermeinung spricht, überzeugt die Begründung des Bundesgerichtshofs,12) dass der Entlastungsbeschluss nicht mehr einen Verzicht auf Ersatzansprüche beinhaltet und deshalb eine Verknüpfung zwischen dieser (früheren) Entlastungswirkung und dem Amtszeitende ihren Sinn verloren hat.13) 5 Die Höchstdauer der Amtszeit der Aufsichtsratsmitglieder kann durch die Satzung14) oder bei der Bestellung kürzer festgesetzt werden.15) Die einzelnen Aufsichtsratsmitglieder können hierbei unterschiedlich behandelt werden.16) 6 Die Wiederbestellung von ausscheidenden Aufsichtsratsmitgliedern ist zulässig, und zwar auch eine wiederholte Wiederbestellung.17) Während das AktG insoweit keine Grenze (auch keine Altersgrenze) enthält, empfiehlt der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) eine Altersgrenze (C. 2)18) und eine Offenlegung der Dauer der Zugehörigkeit zum Aufsichtsrat (C. 3).19) Zudem enthält der DCGK die Empfehlung zur Unabhängigkeit, wonach eine Zugehörigkeit zum Aufsichtsrat von mehr als zwölf Jahren ein Indikator für fehlende Unabhängigkeit des Aufsichtsratsmitglied ist (C. 7 Abs. 2 letzter Aufzählungspunkt).20) Die vorzeitige Wiederbestellung von Aufsichtsratsmitgliedern ist grundsätzlich nur möglich, wenn die neue Amtsdauer einschließlich der Restlaufzeit der laufenden Amtsperiode die gesetzliche Höchstfrist nicht übersteigt.21) 7 Für die Arbeitnehmervertreter gelten nach den mitbestimmungsrechtlichen Vorschriften die Regelungen des § 102 und der Satzung.22) Enthält die Satzung keine Regelung, gilt die in § 102 Abs. 1 als Höchstdauer bestimmte Amtszeit auch für die Arbeitnehmervertreter.23) Die Hauptversammlung kann nicht eine Verkürzung ihrer Amtszeit beschließen.24) Bei unterschiedlichen Amtszeiten für die Anteilseignervertreter werden die Arbeitnehmervertreter für die Dauer der längsten in der Satzung vorgesehenen Amtszeit gewählt.25) _____________ 11) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 102 Rz. 18; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 102 Rz. 14 f.; HoffmannBecking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 80; Semler/v. Schenck-Gasteyer, Der Aufsichtsrat, § 102 Rz. 31; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 102 Rz. 6; OLG München, Beschl. v. 9.11.2009 – 31 Wx 136/09, NZG 2009, 1430, 1431. 12) BGH, Urt. v. 24.6.2002 – II ZR 296/01, ZIP 2002, 1619, 1620, dazu EWiR 2003, 45 (Pötter). 13) Ausführlich dazu Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 102 Rz. 14; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 102 Rz. 6. 14) Ausführlich dazu: Blasche, AG 2017, 112, 113 ff. 15) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 102 Rz. 4; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 81. 16) BGH, Urt. v. 15.12.1986 – II ZR 18/86 (Heidelberger Zement), BGHZ 99, 211, 215 = ZIP 1987, 367, 368. 17) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 102 Rz. 20; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 102 Rz. 21. 18) S. dazu Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 102 Rz. 35; Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, C. 2 Rz. 2 f. 19) Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, C. 3 Rz. 1 f. (die in Ziff. 5.4.1 Abs. 2 Satz 1 DCGK 2017 enthaltene Regelgrenze für die Zugehörigkeitsdauer zum Aufsichtsrat ist im DCGK i. d. F. v. 16.12.2019 nicht mehr enthalten). 20) Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, C. 3 Rz. 3 und C. 7 Rz. 20. 21) Näher dazu: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 102 Rz. 20; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 102 Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 102 Rz. 12; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 83. 22) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 102 Rz. 11; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 85. 23) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 102 Rz. 11; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 85. 24) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 102 Rz. 11; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 85. 25) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 102 Rz. 69; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 102 Rz. 8.

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Werner Paul Schick

Abberufung der Aufsichtsratsmitglieder III.

§ 103

Amtszeit der Ersatzmitglieder (§ 102 Abs. 2)

Nach § 102 Abs. 2 ist die Amtszeit des nachrückenden Ersatzmitglieds auf die Rest- 8 amtszeit des weggefallenen Aufsichtsratsmitglieds begrenzt. Von der Regelung des § 102 Abs. 2 kann hinsichtlich der Höchstdauer nicht abgewichen werden.26) Allerdings kann innerhalb der Höchstdauer die Amtszeit abweichend geregelt werden (kürzere Amtszeit). Insbesondere kann festgelegt werden, dass die Amtszeit eines Ersatzmitglieds mit dem Ende der nächsten Hauptversammlung, in der eine Nachwahl stattfinden soll, endet.27) _____________ 26) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 102 Rz. 61; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 102 Rz. 15. 27) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 102 Rz. 62; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 14 Rz. 1056.

§ 103 Abberufung der Aufsichtsratsmitglieder Werner Paul Schick

(1) 1Aufsichtsratsmitglieder, die von der Hauptversammlung ohne Bindung an einen Wahlvorschlag gewählt worden sind, können von ihr vor Ablauf der Amtszeit abberufen werden. 2Der Beschluß bedarf einer Mehrheit, die mindestens drei Viertel der abgegebenen Stimmen umfaßt. 3Die Satzung kann eine andere Mehrheit und weitere Erfordernisse bestimmen. (2) 1Ein Aufsichtsratsmitglied, das auf Grund der Satzung in den Aufsichtsrat entsandt ist, kann von dem Entsendungsberechtigten jederzeit abberufen und durch ein anderes ersetzt werden. 2Sind die in der Satzung bestimmten Voraussetzungen des Entsendungsrechts weggefallen, so kann die Hauptversammlung das entsandte Mitglied mit einfacher Stimmenmehrheit abberufen. (3) 1Das Gericht hat auf Antrag des Aufsichtsrats ein Aufsichtsratsmitglied abzuberufen, wenn in dessen Person ein wichtiger Grund vorliegt. 2Der Aufsichtsrat beschließt über die Antragstellung mit einfacher Mehrheit. 3Ist das Aufsichtsratsmitglied auf Grund der Satzung in den Aufsichtsrat entsandt worden, so können auch Aktionäre, deren Anteile zusammen den zehnten Teil des Grundkapitals oder den anteiligen Betrag von einer Million Euro erreichen, den Antrag stellen. 4Gegen die Entscheidung ist die Beschwerde zulässig. (4) Für die Abberufung der Aufsichtsratsmitglieder, die weder von der Hauptversammlung ohne Bindung an einen Wahlvorschlag gewählt worden sind noch auf Grund der Satzung in den Aufsichtsrat entsandt sind, gelten außer Absatz 3 das Mitbestimmungsgesetz, das Montan-Mitbestimmungsgesetz, das Mitbestimmungsergänzungsgesetz, das Drittelbeteiligungsgesetz, das SE-Beteiligungsgesetz und das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung. (5) Für die Abberufung eines Ersatzmitglieds gelten die Vorschriften über die Abberufung des Aufsichtsratsmitglieds, für das es bestellt ist. Literatur: Bunting, Niederlegung des Aufsichtsratsmandats ohne Einhaltung der satzungsmäßigen Niederlegungsfrist?, ZIP 2020, 2169; Decher, Loyalitätskonflikte der Repräsentanten der öffentlichen Hand im Aufsichtsrat – Bemerkungen aus Anlaß des Falles HEW/Jansen, ZIP 1990, 277; Hoffmann/Kirchhoff, Zur Abberufung von Aufsichtsratsmitgliedern durch das Gericht nach § 103 Abs. 3 S. 1 AktG, in: Festschrift für Karl Beusch, 1993, S. 377; Hüffer, Zur Wahl von Beratern des Großaktionärs in den Aufsichtsrat der Gesellschaft, ZIP 2010, 1979; Lutter, Defizite für eine effiziente Aufsichtsratstätigkeit und gesetzliche Möglichkeiten der Verbesse-

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§ 103

Abberufung der Aufsichtsratsmitglieder

rung, ZHR 159 (1995) 287; Rieble, Altersgrenze und Arbeitnehmermandat, Der Aufsichtsrat 2013, 92; Singhof, Die Amtsniederlegung durch das Aufsichtsratsmitglied einer Aktiengesellschaft, AG 1998, 318; Wachter, Aufwertung der Liste der Aufsichtsratsmitglieder zu einem allgemeinen Rechtsscheinträger, BB 2020, 1474; Wardenbach, Niederlegung des Aufsichtsratsmandats bei Interessenkollision, AG 1999, 74; Wirth, Anforderungsprofil und Inkompatibilitäten für Aufsichtsratsmitglieder, ZGR 2005, 327.

Übersicht I. Gegenstand und Zweck der Norm .................................................. 1 II. Abberufung durch die Hauptversammlung (§ 103 Abs. 1) ................. 3 III. Rechtsfolgen der Abberufung ....... 10 IV. Abberufung entsandter Aufsichtsratsmitglieder (§ 103 Abs. 2) .............................................. 12 V. Gerichtliche Abberufung aus wichtigem Grund (§ 103 Abs. 3) ... 14 1. Grundlagen ...................................... 14 I.

2. Einzelfälle .......................................... 15 3. Verfahren .......................................... 16 VI. Abberufung nach mitbestimmungsrechtlichen Vorschriften (§ 103 Abs. 4) ................................... 18 VII. Ersatzmitglieder (§ 103 Abs. 5) .... 19 VIII. Sonstige Beendigung der Amtszeit ........................................... 20 IX. Deutscher Corporate Governance Kodex (DCGK) .................... 22

Gegenstand und Zweck der Norm

1 Die Norm enthält zusammenfassend die Regelungen über die vorzeitige Beendigung des Aufsichtsratsmandats gegen den Willen des betroffenen Aufsichtsratsmitglieds kraft Ausübung eines Gestaltungsrechts (Abberufung).1) Die Amtsbeendigung wird nicht abschließend geregelt. Das Amt des Aufsichtsratsmitglieds kann auch noch aus anderen Gründen enden.2) In § 103 Abs. 1 wird die Abberufung durch die Hauptversammlung, in § 103 Abs. 2 und Abs. 5 die Abberufung eines entsandten Mitglieds bzw. eines Ersatzmitglieds sowie in § 103 Abs. 3 die gerichtliche Abberufung geregelt. Für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat gelten nach § 103 Abs. 4 die mitbestimmungsrechtlichen Regelungen. Sie können aber auch aus wichtigem Grund nach § 103 Abs. 3 gerichtlich abberufen werden (siehe Rz. 14). 2 Durch die Norm soll dem jeweiligen Bestellungsberechtigten das Recht zur jederzeitigen und anlassunabhängigen Abberufung gewährt werden.3) Sie dient damit auch dem Aktionärsschutz.4) II.

Abberufung durch die Hauptversammlung (§ 103 Abs. 1)

3 Nach § 103 Abs. 1 kann die Hauptversammlung5) die von ihr ohne Bindung an einen Wahlvorschlag (§ 101 Abs. 1 Satz 2) gewählten Aufsichtsratsmitglieder vorzeitig abberufen. Dies erfasst die Aufsichtsratsmitglieder der Aktionäre sowie die Mitglieder des ersten Aufsichtsrats (§ 30).6) _____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6)

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Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 1. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 7; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 103 Rz. 3. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 103 Rz. 2; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 5. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 5. Hierbei handelt es sich um ihr ausschließliches Recht, das die Hauptversammlung nicht übertragen kann; s. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 17; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 103 Rz. 10. S. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 13 – auch zum neutralen Mitglied nach dem MitbestG bzw. MitbestErgG; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 103 Rz. 9.

Werner Paul Schick

Abberufung der Aufsichtsratsmitglieder

§ 103

Für den nach § 103 Abs. 1 Satz 2 erforderlichen Beschluss gelten die allgemeinen Rege- 4 lungen der §§ 121 ff., insbesondere das Bekanntmachungserfordernis des § 124 Abs. 4 Satz 1; die Abberufung muss ordnungsgemäß als Gegenstand der Tagesordnung angekündigt werden.7) Der Beschlussvorschlag bedarf entsprechend § 124 Abs. 3 Satz 5 nur der Stimmen der Anteilseignervertreter.8) Die Abberufung durch die Hauptversammlung erfordert keinen wichtigen oder sach- 5 lichen Grund, sondern nur eine entsprechende Beschlussfassung mit der erforderlichen Mehrheit.9) Da die Aufsichtsratsmitglieder das Vertrauen der Hauptversammlung haben sollen, genügt der in der Abberufung zu sehende Vertrauensentzug für die Amtsbeendigung.10) Die Verweigerung der Entlastung genügt jedoch nicht.11) Der Abberufungsbeschluss bedarf nach § 103 Abs. 1 Satz 2 der Mehrheit von mindestens 6 drei Vierteln der abgegebenen Stimmen. Ein Stimmverbot nach § 136 Abs. 1 besteht für das betroffene Aufsichtsratsmitglied, das zugleich Aktionär ist, nicht.12) Nach § 103 Abs. 1 Satz 3 kann die Satzung (auch für amtierende Aufsichtsratsmitglieder) 7 das Mehrheitserfordernis des § 103 Abs. 1 Satz 2 verschärfen oder – bis hin zur einfachen Stimmenmehrheit – abmildern und auch auf Stimmen- oder Kapitalmehrheit abstellen.13) Durch die Satzung kann ein von der gesetzlichen Regelung (§ 103 Abs. 1 Satz 2) abweichendes Mehrheitserfordernis nur einheitlich für alle von der Hauptversammlung gewählten Aufsichtsratsmitglieder angeordnet werden.14) Die Abberufung wird mit ihrem Zugang bei dem betroffenen Aufsichtsratsmitglied wirk- 8 sam. Wenn das betroffene Aufsichtsratsmitglied in der Hauptversammlung anwesend ist, erfolgt der Zugang mit der Feststellung des Beschlussergebnisses.15) Einem nicht anwesenden betroffenen Aufsichtsratsmitglied muss die Abberufung durch 9 „gesonderte Mitteilung“ bekanntgegeben werden.16) Ob gegenüber dem nicht in der Hauptversammlung anwesenden betroffenen Aufsichtsratsmitglied die Abberufung (nur) durch den Vorstand (§ 78),17) durch den Aufsichtsratsvorsitzenden,18) oder ob diese auch durch von der Hauptversammlung beauftragte Dritte19) erklärt werden kann, ist streitig. Grundsätzlich obliegt die Mitteilung des Abberufungsbeschlusses dem Vorstand, da er _____________ 7) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 18; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 3. 8) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 18; Hölters-Simons, AktG, § 103 Rz. 14. 9) KG Berlin, Beschl. v. 3.12.2002 – 1 W 363/02, ZIP 2003, 1042, 1049; Kort in: EWiR § 103 AktG 1/97, 145 f. (OLG Düsseldorf): keine materielle Beschlusskontrolle des Beschlusses nach § 103 Abs. 1; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 103 Rz. 12; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 3. 10) KG Berlin, Beschl. v. 3.12.2002 – 1 W 362/02, ZIP 2003, 1042, 1049; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 103 Rz. 3. 11) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 3; Semler/v. Schenck-Gasteyer, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 48; Semler/v. Schenck/Wilsing-Wisling/Winkler, ArbHdb. AR, § 2 Rz. 100. 12) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 103 Rz. 4; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 103 Rz. 13; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 4. 13) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 103 Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 4. 14) BGH, Urt. v. 15.12.1986 – II ZR 18/86 (Heidelberger Zement), BGHZ 99, 211, 215 f. = ZIP 1987, 366, 368. 15) BGH, Urt. v. 21.4.2020 – II ZR 412/17, Rz. 61, ZIP 2020, 1064, 1068; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 5; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 103 Rz. 19. 16) BGH, Urt. v. 21.4.2020 – II ZR 412/17, Rz. 56, ZIP 2020, 1064, 1069. 17) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 103 Rz. 19; Semler/v. Schenck-Gasteyer, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 21; Semler/v. Schenck/Wilsing-Wisling/Winkler, ArbHdb. AR, § 2 Rz. 100. 18) Bürgers/Körber-Bürgers/Israel, AktG, § 103 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 5 (sofern Beauftragung dazu durch die Hauptversammlung erfolgt ist). 19) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 25; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 84: „gleichgültig, durch wen und auf welchem Weg“ der Zugang erfolgt.

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§ 103

Abberufung der Aufsichtsratsmitglieder

für die Umsetzung von Hauptversammlungsbeschlüssen zu sorgen hat.20) Aus Nachweisund Vorsichtsgründen sollte die Abberufung durch den Vorstand in vertretungsberechtigter Zahl in schriftlicher Form erklärt und auch vom Aufsichtsratsvorsitzenden (sofern er nicht selbst abberufen wurde) unterzeichnet werden.21) Die Mitteilung des Hauptversammlungsbeschlusses über die Abberufung kann aber auch durch den mit der Versammlungsniederschrift betrauten Notar erfolgen, sofern dieser hierzu von der Hauptversammlung ausdrücklich beauftragt worden ist.22) III.

Rechtsfolgen der Abberufung

10 Durch die wirksame Abberufung wird das Mandat beendet, alle damit verbundenen Rechte und Pflichten enden, soweit sie nicht nachwirken (etwa Verschwiegenheitspflicht).23) Ein etwaiger Vergütungsanspruch gegenüber der Gesellschaft erlischt zwingend.24) Das ausscheidende Aufsichtsratsmitglied ist entsprechend § 667 BGB zur Herausgabe aller in seinem Besitz befindlichen Unterlagen der Gesellschaft verpflichtet.25) Entsprechende Regelungen in der Satzung oder Geschäftsordnung sind zulässig26) (siehe dazu auch § 107 Rz. 15). 11 Umstritten ist, ob diese Rechtsfolgen allein bei einer unanfechtbar rechtswirksamen Abberufung27) oder bei jeder Abberufung28) greifen. IV.

Abberufung entsandter Aufsichtsratsmitglieder (§ 103 Abs. 2)

12 Zur Abberufung entsandter Aufsichtsratsmitglieder ist grundsätzlich der Entsendungsberechtigte (§ 101 Abs. 1) jederzeit berechtigt (§ 103 Abs. 2 Satz 1). Ein sachlicher Grund ist nicht erforderlich; es genügt der Vertrauensentzug.29) 13 Die Hauptversammlung darf nach § 103 Abs. 2 Satz 2 ausnahmsweise ein entsandtes Aufsichtsratsmitglied mit einfacher Stimmenmehrheit abberufen, wenn die in der Satzung vorgesehenen Voraussetzungen des Entsendungsrechts weggefallen sind30) oder wenn die Satzung der Hauptversammlung ein eigenes Abberufungsrecht (neben dem Entsendungsberechtigten) einräumt.31)

_____________ 20) BGH, Urt. v. 21.4.2020 – II ZR 412/17, Rz. 61, ZIP 2020, 1064, 1069. 21) So auch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 5. a. E. 22) BGH, Urt. v. 21.4.2020 – II ZR 412/17, LS und Rz. 60 ff., ZIP 2020, 1064, 1069; ausführlich dazu Wachter, BB 2020, 1474, 1476 f. 23) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 103 Rz. 20; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 6; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 29. 24) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 103 Rz. 21; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 103 Rz. 7; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 29. 25) BGH, Hinw.-Beschl. v. 7.7.2008 – II ZR 71/07, Rz. 3, ZIP 2008, 1821; Semler/v. Schenck-Gasteyer, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 23; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 29. 26) BGH, Hinw.-Beschl. v. 7.7.2008 – II ZR 71/07, Rz. 6, ZIP 2008, 1821, 1822; OLG Düsseldorf, Urt. v. 22.3.2007 – I-6 U 119/06, ZIP 2007, 1608, 1609. 27) So wohl Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 26 und Rz. 29; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 103 Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 103 Rz. 7. 28) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 103 Rz. 22; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 6. 29) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 38; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 103 Rz. 23. 30) Ausführlich dazu K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 103 Rz. 11; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 49. 31) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 8; Semler/v. Schenck-Gasteyer, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 30; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 53.

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Werner Paul Schick

Abberufung der Aufsichtsratsmitglieder V.

Gerichtliche Abberufung aus wichtigem Grund (§ 103 Abs. 3)

1.

Grundlagen

§ 103

Nach § 103 Abs. 3 kann jedes Aufsichtsratsmitglied, gleichgültig, ob es ein gewählter oder 14 entsandter Vertreter der Arbeitnehmer oder der Aktionäre ist, aber auch ein gerichtlich bestelltes Aufsichtsratsmitglied, gerichtlich aus wichtigem Grund abberufen werden.32) Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dessen weiteres Verbleiben bis zum Ablauf der Amtszeit für die Gesellschaft unzumutbar ist.33) Die Abberufung ist als „ultima ratio“ nur bei groben Pflichtverletzungen gerechtfertigt.34) Dies ist anhand einer Einzelfallbetrachtung unter Berücksichtigung des Interesses der Gesellschaft an einem funktionsfähigen Aufsichtsrat zu ermitteln.35) Hierfür ist ein Verschulden (oder gar eine Schädigungsabsicht) nicht erforderlich, es kann aber bei der Beurteilung der Schwere der Pflichtverletzung relevant sein; fahrlässiges Verhalten (etwa einmalige „fahrlässige“ Verletzung der Verschwiegenheitspflicht) kann nur bei wiederholtem Verstoß eine gerichtliche Abberufung begründen.36) 2.

Einzelfälle

Behindert ein Aufsichtsratsmitglied die Zusammenarbeit im Aufsichtsrat, zerstört er das 15 Vertrauensverhältnis durch intrigantes Verhalten oder bleibt es wiederholt unentschuldigt den Aufsichtsratssitzungen fern, so kann ein wichtiger Grund nach § 103 Abs. 3 vorliegen.37) Auch kann die bewusste Verletzung der Verschwiegenheitsverpflichtung durch ein Aufsichtsratsmitglied38) oder die (wiederholte) Anmaßung von Kontrollbefugnissen, die dem Aufsichtsrat als Organ zustehen, durch ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied39) ein wichtiger Grund für die gerichtliche Abberufung sein. Teilweise wird in der Literatur ein wichtiger Grund auch im Falle der Tätigkeit eines Aufsichtsratsmitglieds für ein Konkurrenzunternehmen angenommen.40) Diese Auffassung hat sich in der Rechtsprechung und Literatur nicht durchgesetzt.41) Sie ist abzulehnen, weil im AktG für Aufsichtsratsmitglieder kein Wettbewerbsverbot vorgesehen ist (siehe auch § 105 Abs. 2 Satz 4) und das _____________ 32) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 55; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 87; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 9. 33) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 1.10.2007 – 20 W 141/07, ZIP 2008, 1382, 1383; OLG Stuttgart, Beschl. v. 7.11.2006 – 8 W 388/06, AG 2007, 218, 219; OLG Hamburg, Beschl. v. 23.1.1990 – 11 W 92/89, ZIP 1990, 311, 313, ausführlich dazu Decher, ZIP 1990, 277 ff.; OLG München, Beschl. v. 28.8.2018 – 31 Wx 61/17, ZIP 2018, 1932 f.; OLG Stuttgart, Hinweisbeschl. v. 7.8.2020 – 20 U 6/17, AG 2021, 522, 525 ff. 34) OLG München, Beschl. v. 28.8.2018 – 31 Wx 61/17, ZIP 2018, 1932; Habersack in: MünchKommAktG, § 103 Rz. 33; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 10. 35) OLG München, Beschl. v. 28.8.2018 – 31 Wx 61/17, ZIP 2018, 1932, 1933; OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 1.10.2007 – 20 W 141/07, ZIP 2008, 1382, 1383; OLG Hamburg, Beschl. v. 23.1.1990 – 11 W 92/89, ZIP 1990, 311, 314. 36) AG München, Beschl. v. 2.5.1985 – HRB 2211, ZIP 1985, 1139, 1140; so wohl auch OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 1.10.2007 – 20 W 141/07, ZIP 2008, 1382, 1383; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 88. 37) OLG München, Beschl. v. 28.8.2018 – 31 Wx 61/17, ZIP 2018, 1932, 1933; nach OLG Karlsruhe, Beschl. v. 1.3.2022 – 1 W 85/21 (Wx), ZIP 2022, R 6, kann auch ein Fehlverhalten außerhalb des Aufsichtsratsmandats (Manipulieren und Löschen von Informationen i. R. einer internen Untersuchung) ein (verhaltensbedingter) wichtiger Grund sein. 38) OLG München, Beschl. v. 28.8.2018 – 31 Wx 61/17, ZIP 2018, 1932, 1933; OLG Stuttgart, Beschl. v. 7.11.2006 – 8 W 388/06, AG 2007, 218, 219. 39) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 1.10.2007 – 20 W 141/07, ZIP 2008, 1382, 1383 f. 40) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 1 Rz. 21 ff. (bei einer Konkurrenzsituation in zentralen Tätigkeitsbereichen); Lutter, ZHR 159 (1995) 287, 303; s. a. K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 103 Rz. 17; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 103 Rz. 42. 41) OLG Schleswig, Beschl. v. 26.4.2004 – 2 W 46/04, ZIP 2004, 1143, 1144, dazu EWiR 2004, 949 (Lenz); OLG Stuttgart, Beschl. v. 24.2.2017 – 20 W 8/16, ZIP 2017, 671, 672 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 13b; Hüffer, ZIP 2010, 1979, 1983 m. w. N.

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§ 103

Abberufung der Aufsichtsratsmitglieder

Aktienrecht für mögliche Interessen- und Pflichtenkollisionen ein abgestuftes Instrumentarium situationsgerechter Sanktionen bereithält42) (siehe dazu auch Rz. 22 und § 116 Rz. 10). 3.

Verfahren

16 Die gerichtliche Abberufung erfordert einen Antrag. Antragsberechtigt ist nach § 103 Abs. 3 Satz 1 ausschließlich der Aufsichtsrat, eine Übertragung auf einen Ausschuss ist nicht zulässig.43) Nach § 103 Abs. 3 Satz 2 bedarf der Beschluss des Aufsichtsrats über den Antrag zwingend der einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen44) (nicht die Stimmen der Mehrheit der Aufsichtsratsmitglieder). Das betroffene Aufsichtsratsmitglied unterliegt entsprechend § 34 BGB einem Stimmverbot (Verbot des Richtens in eigener Sache).45) Bei aufgrund der Satzung entsandten Aufsichtsratsmitgliedern ist nach § 103 Abs. 3 Satz 3 auch eine Aktionärsminderheit antragsbefugt, die 10 % des Grundkapitals oder den anteiligen Betrag von 1 Mio. € erreichen.46) 17 Zuständig für das gerichtliche Abberufungsverfahren ist das Amtsgericht am Sitz der Gesellschaft (§ 23a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 4 GVG; §§ 375 Nr. 3, 377 Abs. 1 FamFG; § 14 AktG), wobei innerhalb eines Landgerichtsbezirks das Amtsgericht am Sitz des jeweiligen Landgerichts zuständig ist (§ 376 Abs. 1 FamFG; vorbehaltlich Ausnahmen nach § 376 Abs. 2 FamFG). Gegen den Beschluss des Amtsgerichts (§ 38 FamFG) ist die Beschwerde (§§ 58, 63 FamFG) zulässig. Zuständig ist das OLG, sofern das Amtsgericht der Beschwerde nicht abhilft (§ 68 Abs. 1 Satz 1 FamFG, § 119 Abs. 1 Nr. 1 lit. b GVG). Die Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung (§§ 40, 58 FamFG); das abberufene Aufsichtsratsmitglied verliert mit der Bekanntmachung der erstinstanzlichen Entscheidung sein Amt.47) VI.

Abberufung nach mitbestimmungsrechtlichen Vorschriften (§ 103 Abs. 4)

18 Nach § 103 Abs. 4 gelten für die Abberufung von Arbeitnehmervertretern (einschließlich des weiteren Mitglieds nach dem Montan-MitbestG) die speziellen mitbestimmungsrechtlichen Vorschriften (§ 23 MitbestG, § 11 Montan-MitbestG, § 10n MontanMitbestErgG, § 12 DrittelbG, § 26 Abs. 1 MgVG). Diese Aufsichtsratsmitglieder können nur gemäß § 103 Abs. 3 oder nach den mitbestimmungsrechtlichen Vorschriften abberufen werden.48) VII. Ersatzmitglieder (§ 103 Abs. 5) 19 Da § 103 Abs. 1 bis 4 für nachgerückte Ersatzmitglieder ohnehin gelten, bezieht sich § 103 Abs. 5 auf die Abberufung vor dem Nachrücken in den Aufsichtsrat.49) Ersatzmitglieder _____________ 42) S. OLG Schleswig, Beschl. v. 26.4.2004 – 2 W 46/04, ZIP 2004, 1143, 1144; Hüffer, ZIP 2010, 1979, 1983 m. w. N.; Wirth, ZGR 2005, 327, 343 ff.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 6; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 13b. 43) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 87; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 47. 44) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 103 Rz. 34; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 87. 45) BayObLG, Beschl. v. 28.3.2003 – 3 Z BR 199/02, ZIP 2003, 1194, 1196; OLG Stuttgart, Urt. v. 30.5.2007 – 20 U 14/06, AG 2007, 873, 876 = ZIP 2007, 1217; so auch überwiegend die Lit.: Hopt/ Roth in: GroßKomm-AktG, § 103 Rz. 49; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 87; a. A.: Hoffmann/Kirchhoff in: FS Beusch, S. 377, 380. 46) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 87; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 12. 47) Ausführlich dazu Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 89 f.; Semler/v. Schenck-Gasteyer, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 67 f., auch zur Frage der Neubesetzung des vakanten Aufsichtsratssitzes. 48) Ausführlich dazu: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 103 Rz. 51 ff.; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 92 f. 49) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 96; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 15.

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Abberufung der Aufsichtsratsmitglieder

§ 103

können gemäß § 103 Abs. 4 nach den Regelungen abberufen werden, die für das Aufsichtsratsmitglied gelten, für das es als Ersatzmitglied bestellt ist. VIII. Sonstige Beendigung der Amtszeit Da § 103 insoweit nicht abschließend ist, kann die Amtszeit eines Aufsichtsratsmitglieds 20 auch aus sonstigen Gründen enden. Hier sind persönliche Gründe, wie etwa das Versterben des Aufsichtsratsmitglieds, die erfolgreiche Wahlanfechtung (§ 251), der Eintritt der in § 100 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 genannten Ausschlussgründe und der Verlust von Wählbarkeitsvoraussetzungen bei Arbeitnehmervertretern (§§ 24 Abs. 1, 7 Abs. 2 MitbestG)50) sowie aus den Verhältnissen der Gesellschaft resultierende Gründe, etwa die Durchführung eines Statusverfahrens, Vollbeendigung, Verschmelzung und Formwechsel zu nennen.51) Die gesetzlich nicht geregelte Amtsniederlegung ist auch ohne wichtigen Grund zulässig 21 und wirksam, auch wenn sie zur Unzeit erfolgt (kann dann aber pflichtwidrig sein und zur Schadensersatzpflicht führen).52) Sie ist als empfangsbedürftige Willenserklärung gegenüber dem Vorstand53) oder der Hauptversammlung54) abzugeben. Wird sie gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden55) erklärt, so wird sie erst wirksam, wenn die Niederlegungserklärung dem Vorstand weitergeleitet wurde und sie damit zugegangen ist.56) Durch die Satzung kann die Form und der Empfänger der Niederlegungserklärung geregelt werden.57) IX.

Deutscher Corporate Governance Kodex (DCGK)

Der DCGK enthält in E. 1 Satz 3 als ultima ratio58) eine Empfehlung, wonach wesentliche 22 und nicht nur vorübergehende Interessenkonflikte in der Person eines Aufsichtsratsmitglieds zur Beendigung des Mandats führen sollen. Ein andauernder Interessenkonflikt wird für den Aufsichtsrat als nicht hinnehmbar erachtet und soll deshalb durch das Ausscheiden des betreffenden Mitglieds aufgelöst werden.59) _____________ 50) Erfasst werden die unternehmensangehörigen Aufsichtsratsmitglieder, für die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Aufsichtsratsmitglieder gelten nur die allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Vorgaben, s. Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, § 24 Rz. 4; Hauptanwendungsfälle sind der Verlust der Arbeitnehmereigenschaft und das Ausscheiden aus dem Unternehmen, s. BAG, Beschl. v. 15.5.2019 – 7 ABR 35/17, AG 2020, 129, 132; zu den Voraussetzungen und Grenzen einer Verlängerung des Arbeitsverhältnisses mit Blick auf die daraus resultierende Nichtbeendigung des Aufsichtsratsmandats: Rieble, Der Aufsichtsrat 2013, 92 ff. 51) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 16; Singhof, AG 1998, 318, 319 f.; Semler/v. Schenck/WilsingWilsing/Winkler, ArbHdb. AR, § 2 Rz. 94. 52) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 80; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 17; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 103 Rz. 99 ff.; Singhof, AG 1998, 318, 323; Wardenbach, AG 1999, 74, 75 f. 53) S. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 17; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 81; Singhof, AG 1998, 318, 326. 54) S. für die Amtsniederlegung eines von der Hauptversammlung gewählten Mitglieds: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 17 (Hauptversammlung ist dann konkurrierend zuständig); Semler/v. Schenck/ Wilsing-Wilsing/Winkler, ArbHdb. AR, § 2 Rz. 99 a. E.; Singhof, AG 1998, 318, 326. 55) S. Bürgers/Körber-Bürgers/Israel, AktG, § 103 Rz. 18, a. A.: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 103 Rz. 61. 56) OLG Stuttgart, Urt. v. 1.7.2009 – 20 U 8/08, DB 2009, 1521, 1523 f. = ZIP 2010, 1295 (LS); Semler/ v. Schenck/Wilsing-Wilsing/Winkler, ArbHdb. AR, § 2 Rz. 99; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 17. 57) LG Flensburg, Urt. v. 7.4.2004 – 6 O 17/03, AG 2004, 623, 624; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 103 Rz. 62; Singhof, AG 1998, 318, 325; Bunting, ZIP 2020, 2169, 2170 ff. 58) Johannsen-Roth/Illert/Ghassemi-Tabar-Busch/Link, DCGK, Empfehlungen E. 1 Rz. 31. 59) Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, E. 1 Rz. 16; Semler/v. Schenck/Wilsing-Henning, ArbHdb. AR, § 4 Rz. 134.

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§ 104

Bestellung durch das Gericht

§ 104 Bestellung durch das Gericht Werner Paul Schick

(1) 1Gehört dem Aufsichtsrat die zur Beschlußfähigkeit nötige Zahl von Mitgliedern nicht an, so hat ihn das Gericht auf Antrag des Vorstands, eines Aufsichtsratsmitglieds oder eines Aktionärs auf diese Zahl zu ergänzen. 2Der Vorstand ist verpflichtet, den Antrag unverzüglich zu stellen, es sei denn, daß die rechtzeitige Ergänzung vor der nächsten Aufsichtsratssitzung zu erwarten ist. 3Hat der Aufsichtsrat auch aus Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer zu bestehen, so können auch den Antrag stellen 1. der Gesamtbetriebsrat der Gesellschaft oder, wenn in der Gesellschaft nur ein Betriebsrat besteht, der Betriebsrat, sowie, wenn die Gesellschaft herrschendes Unternehmen eines Konzerns ist, der Konzernbetriebsrat, 2. der Gesamt- oder Unternehmenssprecherausschuss der Gesellschaft oder, wenn in der Gesellschaft nur ein Sprecherausschuss besteht, der Sprecherausschuss sowie, wenn die Gesellschaft herrschendes Unternehmen eines Konzerns ist, der Konzernsprecherausschuss, 3. der Gesamtbetriebsrat eines anderen Unternehmens, dessen Arbeitnehmer selbst oder durch Delegierte an der Wahl teilnehmen, oder, wenn in dem anderen Unternehmen nur ein Betriebsrat besteht, der Betriebsrat, 4. der Gesamt- oder Unternehmenssprecherausschuss eines anderen Unternehmens, dessen Arbeitnehmer selbst oder durch Delegierte an der Wahl teilnehmen, oder, wenn in dem anderen Unternehmen nur ein Sprecherausschuss besteht, der Sprecherausschuss, 5. mindestens ein Zehntel oder einhundert der Arbeitnehmer, die selbst oder durch Delegierte an der Wahl teilnehmen, 6. Spitzenorganisationen der Gewerkschaften, die das Recht haben, Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer vorzuschlagen, 7. Gewerkschaften, die das Recht haben, Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer vorzuschlagen. 4 Hat der Aufsichtsrat nach dem Mitbestimmungsgesetz auch aus Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer zu bestehen, so sind außer den nach Satz 3 Antragsberechtigten auch je ein Zehntel der wahlberechtigten in § 3 Abs. 1 Nr. 1 des Mitbestimmungsgesetzes bezeichneten Arbeitnehmer oder der wahlberechtigten leitenden Angestellten im Sinne des Mitbestimmungsgesetzes antragsberechtigt. 5Gegen die Entscheidung ist die Beschwerde zulässig.

(2) 1Gehören dem Aufsichtsrat länger als drei Monate weniger Mitglieder als die durch Gesetz oder Satzung festgesetzte Zahl an, so hat ihn das Gericht auf Antrag auf diese Zahl zu ergänzen. 2In dringenden Fällen hat das Gericht auf Antrag den Aufsichtsrat auch vor Ablauf der Frist zu ergänzen. 3Das Antragsrecht bestimmt sich nach Absatz 1. 4 Gegen die Entscheidung ist die Beschwerde zulässig. (3) Absatz 2 ist auf einen Aufsichtsrat, in dem die Arbeitnehmer ein Mitbestimmungsrecht nach dem Mitbestimmungsgesetz, dem Montan-Mitbestimmungsgesetz oder dem Mitbestimmungsergänzungsgesetz haben, mit der Maßgabe anzuwenden, 1. daß das Gericht den Aufsichtsrat hinsichtlich des weiteren Mitglieds, das nach dem Montan-Mitbestimmungsgesetz oder dem Mitbestimmungsergänzungsgesetz auf Vorschlag der übrigen Aufsichtsratsmitglieder gewählt wird, nicht ergänzen kann,

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§ 104

Bestellung durch das Gericht

2. daß es stets ein dringender Fall ist, wenn dem Aufsichtsrat, abgesehen von dem in Nummer 1 genannten weiteren Mitglied, nicht alle Mitglieder angehören, aus denen er nach Gesetz oder Satzung zu bestehen hat. (4) 1Hat der Aufsichtsrat auch aus Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer zu bestehen, so hat das Gericht ihn so zu ergänzen, daß das für seine Zusammensetzung maßgebende zahlenmäßige Verhältnis hergestellt wird. 2Wenn der Aufsichtsrat zur Herstellung seiner Beschlußfähigkeit ergänzt wird, gilt dies nur, soweit die zur Beschlußfähigkeit nötige Zahl der Aufsichtsratsmitglieder die Wahrung dieses Verhältnisses möglich macht. 3Ist ein Aufsichtsratsmitglied zu ersetzen, das nach Gesetz oder Satzung in persönlicher Hinsicht besonderen Voraussetzungen entsprechen muß, so muß auch das vom Gericht bestellte Aufsichtsratsmitglied diesen Voraussetzungen entsprechen. 4Ist ein Aufsichtsratsmitglied zu ersetzen, bei dessen Wahl eine Spitzenorganisation der Gewerkschaften, eine Gewerkschaft oder die Betriebsräte ein Vorschlagsrecht hätten, so soll das Gericht Vorschläge dieser Stellen berücksichtigen, soweit nicht überwiegende Belange der Gesellschaft oder der Allgemeinheit der Bestellung des Vorgeschlagenen entgegenstehen; das gleiche gilt, wenn das Aufsichtsratsmitglied durch Delegierte zu wählen wäre, für gemeinsame Vorschläge der Betriebsräte der Unternehmen, in denen Delegierte zu wählen sind. (5) Die Ergänzung durch das Gericht ist bei börsennotierten Gesellschaften, für die das Mitbestimmungsgesetz, das Montan-Mitbestimmungsgesetz oder das Mitbestimmungsergänzungsgesetz gilt, nach Maßgabe des § 96 Absatz 2 Satz 1 bis 5 vorzunehmen. (6) Das Amt des gerichtlich bestellten Aufsichtsratsmitglieds erlischt in jedem Fall, sobald der Mangel behoben ist. (7) 1Das gerichtlich bestellte Aufsichtsratsmitglied hat Anspruch auf Ersatz angemessener barer Auslagen und, wenn den Aufsichtsratsmitgliedern der Gesellschaft eine Vergütung gewährt wird, auf Vergütung für seine Tätigkeit. 2Auf Antrag des Aufsichtsratsmitglieds setzt das Gericht die Auslagen und die Vergütung fest. 3Gegen die Entscheidung ist die Beschwerde zulässig; die Rechtsbeschwerde ist ausgeschlossen. 4 Aus der rechtskräftigen Entscheidung findet die Zwangsvollstreckung nach der Zivilprozeßordnung statt. Literatur: Drehsen, Massenhafte Beteiligung bei gerichtlicher Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern nach § 104 Abs. 1 AktG, AG 2015, 775; Fett/Theusinger, Die gerichtliche Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern – Einsatzmöglichkeiten und Fallstricke, AG 2010, 425; HoffmannBecking, Gerichtliche Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern bei angefochtener Wahl, in: Festschrift für Gerd Krieger, 2020, S. 379; Jänig/Leißring, FamFG: Neues Verfahren für Streitigkeiten in AG und GmbH, ZIP 2010, 110; Koch, 20 Jahre Deutscher Corporate Governance Kodex – Missverständnisse auf hohem Niveau, AG 2022, 1; Lutter/Kirschbaum, Zum Wettbewerber im Aufsichtsrat, ZIP 2005, 103; Nast, Die (analoge) Anwendbarkeit des § 104 AktG bei rechtshängigen Klagen gegen die Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern, ZIP 2021, 314; Niewarra/ Servatius, Die gerichtliche Ersatzbestellung im Aufsichtsrat, in: Festschrift für Johannes Semler, 1993, S. 217; Schnittker/Grau, Aufsichtsratswahlen und Ersatzbestellung von Aufsichtsratsmitgliedern im Wechsel des Mitbestimmungsmodells, NZG 2007, 486; Schwab, Die Freigabe der angefochtenen Aufsichtsratswahl analog § 104 Abs. 2 AktG, AG 2015, 195; Seibt, Geschlechterquote im Aufsichtsrat und Zielgrößen für die Frauenbeteiligung in Organen und Führungsebenen in der Privatwirtschaft, ZIP 2015, 1193; Vetter, Praktische Fragen der gerichtlichen Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern nach § 104 AktG, DB 2018, 3104; Vetter, Anfechtung der Wahl der Aufsichtsratsmitglieder, Bestandsinteresse der AG und die Verantwortung der Verwaltung, ZIP 2012, 701; Wandt, Der Antrag auf gerichtliche Bestellung eines Aufsichtsratsmitglieds bei AG und SE, AG 2016, 877; Wirth, Anforderungsprofil und Inkompatibilitäten für Aufsichtsratsmitglieder, ZGR 2005, 327.

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§ 104

Bestellung durch das Gericht Übersicht

I. Gegenstand und Zweck der Norm .................................................. 1 II. Ergänzung zur Behebung der Beschlussunfähigkeit (§ 104 Abs. 1) ................................................ 2 III. Ergänzung des unterbesetzten Aufsichtsrats (§ 104 Abs. 2, Abs. 3) ................................................ 6 IV. Beschränkungen der gerichtlichen Auswahl (§ 104 Abs. 4) ....... 11 1. Berücksichtigung der Gruppenverhältnisse (§ 104 Abs. 4 Satz 1 und 2) ............................................... 12 2. Besondere persönliche Voraussetzungen (§ 104 Abs. 4 Satz 3) .......... 13 I.

3. Beachtung von Vorschlagsrechten (§ 104 Abs. 4 Satz 4) ........................ 14 4. Beachtung der Geschlechterquote (§ 104 Abs. 5) ................................... 15 V. Ende des Amts gerichtlich bestellter Aufsichtsratsmitglieder (§ 104 Abs. 6) ................ 16 VI. Auslagenersatz und Vergütung (§ 104 Abs. 7) ................................... 17 VII. Gerichtliches Verfahren ............... 18 1. Zuständigkeit .................................... 19 2. Rechtsmittel ...................................... 20 3. Kosten ............................................... 21

Gegenstand und Zweck der Norm

1 Die Norm enthält die Regelungen für die Ergänzung des nicht beschlussfähigen (§ 104 Abs. 1) und des unterbesetzten (§ 104 Abs. 2) Aufsichtsrats. § 104 Abs. 3 und Abs. 4 enthalten die zu beachtenden mitbestimmungsrechtlichen Besonderheiten, § 104 Abs. 5 enthält einen klarstellenden Verweis auf die nach § 96 Abs. 2 einzuhaltende Mindestquote (siehe unten Rz. 15), § 104 Abs. 6 und Abs. 7 regeln die Amtsdauer und Rechte gerichtlich bestellter Aufsichtsratsmitglieder. Auch im Insolvenzverfahren können § 104 Abs. 1 und Abs. 2 zur Anwendung kommen.1) Die Norm bezweckt, die Handlungs- und Funktionsfähigkeit des Aufsichtsrats zu gewährleisten.2) Es soll die Handlungsfähigkeit des Aufsichtsrats sichergestellt werden, sofern der Aufsichtsrat notwendiges Organ ist. Eine Anwendung auf Gesellschaften mit lediglich fakultativem Aufsichtsrat (GmbH) kommt nicht in Betracht.3) Eine (analoge) Anwendung des § 104 im Falle von Klagen gegen die Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern wird überwiegend abgelehnt (siehe dazu Rz. 6). II.

Ergänzung zur Behebung der Beschlussunfähigkeit (§ 104 Abs. 1)

2 Nach § 104 Abs. 1 Satz 1 erfolgt die gerichtliche Bestellung, wenn dem Aufsichtsrat nicht die zur Beschlussfähigkeit erforderliche Zahl von Mitgliedern angehört. Voraussetzung für die gerichtliche Ergänzung nach § 104 Abs. 1 Satz 1 ist die Beschlussunfähigkeit des Aufsichtsrats; diese ist für nicht mitbestimmte und dem DrittelbG unterliegende Gesellschaften nach § 108 Abs. 2 (siehe dazu § 108 Rz. 13) zu beurteilen; für mitbestimmte Gesellschaften sind die insoweit geltenden Spezialregelungen (§ 28 MitbestG, § 10 MontanMitbestG, § 10 MontanMitbestErgG) zu beachten. Der Vorstand ist berechtigt und nach § 104 Abs. 1 Satz 2 auch verpflichtet einen Ergänzungsantrag zu stellen, wenn die rechtzeitige Ergänzung _____________ 1) 2)

3)

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KG Berlin, Beschl. v. 4.8.2005 – 1 W 397/03, ZIP 2005, 1553, 1555; OLG Dresden, Beschl. v. 10.8.2005 – 2 U 290/05, ZIP 2005, 1845, 1846, dazu EWiR 2006, 483 (Luttermann). VerfGH Bayern, Beschl. v. 24.8.2005 – Vf. 80-VI-04, AG 2006, 209, 210; OLG Hamm, Beschl. v. 16.12.2010 – 15 W 538/10, ZIP 2011, 372, 374; OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 8.9.2014 – 20 W 148/14, ZIP 2015, 170, 172, dazu EWiR 2015, 103 (Bachmann); Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 105 Rz. 9; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 104 Rz. 1. OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 19.11.2013 – 20 W 335/13, ZIP 2014, 826 f.; OLG Hamm, Beschl. v. 20.1.2000 – 15 W 46/00, AG 2000, 476, 477 = ZIP 2000, 927, dazu EWiR 2000, 463 (Schaaf); Habersack in: MünchKomm-AktG, § 104 Rz. 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 104 Rz. 1.

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§ 104

Bestellung durch das Gericht

nicht vor der nächsten Aufsichtsratssitzung zu erwarten ist.4) Der Antrag ist unverzüglich, also ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 Abs. 1 Satz 1 BGB) nach Eintritt der Beschlussfähigkeit zu stellen.5) Nach h. M. kommt eine gerichtliche Bestellung nach § 104 Abs. 1 auch dann in Betracht, wenn ein Aufsichtsratsmitglied dauerhaft verhindert ist6) (etwa wegen Krankheit oder Unerreichbarkeit für eine erhebliche Zeit sowie aufgrund der Bestellung zum Vorstandsmitglied nach § 105 Abs. 2) (siehe dazu auch § 105 Rz. 7 ff.). Antragsberechtigt sind neben dem Vorstand auch jedes Aufsichtsratsmitglied und jeder 3 Aktionär (§ 104 Abs. 1 Satz 1), die Gesellschaft selbst jedoch nicht,7) sowie bei mitbestimmten Gesellschaften die in § 104 Abs. 1 Satz 3 Genannten; durch § 104 Abs. 1 Satz 4 wird die Antragsberechtigung im Geltungsbereich des Mitbestimmungsgesetzes nochmals erweitert.8) Die Vorstandsmitglieder müssen in vertretungsberechtigter Zahl handeln;9) ein Vorstandsmitglied kann den Antrag auch gemeinsam mit einem Prokuristen stellen, wenn die Satzung unechte Gesamtvertretung vorsieht (§ 78 Abs. 3).10) Stellen die Arbeitnehmervertreter den Antrag, so sind sie auch zur Kostentragung verpflichtet.11) Zur Vermeidung der Gefahr einer dauerhaften Entmündigung des eigentlich für die Wahl zuständigen Organs, sollte die gerichtliche Bestellung eines Aufsichtsratsmitglieds grundsätzlich bis zum nächsten regulären Bestellungstermin (also nächste Hauptversammlung für Anteilseignervertreter bzw. nächste Belegschaftswahl für Arbeitnehmervertreter) befristet werden.12) Auch der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) enthält die Empfehlung (C. 15 Satz 2) dass der Antrag auf gerichtliche Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner bis zur nächsten Hauptversammlung befristet sein soll.13) Das Gericht wählt das Aufsichtsratsmitglied grundsätzlich ohne Bindung an den Antrag 4 nach pflichtgemäßem Ermessen aus,14) welches den Beschränkungen des § 104 Abs. 4 Satz 1 – 4 und den sonstigen gesetzes- und satzungsmäßigen Bestellungsvoraussetzungen unterliegt. Im Übrigen hat das Gericht seine Entscheidung an den Interessen der Gesellschaft auszurichten.15) Nach der Rechtsprechung steht es der gerichtlichen Bestellung nach _____________ 4) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 104 Rz. 3; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 104 Rz. 14. 5) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 104 Rz. 14; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 104 Rz. 47. 6) BayObLG, Beschl. v. 28.3.2003 – 3Z BR 199/02, NZG 2003, 691, 693; Habersack in: MünchKommAktG, § 104 Rz. 12 f.; Semler/v. Schenck-Gasteyer, Der Aufsichtsrat, § 104 Rz. 41 und Rz. 45. 7) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 8.9.2014 – 20 W 148/14, ZIP 2015, 170, 171; näher dazu Wandt, AG 2016, 877, 887 f. 8) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 104 Rz. 19 f.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 63; ausführlich zu den Verfahrensbeteiligten nach dem FamFG: Drehsen, AG 2015, 775 ff. 9) OLG Stuttgart, Beschl. v. 24.2.2017 – 20 W 8/16, ZIP 2017, 671, 676 = Der Konzern 2017, 301. 10) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 104 Rz. 16; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 104 Rz. 45; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 104 Rz. 3. 11) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 1.2.1994 – 10 W 1/94, AG 1994, 424; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 63. 12) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 15.5.2017 – 20 W 147/17, ZIP 2017, 2262; Hölters-Simons, AktG, § 104 Rz. 32; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 104 Rz. 3. 13) S. dazu Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, C. 15 Rz. 5 („zur Stärkung der Legitimation der Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat und zur besseren Durchsetzung des Aktionärsrechts auf Wahl der Anteilseignervertreter“); Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 63; Wandt, AG 2016, 877, 887; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 104 Rz. 3. 14) OLG Stuttgart, Beschl. v. 24.2.2017 – 20 W 8/16, ZIP 2017, 671 = Der Konzern 2017, 301, dazu EWiR 2017, 361 (Séché/Theusinger); OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 8.9.2014 – 20 W 148/14, ZIP 2015, 170, 172; OLG Bamberg, Beschl. v. 19.2.2014 – 8 W 2/14, ZIP 2014, 2035, dazu EWiR 2014, 707 (Theusinger/Schilha); OLG Hamm, Beschl. v. 28.5.2013 – I-27 W 35/13, ZIP 2013, 2008 f., dazu EWiR 2014, 7 (Rahlmeyer); OLG Schleswig, Beschl. v. 26.4.2004 – 2 W 46/04, ZIP 2004, 1143, dazu EWiR 2004, 949 (Lenz); AG Berlin-Charlottenburg, Beschl. v. 5.11.2004 – HRB 93752, AG 2005, 133, insbesondere zur Berücksichtigung der hypothetischen Bestellung durch das primär zuständige Gremium. 15) OLG Bamberg, Beschl. v. 19.2.2014 – 8 W 2/14, ZIP 2014, 2035; OLG Hamm, Beschl. v. 28.5.2013 – I-27 W 35/13, ZIP 2013, 2008; OLG Schleswig, Beschl. v. 26.4.2004 – 2 W 46/04, ZIP 2004, 1143, 1144.

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Bestellung durch das Gericht

§ 104 Abs. 2 nicht grundsätzlich entgegen, wenn der vorgeschlagene Kandidat zugleich Organmitglied eines konkurrierenden Unternehmens ist.16) Es ist fraglich, ob und inwieweit die DCGK-Vorgaben vom Gericht zu berücksichtigen sind.17) Hiergegen spricht, dass der DCGK sich an die Gesellschaft richtet18) und von dessen Empfehlungen abgewichen werden kann („comply or explain“),19) was (lediglich) gemäß § 161 Abs. 1 zu erklären ist.20) Das OLG Hamm hält es gleichwohl für unbedenklich, wenn das Gericht sich bei seiner Ermessensausübung davon leiten lässt, dass die Bestellung einer neutralen Person zum Aufsichtsratsmitglied als sinnvoll erachtet wird. Hierbei sollen auch die Unabhängigkeitskriterien nach dem DCGK herangezogen werden können.21) 5 Das Verfahren zur Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern nach § 104 ist eine Angelegenheit der freiwilligen Gerichtsbarkeit (unternehmensrechtliches Verfahren nach § 375 Nr. 3 FamFG).22) Das Gericht entscheidet nur auf Antrag und es gilt der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 26 FamFG). III.

Ergänzung des unterbesetzten Aufsichtsrats (§ 104 Abs. 2, Abs. 3)

6 In nicht mitbestimmten Gesellschaften kann der Aufsichtsrat gerichtlich ergänzt werden, wenn die durch Gesetz oder Satzung festgelegte Mitgliederzahl länger als drei Monate unterschritten wird (§ 104 Abs. 2 Satz 1) oder ein dringender Fall vorliegt (§ 104 Abs. 2 Satz 2).23) Vor dem Hintergrund der Ablehnung der Anwendbarkeit der Grundsätze der fehlerhaften Bestellung auf die Aufsichtsratswahl stellt sich die Frage des Umgangs mit Anfechtungsklagen gegen die Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern und ob durch einen Antrag auf gerichtliche Bestellung dem Risiko einer erfolgreichen Klage begegnet werden kann. Teilweise wird die Möglichkeit eines Antrags auf rückwirkende und aufschiebend bedingte Bestellung für den Fall des Erfolgs der Klage angenommen.24) Andere bejahen die Möglichkeit einer analogen Anwendung des § 104.25) Nach der Rechtsprechung scheidet eine vorsorgliche gerichtliche Bestellung eines Aufsichtsratsmitglieds, dessen Wahl durch die Hauptversammlung durch Anfechtungs- oder Nichtigkeitsklagen angefochten wurde, in analoger Anwendung dieser Vorschrift mangels planwidriger Regelungslücke aus.26) 7 Sofern der Aufsichtsrat nach den in § 104 Abs. 3 genannten Mitbestimmungsgesetzen (nicht nach dem DrittelbG) quasi paritätisch zusammengesetzt ist, liegt bei Unterbeset_____________ 16) So für den Fall eines Vorstandsmitglieds: OLG Schleswig, Beschl. v. 26.4.2004 – 2 W 46/04, ZIP 2004, 1143, 1144; kritisch hierzu: Lutter/Kirschbaum, ZIP 2005, 103, 104 f.; ausführlich zum Ganzen: Wirth, ZGR 2005, 327, 343 ff.; für den Fall eines Aufsichtsratsmitglieds: OLG Stuttgart, Beschl. v. 24.2.2017 – 20 W 8/16, ZIP 2017, 671, 672 f. = Der Konzern 2017, 301, 302 f. 17) Tendenziell dafür: Semler/v. Schenck-Gasteyer, Der Aufsichtsrat, § 104 Rz. 24; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 104 Rz. 90 und Rz. 114; a. A. Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, AktG, § 104 Rz. 18 f.; Wandt, AG 2016, 877, 884 ff. 18) Präambel des DCGK, Abs. 7. 19) Präambel des DCGK, Abs. 4 Satz 2 ff.; zur Unverbindlichkeit des DCGK: Koch, AG 2022, 1, Rz. 2 f. 20) Wandt, AG 2016, 877, 885 f. 21) OLG Hamm, Beschl. v. 28.5.2013 – I-27 W 35/13, ZIP 2013, 2008, 2009 (obwohl das OLG auch ausdrücklich annimmt, dass der DCGK die Gerichte nicht bindet); Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 104 Rz. 5. 22) S. dazu OLG Hamm, Beschl. v. 16.12.2010 – 15 W 538/10, ZIP 2011, 372, 373; Jänig/Leißring, ZIP 2010, 110, 111; Drehsen, AG 2015, 775. 23) OLG München, Beschl. v. 22.12.2020 – 31 Wx 436/20, ZIP 2021, 79, 80. 24) Fett/Theusinger, AG 2010, 425, 429 ff.; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 104 Rz. 36; Vetter, ZIP 2012, 701, 706 f.; Vetter, DB 2018, 3104, 3107. 25) Hoffmann-Becking in: FS Krieger, S. 379, 387 ff.; Koch in: MünchKomm-AktG, § 252 Rz. 14; s. a. Schwab, AG 2015, 195, 198. 26) OLG Köln, Beschl. v. 23.3.2011 – 2 Wx 41/11, ZIP 2011, 522, dazu EWiR 2011, 201 (v. d. Linden); OLG München, Beschl. v. 22.12.2020 – 31 Wx 436/20, ZIP 2021, 79, 80; zustimmend Semler/ v. Schenck-Gasteyer, Der Aufsichtsrat, § 104 Rz. 32 a. E.; Nast, AG 2021, 314, 316, geht zwar von einer Regelungslücke aus, lehnt die Analogie aber wegen Überdehnung der Rechtsfolgenseite ab.

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§ 104

Bestellung durch das Gericht

zung stets ein dringender Fall vor (§ 104 Abs. 3 Nr. 2). Hierbei ist das weitere Mitglied ausgenommen. Das weitere Mitglied kann nicht gerichtlich bestellt werden (§ 104 Abs. 3 Nr. 1). Die Antragsberechtigung für den erforderlichen Antrag ergibt sich aus § 104 Abs. 1, es 8 besteht aber keine Verpflichtung zur Antragstellung.27) Dringende Fälle nach § 104 Abs. 2 Satz 2 liegen dann vor, wenn Entscheidungen anstehen, 9 die für den Bestand oder die Struktur der Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung sind28) (wie etwa in einer Übernahmesituation);29) auch andere wesentliche Entscheidungen (Bestellung oder Abberufung von Vorstandsmitgliedern) fallen hierunter, wenn nach der konkreten Zusammensetzung des Aufsichtsrats einseitige Durchsetzungschancen einer Interessengruppe bestehen oder bloße Zufallsergebnisse zu erwarten sind.30) Ein dringender Fall liegt auch vor und § 104 Abs. 2 ist analog anwendbar bei Ausscheiden 10 des Aufsichtsratsvorsitzenden (oder seines Stellvertreters), wenn sich unter den vorhandenen Aufsichtsratsmitgliedern kein geeigneter oder bereiter Kandidat befindet oder die Wahl scheitert.31) IV.

Beschränkungen der gerichtlichen Auswahl (§ 104 Abs. 4)

Über die gerichtliche Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern entscheidet das Gericht 11 grundsätzlich nach pflichtgemäßem Ermessen ohne Bindung an Anträge; es sind aber die sich aus § 104 Abs. 4 ergebenden Beschränkungen zu beachten,32) wie etwa die Vorschriften zur Parität, zum Gruppenproporz zwischen Arbeitnehmern, leitenden Angestellten und Gewerkschaftsvertretern (§ 104 Abs. 4 Sätze 1 und 2) sowie die sonstigen gesetz- und satzungsmäßigen Bestellungsvoraussetzungen (insbes. besondere persönliche Voraussetzungen nach § 104 Abs. 4 Satz 3) und Vorgaben für Vorschlagsrechte (§ 104 Abs. 4 Satz 4).33) 1.

Berücksichtigung der Gruppenverhältnisse (§ 104 Abs. 4 Satz 1 und 2)

Die Einschränkungen des § 104 Abs. 4 Satz 1 und 2 sind zu beachten, wenn der Auf- 12 sichtsrat auch aus Arbeitnehmervertretern zu bestehen hat. Insoweit sind etwa § 7 Abs. 1 MitbestG, § 4 Abs. 1 MontanMitbestG, § 5 MitbestErgG, § 4 Abs. 1 DrittelbG und §§ 22 ff. MgVG zur Parität sowie die §§ 7 Abs. 2 und 15 Abs. 2 MitbestG zu nennen.34) Der Aufsichtsrat ist dann so zu ergänzen, dass das für seine Zusammensetzung vorgesehene zahlenmäßige Verhältnis hergestellt wird (§ 104 Abs. 4 Satz 1). Sofern der Aufsichtsrat zur Herstellung der Beschlussfähigkeit ergänzt wird, gilt dies grundsätzlich ebenfalls. Hier sind jedoch Fälle denkbar, in denen das zahlenmäßige Verhältnis nicht hergestellt werden kann (etwa wenn nur ein Aufsichtsratsmitglied zu bestellen ist). Innerhalb von § 104 Abs. 4 geht _____________ 27) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 63; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 104 Rz. 24 und 30. 28) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 13.1.2022 – 20 W 5/22, 20 W 9/22, ZIP 2022, 316. 29) AG Wuppertal, Beschl. v. 23.11.1970 – HRB 2057, DB 1971, 764; BayVerfGH, Entsch. v. 24.8.2005 – Vf. 80/VI-04, AG 2006, 209, 210; ausführlich dazu: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 104 Rz. 27; Hölters-Simons, AktG, § 104 Rz. 14 ff. 30) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 104 Rz. 10; a. A. Spindler/Stilz-Spindler, AktG, § 104 Rz. 30. 31) Hüffer/Koch, AktG, § 104 Rz. 10; Semler/v. Schenck-Gasteyer, Der Aufsichtsrat, § 104 Rz. 75. 32) OLG Stuttgart, Beschl. v. 24.2.2017 – 20 W 8/16, ZIP 2017, 671 = Der Konzern 2017, 301; OLG Hamm, Beschl. v. 28.5.2013 – I-27 W 35/13, ZIP 2013, 2008, 2009; BayObLG, Beschl. v. 20.8.1997 – 3Z BR 193/97, ZIP 1997, 1883, 1884. 33) S. dazu OLG Stuttgart, Beschl. v. 24.2.2017 – 20 W 8/16, ZIP 2017, 671 f. = Der Konzern 2017, 301; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 104 Rz. 31; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 104 Rz. 14. 34) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 104 Rz. 32; s. a. Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG/DrittelbG, § 6 MitbestG Rz. 47.

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§ 104

Bestellung durch das Gericht

dann Satz 2 dem Satz 1 mit dem Ergebnis vor, dass ein Mitglied der benachteiligten Seite zu bestellen ist.35) 2.

Besondere persönliche Voraussetzungen (§ 104 Abs. 4 Satz 3)

13 Über nach Gesetz oder Satzung erforderliche besondere Voraussetzungen muss auch das gerichtlich zu bestellende Aufsichtsratsmitglied verfügen, und zwar in beiden Ergänzungsfällen (Abs. 1 und 2).36) Hier sind insbesondere die Wählbarkeitsvoraussetzungen für Arbeitnehmervertreter (§§ 7 Abs. 2, 15 Abs. 1 MitbestG) sowie die §§ 100 Abs. 1 und 2, 105 zu nennen.37) Ehemalige Vorstandsmitglieder (börsennotierter Gesellschaften) können nur gerichtlich bestellt werden, wenn der Antrag von 25 % der Aktionäre gestellt wurde (§ 101 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4).38) Die Qualifikationen als (unabhängiger) Finanzexperte nach § 100 Abs. 539) oder entsprechend den Empfehlungen des DCGK40) zählen nicht zu den Voraussetzungen i. S. des § 104 Abs. 4 Satz 3. 3.

Beachtung von Vorschlagsrechten (§ 104 Abs. 4 Satz 4)

14 Ist ein Aufsichtsratsmitglied zu ersetzen, bei dessen Wahl eine Spitzenorganisation der Gewerkschaften, eine Gewerkschaft oder die Betriebsräte ein Vorschlagsrecht haben, so soll das Gericht nach § 104 Abs. 4 Satz 4 deren Vorschläge berücksichtigen, sofern nicht überwiegende Belange der Gesellschaft oder der Allgemeinheit entgegenstehen.41) Liegen konkurrierende Vorschläge vor, steht es im Ermessen des Gerichts, welcher der vorgeschlagenen Kandidaten zum Aufsichtsratsmitglied bestellt wird.42) 4.

Beachtung der Geschlechterquote (§ 104 Abs. 5)

15 In § 104 Abs. 5 ist durch das Erste Führungspositionen-Gesetz43) ausdrücklich klargestellt worden,44) dass bei den dort genannten Gesellschaften im Falle der gerichtlichen Ergänzung der Aufsichtsratsmitglieder gemäß § 104 Abs. 1 – 4 das Gericht ebenfalls an die Einhaltung der Mindestquote gemäß § 96 Abs. 2 Satz 1 – 5 gebunden ist.45) Ein Widerspruch _____________ 35) 36) 37) 38) 39)

40) 41) 42)

43) 44) 45)

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Habersack in: MünchKomm-AktG, § 104 Rz. 32; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 104 Rz. 12. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 104 Rz. 33; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 104 Rz. 13. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 104 Rz. 33; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 104 Rz. 13. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 104 Rz. 33, Fn. 83; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 104 Rz. 13; Fett/Theusinger, AG 2010, 425, 432. Hölters-Simons, AktG, § 104 Rz. 28; Koch, AktG, § 104 Rz. 13; Wasse, AG 2011, 685, 686 f.; a. A. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 104 Rz. 33 (soweit die Gesellschaft einen solchen Experten nicht hat); Fett/Theusinger, AG 2010, 425, 432; nach dem Entfall des Kriteriums der „Unabhängigkeit“ (s. dazu § 100 Rz. 3) sind im Antrag jedenfalls diesbezügliche Ausführungen entbehrlich; s. dazu Wandt, AG 2016, 877, 883. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 104 Rz. 33 und § 100 Rz. 11 f. sowie 51 ff., Hölters-Simons, AktG, § 104 Rz. 28. OLG Stuttgart, Beschl. v. 24.2.2017 – 20 W 8/16, ZIP 2017, 671 = Der Konzern 2017, 301; BayObLG, Beschl. v. 20.8.1997 – 3Z BR 193/97, ZIP 1997, 1883, 1884; OLG München, Beschl. v. 12.7.2006 – 31 Wx 47/06, ZIP 2006, 1770, 1771. OLG Stuttgart, Beschl. v. 24.2.2017 – 20 W 8/16, ZIP 2017, 671, 672 = Der Konzern 2017, 301; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 104 Rz. 14; für Berücksichtigung des mutmaßlichen Willens des grundsätzlich bestellungsberechtigten Gremiums: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 104 Rz. 35 m. w. N.; dem nicht folgend und für die Bestellung eines „neutralen“ Mitglieds: OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 8.9.2014 – 20 W 148/14, ZIP 2015, 170, 174. Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im Öffentlichen Dienst (Führungspositionengesetz – FüPoG) v. 24.4.2015, BGBl. I 2015, 642; ausführlich dazu Seibt, ZIP 2015, 1193 ff. Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 122. Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 122; näher dazu: Wandt, AG 2016, 877, 884; Seibt, ZIP 2015, 1193, 1198 f. und 1201; Vetter, DB 2018, 3104, 3108 – auch zur Bindung an eine Zielgröße nach § 111 Abs. 5 Satz 1.

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§ 104

Bestellung durch das Gericht

gegen die Gesamterfüllung nach § 96 Abs. 2 Satz 5 bindet auch das Gericht, weshalb dann von der Getrennterfüllung auszugehen ist. Im Antrag auf gerichtliche Bestellung oder in einem gesonderten Schreiben des Vorstands ist daher darüber zu informieren, ob Widerspruch nach § 96 Abs. 2 Satz 3 erklärt wurde.46) Das Fehlen des Verweises auf § 96 Abs. 3 wird als Redaktionsversehen betrachtet, weshalb das Gericht auch die Vorgabe des § 96 Abs. 3 zu beachten hat.47) V.

Ende des Amts gerichtlich bestellter Aufsichtsratsmitglieder (§ 104 Abs. 6)

Das Amt eines gerichtlich bestellten Aufsichtsratsmitglieds endet automatisch, wenn der 16 Mangel behoben ist (§ 104 Abs. 6), etwa wenn die Hauptversammlung ein neues Mitglied gewählt und dieses die Wahl angenommen hat.48) Eines weiteren gerichtlichen Aktes (etwa Abberufung) bedarf es dann nicht mehr.49) Die gerichtliche Bestellung endet kraft Gesetzes, sobald der Aufsichtsrat wieder beschlussfähig ist (§ 104 Abs. 1) oder die Unterbesetzung entfallen ist (§ 104 Abs. 2). VI.

Auslagenersatz und Vergütung (§ 104 Abs. 7)

Nach § 104 Abs. 7 Satz 1 hat das gerichtlich bestellte Aufsichtsratsmitglied jedenfalls gegen 17 die Gesellschaft Anspruch auf Ersatz angemessener Auslagen und auch auf angemessene Vergütung.50) Hierüber kann das Gericht auf Antrag entscheiden (§ 104 Abs. 7 Satz 2).51) VII. Gerichtliches Verfahren Es gelten die Vorschriften des FamFG (§ 375 Nr. 3 FamFG) und es gilt der Amtsermitt- 18 lungsgrundsatz (§ 26 FamFG).52) 1.

Zuständigkeit

Sowohl nach § 104 Abs. 1 (Ergänzung zur Behebung der Beschlussunfähigkeit) als auch 19 nach § 104 Abs. 2 (Ergänzung des unterbesetzten Aufsichtsrats) ist das Amtsgericht (§ 23a GVG) des Gesellschaftssitzes (§ 14) zuständig, in dessen Bezirk ein Landgericht seinen Sitz hat (§ 376 Abs. 1 FamFG), sofern nicht durch eine Rechtsverordnung gemäß § 376 Abs. 2 FamFG eine Abweichung vorgesehen ist.53) Das Amtsgericht entscheidet nur auf Antrag, die Entscheidung ergeht durch zu begründenden Beschluss (§ 38 Abs. 1 und 3 FamFG). 2.

Rechtsmittel

Als Rechtsmittel gegen die gerichtliche Entscheidung ist gemäß § 58 Abs. 1 FamFG 20 i. V. m. § 104 Abs. 1 Satz 5, Abs. 2 Satz 4 AktG die Beschwerde statthaft.54) Das Be_____________ 46) Seibt, ZIP 2015, 1193, 1198 f. und 1201; Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, AktG, § 104 Rz. 20; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 104 Rz. 14a. 47) Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, AktG, § 104 Rz. 20; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 104 Rz. 14a; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 104 Rz. 24b. 48) OLG München, Beschl. v. 12.7.2006 – 31 Wx 47/06, ZIP 2006, 1770, 1771. 49) BayObLG, Beschl. v. 9.7.2004 – 3Z BR 099/04, ZIP 2004, 2190, 2191. 50) Hölters-Simons, AktG, § 104 Rz. 36 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 104 Rz. 17. 51) Ausführlich hierzu: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 104 Rz. 54 ff.; Hölters-Simons, AktG, § 104 Rz. 37. 52) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 104 Rz. 116; Semler/v. Schenck-Gasteyer, Der Aufsichtsrat, § 104 Rz. 137 ff. 53) S. dazu Jänig/Leißring, ZIP 2010, 110, 112. 54) S. dazu OLG Hamm, Beschl. v. 16.12.2010 – 15 W 538/10, ZIP 2011, 372, 373; Jänig/Leißring, ZIP 2010, 110, 117 und 119.

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§ 105

Unvereinbarkeit der Zugehörigkeit zum Vorstand und zum Aufsichtsrat

schwerdegericht ist bei der Überprüfung der Ermessensentscheidung des Registergerichts nicht auf Ermessensfehler beschränkt, sondern kann sein Ermessen an die Stelle des Amtsgerichts setzen.55) Nach § 59 Abs. 1 FamFG ist bei einem stattgebenden Beschluss jeder Antragsberechtigte beschwerdebefugt, bei Zurückweisung des Antrags nur der Antragssteller (§ 59 Abs. 2 FamFG) und jeder, der den Antrag hätte stellen können.56) 3.

Kosten

21 Mangels spezieller Kostenregelung in § 104 richten sich die Höhe der Kosten und die Kostentragungspflicht nach dem GNotKG57) (Geschäftswert erstinstanzliches Verfahren gemäß § 67 Abs. 1 Nr. 1 GNotKG: 60.000 €; Beschwerdeverfahren § 61 GNotKG).58) Die Kostentragungspflicht trifft nach allgemeinen Grundsätzen den Antragsteller als Veranlassungsschuldner (§ 21 Abs. 1 GNotKG). Soweit er gegenüber der Gesellschaft zur Antragstellung verpflichtet war, besteht ein Anspruch auf Auslagenerstattung.59) _____________ 55) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 8.9.2014 – 20 W 148/14, ZIP 2015, 170, 173; OLG Stuttgart, Beschl. v. 24.2.2017 – 20 W 8/16, ZIP 2017, 671, 672 = Der Konzern 2017, 301. 56) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 8.9.2014 – 20 W 148/14, ZIP 2015, 170, 173. 57) Gesetz über Kosten der freiwilligen Gerichtsbarkeit für Gerichte und Notare (Gerichts- und Notarkostengesetz – GNotKG) v. 23.7.2013, BGBl. I 2013, 2586. 58) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 104 Rz. 46; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 104 Rz. 132; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 104 Rz. 7; zur Festsetzung des Geschäftswerts für die Bestellung mehrerer Aufsichtsratsmitglieder: OLG München, Beschl. v. 15.2.2018 – 31 Wx 222/17, AG 2018, 585. 59) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 104 Rz. 46; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 104 Rz. 133; HoffmannBecking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 30 Rz. 63 (Stellen die Arbeitnehmervertreter den Antrag, so sind sie auch zur Kostentragung verpflichtet); zum alten Recht: OLG Düsseldorf, Beschl. v. 1.2.1994 – 10 W 1/94, AG 1994, 424.

§ 105 Unvereinbarkeit der Zugehörigkeit zum Vorstand und zum Aufsichtsrat Werner Paul Schick

(1) Ein Aufsichtsratsmitglied kann nicht zugleich Vorstandsmitglied, dauernd Stellvertreter von Vorstandsmitgliedern, Prokurist oder zum gesamten Geschäftsbetrieb ermächtigter Handlungsbevollmächtigter der Gesellschaft sein. (2) 1Nur für einen im voraus begrenzten Zeitraum, höchstens für ein Jahr, kann der Aufsichtsrat einzelne seiner Mitglieder zu Stellvertretern von fehlenden oder verhinderten Vorstandsmitgliedern bestellen. 2Eine wiederholte Bestellung oder Verlängerung der Amtszeit ist zulässig, wenn dadurch die Amtszeit insgesamt ein Jahr nicht übersteigt. 3Während ihrer Amtszeit als Stellvertreter von Vorstandsmitgliedern können die Aufsichtsratsmitglieder keine Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied ausüben. 4Das Wettbewerbsverbot des § 88 gilt für sie nicht. Literatur: Bulgrin/Wolf, Die Delegation von Aufsichtsratsmitgliedern in den Vorstand gemäß § 105 Abs. 2 AktG – Ein Fremdkörper im aktienrechtlichen Corporate Governance-Gefüge?, AG 2020, 109; Fleischer, Gesundheitsprobleme eines Vorstandsmitglieds im Lichte des Aktienund Kapitalmarktrechts, NZG 2010, 561; Heidbüchel, Das Aufsichtsratsmitglied als Vorstandsvertreter, WM 2004, 1317; Lange, Der Wechsel aus dem Vorstand in den Aufsichtsrat, NZG 2004, 265; Wirth, Anforderungsprofil und Inkompatibilitäten für Aufsichtsratsmitglieder, ZGR 2005, 327.

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Werner Paul Schick

Unvereinbarkeit der Zugehörigkeit zum Vorstand und zum Aufsichtsrat

§ 105

Übersicht I. Gegenstand und Zweck der Norm ............................................ 1 II. Inkompatibilität von Vorstandsund Aufsichtsratsmandat ................. 3 III. Rechtsfolgen von Verstößen ........... 6 I.

IV. Vertretung eines Vorstandsmitglieds durch ein Aufsichtsratsmitglied (§ 105 Abs. 2) ...................... 7 V. Rechtsstellung des Stellvertreters .......................................... 10

Gegenstand und Zweck der Norm

Durch die in § 105 Abs. 1 vorgesehene Unvereinbarkeit des Aufsichtsratsmandats mit 1 der Vorstandsmitgliedschaft und bestimmter leitender Positionen (Prokurist gemäß §§ 48 f. HGB oder zum gesamten Geschäftsbetrieb ermächtigter Handlungsbevollmächtigter gemäß § 54 Abs. 1 Alt. 1 HGB) der Gesellschaft wird die Funktionstrennung von Vorstand und Aufsichtsrat personell abgesichert.1) § 105 Abs. 2 lässt es als Ausnahmefall2) zu, dass Aufsichtsratsmitglieder für einen begrenz- 2 ten Zeitraum zu Stellvertretern von Mitgliedern und auch des Vorsitzenden des Vorstands bestellt werden. Hierdurch soll die Entscheidungsfreiheit des Aufsichtsrats insoweit geschützt werden, als die vorübergehende Besetzung einer Vakanz durch ein Aufsichtsratsmitglied ermöglicht wird und eine überstürzte Neubesetzung unterbleiben kann.3) II.

Inkompatibilität von Vorstands- und Aufsichtsratsmandat

Die gleichzeitige Mitgliedschaft in Vorstand und Aufsichtsrat ist unzulässig.4) Unzu- 3 lässig ist auch die gleichzeitige Ausübung des Aufsichtsratsmandats sowie die Tätigkeit als Prokurist oder als zum gesamten Geschäftsbetrieb ermächtigter Handlungsbevollmächtigter der Gesellschaft. Die Beschränkung der Unvereinbarkeit auf Vorstandsmitglieder, Prokuristen und Bevollmächtigte mit Generalhandlungsvollmacht nach § 54 Abs. 1 Alt. 1 HGB dient der Rechtsklarheit.5) Angestellte der Gesellschaft, die andere als die in § 105 Abs. 1 ausdrücklich genannten Funktionen ausüben, können Mitglieder des Aufsichtsrats sein. § 6 Abs. 2 Satz 1 MitbestG enthält für dem MitbestG unterliegende Gesellschaften eine Ausnahme; abweichend von § 105 Abs. 1 sind danach auch Prokuristen als Aufsichtsratsmitglied der Arbeitnehmer wählbar, wenn sie dem Vorstand nicht unmittelbar unterstellt sind und die Prokura nicht für den gesamten Geschäftsbereich des Vorstands ausüben dürfen.6) Die Unvereinbarkeitsregel des § 105 Abs. 1 gilt nur für die gleichzeitige Tätigkeit in 4 Vorstand und Aufsichtsrat. Nicht erfasst wird die aufeinander folgende Mitgliedschaft in Vorstand und Aufsichtsrat. § 105 Abs. 1 ist auf den Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat derselben Gesellschaft nicht analog anzuwenden.7) Bei börsennotierten Gesellschaften (§ 3 Abs. 2) ist aber die Karenzzeit nach § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 zu beachten (siehe dazu § 100 Rz. 12 f.). Der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) enthält für börsennotierte Gesellschaften in C. 11 eine weitere einschränkende Empfehlung (nicht mehr als zwei ehemalige Vorstandsmitglieder im Aufsichtsrat).8) _____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8)

Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 105 Rz. 6; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 1. Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 34; ausführlich dazu Bulgrin/Wolf, AG 2020, 109, 110 ff. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 2; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 105 AktG Rz. 6. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 105 Rz. 1; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 9. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 105 Rz. 8; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 6. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 16; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 105 Rz. 40. LG München I, Urt. v. 15.4.2004 – 5 HK O 10813/03, ZIP 2004, 853, 855; Wirth, ZGR 2005, 327, 341. S. dazu Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 7 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 105 Rz. 2.

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§ 105

Unvereinbarkeit der Zugehörigkeit zum Vorstand und zum Aufsichtsrat

5 Aus § 105 Abs. 1 folgt kein Verbot von Doppelmandaten im Konzern.9) Die Unvereinbarkeitsregel gilt nur innerhalb derselben Gesellschaft.10) Vorstandsmitglieder der herrschenden Gesellschaft können dem Aufsichtsrat der abhängigen Gesellschaft angehören.11) Umgekehrt ist allerdings das Verbot des § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 zu beachten; eine Mitgliedschaft des gesetzlichen Vertreters einer abhängigen Gesellschaft im Aufsichtsrat der herrschenden Gesellschaft ist als Verstoß gegen das „natürliche Organisationsgefälle“ unzulässig12) (siehe dazu § 100 Rz. 10). III.

Rechtsfolgen von Verstößen

6 Es gilt das Prioritätsprinzip, weshalb die neue Rechtsstellung nicht ohne vorherige Beendigung der alten Rechtsstellung angetreten werden kann. Dabei ist zu unterscheiden, ob ein Aufsichtsratsmitglied zum Vorstandsmitglied, Prokuristen oder Bevollmächtigten mit Generalhandlungsvollmacht bestellt wurde oder ob jemand ungeachtet dieser Funktion zum Aufsichtsratsmitglied bestellt wurde.13) Ein amtierendes Vorstandsmitglied kann nur dann wirksam zum Aufsichtsratsmitglied bestellt werden, wenn es spätestens zum vorgesehenen Zeitpunkt des Amtsantritts aus dem Vorstand ausscheidet, etwa durch Niederlegung; für einen Prokuristen oder einen Generalhandlungsbevollmächtigten gilt dies entsprechend.14) Andernfalls ist die Bestellung nichtig, und zwar auch mit Blick auf den Wahlbeschluss entsprechend § 250 Abs. 1 Nr. 4.15) Soweit in der Annahme der Bestellung zum Aufsichtsratsmitglied die konkludente Niederlegung des Vorstandsmandats gesehen wird,16) kann dem nur dann gefolgt werden, wenn entsprechende konkrete Hinweise ersichtlich sind.17) Wird ein amtierendes Aufsichtsratsmitglied zum Vorstandsmitglied oder zu dem in § 105 Abs. 1 genannten leitenden Angestellten bestellt und legt es sein Aufsichtsratsmandat nicht bis spätestens mit Beginn des vorgesehenen Amtsantritts nieder, so ist bei gewollter Verknüpfung die Bestellung gemäß § 134 BGB nichtig.18) Ist die Aufgabe der Aufsichtsratsmitgliedschaft gewollt, ist die Bestellung bis zu dessen Niederlegung schwebend unwirksam; die Bestellung zum Vorstandsmitglied, Prokuristen oder Handlungsbevollmächtigten wird dann endgültig unwirksam, wenn die entsprechende Funktion ohne Niederlegung angetreten wird.19) IV.

Vertretung eines Vorstandsmitglieds durch ein Aufsichtsratsmitglied (§ 105 Abs. 2)

7 Fehlt ein Vorstandsmitglied oder ist es verhindert, kann der Aufsichtsrat nach § 105 Abs. 2 einzelne seiner Mitglieder zu Stellvertretern des betroffenen Vorstandsmitglieds bestellen. _____________ 9) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 105 Rz. 32; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 10. 10) LG München I, Urt. v. 9.6.2005 – 5 HK O 10154/04, ZIP 2005, 1555; Habersack in: MünchKommAktG, § 105 Rz. 10. 11) § 105 Abs. 1 betrifft nicht Vorstandsdoppelmandate, s. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 10; ausführlich dazu Seyfarth, Vorstandsrecht, § 7 Rz. 1 ff. 12) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 10; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 105 AktG Rz. 8; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 103 Rz. 2. 13) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 18; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 105 Rz. 6. 14) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 19; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 105 Rz. 43 f. 15) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 105 Rz. 8; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 19. 16) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 19; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 105 Rz. 27. 17) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 19; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 105 Rz. 27; a. A. Mertens in: KölnKomm-AktG, § 105 Rz. 8. 18) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 105 Rz. 44; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 105 Rz. 6; a. A. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 20. 19) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 105 Rz. 44; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 105 Rz. 6.

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Unvereinbarkeit der Zugehörigkeit zum Vorstand und zum Aufsichtsrat

§ 105

Das zu vertretende Vorstandsmitglied, das auch ein stellvertretendes i. S. des § 94 sein 8 kann,20) muss fehlen oder verhindert sein. Ein Vorstandsmitglied fehlt, wenn die gesetzlich vorgeschriebene oder durch Satzung bzw. Geschäftsordnung vorgesehene Fest- oder Höchstzahl unterschritten ist, wobei auch stellvertretende Vorstandsmitglieder mitzuzählen sind.21) Es genügt aber auch, wenn ein in der Geschäftsordnung des Vorstands vorgesehener Vorstandsposten nicht besetzt ist oder wenn ein bereits amtierendes Vorstandsmitglied wegfällt. Eine Verhinderung liegt vor, wenn ein Vorstandsmitglied infolge Krankheit,22) Abwesenheit oder aus sonstigen Gründen nicht nur vorübergehend an der Amtsausübung gehindert ist.23) Die Bestellung erfolgt durch Beschluss des Aufsichtsrats (§ 108 Abs. 1), welcher der Be- 9 kanntgabe und der Annahme durch den Bestellten bedarf.24) Erforderlich ist – sofern keine besonderen Mehrheitsanforderungen vorgesehen sind25) – die einfache Mehrheit.26) Das betroffene Aufsichtsratsmitglied darf an der Beschlussfassung mitwirken.27) Es ist streitig, ob die Bestellung einem Ausschuss überlassen werden kann28) – in der Praxis sollte daher aus Vorsichtsgründen die Bestellung durch den Aufsichtsrat beschlossen werden. Der Beschluss muss beinhalten, welches Vorstandsmitglied ersetzt werden soll; eine im Voraus und vorsorglich beschlossene Bestellung ist nicht zulässig.29) V.

Rechtsstellung des Stellvertreters

Das entsandte Aufsichtsratsmitglied wird Vorstandsmitglied, bleibt i. Ü. jedoch unter Ruhen 10 seines Mandats zugleich Aufsichtsratsmitglied; es kann gemäß § 105 Abs. 2 Satz 3 seine Aufsichtsratstätigkeit nicht ausüben. Es behält aber sein Aufsichtsratsmandat, weshalb im Aufsichtsrat keine Vakanz entsteht.30) Das bestellte Aufsichtsratsmitglied tritt in die Rechtsstellung des fehlenden oder verhin- 11 derten Vorstandsmitglieds ein. Die Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis entspricht ebenfalls der des fehlenden oder verhinderten Vorstandsmitglieds, soweit der Bestellungs-

_____________ 20) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 23; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 105 Rz. 7; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 105 AktG Rz. 27. 21) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 105 Rz. 7; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 105 Rz. 57; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 105 AktG Rz. 27; einschränkend Bulgrin/Wolf, AG 2020, 109, 112, Rz. 12. 22) Ausführlich dazu Fleischer, NZG 2010, 561, 565 f. 23) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 25; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 105 AktG Rz. 26. 24) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 28; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 105 Rz. 9. 25) S. dazu Heidbüchel, WM 2004, 1317, 1319. 26) Dies gilt auch für dem MitbestG unterliegende Gesellschaften: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 28; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 105 AktG Rz. 34. 27) Spindler in: BeckOGK-AktR, § 105 AktG Rz. 32; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 105 Rz. 16; Semler/Schenck-Gasteyer, Der Aufsichtsrat, § 105 Rz. 53; a. A.: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 28 (Stimmverbot des abzuordnenden Aufsichtsratsmitglieds); Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 105 Rz. 64. 28) Dafür Wiesner in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 24 Rz. 31; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 105 Rz. 9; ablehnend: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 28; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 105 AktG Rz. 33; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 7 Rz. 475; Semler/SchenckGasteyer, Der Aufsichtsrat, § 105 Rz. 54. 29) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 28; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 105 AktG Rz. 28; Semler/Schenck-Gasteyer, Der Aufsichtsrat, § 105 Rz. 55. 30) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 35; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 29 Rz. 14.

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§ 106

Bekanntmachung der Änderungen im Aufsichtsrat

beschluss keine andere Regelung enthält.31) Das als Stellvertreter eines Vorstandsmitglieds bestellte Aufsichtsratsmitglied hat alle Rechte und Pflichten eines Vorstandsmitglieds mit Ausnahme des Wettbewerbsverbots (§ 105 Abs. 2 Satz 4);32) es ist aber kein Stellvertreter i. S. des § 94 oder des § 164 BGB.33) 12 Die Bestellung nach § 105 Abs. 2 Satz 1 ist zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden und einzutragen (§ 81).34) _____________ 31) 32) 33) 34)

Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 105 Rz. 75; Habersack in: MünchKomm-AktG, AktG, § 105 Rz. 34. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 105 Rz. 76; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 34. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 105 Rz. 70; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 29 Rz. 15. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 105 Rz. 62; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 105 Rz. 32 f.

§ 106 Bekanntmachung der Änderungen im Aufsichtsrat Werner Paul Schick

Der Vorstand hat bei jeder Änderung in den Personen der Aufsichtsratsmitglieder unverzüglich eine Liste der Mitglieder des Aufsichtsrats, aus welcher Name, Vorname, ausgeübter Beruf und Wohnort der Mitglieder ersichtlich ist, zum Handelsregister einzureichen; das Gericht hat nach § 10 des Handelsgesetzbuchs einen Hinweis darauf bekannt zu machen, dass die Liste zum Handelsregister eingereicht worden ist. Literatur: Lübke, Die Nichtigkeitsklage des Insolvenzverwalters, die Zustellung der Klageschrift und die Liste der Aufsichtsratsmitglieder als Rechtsscheinträger, ZGR 2021, 156; Noack, Neue Publizitätspflichten und Publizitätsmedien für Unternehmen – eine Bestandsaufnahme nach EHUG und TUG, WM 2007, 377; Pentz, Heilung nichtiger Aufsichtsratsbestellungen durch § 242 AktG?, NZG 2017, 1211; Seibert/Deckert, Das Gesetz über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister (EHUG) – Der „Big Bang“ im Recht der Unternehmenspublizität, DB 2006, 2446; Wachter, Aufwertung der Liste der Aufsichtsratsmitglieder zu einem allgemeinen Rechtsscheinträger, BB 2020, 1474; Wachter, Liste der Aufsichtsratsmitglieder, AG 2016, 776; Zöllner, Vereinheitlichung der Informationswege bei Aktiengesellschaften?, NZG 2003, 354.

Übersicht I. Gegenstand und Zweck der Norm .................................................. 1 II. Pflicht zur Einreichung einer Liste .................................................... 3 I.

III. Gerichtliche Bekanntmachung ....... 6 IV. Wirkung der Bekanntmachung ....... 7

Gegenstand und Zweck der Norm

1 Die Norm sieht bei jeder Änderung in den Personen der Aufsichtsratsmitglieder die Pflicht des Vorstands zur unverzüglichen Einreichung einer aktuellen Aufsichtsratsliste1) anstelle der bis Ende 2006 vorgesehenen Pflicht zur Bekanntmachung von Wechseln im Aufsichtsrat in den Gesellschaftsblättern vor.2) Dies bezweckt die (übersichtliche) Pub_____________ 1)

2)

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So seit der Neufassung durch das Gesetz über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister (EHUG) v. 10.11.2006, BGBl. I 2006, 2553; ausführlich dazu Seibert/Decker, DB 2006, 2446 ff.; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 106 Rz. 2. S. dazu etwa Noack, WM 2007, 377 f.; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 106 Rz. 2; zur alten Rechtslage: Zöllner, NZG 2003, 354, 356; Hopt/Roth in: Großkomm-AktG, § 106 Rz. 1 f.

Werner Paul Schick

Bekanntmachung der Änderungen im Aufsichtsrat

§ 106

lizität von personellen Änderungen im Aufsichtsrat.3) Die Beschränkung auf eine Hinweisbekanntmachung soll der Entlastung der Unternehmen von Bürokratieaufwand dienen und geht davon aus, dass die Liste der Aufsichtsratsmitglieder ohne weiteres elektronisch einsehbar ist.4) Durch die anschließende Hinweisbekanntmachung des Gerichts (§ 10 HGB) über die 2 Einreichung der Liste wird dem Rechtsverkehr die Möglichkeit der Kenntnisnahme der personellen Zusammensetzung des Aufsichtsrats gegeben, und zwar durch Einsichtnahme im elektronischen Handelsregister. II.

Pflicht zur Einreichung einer Liste

Bei jeder Änderung der personellen Zusammensetzung muss der Vorstand unverzüglich, 3 mithin ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 Abs. 1 Satz 1 BGB), eine Liste der Aufsichtsratsmitglieder elektronisch zum Handelsregister einreichen.5) In Anbetracht der jüngsten Rechtsprechung, die die Liste der Aufsichtsratsmitglieder zu einem allgemeinen Rechtsscheinträger aufgewertet hat,6) verdient das Erfordernis der Unverzüglichkeit besondere Beachtung.7) Im Falle der Wahl eines neuen Aufsichtsratsmitglieds sollte – sofern die Wahl angenommen wurde (siehe dazu § 101 Rz. 7) – der Ablauf der Anfechtungsfrist nicht abgewartet8) und auch trotz anhängiger Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage die Liste eingereicht werden.9) Änderung ist jedes Ausscheiden und Eintreten (etwa aufgrund Wahl, Entsendung oder gerichtlicher Bestellung), aber auch bloßes Ausscheiden (etwa aufgrund Niederlegung oder Versterben).10) Die bloße Wiederwahl eines amtierenden Aufsichtsratsmitglieds, die Verlängerung der Amtszeit oder Änderungen des Namens, Berufs oder Wohnorts lösen keine Einreichungspflicht aus.11) Die erforderliche „Änderung in den Personen der Aufsichtsratsmitglieder“ liegt bei einer Veränderung im (stellvertretenden) Vorsitz des Aufsichtsrats ebenfalls nicht vor.12) Auch Änderungen in der Zusammensetzung von Ausschüssen begründen nicht die Pflicht nach § 106.13) Die einzureichende aktuelle Liste muss den Nachnamen14) und Vornamen sowie den aus- 4 geübten Beruf15) und den Wohnort sämtlicher Aufsichtsratsmitglieder enthalten.16) Zum Wohnort genügt die Benennung der Gemeinde, weitere Angaben (etwa die komplette Adresse) sind nicht erforderlich.17) Die Liste gibt immer nur den aktuellen Stand der personellen Zusammensetzung des Aufsichtsrats wieder.18) Ausgeschiedene Aufsichtsratsmitglieder sind nicht anzugeben. _____________ 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9) 10) 11) 12) 13) 14) 15) 16) 17) 18)

K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 106 Rz. 1; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 106 Rz. 1. Beschlussempfehlung und Bericht d. RA (6. Ausschuss) z. EHUG, BT-Drucks. 16/2781, S. 88. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 106 Rz. 6 und Rz. 10; Noack, WM 2007, 377, 378. BGH, Urt. v. 21.4.2020 – II ZR 412/17, LS und Rz. 66 ff., ZIP 2020, 1064, 1069 f.; so zuvor schon Habersack in: MünchKomm-AktG, § 106 Rz. 31; Hopt/Roth in: Großkomm-AktG, § 106 Rz. 31. S. dazu Lübke, ZGR 2020, 156, 166 ff.; Wachter, BB 2020, 1474, 1479. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 106 Rz. 8; Hopt/Roth in: Großkomm-AktG, § 106 Rz. 9. Hölters-Simons, AktG, § 106 Rz. 6. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 106 Rz. 6 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 106 Rz. 2. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 106 Rz. 6; Wachter, AG 2016, 776, 779 f. (zweifelnd bei Namensänderungen). Habersack in: MünchKomm-AktG, § 106 Rz. 6; Wachter, AG 2016, 776, 779 f. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 106 Rz. 6; Wachter, AG 2016, 776, 779 f. Hopt/Roth in: Großkomm-AktG, § 106 Rz. 18. Ausführlich dazu Wachter, AG 2016, 776, 777 f. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 106 Rz. 9; Spindler/Stilz-Spindler, AktG, § 106 Rz. 7. Hopt/Roth in: Großkomm-AktG, § 106 Rz. 17; Hölters-Simons, AktG, § 106 Rz. 5. Noack, WM 2007, 377; Wachter, AG 2016, 776.

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§ 107

Innere Ordnung des Aufsichtsrats

5 Der Vorstand muss bei der Einreichung in vertretungsberechtigter Zahl handeln; unechte Gesamtvertretung ist möglich.19) Die Einreichung muss in elektronischer Form (§ 12 Abs. 2 HGB) erfolgen und kann nach § 14 HGB durch Zwangsgeldfestsetzung erzwungen werden.20) Die Einreichung muss den Vorstand als Urheber erkennen lassen, wobei nicht einheitlich beurteilt wird, ob die Liste vom Vorstand unterzeichnet werden muss.21) Da die Registergerichte teilweise die Unterzeichnung verlangen, empfiehlt sich diese. III.

Gerichtliche Bekanntmachung

6 Abweichend von der früher geltenden Regelung (Bekanntmachung durch Vorstand unter Einreichung eines Belegs zum Handelsregister) hat das Gericht lediglich eine Hinweisbekanntmachung (§ 10 HGB) über die Einreichung der Liste vorzunehmen22) – die Liste als solche wird nicht bekannt gemacht.23) Die Hinweisbekanntmachung hat gemäß § 10 Satz 1 HGB im jeweiligen Informations- und Kommunikationssystem zu erfolgen.24) Die Liste ist nach § 9 HGB elektronisch einsehbar. IV.

Wirkung der Bekanntmachung

7 Die Einreichung der Liste und die Hinweisbekanntmachung haben bloße Informationsfunktion. Da keine Eintragung im Handelsregister erfolgt, greift auch der Schutz des § 15 HGB nicht ein.25) Die Liste der Aufsichtsratsmitglieder kann jedoch Rechtsscheinträger sein.26) Gegenüber gutgläubigen Dritten bleibt die Vertretungsmacht von Aufsichtsratsmitgliedern, die in der Liste gemäß § 106 aufgeführt sind, auch nach der Amtsbeendigung bis zur Aktualisierung der Liste bestehen.27) _____________ 19) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 106 Rz. 10; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 106 Rz. 7. 20) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 106 Rz. 2; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 106 Rz. 6 und 11. 21) Dafür Semler/v. Schenck-Gasteyer, Der Aufsichtsrat, § 106 Rz. 17; Hölters-Simons, AktG, § 106 Rz. 7 fakultative Unterzeichnung; a. A. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 106 Rz. 10; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 106 Rz. 2. 22) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 106 Rz. 1 und 5; Noack, WM 2007, 377, 378. 23) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 106 Rz. 12; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 106 Rz. 3. 24) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 106 Rz. 12; Pentz, NZG 2017, 1211, 1213; näher Hüffer/KochKoch, AktG, § 106 Rz. 3: Die Systeme sind in einem bundesweiten System (Registerportal der Länder) zusammengeführt worden; durch das Gesetz zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) v. 5.7.2021, BGBl. I 2021, 3338, ist § 10 HGB geändert worden und es bedarf nicht mehr der Bekanntmachung in einem Portal – es genügt künftig, dass die Information im jeweiligen Register erstmalig (online) zum Abruf bereitgestellt wird (gemäß Art. 31 Abs. 1 DiRUG tritt das DiRUG am 1.8.2022 in Kraft). 25) BGH, Urt. v. 21.4.2020 – II ZR 412/17, Rz. 64, ZIP 2020, 1064, 1069; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 106 Rz. 6; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 106 Rz. 13. 26) BGH, Urt. v. 21.4.2020 – II ZR 412/17, Rz. 64 ff., ZIP 2020, 1064, 1069 f.; ausführlich dazu Lübke, ZGR 2021, 156, 166 ff.; Wachter, BB 2020, 1474, 1477 ff. 27) BGH, Urt. v. 21.4.2020 – II ZR 412/17, LS 4 und Rz. 66, ZIP 2020, 1064, 1069 f.; Hopt/Roth in: Großkomm-AktG, § 106 Rz. 31; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 106 Rz. 13.

§ 107 Innere Ordnung des Aufsichtsrats Werner Paul Schick

(1) 1Der Aufsichtsrat hat nach näherer Bestimmung der Satzung aus seiner Mitte einen Vorsitzenden und mindestens einen Stellvertreter zu wählen. 2Der Vorstand hat zum Handelsregister anzumelden, wer gewählt ist. 3Der Stellvertreter hat nur dann die Rechte und Pflichten des Vorsitzenden, wenn dieser verhindert ist. (2) 1Über die Sitzungen des Aufsichtsrats ist eine Niederschrift anzufertigen, die der Vorsitzende zu unterzeichnen hat. 2In der Niederschrift sind der Ort und der Tag der 816

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Sitzung, die Teilnehmer, die Gegenstände der Tagesordnung, der wesentliche Inhalt der Verhandlungen und die Beschlüsse des Aufsichtsrats anzugeben. 3Ein Verstoß gegen Satz 1 oder Satz 2 macht einen Beschluß nicht unwirksam. 4Jedem Mitglied des Aufsichtsrats ist auf Verlangen eine Abschrift der Sitzungsniederschrift auszuhändigen. (3) 1Der Aufsichtsrat kann aus seiner Mitte einen oder mehrere Ausschüsse bestellen, namentlich, um seine Verhandlungen und Beschlüsse vorzubereiten oder die Ausführung seiner Beschlüsse zu überwachen. 2Er kann insbesondere einen Prüfungsausschuss bestellen, der sich mit der Überwachung des Rechnungslegungsprozesses, der Wirksamkeit des internen Kontrollsystems, des Risikomanagementsystems und des internen Revisionssystems sowie der Abschlussprüfung, hier insbesondere der Auswahl und der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers, der Qualität der Abschlussprüfung und der vom Abschlussprüfer zusätzlich erbrachten Leistungen, befasst. 3Der Prüfungsausschuss kann Empfehlungen oder Vorschläge zur Gewährleistung der Integrität des Rechnungslegungsprozesses unterbreiten. 4Der Aufsichtsrat der börsennotierten Gesellschaft kann außerdem einen Ausschuss bestellen, der über die Zustimmung nach § 111b Absatz 1 beschließt. 5An dem Geschäft beteiligte nahestehende Personen im Sinne des § 111a Absatz 1 Satz 2 können nicht Mitglieder des Ausschusses sein. 6Er muss mehrheitlich aus Mitgliedern zusammengesetzt sein, bei denen keine Besorgnis eines Interessenkonfliktes auf Grund ihrer Beziehungen zu einer nahestehenden Person besteht. 7Die Aufgaben nach Absatz 1 Satz 1, § 59 Abs. 3, § 77 Abs. 2 Satz 1, § 84 Abs. 1 Satz 1 und 3, Absatz 2, 3 Satz 2 und 3 sowie Absatz 4 Satz 1, § 87 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 und 2, § 111 Abs. 3, §§ 171, 314 Abs. 2 und 3 sowie Beschlüsse, daß bestimmte Arten von Geschäften nur mit Zustimmung des Aufsichtsrats vorgenommen werden dürfen, können einem Ausschuß nicht an Stelle des Aufsichtsrats zur Beschlußfassung überwiesen werden. 8Dem Aufsichtsrat ist regelmäßig über die Arbeit der Ausschüsse zu berichten. (4) 1Der Aufsichtsrat einer Gesellschaft, die Unternehmen von öffentlichem Interesse nach § 316a Satz 2 des Handelsgesetzbuchs ist, hat einen Prüfungsausschuss im Sinne des Absatzes 3 Satz 2 einzurichten. 2Besteht der Aufsichtsrat nur aus drei Mitgliedern, ist dieser auch der Prüfungsausschuss. 3Der Prüfungsausschuss muss die Voraussetzungen des § 100 Absatz 5 erfüllen. 4Jedes Mitglied des Prüfungsausschusses kann über den Ausschussvorsitzenden unmittelbar bei den Leitern derjenigen Zentralbereiche der Gesellschaft, die in der Gesellschaft für die Aufgaben zuständig sind, die den Prüfungsausschuss nach Absatz 3 Satz 2 betreffen, Auskünfte einholen. 5Der Ausschussvorsitzende hat die eingeholte Auskunft allen Mitgliedern des Prüfungsausschusses mitzuteilen. 6Werden Auskünfte nach Satz 4 eingeholt, ist der Vorstand hierüber unverzüglich zu unterrichten. Literatur: Arbeitskreis Externe und Interne Überwachung der Unternehmung (AKEIÜ) der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e. V., Auswirkungen der Abschlussprüfungsreform auf den Prüfungsausschuss, DB 2017, 47; Barg, Regulierung von Related Party Transactions im deutschen Aktienrecht, AG 2020, 149; Behme/Zickgraf, Anforderungen an die Qualifikationen von Aufsichtsratsmitgliedern nach dem Abschlussprüfungsreformgesetz (AReG), AG 2016, R 132; Blöink/Woodtli, Reform der Abschlussprüfung: Die Umsetzung der prüfungsbezogenen Vorgaben im RegE eines Abschlussprüfungsreformgesetzes (AReG), Der Konzern 2016, 75; Börsig/Löbbe, Die gewandelte Rolle des Aufsichtsrats, in: Festschrift für Michael HoffmannBecking, 2013, S. 125; Döring/Grau, Verfahren und Mehrheitserfordernisse für die Bestellung und Abwahl des Aufsichtsratsvorsitzenden in mitbestimmten Unternehmen, NZG 2010, 1328; Dreher/Hoffmann, Die Wirksamkeitsprüfung durch den Prüfungsausschuss nach § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG, ZGR 2016, 445; Drinhausen/Marsch-Barner, Die Rolle des Aufsichtsratsvorsitzenden in der börsennotierten Aktiengesellschaft, AG 2014, 337; Fleischer/Bauer/Wansleben,

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Innere Ordnung des Aufsichtsrats

Investorenkontakte des Aufsichtsrats. Zulässigkeit und Grenzen, DB 2015, 360; Foerster, Beweislastverteilung und Einsichtsrecht bei Inanspruchnahme ausgeschiedener Organmitglieder, ZHR 176 (2012) 221; Fromholzer/Hauser, Verschärfte Anforderungen und Haftungsrisiken für Aufsichtsräte nach dem RegE des Abschlussprüfungsreformgesetzes, DB 2016, 401; Gesell, Prüfungsausschuss und Aufsichtsrat nach dem BilMoG, ZGR 2011, 361; Grunewald, Der Einfluss des Aufsichtsrats auf die Geschäftsführung – was ist erwünscht, was ist erlaubt?, ZIP 2016, 2009; Habersack, Aufsichtsrat und Prüfungsausschuss nach dem BilMoG, AG 2008, 98; Hasselbach/Seibel, Ad-hoc-Ausschüsse des Aufsichtsrats, AG 2012, 114; Hennrichs, Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz (FISG) – die „richtigen Antworten auf Wirecard“?, DB 2021, 268; Hirt/Hopt/Mattheus, Dialog zwischen dem Aufsichtsrat und Investoren, AG 2016, 725; Hoffmann-Becking, Der Aufsichtsrat der AG und sein Vorsitzender in der Hauptversammlung, NZG 2017, 281; Hopt/Kumpan, Governance in börsennotierten und anderen bedeutenden Gesellschaften – Vorstand und Aufsichtsrat auf dem Prüfstand nach dem Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz (FISG), AG 2021, 129; Koch, Investorengespräche des Aufsichtsrats, AG 2017, 129; Leuering/Rubel, Aufsichtsrat und Prüfungsausschuss nach dem BilMoG, NJWSpezial 2008, 559; Mannert/Kramarsch, Der Vergütungsausschuss – ein Novum in Industrieunternehmen, Der Aufsichtsrat 2015, 112; Markworth, Der Aufsichtsrats-Ausschuss zu Related Party Transactions nach § 107 Abs. 3 Sätze 4 – 6 AktG, AG 2020, 166; Nodoushani, Das neue Anforderungsprofil für Aufsichtsräte von Unternehmen von öffentlichem Interesse, AG 2016, 381; Nonnenmacher/Wemmer/v. Werder, Anforderungen an Prüfungsausschüsse – Leitfaden für Prüfungsausschüsse nach der Abschlussprüfungsreform 2016, DB 2016, 2826; Plagemann, Koordinierung der Aufsichtsratsarbeit bei überschneidenden Aufgabenzuweisungen, NZG 2014, 1404; Probst/Theisen, Die Rolle des Aufsichtsrat bei der Unternehmensberichterstattung – Ergebnisse der 14. Panel-Befragung, Der Aufsichtsrat 2014, 154; Redenius-Hövermann, Zusammenarbeit zwischen Aufsichtsrat und Abschlussprüfer im Sinne guter Corporate Governance, WPg 2017, 349; Rodewald/Ternick, Babylon im Unternehmen – rechtlicher Rahmen für die Sprache in Aufsichtsrat, Vorstand und Hauptversammlung, BB 2011, 910; Roth, Information und Organisation des Aufsichtsrats, ZGR 2012, 343; v. Schenck, Der Aufsichtsrat und sein Vorsitzender – Eine Regelungslücke, AG 2010, 649; Schick, Gespräche des Aufsichtsrats mit Investoren, WPg 2018, 1379; Schilha/Theusinger, Aufsichtsratskommunikation – insbesondere in der Unternehmenskrise: Aktienrechtsdogmatik trifft auf Praxiserwartung, NZG 2019, 521; Schlitt, Der aktive Aufsichtsratsvorsitzende, DB 2005, 2007; Semler, Ausschüsse des Aufsichtsrats, AG 1988, 60; Theisen, Protokollformen im Aufsichtsrat, Der Aufsichtsrat 2014, 56; Vetter, Das neue Auskunftsrecht des Prüfungsausschusses nach § 107 Abs. 4 AktG, AG 2021, 584; Vetter, Shareholders Communication – Wer spricht mit den institutionellen Investoren?, AG 2016, 873; Vetter, Der Prüfungsausschuss in der AG nach dem BilMoG, ZGR 2010, 751; Weiss, Mitbestimmung im Konzern – zur praxisgerechten Anwendung und Reform des § 32 MitbestG, Der Konzern 2004, 590.

Übersicht I. Gegenstand und Zweck der Norm .................................................. 1 II. Bestellung des Aufsichtsratsvorsitzenden und seiner Stellvertreter (§ 107 Abs. 1) .................... 4 1. Wahl durch den Aufsichtsrat ............ 4 2. Anmeldung zum Handelsregister (§ 107 Abs. 1 Satz 2) ......................... 7 3. Amtszeit ............................................. 9 III. Aufgaben und Befugnisse des Aufsichtsratsvorsitzenden .................................... 11 818

IV. Sitzungsniederschriften (§ 107 Abs. 2) ................................... 13 V. Ausschüsse des Aufsichtsrats (§ 107 Abs. 3, Abs. 4) ....................... 16 1. Grundlagen ....................................... 16 2. Prüfungsausschuss ............................ 20 a) Fakultativer Prüfungsausschuss .......................................... 20 b) Obligatorischer Prüfungsausschuss bei Unternehmen von öffentlichem Interesse (§ 107 Abs. 4) ............................. 23

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Innere Ordnung des Aufsichtsrats 3. Related Party TransactionsAusschuss (§ 107 Abs. 3 Sätze 4 – 6) ......................................... 25 4. Nominierungsausschuss .................. 29 5. Vermittlungsausschuss/ Beteiligungsausschuss ...................... 30 I.

6. Innere Ordnung der Ausschüsse ........................................ 31 7. Überwachung und Berichterstattung .......................................... 32 VI. Geschäftsordnung ........................... 33

Gegenstand und Zweck der Norm

Die Norm regelt nicht umfassend die innere Ordnung des Aufsichtsrats, sondern nur 1 Teilaspekte. Die innere Ordnung des Aufsichtsrats ist teilweise in anderen Vorschriften (insbesondere §§ 108 – 110) geregelt oder in § 107 bewusst offengelassen, so dass Einzelheiten der inneren Ordnung in der Satzung oder Geschäftsordnung des Aufsichtsrats geregelt werden können.1) Durch das FISG2) wurde in § 107 Abs. 3 Satz 2 klargestellt, dass die Überwachung der 2 Abschlussprüfung auch deren Qualität umfasst,3) und Absatz 4 neu gefasst. Mit der Neufassung wird die Einrichtung eines Prüfungsausschusses für Unternehmen von öffentlichem Interesse verpflichtend geregelt,4) dabei eine Erleichterung für Gesellschaften mit einem Dreier-Aufsichtsrat sowie ein unmittelbares (d. h. ohne vorherige Einschaltung des Vorstands) Auskunftsrecht jedes Mitglieds des Prüfungsausschusses vorgesehen.5) Durch das ARUG II6) sind in § 107 Abs. 3 die Sätze 4 – 6 ergänzt worden, die die Bildung 3 eines Ausschusses regeln, der über die Zustimmung zu Geschäften mit nahestehenden Personen (Related Party Transactions) entscheidet7) (siehe dazu Rz. 25 und § 111a Rz. 1). II.

Bestellung des Aufsichtsratsvorsitzenden und seiner Stellvertreter (§ 107 Abs. 1)

1.

Wahl durch den Aufsichtsrat

Nach § 107 Abs. 1 Satz 1 wählt der Aufsichtsrat aus seiner Mitte einen Vorsitzenden und 4 einen oder mehrere Stellvertreter. Wenn die Satzung nichts anderes bestimmt, bedarf der Wahlbeschluss der einfachen Stimmenmehrheit.8) Die Satzung kann hierfür die relative Mehrheit genügen lassen. Der Kandidat ist bei der Wahl nicht vom Stimmrecht ausgeschlossen.9) Die Wahl bedarf zu ihrer Wirksamkeit der Annahme. Sowohl der Aufsichtsrat als auch die Hauptversammlung können den (bloßen) Titel eines Ehrenvorsitzenden verleihen; hierdurch werden jedoch keine Rechte eines Aufsichtsratsmitglieds begründet.10) _____________ 1) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 3 und 6; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 1; Semler/ v. Schenck-Mutter, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 1 f. 2) Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität (Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz – FISG) v. 3.6.2021, BGBl. I 2021, 1534; s. dazu Hennrichs, DB 2021, 268 ff.; Hopt/Kumpan, AG 2021, 129 ff. 3) Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 116. 4) Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 116. 5) Beschlussempfehlung und Bericht d. FA z. FISG, BT-Drucks. 19/29879, S. 158. 6) Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2637. 7) S. dazu Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 107 Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 26a. 8) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 10; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 4; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 22. 9) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 10; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 42; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 19. 10) Ausführlich dazu Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 685 f.; Hüffer/KochKoch, AktG, § 107 Rz. 12; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 72 f.

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5 Nur der Aufsichtsrat kann die Wahl vornehmen, eine Übertragung – etwa auf die Hauptversammlung – ist nicht zulässig.11) Wenn der Aufsichtsrat seiner Verpflichtung nach § 107 Abs. 1 Satz 1 nicht nachkommt, kann die Hauptversammlung nicht an dessen Stelle treten.12) Besteht die Vakanz im Aufsichtsratsvorsitz seit mehr als drei Monaten, kann eine gerichtliche Ersatzbestellung analog § 104 Abs. 2 erfolgen.13) Die in Ziff. 5.4.3 Satz 3 des Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) i. d. F. vom 7.2.2017 enthaltene Empfehlung zur Bekanntgabe von Kandidatenvorschlägen für den Aufsichtsratsvorsitz ist gestrichen worden und im DCGK i. d. F. vom 16.12.2019 nicht mehr enthalten. Diese Empfehlung wurde wegen der damit verbundenen Gefährdung der Wahlfreiheit der Aufsichtsratsmitglieder sowie des Beratungsgeheimnisses teilweise ohnehin als verfehlt angesehen.14) 6 Das MitbestG enthält zwingende Sonderregelungen, nach denen die Wahl des Vorsitzenden und seines Stellvertreters im ersten Wahlgang einer Mehrheit von zwei Dritteln der Sollstärke bedarf (§ 27 Abs. 1 MitbestG); im Falle des Scheiterns auch nur eines Kandidaten stimmen im dann erforderlichen zweiten Wahlgang die Arbeitnehmer- und Anteilseignervertreter getrennt ab und es genügt jeweils die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen (§ 27 Abs. 2 MitbestG).15) Die Wahl weiterer Stellvertreter ist in mitbestimmten Gesellschaften ebenfalls grundsätzlich zulässig; jedoch ist eine Satzungsbestimmung wegen Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz unzulässig, wonach der weitere Stellvertreter ein Aktionärsvertreter sein muss.16) 2.

Anmeldung zum Handelsregister (§ 107 Abs. 1 Satz 2)

7 Der Vorstand hat nach § 107 Abs. 1 Satz 2 den Aufsichtsratsvorsitzenden und den Stellvertreter zum Handelsregister anzumelden; sind mehrere Stellvertreter gewählt worden, sind alle anzumelden. Der Vorstand muss in vertretungsberechtigter Zahl handeln, unechte Gesamtvertretung ist zulässig.17) Für die Anmeldung genügt Schriftform, öffentliche Beglaubigung der Unterschriften ist nicht erforderlich.18) In der Anmeldung sind die Namen des Vorsitzenden und seines bzw. seiner Stellvertreter anzugeben. Ob auch die Angabe der Anschriften erforderlich ist, wird unterschiedlich beurteilt.19) Da bei der Einreichung der Liste der Aufsichtsratsmitglieder nach § 106 bereits der Wohnort anzugeben ist20) (siehe § 106 Rz. 4) und nicht ersichtlich ist, warum dies nochmals erfolgen soll bzw. warum § 107 _____________ 11) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 9; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 27 und Rz. 30; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 17. 12) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 9; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 6. 13) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 9; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 6; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 660 und 673. 14) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 12; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, 6. Aufl. 2014, § 11 Rz. 663; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, 4. Aufl. 2015, § 31 Rz. 10; a. A.: Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, 7. Aufl. 2018, Rz. 1406. 15) Ausführlich hierzu Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 28 ff.; Döring/Grau, NZG 2010, 1328 f.; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 52. 16) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 123/81 (Siemens), BGHZ 83, 106, 111 f. = ZIP 1982, 434, 436; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 43; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 52. 17) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 11; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 54; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 38. 18) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 56; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 14 a. E.; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 38. 19) Dafür Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 11; ablehnend Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 56 a. E. 20) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 106 Rz. 2; Hölters-Simons, AktG, § 106 Rz. 5.

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Innere Ordnung des Aufsichtsrats

Abs. 1 Satz 2 strengere Anforderungen stellen soll, genügt die Angabe der Namen.21) Zudem sprechen Aspekte der persönlichen Sicherheit der Gewählten gegen die Angabe der Anschriften. Nach § 80 Abs. 1 Satz 1 ist der Vorsitzende des Aufsichtsrats auf allen Geschäftsbriefen 8 anzugeben. 3.

Amtszeit

Die Wahl des Aufsichtsratsvorsitzenden und seines bzw. seiner Stellvertreter erfolgt 9 grundsätzlich für die Dauer ihrer Amtszeit als Aufsichtsratsmitglied, sofern die Satzung, die Geschäftsordnung oder der Wahlbeschluss nicht etwas anderes vorsieht.22) Mit dem Ausscheiden aus dem Aufsichtsrat endet die Amtszeit automatisch.23) Auch wenn eine Wiederwahl zum Aufsichtsratsmitglied erfolgt, verlängert sich damit nicht auch automatisch die Amtszeit als Aufsichtsratsvorsitzender oder Stellvertreter.24) Die Abberufung des Vorsitzenden ist durch Beschluss des Aufsichtsrats, der derselben Mehr- 10 heit wie die Wahl bedarf, jederzeit möglich.25) Für die Abberufung aus wichtigem Grund – die nicht durch Satzungs- oder Geschäftsordnungsregelungen erschwert werden darf – genügt einfache Mehrheit; bei der Abstimmung hierüber ist der Vorsitzende vom Stimmrecht ausgeschlossen.26) Dies gilt für mitbestimmte und mitbestimmungsfreie Gesellschaften.27) III.

Aufgaben und Befugnisse des Aufsichtsratsvorsitzenden

Die Aufgaben und Befugnisse des Aufsichtsratsvorsitzenden sind im Gesetz nicht umfas- 11 send und teilweise nur verstreut geregelt.28) Sie sind grundsätzlich solche, die dem Vorsitzenden eines Kollegialorgans im Interesse der Handlungs- und Funktionsfähigkeit des Organs üblicherweise zustehen.29) Der Aufsichtsratsvorsitzende ist kein besonderes Organ der Gesellschaft, sondern als Aufsichtsratsmitglied der primus inter pares.30) Ihm obliegt insbesondere die Vorbereitung, Einberufung und Leitung der Aufsichtsratssitzungen sowie die Koordination der Arbeit des Plenums und der Ausschüsse (vgl. auch G. 7 Satz 2 DCGK). Zudem ist er ständiges Bindeglied und Informationsvermittler zwischen Vorstand und Aufsichtsrat, ihm kommt eine Sonderrolle im Berichtssystem zu (§ 90 Abs. 1 _____________ 21) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 56. 22) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 29; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 63; Lutter/ Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 665. 23) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 7; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 36 und Rz. 41. 24) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 29 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 7; Lutter/Krieger/ Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 665; differenzierend Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 15. 25) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 32; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 666 und Rz. 675; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 7; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 16. 26) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 667; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 16. 27) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 32; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 666 und Rz. 675; bei einer Abberufung ohne wichtigen Grund gelten bei mitbestimmten Gesellschaften die Bestellungsvoraussetzungen spiegelbildlich, s. dazu Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 42; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 7; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 68. 28) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 19; v. Schenck, AG 2010, 649, 650 ff.; Hopt/ Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 84. 29) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 44; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 8. 30) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 45; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 85; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 107 Rz. 4.

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§ 107

Innere Ordnung des Aufsichtsrats

Satz 3, Abs. 5 Satz 3).31) Der DCGK empfiehlt zudem, dass der Aufsichtsratsvorsitzende regelmäßig mit dem Vorstand Fragen der Strategie, der Planung, der Geschäftsentwicklung, der Risikolage, des Risikomanagements und der Compliance des Unternehmens beraten solle (D. 6 DCGK).32) Dem Aufsichtsratsvorsitzenden wird in der Regel durch die Satzung die Leitung der Hauptversammlung übertragen; jedenfalls aber unterzeichnet er den Bericht des Aufsichtsrats (§ 171 Abs. 2)33) und erläutert ihn nach § 176 Abs. 1 Satz 2 der Hauptversammlung.34) Ihm obliegen häufig Repräsentationsaufgaben für das Unternehmen, zudem ist es nicht unüblich bzw. wird von ihm teilweise erwartet, dass er neben oder gemeinsam mit dem Vorstand Kontakte mit institutionellen Anlegern pflegt.35) Mit Blick auf die zunehmend steigenden Anforderungen und Erwartungen an den Aufsichtsratsvorsitzenden,36) die aber in den ihm kraft Gesetzes zustehenden Aufgaben und Befugnissen nicht hinreichend berücksichtigt sind,37) erscheint deren Ausweitung durch gesetzliche Änderungen erwägenswert.38) Der DCGK enthält die Anregung, dass der Aufsichtsratsvorsitzende in „angemessenem Rahmen“ bereit sein sollte, „mit Investoren über aufsichtsratsspezifische Themen Gespräche zu führen“ (A. 3 DCGK).39) Diese Anregung des DCGK ist mit Blick auf die Erwartungen institutioneller Investoren40) und die gelebte Praxis vieler AGs41) nachvollziehbar, wirft aber Fragen grundsätzlicher Art auf42) und ist daher teilweise deutlich kritisiert worden.43) Gleichwohl ist im Ergebnis der im Vordringen befindlichen Meinung zu folgen, wonach der Aufsichtsrat über seinen Vorsitzenden mit Investoren zu Gegenständen kommunizieren darf, für die allein der Aufsichtsrat zuständig ist (aufsichtsratsspezifische Themen).44) Hierbei sind aber die allgemeinen ge_____________ 31) 32) 33) 34) 35) 36) 37) 38) 39)

40) 41) 42)

43) 44)

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S. dazu: v. Schenck, AG 2010, 649, 650; Schlitt, DB 2005, 2007, 2008. Näher dazu Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, D. 6 Rz. 2 f. BGH, Urt. v. 21.6.2010 – II ZR 24/09, Rz. 16, AG 2010, 632, 633. v. Schenck, AG 2010, 649, 650; Schlitt, DB 2005, 2007, 2008; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 58; ausführlich zur Bestimmung des Versammlungsleiters: Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281 ff. Näher dazu Börsig/Löbbe in: FS Hoffmann-Becking, S. 125, 145 ff.; Drinhausen/Marsch-Barner, AG 2014, 337, 349 f. Ausführlich dazu: Börsig/Löbbe in: FS Hoffmann-Becking, S. 125, 143 ff.; Schick, WPg 2018, 1379 m. w. N. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 8. S. dazu v. Schenck, AG 2010, 649, 651 ff.; eher kritisch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 8. Ausführlich hierzu bzw. zur inhaltsgleichen Anregung im DCGK 2017 (Ziff. 5.2 Abs. 2): Kremer/ Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, A. 3 Rz. 1 ff.; zuvor wurden von der Arbeitsgruppe „Developing Shareholder Communication“ in AG 2016, R 300 ff., Leitsätze für den Dialog zwischen Investoren und Aufsichtsrat veröffentlicht; ausführlich dazu Hirt/Hopt/Mattheus, AG 2016, 725, 729 ff.; Schick, WPg 2018, 1379, 1380 ff. Näher dazu Börsig/Löbbe in: FS Hoffmann-Becking, S. 125, 145; Fleischer/Bauer/Wansleben, DB 2015, 360, 362; Drinhausen/Marsch-Barner, AG 2014, 337, 349. Nach einer Umfrage von Probst/Theisen, Der Aufsichtsrat 2014, 154, 155, stehen jedoch viele Aufsichtsratsvorsitzende dem auch ablehnend gegenüber; s. a. Schilha/Theusinger, NZG 2019, 521, 527. S. dazu Stellungnahme der VGR, AG 2017, 1, 4 f.; Vetter, AG 2016, 873, 874 ff.; generell Investorenkontakte des Aufsichtsrats ablehnend, da dieser ein „reines Innenorgan“ sei: Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 1 Rz. 40 und § 6 Rz. 284, s. dort aber auch § 11 Rz. 683; Fleischer/ Bauer/Wansleben, DB 2015, 360, 362 f., legen überzeugend dar, dass allein aus der Einordnung des Aufsichtsrats als Binnenorgan ein Verbot der Investorenkontakte nicht zweifelsfrei hergeleitet werden kann; s. a. Grunewald, ZIP 2016, 2009, 2010 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 54 m. w. N. S. Koch, AG 2017, 129, 131 ff. und 140 („die geplante Kodexänderung 2017 als äußerst bedenklich anzusehen ist“); Vetter, AG 2016, 873, 874 ff.; Austmann/Seyfarth, Börsenzeitung v. 26.11.2016, S. 13. Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, A. 3 Rz. 4 geht davon aus, dass dies „ganz überwiegend anerkannt ist“; Fleischer/Bauer/Wansleben, DB 2015, 360, 364 ff.; Grunewald, ZIP 2016, 2009, 2011; Hirt/Hopt/Mattheus, AG 2016, 725, 730 ff.; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 107 Rz. 25; Roth, ZGR 2012, 343, 369; Stellungnahme der VGR, AG 2017, 1, 4 f.; Drinhausen/MarschBarner, AG 2014, 337, 349; Schick, WPg 2018, 1379, 1380 ff.; Schilha/Theusinger, NZG 2019, 521, 523 ff.; a. A.: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 54 ff.

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§ 107

Innere Ordnung des Aufsichtsrats

sellschafts- und kapitalmarktrechtlichen Schranken (wie etwa Verschwiegenheitspflicht, Gleichbehandlungsgebot und Verbot der Weitergabe von Insiderinformationen) zu beachten.45) Nach der Empfehlung C. 10 des DCGK soll der Aufsichtsratsvorsitzende unabhängig von 12 der Gesellschaft und vom Vorstand sein.46) IV.

Sitzungsniederschriften (§ 107 Abs. 2)

Die nach § 107 Abs. 2 Satz 1 von jeder Aufsichtsratssitzung anzufertigende Niederschrift 13 (Protokoll) ist vom Aufsichtsratsvorsitzenden zu unterzeichnen, der sie jedoch nicht selbst anfertigen muss. Es ist als verfahrensleitende Anordnung des Aufsichtsratsvorsitzenden zulässig, die Fertigung der Niederschrift einem Protokollführer zu übertragen, der selbst kein Aufsichtsratsmitglied sein muss (etwa Justitiar der Gesellschaft), sofern der Aufsichtsrat dem nicht durch Mehrheitsbeschluss widerspricht.47) Eine Ermächtigung in der Satzung oder Geschäftsordnung ist für die Hinzuziehung eines Protokollführers nicht erforderlich.48) Der Mindestinhalt der Niederschrift ergibt sich aus der zwingenden Regelung des § 107 14 Abs. 2 Satz 2. Insbesondere sind die gefassten Beschlüsse aufzunehmen, und zwar im vollen Wortlaut und unter Angabe des Abstimmungsergebnisses. Zudem muss der wesentliche Inhalt der Verhandlungen in der Niederschrift enthalten sein. Ein Wortprotokoll ist insoweit nicht erforderlich, es genügt eine zusammenfassende Darstellung der tragenden Aspekte.49) Es ist nicht erforderlich, die Diskussionsbeiträge namentlich zuzuordnen; allerdings hat jedes Aufsichtsratsmitglied das Recht eine Erklärung zu Protokoll abzugeben.50) Die Abfassung des Protokolls in einer Fremdsprache wird als zulässig erachtet, wobei es einer Übersetzung bedarf, wenn ein Aufsichtsratsmitglied die Protokollsprache nicht beherrscht.51) Ein unrichtiges Protokoll ist formlos zu berichtigen. Über Berichtigungswünsche entscheidet der Aufsichtsratsvorsitzende, da er für den Inhalt verantwortlich ist, und nicht der Aufsichtsrat durch Beschluss.52) Der Aufsichtsratsvorsitzende kann jedoch das Meinungsbild bei einer etwaigen Berichtigung beachten.53) Nach § 107 Abs. 2 Satz 3 führen Verstöße gegen Satz 1 und Satz 2 nicht zur Unwirksamkeit eines Beschlusses, die _____________ 45) Ausführlich dazu Fleischer/Bauer/Wansleben, DB 2015, 360, 365 ff.; Hirt/Hopt/Mattheus, AG 2016, 725, 735 ff.; Schick, WPg 2018, 1379, 1381 ff.; s. a. Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, A. 3 Rz. 7 ff.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 19. 46) Näher dazu K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 107 Rz. 10a; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 100 Rz. 47; Hopt/Leyens, ZGR 2019, 929, 964. 47) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 77; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 54; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 238; a. A. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 13; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 107 Rz. 31 – Widerspruch eines Aufsichtsratsmitglieds soll genügen. 48) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 77; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 238. 49) OLG München, Urt. v. 29.10.1980 – 7 U 2481/80, ZIP 1981, 293, 295; Habersack in: MünchKommAktG, § 107 Rz. 80; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 244; zu praxisrelevanten Details s. Theisen, Der Aufsichtsrat 2014, 56. 50) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 247 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 14; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 81. 51) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 53; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 705; Rodewald/Ternick, BB 2011, 910, 911; Semler/v. Schenck-Schütz, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 98; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 78, geht davon aus, dass (nur) bei Widerspruch eines Aufsichtsratsmitglieds eine Übersetzung zu fertigen ist. 52) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 251; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 83; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 14. 53) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 251; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 83; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 14.

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§ 107

Innere Ordnung des Aufsichtsrats

Niederschrift hat keine konstitutive Bedeutung. Die unterzeichnete Niederschrift ist eine Beweisurkunde.54) 15 Die Regelung des § 107 Abs. 2 Satz 4, wonach jedes Aufsichtsratsmitglied das Recht auf eine Abschrift hat, ist zwingend und satzungsfest.55) Ausgeschiedene Aufsichtsratsmitglieder haben analog § 667 BGB die i. R. ihrer Amtsführung erlangten Unterlagen der Gesellschaften – auch Duplikate und Kopien – an die Gesellschaft herauszugeben, was auch entsprechend in der Geschäftsordnung geregelt werden kann.56) Die Interessen des ausgeschiedenen Aufsichtsratsmitglieds werden dadurch geschützt, dass es im Falle des Vorwurfs einer Pflichtverletzung durch die Gesellschaft von dieser Einsichtnahme in die dafür maßgeblichen Unterlagen verlangen kann57) (siehe dazu auch § 116 Rz. 18). V.

Ausschüsse des Aufsichtsrats (§ 107 Abs. 3, Abs. 4)

1.

Grundlagen

16 Die Bildung von Ausschüssen wird durch § 107 Abs. 3 Satz 1 zugelassen und vom DCGK empfohlen (D. 2 Satz 1, D. 3 Satz 1, Bildung eines Prüfungsausschusses, und D. 5, Bildung eines Nominierungsausschusses).58) Für die Bildung des Vermittlungsausschusses nach § 27 Abs. 3 MitbestG bedarf es keines Beschlusses, er ist zwingend einzurichten.59) Es können vorbereitende, überwachende und auch – in den Grenzen des § 107 Abs. 3 Satz 7 – beschließende Ausschüsse gebildet werden.60) 17 Neben den in § 107 Abs. 3 Satz 7 ausdrücklich genannten Aufgaben, die nicht an Ausschüsse zur Beschlussfassung bzw. Entscheidung übertragen werden, sind noch bestimmte weitere Delegationsverbote zu beachten.61) Der Aufsichtsrat kann seine allgemeine Überwachungs- und Beratungsaufgabe nicht auf Ausschüsse übertragen und behält auch im Falle einer Delegation von Einzelaufgaben stets die Gesamtverantwortung.62) Das Einsichts- und Prüfungsrecht nach § 111 Abs. 2 Satz 1, 2 ist ebenfalls nicht generell übertragbar.63) Auch alle die innere Organisation und Arbeitsweise betreffenden Entscheidungen _____________ 54) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 253; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 83; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 15. 55) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 255; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 107 Rz. 34; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 87. 56) BGH, Beschl. v. 7.7.2008 – II ZR 71/07 (Metro), Rz. 7 f., ZIP 2008, 1821, dazu EWiR 2008, 737 (Paul), die Frage der Erstreckung der Herausgabepflicht auch auf Duplikate und Kopien zwar offenlassend; zugleich weist der BGH aber in einem obiter dictum darauf hin, „dass für die Verpflichtung zur Herausgabe von Duplikaten die gleichen […] Gründe sprechen wie für die Herausgabe der Originale“ (BGH, Beschl. v. 7.7.2008 – II ZR 71/07 [Metro], Rz. 9, ZIP 2008, 1821, 1822); Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 261; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 713. 57) BGH, Beschl. v. 7.7.2008 – II ZR 71/07 (Metro), ZIP 2008, 1821, 1822; s. dazu auch Foerster, ZHR 176 (2012) 221, 232; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 857. 58) S. dazu Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 305; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 18 a. E.; Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, DCGK, D. 2 Rz. 3 ff. 59) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 125; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 107 Rz. 44; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 20. 60) S. dazu Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 19; Semler, AG 1988, 60, 61 f.; Semler/v. Schenck-Mutter, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 251 ff.; zur Möglichkeit der Bildung von Ad-hoc-Ausschüssen: Hasselbach/ Seibel, AG 2012, 114 ff.; zum Vergütungsausschuss in einem Industrieunternehmen: Mannert/Kramarsch, Der Aufsichtsrat 2015, 112 f. 61) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 146 ff.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 32 Rz. 4 f.; Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, AktG, § 107 Rz. 27. 62) Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, AktG, § 107 Rz. 27; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 147; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 32 Rz. 4. 63) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 147; Henssler/Strohn-Henssler, GesR, § 107 Rz. 28.

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Innere Ordnung des Aufsichtsrats

(etwa Erlass einer Geschäftsordnung, die Bildung, Besetzung und Auflösung von Ausschüssen, die in D. 13 DCGK empfohlene Selbstbeurteilung, die Abgabe der Entsprechenserklärung gemäß § 161 und die Festlegung von Zielgrößen gemäß § 111 Abs. 5) unterliegen dem Delegationsverbot.64) Der Aufsichtsrat entscheidet ohne Bindung an Vorgaben der Satzung oder der Haupt- 18 versammlung aufgrund seiner Organisationsautonomie über die Bildung von Ausschüssen mit einfacher Mehrheit.65) Der Aufsichtsrat kann durch einen Beschluss, mit der gleichen Mehrheit, die der Delegationsbeschluss bedarf, die delegierte Entscheidungsbefugnis wieder an sich ziehen.66) Ein Ausschuss muss mindestens zwei Mitglieder haben, wobei beschließenden Ausschüssen 19 mindestens drei Mitglieder angehören müssen.67) Die Ausschüsse sind primär nach dem Eignungsprinzip zu bilden bzw. zu besetzen, wobei aber auch das Diskriminierungsverbot zu beachten ist.68) In dem MitbestG unterfallenden Gesellschaften sind die Ausschüsse nicht zwingend paritätisch zu besetzen,69) Arbeitnehmervertreter können auch völlig von der Teilnahme an einem Ausschuss ausgeschlossen werden, wenn hierfür im Einzelfall ein sachlicher Grund besteht.70) Sie dürfen nicht allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit, ohne dass hierfür im Einzelfall sachliche Gründe vorhanden sind, aus grundsätzlichen Erwägungen von einem Ausschuss ausgeschlossen werden.71) Im Geltungsbereich des DrittelbG haben die Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Beteiligung an jedem Ausschuss, sie dürfen jedoch nicht ohne sachlichen Grund von der Mitwirkung an sämtlichen Ausschüssen ausgeschlossen werden.72) 2.

Prüfungsausschuss

a)

Fakultativer Prüfungsausschuss

Die ausdrückliche Erwähnung der Möglichkeit der Einrichtung eines Prüfungsausschusses73) 20 in § 107 Abs. 3 Satz 2 hat für Unternehmen, die nicht Unternehmen von öffentlichem _____________ 64) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 148; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 32 Rz. 5; Henssler/Strohn-Henssler, GesR, § 107 Rz. 28. 65) BGH, Urt. v. 17.5.1993 – II ZR 89/92 (Hamburg-Mannheimer), BGHZ 122, 342, 355 = ZIP 1993, 1079, 1083; s. a. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 129 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 18 f.; Semler/v. Schenck-Mutter, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 286 m. w. N. 66) BGH, Urt. v. 14.11.1983 – II ZR 33/83, BGHZ 89, 48, 55 f. = ZIP 1984, 55, 57; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 95; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 32 Rz. 7; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 19, verlangt einen besonderen Verfahrensbeschluss. 67) BGH, Urt. v. 23.10.1975 – II ZR 90/73, BGHZ 65, 190, 192 f.; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 136; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 768; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 21. 68) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 769; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 78; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 107 Rz. 49 und Rz. 50. 69) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 102/81, BGHZ 83, 144, 148 = ZIP 1982, 440, 441; s. dazu Lutter/ Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 770; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 31. 70) BGH, Urt. v. 17.5.1993 – II ZR 89/92 (Hamburg-Mannheimer), BGHZ 122, 342, 355 ff. = ZIP 1993, 1079, 1083 ff.; OLG München, Urt. v. 27.1.1995 – 23 U 4282/94, ZIP 1995, 1753, 1754; Lutter/ Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 770; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 31; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 107 Rz. 50. 71) BGH, Urt. v. 17.5.1993 – II ZR 89/92 (Hamburg-Mannheimer), BGHZ 122, 342, 358 = ZIP 1993, 1079, 1084; OLG München, Urt. v. 27.1.1995 – 23 U 4282/94, ZIP 1995, 1753, 1754. 72) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 771; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 107 Rz. 49; LG Frankfurt/M., Urt. v. 19.12.1995 – 2/14 O 183/95, ZIP 1996, 1661, 1663 f. – die Bildung eines Personalausschusses ohne Arbeitnehmervertreter ist unzulässig und die entsprechende Wahl nichtig. 73) Allg. zum Prüfungsausschuss und dessen Aufgaben: Nonnenmacher/Wemmer/v. Werder, DB 2016, 2826 ff.; Vetter, ZGR 2010, 751 ff.; Börsig/Löbbe in: FS Hoffmann-Becking, S. 125, 147 ff.; Gesell, ZGR 2011, 361, 363 ff.; Habersack, AG 2008, 98 ff.

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Interesse sind (siehe dazu § 107 Abs. 4), lediglich klarstellende Bedeutung.74) Bei börsennotierten Gesellschaften ist dessen Bildung weitgehend üblich75) und entspricht der Empfehlung in D.3 DCGK.76) Durch das FISG (siehe dazu oben Rz. 2) sind in § 107 Abs. 3 Satz 2 die Aufgabengebiete des Prüfungsausschusses um die Überwachung der „Qualität der Abschlussprüfung“ erweitert worden, und zwar von der Auswahl des Prüfers bis zur Beendigung des Auftrags.77) 21 Die in § 107 Abs. 3 Satz 2 genannten Aufgaben des Prüfungsausschusses müssen ihm nicht zwingend zugewiesen werden, sie können auch weiter beim Plenum verbleiben bzw. ins Plenum zurückgeholt werden; umgekehrt können dem Prüfungsausschuss aber auch weitere Aufgaben, wie etwa die Überwachung der Compliance (siehe auch D. 3 Satz 1 DCGK), zugewiesen werden.78) 22 Der DCGK empfiehlt für börsennotierte Gesellschaften die funktionsbezogene Unabhängigkeit des Prüfungsauschussvorsitzenden.79) Der Vorsitzende des Prüfungsausschusses soll unabhängig von der Gesellschaft und vom Vorstand und zudem auch von einem kontrollierenden Aktionär sein (C. 10 Satz 1 und 2 DCGK). b)

Obligatorischer Prüfungsausschuss bei Unternehmen von öffentlichem Interesse (§ 107 Abs. 4)

23 Durch das BilMoG80) und das AReG81) war bereits für den Prüfungsausschuss einer kapitalmarktorientierten Gesellschaft oder eines in § 107 Abs. 4 a. F. genannten Kreditinstituts oder Versicherungsunternehmens („Unternehmen von öffentlichem Interesse“) die Vorgabe eingefügt worden, dass ein gemäß § 107 Abs. 3 Satz 2 eingerichteter Prüfungsausschuss die Voraussetzungen des § 100 Abs. 5 erfüllen muss; das Erfordernis der Unabhängigkeit war gestrichen worden.82) Ein Mitglied musste über Sachverstand auf den Gebieten Rechnungslegung und Abschlussprüfung verfügen und die Gesamtheit der Mit-

_____________ 74) Reg. Begr. BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 102; Habersack, AG 2008, 98, 100 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 22; s. a. Dreher/Hoffmann, ZGR 2016, 445, 457 („der Ausschuss bildet damit eine gesetzliche Option“). 75) S. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 22; Dreher/Hoffmann, ZGR 2016, 445, 457; Kremer/Bachmann/ Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, D. 3 Rz. 4 a. E.; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 107 Rz. 58; zum faktischen Druck zur Errichtung eines Prüfungsausschusses: Dolzer, Die Emanzipation des Prüfungsausschusses, S. 209 ff.; s. aber auch Hopt/Kumpan, AG 2021, 129, 135. 76) Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 116; Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, D. 3 Rz. 1 f.; Vetter, ZGR 2010, 751, 759 ff.; Leuering/Rubel, NJW-Spezial 2008, 559; RedeniusHövermann, WPg 2017, 349, 355 f. 77) Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 116; s. dazu Hopt/Kumpan, AG 2021, 129, 135. 78) Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 102; s. a. Blöink/Woodtli, Der Konzern 2016, 75, 82 f.; Börsig/Löbbe in: FS Hoffmann-Becking, S. 125, 147 f.; Gesell, ZGR 2011, 361, 370 f.; Vetter, ZGR 2010, 751, 761 und 778; näher zu den Aufgaben des Prüfungsausschusses Dreher/Hoffmann, ZGR 2016, 445, 458 ff. 79) Hopt/Leyens, ZGR 2019, 929, 964. 80) Gesetz zur Modernisierung des Bilanzrechts (Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz – BilMoG) v. 25.5.2009, BGBl. I 2009, 1102. 81) Gesetz zur Umsetzung der prüfungsbezogenen Regelungen der Richtlinie 2014/56/EU sowie zur Ausführung der entsprechenden Vorgaben der Verordnung (EU) Nr. 537/2014 im Hinblick auf die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse (Abschlussprüfungsreformgesetz – AReG) v. 10.5.2016, BGBl. I 2016, 1142; s. dazu Blöink/Woodtli, Der Konzern 2016, 75 ff. 82) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 6; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 541 und Rz. 512; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 107 Rz. 58 und § 100 Rz. 40 („Unabhängigkeitserfordernis ist …, wie … befürchtet, weggefallen“) und Rz. 41; Nodoushani, AG 2016, 381, 382 ff.; s. zu den Anforderungen an die Besetzung des Prüfungsausschusses: Nonnenmacher/Wemmer/v. Werder, DB 2016, 2826, 2828 f.

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glieder Sektorkenntnisse haben.83) Durch das FISG (siehe dazu oben Rz. 2) ist § 107 Abs. 4 neu gefasst worden. Nach § 107 Abs. 4 Satz 1 ist die Einrichtung eines Prüfungsausschusses für Unternehmen von öffentlichem Interesse nach § 316a HGB verpflichtend.84) Begründet wird dies mit der hohen Bedeutung des Prüfungsausschusses für den Rechnungslegungsprozess und die Abschlussprüfung; dessen Einrichtung diene der Wirksamkeit und der Effizienz der Arbeit des Aufsichtsrats.85) Als Erleichterung für kleine Unternehmen von öffentlichem Interesse mit nur drei Mitgliedern im Aufsichtsrat sieht § 107 Abs. 4 Satz 2 vor, dass zwar die Verpflichtung zur Einrichtung eines Prüfungsausschusses besteht, aber der Aufsichtsrat dann „kraft gesetzlicher Anordnung“ auch der Prüfungsausschuss ist.86) Der Prüfungsausschuss von Unternehmen von öffentlichem Interesse muss nach § 107 Abs. 4 Satz 3 die Voraussetzungen nach § 100 Abs. 5 erfüllen.87) Insoweit es ist aber dabei geblieben, dass es kein Unabhängigkeitserfordernis gibt88) (siehe dazu § 100 Rz. 3). Durch das FISG neu eingefügt wurde auch ein unmittelbares Auskunftsrecht gegenüber den Leitern der Zentralbereiche der Gesellschaft (der ersten Führungsebene unterhalb des Vorstands), die in der Gesellschaft für die Aufgaben zuständig sind, die den Prüfungsausschuss nach § 107 Abs. 3 Satz 2 betreffen – durch diese Bezugnahme wird sichergestellt, dass das Auskunftsrecht nur i. R. der so umrissenen Aufgaben des Prüfungsausschusses ausgeübt werden darf.89) Die Mitglieder des Prüfungsausschusses haben nach § 107 Abs. 4 Satz 4 das Recht – ohne vorherige Einschaltung des Vorstands – Auskünfte von den Leitern der genannten Zentralbereiche zu verlangen; allerdings hat dies über den Vorsitzenden des Prüfungsausschusses zu erfolgen, um Mehrfachanfragen bei den Zentralbereichsleitern zu vermeiden.90) Der Prüfungsausschussvorsitzende holt die Auskunft ein, teilt sie allen Ausschussmitgliedern mit und informiert hierüber unverzüglich den Vorstand (§ 107 Abs. 4 Satz 5 und 6). Nach der Übergangsvorschrift zum FISG sind § 107 Abs. 4 Satz 1, 2, 4 bis 6 erstmals ab 24 dem 1.1.2022 anzuwenden (§ 26k Abs. 2 EGAktG). 3.

Related Party Transactions-Ausschuss (§ 107 Abs. 3 Sätze 4 – 6)

Als ergänzende Regelung zu § 111b Abs. 1 wurde durch das ARUG II91) die Möglichkeit 25 eingeführt, einen fakultativen Ausschuss einzurichten, der über die bei börsennotierten Gesellschaften gemäß § 111b Abs. 1 erforderliche Zustimmung des Aufsichtsrats zu wesentlichen Geschäften mit nahestehenden Personen entscheidet92) (RPT-Ausschuss). Der Aufsichtsrat kann aus seiner Mitte einen RPT-Ausschuss einrichten, der über die Zu- 26 stimmung nach § 111b Abs. 1 beschließt; eine Verpflichtung hierzu besteht nicht.93) Der RPT-Ausschuss kann als Ad hoc-Ausschuss für einzelne Geschäfte oder als ständiger Aus_____________ 83) Begr. RegE AReG, BT-Drucks. 18/7219, S. 57; s. dazu auch Behme/Zickgraf, AG 2016, R 132; Fromholzer/Hauser, DB 2016, 401, 402; Arbeitskreis Externe und Interne Überwachung der Unternehmung (AKEIÜ) der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e. V., DB 2017, 47, 48; Nodoushani, AG 2016, 381, 384 ff.; Redenius-Hövermann, WPg 2017, 349, 350 f. und 356. 84) Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 116. 85) Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 116. 86) Beschlussempfehlung und Bericht d. FA z. FISG, BT-Drucks. 19/29879, S. 158. 87) Hopt/Kumpan, AG 2021, 129, 135; Hennrichs, DB 2021, 268, 276 f. 88) Hopt/Kumpan, AG 2021, 129, 136. 89) Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 116; Beschlussempfehlung und Bericht d. FA z. FISG, BT-Drucks. 19/29879, S. 178 (der RegE sah zunächst nur ein Auskunftsrecht des Prüfungsausschussvorsitzenden vor, s. dazu Hopt/Kumpan, AG 2021, 129, 136 f.; Hennrichs, DB 2021, 268, 277). 90) Beschlussempfehlung und Bericht d. FA z. FISG, BT-Drucks. 19/29879, S. 158; ausführlich zum neuen Auskunftsrecht: Vetter, AG 2021, 584, 585 ff. 91) Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2637. 92) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 26a; Hirte/Heidel-Heidel/Illner, Das neue Aktienrecht, § 107 Rz. 2. 93) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 76.

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schuss eingerichtet werden; seine Aufgaben können einem bereits bestehenden Ausschuss übertragen werden, ein exklusiver RPT-Ausschuss ist nicht erforderlich.94) 27 Als beschließender Ausschuss muss er aus mindestens drei Mitgliedern bestehen. Die Mitglieder des Ausschusses dürfen keine an dem zustimmungspflichtigen Geschäft beteiligten nahestehenden Personen sein (§ 107 Abs. 3 Satz 5). Es wird damit bereits die Ausschussmitgliedschaft ausgeschlossen und nicht nur (wie in § 111b Abs. 2) die Stimmrechtsausübung verboten.95) Der RPT-Ausschuss muss zudem mehrheitlich aus Mitgliedern bestehen, bei denen keine Besorgnis eines Interessenkonflikts aufgrund ihrer Beziehung zu einer nahestehenden Person besteht (§ 107 Abs. 3 Satz 6). Anders als bei § 111b Abs. 2 wird die Mitgliedschaft hierdurch nicht ausgeschlossen und es besteht auch kein Stimmrechtsausschluss.96) Hierdurch soll ein Anreiz zur Schaffung eines RPT-Ausschusses geschaffen werden.97) Die Beurteilung des Vorliegens der Besorgnis eines Interessenkonflikts entscheidet eine objektive Betrachtung; es müssen „konkrete Beziehungen geschäftlicher, finanzieller oder persönlicher Art vorliegen, die das Urteilsvermögen des Aufsichtsratsmitglieds bei der Entscheidung beeinflussen können“.98) Wird gegen § 107 Abs. 3 Satz 5 oder 6 verstoßen, so ist ein Zustimmungsbeschluss wegen fehlerhafter Besetzung des RPT-Ausschusses dann nichtig, wenn sich die fehlerhafte Besetzung auf das Beschlussergebnis ausgewirkt hat.99) 28 Hat ein Ausschuss lediglich die Aufgabe, die Entscheidung des Aufsichtsrats nach § 111b vorzubereiten, gelten die Anforderungen des § 107 Abs. 3 Satz 5 und 6 nicht.100) 4.

Nominierungsausschuss

29 Wird entsprechend der Empfehlung in D. 5 DCGK ein Nominierungsausschuss gebildet, der ausschließlich mit Anteilseignervertretern besetzt ist und dem Aufsichtsrat geeignete Kandidaten für dessen Vorschläge an die Hauptversammlung zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern benennt, so kann dieser nicht nur als vorbereitender Ausschuss tätig sein. Zulässig ist es auch, ihm als entscheidenden Ausschuss die Beschlussfassung über den Wahlvorschlag an die Hauptversammlung zu übertragen.101) 5.

Vermittlungsausschuss/Beteiligungsausschuss

30 In einer Gesellschaft, die dem MitbestG unterliegt, ist nach § 27 Abs. 3 MitbestG zwingend ein Vermittlungsausschuss zu bilden.102) Bei einer dem MitbestG unterliegenden Ge_____________ 94) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 76; Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 107 Rz. 5; Hirte/Heidel-Heidel/Illner, Das neue Aktienrecht, § 107 Rz. 2; Hüffer/KochKoch, AktG, § 107 Rz. 26a. 95) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 107 Rz. 13; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 26b. 96) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 107 Rz. 15; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 763. 97) Begr. RegE ARUG II, BT Drucks. 19/9739, S. 76; skeptisch insoweit: Habersack in: MünchKommAktG, Nachtrag ARUG II, § 107 Rz. 15; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 763 a. E. 98) Begr. RegE ARUG II, BT Drucks. 19/9739, S. 77; näher dazu Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 107 Rz. 17 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 26c. 99) S. dazu Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 763; Markworth, AG 2020, 166, 170; ausführlich zu den Rechtsfolgen fehlerhafter RPT-Ausschussbesetzung: Habersack in: MünchKommAktG, Nachtrag ARUG II, § 107 Rz. 24; nach der Begr. RegE ARUG II, BT Drucks. 19/9739, S. 76, kann bei einer fehlerhaften Besetzung „ein ordnungsgemäßer Beschluss nicht gefasst werden“. 100) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR. Bd. 4, § 29 Rz. 76. 101) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 760; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 124 Rz. 21. 102) S. dazu Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 607; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 125.

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sellschaft kann ein Ausschuss zur Ausübung der Beteiligungsrechte gemäß § 32 MitbestG gebildet werden (Beteiligungsausschuss).103) Die wohl h. M. verlangt insoweit unter Berufung auf den Wortlaut des § 32 Abs. 1 Satz 2 MitbestG („Mehrheit der Stimmen der Aufsichtsratsmitglieder der Anteilseigner“) aber, dass dem Ausschuss die Mehrheit sämtlicher Aufsichtsratsmitglieder der Anteilseigner angehört.104) Auch wenn diese primär auf den Wortlaut gestützte Argumentation nicht vollends zu überzeugen vermag,105) erscheint es aus Vorsichtsgründen ratsam, ihr in der Praxis zu folgen. 6.

Innere Ordnung der Ausschüsse

Für die Arbeitsweise und insbesondere die Beschlussfassung der Ausschüsse gelten die Re- 31 gelungen für den Gesamtaufsichtsrat entsprechend106) (siehe dazu § 108 Rz. 2 ff.). § 107 Abs. 2 gilt für die Protokollierung der Sitzungen der Ausschüsse,107) und zwar grundsätzlich auch die Regelung des Absatzes 2 Satz 4 über die Aushändigung von Abschriften.108) Für das Teilnahmerecht ist § 109 maßgeblich109) (siehe § 109 Rz. 2 ff.). Dem Aufsichtsratsvorsitzenden kann durch die Satzung oder Geschäftsordnung für den Fall, dass er einem Ausschuss angehört und sich bei einer Abstimmung Stimmengleichheit ergibt, ein Zweitstimmrecht eingeräumt werden.110) 7.

Überwachung und Berichterstattung

Die Arbeit der eingesetzten Ausschüsse ist durch das Plenum des Aufsichtsrats zu über- 32 wachen, wofür es in der Regel genügt, wenn sich das Plenum in regelmäßigen Abständen berichten lässt und sich so einen allgemeinen Eindruck von der Aufgabenerfüllung durch den Ausschuss verschafft.111) § 107 Abs. 3 Satz 8 soll die regelmäßige Berichterstattungspflicht des Ausschusses gegenüber dem Plenum sicherstellen; es genügt eine zusammenfassende Berichterstattung – auch in Form von Ergebnisberichten.112) Die in Ziff. 5.3.1 Satz 2 des DCGK 2017 noch enthaltene Empfehlung zur regelmäßigen Berichterstattung der Ausschussvorsitzenden über die Ausschussarbeit wurde in den aktuellen DCGK nicht mehr aufgenommen, weil sich die empfohlene Berichterstattung in der Praxis etabliert hat.113) _____________ 103) Näher zu dessen Aufgaben: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 127; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 8 Rz. 521. 104) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 29 Rz. 88; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 8 Rz. 521. 105) Weiss, Der Konzern 2004, 590, 598, und Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, Anh. § 117B § 32 MitbestG Rz. 21 und Rz. 18, lehnen diese mit überzeugender Argumentation ab (Ratio des § 32 MitbestG und Grundprinzip der Beschlussfassung im Aufsichtsrat sprechen gegen die h. M.). 106) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 107 Rz. 52; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 162 ff. 107) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 76 und Rz. 169; Hölters-Hambloch-Gesinn/Gesinn, AktG, § 107 Rz. 73. 108) Sofern das Aufsichtsratsmitglied nicht von der Ausschusssitzung ausgeschlossen wurde, s. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 88; Hölters-Hambloch-Gesinn/Gesinn, AktG, § 107 Rz. 84. 109) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 165; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 107 Rz. 52. 110) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 123/81 (Siemens), BGHZ 83, 106, 117 ff. = ZIP 1982, 434, 438; BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 102/81, BGHZ 83, 144, 147 ff. = ZIP 1982, 440, 441; BGH, Urt. v. 17.5.1993 – II ZR 89/92 (Hamburg/Mannheimer), BGHZ 122, 342, 354 ff. = ZIP 1993, 1079, 1084. 111) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 750; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 32 Rz. 48. 112) Begr. RegE TransPuG, BT-Drucks. 14/8769, S. 16; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 33; K. Schmidt/ Lutter-Drygala, AktG, § 107 Rz. 56; näher zur Berichterstattung bzw. deren Ausgestaltung Plagemann, NZG 2014, 1404, 1409; Semler/v. Schenck-Mutter, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 374 ff. 113) Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, D. 2 Rz. 2.

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§ 108 VI.

Beschlußfassung des Aufsichtsrats Geschäftsordnung

33 Unter Beachtung der zwingenden gesetzlichen Regelungen kann der Aufsichtsrat mit einfacher Mehrheit eine Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat beschließen und dort Regelungen für seine Organisation (etwa zu Einberufung und Verlauf der Sitzung sowie zur Abstimmung oder zur Sitzungssprache; zur Sitzungssprache siehe auch oben Rz. 14)114) treffen, sofern diese nicht bereits zulässigerweise in der Satzung enthalten sind.115) Der DCGK empfiehlt in D. 1 den Erlass einer Geschäftsordnung und deren Veröffentlichung auf der Internetseite der Gesellschaft. Da nur der Aufsichtsrat über die Bildung und Besetzung von Ausschüssen zu entscheiden hat (siehe dazu oben Rz. 18), sind die entsprechenden Regelungen oft in der Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat enthalten.116) Die vom Aufsichtsrat erlassene Geschäftsordnung gilt solange, bis der Aufsichtsrat sie ändert oder aufhebt;117) sie bleibt auch vom Mitgliederwechsel oder dem Ende der Amtsperiode unberührt.118) Im Einzelfall kann der Aufsichtsrat von der von ihm erlassenen Geschäftsordnung – auch ohne förmlichen Durchbrechungsbeschluss – abweichen, und zwar durch entsprechenden Mehrheitsbeschluss.119) Dagegen können Verstöße gegen Geschäftsordnungsregelungen der Satzung zur Nichtigkeit des Aufsichtsratsbeschlusses führen.120) _____________ 114) Eine Regelung zur Durchführung der Sitzung in einer Fremdsprache in der Geschäftsordnung bzw. die Anordnung dessen durch den Versammlungsleiter wird als zulässig erachtet, wenn dies zweckmäßig erscheint und erforderlichenfalls eine Simultanübersetzung und die Vorlage der Sitzungsunterlagen in deutscher Sprache gewährleistet ist; s. dazu Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 53; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 705. 115) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 652 f.; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 176 ff.; s. dazu die Muster-Geschäftsordnungen von Hoffmann-Becking in: Beck’sches Formb. BHW, X. 17 und X. 18. 116) S. dazu Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 177; Hoffmann-Becking in: Beck’sches Formb. BHW, X. 17 und X. 18; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 107 Rz. 93. 117) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 35; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 653. 118) OLG Hamburg, Urt. v. 23.7.1982 – 11 U 179/80, AG 1983, 21, 22; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 6; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 653. 119) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 107 Rz. 35; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 4. 120) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 107 Rz. 181; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 653.

§ 108 Beschlußfassung des Aufsichtsrats Werner Paul Schick

(1) Der Aufsichtsrat entscheidet durch Beschluß. (2) 1Die Beschlußfähigkeit des Aufsichtsrats kann, soweit sie nicht gesetzlich geregelt ist, durch die Satzung bestimmt werden. 2Ist sie weder gesetzlich noch durch die Satzung geregelt, so ist der Aufsichtsrat nur beschlußfähig, wenn mindestens die Hälfte der Mitglieder, aus denen er nach Gesetz oder Satzung insgesamt zu bestehen hat, an der Beschlußfassung teilnimmt. 3In jedem Fall müssen mindestens drei Mitglieder an der Beschlußfassung teilnehmen. 4Der Beschlußfähigkeit steht nicht entgegen, daß dem Aufsichtsrat weniger Mitglieder als die durch Gesetz oder Satzung festgesetzte Zahl angehören, auch wenn das für seine Zusammensetzung maßgebende zahlenmäßige Verhältnis nicht gewahrt ist. (3) 1Abwesende Aufsichtsratsmitglieder können dadurch an der Beschlußfassung des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse teilnehmen, daß sie schriftliche Stimmabgaben überreichen lassen. 2Die schriftlichen Stimmabgaben können durch andere Aufsichtsrats-

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§ 108

Beschlußfassung des Aufsichtsrats

mitglieder überreicht werden. 3Sie können auch durch Personen, die nicht dem Aufsichtsrat angehören, übergeben werden, wenn diese nach § 109 Abs. 3 zur Teilnahme an der Sitzung berechtigt sind. (4) Schriftliche, fernmündliche oder andere vergleichbare Formen der Beschlussfassung des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse sind vorbehaltlich einer näheren Regelung durch die Satzung oder eine Geschäftsordnung des Aufsichtsrats nur zulässig, wenn kein Mitglied diesem Verfahren widerspricht. Literatur: Arnold/Gayk, Auswirkungen der fehlerhaften Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern – Handlungsempfehlungen für die Unternehmenspraxis, DB 2013, 1830; Baums, Der fehlerhafte Aufsichtsratsbeschluß, ZGR 1983, 300; Buckel/Vogel, Die angegriffene Wahl des Aufsichtsrats – Gutglaubensschutz statt Rechtsfigur des fehlerhaften Organs, ZIP 2014, 58; Fleischer, Fehlerhafte Aufsichtsratsbeschlüsse: Rechtsdogmatik – Rechtsvergleichung, DB 2013, 160 (Teil 1), und DB 2013, 217 (Teil 2); Habersack, Aktienrecht und Internet, ZHR 165 (2001) 172; Heusel/ Goette, Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Pflichtenstellung des Aufsichtsrats, AG 2020, 411; Hoffmann-Becking, Schriftliche Beschlussfassung des Aufsichtsrats und schriftliche Stimmabgabe abwesender Aufsichtsratsmitglieder, in: Festgabe für Wilhelm Happ, 2006, S. 81; Jürgenmeyer, Satzungsklauseln über qualifizierte Beschlussmehrheiten im Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft, ZGR 2007, 112; Kindl, Beschlussfassung des Aufsichtsrats und neue Medien zur Änderung des § 108 Abs. 4 AktG, ZHR 166 (2002) 335; Kremer/Mucic/Thomas/ v. Werder, Virtuelle Gremiensitzungen im Rahmen einer nachhaltigen Unternehmensführung, DB 2021, 1145; Miettinen/Villeda, Abstimmungsformen des Aufsichtsrats, AG 2007, 346; Noack/ Zetzsche, Die virtuelle Hauptversammlung nach dem COVID-19-Pandemie-Gesetz, AG 2020, 265; Priester, Stimmverbot beim dreiköpfigen Aufsichtsrat, AG 2007, 190; Scholderer/v. Werder, Dissens im Aufsichtsrat – Beurteilung alternativer Verhaltensoptionen aus Sicht guter Corporate Governance, ZGR 2017, 865; Seibert, Aktienrechtsnovelle NaStraG tritt in Kraft – Übersicht über das Gesetz und Auszüge aus dem Bericht des Rechtsausschusses, ZIP 2001, 53; Vetter, Anfechtung der Wahl der Aufsichtsratsmitglieder, Bestandsschutzinteresse der AG und die Verantwortung der Verwaltung, ZIP 2012, 701; Wittgens/Vollertsen, Gruppenvorbesprechungen im Aufsichtsrat – Zulässigkeit, Zweckmäßigkeit, Praxisfragen, AG 2015, 261.

Übersicht I. Gegenstand und Zweck der Norm .................................................. 1 II. Entscheidung durch Beschluss (§ 108 Abs. 1) ..................................... 2 1. Gegenstand und Rechtsnatur des Beschlusses ......................................... 2 2. Verfahren der Beschlussfassung ........ 5 3. Stimmrecht und Stimmrechtsausschluss ............................................... 10 I.

III. Beschlussfähigkeit (§ 108 Abs. 2) .... IV. Schriftliche Stimmabgabe (§ 108 Abs. 3) ................................... V. Beschlussfassung ohne Sitzung (§ 108 Abs. 4) ................................... VI. Fehlerhafte Aufsichtsratsbeschlüsse ......................................... VII. Sonderregelung zu § 108 Abs. 4 durch das COVAbmildG ...............

13 17 19 22 28

Gegenstand und Zweck der Norm

Die Norm regelt zusammenfassend die Beschlussfassung des Aufsichtsrats. Das Be- 1 schlusserfordernis des § 108 Abs. 1 ist i. S. einer ausdrücklichen Beschlussfassung zu verstehen. Hiermit soll Rechtssicherheit erreicht werden, die bei stillschweigender Beschlussfassung nicht gewährleistet wäre.1) § 108 Abs. 2 regelt die Beschlussfähigkeit und Abs. 3

_____________ 1)

Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 1; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 27.

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die schriftliche Stimmabgabe. Durch den durch das Namensaktiengesetz (NaStraG)2) neu gefassten § 108 Abs. 4 soll eine Beschlussfassung mittels moderner Medien erleichtert werden.3) Das COVAbmildG4) enthält eine Sonderregelung zu § 108 Abs. 4 (siehe dazu Rz. 28). II.

Entscheidung durch Beschluss (§ 108 Abs. 1)

1.

Gegenstand und Rechtsnatur des Beschlusses

2 Das Erfordernis ausdrücklicher Beschlussfassung des § 108 Abs. 1 bezieht sich auf Entscheidungen des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse. Eine Entscheidung liegt immer dann vor, wenn ein Organwille gebildet wird.5) Dies ist bei der Abgabe von Willenserklärungen (etwa i. R. von § 112) oder sonstigen dem Aufsichtsrat obliegenden Erklärungen (siehe etwa §§ 59 Abs. 3, 88 Abs. 1, 89 Abs. 1, 2 und 5, 111 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 4 Satz 2) und insbesondere bei der Entscheidung über einen Antrag eines oder mehrerer Aufsichtsratsmitglieder der Fall.6) Dieser Vorgang einheitlicher Willensbildung kann nicht durch die Entscheidung eines Mitglieds oder des Vorsitzenden des Aufsichtsrats ersetzt werden.7) 3 Ein Beschluss ist das Ergebnis der Willensbildung des Organs durch Abstimmung über einen Antrag. Er ist ein mehrseitiges, aber nicht vertragliches Rechtsgeschäft eigener Art.8) 4 Der Aufsichtsrat und seine Ausschüsse können nur durch ausdrückliche Beschlussfassung entscheiden; eine konkludente Beschlussfassung ist nicht möglich.9) Allerdings kann bei Vorliegen eines ausdrücklichen Beschlusses ein etwaiger konkludenter Erklärungsgehalt nach den Regeln der Auslegung ausnahmsweise von Relevanz sein.10) 2.

Verfahren der Beschlussfassung

5 Eine Beschlussfassung setzt die Beschlussfähigkeit voraus und erfordert grundsätzlich einen Antrag, eine Verhandlung, die Abstimmung und die Feststellung des Abstimmungsergeb_____________ 2) Gesetz zur Namensaktie und zur Erleichterung der Stimmrechtsausübung (Namensaktiengesetz – NaStraG) v. 18.1.2001, BGBl. I 2001, 123. 3) Seibert, ZIP 2001, 53, 54; Semler/v. Schenck-Schütz, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 12. 4) Gesetz über Maßnahmen zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenzund Strafverfahrensrecht (COVAbmildG) v. 27.3.2020, BGBl. I 2020, 569 (Art. 2 COVAbmildG = Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stifungs- und Wohneigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie [COVGesMG], § 1 Abs. 6 Satz 2). 5) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 8; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 19 ff.; zur Vorbereitung der Beschlussfassung durch Gruppenvorbesprechungen: Wittgens/Vollertsen, AG 2015, 261 ff.; s. dazu auch K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 108 Rz. 5; allgemein zu Willensbildung und Dissens im Aufsichtsrat: Scholderer/v. Werder, ZGR 2017, 865 ff. 6) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 8 f.; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 19 f. 7) BGH, Urt. v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, Rz. 22, BGHZ 219, 193 = ZIP 2018, 1923; BGH, Beschl. v. 14.5.2013 – II ZB 1/11, Rz. 22, ZIP 2013, 1274; BGH, Zwischenurt. v. 29.1.2013 – II ZB 1/11, Rz. 11, ZIP 2013, 483. 8) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 11; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 16; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 3; die Rspr. tendiert wohl ebenfalls in diese Richtung, s. BGH, Urt. v. 15.11.1993 – II ZR 235/92, BGHZ 124, 111, 122 = ZIP 1993, 1862, 1865. 9) BGH, Beschl. v. 14.5.2013 – II ZB 1/11, Rz. 22, ZIP 2013, 1274; BGH Zwischenurt. v. 29.1.2013 – II ZB 1/11, Rz. 11, ZIP 2013, 483; BGH, Urt. v. 19.12.1988 – II ZR 74/88, ZIP 1989, 294, 295; OLG München, Urt. v. 5.3.2015 – 23 U 2384/14, ZIP 2015, 870, 871, dazu EWiR 2015, 271 (Vetter); LG Frankfurt/M., Urt. v. 9.3.2004 – 315 O 107/03, NZG 2004, 672, dazu EWiR 2004, 625 (Kort); Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 27 f.; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 12. 10) BGH, Urt. v. 19.12.1988 – II ZR 74/88, ZIP 1989, 294, 295 m. w. N.; BGH, Urt. v. 17.12.2001 – II ZR 288/99, ZIP 2002, 216, 217, dazu EWiR 2002, 317 (Zetzsche); OLG München, Urt. v. 5.3.2015 – 23 U 2384/14, ZIP 2015, 870, 871; LG München I, Urt. v. 28.8.2008 – 5 HKO 2522/08, NZG 2009, 143, 144 f.; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 29; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 13.

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nisses.11) Ein Beschluss setzt stets einen Antrag voraus.12) Durch den Antrag wird der Beschlussgegenstand konkretisiert.13) Jedes Aufsichtsratsmitglied kann einen Antrag stellen.14) Über zulässige Anträge (hierunter fallen auch solche zur Geschäftsordnung oder auf sofortige Abstimmung) muss der Aufsichtsratsvorsitzende abstimmen lassen; unzulässig sind etwa Anträge, die sich nicht auf einen Tagesordnungspunkt beziehen (es sei denn alle Aufsichtsratsmitglieder stimmen zu) oder die zu einem rechtswidrigen Beschluss führen würden.15) Neben der den Normalfall bildenden offenen Abstimmung ist auch die geheime Ab- 6 stimmung zulässig.16) Letztere kommt insbesondere bei Personalentscheidungen in Betracht. Dem Aufsichtsratsvorsitzenden obliegt die Auswahl der Abstimmungsart, wobei für dessen Entscheidung über diese Verfahrensfrage das Gesellschaftsinteresse maßgeblich ist.17) Eine Mehrheit im Aufsichtsrat kann durch entsprechenden Verfahrensantrag eine geheime Abstimmung erzwingen bzw. eine gegenteilige Festlegung des Aufsichtsratsvorsitzenden verhindern.18) Für die Beschlüsse des Aufsichtsrats genügt (entsprechend § 32 Abs. 1 Satz 3 BGB) grund- 7 sätzlich die Mehrheit der abgegebenen Stimmen (einfache Mehrheit).19) Sie ist erreicht, wenn die Zahl der (gültigen) Ja-Stimmen die der (gültigen) Nein-Stimmen um mindestens eine Stimme übertrifft; bei Stimmengleichheit ist der Antrag abgelehnt.20) Stimmenthaltungen werden (anders als bei der Feststellung der Beschlussfähigkeit, siehe dazu Rz. 13 ff.) nicht mitgezählt und gelten nicht als Nein-Stimmen.21) Ausnahmen ergeben sich aus den Mitbestimmungsgesetzen (vgl. etwa § 29 Abs. 2, § 31 Abs. 4 Satz 2 und insbesondere § 31 Abs. 2 MitbestG)22) bzw. als deren Folge (§ 124 Abs. 3 Satz 5).23) Die Satzung (und nicht die Geschäftsordnung des Aufsichtsrats) kann – sofern die Ge- 8 sellschaft nicht den Mitbestimmungsgesetzen unterliegt – Abweichungen vom Grundsatz der einfachen Mehrheit vorsehen,24) etwa das Recht zum Stichentscheid durch den Aufsichtsratsvorsitzenden oder seinen Stellvertreter25) oder die Behandlung von Stimmenthal-

_____________ 11) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 33; s. a. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 6 (der aber Verhandlung nicht nennt). 12) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 108 Rz. 7. 13) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 17; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 33. 14) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 17; Hölters-Hambloch-Gesinn/Gesinn, AktG, § 108 Rz. 11. 15) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 17; Hölters-Hambloch-Gesinn/Gesinn, AktG, § 108 Rz. 11. 16) Ganz h. M., s. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 5; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 18; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 108 Rz. 21. 17) H. M., s. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 5a; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 18. 18) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 5a; Hölters-Hambloch-Gesinn/Gesinn, AktG, § 108 Rz. 15. 19) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 20; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 6; zu Satzungsklauseln über qualifizierte Beschlussmehrheiten: Jürgenmeyer, ZGR 2007, 112 ff. 20) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 6; Semler/v. Schenck-Schütz, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 123. 21) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 20; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 6; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 40. 22) Ausführlich hierzu Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 21 f.; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 736 f. 23) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 22; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 7. 24) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 23 f.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 66; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 8. 25) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 68; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 8.

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tungen als Nein-Stimmen.26) Die Einräumung eines Vetorechts ist hingegen unzulässig.27) § 108 Abs. 1 ist jedoch abschließend, sofern es um Entscheidungen geht, die der Aufsichtsrat kraft Gesetzes zu treffen hat; die Satzung kann hierfür keine Abweichungen vom Erfordernis der einfachen Mehrheit vorsehen.28) 9 Die Beschlussfeststellung durch Ermittlung der Ja- und Nein-Stimmen sowie der Stimmenthaltungen und Aufnahme des Beschlussergebnisses in die Niederschrift obliegt allein dem Aufsichtsratsvorsitzenden, der die Beschlussfassung leitet.29) Eine förmliche Beschlussfeststellung ist für Beschlüsse i. R. einer Sitzung nicht zwingend erforderlich und hat keine konstituierende Wirkung.30) Der Aufsichtsratsvorsitzende muss prüfen, ob Stimmverbote vorliegen.31) Dessen Entscheidung über die insoweit sich stellenden Rechtsfragen unterliegt nicht der Kontrolle durch den Aufsichtsrat und kann nicht durch Mehrheitsbeschluss revidiert werden,32) während ansonsten die verfahrensleitenden Entscheidungen des Aufsichtsratsvorsitzenden durch einfachen Beschluss des Aufsichtsrats aufgehoben oder geändert werden können.33) Die Vertagung eines oder mehrerer Tagesordnungspunkte kann durch Mehrheitsbeschluss des Aufsichtsrats erfolgen oder – wenn die Satzung oder die Geschäftsordnung dies vorsieht – durch den Aufsichtsratsvorsitzenden.34) 3.

Stimmrecht und Stimmrechtsausschluss

10 Jedem Aufsichtsratsmitglied steht – vorbehaltlich eines satzungsmäßigen oder gesetzlichen Rechts zum Stichentscheid35) – eine Stimme zu.36) 11 Für die Frage, ob ein Stimmrechtsausschluss vorliegt, ist die Regelung des § 34 BGB entsprechend anzuwenden.37) Mithin greift ein Stimmverbot bei Beschlüssen ein, die die Vornahme eines Rechtsgeschäfts mit dem Aufsichtsratsmitglied oder die Einleitung oder Erledigung eines Rechtsstreits zwischen ihm und der Gesellschaft betreffen.38) Weitgehend anerkannt ist auch das Verbot des Richtens in eigener Sache, das eingreift, wenn _____________ 26) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 25; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 735; ablehnend: K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 108 Rz. 32; zweifelnd: Hüffer/KochKoch, AktG, § 108 Rz. 8 a. E. 27) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 25; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 738; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 8; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 46. 28) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 24; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 44; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 8; a. A. Jürgenmeyer, ZGR 2007, 112, 122 ff. 29) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 26; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 58; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 706. 30) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 26; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 58; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 53. 31) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 26; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 58; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 84. 32) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 26; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 58; a. A.: Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 107 Rz. 84. 33) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 706 f.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 47, 49, 52 und 54. 34) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 86; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 706 und 725. 35) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 68; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 735. 36) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 28; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 735; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 61 f. 37) BGH, Urt. v. 2.4.2007 – II ZR 325/05, Rz. 13, ZIP 2007, 1056, 1058; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 64; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 29. 38) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 29; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 70; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 9.

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es um Maßnahmen geht, die sich gegen das Aufsichtsratsmitglied selbst richten.39) Bei der Beschlussfassung über die Wahl eines Aufsichtsratsmitglieds zum Aufsichtsratsvorsitzenden, zu dessen Stellvertreter oder zum Mitglied eines Aufsichtsratsausschusses darf das betreffende Aufsichtsratsmitglied mitstimmen.40) Dies gilt nach zutreffender Ansicht auch für die Beschlussfassung über die eigene Wahl zum Mitglied des Vorstands,41) wobei die inzwischen wohl h. M. (siehe hierzu § 84 Rz. 7 a. E.) hier jedoch von einem Stimmverbot ausgeht.42) Darüber hinaus besteht bei Interessenkonflikten nach dem AktG kein allgemeines 12 Stimmverbot.43) Der Deutsche Corporate Governance Kodex enthält zwar spezielle Regelungen zu Interessenkonflikten (E. 1 Satz 1: Offenlegung gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden und nach E. 1 Satz 2 Information darüber im Bericht des Aufsichtsrats), geht aber ebenfalls nicht von einem allgemeinen Stimmverbot bei Interessenkonflikten aus44) (siehe zum Umgang mit Interessenkonflikten: § 116 Rz. 10). Nach § 111b Abs. 2 gilt ein spezielles Stimmverbot bei Beschlüssen über die Zustimmung zu Geschäften einer börsennotierten Gesellschaft mit nahestehenden Personen45) (siehe dazu § 111b Rz. 7). III.

Beschlussfähigkeit (§ 108 Abs. 2)

Nach § 108 Abs. 2 Satz 1 ist für die Beschlussfähigkeit des Aufsichtsrats primär die Sat- 13 zung maßgeblich. Enthält diese insoweit keine Regelung und greift auch keine gesetzliche Regelung ein, erfordert die Beschlussfähigkeit des Aufsichtsrats nach § 108 Abs. 2 Satz 2, dass mindestens die Hälfte seiner Mitglieder an der Abstimmung teilnimmt. Jedenfalls müssen aber nach der zwingenden Regel des § 108 Abs. 2 Satz 3 mindestens drei Mitglieder teilnehmen. Bei einem dreiköpfigen Aufsichtsrat führt das Stimmverbot eines Mitglieds nicht zur Beschlussunfähigkeit des Aufsichtsrats; das betreffende Aufsichtsratsmitglied „kann und muss“ durch Stimmenthaltung an der Beschlussfassung teilnehmen.46) Die bloße Unterbesetzung führt nach der ebenfalls zwingenden Regel des § 108 Abs. 2 14 Satz 4 auch dann nicht zur Beschlussunfähigkeit, wenn die Gruppenparität nicht gewahrt ist.47) Die Mitbestimmungsgesetze enthalten besondere Regeln für die Beschlussfähigkeit, die in- 15 nerhalb des jeweiligen Geltungsbereichs zu beachten sind (siehe etwa § 28 Satz 1 MitbestG oder §§ 10 MontanMitbestG, 11 MitbestErgG).48) Eine Teilnahme an der Beschlussfassung liegt nicht nur bei Abgabe einer Ja- oder Nein- 16 Stimme vor, sondern auch bei einer Stimmenthaltung, wobei es nicht der Anwesenheit _____________ 39) OLG Stuttgart, Urt. v. 30.5.2007 – 20 U 14/06, AG 2007, 873, 876 = ZIP 2007, 1217 (LS); Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 66; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 32. 40) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 68; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 32. 41) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 348 und § 11 Rz. 731; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 70. 42) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 68; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 9; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 32. 43) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 29; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 70. 44) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 29; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 11. 45) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 732. 46) BGH, Urt. v. 2.4.2007 – II ZR 325/05, Rz. 13, ZIP 2007, 1056, 1058; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 78 f.; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 731; kritisch zur Methodik: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 16; s. a. Priester, AG 2007, 190 ff. 47) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 103 f.; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 45. 48) S. hierzu Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 35 und Rz. 39 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 17 f.; Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG/DrittelbG, § 28 MitbestG Rz. 1 f.

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in der Sitzung bedarf, sondern auch die Stimmbotschaft nach § 108 Abs. 3 oder Teilnahme nach § 108 Abs. 4 genügt.49) IV.

Schriftliche Stimmabgabe (§ 108 Abs. 3)

17 § 108 Abs. 3 lässt die Teilnahme an der Beschlussfassung des Aufsichtsrats oder seiner Ausschüsse mittels schriftlicher Stimmabgabe („Stimmbotschaft“) als Ausgleich für das Verbot der Stellvertretung (§ 111 Abs. 5) zu.50) Nach § 108 Abs. 3 Satz 2 können andere (anwesende) Aufsichtsratsmitglieder Stimmbote sein, nach Satz 3 weitere Personen, wenn ihre Sitzungsteilnahme durch die Satzung zugelassen wird (§ 109 Abs. 3). Die Stimmboten dürfen keinen eigenen Entscheidungsspielraum haben; die Stimmbotschaft beschränkt sich auf die Überreichung einer fremden Erklärung.51) 18 Es ist streitig, ob für die Stimmbotschaft das Erfordernis eigener Namensunterschrift gilt oder ob auch Telegramm, Telefax oder E-Mail genügen. Mit der Einfügung des § 108 Abs. 4 steht die strenge Auffassung, die an dem Erfordernis der eigenen Namensunterschrift festhält,52) nicht in Einklang bzw. erscheint sie nicht sinnvoll53), weshalb von einer analogen Anwendung des § 108 Abs. 4 i. R. des § 108 Abs. 3 auszugehen ist54). V.

Beschlussfassung ohne Sitzung (§ 108 Abs. 4)

19 § 108 Abs. 4 ermöglicht die Beschlussfassung des Aufsichtsrats ohne eine Präsenzsitzung, etwa schriftlich, fernmündlich oder in anderer vergleichbarer Form (etwa per E-Mail oder i. R. einer Telefonkonferenz). Das in § 108 Abs. 4 ausdrücklich genannte Widerspruchsrecht jedes Aufsichtsratsmitglieds kann durch eine Regelung in der Satzung oder Geschäftsordnung gänzlich ausgeschlossen werden, die die konkret vorgesehene Art der Beschlussfassung erlaubt.55) Für Aufsichtsratsausschüsse ist eine entsprechende spezielle Regelung erforderlich.56) Die Satzung oder die Geschäftsordnung kann die Beschlussfassung ohne Sitzung auch erschweren.57) 20 Ob und unter welchen Voraussetzungen eine gemischte Beschlussfassung, bei der die Aufsichtsratsmitglieder die Stimme in der Sitzung und weitere abwesende Aufsichtsratsmitglieder auf andere Weise abgeben (auch nachträglich), zulässig ist, wird nicht einheitlich beantwortet.58) Derartige Beschlussfassungen sind zulässig, sofern kein Aufsichtsrats_____________ 49) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 36 f.; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 717 und 729; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 102. 50) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 49; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 88. 51) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 50 und Rz. 56; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 726; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 123 f. 52) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 52 f.; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 726. 53) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 91; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 20. 54) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 20; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 91; Hoffmann-Becking in: Festgabe Happ, S. 81, 89 f.; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 108 Rz. 24; s. dazu auch OLG Frankfurt/M., Urt. v. 2.5.2019 – 22 U 61/17, ZIP 2019, 1168, 1171, dort wird die Frage, ob eine schriftliche Stimmabgabe per E-Mail nach § 108 Abs. 3 zulässig ist, offengelassen, da sie es „jedenfalls“ nach § 108 Abs. 4 AktG war. 55) Kindl, ZHR 166 (2002) 335, 338 ff.; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 66 f.; s. a. Seibert, ZIP 2001, 53, 54. 56) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 66; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 147. 57) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 68; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 97; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 108 Rz. 26; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 145. 58) Zweifelnd Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 23; für Zulässigkeit auch ohne statutarische Ermächtigung: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 71; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 93; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 108 Rz. 29.

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mitglied (auch kein abwesendes) widerspricht (es sei denn, das Widerspruchsrecht wurde durch die Satzung oder Geschäftsordnung ausgeschlossen).59) Sie sollte in der Satzung oder Geschäftsordnung ausdrücklich erlaubt und geregelt werden.60) Ob Videokonferenzen (oder Internetkonferenzen mit Bild- und Tonübertragung) als ver- 21 gleichbare Form der Stimmabgabe einzuordnen sind – und damit ein Widerspruchsrecht gemäß § 108 Abs. 4 besteht61) – oder ob sie einer Präsenzsitzung gleichzustellen sind,62) wird immer noch uneinheitlich beurteilt. Der Umstand, dass Videokonferenzen und Internetkonferenzen mit Ton- und Bildübertragung auch eine Visualisierung der Teilnehmer und damit eine gewisse Interaktion ähnlich wie in einer Präsenzsitzung ermöglichen, spricht dafür, sie als einer Präsenzsitzung gleichwertig zu behandeln.63) Auch wenn daher die hiergegen immer noch vorgetragenen Argumente – insbesondere in Anbetracht der jüngsten Erfahrungen64) – zumindest für die Videokonferenz (und Internet-Konferenzen mit Ton- und Bildübertragung) nicht vollends überzeugen, sollte aus Vorsichtsgründen in der Praxis die Video- und Telefonkonferenz ausdrücklich als Sitzungsform erlaubt und das Widerspruchsrecht ausgeschlossen werden.65) Die Frage der Zahlung von Sitzungsgeld für Telefon- und Videokonferenz sollte ebenfalls (klarstellend) in der Satzung geregelt werden (siehe dazu § 113 Rz. 11). VI.

Fehlerhafte Aufsichtsratsbeschlüsse

Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH sind Aufsichtsratsbeschlüsse, die gegen 22 zwingendes Gesetzes- oder Satzungsrecht verstoßen gemäß §§ 134, 138 BGB grundsätzlich nichtig.66) Mit Blick auf die Nichtigkeitsfolge wird jedoch nach Art und Schwere des Beschlussmangels 23 differenziert.67) Schwerwiegende Mängel führen zur uneingeschränkten Nichtigkeit, auf die sich jeder Betroffene unbefristet und formlos berufen kann. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Beschlussinhalt gegen zwingende Vorschriften des Gesetzes oder der Satzung verstößt (Inhaltsmangel).68) Nichtigkeit des Aufsichtsratsbeschlusses liegt auch bei _____________ 59) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 93; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 108 Rz. 29. 60) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 730; so im Ergebnis auch: Hüffer/KochKoch, AktG, § 108 Rz. 23; s. a. Kindl, ZHR 166 (2002) 335, 343; Miettinen/Villeda, AG 2007, 346, 348; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 108 Rz. 29. 61) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 17; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 729; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 95. 62) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 22; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 136; Semler/v. SchenckSchütz, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 96 f. 63) Für Gleichwertigkeit der Videokonferenz: Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 136; Hüffer/KochKoch, AktG, § 108 Rz. 22. 64) Kremer/Mucic/Thomas/v. Werder, DB 2021, 1145, 1146 f.; Heusel/Goette, AG 2020, 411, 417. 65) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 22 a. E.; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 136. 66) BGH, Urt. v. 17.5.1993 – II ZR 89/92 (Hamburg-Mannheimer), BGHZ 122, 342, 347, 351 f. = ZIP 1993, 1079, 1081, 1082; BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95 (ARAG/Garmenbeck), BGHZ 135, 244, 247 = ZIP 1997, 883, 884; BGH, Urt. v. 29.5.2000 – II ZR 47/99, ZIP 2000, 1336, 1337 (zum Verwaltungsrat einer Sparkasse); so auch überwiegend das Schrifttum, s. Habersack in: MünchKommAktG, § 108 Rz. 73; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 739; für analoge Anwendung der §§ 241 ff.: Baums, ZGR 1983, 300, 305 ff. 67) BGH, Urt. v. 17.5.1993 – II ZR 89/92 (Hamburg-Mannheimer), BGHZ 122, 342, 351 f. = ZIP 1993, 1079, 1082; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 27; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 739. 68) BGH, Urt. v. 17.5.1993 – II ZR 89/92 (Hamburg-Mannheimer), BGHZ 122, 342, 351 = ZIP 1993, 1079, 1082; s. a. Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 116; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 27; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 108 Rz. 40.

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§ 108

Beschlußfassung des Aufsichtsrats

wesentlichen Verfahrensfehlern vor, wie etwa bei Verstößen gegen die Vorschriften zur Beschlussfähigkeit oder zum Abstimmungsverfahren.69) Reine Ordnungsverstöße bzw. unwesentliche Verfahrensverstöße führen nicht zur uneingeschränkten Nichtigkeit. Dies gilt etwa für die Teilnahme einer nicht gemäß § 109 berechtigten Person an einer Aufsichtsratssitzung70) (siehe dazu auch nachfolgend Rz. 25) oder für Protokollmängel (siehe § 107 Abs. 2 Satz 3).71) Ein Verfahrensmangel führt auch dann nicht zur Beschlussnichtigkeit, wenn er – etwa durch Beschluss des Aufsichtsrats, Verzicht oder Genehmigung – geheilt wurde.72) 24 Mängel der einzelnen Stimmabgabe schlagen nur dann auf das Beschlussergebnis durch, wenn der Beschluss ohne die betreffende Stimme nicht oder nicht so gefasst worden wäre.73) 25 Nach der Rechtsprechung des BGH führt die Mitwirkung von Nichtmitgliedern an Aufsichtsratsbeschlüssen nicht generell zu deren Nichtigkeit, sondern es kommt auf die Kausalität für die Beschlussfähigkeit und das Beschlussergebnis an.74) Eine erfolgreiche Klage gegen Aufsichtsratswahlen kann zur Nichtigkeit von Aufsichtsratsbeschlüssen führen, wenn der Beschluss von der Stimme des Aufsichtsratsmitglieds abhängt, dessen Wahl erfolgreich angefochten wird.75) Der BGH lehnt insoweit die Anwendbarkeit der Lehre vom faktischen Organ76) ab, betrachtet aber im Einzelfall, ob die Rückabwicklung eines Aufsichtsratsbeschlusses den berechtigten Interessen der Beteiligten widerspricht77) (siehe dazu auch § 101 Rz. 11). 26 Die klageweise Geltendmachung der Nichtigkeit kann durch Feststellungsklage gemäß § 256 ZPO erfolgen, die gegen die Gesellschaft zu richten ist und die ein Feststellungsinteresse erfordert.78) Klagebefugt ist jedes Aufsichtsratsmitglied79) und – je nach Inhalt des betreffenden Beschlusses – auch ein einzelnes Vorstandsmitglied.80) Weiter ist der Beitritt _____________ 69) BGH, Urt. v. 17.5.1993 – II ZR 89/92 (Hamburg-Mannheimer), BGHZ 122, 342, 351 = ZIP 1993, 1079, 1082; s. a. Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 117; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 27; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 108 Rz. 41. 70) BGH, Urt. v. 17.4.1967 – II ZR 157/64, BGHZ 47, 341, 349 f.; s. dazu Habersack in: MünchKommAktG, § 108 Rz. 76; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 108 Rz. 39. 71) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 79; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 742; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 118. 72) S. etwa OLG München, Beschl. v. 12.1.2017 – 23 U 3582/16, ZIP 2017, 372, 373; ausführlich dazu Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 108 Rz. 186 ff.; s. a. Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 117; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 108 Rz. 43 f. 73) BGH, Urt. v. 17.4.1967 – II ZR 157/64, BGHZ 47, 341, 346; ausführlich dazu: Habersack in: MünchKommAktG, § 108 Rz. 75; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 741; Hüffer/KochKoch, AktG, § 108 Rz. 27. 74) BGH, Urt. v. 17.4.1967 – II ZR 157/64, BGHZ 47, 341, 346; BGH, Urt. v. 19.2.2013 – II ZR 56/12, Rz. 21, BGHZ 196, 195 = ZIP 2013, 720, dazu EWiR 2013, 333 (Schatz); s. a. Drygala/Gehling, ZIP 2014, 1253. 75) BGH, Urt. v. 19.2.2013 – II ZR 56/12, BGHZ 196, 195 = ZIP 2013, 720, 721. 76) Dafür: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 101 Rz. 70; a. A. OLG Köln, Urt. v. 28.2.2008 – 18 U 3/08, ZIP 2008, 1767, 1768; Vetter, ZIP 2012, 701, 707 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 101 Rz. 22 geht zutreffend davon aus, dass mit der vorgenannten Entscheidung des BGH diese Diskussion „ein vorläufiges Ende gefunden haben“ dürfte. 77) BGH, Urt. v. 19.2.2013 – II ZR 56/12, BGHZ 196, 195 = ZIP 2013, 720, 722; ausführlich dazu Arnold/Gayk, DB 2013, 1830 ff.; Buckel/Vogel, ZIP 2014, 58 ff. 78) BGH, Urt. v. 17.5.1993 – II ZR 89/92 (Hamburg-Mannheimer), BGHZ 122, 342, 351 = ZIP 1993, 1079, 1082; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 26 und 30; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 85. 79) BGH Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95 (ARAG/Garmenbeck), BGHZ 135, 244, 247 = ZIP 1997, 883, 884; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 743 f.; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 108 Rz. 45. 80) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 743; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 85; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 108 Rz. 46.

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Teilnahme an Sitzungen des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse

§ 109

eines Aufsichtsratsmitglieds auf Seiten der Gesellschaft im Prozess mit einem Vorstandsmitglied über dessen Abberufung zulässig.81) Im Falle der erfolgreichen Anfechtung einer Aufsichtsratswahl führt die Beendigung des Amts durch Niederlegung dann zum Wegfall des Rechtsschutzinteresses, wenn die Nichtigerklärung keinen Einfluss auf die Rechtsbeziehungen der Gesellschaft, der Aktionäre sowie der Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder hat.82) Die Mangelhaftigkeit des Aufsichtsratsbeschlusses ist unverzüglich geltend zu machen, 27 etwa durch formlose Erklärung gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden.83) Für die Erhebung der Feststellungsklage gilt keine Frist, insbesondere nicht die Monatsfrist des § 246; es kann aber Verwirkung eintreten.84) Ein Gebot zumutbarer Beschleunigung folgt nach Auffassung der Literatur auch aus der organschaftlichen Treuepflicht der Aufsichtsratsmitglieder.85) Vergleichsverhandlungen über die Bereinigung eines fehlerhaften Beschlusses stehen einer Verwirkung wohl (analog § 203 BGB) entgegen.86) VII. Sonderregelung zu § 108 Abs. 4 durch das COVAbmildG Gemäß Art. 2 § 1 Abs. 6 Satz 2 des COVAbmildG87) gilt für die erforderliche Zustim- 28 mung des Aufsichtsrats zur Entscheidung des Vorstands über die Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung sowie über die sonstigen dort genannten Maßnahmen (Art. 2 § 1 Abs. 1 COVAbmildG), dass diese abweichend von § 108 Abs. 4 – ungeachtet etwaiger Regelungen in der Satzung oder Geschäftsordnung – ohne physische Anwesenheit der Mitglieder schriftlich, fernmündlich oder in vergleichbarer Weise beschlossen werden können.88) Damit sind sonstige präsenzlose Beschlussfassungen (etwa per E-Mail oder Chat) und virtuelle Aufsichtssitzungen zulässig, jedoch nur unter der Prämisse, dass über die Maßnahmen nach Art. 2 § 1 Abs. 1 – 5 COVAbmildG beschlossen wird.89) _____________ 81) BGH, Zwischenurt. v. 29.1.2013 – II ZB 1/11, ZIP 2013, 483, 484, dazu EWiR 2013, 301 (Deiß). 82) BGH, Urt. v. 19.2.2013 – II ZR 56/12, BGHZ 196, 195 = ZIP 2013, 720, 721. 83) BGH, Urt. v. 17.5.1993 – II ZR 89/92 (Hamburg-Mannheimer), BGHZ 122, 342, 352 = ZIP 1993, 1079, 1082; s. dazu Habersack in: MünchKomm-AktG, § 101 Rz. 81 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 29. 84) BGH, Urt. v. 15.11.1993 – II ZR 235/92, BGHZ 124, 111 = ZIP 1993, 1862, 1863; OLG Düsseldorf, Urt. v. 22.6.1995 – 6 U 104/94, ZIP 1995, 1183, 1187; LG Frankfurt/M., Urt. v. 19.12.1995 – 2/14 O 183/95, ZIP 1996, 1661, 1663, erachtet eine Überlegungszeit von rund drei Monaten als angemessen und nicht als illoyale Verzögerung. 85) Fleischer, DB 2013, 217, 222. 86) BGH, Urt. v. 17.5.1993 – II ZR 89/92 (Hamburg-Mannheimer), BGHZ 122, 342, 352 = ZIP 1993, 1079. 87) Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht (COVAbmildG) v. 27.3.2020, BGBl. I 2020, 569; dessen Geltung durch das Aufbauhilfegesetz 2021 (AufbhG 2021) v. 10.9.2021, BGBl. I 2021, 4147, wurde bis zum 31.8.2022 verlängert, Art. 16 AufbhG 2021. 88) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 31; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 108 Rz. 28a. 89) Noack/Zetzsche, AG 2020, 265, 275 f.; weitergehend Heusel/Goette, AG 2020, 411, 417 f., die auch für sonstige Beschlussgegenstände eine Aufsichtsratssitzung in der Corona-Krise auf fernmündlicher oder schriftlicher Basis für zulässig erachten; s. dazu auch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 31.

§ 109 Teilnahme an Sitzungen des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse Werner Paul Schick

(1) 1An den Sitzungen des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse sollen Personen, die weder dem Aufsichtsrat noch dem Vorstand angehören, nicht teilnehmen. 2Sachverständige und Auskunftspersonen können zur Beratung über einzelne Gegenstände zugezogen werden. 3Wird der Abschlussprüfer als Sachverständiger zugezogen, nimmt der Werner Paul Schick

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§ 109

Teilnahme an Sitzungen des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse

Vorstand an dieser Sitzung nicht teil, es sei denn, der Aufsichtsrat oder der Ausschuss erachtet seine Teilnahme für erforderlich. (2) Aufsichtsratsmitglieder, die dem Ausschuß nicht angehören, können an den Ausschußsitzungen teilnehmen, wenn der Vorsitzende des Aufsichtsrats nichts anderes bestimmt. (3) Die Satzung kann zulassen, daß an den Sitzungen des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse Personen, die dem Aufsichtsrat nicht angehören, an Stelle von verhinderten Aufsichtsratsmitgliedern teilnehmen können, wenn diese sie hierzu in Textform ermächtigt haben. (4) Abweichende gesetzliche Vorschriften bleiben unberührt. Literatur: Böttcher, Unzulässige Besetzung von Aufsichtsräten, NZG 2012, 809; Dreher, Direktkontakte des Aufsichtsrats in der Aktiengesellschaft zu dem Vorstand nachgeordneten Mitarbeitern, in: Festschrift für Peter Ulmer, 2003, S. 87; Hörst, Zur BAV-Verlautbarung „Satzungsbestimmungen über Vorstands- und Aufsichtsratssitzungen“, NVersZ 2002, 390; Löbbe, Die Aufsichtsratsausschüsse innerhalb des Gesamtaufsichtsrats, ZGR Sonderheft 25/2021, S. 199; Lutter, Ehrenämter im Aktien- und GmbH-Recht, ZIP 1984, 645; Marsch-Barner, Zur Information des Aufsichtsrates durch Mitarbeiter des Unternehmens, in: Festschrift für Eberhard Schwark, 2009, S. 219; Schneider, Gemeinsame Sitzungen und gemeinsame Beschlussfassung von Aufsichtsräten im Konzern?, in: Festschrift für Horst Konzen, 2006, S. 881; Schneider, Die Teilnahme von Vorstandsmitgliedern an Aufsichtsratssitzungen, ZIP 2002, 873; Schnorbus/Ganzer, Gemeinsame Sitzungen von Aufsichtsorganen innerhalb eines Konzerns, AG 2013, 445.

Übersicht I. Gegenstand und Zweck der Norm .................................................. 1 II. Sitzungsteilnahme (§ 109 Abs. 1) ... 3 III. Teilnahme an Ausschusssitzungen (§ 109 Abs. 2) ................... 7 I.

IV. Teilnahme von ermächtigten Personen (§ 109 Abs. 3) .................... 9 V. Abweichende gesetzliche Vorschriften (§ 109 Abs. 4) ................... 10

Gegenstand und Zweck der Norm

1 § 109 Abs. 1 Satz 1 enthält den Grundsatz,1) dass Personen, die weder Aufsichtsrats- noch Vorstandsmitglieder sind, an den Sitzungen des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse nicht teilnehmen sollen. § 109 Abs. 1 Satz 2 erlaubt unter gewissen Voraussetzungen die Teilnahme von Sachverständigen und Auskunftspersonen. Die Beschränkung der Teilnahmemöglichkeiten von Nichtorganmitgliedern dient der Sicherung der Organisationsverfassung, zudem soll die Vertraulichkeit der Aufsichtsratsberatungen hierdurch gewährleistet werden.2) Durch das FISG3) ist bei Absatz 1 ein neuer Satz 3 angefügt worden; die Teilnahme des Vorstands an Sitzungen, in denen der Abschlussprüfer „als Sachverständiger“ zugezogen wird, ist ausgeschlossen, sofern der Aufsichtsrat oder der Ausschuss dies nicht anders regeln. Durch diese Änderung soll die vertrauliche Kommunikation mit dem Abschlussprüfer gestärkt werden, wenn der Aufsichtsrat oder der Ausschuss sich mit diesem i. R. der Vorbereitung oder der Durchführung der Prüfung austauschen will.4) _____________ 1) 2) 3) 4)

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Schneider in: FS Konzen, S. 881, 885, versteht § 109 Abs. 1 Satz 1 als Ordnungsvorschrift; so wohl auch die Rspr., s. BGH, Urt. v. 17.4.1967 – II ZR 157/64, BGHZ 47, 341, 349 f. BGH, Beschl. v. 30.1.2012 – II ZB 20/11, Rz. 16, ZIP 2012, 472, 473, dazu EWiR 2012, 219 (Vetter); Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 109 Rz. 5 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 109 Rz. 1. Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität (Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz – FISG) v. 3.6.2021, BGBl. I, 2021, 1534. Beschlussempfehlung und Bericht d. FA z. FISG, BT-Drucks. 19/29879, S. 158.

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Teilnahme an Sitzungen des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse

§ 109

§ 109 Abs. 2 behandelt das Teilnahmerecht von Aufsichtsratsmitgliedern an Sitzungen 2 von Ausschüssen, denen sie nicht angehören. Nach § 109 Abs. 3 kann die Satzung die Teilnahme ermächtigter Personen anstelle von verhinderten Aufsichtsratsmitgliedern zulassen. Durch § 109 Abs. 4 wird klargestellt, dass § 109 das Teilnahmerecht dritter Personen nicht abschließend regelt.5) Die Regelungen des § 109 sind zwar zwingendes Recht, Verstöße führen jedoch nicht zur Nichtigkeit der in der betreffenden Sitzung gefassten Beschlüsse6) (siehe dazu auch § 108 Rz. 23). II.

Sitzungsteilnahme (§ 109 Abs. 1)

§ 109 Abs. 1 Satz 1 enthält die zwingende Grundregel, dass an den Aufsichtsratssitzungen 3 keine Personen teilnehmen sollen, die nicht Mitglieder des Aufsichtsrats oder des Vorstands sind.7) Aufsichtsratsmitglieder haben ein grundsätzlich unentziehbares Teilnahmerecht kraft Amtes. Nur ausnahmsweise kann der Aufsichtsrat beschließen, ein Aufsichtsratsmitglied von der Sitzungsteilnahme auszuschließen, wenn andernfalls wichtige Gesellschaftsbelange gefährdet werden (etwa durch konkret belegbaren Geheimnisverrat).8) Vorstandsmitglieder haben zwar kein eigenes Teilnahmerecht kraft Gesetzes,9) die Sat- 4 zung kann ihnen aber ein Teilnahmerecht derart einräumen, dass der Aufsichtsratsvorsitzende oder der Aufsichtsrat im Einzelfall anders entscheiden können.10) Sofern der Aufsichtsratsvorsitzende oder der Aufsichtsrat dies wünschen, sind die Vorstandsmitglieder zur Teilnahme verpflichtet.11) Regelmäßige Teilnahme der Vorstandsmitglieder an den Aufsichtsratssitzungen ist üblich und grundsätzlich sachgerecht.12) Nach der Empfehlung des Deutscher Corporate Governance Kodex (DCGK) soll der Aufsichtsrat regelmäßig auch ohne sie tagen (D. 7 DCGK). Personen, die nicht Aufsichtsrats- oder Vorstandsmitglied sind, haben kein Teilnahmerecht nach § 109 Abs. 1 Satz 1; dies gilt auch für ehemalige Mitglieder (etwa Ehrenvorsitzende des Aufsichtsrats).13) Nach § 109 Abs. 1 Satz 2 können Sachverständige und Auskunftspersonen zur Beratung ein- 5 zelner Gegenstände zugelassen werden. Die Begriffe „Sachverständige und Auskunftspersonen“ sind weit auszulegen. Sachverständiger ist jeder, der eine spezifische Sachkunde besitzt.14) Als Auskunftsperson kommt jede Person in Betracht, die über bestimmte Vorgänge aus ihrer Tätigkeit für die Gesellschaft berichten soll oder von der sich der Aufsichtsrat eine Information verspricht.15) Als Auskunftsperson kommen auch Mitarbeiter der Gesell_____________ 5) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 109 Rz. 109; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 109 Rz. 4. 6) BGH, Urt. v. 17.4.1967 – II ZR 157/64, BGHZ 47, 341, 349 f.; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 109 Rz. 8 f.; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 109 Rz. 6 f. 7) BGH, Beschl. v. 30.1.2012 – II ZB 20/11, Rz. 15, ZIP 2012, 472, 473; Lutter, ZIP 1984, 645, 652; Böttcher, NZG 2012, 809; zur Frage der Zulässigkeit von gemeinsamen Sitzungen von Aufsichtsräten innerhalb eines Konzerns: Schnorbus/Ganzer, AG 2013, 445, 446 ff. 8) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 700; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 109 Rz. 10. 9) Beschlussempfehlung und Bericht d. FA z. FISG, BT-Drucks. 19/29879, S. 178. 10) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 702; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 109 Rz. 3. 11) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 702; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 52. 12) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 702; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 109 Rz. 3; Schneider, ZIP 2002, 873, 875 f.; zu Besonderheiten bei Versicherungsunternehmen bzw. zur abweichenden Auffassung der Aufsicht: Hörst, NVersZ 2002, 390 ff. 13) Lutter, ZIP 1984, 645, 651 f.; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 109 Rz. 16; Habersack in: MünchKommAktG, § 109 Rz. 16. 14) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 109 Rz. 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 109 Rz. 5. 15) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 109 Rz. 18; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 109 Rz. 36; zu Mitarbeitern als Auskunftsperson des Aufsichtsrats und zur Zulässigkeit von Direktkontakten des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern: Dreher in: FS Ulmer, S. 87, 97 f.; Marsch-Barner in: FS Schwark, S. 219, 223 f.

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§ 109

Teilnahme an Sitzungen des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse

schaft in Betracht, wobei noch umstritten ist, ob diese unmittelbar und uneingeschränkt16) oder nur unter Vermittlung des Vorstands17) einbezogen werden dürfen (siehe dazu auch § 111 Rz. 4 und Rz. 14). Das durch das FISG in § 107 Abs. 4 Satz 4 neu eingefügte unmittelbare (d. h. ohne vorherige Einschaltung des Vorstands) Auskunftsrecht der Prüfungsausschussmitglieder (siehe dazu § 107 Rz. 23) hat Ausnahmecharakter,18) weshalb diese Regelung wohl nicht für eine unmittelbare Einbeziehung von Mitarbeitern i. R. von § 109 Abs. 1 Satz 2 spricht.19) Zulässig ist auch die Hinzuziehung eines Protokollführers oder anderer Hilfskräfte (Dolmetscher).20) Die Entscheidung über die Zulassung trifft vorbehaltlich abweichender Mehrheitsentscheidungen des Aufsichtsrats der Aufsichtsratsvorsitzende.21) Nehmen Dritte unzulässigerweise an einer Sitzung teil, so berührt dies nicht die Wirksamkeit der in der Sitzung gefassten Beschlüsse.22) 6 Durch den durch das FISG (siehe dazu oben Rz. 1) neu angefügten Satz 3 soll klargestellt werden, dass § 109 Abs. 1 Satz 1 für den Fall der Zuziehung des Abschlussprüfers als Sachverständigen weder ein gesetzliches Teilnahmerecht noch eine gesetzliche Teilnahmepflicht der Vorstandsmitglieder an den Sitzungen des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse enthält.23) Die ansonsten zu § 109 Abs. 1 Satz 1 geltenden Grundsätze für die Teilnahme des Vorstands in sonstigen Fällen bleiben hiervon unberührt.24) Es empfiehlt sich, die Frage der Teilnahme des Vorstands an Aufsichtsrats- und Ausschusssitzungen, zu denen der Abschlussprüfer als Sachverständiger zugezogen wird, ausdrücklich zu regeln. Der Aufsichtsrat oder der betroffene Ausschuss kann eine grundsätzliche „Policy“ hierfür beschließen, die auch in die Geschäftsordnung des Aufsichtsrats bzw. seines Ausschusses aufgenommen werden kann. Dies empfiehlt sich insbesondere, da nicht ganz eindeutig ist, wann der Abschlussprüfer „als Sachverständiger“ zugezogen wird. Die Materialien gehen hiervon wohl aus, wenn der Aufsichtsrat oder der Ausschuss sich mit dem Abschlussprüfer i. R. der Vorbereitung oder Durchführung der Prüfung austauschen will.25) Die neue Empfehlung D. 11 im Entwurf des DCGK i. d. F. v. 21.1.2022 (siehe dazu auch § 111 Rz. 2) sieht im Zusammenhang mit den FISG-Neuregelungen vor, dass der Prüfungsausschuss regelmäßig mit dem Abschlussprüfer ohne den Vorstand tagen soll. III.

Teilnahme an Ausschusssitzungen (§ 109 Abs. 2)

7 Während Aufsichtsratsmitglieder, die einem Ausschuss angehören, zur Teilnahme an dessen Sitzungen berechtigt und verpflichtet sind, haben die dem Ausschuss nicht angehörenden Aufsichtsratsmitglieder nach § 109 Abs. 2 nur grundsätzlich ein Teilnahmerecht. Der Aufsichtsratsvorsitzende, nicht aber der jeweilige Ausschussvorsitzende, _____________ 16) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 109 Rz. 19; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 109 Rz. 38. 17) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 5; Spindler in: BeckOGK-AktG, § 109 AktG Rz. 26: Nur im Ausnahmefall ohne Vermittlung des Vorstands. 18) Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 116. 19) S. dazu auch Löbbe, ZGR Sonderheft 25/2021, S. 199, 219 ff. 20) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 703; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 109 Rz. 5, sofern kein Aufsichtsratsmitglied widerspricht; a. A. bzgl. Widerspruchsrecht: Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 54. 21) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 54; Semler/v. Schenck/Wilsing-Semler, ArbHdb. AR, § 4 Rz. 78. 22) BGH, Urt. v. 17.4.1967 – II ZR 157/64, BGHZ 47, 341, 349 f.; OLG München, Urt. v. 12.1.2017 – 23 U 3582/16, ZIP 2017, 372, 374, dazu EWiR 2017, 233 (Goslar); Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 118; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 109 Rz. 4. 23) Beschlussempfehlung und Bericht d. FA z. FISG, BT-Drucks. 19/29879, S. 158. 24) Beschlussempfehlung und Bericht d. FA z. FISG, BT-Drucks. 19/29879, S. 158. 25) Beschlussempfehlung und Bericht d. FA z. FISG, BT-Drucks. 19/29879, S. 158.

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Teilnahme an Sitzungen des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse

§ 109

kann festlegen, dass sie nicht teilnehmen dürfen. Hierfür sind im Einzelfall sachliche Gründe erforderlich;26) ein genereller Ausschluss (etwa durch die Geschäftsordnung oder die Satzung) wird als Verstoß gegen die Wertung des § 109 Abs. 2 gesehen und daher allenfalls für einzelne Ausschüsse als zulässig erachtet.27) Der Aufsichtsratsvorsitzende kann von der Teilnahme an der Personalausschusssitzung mit der Begründung ausschließen, dass dort vertrauliche Themen behandelt werden sollen.28) Als Rechtsschutzmöglichkeit betroffener Aufsichtsratsmitglieder kommt eine Feststellungsklage gegen die Gesellschaft, vertreten durch den Vorstand, in Betracht.29) Die einem Ausschuss nicht angehörenden, aber nach § 109 Abs. 2 teilnehmenden Auf- 8 sichtsratsmitglieder haben grundsätzlich ein Recht auf Einsichtnahme in alle Unterlagen, die Grundlage der Ausschussberatungen sind, sowie auf Einsicht in die Ausschussprotokolle.30) Diese Einsichtsrechte entfallen aber, wenn der Aufsichtsratsvorsitzende ein Aufsichtsratsmitglied nach § 109 Abs. 2 von der Teilnahme ausschließt;31) entsprechend § 109 Abs. 2 kann auch nur die Protokolleinsicht ausgeschlossen werden.32) IV. Teilnahme von ermächtigten Personen (§ 109 Abs. 3) Die nach § 109 Abs. 3 zulässige Ermächtigung von Personen, die dem Aufsichtsrat 9 nicht angehören, muss lediglich Textform (§ 126b BGB) haben, d. h. es genügen unterschriftslose Erklärungen (etwa E-Mail oder Telefax).33) Die Satzung muss die Regelung über die Zulassung ermächtigter Personen selbst treffen, sie kann nicht etwa dem Aufsichtsratsvorsitzenden übertragen bzw. überlassen werden.34) Das Teilnahmerecht gibt nur Recht auf Anwesenheit, nicht aber ein eigenes Rede- und Antragsrecht; die Stimmabgabe des verhinderten Aufsichtsratsmitglieds ist nach Maßgabe des § 108 Abs. 3 Satz 3 zulässig.35) Die ermächtigte Person kann – wie das Aufsichtsratsmitglied selbst – nach § 109 Abs. 2 ausgeschlossen werden.36) V. Abweichende gesetzliche Vorschriften (§ 109 Abs. 4) Die nach § 109 Abs. 4 unberührt bleibenden abweichenden gesetzlichen Vorschriften sind 10 insbesondere aufsichtsrechtliche Sonderbestimmungen, die ein Teilnahme- und Rederecht für Vertreter der Aufsichtsbehörden begründen (etwa § 44 Abs. 4 KWG, § 306 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 VAG).37) _____________ 26) LG München I, Urt. v. 26.7.2007 – 12 O 8466/07, BB 2007, 2473, 2474 f. = NZG 2008, 348, dazu EWiR 2008, 193, 194 (Peus); Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 109 Rz. 50. 27) LG München I, Urt. v. 26.7.2007 – 12 O 8466/07, BB 2007, 2473, 2474 f. = NZG 2008, 348; Semler/ v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 109 Rz. 51; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 109 Rz. 6. 28) LG München I, Urt. v. 26.7.2007 – 12 O 8466/07, BB 2007, 2473, 2474 f. = NZG 2008, 348. 29) LG München I, Urt. v. 26.7.2007 – 12 O 8466/07, BB 2007, 2473, 2474 f. = NZG 2008, 348. 30) OLG Hamburg, Urt. v. 25.5.1984 – 11 U 183/83, AG 1984, 248, 251; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 792; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 109 Rz. 6; Habersack in: MünchKommAktG, § 109 Rz. 23. 31) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 109 Rz. 84; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 792. 32) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 109 Rz. 89; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 792. 33) Näher zur Textform: Begr. RegE eines Gesetzes zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts und anderer Vorschriften an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr v. 14.12.2000, BT-Drucks. 14/ 4987, S. 18 f. 34) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 109 Rz. 40; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 109 Rz. 63; a. A. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 109 Rz. 40. 35) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 109 Rz. 38; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 109 Rz. 58 und Rz. 65. 36) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 109 Rz. 28; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 109 Rz. 35 und Rz. 38. 37) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 109 Rz. 109; Semler/v. Schenck-Gittermann, Der Aufsichtsrat, § 109 Rz. 66; zu den aufsichtsrechtlichen Vorgaben der BaFin für die Teilnahme von Vorstandsmitgliedern, s. Schneider in: FS Konzen, S. 881, 884 f.

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§ 110

Einberufung des Aufsichtsrats

§ 110 Einberufung des Aufsichtsrats Werner Paul Schick

(1) 1Jedes Aufsichtsratsmitglied oder der Vorstand kann unter Angabe des Zwecks und der Gründe verlangen, daß der Vorsitzende des Aufsichtsrats unverzüglich den Aufsichtsrat einberuft. 2Die Sitzung muß binnen zwei Wochen nach der Einberufung stattfinden. (2) Wird dem Verlangen nicht entsprochen, so kann das Aufsichtsratsmitglied oder der Vorstand unter Mitteilung des Sachverhalts und der Angabe einer Tagesordnung selbst den Aufsichtsrat einberufen. (3) 1Der Aufsichtsrat muss zwei Sitzungen im Kalenderhalbjahr abhalten. 2In nichtbörsennotierten Gesellschaften kann der Aufsichtsrat beschließen, dass eine Sitzung im Kalenderhalbjahr abzuhalten ist. Literatur: Bauer/Krieger, Formale Fehler bei Abberufung und Kündigung vertretungsberechtigter Organmitglieder, ZIP 2004, 1247; Burgard/Heimann, Information des Aufsichtsrats, AG 2014, 360; Götz, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats nach dem Transparenz- und Publizitätsgesetz, NZG 2002, 599; Heusel/Goette, Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Pflichtenstellung des Aufsichtsrats, AG 2020, 411; Knigge, Änderungen des Aktienrechts durch das Transparenz- und Publizitätsgesetz, WM 2002, 1729; Kremer/Mucic/Thomas/v. Werder, Virtuelle Gremiensitzungen im Rahmen einer nachhaltigen Unternehmensführung, DB 2021, 1145; Seibert, Das „TransPuG“, NZG 2002, 608.

Übersicht I. Gegenstand und Zweck der Norm ........................................... II. Einberufung durch den Aufsichtsratsvorsitzenden (§ 110 Abs. 1) ................................................ 1. Zuständigkeit ..................................... 2. Form und Frist .................................. I.

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4 4 5

3. Inhalt ................................................... 6 4. Einberufungsmängel ........................... 7 III. Recht auf Einberufung (§ 110 Abs. 1) ..................................... 8 IV. Selbsthilferecht (§ 110 Abs. 2) ....... 10 V. Anzahl der Sitzungen (§ 110 Abs. 3) ................................... 12

Gegenstand und Zweck der Norm

1 Die Norm regelt – wenn auch nicht umfassend – die Einberufung des Aufsichtsrats; die Zuständigkeit des Aufsichtsratsvorsitzenden wird hierbei vorausgesetzt.1) § 110 Abs. 1 gewährt jedem Aufsichtsratsmitglied oder dem Vorstand ein Recht auf Einberufung, § 110 Abs. 2 enthält ein Selbsteinberufungsrecht. Bezweckt wird hierdurch die Sicherstellung einer effektiven Überwachungstätigkeit.2) In § 110 Abs. 3 wird die Mindestanzahl von Aufsichtsratssitzungen geregelt. 2 Durch die Satzung können die Modalitäten der Einberufung und eine höhere Sitzungsfrequenz geregelt werden; die Einberufung kann erleichtert werden. Im Übrigen ist die Norm insoweit zwingend, als die Satzung die Anforderungen an die Einberufung nicht verschärfen und von dem Mindestturnus nach § 110 Abs. 3 nicht befreien kann.3) _____________ 1) 2) 3)

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Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 110 Rz. 1. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 2; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 110 Rz. 4. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 4, 16, 29 und Rz. 42; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 110 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 110 Rz. 1; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 110 Rz. 5 und Rz. 58 f.

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§ 110

Einberufung des Aufsichtsrats

Durch das TransPuG4) wurde in § 111 Abs. 2 das Recht zur Selbsteinberufung jedem ein- 3 zelnen Aufsichtsratsmitglied eingeräumt und in § 110 Abs. 3 zum Mindestturnus bestimmt, dass Gesellschaften mit und ohne Börsennotierung mindestens zwei Aufsichtsratssitzungen im Kalenderhalbjahr abhalten müssen; der Aufsichtsrat nicht börsennotierter Gesellschaften kann hierüber disponieren (siehe dazu Rz. 12). Zudem wurde der Wortlaut von § 110 Abs. 3 dahingehend geändert, dass der Aufsichtsrat nicht mehr „zusammentreten“, sondern seine Sitzungen nur noch „abhalten“ muss5) (siehe dazu Rz. 13). II.

Einberufung durch den Aufsichtsratsvorsitzenden (§ 110 Abs. 1)

1.

Zuständigkeit

Wenn der Aufsichtsratsvorsitzende, von dessen Zuständigkeit das Gesetz ausgeht, (vor- 4 übergehend) verhindert ist, obliegt seinem Stellvertreter die Einberufung nach § 107 Abs. 1 Satz 3. Sind beide verhindert, kann entsprechend § 110 Abs. 2 ein Aufsichtsratsmitglied oder der Vorstand den Aufsichtsrat einberufen.6) Die Einberufung ist kein Rechtsgeschäft, sondern innergesellschaftliche Verfahrenshandlung, die der Aufsichtsratsvorsitzende im eigenen Namen und nicht als Vertreter der AG vornimmt.7) Sofern kein Einberufungsverlangen nach § 110 Abs. 1 vorliegt und der Mindestturnus nach § 110 Abs. 3 gewahrt ist, entscheidet der Aufsichtsratsvorsitzende nach pflichtgemäßem Ermessen über die Einberufung; mithin ist das Wohl der Gesellschaft maßgebend.8) Zulässig und teilweise üblich ist es auch, dass der Aufsichtsratsvorsitzende den Vorstand beauftragt, in seinem Namen zur Sitzung einzuladen.9) 2.

Form und Frist

Die Satzung oder die Geschäftsordnung des Aufsichtsrats kann die Modalitäten der Ein- 5 berufung mangels gesetzlicher Bestimmungen regeln. Sofern dort keine Regelungen getroffen werden,10) kann in jeder Weise, auch mündlich oder telefonisch, einberufen werden; die Frist bis zum Sitzungstag muss jedoch angemessen sein.11) Zweckmäßig und in der Praxis üblich ist es, für die Einberufung Textform und die Einhaltung einer Einberufungsfrist von zwei Wochen festzulegen.12) Teilweise wird angenommen, dass die Einberufungsfrist wegen § 110 Abs. 1 Satz 2 nicht länger als zwei Wochen sein dürfe.13) Letzteres über_____________ 4) Gesetz zur weiteren Reform des Aktien- und Bilanzrechts, zu Transparenz und Publizität (TransPuG) v. 19.7.2002, BGBl. I 2002, 2681. 5) Zu den Änderungen des § 110 durch das TransPuG: Götz, NZG 2002, 599, 601 ff.; Seibert, NZG 2002, 608, 610; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 6; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 110 Rz. 1. 6) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 110 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 110 Rz. 2. 7) BGH, Urt. v. 30.3.1987 – II ZR 180/86, BGHZ 100, 264, 267 = NJW 1987, 2580, 2581 = ZIP 1987, 1117; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 15; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 110 Rz. 2. 8) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 7; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 110 Rz. 12; Lutter/ Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 691; nach OLG Braunschweig, Beschl. v. 14.6.2012 – Ws 44/12, Ws 45/12, ZIP 2012, 1860, 1862, ist der Aufsichtsratsvorsitzende hierzu verpflichtet, wenn er von rechtswidrigen Zahlungen erfährt. 9) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, § 31 Rz. 38; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 692. 10) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 110 Rz. 8; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 15. 11) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 16; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 110 Rz. 3; K. Schmidt/ Lutter-Drygala, AktG, § 110 Rz. 9. 12) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 15 f.; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 692. 13) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 692; a. A. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 110 Rz. 3.

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Einberufung des Aufsichtsrats

zeugt nicht, da § 110 Abs. 1 Satz 2 nur den Fall des Einberufungsverlangens betrifft.14) Die Einberufungsfrist muss grundsätzlich so bemessen sein, dass den Aufsichtsratsmitgliedern ein im Einzelfall (insbes. abhängig von den Sitzungsinhalten) angemessener Zeitraum für die Sitzungsvorbereitung bleibt.15) 3.

Inhalt

6 Die Einberufung muss den Ort und den Zeitpunkt sowie die Gegenstände der Tagesordnung angeben.16) Die Mitteilung von konkreten Beschlussvorschlägen (Anträgen) wird zwar nicht als Voraussetzung einer ordnungsgemäßen Einberufung angesehen, wohl aber als Amtspflicht des Aufsichtsratsvorsitzenden, wobei deren Mitteilung nicht bereits mit der Einberufung erfolgen muss.17) Die Umschreibung der Beschlussvorschläge (Anträge) sollte hinreichend präzis sein, um den Aufsichtsratsmitgliedern eine sachgerechte Vorbereitung der Sitzung und eine Entscheidung über ihre Teilnahme zu ermöglichen.18) Während in der Literatur teilweise angenommen wird, dass auch allgemeine Bezeichnungen (etwa „Vorstandsangelegenheiten“) für eine wirksame Beschlussfassung ausreichen können,19) genügt dies nach der Rechtsprechung20) und nach zutreffender Ansicht21) nicht. Es ist aber zulässig, wenn zunächst zwar der Beschlussgegenstand noch nicht präzis mitgeteilt wird, dies aber rechtzeitig vor der Sitzung nachgeholt wird – etwa durch Übermittlung des konkreten (ausformulierten) Beschlussvorschlags oder von Unterlagen, die den Aufsichtsratsmitgliedern eine angemessene Sitzungsvorbereitung ermöglichen.22) 4.

Einberufungsmängel

7 Einberufungsmängel führen als Verfahrensverstöße grundsätzlich zur Nichtigkeit der Beschlüsse, sofern sie innerhalb angemessener Frist gerügt werden.23) Sie führen dann nicht zur Nichtigkeit, wenn gleichwohl alle Aufsichtsratsmitglieder anwesend waren und nicht widersprochen haben.24) Als Nichtigkeitsgründe kommen eine unangemessen kurze Ladungsfrist, fehlende Angabe von Ort/Zeit der Sitzung oder die unterbliebene bzw. nicht rechtzeitige _____________ 14) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 110 Rz. 9; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 16 (Frist kann durchaus länger als zwei Wochen sein); Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 110 Rz. 3; HoffmannBecking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 39, geht davon aus, dass sich im Ausnahmefall des § 110 Abs. 1 Satz 2 auch ohne ausdrückliche Regelung die Frist auf zwei Wochen verkürzt. 15) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 110 Rz. 9; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 692; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 39. 16) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 110 Rz. 10; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 40; s. aber auch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 110 Rz. 4 („Mitteilung förmlicher Tagesordnung“ nicht Voraussetzung ordnungsgemäßer Einberufung). 17) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 110 Rz. 11; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 42; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 694; Burgard/Heimann, AG 2014, 360, 366. 18) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 19; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 110 Rz. 23; Burgard/Heimann, AG 2014, 360, 366; s. a. Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 42. 19) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 42 m. w. N: „je nach den Umständen“; s. a. Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 693. 20) OLG Stuttgart, Urt. v. 15.4.1985 – 2 U 57/85, BB 1985, 879, 880; BGH, Urt. v. 29.5.2000 – II ZR 49/99, ZIP 2000, 1336, 1337 – zur Verwaltungsratssitzung einer Sparkasse; BGH, Urt. v. 2.7.2007 – II ZR 111/05, Rz. 38 f., ZIP 2007, 1942, 1945 – zum Vereinsrecht; s. a. Bauer/Krieger, ZIP 2004, 1247, 1250. 21) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 110 Rz. 28; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 19; Burgard/ Heimann, AG 2014, 360, 366. 22) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 110 Rz. 28; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 110 Rz. 5. 23) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 21; Grigoleit-Tomasic, AktG, § 110 Rz. 4. 24) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 110 Rz. 12; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 110 Rz. 5; OLG München, Urt. v. 12.1.2017 – 23 U 3582/16, ZIP 2017, 372, 373.

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Einberufung des Aufsichtsrats

Mitteilung der Beratungs- und Beschlussgegenstände in Betracht.25) Über nicht bzw. nicht rechtzeitig oder nicht konkret genug angegebene Beschlussgegenstände kann nur abgestimmt werden, wenn kein anwesendes Aufsichtsratsmitglied widerspricht;26) nicht anwesenden Mitgliedern ist Gelegenheit zur nachträglichen Stimmabgabe zu geben.27) III.

Recht auf Einberufung (§ 110 Abs. 1)

Jedes einzelne Aufsichtsratsmitglied kann nach § 110 Abs. 1 Satz 1 unter Angabe des 8 Zwecks und der Gründe verlangen, dass der Aufsichtsratsvorsitzende unverzüglich den Aufsichtsrat einberuft.28) Das Einberufungsrecht besteht auch, wenn der Beschlussgegenstand auf einen Ausschuss delegiert ist; insoweit kommt es nicht darauf an, ob das Aufsichtsratsmitglied dem Ausschuss angehört.29) Dem Vorstand steht das Einberufungsrecht nur als Organ zu, weshalb der Vorstand hierüber beschließen muss.30) Ein Aufsichtsratsmitglied ist dann zum Einberufungsverlangen verpflichtet, wenn dies zur Erfüllung seiner Pflichten erforderlich ist (etwa bei Kenntnis von Pflichtverstößen des Vorstands).31) Das Einberufungsverlangen nach § 110 Abs. 1 Satz 1 bedarf keiner Form.32) Der anzuge- 9 bende Zweck ist der Gegenstand, über den in der Aufsichtsratssitzung beschlossen oder verhandelt werden soll.33) Die Gründe der Einberufung sind die Umstände, die die Sitzung erforderlich machen.34) Das Einberufungsrecht umfasst auch das Recht auf Ergänzung der Tagesordnung einer bereits einberufenen Sitzung.35) Das Einberufungsrecht kann durch die Satzung nur erleichtert, aber nicht beschränkt werden.36) Da das einzelne Aufsichtsratsmitglied das Selbsthilferecht nach § 110 Abs. 2 hat, ist die klageweise Durchsetzung des Einberufungsrechts ausgeschlossen.37) IV.

Selbsthilferecht (§ 110 Abs. 2)

§ 110 Abs. 2 begründet ein Selbsthilferecht, wenn einem Einberufungsverlangen gemäß 10 § 110 Abs. 1 Satz 1 nicht entsprochen wird.38) Es steht dem einzelnen Aufsichtsratsmitglied zu.39) Der Vorstand kann (wie bei § 110 Abs. 1, siehe dazu oben Rz. 8) nur als Organ die Einberufung verlangen.40) _____________ 25) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 110 Rz. 12; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 21; nach Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 110 Rz. 5, stellt die unterbliebene Mitteilung einer förmlichen Tagesordnung oder von Beschlussanträgen keinen Nichtigkeitsgrund dar. 26) OLG München, Urt. v. 12.1.2017 – 23 U 3582/16, ZIP 2017, 372, 373. 27) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 110 Rz. 30 und § 108 Rz. 187; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 21. 28) OLG Braunschweig, Beschl. v. 14.6.2012 – Ws 44/12, Ws 45/12, ZIP 2012, 1860, 1862; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 110 Rz. 33; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 22. 29) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 110 Rz. 33; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 22. 30) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 110 Rz. 4; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 23 (Handeln von Vorstandsmitgliedern in vertretungsberechtigter Zahl genügt nicht). 31) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 110 Rz. 47; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 110 Rz. 6; OLG Braunschweig, Beschl. v. 14.6.2012 – Ws 44/12, Ws 45/12, ZIP 2012, 1860, 1862, bei Kenntnis von rechtswidrigen Handlungen. 32) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 110 Rz. 8; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 24. 33) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 27; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 110 Rz. 6. 34) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 27; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 110 Rz. 6. 35) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 110 Rz. 36; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 26. 36) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 110 Rz. 37; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 29. 37) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 28; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 110 Rz. 7; a. A. K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 110 Rz. 22. 38) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 110 Rz. 13; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 110 Rz. 8. 39) OLG Braunschweig, Beschl. v. 14.6.2012 – Ws 44/12, Ws 45/12, ZIP 2012, 1860, 1862; Götz, NZG 2002, 599, 601; Seibert, NZG 2002, 608, 610; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 110 Rz. 8. 40) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 110 Rz. 13; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 110 Rz. 8.

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Einberufung des Aufsichtsrats

11 Die Einberufung muss den allgemeinen Anforderungen genügen (siehe dazu oben Rz. 5 f.). Zudem sind die Voraussetzungen für das Selbsthilferecht, insbesondere das vergebliche Einberufungsverlangen, dessen Inhalt und Zugang sowie das Untätigbleiben des Aufsichtsratsvorsitzenden anzugeben.41) Die Zwei-Wochen-Frist des § 110 Abs. 1 Satz 2 gilt für die Einberufung qua Selbsthilferecht nicht.42) V.

Anzahl der Sitzungen (§ 110 Abs. 3)

12 Die Regelung des § 110 Abs. 3, die zwei Aufsichtsratssitzungen je Kalenderhalbjahr vorsieht, ist für börsennotierte Gesellschaften (§ 3 Abs. 2) zwingend (§ 110 Abs. 3 Satz 1), bei nicht-börsennotierten Gesellschaften kann der Aufsichtsrat nach § 110 Abs. 3 Satz 2 hierüber mit einfacher Mehrheit disponieren.43) Wenn die Lage bzw. Entwicklung der Gesellschaft es erfordert, insbesondere bei gesteigerten Überwachungspflichten des Aufsichtsrats aufgrund einer Krise der Gesellschaft (siehe hierzu § 111 Rz. 6), kann eine deutlich höhere Anzahl an Sitzungen für die Erfüllung der erforderlichen Überwachungstätigkeit erforderlich sein.44) 13 Nach § 110 Abs. 3 in der durch das TransPuG geänderten Fassung (siehe dazu oben Rz. 3) muss der Aufsichtsrat die Sitzungen „abhalten“. Hierdurch wird klargestellt, dass Aufsichtsratssitzungen („in begründeten Einzelfällen“)45) auch in Form einer Telefonoder Videokonferenz durchgeführt werden können.46) Nach (noch) h. M. ist gleichwohl aber § 108 Abs. 4 als zusätzliches Erfordernis zu beachten, wenn Beschlüsse in einer Telefon- oder Videokonferenz gefasst werden sollen.47) Auch wenn diese Auffassung – insbesondere in Anbetracht der Erfahrungen mit der COVID-19-Pandemie bei der Durchführung von virtuellen Aufsichtsratssitzungen48) (siehe dazu § 108 Rz. 21 und Rz. 28) – nicht vollends zu überzeugen vermag, empfiehlt es sich für die Praxis mit Blick auf § 108 Abs. 4 in der Satzung oder Geschäftsordnung ein Verfahren vorzusehen, damit der Widerspruch eines einzelnen Aufsichtsratsmitglieds hiergegen unbeachtlich bleibt.49) Nach dem Wortlaut und den Materialien zum TransPuG können auch Pflichtsitzungen als Telefonund Videokonferenzen durchgeführt werden50) und i. R. von § 110 Abs. 3 mitgezählt werden.51) _____________ 41) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 37; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 110 Rz. 9; K. Schmidt/ Lutter-Drygala, AktG, § 110 Rz. 15. 42) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 110 Rz. 15; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 36; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 46. 43) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 110 Rz. 18; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 41; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 35. 44) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 110 Rz. 42; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 110 Rz. 71; s. hierzu LG Nürnberg-Fürth, Urt. v. 18.10.2007 – 1 HK O 6564/07, BeckRS 2008, 01960, dazu EWiR 2007, 705 (Wilsing/Siebmann). 45) Begr. RegE TransPuG, BR-Drucks. 109/02, S. 38. 46) Götz, NZG 2002, 599, 601; Knigge, WM 2002, 1729, 1732; Seibert, NZG 2002, 608, 610; restriktiv K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 110 Rz. 20. 47) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 95; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 729; a. A.: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 110 Rz. 11 und § 108 Rz. 22; zweifelnd Kremer/Mucic/Thomas/v. Werder, DB 2021, 1145, 1146 f. 48) S. dazu Heusel/Goette, AG 2020, 411, 417 f.; Kremer/Mucic/Thomas/v. Werder, DB 2021, 1145, 1146 ff.; mit gegenläufiger Schlussfolgerung K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 110 Rz. 20. 49) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 66 ff.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 31 Rz. 95; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 110 Rz. 11. 50) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 45; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 110 Rz. 11. 51) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 45; differenzierend Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 110 Rz. 81: nur die Videokonferenz.

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Aufgaben und Rechte des Aufsichtsrats

§ 111

§ 111 Aufgaben und Rechte des Aufsichtsrats Werner Paul Schick

(1) Der Aufsichtsrat hat die Geschäftsführung zu überwachen. (2) 1Der Aufsichtsrat kann die Bücher und Schriften der Gesellschaft sowie die Vermögensgegenstände, namentlich die Gesellschaftskasse und die Bestände an Wertpapieren und Waren, einsehen und prüfen. 2Er kann damit auch einzelne Mitglieder oder für bestimmte Aufgaben besondere Sachverständige beauftragen. 3Er erteilt dem Abschlußprüfer den Prüfungsauftrag für den Jahres- und den Konzernabschluß gemäß § 290 des Handelsgesetzbuchs. 4Er kann darüber hinaus eine externe inhaltliche Überprüfung der nichtfinanziellen Erklärung oder des gesonderten nichtfinanziellen Berichts (§ 289b des Handelsgesetzbuchs), der nichtfinanziellen Konzernerklärung oder des gesonderten nichtfinanziellen Konzernberichts (§ 315b des Handelsgesetzbuchs) beauftragen. (3) 1Der Aufsichtsrat hat eine Hauptversammlung einzuberufen, wenn das Wohl der Gesellschaft es fordert. 2Für den Beschluß genügt die einfache Mehrheit. (4) 1Maßnahmen der Geschäftsführung können dem Aufsichtsrat nicht übertragen werden. 2Die Satzung oder der Aufsichtsrat hat jedoch zu bestimmen, daß bestimmte Arten von Geschäften nur mit seiner Zustimmung vorgenommen werden dürfen. 3 Verweigert der Aufsichtsrat seine Zustimmung, so kann der Vorstand verlangen, daß die Hauptversammlung über die Zustimmung beschließt. 4Der Beschluß, durch den die Hauptversammlung zustimmt, bedarf einer Mehrheit, die mindestens drei Viertel der abgegebenen Stimmen umfaßt. 5Die Satzung kann weder eine andere Mehrheit noch weitere Erfordernisse bestimmen. (5) 1Der Aufsichtsrat von Gesellschaften, die börsennotiert sind oder der Mitbestimmung unterliegen, legt für den Frauenanteil im Aufsichtsrat und im Vorstand Zielgrößen fest. 2Die Zielgrößen müssen den angestrebten Frauenanteil am jeweiligen Gesamtgremium beschreiben und bei Angaben in Prozent vollen Personenzahlen entsprechen. 3Legt der Aufsichtsrat für den Aufsichtsrat oder den Vorstand die Zielgröße Null fest, so hat er diesen Beschluss klar und verständlich zu begründen. 4Die Begründung muss ausführlich die Erwägungen darlegen, die der Entscheidung zugrunde liegen. 5Liegt der Frauenanteil bei Festlegung der Zielgrößen unter 30 Prozent, so dürfen die Zielgrößen den jeweils erreichten Anteil nicht mehr unterschreiten. 6Gleichzeitig sind Fristen zur Erreichung der Zielgrößen festzulegen. 7Die Fristen dürfen jeweils nicht länger als fünf Jahre sein. 8Wenn für den Aufsichtsrat bereits das Mindestanteilsgebot nach § 96 Absatz 2 oder 3 gilt, sind die Festlegungen nur für den Vorstand vorzunehmen. 9Gilt für den Vorstand das Beteiligungsgebot nach § 76 Absatz 3a, entfällt auch die Pflicht zur Zielgrößensetzung für den Vorstand. (6) Die Aufsichtsratsmitglieder können ihre Aufgaben nicht durch andere wahrnehmen lassen. Literatur: Arnold, Verantwortung und Zusammenwirken des Vorstands und Aufsichtsrats bei Compliance-Untersuchungen, ZGR 2014, 76; Arnold/Geiger, Haftung für Compliance-Verstöße im Konzern, BB 2018, 2306; Backhaus, Die Quotengesetzgebung nach dem FüPoG II und die Kommanditgesellschaft auf Aktien, AG 2021, 653; Börsig/Löbbe, Die gewandelte Rolle des Aufsichtsrats – 7 Thesen zur Corporate Governance Entwicklung in Deutschland, in: Festschrift für Michael Hoffmann-Becking, 2013, S. 125; Casper, Hat die grundsätzliche Verfolgungspflicht des Aufsichtsrats im Sinne des ARAG/Garmenbeck-Urteils ausgedient?, ZHR 176 (2012) 612; Dreher, Direktkontakte des Aufsichtsrats in der Aktiengesellschaft zu dem Vor-

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stand nachgeordneten Mitarbeitern, in: Festschrift für Peter Ulmer, 2003, S. 87; v. Falkenhausen, Der Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft als Geschäftsführungs- und Vertretungsorgan, ZIP 2015, 956; Fett/Habbe, Interne Untersuchungen als Ausübung der Überwachungspflicht des Aufsichtsrats, AG 2018, 257; Fischbach, Hauptversammlungsvorlagen des Aufsichtsrats, AG 2013, 1153; Fleischer, Gestaltungsgrenzen für Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats nach § 111 Abs. 4 S. 2 AktG, BB 2013, 835; Fleischer, Vorstandshaftung wegen pflichtwidrig unterlassener Einholung eines Zustimmungsbeschlusses des Aufsichtsrats, DB 2018, 2619; Fonk, Zustimmungsvorbehalte des AG-Aufsichtsrats, ZGR 2006, 841; Fromholzer/Simons, Die Festlegung von Zielgrößen für den Frauenanteil in Aufsichtsrat, Geschäftsleitung und Führungspositionen, AG 2015, 457; Goette, Grundsätzliche Verfolgungspflicht des Aufsichtsrats bei sorgfaltswidrig schädigendem Verhalten im AG-Vorstand?, ZHR 176 (2012) 588; Goette, Aufsichtsrats- und Hauptversammlungsbeschluss – zugleich Urteilsbesprechung zu BGH II ZR 24/17, ZGR 2019, 324; Goette, Zur ARAG/Garmenbeck-Doktrin, in: Gedächtnisschrift für Martin Winter, 2011, S. 155; Groß, Geschlechter-und Frauenquote für Vorstand und Aufsichtsrat nach dem FüPoG II, AG 2021, 693; Grundei/Graumann, Die Rolle des Aufsichtsrats im Strategieprozess, DB 2021, 181; Grunewald, Der Einfluss des Aufsichtsrats auf die Geschäftsführung – was ist erwünscht, was ist erlaubt?, ZIP 2016, 2009; Gundel, Prüfung der CSR-Berichterstattung durch den Aufsichtsrat, WPg 2018, 108; Habersack, Der Aufsichtsrat zwischen geschäftsführungsverbot und Überwachungsaufgabe, NZG 2020, 881; Habersack, 19 Jahre „ARAG/Garmenbeck“ – und viele Fragen offen, NZG 2016, 321; Habersack, Corporate Governance-Belange und Arbeitnehmerbelange im Rahmen des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG, ZHR 178 (2014) 131; Habersack, Grund und Grenzen der Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats der AG, AG 2014, 1; Henze, Prüfungs- und Kontrollaufgaben des Aufsichtsrates in der Aktiengesellschaft – Die Entscheidungspraxis des Bundesgerichtshofes, NJW 1998, 3309; Herb, Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe an Führungspositionen-Umsetzung in der Praxis, DB 2015, 964; Heusel/Goette, Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Pflichtenstellung des Aufsichtsrats, AG 2020, 411; Hoffmann, Urteilsbildungs- und Verhinderungspflicht des Aufsichtsrats, AG 2012, 478; Hoffmann-Becking, Der Aufsichtsrat im Konzern, ZIP 2020, 2481; HoffmannBecking, Übernahme von Geldbußen gegen Vorstandsmitglieder durch die Gesellschaft, ZGR 2015, 618; Hoffmann-Becking, Das Recht des Aufsichtsrats zur Prüfung durch Sachverständige nach § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG, ZGR 2011, 136; Hopt, Die Verantwortlichkeit von Vorstand und Aufsichtsrat: Grundsatz und Praxisprobleme – unter besonderer Berücksichtigung der Banken, ZIP 2013, 1793; Kajüter, Praxis der nichtfinanziellen Berichterstattung nach dem CSR-RUG, DB 2018, 1605; Kajüter, Nichtfinanzielle Berichterstattung nach dem CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz, DB 2017, 617; Koch, Die Überwachung des Aufsichtsrats durch den Vorstand, ZHR 180 (2016) 578; Koch, Keine Ermessensspielräume bei der Entscheidung über die Inanspruchnahme von Vorstandsmitgliedern, AG 2009, 93; Kocher/Schneider, Zuständigkeitsfragen im Rahmen der Ad-hoc-Publizität, ZIP 2013, 1607; Lanfermann, Prüfung der CSR-Berichterstattung durch den Aufsichtsrat, BB 2017, 747; Leuering/Konstant, Das Zweite Führungspositionen-Gesetz – FüPoG II, NJW-Spezial 2021, 527; Löbbe, Die Aufsichtsratsausschüsse innerhalb des Gesamtaufsichtsrats, ZGR Sonderheft 25/2021, S. 199; Lutter, Professionalisierung des Aufsichtsrats, DB 2009, 775; Lutter, Der Aufsichtsrat im Konzern, AG 2006, 517; Mayer/Richter, Konzerndimensionale Auskunfts- und Überwachungspflichten der Obergesellschaft bei Rechtsverstößen der Tochtergesellschaft, AG 2018, 220; Mock, Berichterstattung über Corporate Social Responsibility nach dem CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz, ZIP 2017, 1195; Mutter, „Haftungsfalle“ Geschäftsordnung, Der Aufsichtsrat 2016, 130; Nietsch, Von der nichtfinanziellen Berichterstattung zur Nachhaltigkeitsberichterstattung – Eine Momentaufnahme zum Vorschlag der Corporate Sustainability Reporting Directive, ZIP 2022, 449; Paefgen, Die Inanspruchnahme pflichtvergessener Vorstandsmitglieder als unternehmerische Ermessensentscheidung des Aufsichtsrats, AG 2008, 761; Paschos, Befugnis des Aufsichtsrats zur gerichtlichen Vertretung der AG gegenüber einem von ihm beauftragten Sachverständigen, DB 2018, 1582; Redenius-Hövermann, Zur Frauenquote im Vorstand, ZIP 2021, 1365; Reichert, „ARAG/Garmenbeck“ im Praxistest, ZIP 2016, 1189; Roth, Information und Organisation des Aufsichtsrats, ZGR 2012, 343; Roth, Möglichkeiten vorstandsunabhängiger

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Information des Aufsichtsrats, AG 2004, 1; Säcker/Rehm, Grenzen der Mitwirkung des Aufsichtsrats an unternehmerischen Entscheidungen in der Aktiengesellschaft, DB 2008, 2814; Scheffler, Rolle des Aufsichtsrats bei der Vermeidung und Überwindung von Unternehmenskrisen, BB 2014, 2859; Schick, Anforderungen an die Erklärung der Zustimmung durch den Aufsichtsrat nach § 111 Abs. 4 S. 2 AktG, in: Festschrift für Gerd Krieger, 2020, S. 799; Schlitt, Der aktive Aufsichtsratsvorsitzende, DB 2005, 2007; Schneider/Schneider, Der Aufsichtsrat zwischen Kontinuität und Wandel, AG 2015, 621; Schüppen, Wirtschaftsprüfer und Aufsichtsrat – alte Fragen und aktuelle Entwicklungen, ZIP 2012, 1317; Seibt, Frauen in Leitungsorganen und Führungspositionen – RegE zum Zweiten Führungspositionen-Gesetz, DB 2021, 438; Seibt, CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz: Berichterstattung über nichtfinanzielle Aspekte der Geschäftstätigkeit, DB 2016, 2707; Seibt, Geschlechterquote im Aufsichtsrat und Zielgrößen für die Frauenbeteiligung in Organen und Führungsebenen in der Privatwirtschaft, ZIP 2015, 1193; Seibt/Bulgrin, Mandatierung von Finanzberatern durch die Seite der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, AG 2018, 417; Seibt/Fischer, „Strategic Review for the Recovery Era“ – Strategieentwicklung und -überprüfung als Leitungsaufgabe des Vorstands und Pflichten des Aufsichtsrats, DB 2021, 998; Selter, Übernahme von Geldauflagen durch die AG zugunsten ihrer Vorstandsmitglieder, ZIP 2015, 714; Simons, Die Wahl des Abschlussprüfers durch die Hauptversammlung, WPg 2018, 713; Streyl/Schaper, Kompetenzverteilung und Haftung bei Strukturmaßnahmen in der AG und im Konzern, ZIP 2017, 410; Theisen/ Probst, Die Rolle des Aufsichtsrats in der Krise – Ergebnisse einer aktuellen Panel-Untersuchung der Aufsichtsratspraxis, DB 2016, 1; Timm, Die Mitwirkung des Aufsichtsrates bei unternehmensstrukturellen Entscheidungen – Grenzen der Aufsichtsrats- und Verwaltungszuständigkeiten in der Aktiengesellschaft –, DB 1980, 1201; Vetter, Stärkung der Rolle des Aufsichtsrats durch den BGH – zur Kompetenzabgrenzung in der AG –, ZGR 2020, 35; Vetter, Shareholders Communication – Wer spricht mit den institutionellen Investoren?, AG 2016, 873; Wassmann/Rothenburg, Praktische Tipps zum Umgang mit der Frauenquote, DB 2015, 291; Wellerdt, Neue Corporate Governance Regeln für Vorstand und Aufsichtsrat – Auswirkungen des FISG, FüPoG II und LkSG sowie der Ansätze zur Sustainable Corporate Governance, ZIP 2022, 356; v. Werder, Zum Reformentwurf 2022 des Deutschen Corporate Governance Kodex, DB 2022, 511; Zwissler, Grundsätze für die Erstellung und Überprüfung von Zustimmungskatalogen, Der Aufsichtsrat 2015, 72.

Übersicht I. Gegenstand und Zweck der Norm ............................................ 1 II. Überwachungsaufgabe ...................... 3 1. Geschäftsführung als Gegenstand der Überwachung (§ 111 Abs. 1) ...... 3 2. Umfang der Überwachungsaufgabe ................................................ 5 3. Mittel der Überwachung .................... 7 4. Organpflicht ..................................... 10 5. Überwachung im Konzern .............. 13 III. Einsichts- und Prüfungsrecht (§ 111 Abs. 2 Satz 1, Satz 2) ............ 14 I.

IV. Abschlussprüfung (§ 111 Abs. 2 Satz 3, Satz 4) ................................... V. Einberufung einer außerordentlichen Hauptversammlung (§ 111 Abs. 3) ................................... VI. Geschäftsführungsverbot und Zustimmungsvorbehalte (§ 111 Abs. 4) ............................................... VII. Festlegung von Zielgrößen für den Frauenanteil (§ 111 Abs. 5) ..... VIII. Persönliche Wahrnehmung (§ 111 Abs. 6) ...................................

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Gegenstand und Zweck der Norm

§ 111 enthält die wichtigsten Aufgaben und Rechte des Aufsichtsrats. Diese werden je- 1 doch nicht umfassend und abschließend umschrieben1) (zu weiteren Mitteln der Überwachung siehe unten Rz. 8). Zweck der Norm ist die Hervorhebung der Überwachungs_____________ 1)

Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 1; zu den weiteren gesetzlichen Zuständigkeiten des Aufsichtsrats s. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111, Rz. 2; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 8 Rz. 501 ff.

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§ 111

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funktion des Aufsichtsrats und zugleich die Abgrenzung der Kompetenzen gegenüber dem Vorstand und der Hauptversammlung.2) 2 § 111 Abs. 2 ist durch das CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz3) um einen neuen Satz 4 ergänzt worden (siehe dazu Rz. 16). Mit dem ersten Führungspositionengesetz4) (siehe hierzu auch § 96 Rz. 12 ff.) sind in § 111 Abs. 5 Regelungen eingefügt worden, die eine Verpflichtung zur Festlegung von Zielgrößen für den Frauenanteil vorsehen. Durch das Zweite Führungspositionengesetz5) sind diese Regelungen ergänzt worden bzw. wurde Absatz 5 neu gefasst (siehe dazu Rz. 26 ff.). Mit Blick auf die stark zunehmende Bedeutung von Nachhaltigkeitsaspekten sind auch insoweit weitere Fortentwicklungen der Aufgaben und der Rechte des Aufsichtsrats zu erwarten. Hier ist zunächst das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz6) (LkSG) zu nennen.7) Die von den erfassten Unternehmen (§ 1 LkSG) zu beachtenden Sorgfaltspflichten (§§ 3 ff. LkSG, etwa die Einrichtung eines Risikomanagementsystem, § 4 LkSG) liegen zwar in der Verantwortung des Vorstands,8) der Aufsichtsrat hat aber zu überwachen, ob der Vorstand diesen Pflichten nachkommt (so wie beim Compliance-System, siehe hierzu Rz. 11). Auf europäischer Ebene liegen Entwürfe einer Richtlinie zu Nachhaltigkeitspflichten von Unternehmen (Corporate Sustainability Due Diligence Directive – CSDDD)9) und einer Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (Corporate Sustainability Reporting Directive – CSRD)10) vor, die zwar noch der Verabschiedung und der (nationalen) Umsetzung bedürfen, wohl aber Auswirkungen auf den Aufsichtsrat haben werden. Der CSDDD-Entwurf sieht etwa bei den betroffenen Unternehmen die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten bei Vorstands- und Aufsichtsratsentscheidungen vor;11) der CSRD-Entwurf enthält eine Verantwortung auch der Aufsichtsorgane für die Offenlegung der Nachhaltigkeitsberichterstattung.12) Die Änderungen im Entwurf des Deutschen Corporate Governance Kodex _____________ 2) BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127, 130 = ZIP 1991, 653, 654; BGH, Urt. v. 20.9.2010 – II ZR 78/09, Rz. 12, BGHZ 187, 60 = ZIP 2010, 1988, dazu EWiR 2010, 713 (Vetter); BGH, Beschl. v. 6.11.2012 – II ZR 111/12, ZIP 2012, 2438, dazu EWiR 2013, 229 (Heidel/Schatz); Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 1; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111, Rz. 1; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 18. 3) Gesetz zur Stärkung der nichtfinanziellen Berichterstattung der Unternehmen in ihren Lage- und Konzernlageberichten (CSR-RL-Umsetzungsgesetz) v. 11.4.2017, BGBl. I 2017, 802; näher dazu Seibt, DB 2016, 2707 ff.; Kajüter, DB 2017, 617 ff. 4) Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (Führungspositionengesetz – FüPoG) v. 24.4.2015, BGBl. I 2015, 642. 5) Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (Zweites Führungspositionengesetz – FüPoG II) v. 7.8.2021, BGBl. I 2021, 3311. 6) Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten (LkSG) v. 16.7.2021, BGBl. I 2021, 2959. 7) Zum Ziel des LkSG: Begr. RegE LkSG, BT-Drucks. 19/28649, S. 23; Wellerdt, ZIP 2022, 356 – Förderung der Nachhaltigkeit. 8) S. etwa § 4 Abs. 3 Satz 2 LkSG; Wellerdt, ZIP 2022, 356, 359. 9) Proposal for a Directive of the European Parliament and of the Council on Corporate Sustainability Due Diligence and amending Directive (EU) 2019/1937, COM/2022/71 final, abrufbar unter https:// eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=CELEX:52022PC0071# (Abrufdatum: 7.4.2022). 10) Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlament und des Rates zur Änderung der Richtlinien 2013/34/EU, 2004/109/EG und 2006/43/EG und der Verordnung (EU) Nr. 537/2014 hinsichtlich der Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen, COM(2021) 189 final v. 21.4.2021, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52021PC0189&from=EN (Abrufdatum: 7.4.2022). 11) Art. 25 des Entwurfs der CSDDD. 12) Art. 1 Ziff. 9 des Entwurfs der CSRD; s. dazu Nietsch, ZIP 2022, 449, 458.

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§ 111

(DCGK) vom 21.1.202213) zielen ebenfalls insbesondere auf eine stärkere Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsfaktoren ab.14) Die vorgeschlagene Empfehlung in A. 6 des DCGKEntwurfs sieht vor, dass der Aufsichtsrat überwachen solle, wie der Vorstand mit Nachhaltigkeitsfragen umgeht. Zudem soll das Kompetenzprofil des Aufsichtsrats auch Nachhaltigkeitsexpertise umfassen (Empfehlung C. 1 Satz 2 des DCGK-Entwurfs).15) II.

Überwachungsaufgabe

1.

Geschäftsführung als Gegenstand der Überwachung (§ 111 Abs. 1)

Der Aufsichtsrat hat in erster Linie die Geschäftsführung des Vorstands zu überwachen.16) 3 Der Begriff der Geschäftsführung stimmt nicht mit dem in § 77 überein. Der Aufsichtsrat hat nicht jedwede Maßnahme des Vorstands zu überwachen, sondern nur diejenigen, die der Leitung der Gesellschaft (§ 76 Abs. 1) zuzuordnen sind.17) Er ist aber nicht verpflichtet, auch die Durchführung der Leitungsentscheidungen im Einzelnen zu verfolgen und die gesamte Geschäftsführung en detail zu prüfen und zu überwachen.18) Die den Überwachungsgegenstand bildenden Leitungs- und Führungsentscheidungen können insbesondere anhand der Informations- und Berichtspflichten nach § 90 konkretisiert werden.19) Den zu überwachenden Personenkreis bildet der nach § 90 primär berichtspflichtige Vor- 4 stand, der Aufsichtsrat ist nicht verpflichtet, die Tätigkeit von nachgeordneten Mitarbeitern (leitenden Angestellten) zu überwachen; in der Regel ist er auch nicht befugt, direkt und „am Vorstand vorbei“ Auskünfte von leitenden Angestellten einzuholen.20) Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn der begründete Verdacht besteht, dass der Vorstand unrichtig oder unvollständig berichtet, oder eine direkte Berichtslinie etwa des Leiters der internen Revision odes des Chief Compliance Officers21) zum Aufsichtsrat oder zum Prüfungsausschuss besteht22) (siehe auch unten Rz. 14 a. E.). Seit der Neufassung durch das FISG sieht § 107 Abs. 4 Satz 4 als „Neuerung“ ein unmittelbares Auskunftsrecht der Prüfungsausschussmitglieder vor23) (siehe dazu § 107 Rz. 23). _____________ 13) Deutscher Corporate Governance Kodex, Entwurf i. d. F. v. 21.1.2022, abrufbar unter dcgk.de/de/ konsultationen/aktuelle-konsultationen.html (Abrufdatum: 7.4.2022). 14) S. dazu die Pressemitteilung der Regierungskommission DCGK v. 27.1.2022, abrufbar unter dcgk.de/ de/presse.html (Abrufdatum: 7.4.2022). 15) S. dazu v. Werder, DB 2022, 511, 515 f. 16) BGH, Beschl. v. 26.11.2015 – 3 StR 17/15 (Nürburgring), Rz. 53, ZIP 2016, 966, 967, dazu EWiR 2016, 551 (Brammsen); Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 61; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 102. 17) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 65; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 2 f.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 29 Rz. 28. 18) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 29 Rz. 29; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 19 f.; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 1; s. a. OLG Stuttgart, Urt. v. 29.2.2012 – 20 U 3/11 (Piëch), ZIP 2012, 625, 627, dazu EWiR 2012, 303 (Lieder). 19) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111, Rz. 23; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 3; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 2. 20) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 29 Rz. 31; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 90 Rz. 11 und § 111 Rz. 36; a. A. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 238 ff.; Semler/v. Schenck-Schütz, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 394. 21) Ausführlich zur Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats, Habersack, AG 2014, 1 ff.; Arnold, ZGR 2014, 76, 85 ff., zu den Aufgaben des Aufsichtsrats bei Compliance-Untersuchungen. 22) Ausführlich dazu Dreher in: FS Ulmer, S. 87, 90 ff.; Börsig/Löbbe in: FS Hoffmann-Becking, S. 125, 137 f.; Habersack, AG 2014, 1, 6 f. 23) Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 116 und Beschlussempfehlung und Bericht d. FA z. FISG, BT-Drucks. 19/29879, S. 158. Zu etwaigen Folgerungen aus dieser Neuerung für das Direktinformationsrecht des Aufsichtsrats: Löbbe, ZGR Sonderheft 25/2021, S. 199, 219 ff.

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§ 111 2.

Aufgaben und Rechte des Aufsichtsrats Umfang der Überwachungsaufgabe

5 Die Überwachungsaufgabe bezieht sich nicht nur auf abgeschlossene Vorgänge, sondern erstreckt sich auch auf grundsätzliche Fragen der künftigen Geschäftspolitik.24) Die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats enthält auch die Pflicht, den Vorstand in übergeordneten Fragen der Unternehmensführung zu beraten.25) Der Aufsichtsrat ist auch mitunternehmerisches Organ der Gesellschaft,26) das zukunftsorientiert als Berater aktiv in die künftige Geschäftspolitik einbezogen wird und „die unternehmerische Tätigkeit des Vorstands i. S. einer präventiven Kontrolle begleitend mitgestaltet“.27) Die Beratung ist Bestandteil und vorrangiges Mittel der in die Zukunft gerichteten Kontrolle des Vorstands.28) Die „begleitende Kontrolle“ des Vorstands durch den Aufsichtsrat spricht der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK i. d. F. 16.12.2019) im Grundsatz 6 Abs. 1 an.29) Die strategische Unternehmensplanung und -entwicklung hat der Aufsichtsrat zu überwachen und er hat insoweit den Vorstand zu beraten, was auch die Berichtspflicht des Vorstands nach § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 zeigt.30) Nach dem (gesetzesbeschreibenden)31) Grundsatz 2 des DCGK entwickelt der Vorstand „die strategische Ausrichtung des Unternehmens, stimmt sie mit dem Aufsichtsrat ab und sorgt für ihre Umsetzung“.32) 6 Die Kontrolle der Geschäftsführung ist nicht nur auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt, sondern muss auch die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit einbeziehen.33) In der Normallage der Gesellschaft beschränkt sich die Intensität dieser Zweckmäßigkeitsund Wirtschaftlichkeitskontrolle auf die Überwachung durch den Aufsichtsrat (Plausibilitätskontrolle);34) er muss erst dann eingreifen, wenn eine Maßnahme des Vorstands als unvertretbar erscheint.35) Die Überwachungstätigkeit des Aufsichtsrats muss sich mit _____________ 24) BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127, 129 f. = ZIP 1991, 653, 654; BGH, Beschl. v. 26.11.2015 – 3 StR 17/15 (Nürburgring), Rz. 53, ZIP 2016, 966, 967 (Überwachungsaufgabe bezieht sich auf abgeschlossene sowie laufende Geschäfte und Maßnahmen). 25) BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127 (1. LS) = ZIP 1991, 653; BGH, Urt. v. 4.7.1994 – II ZR 197/93, BGHZ 126, 340, 344 = ZIP 1994, 1216, 1217; BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, Rz. 20, ZIP 2011, 2097, 2100; s. a. Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 103. 26) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 2 Rz. 58; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 13 und 39 f. 27) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95 (ARAG/Garmenbeck), BGHZ 135, 244, 255 = ZIP 1997, 883, 886; zur begleitenden Mitgestaltung der unternehmerischen Tätigkeit des Vorstands i. S. einer präventiven Kontrolle durch den Aufsichtsrat: BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127, 129 f. = ZIP 1991, 653, 654; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 103; Hopt/ Roth in: GroßKomm-AktG, § 111 Rz. 46 ff.; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 1 Rz. 161. 28) BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127, 129 f. = ZIP 1991, 653, 654; BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, Rz. 20, ZIP 2011, 2097, 2100. 29) S. dazu Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-v. Werder, DCGK, Grundsatz 6 Rz. 17; JohannsenRoth/Illert/Ghassemi-Tabar-Meyer, DCGK, Grundsatz 6 Rz. 16. 30) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111, Rz. 12 und Rz. 50; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 103; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 115 und Rz. 166 ff.; Seibt/Fischer, DB 2021, 998, 1004 f. 31) Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Lutter, DCGK, Grundsatz 2 Rz. 9. 32) Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Lutter, DCGK, Grundsatz 6 Rz. 7 ff.; s. a. Ziff. 3.2 des DCGK i. d. F. v. 7.2.2017; ausführlich dazu Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Lutter, DCGK, 7. Aufl. 2018, Rz. 507 und Rz. 1217 ff.; s. dazu auch Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 29 Rz. 31 a. E., der die Formulierung in Grundsatz 2 als rechtlich unscharf und missverständlich, aber den Sachverhalt im Regelfall treffend bezeichnet. 33) BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127, 129 f. = ZIP 1991, 653, 654; Lutter/Krieger/ Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 73 f.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 29 Rz. 33 und Rz. 37. 34) BGH, Urt. v. 2.4.2007 – II ZR 325/05, ZIP 2007, 1057, 1060; Hoffmann, AG 2012, 478, 479; Lutter/ Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 92 f. 35) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 93; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 30.

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Aufgaben und Rechte des Aufsichtsrats

§ 111

steigender Risikolage36) der Gesellschaft und insbesondere in der Krise intensivieren.37) Es bleibt aber auch dann für den Aufsichtsrat beim Geschäftsführungsverbot des § 111 Abs. 4 Satz 1.38) Die „begleitende“ Überwachung in der Normallage der Gesellschaft verändert sich bei Verschlechterung der Lage bzw. in der Krise in eine unterstützende Überwachung mit großer Kontrolldichte.39) Es ist dann eine intensivere Überwachungstätigkeit erforderlich40) und der Aufsichtsrat ist etwa zu Nachfragen verpflichtet.41) Bei besonders bedeutsamen und bei mit besonderen Risiken verbundenen Geschäften gehört es zu den Überwachungspflichten des Aufsichtsrats, dass er sich insoweit kundig macht; der Aufsichtsrat hat selbständig den relevanten Sachverhalt vollständig und richtig zu erfassen, der Aufsichtsrat ist dann zur eigenständigen Risikoanalyse verpflichtet.42) Diese Pflicht trifft nicht nur den Aufsichtsrat als Gesamtorgan, sondern auch jedes einzelne Aufsichtsratsmitglied persönlich.43) 3.

Mittel der Überwachung

In § 111 werden dem Aufsichtsrat folgende Rechte zur Wahrnehmung der Überwachungs- 7 aufgabe eingeräumt: –

Recht zur Einsichtnahme und Prüfung (§ 111 Abs. 2);



Recht zur Einberufung einer außerordentlichen Hauptversammlung (§ 111 Abs. 3);



Recht (und Verpflichtung) zur Anordnung von Zustimmungsvorbehalten (§ 111 Abs. 4 Satz 2).44)

Als weitere Mittel der Überwachung sind –

8

die Einholung der Berichte nach § 90 und die inhaltliche Auseinandersetzung hiermit



die Personalkompetenz nach § 84,



der Erlass und die Anpassung der Geschäftsordnung für den Vorstand (§ 77 Abs. 2 Satz 1) bzw. der Geschäftsverteilung,45)

_____________ 36) Zur Intensivierung der Überwachungspflicht bei besonders bedeutenden bzw. risikoreichen Derivatgeschäften: OLG Stuttgart, Urt. v. 29.2.2012 – 20 U 3/11 (Piëch), ZIP 2012, 625, 627; s. a. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.12.2009 – I-6 W 45/09, ZIP 2010, 28, 32 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 30. 37) Näher dazu: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 56 f.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 29 Rz. 36; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 95 ff.; Raiser/ Veil, KapG, § 15 Rz. 3; Scheffler, BB 2014, 2859, 2860 f.; speziell zu den Auswirkungen der COVID19-Pandemie Heusel/Goette, AG 2020, 411, 412 ff. 38) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 54 und 57; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 96; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 30 (etwas großzügiger). 39) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 95; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 136; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 30; Scheffler, BB 2014, 2859, 2860; s. a. Theisen/Probst, DB 2016, 1, 5 ff. 40) OLG Stuttgart, Beschl. v. 19.6.2012 – 20 W 1/12, ZIP 2012, 1965, 1968, dazu EWiR 2013, 227 (Schodder); OLG Düsseldorf, Urt. v. 31.5.2012 – I-16 U 176/10, ZIP 2012, 2299, 2302, dazu EWiR 2013, 65 (v. d. Linden). 41) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.12.2009 – I-6 W 45/09, ZIP 2010, 28, 33. 42) BGH, Beschl. v. 6.11.2012 – II ZR 111/12, ZIP 2012, 2438, 2439; OLG Stuttgart, Urt. v. 29.2.2012 – 20 U 3/11 (Piëch), ZIP 2012, 625, 627; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 111 Rz. 7; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 300 ff.; kritisch hierzu Hoffmann, AG 2012, 478, 482 ff. 43) OLG Stuttgart, Urt. v. 29.2.2012 – 20 U 3/11 (Piëch), ZIP 2012, 625, 628; Habersack in: MünchKommAktG, § 116 Rz. 32; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 30. 44) Näher dazu Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 321 und Rz. 324; Säcker/Rehm, DB 2008, 2814 ff. 45) Näher hierzu Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 109 und § 7 Rz. 463 ff.

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§ 111

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die Prüfung des Jahres- und Konzernabschlusses (§ 171) sowie



die Prüfung und die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegenüber Vorstandsmitgliedern46)

zu nennen. 9 Die Überwachungsaufgabe im Hinblick auf abgeschlossene Geschäftsvorgänge umfasst auch die Pflicht zur eigenverantwortlichen Prüfung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegenüber dem Vorstand und deren Verfolgung, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen.47) Der Aufsichtsrat muss auf der ersten Stufe den zum Schadensersatz verpflichteten Sachverhalt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht feststellen sowie das Prozessrisiko und die Beitreibbarkeit der Forderung analysieren, wobei er zu berücksichtigen hat, dass der Vorstand bei der Leitung der Geschäfte einen weiten Handlungsspielraum hat.48) Gelangt der Aufsichtsrat zu dem Ergebnis, dass der Gesellschaft voraussichtlich Schadensersatzansprüche zustehen, ist auf der zweiten Stufe zu prüfen, ob der Aufsichtsrat gleichwohl von der Anspruchsverfolgung absehen kann.49) Der Aufsichtsrat ist in der Regel zur Durchsetzung von Ersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder verpflichtet; insoweit steht ihm kein Ermessen zu.50) Auf die aussichtsreiche Anspruchsverfolgung kann der Aufsichtsrat nur ausnahmsweise verzichten, wenn gewichtige Gründe des Gesellschaftswohls dagegen sprechen und sie die Gründe für eine Rechtsverfolgung überwiegen oder ihnen zumindest gleichwertig sind51) (siehe hierzu auch § 93 Rz. 91 und § 116 Rz. 20). Dagegen kommt die Übernahme einer Geldstrafe, Geldbuße oder Geldauflage, die gegen ein Vorstandsmitglied verhängt wurde, durch die Gesellschaft allein aufgrund einer Entscheidung des Aufsichtsrats nicht in jedem Fall in Betracht; die Hauptversammlung muss entsprechend § 93 Abs. 4 Satz 3 einer Übernahme der Sanktion zustimmen, sofern eine Pflichtverletzung des Vorstandsmitglieds vorliegt.52) 4.

Organpflicht

10 Durch § 111 Abs. 1 wird der Aufsichtsrat als Organ53) zur Überwachung der Geschäftsführung verpflichtet. Eine Delegation auf einen Ausschuss oder einzelne Aufsichtsratsmitglieder ist daher grundsätzlich nicht zulässig54) (siehe hierzu § 107 Rz. 17). Die feh_____________ 46) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95 (ARAG/Garmenbeck), BGHZ 135, 244, 254 = ZIP 1997, 883, 885; ausführlich dazu Henze, NJW 1998, 3309 ff.; Koch, AG 2009, 93 ff., Paefgen, AG 2008, 761 ff. 47) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95 (ARAG/Garmenbeck), BGHZ 135, 244, 252 = ZIP 1997, 883, 885. 48) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95 (ARAG/Garmenbeck), BGHZ 135, 244, 253 = ZIP 1997, 883, 885 f. 49) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95 (ARAG/Garmenbeck), BGHZ 135, 244, 254 = ZIP 1997, 883, 886. 50) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95 (ARAG/Garmenbeck), BGHZ 135, 244, 255 f. = ZIP 1993, 883, 886; Koch, AG 2009, 93, 97 und 101; Henze, NJW 1998, 3309, 3310; Caspar, ZHR 176 (2012) 617, 620 ff.; a. A. Paefgen, AG 2008, 761, 762 ff.; s. aber auch Goette in: GS Winter, S. 155, 161 ff., 163; Goette, ZHR 176 (2012) 588, 592 ff.; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 461; näher zum Ganzen: Habersack, NZG 2016, 321, 322 ff.; Reichert, ZIP 2016, 1189, 1190 ff. 51) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95 (ARAG/Garmenbeck), BGHZ 135, 244, 256 = ZIP 1993, 883, 886; Henze, NJW 1998, 3309, 3310; Goette in: GS Winter, S. 155, 163 ff.; Hopt, ZIP 2013, 1793, 1803 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 22 ff.; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 461. 52) BGH, Urt. v. 8.7.2014 – II ZR 174/13, BGHZ 202, 26 = ZIP 2014, 1728, 1729. dazu EWiR 2014, 609 (Maier-Reimer); näher dazu: Hoffmann-Becking, ZGR 2015, 618, 621 ff.; Selter, ZIP 2015, 714, 715 ff. 53) BGH, Urt. v. 28.11.1988 – II ZR 57/88, BGHZ 106, 54, 63 = ZIP 1989, 23, 25; BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127, 130 = ZIP 1991, 653, 654. 54) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 60; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 32.

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lende Verweisung auf § 111 Abs. 1 in § 107 Abs. 3 Satz 7 steht dem nicht entgegen.55) Es ist aber zulässig und in Anbetracht der Fülle der Aufgaben des Aufsichtsrats ratsam, dass sich der Aufsichtsrat für einzelne und begrenzte Aspekte der Überwachungsaufgabe der Hilfe eines Ausschusses oder einzelner seiner Mitglieder bedient.56) Hiervon bleibt aber die Gesamtverantwortung des Organs unberührt.57) Die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats erstreckt sich auch auf das vom Vorstand 11 eingerichtete Compliance-System (siehe dazu auch Empfehlung A. 2 Satz 1 DCGK) bzw. die ergriffenen Compliance-Maßnahmen.58) Ausgehend von der Compliance Verantwortung des Vorstands hat der Aufsichtsrat die Pflicht zu überwachen, dass der Vorstand dieser Verantwortung nachkommt und Pflichtverletzungen des Vorstands aufgedeckt, abgestellt und geahndet werden.59) Nach Grundsatz 15 Satz 3 DCGK informiert der Vorstand den Aufsichtsrat über alle für das Unternehmen relevante Fragen der Compliance.60) Kommt der Aufsichtsrat seiner Pflicht zur sorgfältigen und gewissenhaften Überwachung 12 des Vorstands nicht nach, so kommt eine Haftung der Aufsichtsratsmitglieder nach § 116 Satz 1 i. V. m. § 93 Abs. 2 in Betracht. Umgekehrt kann der Aufsichtsrat seine Pflichten auch dadurch verletzen, dass er den Vorstand mit zu großem Eifer überwacht bzw. unverhältnismäßige Maßnahmen veranlasst, die nicht mehr im Unternehmensinteresse liegen.61) 5.

Überwachung im Konzern

Dem Aufsichtsrat obliegt die Überwachung der Führung der Geschäfte der Konzernober- 13 gesellschaft durch deren Vorstand; er ist nicht „Konzernaufsichtsrat“.62) Da die nachgeordneten Gesellschaften jedoch zum Vermögen der Gesellschaft gehören, ist der Aufsichtsrat der Konzernobergesellschaft verpflichtet, die Entwicklung der Konzerngesellschaften zu beobachten und die konzernleitenden Einflussnahmen des Vorstands der Obergesellschaft zu überwachen (insbesondere, wenn aufgrund von Unternehmensverträgen ein Haf-

_____________ 55) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 60 und § 107 Rz. 147; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 32. 56) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 60; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 32; v. Falkenhausen, ZIP 2015, 956, 958 ff. 57) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 60; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 32. 58) Arnold, ZGR 2014, 76, 85 f.; Habersack, AG 2014, 1, 2 f.; eingehend zur Compliance-Verantwortung des Vorstands: LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570, 574 ff., dazu EWiR 2014, 175 (Hahn), und LG Stuttgart, Urt. v. 19.12.2017 – 31 O 33/16 KfH, Rz. 252 ff., AG 2018, 240, 252 ff., zur Compliance im Konzern bzw. zur konzerndimensionalen Risikoerfassung; kritisch Mayer/Richter, AG 2018, 220, 221 ff. 59) Näher dazu Habersack, AG 2014, 1, 2; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 75; Arnold/Geiger, BB 2018, 2306, 2307 ff., zu den Compliance-Pflichten im Konzern; zum Verhältnis der Pflichten des Vorstands und Aufsichtsrats insoweit: LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570, 578. 60) Hierbei handelt es sich – wie auch schon bei der weitgehend inhaltsgleichen Ziff. 3.4 Abs. 2 Satz 1 DCGK 2017 – um eine Beschreibung der Rechtslage und nicht um eine Empfehlung, s. die Erläuterung zu Grundsatz 15 in der Begründung des DCGK i. d. F. v. 16.12.2019; vgl. Habersack, AG 2014, 1, 2; ausführlich zu den Informationsmöglichkeiten des Aufsichtsrats: Arnold, ZGR 2014, 76, 86 ff.; zu den Überwachungsinstrumenten: Habersack, AG 2014, 1, 6 ff. 61) Koch, ZHR 180 (2016) 578, 586 u. 611; s. a. Leyendecker-Langner, NZG 2012, 721 ff., zu Kompetenzüberschreitungen des Aufsichtsratsvorsitzenden. 62) Lutter, AG 2006, 517 f.; Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995) 325, 331 ff.; Hoffmann-Becking, ZIP 2020, 2481, 2482; Semler/v. Schenck-Schütz, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 313 f.; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 1 Rz. 159; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 33; sehr weitgehend LG Stuttgart, Urt. v. 19.12.2017 – 31 O 33/16 KfH, Rz. 134 f., AG 2018, 240, 246; kritisch hierzu Mayer/Richter, AG 2018, 220, 222 f.

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tungsverbund besteht).63) Als Instrument der Überwachung kommen insoweit insbesondere Zustimmungsvorbehalte in Betracht64) (siehe dazu unten Rz. 22, 19 ff.). III.

Einsichts- und Prüfungsrecht (§ 111 Abs. 2 Satz 1, Satz 2)

14 Das in § 111 Abs. 2 Satz 1 enthaltene Einsichts- und Prüfungsrecht ist (unter Beachtung des erforderlichen sachlichen Bezugs zur Gesellschaft) weit und beschränkt sich nicht auf die exemplarisch genannten Gegenstände. Es steht nur dem Gesamtaufsichtsrat zu.65) Der Aufsichtsratsvorsitzende und das einzelne Aufsichtsratsmitglied haben kein eigenes Einsichts- und Prüfungsrecht. Der Aufsichtsrat kann es aber an einzelne Mitglieder (§ 111 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1) oder einen Ausschuss delegieren. Hierfür und zur Ausübung des Rechts ist ein Aufsichtsratsbeschluss erforderlich.66) Nach § 111 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 kann der Aufsichtsrat auch besondere Sachverständige mit der Wahrnehmung bestimmter Aufgaben beauftragen (siehe zur Beauftragung durch einzelne Aufsichtsratsmitglieder § 113 Rz. 9 Fn. 36). Es muss sich um bestimmte Einzelaufgaben handeln. Die Beauftragung muss inhaltlich und zeitlich begrenzt sein.67) Zur Beauftragung ist ein Beschluss des Aufsichtsrats bzw. des ermächtigten Ausschusses erforderlich.68) § 111 Abs. 2 Satz 2 begründet nicht nur die Geschäftsführungsbefugnis im Hinblick auf die Beauftragung eines Sachverständigen, sondern auch gesetzliche Vertretungsmacht zur Erteilung von Prüfungsaufträgen an Sachverständige im Namen der AG.69) Der Aufsichtsrat ist dann auch für Hilfsgeschäfte im Zusammenhang mit der Beauftragung zuständig, einschließlich der Befugnis zur gerichtlichen Vertretung.70) Soweit ein Zusammenhang mit dem Einsichtsund Prüfungsrecht nach § 111 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 besteht, kann der Aufsichtsrat auch ausnahmsweise berechtigt sein, Angestellte des Unternehmens direkt zu befragen71) (siehe dazu auch oben Rz. 4). IV.

Abschlussprüfung (§ 111 Abs. 2 Satz 3, Satz 4)

15 Durch die Zuweisung der Zuständigkeit für die Erteilung des Prüfungsauftrags an den Aufsichtsrat in § 111 Abs. 2 Satz 3 wird die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers vom Vorstand betont. Zugleich wird hierdurch unterstrichen, dass der Prüfer den Aufsichtsrat

_____________ 63) Lutter, AG 2006, 517 f.; Hoffmann-Becking, ZIP 2020, 2481, 2482; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 1 Rz. 159; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 4 Rz. 159 ff.; Semler/v. Schenck-Schütz, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 331 und Rz. 544 ff. 64) Lutter, AG 2006, 517, 520; Hoffmann-Becking, ZIP 2020, 2481, 2483 f. 65) OLG Stuttgart, Urt. v. 30.5.2007 – 20 U 14/06, AG 2007, 873, 877 = ZIP 2007, 1217 (LS); Schlitt, DB 2005, 2007, 2010; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 35; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 73. 66) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 73 und Rz. 83; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 405 f. 67) BGH, Urt. v. 15.11.1982 – II ZR 27/82 (Hertie), BGHZ 85, 293, 296 = ZIP 1983, 55, 56; HoffmannBecking, ZGR 2011, 136, 148; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 83 und § 107 Rz. 147; Seibt/Bulgrin, AG 2018, 417, 420 f. 68) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 86; Koch, AktG, § 111 Rz. 39. 69) BGH, Urt. v. 20.3.2018 – II ZR 359/16 (DTB Deutsche Biogas AG), Rz. 16, BGHZ 218, 122 = ZIP 2018, 926, 927. 70) BGH, Urt. v. 20.3.2018 – II ZR 359/16 (DTB Deutsche Biogas AG), Rz. 13 ff., BGHZ 218, 122 = ZIP 2018, 926, 927 f., dazu EWiR 2018, 357 (v. Falkenhausen); eingehend dazu: Vetter, ZGR 2020, 35, 43 ff.; Paschos, DB 2018, 1582, 1583 m. Praxishinweisen. 71) Ausführlich dazu Hoffmann-Becking, ZGR 2011, 136, 152 f.; Dreher in: FS Ulmer, S. 87, 94 ff.; Arnold, ZGR 2014, 76, 90 ff.; Habersack, AG 2014, 1, 6 f.; Roth, AG 2004, 1, 8 ff.; Roth, ZGR 2012, 343, 371 ff.; Schneider/Schneider, AG 2015, 621, 623; Semler/v. Schenck-Schütz, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 394.

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bei der Wahrnehmung seiner Überwachungsaufgabe zu unterstützen hat.72) Von der Erteilung des Prüfungsauftrags zu unterscheiden ist die Bestellung des Abschlussprüfers, die der Hauptversammlung der Gesellschaft (§ 119 Abs. 1 Nr. 4) bzw. des Mutterunternehmens (§ 318 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 HGB) obliegt.73) Der durch das CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz74) in § 111 Abs. 2 neu eingefügte Satz 4 16 gibt dem Aufsichtsrat das Recht (neben der Befugnis zur Erteilung des Prüfungsauftrags nach § 111 Abs. 2 Satz 3) eine freiwillige Überprüfung der nichtfinanziellen Erklärung oder des gesonderten nichtfinanziellen Berichts zu beauftragen, damit der Aufsichtsrat seine eigene Pflicht zur Prüfung der nichtfinanziellen Berichterstattung (§ 171 Abs. 1 Satz 4, siehe dazu § 171 Rz. 9) sachgerecht erfüllen kann.75) Die (eigene) Prüfungspflicht des Aufsichtsrats resultiert aus dem Umstand, dass vom Abschlussprüfer nach § 317 Abs. 2 Satz 5 HGB nur das Vorliegen der nichtfinanziellen (Konzern-)Erklärung oder des gesonderten nichtfinanziellen (Konzern-)Berichts geprüft wird, nicht aber deren Inhalt.76) Nach der Übergangsvorschrift in § 26i EGAktG ist Absatz 2 Satz 4 erstmals auf Lage- und Konzernlageberichte anzuwenden, die sich auf ein nach dem 31.12.2016 beginnendes Geschäftsjahr beziehen. V.

Einberufung einer außerordentlichen Hauptversammlung (§ 111 Abs. 3)

Wenn das Wohl der Gesellschaft es erfordert, hat der Aufsichtsrat nach § 111 Abs. 3 Satz 1 17 eine außerordentliche Hauptversammlung einzuberufen. Auf diesem Weg kann der Aufsichtsrat Beschlüsse über Angelegenheiten aus dem Zuständigkeitsbereich der Hauptversammlung (§ 119 Abs. 1) initiieren77) sowie ihr Gelegenheit geben, Geschäftsführungsfragen zu erörtern oder Vorstandsmitgliedern das Vertrauen zu entziehen (wichtiger Grund zur Abberufung gemäß § 84 Satz 2).78) Das Recht zur Einberufung steht dem Aufsichtsrat als Organ zu und kann nach § 107 18 Abs. 3 Satz 3 nicht an einen Aufsichtsratsausschuss delegiert werden.79) VI.

Geschäftsführungsverbot und Zustimmungsvorbehalte (§ 111 Abs. 4)

§ 111 Abs. 4 Satz 1 regelt zwingend, dass dem Aufsichtsrat keine Maßnahmen der Ge- 19 schäftsführung übertragen werden können80) (Geschäftsführungsverbot). Hierdurch wird _____________ 72) RegE eines Gesetzes zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG), BTDrucks. 13/9712, S. 16; ausführlich zum Verhältnis von Prüfer und Aufsichtsrat bzw. Prüfungsausschuss: Schüppen, ZIP 2012, 1317 ff; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 440 ff. und Rz. 460 ff. 73) Näher dazu Semler/v. Schenck-Schütz, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 426 f.; Simons, WPg 2018, 713 ff. 74) Gesetz zur Stärkung der nichtfinanziellen Berichterstattung der Unternehmen in ihren Lage- und Konzernlageberichten (CSR-RL-Umsetzungsgesetz) v. 11.4.2017, BGBl. I 2017, 802. 75) Bericht d. RA, BT Drucks. 18/11450, S. 52; näher dazu Kajüter, DB 2017, 617, 624; Lanfermann, BB 2017, 747, 749; zu den Berichtspflichten nach dem CSR-RL-Umsetzungsgesetz: Mock, ZIP 2017, 1195 ff.; nach der Untersuchung von Kajüter, DB 2018, 1605, 1612, ist diese Prüfung zumindest im DAX 30 wohl üblich; der Entwurf der Corporate Sustainability Reporting Directive (s. dazu oben Rz. 2 a. E.) sieht insoweit Änderungen vor (zwingende inhaltliche Überprüfung des Nachhaltigkeitsberichts), s. dazu Nietsch, ZIP 2022, 449, 458. 76) S. dazu Kajüter, DB 2017, 617, 623 f.; Seibt, DB 2016, 2707, 2713 f.; Lanfermann, BB 2017, 747, 749. 77) Zur Frage der Zulässigkeit einer Hauptversammlungsvorlage durch den Aufsichtsrat analog § 119 Abs. 2: Fischbach, ZIP 2013, 1153, 1154 ff. 78) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 137; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 111 Rz. 46; a. A. hinsichtlich der Erörterung von Geschäftsführungsfragen: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 49. 79) K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 111 Rz. 47; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 50. 80) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 110; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 51; insbesondere zur Frage zur Zulässigkeit von Gesprächen des Aufsichtsratsvorsitzenden mit Investoren: Grunewald, ZIP 2016, 2009, 2010 f.; Vetter, AG 2016, 873 ff.; Schick, WPg 2018, 1379, 1380 ff. (s. a. § 107 Rz. 11 a. E.).

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insbesondere auch ausgeschlossen, dass der Aufsichtsrat dem Vorstand Weisungen erteilen kann.81) Die nach § 111 Abs. 4 Satz 2 vorzusehenden Zustimmungsvorbehalte sind Instrumente vorbeugender Überwachung, durch die der Aufsichtsrat an der Geschäftsführung partizipiert.82) § 111 Abs. 4 Satz 2 relativiert insoweit Satz 1.83) 20 Die Zustimmungsvorbehalte sind durch die Satzung oder den Aufsichtsrat zu bestimmen. § 111 Abs. 4 Satz 2 enthält selbst keine inhaltlichen Vorgaben für die zustimmungspflichtigen Geschäfte. Hierzu können etwa wesentliche Geschäfte bzw. solche von grundlegender Bedeutung gehören, wie insbesondere Entscheidungen oder Maßnahmen, die die Vermögens-, Finanz- oder Ertragslage des Unternehmens grundlegend verändern.84) Bloße Unterlassungen sind keine Geschäfte i. S. des § 111 Abs. 4 Satz 2 und können daher nicht einem Zustimmungsvorbehalt unterworfen werden.85) Der Aufsichtsrat hat dementsprechend nach pflichtgemäßem Ermessen die Zustimmungsvorbehalte unternehmensbezogen festzulegen.86) Durch die Satzung kann die Befugnis des Aufsichtsrats zur Festlegung von Zustimmungsvorbehalten nicht beschränkt werden.87) 21 Der Aufsichtsrat kann zwar über die in der Satzung vorgesehenen Zustimmungsvorbehalte hinausgehen und weitere bestimmen, darf aber nicht durch die Satzung bestimmte Vorbehalte leerlaufen lassen, etwa durch General-Vorabzustimmung.88) Soweit der Aufsichtsrat die Zustimmungspflichtigkeit selbst festlegt89) oder die Satzung eine Generalzustimmung für zulässig erklärt hat, kann der Aufsichtsrat – nicht aber ein Ausschuss des Aufsichtsrats – bestimmten Geschäften generell vorab zustimmen90) (allgemeine Einwilligung91), „Rahmenzustimmung“92), „Globalbeschluss“93)). Der Aufsichtsrat kann nach pflichtgemäßem Ermessen – zumindest für besonders bedeutende Geschäfte – auch ad hoc einen

_____________ 81) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 583; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 110 f. 82) BGH, Urt. v. 11.12.2006 – II ZR 243/05, Rz. 9 und 12, ZIP 2007, 224; BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95 (ARAG/Garmenbeck), BGHZ 135, 244, 255 = ZIP 1997, 883, 886; Habersack in: MünchKommAktG, § 111 Rz. 114; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 29 Rz. 58; Lutter/Krieger/ Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 112; Habersack, ZHR 178 (2014) 131 f. 83) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 110 und Rz. 114; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 58; Habersack, ZHR 178 (2014) 131, 132. 84) In diese Richtung gehen die Äußerungen im RegE eines Gesetzes zur weiteren Reform des Aktienund Bilanzrechts, zu Transparenz und Publizität (TransPuG), BT-Drucks. 14/8769, S. 17 (re. Sp.); Lutter, DB 2009, 775 und 777; ausführlich dazu Fleischer, BB 2013, 835, 838 ff.; zur Frage der Grenzen des Zustimmungsvorbehalts bei Beschlüssen nach § 83: Streyl/Schaper, ZIP 2017, 410, 411 ff.; Timm, DB 1980, 1201, 1203 ff. 85) OLG Stuttgart, Beschl. v. 28.5.2013 – 20 U 5/12, AG 2013, 599, 603; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 116; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 60. 86) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 122; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 115; Säcker/Rehm, DB 2008, 2814 ff.; Zwissler, Der Aufsichtsrat 2015, 72, 73 m. Praxisbsp. 87) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 117; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 114; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 111 Rz. 54. 88) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 143; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 61; K. Schmidt/ Lutter-Drygala, AktG, § 111 Rz. 54; Schick in: FS Krieger, S. 799, 803. 89) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 143; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 127. 90) BGH, Beschl. v. 26.11.2015 – 3 StR 17/15 (Nürburgring), Rz. 117, BGHSt 61, 48 = NJW 2016, 2585; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 711; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 29 Rz. 66; Schick in: FS Krieger, S. 799, 802 f. 91) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 111 Rz. 109. 92) Semler/v. Schenck-Schütz, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 571. 93) BGH, Beschl. v. 26.11.2015 – 3 StR 17/15 (Nürburgring), Rz. 117, BGHSt 61, 48 = NJW 2016, 2585.

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Zustimmungsvorbehalt beschließen;94) dieses Ermessen kann sich zu einer Pflicht verdichten, wenn so eine gesetzwidrige Geschäftsführungsmaßnahme des Vorstands verhindert werden kann.95) Bei der Konkretisierung der Zustimmungsvorbehalte muss eine Relevanz des vorbehaltspflichtigen Geschäfts für die Ertragsaussichten oder die Risikoexposition der Gesellschaft bestehen.96) Die Zustimmungsvorbehalte müssen sich auf „bestimmte Arten von Geschäften“ beziehen, dürfen mithin nicht so weit gehen, dass die eigenverantwortliche Unternehmensleitung des Vorstands in Frage gestellt wird.97) Auslegungsbedürftige Generalklauseln sind unzulässig. Erforderlich ist eine konkrete Bezeichnung der zustimmungsbedürftigen Maßnahme oder Entscheidung, sie muss für den Vorstand eindeutig erkennbar sein.98) Generalklauselartig formulierte Zustimmungsvorbehalte (etwa für alle „wesentlichen Geschäfte“) sind daher unzulässig.99) Sieht sich der Vorstand nach eingeholter Zustimmung zur Vornahme wesentlicher Änderungen des Geschäfts veranlasst, muss er diese dem Aufsichtsrat mitteilen und um erneute Zustimmung bitten.100) Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats einer Konzernobergesellschaft können auch 22 konzernbezogen sein, und zwar dann, wenn dies ausdrücklich so festgelegt wurde101) oder wenn sich die konzernweite Geltung durch Auslegung ergibt.102) Im letzteren Fall muss der Vorstand der Konzernobergesellschaft dafür sorgen, dass die betroffenen Maßnahmen nur mit seiner Billigung vorgenommen werden dürfen, damit der Aufsichtsrat die Möglichkeit hat, sein Mitwirkungsrecht auszuüben.103) Bei der Geltung bzw. der Durchsetzbarkeit von Zustimmungsvorbehalten ist nach der Art der Konzernierung und der Rechtsform der Untergesellschaft zu differenzieren – während im Vertrags- oder Eingliederungskonzern hierfür das Weisungsrecht (§§ 308, 323) zur Verfügung steht, hängt die Geltung bzw. Durchsetzbarkeit im faktischen Konzern von der Rechtsform der Tochtergesellschaft ab.104) _____________ 94) BGH, Urt. v. 15.11.1993 – II ZR 235/92, BGHZ 124, 111, 127 = ZIP 1993, 1862, 1867; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 115; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 117; Habersack, NZG 2020, 881, 886 f. 95) BGH, Urt. v. 15.11.1993 – II ZR 235/92, BGHZ 124, 111, 127 = ZIP 1993, 1862, 1867; Fleischer, BB 2013, 835, 839; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 130; Habersack, NZG 2020, 881, 886 f. 96) Fleischer, BB 2013, 835, 840; Fonk, ZGR 2006, 841, 846 f.; Zwissler, Der Aufsichtsrat 2015, 72, 73. 97) Fleischer, BB 2013, 835, 838 m. w. N.; Fonk, ZGR 2006, 841, 846. 98) OLG Düsseldorf, Urt. v. 15.1.2015 – I-6 U 48/14, AG 2016, 410, 411 = ZIP 2016, 171, dazu EWiR 2016, 45 (Wilsing/Kleemann); Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 120; Mutter, Der Aufsichtsrat 2016, 130; Semler/v. Schenck-Schütz, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 527. 99) OLG Düsseldorf, Urt. v. 15.1.2015 – I-6 U 48/14, AG 2016, 411 f.; Habersack in: MünchKommAktG, § 111 Rz. 120; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 111 Rz. 58; Semler/v. Schenck-Schütz, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 528. 100) BGH, Urt. v. 10.7.2018 – II ZR 24/17 (Schloss Eller), Rz. 14, BGHZ 219, 193 = NJW 2018, 3574, 3575 f.; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 766; s. dazu Fleischer, DB 2018, 2619, 2621; Schick in: FS Krieger, S. 799, 809 f. m. w. N. 101) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 4 Rz. 159; Semler/v. Schenck-Schütz, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 544 f.; Lutter, AG 2006, 517, 520; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 75. 102) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 29 Rz. 64; Hoffmann-Becking, ZIP 2020. 2481, 2483; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 4 Rz. 160 (dafür bei Investitionen und Unternehmensverträgen, ablehnend bei Personalentscheidungen und Prokuraerteilungen in Untergesellschaften); Semler/v. Schenck-Schütz, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 549; kritisch hierzu Fonk, ZGR 2006, 841, 852 f.; zur Frage wie sich das Bestimmtheitserfordernis für Zustimmungsvorbehalte (s. dazu vorstehend Rz. 21) mit der konzernweiten Auslegung verträgt: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 76; s. aber auch Mertens/ Cahn in: KölnKomm-AktG, § 111 Rz. 97. 103) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 29 Rz. 64 a. E.; Hoffmann-Becking, ZIP 2020. 2481, 2483 („im Rahmen seiner Möglichkeiten“); Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 111 Rz. 93. 104) Ausführlich dazu: Semler/v. Schenck-Schütz, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 544 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 77 f.; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 4 Rz. 160 f.

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23 Über die Erteilung der Zustimmung entscheidet der Aufsichtsrat durch Beschluss.105) Eine Delegation der Erteilung der Zustimmung an einen Ausschuss ist grundsätzlich zulässig, da § 107 Abs. 3 Satz 3 nur die Begründung von Zustimmungsvorbehalten betrifft.106) Ohne eine solche Delegation bleibt es bei der Zuständigkeit des Aufsichtsrats, die auch nicht durch eine Einwilligung des Aufsichtsratsvorsitzenden ersetzt werden kann.107) Grundsätzlich ist vorherige Zustimmung erforderlich.108) Nach h. M. kann hiervon bei eilbedürftigen Geschäften ausnahmsweise abgewichen werden, wenn der Vorstand davon ausgehen kann, dass sich die Aufsichtsratsmehrheit mit dem Geschäft einverstanden erklären wird.109) Dies ist mit dem Charakter der Zustimmungsvorbehalte als präventivem Überwachungsinstrument schwer zu vereinbaren und sollte daher nur in ganz eng begrenzten Ausnahmen erfolgen. Jedenfalls sollte dann aber der Aufsichtsratsvorsitzende informiert und um seine Stellungnahme gebeten werden.110) Stimmt er zu, kommt die Vornahme des Geschäfts in Betracht. Andernfalls sollte es unterbleiben.111) Der BGH hat in der Schloss Eller-Entscheidung ausdrücklich offengelassen, ob und und unter welchen Voraussetzungen der Vorstand sich in Eilfällen ausnahmsweise auf die Einholung einer nachträglichen Genehmigung beschränken kann.112) 24 Mit Blick auf eine etwaige Pflicht zur Ad-hoc-Publizität nach Art. 17 EU-Marktmissbrauchsverordnung (MMVO)113) stellt sich (insbesondere bei Vorstandspersonalmaßnahmen)114) die Frage, ob insoweit eine (Annex-)Zuständigkeit des Aufsichtsrats angenommen werden kann, weil dieser die (potentiell) veröffentlichungspflichtigen Insiderinformationen (Art. 7 und Art. 17 Abs. 1 MMVO) im Gegensatz zum (eigentlich zuständigen) Vorstand kennt. Hier wird teilweise eine teleologische Reduktion von § 111 Abs. 4 Satz 1 befürwortet und die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Ad hoc-Publizitätspflicht bzw. deren Aufschub (Art. 17 Abs. 4 MMVO) auf den Aufsichtsrat übertragen, soweit der Aufsichtsrat gegenüber dem Vorstand einen Informationsvorsprung hat, der – im Interesse des Unternehmens – nicht durch Informationsweiterleitung an den Vorstand abgebaut wird.115) Die BaFin hat im neuen Emittentenleitfaden nunmehr ihren bisher abweichen_____________ 105) Ausführlich dazu: Schick in FS Krieger, S. 799, 803 ff. 106) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 69; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 111 Rz. 61; eine Ausnahme besteht für die Zustimmung zur Unternehmensplanung, s. Habersack in: MünchKommAktG, § 111 Rz. 142. 107) BGH, Urt. v. 10.7.2018 – II ZR 24/17 (Schloss Eller), Rz. 22, BGHZ 219, 193 = NJW 2018, 3574, 3576 f.; s. dazu Fleischer, DB 2018, 2619, 2622. 108) BGH, Urt. v. 10.7.2018 – II ZR 24/17 (Schloss Eller), Rz. 15 f., BGHZ 219, 193 = NJW 2018, 3574, 3576; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 69; Fonk, ZGR 2006, 841, 868; Lutter/Krieger/ Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 3 Rz. 124. 109) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 29 Rz. 65; Fonk, ZGR 2006, 841, 870; a. A. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 108 Rz. 141; s. a. Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 4 Rz. 124. 110) Fonk, ZGR 2006, 841, 870 f.; s. a. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 729; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 70; Semler/v. Schenck-Schütz, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 563. 111) Fonk, ZGR 2006, 841, 871; für eine Eilzuständigkeit des Aufsichtsratspräsidiums: Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 730. 112) BGH, Urt. v. 10.7.2018 – II ZR 24/17(Schloss Eller), Rz. 18, BGHZ 219, 193 = NJW 2018, 3574, 3576. 113) Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des EU-Parlaments und des Rates v. 16.4.2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung), ABl. (EU) 2014, L 173/1 (MMVO); inhaltlich geändert durch Art. 56 Verordnung (EU) 2016/1011 des EU-Parlaments und des Rates v. 8.6.2016, ABl. (EU) 2016, L 171/1 (Benchmark-Verordnung) sowie hinsichtlich Übersetzungsfehlern geändert durch Berichtigungen der MMVO, ABl. (EU) L 287/320 v. 21.10.2016, ABl. (EU) L 306/43 v. 15.11.2016 und ABl. (EU) L 348/83 v. 21.12.2016. 114) Beispielhaft sei das vorzeitige Ausscheiden des Vorstandsvorsitzenden der Daimler AG erwähnt, s. dazu BGH, Beschl. v. 23.4.2013 – II ZB 7/09, ZIP 2013, 1165, dazu EWiR 2013, 433 (Seibt). 115) Näher dazu: Kocher/Schneider, ZIP 2013, 1607, 1611; Ihrig/Kranz, BB 2013, 451, 456; Drinhausen/ Marsch-Barner, AG 2014, 337, 334.

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den Standpunkt aufgegeben und eine „abschließende Annexkompetenz des Aufsichtsrats hinsichtlich der Entscheidung über den Aufschub“ in Fällen originärer Aufsichtsratszuständigkeit (etwa Vorstandspersonalentscheidungen) anerkannt,116) was auch der h. M.117) entspricht. Der Aufsichtsrat entscheidet über den Aufschub in diesen Fällen durch Beschluss, wobei eine Delegation auf einen Ausschuss zulässig ist.118) Nach Wegfall der Voraussetzungen für den Aufschub nach Art. 17 Abs. 4 MMVO ist der Vorstand für die Veröffentlichung der Ad-hoc-Mitteilung zuständig, der vom Aufsichtsrat unverzüglich zu informieren ist.119) Einen gesondert geregelten Zustimmungsvorbehalt enthält Art. 2 § 1 Abs. 6 Satz 1 des 25 COVAbmildG.120) Danach bedürfen Beschlüsse des Vorstands über Maßnahmen zur erleichterten Durchführung einer Hauptversammlung nach Art. 2 § 1 Abs. 1 – 5 des COVAbmildG der Zustimmung des Aufsichtsrats121) (siehe zur Beschlussfassung des Aufsichtsrats § 108 Rz. 28). Die Regelung gilt bis zum 31.8.2022.122) VII. Festlegung von Zielgrößen für den Frauenanteil (§ 111 Abs. 5) Nach dem ersten Führungspositionengesetz (FüPoG)123) (siehe dazu auch § 96 Rz. 12 ff.) 26 ist der Aufsichtsrat von Gesellschaften, die börsennotiert sind oder der Mitbestimmung (auch nach dem DrittelbG)124) unterliegen, verpflichtet, für den Frauenanteil im Aufsichtsrat und im Vorstand Zielgrößen und Fristen für deren Erreichen festzulegen. Die Gesellschaften haben hierbei einen großen Ermessensspielraum, sie können sich bei den Zielvorgaben an den eigenen Unternehmensstrukturen ausrichten.125) Insbesondere kann (vorbehaltlich des Verschlechterungsverbots nach § 111 Abs. 5 Satz 5) auch eine Zielgröße von 0 % („Zielgröße Null“) festgelegt werden126) (zur Begründungspflicht und zu den Verschärfungen bei der Zielgrößensetzung durch das FüPoG II siehe nachstehend Rz. 29). Aus der Pflicht zur Festlegung von Zielgrößen ergibt sich inzident der Auftrag an den Aufsichtsrat den Frauenanteil im Aufsichtsrat und im Vorstand festzustellen.127) Der Status quo ist die Ausgangsgröße für die Festlegung.128) Eine Mindestzielgröße ist zwar nicht _____________ 116) Emittentenleitfaden, Stand: 25.3.2020, Modul C Regelungen aufgrund der Marktmissbrauchsverordnung, Ziff. I.3.3.1.1 (S. 36). 117) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 8 Rz. 534; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 57. 118) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 8 Rz. 534; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 57. 119) Emittentenleitfaden, Stand: 25.3.2020, Modul C Regelungen aufgrund der Marktmissbrauchsverordnung, Ziff. I.3.3.1.1 (S. 36 f.); Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 8 Rz. 534. 120) Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht (COVAbmildG) v. 27.3.2020, BGBl. I 2020, 569. 121) Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, AktG, § 111 Rz. 105a; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 111 Rz. 51a. 122) Art. 16 des Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Aufbauhilfe 2021“ und zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht wegen Starkregenfällen und Hochwassern im Juli 2021 sowie zur Änderung weiterer Gesetze (Aufbauhilfegesetz 2021 – AufbhG 2021) v. 10.9.2021, BGBl. I 2021, 4147, 4153. 123) Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (Führungspositionengesetz – FüPoG) v. 24.4.2015, BGBl. I 2015, 642. 124) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 80; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 111 AktG Rz. 104; Wasmann/ Rothenburg, DB 2015, 291, 293 f. 125) Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 123. 126) Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 48 und S. 85 („Die Zielgröße Null bleibt zulässig.“); Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 123; Seibt, DB 2021, 438, 444 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 81. 127) Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 123. 128) Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 123.

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vorgesehen,129) allerdings ist das Verschlechterungsverbot zu beachten: Liegt der Frauenanteil unter 30 %, so darf die Zielgröße nicht hinter dem Status quo zurückbleiben. Liegt der Status quo hingegen über 30 %, darf die Zielgröße diesen auch wieder unterschreiten. Fällt der Frauenanteil dann tatsächlich unter 30 %, so darf die nächste festzulegende Zielgröße nicht mehr hinter diesen Status quo zurückfallen.130) § 111 Abs. 5 Satz 8 stellt klar, dass keine Zielgröße für einen Aufsichtsrat festgelegt werden muss, wenn für ihn bereits die Mindestquote nach § 96 Abs. 2 gilt. 27 Die Pflicht zur Festlegung von Zielgrößen ist gesellschafts- und nicht konzernbezogen.131) Die Pflicht zur Festlegung von Zielgrößen und Fristen für deren Erreichen obliegt dem Aufsichtsrat, der dies mangels Delegationsverbots in § 107 Abs. 3 Satz 7 auf einen Ausschuss delegieren kann;132) für dem KWG unterfallende Gesellschaften bleibt der Nominierungsausschuss gemäß § 25d Abs. 11 KWG zuständig.133) 28 Die Festlegung der Zielgrößen und der Fristen (§ 111 Abs. 5 Satz 6 und 7) erfordert einen Beschluss134) des Aufsichtsrats135) bzw. des zuständigen Ausschusses.136) Verletzt der Aufsichtsrat diese Pflicht, so kann dies eine Schadensersatzpflicht nach §§ 93 Abs. 2 Satz 1, 116 nach sich ziehen.137) Nach § 25 Abs. 1 EGAktG mussten die Festlegungen erstmals zum 30.9.2015 erfolgen. Die erstmals festzulegende Frist durfte nicht länger als bis zum 30.6.2017 dauern. Nach § 111 Abs. 5 Satz 7 dürfen die folgenden Fristen für die Erreichung der Zielgrößen jeweils nicht länger als fünf Jahre sein.138) 29 Durch das Zweite Führungspositionengesetz (FüPoG II)139) ist eine Begründungspflicht für die Zielgröße Null und eine sanktionsbewehrte Berichtspflicht eingeführt worden.140) Zudem ist in § 111 Abs. 5 in einem neu eingefügten Satz 2 die Pflicht des Aufsichtsrats börsennotierter oder mitbestimmter AGs zur Festlegung von Zielgrößen zur Zielgrößensetzung „spezifiziert“ worden.141) Abweichend vom RegE ist nicht mehr die geplante An-

_____________ 129) Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 123. 130) Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 123; ausführlich zum Verschlechterungsverbot: Fromholzer/ Simons, AG 2015, 457, 459 ff. 131) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 80; Fromholzer/Simons, AG 2015, 457, 458; Seibt, ZIP 2015, 1193, 1204; Seibt, DB 2021, 438, 445. 132) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 82; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 111 AktG Rz. 104. 133) Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 124; Semler/v. Schenck-Schütz, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 588; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 780. 134) Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 124. 135) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 82; näher zur Frage, ob das Aufsichtsratsplenum beschließt oder – wegen fehlender Mitwirkungsbefugnisse des Aufsichtsrats bei der Arbeitnehmervertreterwahl bzw. § 124 Abs. 3 Satz 5 – nur die Anteilseignervertreter, s. Herb, DB 2015, 964, 968. 136) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 780; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 111 AktG Rz. 104. 137) Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 123; kritisch hierzu Semler/v. Schenck-Schütz, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 601; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 82 (ersatzfähiger Schaden nur schwer vorstellbar). 138) So bereits zum FüPoG: Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 123; Semler/v. Schenck-Schütz, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 600. 139) Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (Zweites Führungspositionen-Gesetz – FüPoG II) v. 7.8.2021, BGBl. I 2021, 3311. 140) Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 49, 85 f.; Leuering/Konstant, NJW-Spezial 2021, 527; zur Anwendung auf die KGaA: Backhaus, AG 2021, 653 ff. 141) Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 85; Leuering/Konstant, NJW-Spezial 2021, 527; zur Anwendung auf die KGaA: Backhaus, AG 2021, 653 ff.

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zahl von weiblichen Organmitgliedern zu nennen,142) sondern es wird klargestellt, dass Zielgrößen, die in Prozentangaben festgelegt werden, umgerechnet auf die Größe des jeweiligen Organs vollen Personenzahlen entsprechen müssen.143) Hierdurch soll insbesondere einer „Umgehung der Zielgröße Null vorgebeugt“ werden.144) § 111 Abs. 5 Satz 3 sieht die Pflicht zur Festlegung einer Begründung vor, falls die Zielgröße Null für den Frauenanteil festgelegt wird.145) Dies soll klar und verständlich erfolgen, es sind nach § 111 Abs. 5 Satz 4 ausführlich die Erwägungen darzulegen, die der Entscheidung zugrunde liegen. Die Begründung muss erkennen lassen, welche Umstände gewürdigt und wie sie gewichtet wurden.146) Ausweislich der Gesetzesbegründung zum FüPoG II soll eine „Begründung von 100 bis 150 Wörtern“ im Regelfall genügen.147) Sie soll so ausführlich sein, dass sie als Grundlage der erforderlichen Angaben in der Erklärung zur Unternehmensführung dienen kann.148) Die Begründung und die Festlegung der Zielgröße hat im gleichen Beschluss zu erfolgen.149) Die durch das FüPoG II eingefügten Regelungen des § 111 Abs. 5 sind erstmals auf die 30 Festlegung von Zielgrößen ab dem 12.8.2021 anzuwenden (§ 26l Abs. 2 EGAktG).150) Über die Erfüllung der Zielgröße für den Frauenanteil im Aufsichtsrat bzw. über die 31 Nichterfüllung und die Gründe hierfür ist innerhalb der Erklärung zur Unternehmensführung (§ 289f Abs. 2 Nr. 4, § 315d HGB bzw. nach § 289f Abs. 4 HGB in einem gesonderten Abschnitt des Lageberichts) zu berichten. Durch das FüPoG II wurde die Berichtspflicht in der Erklärung zur Unternehmensführung neu gefasst und um die Begründung bei Festlegung der Zielgröße Null erweitert.151) Die Verfehlung der Zielgrößen selbst bleibt zwar sanktionslos,152) es muss aber transparent berichtet werden.153) Durch die Angabe der Begründung zusammen mit den Zielgrößen soll gewährleistet werden, dass die Entwicklung des Frauenanteils durch eine breite Öffentlichkeit wahrgenommen wird, was der Verhaltenssteuerung der Unternehmen dienen soll.154) Verstöße gegen die Berichtspflichten in § 289f Abs. 4 Satz 3 i. V. m. Satz 1 und Abs. 2 Nr. 4 HGB über Zielgrößen, Fristen und Begründungen können nach § 334 Abs. 1 Nr. 3a HGB n. F. als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden, und zwar auch dann, wenn keine Zielgröße oder Frist für die Zielerreichung gesetzt oder die vorgeschriebene Begründung bei der Zielgröße Null unterlassen wurde.155) _____________ 142) § 111 Abs. 5 Satz 2 i. d. F. des RegE sah noch die konkrete Angabe der geplanten Gesamtzahl von weiblichen Organmitgliedern vor, s. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 26; Redenius-Hövermann, ZIP 2021, 1365, 1380 f.; Seibt, DB 2021, 438, 444. 143) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Ausschussdrucks. 19(13)152, S. 6 (qua Verweis auf S. 10); Redenius-Hövermann, ZIP 2021, 1365, 1380 f. 144) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Ausschussdrucks. 19/30154, S. 20 (qua Verweis auf S. 23); Backhaus, AG 2021, 653, 656. 145) Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 49. 146) Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 85 (qua Verweis auf S. 86). 147) Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 85 (qua Verweis auf S. 86). 148) Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 85 (qua Verweis auf S. 86); damit die Begründung „eine gewissenhafte Entscheidung für die Öffentlichkeit plausibel macht“. 149) Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 85 (qua Verweis auf S. 86). 150) Näher dazu Groß, AG 2021, 693, 695. 151) Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 80. 152) So zum FüPoG: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 82, Seibt, ZIP 2015, 1193, 1207. 153) So zum FüPoG: Begr. RegE FüPoG, BT-Drucks. 18/3784, S. 132. 154) Begr. RegE FüPoG II, BT-Drucks. 19/26689, S. 49 (durch „öffentlichen Druck“ soll die Bereitschaft der Unternehmen erhöht werden, Frauen mit Führungspositionen zu betrauen); s. dazu Leuering/ Konstant, NJW-Spezial 2021, 527, 528; skeptisch: Redenius-Hövermann, ZIP 2021, 1365, 1381. 155) Begr. RegE FüPoG II, BT Drucks. 19/26689, S. 50 und S. 81.

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Geschäfte mit nahestehenden Personen

32 Die neuen Regelungen zu den Berichtspflichten sind erstmals auf Lage- und Konzernlageberichte sowie Erklärungen zur Unternehmensführung nach § 289f Abs. 4 Satz 3 HGB für das nach dem 31.12.2020 beginnende Geschäftsjahr anzuwenden (Art. 87 EGHGB).156) VIII. Persönliche Wahrnehmung (§ 111 Abs. 6) 33 Nach § 111 Abs. 6 können die Aufsichtsratsmitglieder ihre Aufgaben nicht durch andere wahrnehmen lassen, sie müssen ihre Pflichten persönlich und eigenverantwortlich erfüllen.157) Hiermit korrespondiert, dass Stellvertreter von Aufsichtsratsmitgliedern nicht bestellt werden dürfen (§ 101 Abs. 3 Satz 1). Das Aufsichtsratsamt ist höchstpersönlich auszuüben, weshalb Aufsichtsratsmitglieder nicht zu einer bestimmten Entscheidung gezwungen werden können und keinen Weisungen unterliegen.158) Gesetzliche Ausnahmen vom Gebot der höchstpersönlichen Amtsführung sind § 109 Abs. 3 (Teilnahme ermächtigter Personen an Sitzungen) sowie § 108 Abs. 3 (Möglichkeit der Überreichung schriftlicher Stimmabgaben abwesender Aufsichtsratsmitglieder).159) Die Einschaltung von Hilfskräften, die den Aufsichtsrat, den Aufsichtsratsvorsitzenden oder Aufsichtsratsmitglieder unterstützen (etwa durch technische und sachliche Vorbereitung der jeweiligen Aufgaben, der Sitzungen und der Beschlussfassungen), ist ebenfalls zulässig.160) _____________ 156) Näher dazu Groß, AG 2021, 693, 695. 157) BGH, Urt. v. 15.11.1982 – II ZR 27/82 (Hertie), BGHZ 85, 293 = ZIP 1983, 55, 56; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 790; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 83 f. 158) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 160; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 792; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 111 Rz. 82. 159) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 156; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 791; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111 Rz. 83. 160) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 111 Rz. 158; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 794; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 111 Rz. 83.

§ 111a Geschäfte mit nahestehenden Personen Werner Paul Schick

(1) 1Geschäfte mit nahestehenden Personen sind Rechtsgeschäfte oder Maßnahmen, 1. durch die ein Gegenstand oder ein anderer Vermögenswert entgeltlich oder unentgeltlich übertragen oder zur Nutzung überlassen wird und 2. die mit nahestehenden Personen gemäß Satz 2 getätigt werden. 2

Nahestehende Personen sind nahestehende Unternehmen oder Personen im Sinne der internationalen Rechnungslegungsstandards, die durch die Verordnung (EG) Nr. 1126/ 2008 der Kommission vom 3. November 2008 zur Übernahme bestimmter internationaler Rechnungslegungsstandards gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 320 vom 29.11.2008, S. 1; L 29 vom 2.2.2010, S. 34), die zuletzt durch die Verordnung (EU) 2019/412 (ABl. L 73 vom 15.3.2019, S. 93) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung übernommen wurden. 3Ein Unterlassen ist kein Geschäft im Sinne des Satzes 1. (2) 1Geschäfte, die im ordentlichen Geschäftsgang und zu marktüblichen Bedingungen mit nahestehenden Personen getätigt werden, gelten nicht als Geschäfte mit nahestehenden Personen im Sinne der §§ 107 und 111a bis 111c. 2Um regelmäßig zu bewerten, ob die Voraussetzungen nach Satz 1 vorliegen, richtet die börsennotierte Gesellschaft ein internes Verfahren ein, von dem die an dem Geschäft beteiligten nahe-

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stehenden Personen ausgeschlossen sind. 3Die Satzung kann jedoch bestimmen, dass Satz 1 nicht anzuwenden ist. (3) Nicht als Geschäfte mit nahestehenden Personen im Sinne der §§ 107 und 111a bis 111c gelten ferner 1. Geschäfte mit Tochterunternehmen im Sinne der internationalen Rechnungslegungsstandards, die durch die Verordnung (EG) Nr. 1126/2008 übernommen wurden, die unmittelbar oder mittelbar in 100-prozentigem Anteilsbesitz der Gesellschaft stehen oder an denen keine andere der Gesellschaft nahestehende Person beteiligt ist oder die ihren Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union haben und deren Aktien zum Handel an einem in einem Mitgliedstaat gelegenen oder dort betriebenen geregelten Markt im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 Nummer 21 der Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über Märkte für Finanzinstrumente sowie zur Änderung der Richtlinien 2002/92/EG und 2011/61/EU (ABl. L 173 vom 12.6.2014, S. 349; L 74 vom 18.3.2015, S. 38; L 188 vom 13.7.2016, S. 28; L 273 vom 8.10.2016, S. 35; L 64 vom 10.3.2017, S. 116; L 278 vom 27.10.2017, S. 56), die zuletzt durch die Richtlinie (EU) 2016/1034 (ABl. L 175 vom 30.6.2016, S. 8) geändert worden ist, zugelassen sind; 2. Geschäfte, die einer Zustimmung oder Ermächtigung der Hauptversammlung bedürfen; 3. alle in Umsetzung der Hauptversammlungszustimmung oder -ermächtigung vorgenommenen Geschäfte und Maßnahmen, insbesondere a) Maßnahmen der Kapitalbeschaffung oder Kapitalherabsetzung (§§ 182 bis 240), Unternehmensverträge (§§ 291 bis 307) und Geschäfte auf Grundlage eines solchen Vertrages, b) die Übertragung des ganzen Gesellschaftsvermögens gemäß § 179a, c) der Erwerb eigener Aktien nach § 71 Absatz 1 Nummer 7 und 8 Satzteil vor Satz 2, d) Verträge der Gesellschaft mit Gründern im Sinne des § 52 Absatz 1 Satz 1, e) der Ausschluss von Minderheitsaktionären nach den §§ 327a bis 327f sowie f) Geschäfte im Rahmen einer Umwandlung im Sinne des Umwandlungsgesetzes; 4. Geschäfte, die die Vergütung betreffen, die den Mitgliedern des Vorstands oder Aufsichtsrats im Einklang mit § 113 Absatz 3 oder § 87a Absatz 2 gewährt oder geschuldet wird; 5. Geschäfte von Kreditinstituten, die zur Sicherung ihrer Stabilität durch die zuständige Behörde angeordnet oder gebilligt wurden; 6. Geschäfte, die allen Aktionären unter den gleichen Bedingungen angeboten werden. Literatur: Backhaus, Das interne Verfahren zur Bewertung von Geschäften mit nahestehenden Personen (Related Party Transactions) gemäß § 111a II 2 AktG, NZG 2020, 695; Backhaus/ Brouwer, Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats bei Geschäften mit nahestehenden Personen (Related Party Transactions) bei der KGaA – HGB sticht AktG, AG 2019, 287; Barg, Regulierung von Related Party Transactions im deutschen Aktienrecht, AG 2020, 149; Baur, Der Begriff der nahestehenden Person gemäß § 111a Abs. 1 Satz 2 AktG, ZGR 2021, 395; Bungert/Wansleben, Umsetzung der überarbeiteten Aktionärsrechterichtlinie in das deutsche Recht: Say on Pay und Related Party Transactions, DB 2017, 1190; Florstedt, Der Aktionärsschutz bei Geschäften mit nahestehenden Personen gem. § 107 AktG und §§ 111a – c AktG, ZHR 184 (2020) 10; Grigoleit, Regulierung von Related Party Transactions im Kontext des deutschen Konzernrechts, ZGR 2019, 412; Markworth, Der Aufsichtsrats-Ausschuss zu Related Party Transactions nach § 107 Abs. 3 Sätze 4 – 6 AktG, AG 2020, 166; Müller, Related Party Transactions nach dem

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ARUG II, ZIP 2019, 2429; Redeke/Schäfer/Troidl, Related Party Transactions: Zum internen Verfahren nach § 111a Abs. 2 AktG, AG 2020, 159; Tarde, Geschäfte mit nahestehenden Personen nach dem ARUG II-Regierungsentwurf, NZG 2019, 488; Veil, Transaktionen mit Related Parties im deutschen Aktien- und Konzernrecht, NZG 2017, 521; Vetter, Zur Bewertung von Geschäften mit nahestehenden Personen – Überlegungen zur Auslegung des § 111b Abs. 1 AktG, AG 2019, 853; Vetter, Regelungsbedarf für Related Party Transactions?, ZHR 179 (2015) 273.

Übersicht I. Allgemeines ....................................... 1 II. Geschäfte mit nahestehenden Personen ............................................ 4 1. Rechtsgeschäft ................................... 5 2. Maßnahme .......................................... 6 3. Übertragung oder Überlassung eines Vermögenswerts ....................... 7 4. Nahestehende Personen .................... 8 5. Ausnahmetatbestände (Abs. 2, 3) .... 11 a) Im ordentlichen Geschäftsgang und zu marktüblichen Bedingungen getätigte Geschäfte ........................................ 12 I.

b) Internes Verfahren ..................... 14 c) Weitere Ausnahmen ................... 16 aa) Geschäfte mit Tochterunternehmen (Abs. 3 Nr. 1) ............... 17 bb) Geschäfte, die der Zustimmung oder Ermächtigung der Hauptversammlung bedürfen, und deren Umsetzung ....................... 18 cc) Vergütungsbezogene Geschäfte .................................... 19 dd) Kreditinstitute ............................ 20 ee) Angebot an alle Aktionäre .................................... 21

Allgemeines

1 § 111a ist Teil des durch das ARUG II1) neu in das AktG eingefügten (eigenständigen) Regelungskonzepts für Geschäfte mit der Gesellschaft nahestehenden Unternehmen und Personen – Related Party Transactions (§§ 111a – 111c, 107 Abs. 3 Satz 4 – 6) und legt fest, welche Related Party Transactions deren Regelungen unterfallen.2) Während § 111b und § 111c die Rechtsfolgen (Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats und Veröffentlichungspflicht des Geschäfts) regeln, definiert § 111a in Absatz 1 den Anwendungsbereich der neuen Vorschriften für Related Party Transactions und beschreibt in Absatz 2 und 3 Ausnahmen von deren Anwendungsbereich. 2 Die §§ 111a – 111c erfassen nur börsennotierte Gesellschaften,3) wie sich aus § 111b Abs. 1 und § 111c Abs. 14) sowie § 111a Abs. 2 Satz 2 ergibt. Neben börsennotierten AGs werden auch börsennotierte SE und KGaA (§ 278 Abs. 3 AktG) erfasst.5) 3 Durch die Regelungen der §§ 111a – c und § 107 werden die europäischen Vorgaben der zweiten Aktionärsrechte-Richtlinie (ARRL)6) zu Related Party Transactions in deutsches Recht umgesetzt. Nach Art. 9c ARRL sind wesentliche Geschäfte der Gesellschaft mit _____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6)

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Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechtsrechterichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2637. Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111a Rz. 1. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 35, 78; s. dazu auch Müller, ZIP 2019, 2429 f. Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111a Rz. 1. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 79; ausführlich zur Anwendung auf börsennotierte KGaA: Backhaus/Brouwer, AG 2019, 287 ff. Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre, ABl. (EU) 2017 L 132/1; zur überarbeiteten ARRL und insbesondere zu Related Party Transactions: Bungert/Wansleben, DB 2017, 1190, 1193 ff.

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nahestehenden Personen und Unternehmen vorab durch eine unabhängige Instanz zu prüfen und offenzulegen. Hierdurch soll der Gefahr begegnet werden, dass nahestehende Unternehmen und Personen ihren Einfluss ausnutzen, um sich auf Kosten der Gesellschaft und ihrer außenstehenden Aktionäre Vermögensvorteile zu verschaffen7) (das sog. Tunelling).8) Da das deutsche Recht schon eine Reihe von Schutzvorkehrungen hiergegen enthält,9) setzen die Related-Party-Transactions-Regelungen des ARUG II die ARRL zur Vermeidung von schädlicher Über- und Doppelregulierung nur „behutsam und möglichst unbürokratisch“ um.10) II.

Geschäfte mit nahestehenden Personen

In § 111a Abs. 1 Satz 1 werden Geschäfte mit nahestehenden Personen als Rechtsge- 4 schäfte oder Maßnahmen definiert.11) „Geschäft“ ist in einem weiten, funktionalen Sinn zu verstehen und die Auslegung des Begriffs kann anhand der zu § 285 Nr. 21 HGB entwickelten Grundsätze erfolgen.12) Vom Geschäftsbegriff erfasst werden neben Rechtsgeschäften auch Maßnahmen, die die entgeltliche oder unentgeltliche Überlassung eines Vermögenswerts zum Gegenstand haben.13) Unterlassungen sind nach § 111a Abs. 1 Satz 3 kein Geschäft i. S. des Absatz 1 Satz 1.14) 1.

Rechtsgeschäft

Insoweit folgt die Begrifflichkeit dem Zivilrecht. Es werden neben Verträgen auch ein- 5 seitige Rechtsgeschäfte (Anfechtung, Aufrechnung, Kündigung, Rücktritt oder Optionsausübung) erfasst.15) Beschlüsse und andere gesellschaftsinterne Maßnahmen fallen nicht hierunter.16) Das in Umsetzung eines Beschlusses getätigte Geschäft wird nur erfasst, sofern § 111a Abs. 3 Nr. 2 und 3 keine Ausnahme vorsehen.17) Zwar fallen sowohl das schuldrechtliche als auch das dringliche Geschäft unter Absatz 1, es ist in der Regel jedoch nur eine einheitliche Zustimmung und keine erneute Zustimmung zum oder Veröffentlichung des Erfüllungsgeschäfts erforderlich.18) Auch bei Dauerschuldverhältnissen ist nur eine einmalige Zustimmung und Veröffentlichung notwendig.19) _____________ 7) S. ErwG 42 ARRL; Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 35. 8) Grigoleit, ZGR 2019, 412, 415 f.; Veil, NZG 2017, 521, 522; Tarde, NZG 2019, 488. 9) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 35 (das deutsche Aktienrecht regelt bislang Geschäfte mit nahestehenden Personen nur situativ); Müller, ZIP 2019, 2429; Veil, NZG 2017, 521, 523; ausführlich dazu Vetter, ZHR 179 (2015) 273, 289 ff. 10) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 35 (unter Ausnutzung der hierfür durch die ARRL den Mitgliedstaaten eingeräumten Spielräume); s. hierzu auch Müller, ZIP 2019, 2429; Tarde, NZG 2019, 488. 11) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 9 (Legaldefinition); Hüffer/KochKoch, AktG, § 111a Rz. 2. 12) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 79. 13) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 79. 14) S. dazu: Vetter, AG 2019, 853, 855; Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 12 (in der Sache nicht überzeugend, aber in Anbetracht der Entscheidung des Gesetzgebers zu akzeptieren); kritisch zur Ausnahme der Unterlassungen: Grigoleit, ZGR 2019, 412, 419 f.; dies ablehnend: Hirte/Heidel-Heidel/Illner, Das neue Aktienrecht, § 111a Rz. 25. 15) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 10; Hirte/Heidel-Heidel/Illner, Das neue Aktienrecht, § 111a Rz. 8. 16) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 10; a. A.: Vetter, AG 2019, 853, 854. 17) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 10. 18) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 79 („einheitliche Zustimmung“); Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 10; Müller, ZIP 2019, 2429, 2430. 19) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 79; Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 10; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111a Rz. 2.

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§ 111a 2.

Geschäfte mit nahestehenden Personen

Maßnahme

6 Hierunter fällt jede Handlung, die zwar keinen rechtsgeschäftlichen Charakter hat, aber Auswirkungen auf die Vermögens- oder Ertragslage der Gesellschaft haben kann.20) Dies können etwa der Bezug oder die Erbringung von Dienstleistungen, Käufe bzw. Verkäufe von Grundstücken, fertigen oder unfertigen Waren oder Erzeugnissen, die Nutzung oder Nutzungsüberlassung von Vermögensgegenständen, Finanzierungen, die Gewährung von Bürgschaften oder anderen Sicherheiten und auch Produktionsverlagerungen/-änderungen, Investitionen, Stilllegungen von Betriebsteilen, Abstimmungen im Ein- oder Verkauf oder die Übernahme der Erfüllung einer Verbindlichkeit sein.21) 3.

Übertragung oder Überlassung eines Vermögenswerts

7 Nach § 111a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 muss durch Rechtsgeschäft oder Maßnahme ein Gegenstand oder anderer Vermögenswert entgeltlich oder unentgeltlich übertragen oder zur Nutzung überlassen werden. Erfasst werden alle potentiell nachteiligen Geschäfte.22) 4.

Nahestehende Personen

8 Für die Definition der nahestehenden Personen verweist § 111a Abs. 1 Satz 2 auf die Regelungen der internationalen Rechnungslegungsstandards, insbesondere IAS 24, aber auch die in Bezug genommenen Standards IFRS 10 und 11 sowie IAS 28.23) Gemäß den dort im Einzelnen geregelten Kriterien muss für ein Nahestehen ein relevanter Einfluss auf die Gesellschaft gegeben sein.24) Diesen können insbesondere gesellschaftsrechtliche Verbindungen (etwa Beherrschung oder gemeinschaftliche Führung) begründen.25) Da gemäß IAS 28.5 widerleglich vermutet werden kann, dass ab einer (mittel- oder unmittelbaren) Beteiligung von 20 % ein maßgeblicher Einfluss besteht, kann ab diesem Schwellenwert in der Regel von einem Nahestehen ausgegangen werden; diese Vermutung ist durch Tatsachen widerlegbar, wonach die Einflussnahme auf die Finanz- und Geschäftspolitik der Gesellschaft tatsächlich oder rechtlich unmöglich ist.26) 9 Ein Nahestehen kann sich aus dienstvertraglichen bzw. organschaftlichen Verbindungen, wie das Bekleiden von Schlüsselpositionen in der Gesellschaft oder ihrem Mutterunternehmen (etwa als Vorstands- oder Aufsichtsratsmitglied) ergeben.27) Auch nahe Familienangehörige der Personen, die eine der vorgenannten Verbindungen aufweisen, zählen zu den nahestehenden Personen. Dagegen sind Kapitalgeber, Gewerkschaften, öffentliche Versorgungsunternehmen, Behörden und Institutionen einer öffentlichen Stelle nicht schon aufgrund ihrer gewöhnlichen Geschäftsbeziehung nahestehende Personen.28)

_____________ 20) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 11; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111a Rz. 3; Vetter, AG 2019, 853, 855. 21) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 79. 22) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 13; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111a Rz. 4. 23) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 79 f.; s. zur Regelungstechnik: Habersack in: MünchKommAktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 14 ff. (dynamischer Verweis); Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111a Rz. 5; ausführlich zum Ganzen: Florstedt, ZHR 184 (2020) 10, 20 ff.; Baur, ZGR 2021, 395, 398 ff. 24) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 16; Müller, ZIP 2019. 2429, 2430. 25) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 80. 26) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 80. 27) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 80. 28) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 80.

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Entscheidend für die Beurteilung des Nahestehens ist nicht allein die formal-rechtliche 10 Gestaltung der Beziehung, sondern ihr wirtschaftlicher Gehalt.29) Es ist unerheblich, ob die Voraussetzungen des Nahestehens bei Geschäftsabschluss vorliegen. Vielmehr ist entscheidend, ob im Zeitpunkt des Geschäftsabschlusses faktisch noch oder schon ein dem Nahestehen entsprechendes Einflusspotential bestand.30) Dies wird in der Regel vermutet, wenn eines der vorstehend genannten Verhältnisse in einem Zeitraum von bis zu sechs Monaten vor oder nach Geschäftsabschluss bestand oder aufgrund begründeter Erwartungen bestehen wird.31) Hierdurch sollen Umgehungsmöglichkeiten eingeschränkt werden.32) 5.

Ausnahmetatbestände (Abs. 2, 3)

In Anbetracht des im deutschen Aktienrecht bereits bestehenden hohen Schutzniveaus 11 für Geschäfte mit nahestehenden Personen33) enthalten § 111a Abs. 2 und 3 umfassende Ausnahmetatbestände.34) a)

Im ordentlichen Geschäftsgang und zu marktüblichen Bedingungen getätigte Geschäfte

Liegen diese beiden Voraussetzungen kumulativ vor, so werden solche Geschäfte durch 12 § 111a Abs. 2 Satz 1 aus der Definition des § 111a Abs. 1 und damit aus dem Anwendungsbereich der §§ 107 und 111a bis 111c herausgenommen.35) Ob ein Geschäft zu marktüblichen Bedingungen abgeschlossen wurde, kann in der Regel 13 anhand eines Drittvergleichs festgestellt werden; Marktüblichkeit ist anzunehmen, wenn die Konditionen auch mit einem Dritten zu erreichen gewesen wären, wobei sich Leistung und Gegenleistung in einem angemessenen Verhältnis gegenüberstehen müssen.36) Maßgeblich ist hierbei stets die Sicht der Gesellschaft. Auch konzerninterne Geschäfte, etwa Cash Pooling, sind marktüblich, sofern die Konditionen den allgemein üblichen Konditionen bei solchen Geschäften entsprechen.37) Das kumulativ erforderliche Kriterium des ordentlichen Geschäftsgangs umfasst typische, sich wiederholende Alltagsgeschäfte. Ausgeschlossen sind außergewöhnliche Geschäfte; maßgeblich sind Inhalt, Umfang und Häufigkeit.38) b)

Internes Verfahren

Gemäß § 111a Abs. 2 Satz 2 muss die börsennotierte Gesellschaft ein internes Verfahren 14 einrichten, um zu bewerten, ob die Voraussetzungen einer Ausnahme nach Satz 1 vorliegen. Überwiegend wird angenommen, dass der Aufsichtsrat für dieses Verfahren zustän-

_____________ 29) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 80; s. dazu Grigoleit, ZGR 2019, 412, 430; zum Substanceover-Form-Prinzip: Florstedt, ZHR 184 (2020) 10, 23 ff. 30) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 80. 31) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 80. 32) Barg, AG 2020, 149, 151. 33) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 35. 34) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 80. 35) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 80. 36) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 81. 37) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 81. 38) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 81.

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Geschäfte mit nahestehenden Personen

dig ist.39) Insoweit muss der Aufsichtsrat aber nicht unmittelbar und vollumfänglich selbst tätig werden. Der Aufsichtsrat kann die Einrichtung und den laufenden Betrieb des internen Verfahrens (Clearing-/Monitoring-Verfahrens) auch dem Vorstand überlassen, sofern er dessen Wirksamkeit durch eigene Überprüfung sicherstellt40) und auch über die Einrichtung des Verfahrens entschieden hat. Es ist sicherzustellen, dass an dem konkreten Geschäft beteiligte nahestehende Personen von dem Verfahren ausgeschlossen sind.41) 15 Wird die Möglichkeit des § 111a Abs. 2 Satz 3 genutzt und durch die Satzung die Anwendung des Ausnahmetatbestands des § 111a Abs. 2 Satz 1 ausgeschlossen, so ist ein internes Verfahren nach Satz 2 nicht erforderlich.42) c)

Weitere Ausnahmen

16 § 111a Abs. 3 zählt abschließend auf, welche weiteren Ausnahmen für Geschäfte gelten, bei denen ein besonderer Schutz der Minderheit aufgrund konkreter Umstände nicht erforderlich oder bereits auf andere Weise sichergestellt ist.43) Die Aufzählung ist abschließend, aber nach allgemeinen Regeln auslegungsfähig.44) aa)

Geschäfte mit Tochterunternehmen (Abs. 3 Nr. 1)

17 Diese Ausnahme erfasst in vier Varianten Geschäfte mit Tochterunternehmen, da aus Sicht des Gesetzgebers die Gefahren durch Vermögenstransfers geringer sind, soweit das Vermögen im Konsolidierungskreis verbleibt und jedenfalls § 111c Abs. 4 einen Mindestschutz für den Fall sicherstellt, dass das Vermögen die Konzernsphäre verlässt.45) Für den Begriff des Tochterunternehmens verweist Absatz 3 Nr. 1 auf die internationalen Rechnungslegungsstandards und damit auf IFRS Anhang A Konzernabschlüsse.46) Erforderlich ist damit eine – jedenfalls bei einer Beteiligung von mehr als 50 % gegebene – Beherrschung.47) – Die Variante 1 erfasst Geschäfte mit Tochterunternehmen, die unmittelbar im 100 %igen Anteilsbesitz der Muttergesellschaft stehen. Falls das auf das Tochterunternehmen übertragene Vermögen an einen außenstehenden Dritten oder auf ein anderes der Gesellschaft nahestehendes Unternehmen weiterübertragen wird, wird durch § 111c Abs. 4 nicht verhindert, dass §§ 111a ff. auf Ebene des nicht börsennotierten Tochterunternehmens nicht eingreifen und auf Ebene der Muttergesellschaft die Geschäfte der Tochter zwar u. U. einem Zustimmungsvorbehalt gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2, aber nicht dem Zustimmungsvorbehalt des § 111b unterliegen.48) _____________ 39) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 31; Barg, AG 2020, 149, 154; Redeke/ Schäfer/Troidl, AG 2020, 159, 161; Backhaus, NZG 2020, 695, 697 (der aber zugleich auch eine „Verantwortlichkeit des Vorstands aufgrund der §§ 111a ff. AktG“ annimmt); dagegen geht Markworth, AG 2020, 166, 174 f., davon aus, dass die „erforderliche Clearingstelle (§ 111a Abs. 2 Satz 2 AktG) beim Vorstand anzusiedeln“ sei. 40) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111a Rz. 13; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 111a Rz. 177 ff.; auch Backhaus, NZG 2020, 695, 697, geht von der Erforderlichkeit gewisser Mitwirkung des Vorstands aus. 41) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 81. 42) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 81. 43) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 81. 44) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 81; s. dazu Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 34; Hirte/Heidel-Heidel/Illner, Das neue Aktienrecht, § 111a Rz. 35: Ausnahmeregeln sind nach dem Schutzzweck des Gesetzes eng auszulegen. 45) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 82. 46) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 82. 47) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 35; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 111a Rz. 71 ff. 48) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 36; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111a Rz. 18; a. A.: Hirte/Heidel-Heidel/Illner, Das neue Aktienrecht, § 111a Rz. 37 ff., die § 111b Abs. 1 konzernweit auslegen (Rz. 39).

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Werner Paul Schick

Geschäfte mit nahestehenden Personen

§ 111a



Nach Variante 2 sind auch Geschäfte mit Enkel- und Urenkelgesellschaften, soweit die dazwischengeschaltete (unmittelbare) Tochtergesellschaft in 100 %igem Anteilsbesitz der Mutter ist.49) Dies gilt auch, wenn die Anteile an der Enkel- oder Urenkelgesellschaft von mehreren Tochtergesellschaften gehalten werden, die alle im 100 %igen Anteilsbesitz der Mutter stehen.50)



Von Variante 3 erfasst werden Geschäfte mit Tochtergesellschaften, an denen zwar außenstehende Aktionäre beteiligt sind, aber weder unmittelbar noch mittelbar andere der Mutter nahestehende Personen. Diese Ausnahme beruht auf der Annahme, dass dann kein Anreiz besteht, Vermögen zu verlagern.51)



Unter die Variante 4 fallen Geschäfte mit börsennotierten Tochtergesellschaften. Dies ist ausweislich der Materialien gerechtfertigt, da dann die Tochtergesellschaft ihrerseits nach nationalem Recht Umsetzungsvorschriften unterliegt, die einen angemessenen Schutz der Minderheitsaktionäre gewährleisten.52)

bb)

Geschäfte, die der Zustimmung oder Ermächtigung der Hauptversammlung bedürfen, und deren Umsetzung

Nach § 111a Abs. 3 Nr. 2 und 3 sind Geschäfte ausgenommen, die der Zustimmung oder 18 Ermächtigung bzw. eines Beschlusses der Hauptversammlung bedürfen, sowie alle in deren Umsetzung vorgenommenen Geschäfte und Maßnahmen – beispielhaft aufgezählt in Absatz 3 Nr. 3 lit. a bis f.53) Neben diesen nicht abschließend aufgeführten Anwendungsfällen kommen etwa noch in der Satzung bereits festgesetzte Sondervorteile gemäß § 26 in Betracht; Geschäfte nach § 119 Abs. 2 werden aus Gründen des Umgehungsschutzes nicht erfasst.54) Beschlüsse nach der Holzmüller/Gelatine-Rechtsprechung fallen dagegen unter Absatz 3 Nr. 2.55) cc)

Vergütungsbezogene Geschäfte

Vergütungsbezogene Geschäfte sind nach Abs. 3 Nr. 4 vom Anwendungsbereich des Ab- 19 satzes 1 ausgenommen, da durch die neuen Regelungen des § 113 Abs. 3 und § 87a Abs. 2 ein alternativer Schutzmechanismus geschaffen wurde.56) dd)

Kreditinstitute

Nach § 111a Abs. 3 Nr. 5 sind Geschäfte von Kreditinstituten ausgenommen, die zur 20 Sicherung ihrer Stabilität durch die zuständige Behörde angeordnet oder gebilligt wurden.57) Gerechtfertigt wird dies durch das übergeordnete Ziel der Finanzmarktstabilität.58) _____________ 49) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 82. 50) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 82; Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 37; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111a Rz. 18. 51) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 38; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111a Rz. 19. 52) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 82; s. hierzu aber auch Habersack in: MünchKommAktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 39; Grigoleit, ZGR 2019, 412, 441 f. 53) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 82. 54) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 82. 55) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 41; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111a Rz. 21. 56) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 82. 57) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 83. 58) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 83; zustimmend: Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 46.

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§ 111b ee)

Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats bei Geschäften mit Nahestehenden

Angebot an alle Aktionäre

21 Durch § 111a Abs. 3 Nr. 6 werden Geschäfte, die allen Aktionären unter gleichen Bedingungen angeboten werden, ausgenommen, da dann keine Benachteiligung der Minderheit droht.59) _____________ 59) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 83; s. dazu Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111a Rz. 23; Tarde, NZG 2019, 488, 491: geringe praktische Bedeutung.

§ 111b Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats bei Geschäften mit nahestehenden Personen Werner Paul Schick

(1) Ein Geschäft der börsennotierten Gesellschaft mit nahestehenden Personen, dessen wirtschaftlicher Wert allein oder zusammen mit den innerhalb des laufenden Geschäftsjahres vor Abschluss des Geschäfts mit derselben Person getätigten Geschäften 1,5 Prozent der Summe aus dem Anlage- und Umlaufvermögen der Gesellschaft gemäß § 266 Absatz 2 Buchstabe A und B des Handelsgesetzbuchs nach Maßgabe des zuletzt festgestellten Jahresabschlusses übersteigt, bedarf der vorherigen Zustimmung des Aufsichtsrats oder eines gemäß § 107 Absatz 3 Satz 4 bis 6 bestellten Ausschusses. (2) Bei der Beschlussfassung des Aufsichtsrats nach Absatz 1 können diejenigen Mitglieder des Aufsichtsrats ihr Stimmrecht nicht ausüben, die an dem Geschäft als nahestehende Personen beteiligt sind oder bei denen die Besorgnis eines Interessenkonfliktes auf Grund ihrer Beziehungen zu der nahestehenden Person besteht. (3) Ist die Gesellschaft Mutterunternehmen (§ 290 Absatz 1 und 2 des Handelsgesetzbuchs) und nicht gemäß § 290 Absatz 5 oder den §§ 291 bis 293 des Handelsgesetzbuchs von der Konzernrechnungslegungspflicht befreit, so tritt an die Stelle der Summe des Anlage- und Umlaufvermögens der Gesellschaft die Summe aus dem Anlage- und Umlaufvermögen des Konzerns gemäß § 298 Absatz 1 in Verbindung mit § 266 Absatz 2 Buchstabe A und B des Handelsgesetzbuchs nach Maßgabe des zuletzt gebilligten Konzernabschlusses oder in den Fällen des § 315e des Handelsgesetzbuchs die Summe aus den entsprechenden Vermögenswerten des Konzernabschlusses nach den internationalen Rechnungslegungsstandards. (4) 1Verweigert der Aufsichtsrat seine Zustimmung, so kann der Vorstand verlangen, dass die Hauptversammlung über die Zustimmung beschließt. 2Die an dem Geschäft beteiligten nahestehenden Personen dürfen ihr Stimmrecht bei der Beschlussfassung der Hauptversammlung weder für sich noch für einen anderen ausüben. Literatur: Barg, Regulierung von Related Party Transactions im deutschen Aktienrecht, AG 2020, 149; Florstedt, Der Aktionärsschutz bei Geschäften mit nahestehenden Personen gem. § 107 AktG und §§ 111a – c AktG, ZHR 184 (2020) 10; Grigoleit, Regulierung von Related Party Transactions im Kontext des deutschen Konzernrechts, ZGR 2019, 412; Löbbe, Umgang mit Interessenkonflikten bei Related Party Transactions, in: Festschrift für Barbara Grunewald, 2021, S. 689; Markworth, Der Aufsichtsrats-Ausschuss zu Related Party Transactions nach § 107 Abs. 3 Sätze 4 – 6 AktG, AG 2020, 166; Müller, Related Party Transactions nach dem ARUG II, ZIP 2019, 2429; Mutter, § 111b AktG i. d. F. durch das ARUG II im Lichte der „Schloss Eller“-Rechtsprechung des BGH, AG 2019, R 196; Tarde, Geschäfte mit nahestehenden Personen nach dem ARUG II-Regierungsentwurf, NZG 2019, 488; Vetter, Zur Bewertung von Geschäften mit nahestehenden Personen – Überlegungen zur Auslegung des § 111b Abs. 1 AktG, AG 2019, 853.

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Werner Paul Schick

Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats bei Geschäften mit Nahestehenden

§ 111b

Übersicht I. Allgemeines ....................................... 1 II. Wesentlichkeit ................................... 3 1. Schwellenwert ..................................... 4 2. Aggregation ........................................ 5 III. Zustimmungsvorbehalt .................... 6 1. Zustimmungsverfahren ...................... 7 I.

2. Vorherige Zustimmung ...................... 8 3. Entscheidungsmaßstab ...................... 9 4. Zustimmungsverweigerung/subsidiäre Hauptversammlungszuständigkeit .................................... 10 IV. Verstoßfolgen .................................. 11

Allgemeines

§ 111b ist Teil der durch das ARUG II1) neu eingeführten Regelungen für (wesentliche) 1 Geschäfte mit nahestehenden Personen (Related Party Transactions) (siehe dazu oben § 111a Rz. 1 ff.). Diese müssen nach § 111b Abs. 1 und 3 den dort bestimmten Schwellenwert überschreiten, um die Rechtsfolgen des § 111b Abs. 1 (Aufsichtsratszustimmung) und § 111c Abs. 1 (Veröffentlichung) auszulösen.2) Für Geschäfte mit nahestehenden Personen, die die Schwellenwerte überschreiten, ist die vorherige Zustimmung des Aufsichtsrats oder eines dafür gemäß § 107 Abs. 3 Satz 4 bestellen Ausschusses erforderlich. Dieser Zustimmungsvorbehalt ist im Zusammenhang mit der korrespondierenden Veröffentlichungspflicht des § 111c zu sehen.3) Durch den speziellen Zustimmungsvorbehalt des § 111b wird der allgemeine Zustimmungs- 2 vorbehalt gemäß § 111 Abs. 4 Satz 4 verdrängt; greift für das Geschäft § 111b jeoch nicht ein, so kann es einem Zustimmungsvorbehalt nach § 111 Abs. 4 Satz 2 unterliegen.4) Der Anwendungsbereich des § 111b umfasst AGs, KGaAs und Europäische Gesellschaften (SE), die börsennotiert (§ 3 Abs. 2) sind.5) II.

Wesentlichkeit

Die Zustimmung gemäß § 111b Abs. 1 ist nur bei wesentlichen Geschäften erforderlich und 3 muss vor Geschäftsabschluss erteilt werden.6) Es kommt auf den Zeitpunkt des Verpflichtungsgeschäfts an.7) Das Geschäft kann jedoch unter der aufschiebenden Bedingung der Zustimmung abgeschlossen werden und die Zustimmung dann anschließend eingeholt werden.8) 1.

Schwellenwert

Die Wesentlichkeit des Geschäfts i. S. des §§ 111a ff. wird gemäß § 111b Abs. 1 erreicht, 4 wenn das Geschäft allein oder aggregiert 1,5 % der Summe aus Anlage- und Umlaufvermögen der Gesellschaft gemäß § 266 Abs. 2 lit. A und B HGB nach Maßgabe des zuletzt festgestellten Jahresabschlusses übersteigt. Ist die Gesellschaft Mutterunternehmen gelten _____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8)

Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechtsrechterichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2637. Ausführlich dazu Grigoleit, ZGR 2019, 412, 417 ff.; Florstedt, ZHR 184 (2020) 10, 20 ff. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 83; s. dazu auch Hirte/Heidel-Heidel/Illner, Das neue Aktienrecht, § 111c Rz. 2 f. Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111b Rz. 3. Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111b Rz. 2; Hirte/Heidel-Heidel/Illner, Das neue Aktienrecht, § 111b Rz. 5; Müller, ZIP 2019, 2429. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 83. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 83; Barg, AG 2020, 149, 158; Müller, ZIP 2019, 2429, 2434 (in der Regel). Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 83; Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111b Rz. 18; näher dazu Markworth, AG 2020, 166, 173 f.; s. a. Hirte/Heidel-Heidel/ Illner, Das neue Aktienrecht, § 111b Rz. 82 – Vorstand darf aber die Aufsichtsrats-Entscheidungsfreiheit nicht präjudizieren.

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§ 111b

Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats bei Geschäften mit Nahestehenden

nach Absatz 3 entsprechende Bezugsgrößen aus dem Konzernbilanzrecht.9) Für die Bestimmung des wirtschaftlichen Werts des Geschäfts ist auf „den am Markt zu erzielenden Verkehrswert des zu übertragenden Gegenstands abzustellen“.10) Hierfür muss der Aufsichtsrat keine Gutachten einholen, sondern kann sich auf eine realistische Schätzung verlassen.11) Es liegt aber kein Fall der Business Judgement Rule (§§ 93 Abs. 1 Satz 2, 116 Satz 1) vor.12) Daher wird in den Materialien empfohlen, in Zweifelsfällen den Zustimmungsmechanismus des § 111b Abs. 1 wirken zu lassen.13) 2.

Aggregation

5 Für die Ermittlung des Schwellenwerts kommt es nicht allein auf das Einzelgeschäft an, vielmehr sind nach § 111b Abs. 1 alle innerhalb des laufenden Geschäftsjahrs mit derselben nahestehenden Person getätigten Geschäfte zusammenzurechnen. Hierfür ist auf das laufende Geschäftsjahr abzustellen (im RefE wurde noch auf die letzten zwölf Monate abgestellt).14) Der Aggregation erfasst nur die Geschäfte mit derselben nahestehenden Person.15) Nicht zu aggregieren sind Geschäfte, die den Ausnahmen nach § 111a Abs. 2 und 3 unterfallen.16) Führt die Aggregation zu einem Überschreiten des relevanten Schwellenwerts, so unterliegt das letzte Geschäft, durch das der Schwellenwert überschritten wird, der Zustimmung des Aufsichtsrats nach § 111b Abs. 117) – nur das letzte den Schwellenwert überschreitende Geschäft unterliegt der Zustimmungspflicht.18) Eine nachträgliche Zustimmungspflicht auch für die anderen in die Aggregation einbezogenen Geschäfte besteht nicht.19) Dagegen sind nach § 111c Abs. 1 Satz 2 alle aggregierten Geschäfte zu veröffentlichen20) (siehe dazu § 111c Rz. 4). III.

Zustimmungsvorbehalt

6 Für ein Geschäft der Gesellschaft mit einer nahestehenden Person, das den Schwellenwert nach § 111b Abs. 1 überschreitet und nicht unter einen der Ausnahmetatbestände nach § 111a Abs. 2 und 3 fällt, ist die vorherige Zustimmung des Aufsichtsrats oder eines Ausschusses gemäß § 107 Abs. 3 Satz 4 erforderlich.21) 1.

Zustimmungsverfahren

7 Sofern der Aufsichtsrat einen Ausschuss nach § 107 Abs. 3 Satz 4 einrichtet, kann dieser über die Zustimmung entscheiden.22) Für die Zusammensetzung des Ausschusses und einen etwaigen Stimmrechtsausschluss gelten dann § 107 Abs. 3 Satz 5 und 623) (siehe dazu § 107 Rz. 27). Wurde kein solcher Ausschuss eingerichtet oder ihm das Geschäft _____________ 9) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111b Rz. 5; Hirte/Heidel-Heidel/Illner, Das neue Aktienrecht, § 111b Rz. 9. 10) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 83. 11) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 83. 12) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111b Rz. 10; Vetter, AG 2019, 853, 860. 13) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 83 f.; zustimmend Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111b Rz. 10; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111b Rz. 5. 14) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 84. 15) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 84; näher dazu Vetter, AG 2019, 853, 861. 16) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111b Rz. 12; Müller, ZIP 2019, 2429, 2431. 17) Vetter, AG 2019, 853, 862; Barg, AG 2020, 149, 153. 18) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 84; Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111b Rz. 11; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111b Rz. 6. 19) Vetter, AG 2019, 853, 862. 20) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111b Rz. 11; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111b Rz. 6; Barg, AG 2020, 149, 153. 21) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111b Rz. 14; Müller, ZIP 2019, 2429, 2434. 22) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 84. 23) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 84; Löbbe in: FS Grunewald, S. 689, 694 f.

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Werner Paul Schick

Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats bei Geschäften mit Nahestehenden

§ 111b

nicht vorgelegt, kann der Aufsichtsrat selbst entscheiden; dann gelten die Stimmverbote des § 111b Abs. 2.24) Weder die an dem zustimmungspflichtigen Geschäft beteiligte nahestehende Person noch diejenigen Aufsichtsratsmitglieder, bei denen die Besorgnis eines Interessenkonflikts aufgrund ihrer Beziehungen zu einer nahestehenden Person besteht, dürfen an dem Zustimmungsverfahren teilnehmen. 2.

Vorherige Zustimmung

Die Zustimmung gemäß § 111b Abs. 1 ist vor dem Geschäftsabschluss einzuholen; maßgeb- 8 lich ist der Zeitpunkt des Verpflichtungsgeschäfts. Es ist jedoch zulässig, das zustimmungspflichtige Geschäft unter der aufschiebenden Bedingung der Zustimmung zu tätigen.25) 3.

Entscheidungsmaßstab

Der inhaltliche Maßstab für die erforderliche Zustimmung ist grundsätzlich das Gesell- 9 schaftsinteresse.26) Das Geschäft muss einem Drittvergleich standhalten;27) es muss aus Sicht der Gesellschaft und der Aktionäre angemessen sein, was sich aus § 111c Abs. 2 Satz 3 folgern lässt.28) 4.

Zustimmungsverweigerung/subsidiäre Hauptversammlungszuständigkeit

Verweigert der Aufsichtsrat bzw. der gemäß § 107 Abs. 3 Satz 4 – 6 eingerichtete Ausschuss 10 seine Zustimmung, kann der Vorstand nach § 111b Abs. 4 Satz 1 verlangen, dass die Hauptversammlung über die Zustimmung entscheidet. Abweichend von § 111 Abs. 4 Satz 4 genügt die einfache Mehrheit (§ 133 Abs. 1).29) Die an dem zustimmungspflichtigen Geschäft beteiligten nahestehenden Personen sind gemäß § 111b Abs. 4 Satz 2 vom Stimmrecht ausgeschlossen. IV.

Verstoßfolgen

Ein ohne die erforderliche Zustimmung abgeschlossenes Geschäft mit einer naheste- 11 henden Person ist im Außenverhältnis wirksam.30) Es werden keine Rückgewähransprüche der Gesellschaft begründet, sofern das Geschäft nicht eine Einlagenrückgewähr (§§ 57, 62) darstellt oder unter § 52 fällt oder die Voraussetzungen des § 826 BGB erfüllt sind.31) Durch die bei Nichtbeachtung des Zustimmungserfordernisses drohende persönliche Haftung (§ 93 Abs. 2 bzw. § 116 Satz 1, § 93 Abs. 2) sollen die Organmitglieder zur sorgfältigen Beachtung der §§ 111a – 111c angehalten werden.32) Die Vorstandsmitglieder handeln pflichtwidrig, wenn sie ein Geschäft ohne die nach § 111b erforderliche Zustimmung tätigen, und können nach § 93 Abs. 2 auf Schadensersatz haften (vorbehaltlich des Einwands des rechtmäßigen Alternativerhaltens).33) Eine Haftung der Aufsichtsratsmitglieder greift ein, wenn sie zu Unrecht vom Nichtvorliegen eines zustimmungspflichtigen _____________ Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 84; näher dazu Löbbe in: FS Grunewald, S. 689, 696 f. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 84. Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111b Rz. 21. Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111b Rz. 21; Müller, ZIP 2019, 2429, 2435. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111b Rz. 7; Müller, ZIP 2019, 2429, 2435. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 85; Tarde, NZG 2019, 488, 493. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 84; Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111b Rz. 23; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111b Rz. 10; Tarde, NZG 2019, 488, 494; kritisch dazu Hirte/Heidel-Heidel/Illner, Das neue Aktienrecht, § 111b Rz. 90 ff. 31) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 84; Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111b Rz. 23; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111b Rz. 10. 32) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 84; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 111c Rz. 75; s. dazu auch Mutter, AG 2019, R 196. 33) Näher dazu: Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111b Rz. 23 – auch zu einer etwaigen Haftung nach § 93 Abs. 3 Nr. 1; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 111b Rz. 106 f.

24) 25) 26) 27) 28) 29) 30)

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§ 111c

Veröffentlichung von Geschäften mit nahestehenden Personen

Geschäfts ausgehen.34) Bei inhaltlich falschen Zustimmungsentscheidungen kommt die Anwendung der Business Judgement Rule in Betracht.35) _____________ 34) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111b Rz. 23; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 111b Rz. 108. 35) S. dazu bzw. zur Haftung der Mitglieder eines RPT-Ausschusses: Markworth, AG 2020, 166, 176.

§ 111c Veröffentlichung von Geschäften mit nahestehenden Personen Werner Paul Schick

(1) 1Die börsennotierte Gesellschaft hat Angaben zu solchen Geschäften mit nahestehenden Personen, die gemäß § 111b Absatz 1 der Zustimmung bedürfen, unverzüglich gemäß Absatz 2 zu veröffentlichen. 2Ist die Zustimmungsbedürftigkeit eines Geschäfts nach § 111b Absatz 1 durch Zusammenrechnung mehrerer Geschäfte ausgelöst worden, so sind auch diese Geschäfte zu veröffentlichen. (2) 1Die Veröffentlichung hat in einer Art und Weise zu erfolgen, die der Öffentlichkeit einen leichten Zugang zu den Angaben ermöglicht. 2Die Veröffentlichung hat entsprechend den Regelungen in § 3a Absatz 1 bis 4 der Wertpapierhandelsanzeigeverordnung vom 13. Dezember 2004 (BGBl. I S. 3376), die zuletzt durch Artikel 1 der Verordnung vom 19. Oktober 2018 (BGBl. I S. 1758) geändert worden ist, zu erfolgen. 3 Die Veröffentlichung muss alle wesentlichen Informationen enthalten, die erforderlich sind, um zu bewerten, ob das Geschäft aus Sicht der Gesellschaft und der Aktionäre, die keine nahestehenden Personen sind, angemessen ist. 4Dies umfasst mindestens Informationen zur Art des Verhältnisses zu den nahestehenden Personen, die Namen der nahestehenden Personen sowie das Datum und den Wert des Geschäfts. 5Die Angaben sind zudem auf der Internetseite der Gesellschaft für einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren öffentlich zugänglich zu machen. (3) 1Handelt es sich bei dem Geschäft mit einer nahestehenden Person um eine Insiderinformation gemäß Artikel 17 der Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung) und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinien 2003/124/EG, 2003/125/EG und 2004/ 72/EG der Kommission (ABl. L 173 vom 12.6.2014, S. 1; L 287 vom 21.10.2016, S. 320; L 348 vom 21.12.2016, S. 83), die zuletzt durch die Verordnung (EU) 2016/1033 (ABl. L 175 vom 30.6.2016, S. 1) geändert worden ist, sind die nach Absatz 2 erforderlichen Angaben in die Mitteilung gemäß Artikel 17 der Verordnung (EU) Nr. 596/ 2014 aufzunehmen. 2In diesem Fall entfällt die Verpflichtung nach Absatz 1. 3Artikel 17 Absatz 4 und 5 der Verordnung (EU) Nr. 596/2014 gilt sinngemäß. (4) Ist die Gesellschaft Mutterunternehmen im Sinne der internationalen Rechnungslegungsstandards, die durch die Verordnung (EG) Nr. 1126/2008 übernommen wurden, gelten Absatz 1 Satz 1 sowie die Absätze 2 und 3 entsprechend für ein Geschäft eines Tochterunternehmens mit der Gesellschaft nahestehenden Personen, sofern dieses Geschäft, wenn es von der Gesellschaft vorgenommen worden wäre, nach § 111b Absatz 1 und 3 einer Zustimmung bedürfte. Literatur: Florstedt, Der Aktionärsschutz bei Geschäften mit nahestehenden Personen gem. § 107 AktG und §§ 111a – c AktG, ZHR 184 (2020) 10; Guntermann, Die Publizitätspflicht gem. § 111c AktG und ihr Zusammenspiel mit Art. 17 MAR, ZIP 2020, 1290; Müller, Related Party Transactions nach dem ARUG II, ZIP 2019, 2429; Tarde, Geschäfte mit nahestehenden Personen nach dem ARUG II-Regierungsentwurf, NZG 2019, 488.

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Veröffentlichung von Geschäften mit nahestehenden Personen

§ 111c

Übersicht I. Gegenstand und Zweck der Norm ............................................ 1 II. Veröffentlichungspflicht .................. 3 1. Veröffentlichungspflichtige Geschäfte ............................................ 4 2. Veröffentlichungszeitpunkt ............... 5 I.

3. Veröffentlichungsmodalitäten ........... 6 III. Verhältnis zur Ad-hocPublizität ............................................ 8 IV. Geschäfte von Tochterunternehmen ............................................... 9 V. Folgen bei Verstoß .......................... 11

Gegenstand und Zweck der Norm

§ 111c enthält als Teil der durch das ARUG II1) neu eingeführten Regelungen für (wesentli- 1 che) Geschäfte mit nahestehenden Personen (Related Party Transactions) (siehe dazu § 111a Rz. 1 ff.) die Pflicht zu deren Offenlegung. Gemäß § 111b Abs. 1 sind zustimmungspflichtige Geschäfte zu veröffentlichen. Hierdurch wird für Transparenz dieser Geschäfte gesorgt.2) Die Offenlegung zielt auf eine rasche Information der Aktionäre, Gläubiger, Arbeitnehmer und anderer interessierter Parteien über potentiell unternehmensrelevante Vorgänge ab.3) Die Veröffentlichung von Related Party Transactions hat nach § 111c Abs. 2 Satz 1 und 2 kapitalmarktrechtlich4) zu erfolgen und ist daher Art. 17 MMVO5) angepasst.6) Der Veröffentlichungspflicht unterliegen börsennotierte Gesellschaften i. S. von § 3 Abs. 2 2 und damit AGs, KGaAs und Europäische Gesellschaften (SE).7) II.

Veröffentlichungspflicht

Nach § 111c Abs. 1 hat die (börsennotierte) Gesellschaft alle Geschäfte mit nahestehen- 3 den Personen, die gemäß § 111b Abs. 1 zustimmungspflichtig sind, unverzüglich zu veröffentlichen.8) Geschäfte, die den Ausnahmen nach § 111a Abs. 2 und 3 unterfallen, werden hiervon nicht erfasst.9) 1.

Veröffentlichungspflichtige Geschäfte

Alle Geschäfte, die für sich genommen dem Zustimmungsvorbehalt gemäß § 111b Abs. 1 4 unterliegen, sind nach § 111c Abs. 1 Satz 1 zu veröffentlichen. Wird die maßgebliche Wertschwelle gem. § 111b Abs. 1 oder 3 erst durch Aggregation mehrerer Geschäfte mit derselben nahestehenden Person überschritten, so erstreckt sich die Veröffentlichungspflicht nicht nur auf das die Wesentlichkeitsschwelle selbst überschreitende Geschäft, sie erfasst nach § 111c Abs. 1 Satz 2 alle Geschäfte, deren Wert i. R. der Aggregation berücksichtigt wur_____________ 1) 2) 3) 4) 5)

6) 7) 8) 9)

Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechtsrechterichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2637. Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111c Rz. 1 (wodurch Vermögensverlagerungen auf nahestehende Personen verhindert werden sollen); Florstedt, ZHR 184 (2020) 10, 51. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 86. Also nicht in der Gesellschaftsblättern nach § 25; s. dazu auch Florstedt, ZHR 184 (2020) 10, 51 f.; Hirte/Heidel-Heidel/Illner, Das neue Aktienrecht, § 111c Rz. 1, Tarde, NZG 2019, 488, 494. Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.4.2014 über Marktmissbrauch und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinien 2003/124/EG, 2003/125/EG und 2004/72/EG der Kommission (MMVO), ABl. (EU) L 173/1 v. 12.6.2014. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 85 f. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 86; Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111c Rz. 2; Müller, ZIP 2019, 2429. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 86. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 86; Habersack in: MünchKomm-AktG Nachtrag, ARUG II, § 111c Rz. 5; Hirte/Heidel-Heidel/Illner, Das neue Aktienrecht, § 111c Rz. 2.

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§ 111c

Veröffentlichung von Geschäften mit nahestehenden Personen

den.10) Die im laufenden Geschäftsjahr getätigten Geschäfte mit derselben nahestehenden Person bedürfen dann zwar keiner Zustimmung, sie unterfallen aber der Veröffentlichungspflicht.11) Durch die Verweisung auf § 111b Abs. 1 werden sowohl die Voraussetzungen des § 111a als auch die Wertschwellen des § 111b Abs. 1 und 3 erfasst; die den Ausnahmen gemäß § 111a Abs. 2 und 3 unterfallenden Geschäfte werden nicht erfasst.12) 2.

Veröffentlichungszeitpunkt

5 Da eine Veröffentlichung zum Zeitpunkt des Geschäftsabschlusses vielfach faktisch nicht möglich sein wird, ist lediglich eine unverzügliche Veröffentlichung vorgesehen.13) Die Veröffentlichung muss in der Regel innerhalb von vier Handelstagen nach Geschäftsabschluss erfolgen.14) Fallen Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft zeitlich auseinander, so kommt es auf den Zeitpunkt des Verpflichtungsgeschäfts an.15) 3.

Veröffentlichungsmodalitäten

6 Gemäß § 111c Abs. 2 Satz 1 muss die Veröffentlichung in einer Art und Weise erfolgen, die der interessierten Öffentlichkeit einen leichten Zugang ermöglicht. Die bloß passive Anzeige auf der Internetseite der Gesellschaft genügt nicht, vielmehr muss eine aktive Information der Adressaten bewirkt werden.16) Hierfür wird auf § 3a Abs. 1 – 4 WpAV17) verwiesen, die entsprechend anzuwenden sind.18) Nach § 3a Abs. 1 WpAV sind damit die erforderlichen Angaben Medien zuzuleiten, die nach Maßgabe des § 3a Abs. 2 WpAV eine EU-weite Verbreitung gewährleisten.19) Zudem hat die Gesellschaft gemäß § 111c Abs. 2 Satz 5 die Angaben für einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren auf ihrer Internetseite zu veröffentlichen. 7 Die Veröffentlichung muss gemäß § 111c Abs. 2 Satz 3 alle wesentlichen Informationen enthalten, die zur Bewertung der Angemessenheit des Geschäfts erforderlich sind. Nach § 111 Abs. 2 Satz 4 sind „mindestens“ die beteiligten nahestehenden Personen, die Art ihres Verhältnisses zur Gesellschaft sowie das Datum und den Wert des Geschäfts zu veröffentlichen. Diese Aufzählung ist nicht abschließend, sind weitere Informationen zur Bewertung erforderlich, so sind diese zu veröffentlichen, etwa eine kurze Beschreibung des Geschäfts, Angaben zu Leistung und Gegenleistung sowie Vor- und Nachteilen des Geschäfts.20) III.

Verhältnis zur Ad-hoc-Publizität

8 Durch § 111c Abs. 3 wird das Verhältnis der Veröffentlichungspflicht nach § 111c zu Art. 17 MAR geregelt. Wenn es sich bei dem nach § 111c Abs. 1 zu veröffentlichen Geschäft um _____________ 10) 11) 12) 13) 14) 15) 16) 17)

18) 19) 20)

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Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 86. Müller, ZIP 2019, 2429, 2436; Guntermann, ZIP 2020, 1290. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 86. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 86; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111c Rz. 2; Guntermann, ZIP 2020, 1290. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 86; Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111c Rz. 9. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 79; ausführlich dazu: Guntermann, ZIP 2020, 1290. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 86. Verordnung zur Konkretisierung von Anzeige-, Mitteilungs- und Veröffentlichungspflichten nach dem Wertpapierhandelsgesetz (Wertpapierhandelsanzeigeverordnung – WpAV) v. 13.12.2004, BGBl. I 2004, 3376. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 86. Ausführl. dazu Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111c Rz. 12. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 87; ausführlich dazu: Florstedt, ZHR 184 (2020) 10, 53 f.; Guntermann, ZIP 2020, 1290, 1292.

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Veröffentlichung von Geschäften mit nahestehenden Personen

§ 111c

eine nach Art. 17 MAR publizitätspflichtige Information handelt, so sind die nach § 111c Abs. 2 notwendigen Angaben in die Ad hoc-Mitteilung aufzunehmen (§ 111c Abs. 3 Satz 1). Eine Veröffentlichung gemäß § 111c Abs. 1 ist dann entbehrlich (§ 111c Abs. 3 Satz 2). Die Möglichkeit einer Selbstbefreiung gemäß Art. 17 Abs. 4, 5 MAR bleibt gemäß § 111c Abs. 3 Satz 3 unberührt.21) Solange die Voraussetzungen einer Selbstbefreiung vorliegen, ist eine Veröffentlichung der wesentlichen Geschäfte entbehrlich.22) IV.

Geschäfte von Tochterunternehmen

Die Veröffentlichungspflicht des § 111c Abs. 1 erfasst zur Vermeidung von Umgehun- 9 gen auch Geschäfte von Tochterunternehmen der Gesellschaft, wenn diese Geschäfte mit Personen geschlossen werden, die der Gesellschaft selbst nahestehen.23) Anders als bei § 111b Abs. 3 (Mutterunternehmen gemäß § 290 Abs. 1, 2 HGB) bestimmt sich der Begriff des Mutterunternehmens hier nach den durch die IAS-Verordnung übernommenen internationalen Rechnungslegungsstandards, d. h. derzeit nach IFRS 10 Anhang A Konzernabschlüsse.24) Der durch § 111c Abs. 4 geregelte (spezialgesetzliche) Umgehungsschutz ist nicht ab- 10 schließend, weshalb ein darüber hinausgehender Schutz nach allgemeinen Grundsätzen hiervon unberührt bleibt (etwa bei einem Gesamtplan zur Umgehung des Zustimmungserfordernisses).25) V.

Folgen bei Verstoß

Ein Verstoß gegen die Veröffentlichungspflicht nach § 111c Abs. 1 lässt wie auch ein 11 Verstoß gegen die Zustimmungspflicht die Wirksamkeit des Geschäfts mit der nahestehenden Person unberührt.26) Es besteht dann aber gegenüber den verantwortlichen Vorstandsmitgliedern der Vorwurf sorgfaltswidrigen Handelns i. S. von § 93 Abs. 2, was zu einer entsprechenden Schadensersatzpflicht gegenüber der Gesellschaft führen kann.27) § 111c ist kein Schutzgesetz nach § 823 Abs. 2 BGB zugunsten von Aktionären oder Dritten.28) Verstöße gegen die Veröffentlichungspflicht können nach § 405 Abs. 2a Nr. 6, Abs. 4 mit einem Bußgeld bis zu 500.000 € geahndet werden. Nach § 10 OWiG wird nur vorsätzliches Verhalten erfasst. Zuständige Verwaltungsbehörde ist gemäß § 405 Abs. 5 Nr. 2 das Bundesamt für Justiz. Wenn zugleich eine Insiderinformation vorliegt und daher die Veröffentlichung gemäß § 111c Abs. 3 Satz 1 als Ad-hoc-Mitteilung nach Art. 17 Abs. 1 MMVO erfolgt, ist die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) nach § 405 Abs. 5 Nr. 1 lit. a die zuständige Verwaltungsbehörde.29) _____________ 21) Ausführlich dazu: Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111c Rz. 19 f.; Guntermann, ZIP 2020, 1290, 1293 ff. 22) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 87. 23) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 87; näher dazu Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111c Rz. 24. 24) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 87. 25) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 88; näher dazu Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111c Rz. 24; Hirte/Heidel-Heidel/Illner, Das neue Aktienrecht, § 111c Rz. 18; Florstedt, ZHR 184 (2020) 10, 14 f. 26) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111c Rz. 26; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111c Rz. 5. 27) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111c Rz. 25; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111c Rz. 6. 28) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111c Rz. 26; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 111c Rz. 6; a. A. Hirte/Heidel-Heidel/Illner, Das neue Aktienrecht, § 111c Rz. 25 ff. 29) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 117 – zur Vermeidung einer Doppelzuständigkeit; Koch, AktG, § 111c Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Vetter, AktG, § 111c Rz. 80.

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§ 112

Vertretung der Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern

§ 112 Vertretung der Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern Werner Paul Schick

1

Vorstandsmitgliedern gegenüber vertritt der Aufsichtsrat die Gesellschaft gerichtlich und außergerichtlich. 2§ 78 Abs. 2 Satz 2 gilt entsprechend.

Literatur: Bauer/Krieger, Formale Fehler bei Abberufung und Kündigung vertretungsberechtigter Organmitglieder, ZIP 2004, 1247; Bayer/Scholz, Vertretung des Aufsichtsrats nach § 112 AktG und Rechtsirrtümer im Kernbereich des Aktienrechts, ZIP 2015, 1853; Cahn, Die Vertretung der Aktiengesellschaft durch den Aufsichtsrat, in: Festschrift für Michael HoffmannBecking, 2013, S. 247; Eßwein, § 112 AktG: Universalnorm für die Vermeidung von Interessenkonflikten? Ein Plädoyer für die Rückbesinnung auf den Wortlaut, AG 2015, 151; Fleischer, Vorstandshaftung und Rechtsirrtum über die Vertretungskompetenz beim Abschluss eines Interim-Management-Vertrags, DB 2015, 1764; Fuhrmann, Beraterverträge mit Organmitgliedern in der Aktiengesellschaft, NZG 2017, 291; Jenne/Miller, Die Vertretung der Aktiengesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern, ZIP 2019, 1052; Krieger, Interim Manager im Vorstand der AG, in: Festschrift für Michael Hoffmann-Becking, 2013, S. 711; Köhler, Fehlerhafte Vorstandsverträge, NZG 2008, 171; Mutter, Nochmals: Die Vertretung der Aktiengesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern, ZIP 2019, 1052; Nägele/Böhm, Praxisrelevante Probleme der Vertretung nach § 112 AktG, BB 2005, 2197; Rupietta, Die Vertretung der Aktiengesellschaft gegenüber dem Vorstand, NZG 2007, 801; Schwab, Die Vertretung der Aktiengesellschaft gegenüber ausgeschiedenen Vorstandsmitgliedern im Liquidationsstadium, ZIP 2006, 1478; Theusinger/ Guntermann, Wann vertritt der Aufsichtsrat die AG – Neues vom BGH zu § 112 AktG, AG 2017, 1; Wachter, Die Vertretung der AG gegenüber dem Vorstand, DB 2019, 951; Werner, Aktuelle Probleme der Vertretung der Aktiengesellschaft durch den Aufsichtsrat nach § 112 AktG, Der Konzern 2008, 639; Wicke, Vertretung der Aktiengesellschaft gegenüber Gesellschaften des Vorstands, in: Festschrift für Gerd Krieger, 2020, S. 1101.

Übersicht I. Zweck der Norm ............................... II. Vertretung gegenüber Vorstandsmitgliedern ...................... III. Sachliche Reichweite ........................ IV. Ausübung der Vertretungsmacht ................................................. I.

1 2 4 5

1. 2. 3. V. 1. 2.

Gesamtaufsichtsrat ............................. 5 Delegation ........................................... 7 Nachweis der Vertretungsmacht ....... 8 Rechtsfolgen von Verstößen ............ 9 Materielle Rechtsfolgen ..................... 9 Prozessuale Vertretung .................... 10

Zweck der Norm

1 Die Norm soll eine unvoreingenommene, von möglichen Interessenkollisionen und darauf beruhenden sachfremden Erwägungen unbeeinflusste Vertretung der Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern sicherstellen.1) Die Anwendung der Norm ist erforderlich, um der abstrakten Gefahr einer Interessenkollision zu begegnen, nämlich der fehlenden Unabhängigkeit der selbst involvierten Mitglieder des Vertretungsorgans.2) § 112 trägt der Besorgnis Rechnung, dass der Vorstand bei einem Geschäft mit einem Vorstandsmit_____________ 1)

2)

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St. Rspr., s. BGH, Urt. v. 30.4.2019 – II ZR 317/17, Rz. 4, ZIP 2019, 1215; BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 282/07, ZIP 2009, 717, 718; BGH, Urt. v. 16.10.2006 – II ZR 7/05, ZIP 2006, 2213, 2214; BGH, Urt. v. 1.12.2003 – II ZR 161/02, BGHZ 157, 151, 153 f. = ZIP 2004, 92, dazu EWiR 2004, 97 (Ziemons). BAG, Urt. v. 4.7.2001 – 2 AZR 142/00, AG 2002, 458, 459 = NZG 2002, 392, 393; BGH, Urt. v. 15.1.2019 – II ZR 392/17, Rz. 23, ZIP 2019, 564, 566; BGH, Urt. v. 22.4.1991 – II ZR 151/90, ZIP 1991, 796; näher dazu Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 1 und 13; Cahn in: FS HoffmannBecking, S. 247, 249 f.

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Vertretung der Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern

§ 112

glied nicht die erforderliche Unabhängigkeit aufbringt.3) Bei der Normanwendung ist im Interesse der Rechtssicherheit auf eine typisierende Betrachtung abzustellen.4) § 112 ist zwingend, enthält aber keine abschließende Regelung der Vertretungsbefugnis des Aufsichtsrats gegenüber Dritten5) (wie etwa § 111 Abs. 2 Satz 2 und 3 zeigen). Im Hinblick auf die neuen Regelungen für Geschäfte mit nahestehenden Personen (§§ 111a – 111c – Related Party Transactions, siehe dazu § 111a Rz. 1) handelt es sich bei § 112 um einen funktionsähnlichen Schutzmechanismus,6) so dass es zu Überschneidungen kommen kann.7) II.

Vertretung gegenüber Vorstandsmitgliedern

Die in § 112 normierte Vertretung der Gesellschaft durch den Aufsichtsrat gilt gegen- 2 über amtierenden und ausgeschiedenen Vorstandsmitgliedern.8) Für die Anwendung auf ausgeschiedene Vorstandsmitglieder ist es ausreichend, dass die Angelegenheit ihren Ursprung in der Vorstandstätigkeit hat.9) Für die Vertretung einer durch Formwechsel oder Umwandlung einer GmbH entstandenen Gesellschaft im Prozess mit einem ehemaligen Geschäftsführer gilt ebenfalls § 112.10) In einem Rechtsstreit mit einer Vorstandswitwe über Ansprüche aus einer Versorgungszusage greift diese Vertretungsregel.11) Ebenso erfasst werden die Kündigungsschutzklage des Vorstandsmitglieds aus einem ruhenden Dienstverhältnis12) sowie Geschäfte im Vorfeld der Bestellung.13) § 112 Satz 1 ist auch gegenüber Personen anzuwenden, die erst künftig zum Vorstandsmitglied bestellt werden sollen, soweit ein Zusammenhang mit der künftigen Tätigkeit als Vorstandsmitglied besteht14) (etwa der Abschluss eines Anstellungs- oder Beratervertrags im Vorfeld der Bestellung zum Vorstandsmitglied)15) oder eines inhaltlich mit der Bestellung verknüpften Geschäftsanteils_____________ 3) BGH, Urt. v. 12.3.2013 – II ZR 179/12, Rz. 10, BGHZ 196, 312 = ZIP 2013, 819, dazu EWiR 2013, 297 (Wilsing/Meyer). 4) BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 282/07, ZIP 2009, 717, 718; BGH, Urt. v. 22.4.1991 – II ZR 151/90, ZIP 1991, 796; BAG, Urt. v. 20.9.2016 – 3 AZR 77/15, Rz. 52, NZG 2017, 69, 75; BGH, Urt. v. 30.4.2019 – II ZR 317/17, Rz. 5, ZIP 2019, 1215. 5) BGH, Urt. v. 20.3.2018 – II ZR 359/16, Rz. 15, BGHZ 218, 122; BGH, Urt. v. 15.1.2019 – II ZR 392/17, Rz. 20 f., ZIP 2019, 564; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 3 f.; Semler/ v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 112 Rz. 3 f. 6) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 35. 7) Näher dazu: Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, AktG, § 112 Rz. 3; Wicke in: FS Krieger, S. 1101, 1106; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 112 Rz. 8 (§§ 111a ff. greifen zusätzlich ein); so auch Wachter, DB 2019, 951, 958. 8) BGH, Beschl. v. 14.5.2013 – II ZB 1/11, Rz. 22, ZIP 2013, 1274, 1276, dazu EWiR 2013, 565 (Wenzel); BGH, Urt. v. 16.10.2006 – II ZR 7/05, ZIP 2006, 2213, 2214; BGH, Urt. v. 1.12.2003 – II ZR 161/02, BGHZ 157, 151, 153 f. = ZIP 2004, 92; BGH, Urt. v. 22.4.1991 – II ZR 151/90 = ZIP 1991, 796; BAG, Urt. v. 20.9.2016 – 3 AZR 77/15, Rz. 53, NZG 2017, 69, 75; BGH, Urt. v. 30.4.2019 – II ZR 317/17, Rz. 5, ZIP 2019, 1215; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 12; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 112 Rz. 2; Wachter, DB 2019, 951. 9) BGH, Urt. v. 7.7.1993 – VIII ZR 2/92, ZIP 1993, 1380, 1381; näher dazu Habersack in: MünchKommAktG, § 112 Rz. 13; Schwab, ZIP 2006, 1478, 1479. 10) BGH, Urt. v. 1.12.2003 – II ZR 161/02, BGHZ 157, 151, 153 f. = ZIP 2004, 92; BGH, Urt. v. 28.4.1997 – II ZR 282/95, ZIP 1997, 1108; OLG München, Urt. v. 17.3.2011 – 23 U 3673/10, BeckRS 2011, 06228; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 12. 11) BGH, Urt. v. 16.10.2006 – II ZR 7/05, ZIP 2006, 2213, 2214. 12) BAG, Urt. v. 4.7.2001 – 2 AZR 142/00, AG 2002, 458, 459 = NZG 2002, 392, 393 f.; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 13; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 112 Rz. 2. 13) BGH, Urt. v. 13.1.1958 – II ZR 212/56, BGHZ 26, 236, 238; OLG Brandenburg, Urt. v. 14.1.2015 – 7 U 68/13, AG 2015, 428, 429; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 11; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 112 Rz. 2. 14) BGH, Urt. v. 15.1.2019 – II ZR 392/17, Rz. 31 f., BGHZ 220, 377 = ZIP 2019, 564; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 11; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 112 Rz. 2. 15) Wicke in: FS Krieger, S. 1101, 1103.

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§ 112

Vertretung der Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern

kaufvertrages (etwa wenn dieser aufschiebend bedingt auf den Abschluss des Vorstandsdienstvertrags ist)16). Der Aufsichtsrat ist für die Entscheidungen über die Vorstandsvergütung und für den Abschluss der die Vergütung regelnden Verträge nach § 84 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. Satz 1, §§ 87, 112 zuständig, und zwar auch dann, wenn sie nicht vom Vorstandsmitglied selbst, sondern mit einem Dritten abgeschlossen werden und mit diesem eine Vergütung für die Vorstandstätigkeit vereinbart wird.17) Diese Zuständigkeit für DrittAnstellungsverträge gilt auch beim Abschluss eines Interim-Management-Vertrags.18) Die Gesellschaft handelt nicht i. S. von § 112 Satz 1 gegenüber einem Vorstandsmitglied, wenn Gesellschaft und Vorstandsmitglied keine gegenläufigen, sondern parallele Willenserklärungen gegenüber einem Dritten abgeben.19) 3 Die Norm findet keine Anwendung, wenn ein Vorstandsmitglied als Vertreter einer Gesellschaft auftritt, an der es zwar beteiligt ist, aber zwischen ihm und der Gesellschaft keine wirtschaftliche Identität besteht.20) Von wirtschaftlicher Identität und damit von einer Geltung des § 112 ist dann auszugehen, wenn das Vorstandsmitglied deren Alleingesellschafter ist.21) Dies hat der BGH nunmehr bestätigt und angenommen, dass § 112 Satz 1 jedenfalls dann in erweiternder Auslegung anwendbar ist, wenn die Gesellschaft ein Rechtsgeschäft mit einer Gesellschaft abschließt, deren Alleingesellschafter ein Vorstandsmitglied ist.22) Eine Erstreckung auf Konstellationen, in denen das Vorstandsmitglied nur maßgeblich beteiligt ist, kommt aus Gründen der Rechtssicherheit nicht in Betracht.23) Im Fall der (bloßen) Minderheitsbeteiligung (24,99 %) eines Vorstandsmitglieds ist § 112 jedenfalls nicht anwendbar.24) III.

Sachliche Reichweite

4 Die Vertretungsmacht des Aufsichtsrats erstreckt sich auf alle Rechtsgeschäfte sowie Rechtsstreitigkeiten (Aktiv- und Passivprozesse) mit Vorstandsmitgliedern und auch auf die Verfolgung von Ersatzansprüchen der Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitglie_____________ 16) BGH, Urt. v. 15.1.2019 – II ZR 392/17, Rz. 33; Wicke in: FS Krieger, S. 1101, 1103. 17) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, Rz. 24, ZIP 2015, 1220, 1222, dazu EWiR 2015, 469 (Theusinger/ Schilha); OLG München, Beschl. v. 12.1.2017 – 23 U 3582/16, ZIP 2017, 372, 376, dazu EWiR 2017, 233 (Goslar); grundlegend zur Kompetenz für Anstellungsvertrag und Vergütungsfragen: BGH, Hinweisbeschl. v. 17.5.2011 – II ZR 32/10, BeckRS 2011, 19847; s. a. Fuhrmann, NZG 2017, 291, 292 f. 18) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, Rz. 24, ZIP 2015, 1220, 1222; näher dazu: Fleischer, DB 2015, 1764, 1765; Bayer/Scholz, ZIP 2015, 1853, 1854 ff.; Krieger in: FS Hoffmann-Becking, S. 711, 716 f. (zur Zuständigkeitsfrage) und S. 711 ff. (allgemein zu Interim-Management-Verträgen). 19) BGH, Urt. v. 25.7.2017 – II ZR 235/15, Rz. 34, ZIP 2017, 1902, 1905, dazu EWiR 2018, 167 (Seulen/ Dölves); s. dazu Theusinger/Guntermann, AG 2017, 798, 800 und 801. 20) OLG München, Urt. v. 10.5.2012 – 14 U 2175/11, ZIP 2012, 1024, 1025 f., dazu EWiR 2012, 403 (Just); OLG Saarbrücken, Urt. v. 30.11.2000 – 8 U 71/00 – 15, AG 2001, 483, 484 = NZG 2001, 414; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 9; ausführlich dazu Werner, Der Konzern 2008, 639, 640 ff.; Rupietta, NZG 2007, 801, 802 ff.; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 1 Rz. 208. 21) OLG Brandenburg, Urt. v. 14.1.2015 – 7 U 68/13, AG 2015, 428, 429; OLG Saarbrücken, Urt. v. 11.10.2012 – 8 U 22/11 – 6, ZIP 2012, 2205, 2206, auch für ein ehemaliges Vorstandsmitglied; offenlassend und grundsätzlich ablehnend OLG München, Urt. v. 10.5.2012 – 14 U 2175/11, ZIP 2012, 1024, 1025 f.; näher dazu Eßwein, AG 2015, 152. 22) BGH, Urt. v. 15.1.2019 – II ZR 392/17, Rz. 17, BGHZ 220, 377 = ZIP 2019, 564, 565 f. 23) OLG München, Urt. v. 10.5.2012 – 14 U 2175/11, ZIP 2012, 1024, 1025 f.; Habersack in: MünchKommAktG, § 112 Rz. 9; Koch, AktG, § 112 Rz. 9; Jenne/Miller, ZIP 2019, 1052, 1056 f.; Wachter, DB 2019, 951, 953; a. A.: Rupietta, NZG 2007, 801, 803; Werner, Der Konzern 2008, 639, 641; Mutter, ZIP 2019, 1655; ausdrücklich offengelassen in: BGH, Urt. v. 15.1.2019 – II ZR 392/17, Rz. 27, BGHZ 220, 377 = ZIP 2019, 564, 566. 24) BGH, Urt. v. 12.3.2013 – II ZR 179/12, Rz. 9, BGHZ 196, 312 = ZIP 2013, 819; OLG München, Urt. v. 10.2.2012 – 14 U 2175/11, ZIP 2012, 1024, 1025 f.; Koch, AktG, § 112 Rz. 9; ausführlich und kritisch dazu Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 112 Rz. 42.

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Vertretung der Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern

§ 112

dern.25) Es gibt keine Bagatellgrenze,26) jedoch eine Ausnahme bei Geschäften mit ehemaligen Vorstandsmitgliedern, die keinen Bezug zur früheren Vorstandstätigkeit haben (sog. neutrale Geschäfte).27) Ist ein besonderer Vertreter zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen bestellt, verdrängt § 147 Abs. 2 die Zuständigkeit des Aufsichtsrats nach § 112.28) Der Aufsichtsrat ist auch für bestimmte Hilfsgeschäfte zur Vertretung befugt: Wenn der Aufsichtsrat gemäß § 111 Abs. 2 Satz 2 einen besonderen Sachverständigen im Namen der Gesellschaft beauftragt hat, dann hat er auch die Befugnis zur gerichtlichen Vertretung der Gesellschaft gegenüber dem Sachverständigen in einem Verfahren, das im Hinblick auf eine Streitigkeit aus dem Auftragsverhältnis geführt wird.29) § 112 ist insoweit nicht abschließend, aus § 111 Abs. 2 Satz 2 folgt nicht nur die Geschäftsführungsbefugnis, sondern auch die Vertretungsbefugnis des Aufsichtsrats, und zwar auch für die gerichtliche Vertretung.30) IV.

Ausübung der Vertretungsmacht

1.

Gesamtaufsichtsrat

Die Vertretungsbefugnis nach § 112 (Aktivvertretung) steht dem Gesamtaufsichtsrat zu, 5 wobei die erforderliche interne Willensbildung eines ausdrücklichen Beschlusses des Aufsichtsrats bedarf, der mit zumindest einfacher Mehrheit getroffen werden muss.31) Hiervon ist die Erklärung im Außenverhältnis zu unterscheiden, wozu das einzelne Aufsichtsratsmitglied, aber auch der Aufsichtsratsvorsitzende ermächtigt werden kann – etwa durch die Satzung, die Geschäftsordnung des Aufsichtsrats oder durch Aufsichtsratsbeschluss.32) Die bloße Bevollmächtigung eines Aufsichtsratsmitglieds zu einem Vertragsabschluss der Gesellschaft vermag jedoch nicht den erforderlichen Zustimmungsbeschluss des Aufsichtsrats zum Rechtsgeschäft zu ersetzen.33) Durch § 112 Satz 2 wird die entsprechende Anwendung des § 78 Abs. 2 Satz 2 für die Pas- 6 sivvertretung geregelt.34) Jedes Aufsichtsratsmitglied ist hierzu befugt, sodass die Abgabe _____________ 25) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 112 Rz. 5; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 453 f.; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 18. 26) BGH, Urt. v. 20.3.1958 – II ZR 2/57, BGHZ 27, 51, 54 = NJW 1958, 787; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 453; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 112 Rz. 5. 27) BAG, Urt. v. 20.9.2016 – 3 AZR 77/15, Rz. 54, NZG 2017, 69, 76; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 442; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 15; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 1 Rz. 210; Fuhrmann, NZG 2017, 291, 293 f. 28) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 112 Rz. 1; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 1 Rz. 205. 29) BGH, Urt. v. 20.3.2018 – II ZR 359/16, Rz. 18, ZIP 2018, 926, 928, dazu EWiR 2018, 357 (v. Falkenhausen). 30) BGH, Urt. v. 20.3.2018 – II ZR 359/16, Rz. 13 und 15 f., ZIP 2018, 926, 927, dazu EWiR 2018, 357 (v. Falkenhausen). 31) BGH, Beschl. v. 14.5.2013 – II ZB 1/11, Rz. 22, ZIP 2013, 1274, 1277; s. a. BGH, Zwischenurt. v. 29.1.2013 – II ZB 1/11, ZIP 2013, 483, 484, dazu EWiR 2013, 301 (Deiß); OLG München, Urt. v. 5.3.2015 – 23 U 2384/14, ZIP 2015, 870, 871, dazu EWiR 2015, 271 (Vetter); Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 21; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 112 Rz. 7; Koehler, NZG 2008, 161. 32) OLG Düsseldorf, Urt. v. 17.11.2003 – I-15 U 225/02, ZIP 2004, 1850, 1851 f.; Bauer/Krieger, ZIP 2004, 1247, 1248; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 456 und Rz. 371; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 112 Rz. 7; nach Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 21, soll es auch genügen, wenn sich die Ermächtigung zur Kundgabe aus den Umständen oder einer entsprechenden dauernden Übung ergibt; so wohl auch Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, AktG, § 112 Rz. 15. 33) OLG München, Urt. v. 19.12.2012 – 7 U 1711/12, ZIP 2013, 210, 211; s. a. OLG München, Urt. v. 5.3.2015 – 23 U 2384/14, ZIP 2015, 870, 871 (überlässt der Aufsichtsrat die Vertragsaushandlung einem Mitglied, muss der Aufsichtsrat anschließend hierüber beschließen); Habersack in: MünchKommAktG, § 112 Rz. 24. 34) Ausweislich der Materialien zum MoMiG (Begr. RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 52) soll durch die Ergänzung des § 112 um den Satz 2 die Rechtslage bzgl. der Passivvertretung klargestellt werden; s. dazu auch Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 112 Rz. 10.

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§ 112

Vertretung der Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern

der Erklärung gegenüber einem einzelnen Aufsichtsratsmitglied genügt.35) Ob diese Regelung auch dazu führt, dass das Wissen eines Aufsichtsratsmitglieds dem Gesamtgremium zugerechnet wird (Wissenszurechnung), ist umstritten.36) Der Umstand, dass der Aufsichtsrat ein Kollegialorgan ist, welches durch Beschluss entscheidet sowie der Nebenamtscharakter des Aufsichtsrats sprechen gegen eine Wissenszurechnung.37) 2.

Delegation

7 Die Vertretungsbefugnis nach § 112 kann für die nach § 107 Abs. 3 delegierbaren Aufgaben auf einen Aufsichtsratsausschuss – nicht aber an einzelne Aufsichtsratsmitglieder oder den Aufsichtsratsvorsitzenden – übertragen werden.38) Die in § 107 Abs. 3 Satz 7 als nicht übertragbar genannten Aufgaben (etwa die Bestellung der Vorstandsmitglieder oder die Festsetzung ihrer Vergütung) sind auch mit Blick auf die Vertretungsbefugnis nicht delegierbar.39) Von der Willensbildung zu unterscheiden ist die Abgabe der Willenserklärung.40) Einzelne Vorstandsmitglieder einschließlich des Aufsichtsratsvorsitzenden können jedoch als Erklärungsvertreter zur Kundgabe der Beschlüsse bevollmächtigt werden.41) 3.

Nachweis der Vertretungsmacht

8 Bei der – in der Praxis eher selten vorkommenden – Vertretung durch den (Gesamt-)Aufsichtsrat wird regelmäßig ein besonderer Nachweis nicht erforderlich sein. Soweit eine Kundgabe der Willenserklärung durch einzelne Aufsichtsratsmitglieder, durch den Aufsichtsratsvorsitzenden oder durch Dritte erfolgt, ist ein Nachweis der Vertretungsmacht geboten, etwa durch die Vorlage der Geschäftsordnung, der Niederschrift des Beschlusses42) oder einer besonderen Ermächtigungsurkunde.43) V.

Rechtsfolgen von Verstößen

1.

Materielle Rechtsfolgen

9 Die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen § 112 sind in Rechtsprechung und Literatur umstritten.44) Nach der (früher) überwiegenden Ansicht enthält § 112 eine zwingende gesetzliche Kompetenzzuweisung, weshalb hiergegen verstoßende Rechtsgeschäfte gemäß _____________ 35) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 458; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 25; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 112 Rz. 66 (auch zu den persönlichen Konsequenzen). 36) Für eine Wissenszurechnung: Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 112 Rz. 34; ablehnend Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 27; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 112 Rz. 10; differenzierend bei Kenntnis des Aufsichtsratsvorsitzenden: Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 112 Rz. 68. 37) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 27; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 112 AktG Rz. 46. 38) OLG Düsseldorf, Urt. v. 17.11.2003 – I-15 U 225/02, ZIP 2004, 1850, 1851; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 456 und Rz. 371; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 112 Rz. 8; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 1 Rz. 211. 39) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 112 Rz. 96; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 23. 40) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 456; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 112 Rz. 93. 41) OLG Düsseldorf, Urt. v. 17.11.2003 – I-15 U 225/02, ZIP 2004, 1850, 1851 f.; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 456; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 112 Rz. 8. 42) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 31; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 112 Rz. 110. 43) So OLG Düsseldorf, Urt. v. 17.11.2003 – I-15 U 225/02, ZIP 2004, 1850, 1852, auch für den Aufsichtsratsvorsitzenden unter Anwendung von § 174 Satz 1 BGB; ablehnend insoweit Bauer/Krieger, ZIP 2004, 1247, 1249. 44) Ausdrücklich offengelassen von BGH, Urt. v. 7.7.1993 – VIII ZR 2/92, ZIP 1993, 1380, 1381; BGH, Urt. v. 17.3.2008 – II ZR 239/06, ZIP 2008, 1114, 1115, dazu EWiR 2008, 621 (Rohde), – zur Parallelvorschrift des § 39 GenG beim Aufsichtsrat einer Genossenschaft; ausführlich dazu Werner, Der Konzern 2008, 639, 642 ff.; Köhler, NZG 2008, 161, 162 ff.; Nägele/Böhm, BB 2005, 2197, 2198 ff.

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Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder

§ 113

§ 134 BGB als nichtig erachtet werden.45) Eine zunehmend vertretene Auffassung wendet die §§ 177 ff. BGB an und kommt so zur schwebenden Unwirksamkeit des Rechtsgeschäfts und der Möglichkeit der rückwirkenden Genehmigung (§ 184 Abs. 1 BGB) durch den Aufsichtsrat.46) 2.

Prozessuale Vertretung

Wenn die Gesellschaft in einem Prozess unter Verstoß gegen § 112 nicht vom Aufsichtsrat 10 vertreten wird, so ist die Klage unzulässig.47) Der Aufsichtsrat kann die Prozessführung durch den Vorstand genehmigen und als gesetzlicher Vertreter in den Prozess eintreten.48) _____________ 45) OLG Hamburg, Urt. v. 16.5.1986 – 11 U 238/85, ZIP 1986, 1249, 1251; OLG Stuttgart, Urt. v. 20.3.1992 – 2 U 115/90, AG 1993, 85, 86; Spindler/Stilz-Spindler, AktG, § 112 Rz. 45; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 1 Rz. 211. 46) OLG Karlsruhe, Urt. v. 13.10.1995 – 10 U 51/95, AG 1996, 224, 225 f. – für Genehmigung eines vom Aufsichtsratsvorsitzenden geschlossenen Vertrags; BGH, Beschl. v. 14.5.2013 – II ZB 1/11, Rz. 23, ZIP 2013, 1274, 1277; OLG München, Urt. v. 18.10.2007 – 23 U 5786/06, ZIP 2008, 220, 222; Lutter/ Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 7 Rz. 457; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 33 f.; Köhler, NZG 2008, 161, 162 ff.; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 112 AktG Rz. 53. 47) BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 282/07, ZIP 2009, 717, 718; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 23.6.2010 – 4 U 196/09, AG 2010, 918; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 35. 48) BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 282/07, ZIP 2009, 717, 718; BGH, Urt. v. 22.4.1991 – II ZR 151/90, ZIP 1991, 796; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 112 Rz. 36; Koch, AktG, § 112 Rz. 25.

§ 113 Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder Werner Paul Schick

(1) 1Den Aufsichtsratsmitgliedern kann für ihre Tätigkeit eine Vergütung gewährt werden. 2Sie kann in der Satzung festgesetzt oder von der Hauptversammlung bewilligt werden. 3Sie soll in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben der Aufsichtsratsmitglieder und zur Lage der Gesellschaft stehen. (2) 1Den Mitgliedern des ersten Aufsichtsrats kann nur die Hauptversammlung eine Vergütung für ihre Tätigkeit bewilligen. 2Der Beschluß kann erst in der Hauptversammlung gefaßt werden, die über die Entlastung der Mitglieder des ersten Aufsichtsrats beschließt. (3) 1Bei börsennotierten Gesellschaften ist mindestens alle vier Jahre über die Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder Beschluss zu fassen. 2Ein die Vergütung bestätigender Beschluss ist zulässig; im Übrigen gilt Absatz 1 Satz 2. 3In dem Beschluss sind die nach § 87a Absatz 1 Satz 2 erforderlichen Angaben sinngemäß und in klarer und verständlicher Form zu machen oder in Bezug zu nehmen. 4Die Angaben können in der Satzung unterbleiben, wenn die Vergütung in der Satzung festgesetzt wird. 5Der Beschluss ist wegen eines Verstoßes gegen Satz 3 nicht anfechtbar. 6§ 120a Absatz 2 und 3 ist sinngemäß anzuwenden. Literatur: Anzinger, Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung: Kompetenzverteilung nach der zweiten Aktionärsrechterichtlinie, ZGR 2019, 39; Bachmann/Pauschinger, Die Neuregelung der Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung durch das ARUG II, ZIP 2019, 1; Böcking/Bundle/ Althoff/Hanke/Wirth/Schmid/Hönsch/Fischer/Kaspar/Meier/Reich/Stüwe, Aufsichtsratsvergütung im Dax, MDax, SDax und TecDax 2014 – 2016 – Entwicklung und Denkanstöße, Der Konzern 2018, 1; Buckel, Die unterjährige Herabsetzung der Aufsichtsratsvergütung, AG 2013, 451; Dörrwächter, Aktien für den Aufsichtsrat, NZG 2020, 370; Dreher, Die Besteuerung der Prämienleistungen bei gesellschaftsfinanzierten Directors and Officers-Versicherungen, DB 2001, 996; Gaul, Ungelöste Fragen des Auslagenersatzes für Aufsichtsratsmitglieder in Zeiten schwindender Vergütungsakzeptanz, AG 2017, 877; Fonk, Auslagenersatz für Aufsichtsratsmitglie-

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der, NZG 2009, 761; Habersack, Die erfolgsabhängige Vergütung des Aufsichtsrats und ihre Grenzen, ZGR 2004, 721; Hoffmann-Becking, Rechtliche Anmerkungen zur Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung, ZHR 169 (2005) 155; Klein, Die Änderungen des Deutschen Corporate Governance Kodex 2012 aus Sicht der Unternehmenspraxis, AG 2012, 805; Kort, Rechtsfragen der Höhe und Zusammensetzung der Vergütung von Mitgliedern des Aufsichtsrats einer AG, in: Festschrift für Uwe Hüffer, 2010, S. 483; Krieger, Gewinnabhängige Aufsichtsratsvergütung, in: Festschrift für Volker Röhricht, 2005, S. 349; Löbbe/Fischbach, Die Neuregelung des ARUG II zur Vergütung von Vorstand und Aufsichtsrat börsennotierter Aktiengesellschaften, AG 2019, 373; Maser/Göttle, Rechtlicher Rahmen für die Vergütung des Aufsichtsrats, NZG 2013, 201; Notthoff, Rechtliche Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Abschluss einer Director’s & Officer’s-Versicherung, NJW 2003, 1350; Paschos/Goslar, Der Regierungsentwurf des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie, AG 2019, 365; v. Preen/Pacher/Bannas, Woher kommt der Strukturwandel bei der Aufsichtsratsvergütung?, DB 2014, 1633; Reichard/ Kaubisch, Sitzungsgeld für Telefon- und Videokonferenzen des Aufsichtsrats?, AG 2013, 150; Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Die Kodex-Änderungen vom Mai 2012, NZG 2012, 1081; Sagan, Die satzungsmäßige Abführung der Aufsichtsratsvergütung von Gewerkschaftsmitgliedern, ZGR 2020, 889; Schick, Übernahme und Erstattung von Rechtsverteidigungs- und Verfahrenskosten durch eine Aktiengesellschaft im Zusammenhang mit Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen Organmitglieder, ZWH 2012, 433; Schick/Voß, Die (neuen) Voten der Hauptversammlung zum Vergütungssystem und zum Vergütungsbericht nach ARUG II-E, WPg 2019, 945; Seibt/ Bulgrin, Mandatierung von Finanzberatern durch die Seite der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, AG 2018, 417; Simons, Aufsichtsratssitzungen-Aufsichtsratsbeschlüsse-Sitzungsgeld, AG 2013, 547; Theusinger/Liese, Nebenleistungen an Aufsichtsratsmitglieder und der (unnötige) Ruf nach dem Gesetzgeber, CCZ 2008, 190; Thüsing/Veil, Die Kosten des Aufsichtsrats im aktienrechtlichen Vergütungsregime, AG 2008, 359; Vetter, Aufsichtsratsvergütung und Verträge mit Aufsichtsratsmitgliedern, ZIP 2008, 1; Vetter, Stock Options für Aufsichtsräte – ein Widerspruch?, AG 2004, 234; Wettich, (Teil-)Verzicht eines Aufsichtsratsmitglieds auf die ihm zustehende Aufsichtsratsvergütung, NZG 2009, 852; Wittgens/Vollertsen, Gruppenvorbesprechungen im Aufsichtsrat – Zulässigkeit, Zweckmäßigkeit, Praxisfragen, AG 2015, 261.

Übersicht I. Gegenstand und Zweck der Norm .................................................. 1 II. Rechtsgrund/Arten und Bestandteile der Vergütung ................. 5 III. Festsetzung und Bewilligung der Aufsichtsratsvergütung (§ 113 Abs. 1 Satz 2) ................................... 13 1. Satzung oder Hauptversammlungsbeschluss .................................. 13 2. Angemessene Vergütung (§ 113 Abs. 1 Satz 3) ....................... 17 3. Herabsetzung der Vergütung ......... 18 I.

IV. Vergütung des ersten Aufsichtsrats (§ 113 Abs. 2) ............................ 19 V. Vergütungssystem und Vergütungsfestsetzung (§ 113 Abs. 3) ..... 20 1. Regelungskonzept ............................ 21 2. Angaben zum Vergütungssystem für den Aufsichtsrat ......................... 24 3. Beschluss der Hauptversammlung über die Aufsichtsratsvergütung samt Vergütungssystem ................... 25 4. Übergangsregelung ........................... 28 VI. Rechtsfolgen von Verstößen .......... 29 VII. Steuerliche Behandlung ................ 30

Gegenstand und Zweck der Norm

1 Nach § 113 Abs. 1 kann eine Aufsichtsratsvergütung nur dann gewährt werden, soweit sie in der Satzung festgesetzt oder von der Hauptversammlung bewilligt wurde, zudem gilt das Angemessenheitsgebot (§ 113 Abs. 1 Satz 3). § 113 Abs. 2 enthält für den ersten Aufsichtsrat eine abweichende Regelung, nach der nur die Hauptversammlung eine Vergütung bewilligen kann.

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Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder

§ 113

Durch das ARUG II1) wurden die Regelungen zur Herabsetzung der Aufsichtsratsvergütung 2 durch Satzungsänderung (§ 113 Abs. 1 Satz 4 a. F.) und für die Berechnung des Gewinnanteils (§ 113 Abs. 3 a. F.) ersatzlos gestrichen; der neu gefasste § 111 Abs. 3 enthält nunmehr Vorgaben für die Beschlussfassung der Hauptversammlung einer börsennotierten Gesellschaft über die Aufsichtsratsvergütung und das Vergütungssystem für die Aufsichtsratsmitglieder.2) Über die Verweisung in § 113 Abs. 3 Satz 3 sind für dieses „say on pay“ die Angaben nach § 87a Abs. 1 Satz 2 „sinngemäß und in klarer und verständlicher Form zu machen oder in Bezug zu nehmen“. § 113 Abs. 3 Satz 6 verweist ergänzend auf § 120a Abs. 2 und 3. Neu ist mit Blick auf die Aufsichtsratsvergütung auch die Pflicht, einen „klaren und verständlichen“ Bericht über die Vergütung des Aufsichtsrats gemäß § 162 Abs. 1 Satz 1 jährlich zu erstellen und der Hauptversammlung zur Billigung vorzulegen (§ 120a Abs. 4).3) Durch diese Neuerungen soll zur Umsetzung der Zweiten Aktionärsrechterichtlinie4) 3 eine „stärkere Einbeziehung und ein größeres Mitspracherecht der Aktionäre bei der Vergütung der Unternehmensleitung erreicht werden.5) § 113 bezweckt den Schutz der Gesellschaftsgläubiger und der Aktionäre vor überhöhten 4 Aufsichtsratsbezügen und dient zugleich der inneren Ordnung der Gesellschaft, indem einerseits die Selbstbedienung der Aufsichtsratsmitglieder und andererseits die Kompetenz des Vorstands für die Entscheidung über die Aufsichtsratsvergütung ausgeschlossen wird.6) Die Norm steht im engen Zusammenhang mit § 114 bzw. wird durch diese Vorschrift flankiert.7) II.

Rechtsgrund/Arten und Bestandteile der Vergütung

Kraft Gesetzes besteht zwar kein Vergütungsanspruch der Aufsichtsratsmitglieder (§ 612 5 BGB ist nicht anwendbar), nach § 113 Abs. 1 kann jedoch durch die Satzung oder die Hauptversammlung eine angemessene Vergütung gewährt werden.8) Rechtsgrund ist das kooperationsrechtliche Verhältnis.9) Auch nach den Änderungen durch das ARUG II bleibt es zulässig, den Aufsichtsratsmitgliedern keine Vergütung zu gewähren.10) Entsprechend dem Grundsatz der gleichen Rechte und Pflichten steht allen Aufsichtsratsmitgliedern und auch den Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat die gleiche (festgesetzte) Vergütung zu.11) In der Verwendung der Vergütung ist das Aufsichtsratsmitglied frei (siehe dazu auch Rz. 8), daher wird auch die (teilweise) Abführung der Aufsichtsratsvergütung (bzw. die teilweise Abführungspflicht) an eine Gewerkschaft oder gewerkschaftsnahe Organisation oder an den Dienstherrn (durch Beamte, die auf Veranlassung einer Behörde in den Aufsichts_____________ 1) Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2637. 2) Ausführlich dazu: Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 113 Rz. 1; Löbbe/Fischbach, AG 2019, 373, 381 f.; Schick/Voß, WPg 2019, 945, 948 ff. 3) Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 113 Rz. 2; Hirte/Heidel-Lochner/Beneke, Das neue Aktienrecht, § 113 Rz. 3. 4) Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre, ABl. (EU) 2017 L 132/1. 5) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 34. 6) BGH, Urt. v. 22.6.2021 – II ZR 225/20, Rz. 22, ZIP 2021, 1538, 1539 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 113 Rz. 2; Hirte/Heidel-Lochner/Beneke, Das neue Aktienrecht, § 113 Rz. 2. 7) BGH, Urt. v. 29.6.2021 – II ZR 75/20, Rz. 13, ZIP 2021, 1596 f.; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 113 Rz. 2; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 44; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 87. 8) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 842; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 11; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 113 Rz. 3. 9) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 842; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 19 und 27; s. a. Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 11. 10) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 89; Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 113 Rz. 11; Hirte/Heidel-Lochner/Beneke, Das neue Aktienrecht, § 113 Rz. 4. 11) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 10; Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG/DrittelbG, § 25 MitbestG Rz. 108; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 35.

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rat bestellt wurden) als zulässig erachtet.12) Gegen die Abführungspflicht der Arbeitnehmervertreter werden zunehmend Bedenken erhoben.13) Gleichwohl ist nach wohl h. M. aus aktienrechtlicher14) und aus zivilrechtlicher Sicht15) von deren Zulässigkeit auszugehen.16) 6 § 113 enthält einen weiten Rahmen für die Ausgestaltung der Aufsichtsratsvergütung.17) Auf dieser Grundlage wird üblicherweise eine feste Vergütung gewährt, die teilweise noch durch einen gewinn- bzw. erfolgsabhängigen (variablen) Vergütungsbestandteil ergänzt wird.18) Beide Vergütungsarten sind zulässig, wobei § 113 Abs. 3 Satz 1 a. F. und die für die Berechnung eines Gewinnanteils enthaltenen zwingenden Vorgaben durch das ARUG II gestrichen wurden (siehe dazu Rz. 2). Die Empfehlung einer erfolgsorientierten Aufsichtsratsvergütung ist im Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) seit der Fassung vom 15.5.2012 nicht mehr enthalten;19) es wird den Gesellschaften in der Anregung G. 18 Satz 1 „nahegelegt“ eine fixe Aufsichtsratsvergütung zu gewähren.20) Wird allerdings eine erfolgsorientierte Vergütung zugesagt, so empfiehlt der DCGK, diese auf eine langfristige Entwicklung der Gesellschaft auszurichten (G. 18 Satz 2); eine an der Dividende nur für das abgelaufene Geschäftsjahr ausgerichtete erfolgsorientierte Aufsichtsratsvergütung ist mithin nicht mehr kodexkonform.21) 7 Nach der Mobilcom-Entscheidung des BGH22) ist von der Unzulässigkeit der Vergütung in Form von eigenen Aktien oder Stock Options auszugehen,23) da die Ausrichtung des _____________ 12) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 7.12.2017 – 3 U 167/14, ZIP 2018, 1290, 1291; BAG, Urt. v. 21.5.2015 – 8 AZR 956/13, ZIP 2015, 2186, 2189 f. (zur Abführungspflicht eines Gewerkschaftsvertreters); Kremer/ Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, G. 24 Rz. 9; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 11; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 25; ausführlich zum Verzicht auf Aufsichtsratsvergütung Wettich, NZG 2009, 852 ff. 13) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 113 Rz. 4; Rieble, AG 2016, 315, 316 (durch Abführungspflicht wird Mandat von außen in Ehrenamt umgewandelt bzw. soll darin ein „Eingriff in die Governance der Gesellschaft“ liegen); kritisch mit Blick auf die Zielsetzung des Kodex auch Kremer/Bachmann/Lutter/ v. Werder-Kremer, DCGK, G. 24 Rz. 9. 14) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 113 Rz. 6; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 25: „rechtlich zulässig, obschon rechtsvergleichend und rechtspolitisch fragwürdig“; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 25; Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, G. 24 Rz. 9: „rechtlich nicht zu beanstanden“. 15) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 18.12.2018 – 4 U 86/18, ZIP 2019, 570, 571; näher dazu Sagan, ZGR 2020, 889, 890 ff. 16) So wohl im Ergebnis auch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 113 Rz. 4; Sagan, ZGR 2020, 889, 907 und 908, nimmt Unzulässigkeit der Satzungsbestimmung der IG Metall gemäß § 242 BGB an. 17) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 49; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 14. 18) Dörrwächter, NZG 2020, 370: „Die Mehrzahl der börsennotierten Unternehmen gewährt den Mitgliedern des Aufsichtsrats mittlerweile eine reine Festvergütung“; Habersack in: MünchKommAktG, § 113 Rz. 10; Hoffmann-Becking in: Münch-Hdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 14; v. Preen/Pacher/ Bannas, DB 2014, 1633 ff., zu den Gründen hierfür. 19) S. a. Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, G. 18 Rz. 1 f. (die Regierungskommission reagierte auf die Praxis gerade großer börsennotierter Gesellschaften; so schafften etwa die Siemens AG, die Allianz AG und die EON AG die variable Aufsichtsratsvergütung im Jahre 2011 vollständig ab, wobei als Begründung zutreffend der Umstand aufgeführt wurde, dass der Kontrollfunktion des Aufsichtsrats – insbesondere in der Krise – eher eine feste Vergütung entspricht. Die Tendenz zur Umstellung auf Fixvergütung hält seitdem an); s. a. Klein, AG 2012, 805, 812 (Fn. 86); die Vergütungsstudie von Böcking/Bundle/Althoff/Hanke/Wirth/Schmid/Hönsch/Fischer/Kaspar/Meier/Reich/ Stüwe, Der Konzern 2018, 1, 3, 4 f. und 6, bestätigt diese Entwicklung. 20) Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, G. 18 Rz. 2. 21) S. dazu Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, NZG 2012, 1081, 1088; Kremer/Bachmann/Lutter/v. WerderKremer, DCGK, G. 18 Rz. 3. 22) BGH, Urt. v. 16.2.2004 – II ZR 316/02 (Mobilcom), BGHZ 158, 122, 125 ff. = ZIP 2004, 613, 614 f., dazu EWiR 2004, 413 (Lenenbach). 23) Näher dazu: Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 849 ff.; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 113 Rz. 22; Habersack, ZGR 2004, 721, 722 ff.; kritisch bzw. einschränkend: Hoffmann-Becking, ZHR 169 (2005) 155, 179 f.; Vetter, AG 2004, 234, 236 ff.; Kort in: FS Hüffer, S. 483, 499 f.

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§ 113

Aufsichtsratsvergütung auf den Aktienkurs als der Kontrollfunktion des Aufsichtsrats abträglich angesehen wird.24) Ob sich aus dieser Entscheidung auch die Unzulässigkeit von schuldrechtlichen Abbildungen von Aktien (Phantom Stocks) oder von Aktienoptionen (Wertsteigerungsrechten) erstreckt, ist nicht eindeutig.25) Für die Praxis erscheint aufgrund der bestehenden Rechtsunsicherheit die Wahl dieser Vergütungsformen für den Aufsichtsrat wenig ratsam.26) Da die Aufsichtsratsmitglieder in der Verwendung der erhaltenen Aufsichtsratsvergütung 8 frei sind, ist jedoch die verbreitete Praxis zulässig, nach der sich die Aufsichtsratsmitglieder verpflichten, für einen bestimmten Anteil ihrer Aufsichtsratsvergütung Aktien der Gesellschaften zu erwerben und diese für einen festgelegten Zeitraum (i. d. R. Dauer der Mitgliedschaft) zu halten.27) Wenn weder die Satzung eine Vergütung vorsieht noch die Hauptversammlung eine solche 9 bewilligt hat, so ist die Aufsichtsratstätigkeit unentgeltlich; ein Anspruch auf übliche Vergütung gemäß § 612 besteht nicht.28) Unabhängig hiervon kommt jedoch ein Anspruch auf Auslagenersatz entsprechend §§ 670, 675 BGB in Betracht.29) Der Ersatz angemessener Auslagen ist keine Vergütung nach § 113.30) Erstattungsfähig sind die im Zusammenhang mit der Aufsichtsratstätigkeit stehenden, angemessenen Auslagen, die das Aufsichtsratsmitglied den Umständen nach für erforderlich halten durfte.31) Solche Auslagen können etwa anlässlich der Aufsichtsratssitzungen anfallende Reise-, Übernachtungs-, Verpflegungs- und Telekommunikationskosten sein.32) Für die Angemessenheit der Aufwendungen können die Gepflogenheiten des Vorstands hinsichtlich des gewählten Standards als Maßstab dienen.33) Zu erstatten sind auch Aufwendungen im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Sitzungen (etwa für die getrennten Vorbesprechungen der Aktionärs- und Arbeitnehmervertreter.34) Da die Aufsichtsratsmitglieder diejenigen Fähigkeiten und Kenntnisse besitzen müssen, die erforderlich sind, um die anfallenden Geschäftsvorgänge auch _____________ 24) BGH, Urt. v. 16.2.2004 – II ZR 316/02 (Mobilcom), BGHZ 158, 122, 127 = ZIP 2004, 613, 614. 25) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 53 a. E.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 113 Rz. 15; zweifelnd: Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 849; ablehnend: Habersack in: MünchKommAktG, § 113 Rz. 19, jeweils m. w. N. 26) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 851 f., 853 a. E.; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 64 („nicht zu empfehlen“); Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 73. 27) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 854; eine entsprechende „Selbstverpflichtung“ der Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat gibt es etwa bei der Daimler AG (Geschäftsbericht 2020, S. 208) oder der RWE AG (Geschäftsbericht 2020, S. 82); zurückhaltend bzw. einschränkend (etwa maximal 25 % der gesamten Aufsichtsratsvergütung) Dörrwächter, NZG 2020, 370, 373 ff. 28) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 11; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 19. 29) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 845; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 15; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 113 Rz. 21; Fonk, NZG 2009, 761, 762, sieht analoge Anwendung von § 104 Abs. 4 Satz 1 als Rechtsgrundlage. 30) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, § 33 Rz. 15; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 113 Rz. 21; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 113 Rz. 7. 31) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 845; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, § 33 Rz. 15; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 108 f.; zur Frage der Übernahme von Rechtsverteidigungs- und Verfahrenskosten: Schick, ZWH 2012, 433 ff. 32) Ausführlich hierzu: Fonk, NZG 2009, 761, 762; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 113 Rz. 22 ff.; speziell zu den Reisekosten: Thüsing/Veil, AG 2008, 359 ff. 33) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 31; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, § 33 Rz. 16, der auch die Gepflogenheiten des Aufsichtsratsmitglieds bei seinen übrigen beruflichen Aufgaben insoweit einbezieht (kritisch dazu Fonk, NZG 2009, 761, 765). 34) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 31; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, § 33 Rz. 14; Raiser/ Veil/Jacobs, MitbestG/DrittelbG, § 25 MitbestG Rz. 106; Wittgens/Vollertsen, AG 2015, 261, 268.

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Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder

ohne fremde Hilfe verstehen und sachgerecht beurteilen zu können,35) können die Kosten für die Hinzuziehung von sachverständigen Beratern durch einzelne oder mehrere Aufsichtsratsmitglieder nur ausnahmsweise erstattungsfähig sein.36) Die Kosten für Ausund Fortbildungsmaßnahmen sind jedenfalls zu erstatten, wenn es um den Erwerb von erforderlichen Spezialkenntnissen (etwa aufgrund von Gesetzesänderungen) geht.37) Im Lichte der Empfehlung in D. 12 DCGK zur angemessenen Unterstützung solcher Maßnahmen durch die Gesellschaft und der stetig steigenden Anforderungen an die Qualifikation der Aufsichtsratsmitglieder sollte hinsichtlich etwaiger Fortbildungsmaßnahmen ein eher großzügiger Maßstab angewendet werden.38) Besonderheiten gelten für den Aufsichtsratsvorsitzenden, bei dem eine Erstattungspflicht von Büro- und Kommunikationssowie Repräsentationskosten in Betracht kommt;39) für den Aufsichtsratsvorsitzenden gehören auch die Kosten eines angemessenen Personenschutzes zu den durch das Amt veranlassten Aufwendungen, sofern er aufgrund seiner besonderen Position erhöhten Sicherheitsrisiken ausgesetzt ist. 10 Die Frage, wer über die Erstattungsfähigkeit von Auslagen entscheidet, wird unterschiedlich beantwortet.40) Die wohl h. M. lehnt die Zuständigkeit des Vorstands ab und nimmt zutreffend die alleinige Zuständigkeit des Aufsichtsrats für die Entscheidung über den Ersatz von Auslagen an, um jegliche Einflussnahme des Vorstands auf den Aufsichtsrat auszuschließen.41) 11 Die in der Praxis häufig gewährten Sitzungsgelder sind, sofern es sich nicht um eine pauschale Abgeltung tatsächlicher Kosten handelt, Vergütung und kein Auslagenersatz. Sitzungsgelder bedürfen daher einer Festsetzung in der Satzung oder einer Bewilligung durch die Hauptversammlung.42) Dies gilt auch für Nebenleistungen, die ebenfalls Vergütungsbestandteile sind.43) Ob ein Sitzungsgeld nicht nur für Präsenzsitzungen, sondern _____________ 35) BGH, Urt. v. 15.11.1982 – II ZR 27/82 (Hertie), BGHZ 85, 293, 295 f. = ZIP 1983, 55, 56; s. dazu auch § 100 Rz. 5. 36) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 31 (wenn im Einzelfall das „Wohl der Gesellschaft eine sofortige Beratung eines oder mehrerer Aufsichtsratsmitglieder“ erfordert); Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 845; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, § 33 Rz. 14; Semler/ v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 135 f. und 137 (in Situationen, die eine besondere Expertise erfordern); Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG/DrittelbG, § 25 MitbestG Rz. 106 (Erstattungspflicht besteht nicht, „sofern es sich um Fragen handelt, deren Beurteilung von jedem Aufsichtsratsmitglied erwartet werden muss“); Spindler in: BeckOGK-AktR, § 113 AktG Rz. 13 (ausnahmsweise, wenn „es zur Erfüllung der Überwachungsaufgabe im Unternehmensinteresse erforderlich ist und nicht durch gesellschaftsinterne Aufklärung … ersetzt werden kann“); näher zur Mandatierung von Beratern durch die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat Seibt/Bulgrin, AG 2018, 417, 418 ff. 37) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 846; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 33 (Ausnahmen in Einzelfällen, etwa bei Gesetzesänderungen mit besonderer Relevanz); Spindler in: BeckOGK-AktR, § 113 AktG Rz. 13; Gaul, AG 2017, 877, 883. 38) S. dazu auch Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 846; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 113 Rz. 10). 39) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, § 33 Rz. 16; Fonk, NZG 2009, 761, 768 f. m. w. N.; Hopt/ Roth, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 36 und Rz. 32; etwas zurückhaltender: Habersack in: MünchKommAktG, § 113 Rz. 25. 40) S. dazu Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 38 ff.; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 11 Rz. 658 f.; Schick, ZWH 2012, 433, 437 f.; Gaul, AG 2017, 877, 879 f. 41) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 113 Rz. 26; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 39; Schick, ZWH 2012, 433, 437 f.; a. A.: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 113, Rz. 8; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, § 33 Rz. 18 (Entscheidungsbefugnis des Vorstands annehmend, wobei aber in „Zweifelsfällen“ eine Stellungnahme des Aufsichtsratsvorsitzenden bzw. des Aufsichtsrats einzuholen sei); Semler/ v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 140 ff. 42) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 20; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 113 Rz. 11 und 21 a. E.; zu strafrechtlichen Konsequenzen bei rechtswidriger Abrechnung von Sitzungsgeldern: OLG Braunschweig, Beschl. v. 14.6.2012 – Ws 44/12, Ws 45/12, ZIP 2012, 1860, 1861 ff. 43) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 113 Rz. 3; ausführlich hierzu: Theusinger/Liese, CCZ 2008, 190 ff.

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auch für Telefon- oder Videokonferenzen gezahlt werden darf, wird uneinheitlich beurteilt.44) Zumindest wenn die Satzung der Gesellschaft sowohl Präsenzsitzungen als auch die Durchführung von Sitzungen in sonstiger Weise (etwa Telefon- oder Videokonferenz) vorsieht, erscheint die Zahlung von Sitzungsgeld auch dafür zulässig.45) Eine klarstellende Regelung in der Satzung ist jedoch zu empfehlen.46) Die Zahlung der Prämie für eine D&O-Versicherung (Directors & Officers Liability In- 12 surance bzw. Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung für Organmitglieder) zugunsten der Aufsichtsratsmitglieder ist zulässig und stellt keine Vergütung dar.47) Die Gesellschaft unterhält die D&O-Versicherung zumindest auch im eigenen Interesse, um im Schadensfall auf einen ausreichend zahlungsfähigen Schuldner (die D&O-Versicherung bzw. das Versicherungskonsortium) zugreifen zu können.48) Eine Zustimmung der Hauptversammlung zum Abschluss der D&O-Versicherung bzw. zur Prämienzahlung ist daher nicht erforderlich.49) III.

Festsetzung und Bewilligung der Aufsichtsratsvergütung (§ 113 Abs. 1 Satz 2)

1.

Satzung oder Hauptversammlungsbeschluss

Sowohl bei einer Festsetzung in der Satzung als auch bei einer Bewilligung durch die 13 Hauptversammlung muss die Aufsichtsratsvergütung hinreichend bestimmt bzw. beziffert sein.50) Es genügt die Angabe eines Gesamtbetrags, auch wenn dessen Aufteilung auf die einzelnen Mitglieder nach der Satzungsbestimmung dem Aufsichtsrat überlassen wird.51) Eine in der Satzung festgesetzte Aufsichtsratsvergütung wird mit Eintragung der Satzungs- 14 änderung in das Handelsregister wirksam (§ 181 Abs. 3), so dass in der Regel Änderungen erst mit Beginn des nächsten Geschäftsjahres wirken.52) Eine Rückwirkung auf den Beginn des laufenden Geschäftsjahres kann die Satzungsregelung jedoch entfalten, soweit die bisherige Aufsichtsratsvergütung erhöht wird.53) Zur Frage, ob dies auch für eine Herabsetzung gilt, siehe nachfolgend unter Rz. 18. Die Hauptversammlung kann die Aufsichtsratsvergütung vor, während oder – wie in der 15 Regel – nach Ablauf des Geschäftsjahres bewilligen.54) Eine ohne konkreten Bezug auf _____________ 44) 45) 46) 47)

48)

49)

50) 51) 52) 53) 54)

Reichard/Kaubisch, AG 2013, 150 ff.; Simons, AG 2013, 547 ff. So zutreffend Simons, AG 2013, 547, 553; s. aber auch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 24. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 108 Rz. 24; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 75. Dies entspricht auch der steuerlichen Behandlung, vgl. Erlass des Finanzministeriums Niedersachsen – im Einvernehmen mit dem BMF und den Finanzbehörden der anderen Bundesländer – v. 25.1.2002, DB 2002, 399 f.; ausführlich dazu Dreher, DB 2001, 996. Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 21; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 82; Vetter, ZIP 2008, 1, 8; Notthoff, NJW 2003, 1350, 1354; differenzierend: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 113 Rz. 13. So für die in der Praxis den Regelfall bildenden Ausgestaltung der D&O-Versicherung als Gruppenversicherung: Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 13 Rz. 1038; Habersack in: MünchKommAktG, § 113 Rz. 13; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 84; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 21, geht davon aus, dass es sich um einen Bestandteil der angemessenen Ausstattung bzw. um Fürsorgeaufwand der Gesellschaft handelt (jeweils m. w. N). Habersack in: MünchKomm-AktG, § 113 Rz. 29 und 35; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 113 Rz. 17. Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 22; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 113 Rz. 29; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 125. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 113 Rz. 32; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 120; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 152. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 113 Rz. 32; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 33. Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 23; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 113 Rz. 35.

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ein Geschäftsjahr beschlossene Aufsichtsratsvergütung (Grundsatzbeschluss) gilt im Zweifel nicht nur für ein Geschäftsjahr, sondern bis die Hauptversammlung etwas Abweichendes beschließt.55) 16 Eine feste Vergütung ist – vorbehaltlich einer abweichenden Regelung – nach Ende des jeweiligen Geschäftsjahres fällig. Eine gewinn- oder dividendenabhängige Vergütung ist erst nach dem Hauptversammlungsbeschluss zur Gewinnverwendung fällig.56) 2.

Angemessene Vergütung (§ 113 Abs. 1 Satz 3)

17 Nach § 113 Abs. 1 Satz 3 soll die Aufsichtsratsvergütung in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben der Aufsichtsratsmitglieder und der Lage der Gesellschaft stehen. Diese Sollvorschrift enthält keine inhaltliche Vorgabe, sondern eine Begrenzung der Höhe.57) Bei der Höhe der Vergütung ist der Grundsatz der Gleichbehandlung zu beachten, weshalb unterschiedlich hohe Vergütungen nur zulässig sind, wenn sie sachlich gerechtfertigt sind.58) Mithin darf insbesondere dem Aufsichtsratsvorsitzenden und dem Stellvertreter oder für den Vorsitz und die Mitgliedschaft in Ausschüssen eine höhere Vergütung gewährt werden (funktionsbezogene Differenzierung).59) Dies entspricht auch der Empfehlung G. 17 des DCGK zur angemessenen Berücksichtigung des höheren zeitlichen Aufwands des Vorsitzes und des stellvertretenden Vorsitzes im Aufsichtsrat sowie des Vorsitzes und der Mitgliedschaft in Ausschüssen bei der Festlegung der Aufsichtsratsvergütung.60) 3.

Herabsetzung der Vergütung

18 Nach § 113 Abs. 1 Satz 4 a. F. genügte für die Herabsetzung einer in der Satzung festgesetzten Vergütung zwingend die einfache Stimmenmehrheit.61) Nach der Streichung dieser Regelung durch das ARUG II (siehe dazu oben Rz. 2) gilt dafür das Mehrheitserfordernis des § 179 Abs. 2.62) Wirksam wird die Herabsetzung erst mit der Eintragung im Handelsregister (§ 181 Abs. 3).63) Eine von der Hauptversammlung bewilligte Aufsichtsratsvergütung kann durch einen neuen Beschluss herabgesetzt werden. Die Herabsetzung wirkt grundsätzlich nicht zurück.64) Ob während eines laufenden Geschäftsjahres mit Wirkung für dieses herabgesetzt werden kann, wird unterschiedlich beurteilt.65) Zumindest für eine _____________ 55) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 23; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 113 Rz. 15; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 113 Rz. 35. 56) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 30; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 113 Rz. 44; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 88 f. 57) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 113 Rz. 20; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 113 Rz. 9; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 113 Rz. 41. 58) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 92 ff.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 27. 59) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 113 Rz. 20; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 113 Rz. 39 f.; Lutter/ Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 843; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 38. 60) S. dazu Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, G. 17 Rz. 1 ff.; Semler/v. Schenckv. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 37. 61) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 113 Rz. 24; Hirte/Heidel-Lochner/Beneke, Das neue Aktienrecht, § 113 Rz. 2. 62) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 88; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 113 Rz. 1 und 7; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 113 Rz. 24; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 32. 63) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 113 Rz. 34; Buckel, AG 2013, 451 f.; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 155. 64) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 113 Rz. 24; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 96; Buckel, AG 2013, 451, 452. 65) Die Zulässigkeit der unterjährigen Herabsetzung grundsätzlich ablehnend: Habersack in: MünchKommAktG, § 113 Rz. 34; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 113 Rz. 52.

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variable (etwa gewinn- oder dividendenabhängige) Vergütung erscheint dies zulässig,66) während es für die feste Vergütung ausgeschlossen ist,67) da der Anspruch auf diese bereits mit Beginn des Geschäftsjahres entstanden ist.68) Teilweise wird auch die Zulässigkeit der unterjährigen Herabsetzung der variablen und der festen Aufsichtsratsvergütung mit ex-nuncWirkung zum Zeitpunkt der Eintragung des Herabsetzungsbeschlusses angenommen.69) IV.

Vergütung des ersten Aufsichtsrats (§ 113 Abs. 2)

Eine Vergütung für die Mitglieder des ersten nach § 30 bestellten Aufsichtsrats kann nur 19 von der Hauptversammlung, die über ihre Entlastung beschließt, bewilligt werden. Hierdurch soll der Einfluss der Gründer möglichst ausgeschaltet werden.70) V.

Vergütungssystem und Vergütungsfestsetzung (§ 113 Abs. 3)

§ 113 Abs. 3 in der durch ARUG II71) vollständig neu formulierten Fassung gilt nur für 20 börsennotierte Gesellschaften.72) Die erstmalige Beschlussfassung der Hauptversammlung nach dem neuen § 113 Abs. 3 hat gemäß § 26j EGAktG bis zum Ablauf der ersten ordentlichen Hauptversammlung zu erfolgen, die auf den 31.12.2020 folgt; eine frühere Beschlussfassung ist zulässig.73) 1.

Regelungskonzept

Während das Vergütungssystem für den Vorstand allein vom Aufsichtsrat beschlossen 21 und der Hauptversammlung lediglich zur Billigung vorgelegt wird, ist die Vergütung des Aufsichtsrats bereits nach geltendem Recht von der Hauptversammlung zu beschließen. Die Vergütung kann entweder in der Satzung geregelt sein oder von der Hauptversammlung bewilligt werden (§ 113 Abs. 1 Satz 2). Einer Beschlussfassung der Hauptversammlung über ein Vergütungssystem für den Aufsichtsrat, das sozusagen als Rahmen dient, innerhalb dessen die Vergütung dann festgesetzt wird, bedürfte es somit an sich nicht. Um die Vorgaben der Zweiten Aktionärsrechterichtlinie (siehe dazu oben Rz. 3) umzusetzen, das geltende Recht nur behutsam zu ändern und „formalistische Doppelbeschlüsse“ zu vermeiden,74) hat sich das ARUG II für eine Ergänzung des Vergütungsbeschlusses gemäß § 113 Abs. 1 Satz 275) durch den neuen § 113 Abs. 3 entschieden.76) Nach § 113 Abs. 3 ist bei _____________ 66) LG München I, Urt. v. 27.12.2012 – 5 HK O 9109/12, ZIP 2013, 217, 218, dazu EWiR 2013, 567 (Jänig/Schiemzik); LG Magdeburg, Urt. v. 22.10.1929 – 1 S 532/29, JW 1930, 288; KG Berlin, Urt. v. 16.5.1938 – 9. U. 1297.38, Soziale Praxis 1938, 1066; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 32; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 158. 67) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 32; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 113 Rz. 6. 68) LG München, Urt. v. 30.8.2012 – 5 HK O 1378/12, ZIP 2012, 2209, 2211 f., dazu EWiR 2013, 33 (Wolf); Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 32; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 157. 69) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 113 Rz. 24; Buckel, AG 2013, 451, 453 ff.; Maser/Göttle, NZG 2013, 201, 202. 70) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 113 Rz. 27; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 39. 71) Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2637. 72) Begr. RegE, BT Drucks. 19/9739, S. 34; Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 113 Rz. 1; Hirte/Heidel-Lochner/Beneke, Das neue Aktienrecht, § 113 Rz. 1. 73) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 117; Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 113 Rz. 4. 74) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 88. 75) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 88: „Die Festsetzung der konkreten Vergütung über die zwei Alternativen des § 113 Abs. 1 Satz 2 AktG ist somit bereits in seiner bisherigen Fassung richtlinienkonform und bedarf keiner Novellierung“. 76) Löbbe/Fischbach, AG 2019, 373, 381; Schick/Voß, WPg 2019, 945, 949; Paschos/Goslar, AG 2019, 365, 369.

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börsennotierten Gesellschaften mindestens alle vier Jahre über die Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder zu beschließen, wobei in jedem Beschluss über die konkrete Vergütung auch Angaben über das System aufzunehmen sind.77) 22 Von der Hauptversammlung ist ein einheitlicher Beschluss über das Vergütungssystem und die Vergütungsfestsetzung zu fassen.78) Dabei sind die nach § 87a Abs. 1 Satz 2 erforderlichen Angaben zum Vergütungssystem sinngemäß und in klarer und verständlicher Form zu machen oder in Bezug zu nehmen (§ 113 Abs. 3 Satz 3). Die Angaben zum Vergütungssystem bilden eine Art erläuternden Teil des Hauptversammlungsbeschlusses, müssen aber nicht in die Satzung aufgenommen werden, falls die Vergütung Satzungsbestandteil ist (§ 113 Abs. 3 Satz 4 AktG).79) 23 Auch wenn keine Änderung der Vergütung erfolgt, ist zumindest alle vier Jahre ein bestätigender Beschluss (§ 113 Abs. 3 Satz 2) zu fassen. In diesem Fall müssen jedoch nicht alle Angaben zum bereits geltenden Vergütungssystem im Hauptversammlungsbeschluss wiederholt werden, sondern es genügt auch eine Bezugnahme auf das geltende System, die klar und verständlich sein muss.80) Soweit gleichwohl angenommen wird, dass vom Konzept der einheitlichen Beschlussfassung abgewichen werden kann und getrennte Beschlussfassungen über Vergütungssystem und konkrete Vergütungsfestsetzung erfolgen können,81) sollte dem schon aus Vorsichtsgründen nicht gefolgt werden.82) 2.

Angaben zum Vergütungssystem für den Aufsichtsrat

24 Über den Verweis in § 113 Abs. 3 Satz 3 gelten für Umfang und Inhalt der Angaben zum Vergütungssystem für den Aufsichtsrat die Anforderungen des § 87a Abs. 1 Satz 2 sinngemäß. Das Vergütungssystem für den Aufsichtsrat muss in klarer und verständlicher Form beschrieben werden, wobei der überwiegende Teil der in § 87a Abs. 1 Satz 2 aufgeführten Angaben in der Praxis jedoch nicht relevant werden dürfte, da die Vergütung des Aufsichtsrats in aller Regel weniger komplex als die des Vorstands ausgestaltet ist.83) Die Angaben zum Beitrag der Vergütung zur Förderung der Geschäftsstrategie und zur langfristigen Entwicklung der Gesellschaft können in der Regel ebenfalls kurz gefasst werden, da der Aufsichtsrat nicht operativ tätig ist.84) 3.

Beschluss der Hauptversammlung über die Aufsichtsratsvergütung samt Vergütungssystem

25 Die konkrete Aufsichtsratsvergütung der börsennotierten Gesellschaften kann in den zwei Varianten des § 113 Abs. 1 Satz 2 festgesetzt bzw. bewilligt werden, woraus unterschiedliche Mehrheitserfordernisse resultieren.85) Beschließt die Hauptversammlung eine verän_____________ 77) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 88; s. a. Löbbe/Fischbach, AG 373, 382; Schick/Voß, WPg 2019, 945, 949; kritisch Anzinger, ZGR 2019, 39, 80. 78) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 88 f.; Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 113 Rz. 7; Löbbe/Fischbach, AG 2019, 373, 382. 79) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 90; Schick/Voß, WPg 2019, 945, 949. 80) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 89 f.; Schick/Voß, WPg 2019, 945, 949; Hirte/HeidelLochner/Beneke, Das neue Aktienrecht, § 113 Rz. 5; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 113 AktG Rz. 26. 81) Habersack in: MünchKomm-AktG. Nachtrag ARUG II, § 113 Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 113 Rz. 29; Bachmann/Pauschinger, ZIP 2019, 1, 9; a. A.: Grigoleit-Grigoleit/Tomasic/Kochendörfer, AktG, § 113 Rz. 13 („weder erforderlich noch zulässig“); Paschos/Goslar, AG 2018, 365, 369 („zwingend einheitlichen Beschluss“); Spindler in: BeckOGK-AktR, § 113 AktG Rz. 24. 82) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 113 Rz. 29. 83) Löbbe/Fischbach, AG 373, 382; Paschos/Goslar, AG 2019, 365, 369. 84) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 90. 85) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 89.

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derte Regelung der Aufsichtsratsvergütung (§ 113 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2, Abs. 1 Satz 2), so bedarf dies der einfachen Mehrheit (§ 133 Abs. 1). Wenn die Hauptversammlung die in der Satzung oder durch Hauptversammlungsbeschluss festgelegte Aufsichtsratsvergütung unverändert lassen will, genügt für den bestätigenden Beschluss nach § 113 Abs. 3 Satz 2 die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen gemäß § 133 Abs. 1.86) Lediglich soweit eine Satzungsänderung erfolgen soll, bedarf es für den gesamten Hauptver- 26 sammlungsbeschluss der qualifizierten Drei-Viertel-Mehrheit gemäß § 179 Abs. 2 AktG.87) Sollte die Hauptversammlung einem geltenden Vergütungssystem die Billigung verweigern, ist gemäß § 113 Abs. 3 Satz 6 i. V. m. § 120a Abs. 3 spätestens in der nächsten ordentlichen Hauptversammlung ein überprüftes (nicht zwingend geändertes) Vergütungssystem zum Beschluss vorzulegen. Dies hat jedoch keine unmittelbaren Auswirkungen auf eine Vergütungsregelung in der Satzung. Diese bleibt so lange in Kraft, bis eine Satzungsänderung mit der erforderlichen qualifizierten Mehrheit von der Hauptversammlung beschlossen und in das Handelsregister eingetragen worden ist. Den Beschlussvorschlag an die Hauptversammlung legen Vorstand und Aufsichtsrat entspre- 27 chend der allgemeinen Regelung in § 124 Abs. 3 Satz 1 gemeinsam vor; anders als zum Vergütungssystem des Vorstands ist keine von der Grundregel abweichende Regelung vorgesehen.88) Gegenanträge sind sowohl hinsichtlich der eigentlichen Vergütungsregelung als auch – anders als bei der Vorstandsvergütung – hinsichtlich des Vergütungssystems möglich.89) Nach § 113 Abs. 3 Satz 5 kann der Hauptversammlungsbeschluss nach allgemeinen Grundsätzen, nicht aber wegen eines Verstoßes gegen die Angabepflichten zum Vergütungssystem angefochten werden. Der Anfechtungsausschluss gilt nur für das Vergütungssystem.90) 4.

Übergangsregelung

Gemäß § 26j Abs. 1 Satz 1 EGAktG hat die erstmalige Beschlussfassung gemäß § 113 28 Abs. 3 bis zum Ablauf der ersten Hauptversammlung, die auf den 31.12.2020 folgt, zu erfolgen. Der Vier-Jahres-Zeitraum des § 111 Abs. 3 berechnet sich dann ab der erstmaligen Beschlussfassung; eine frühere Beschlussfassung ist zulässig.91) § 26j Abs. 1 Satz 3 EGAktG enthält eine Übergangsregelung für die bestehende Vergütungspraxis und stellt klar, dass im Übergangszeitraum laufende und begründete „Verträge“ unberührt bleiben.92) VI.

Rechtsfolgen von Verstößen

Verstöße gegen die zwingenden Zuständigkeitsregelungen des § 113 führen grundsätzlich 29 zur Nichtigkeit;93) Umgehungen der Regelungen des § 113 sind ebenfalls unzulässig; Abfindungen an ausscheidende Vorstandsmitglieder, die in den Aufsichtsrat gewählt werden sollen, sind jedoch keine Umgehung, sofern sie sich nur auf die restliche Vorstandsvergütung beziehen und keinen Bezug zur Aufsichtsratstätigkeit haben.94) Verstöße gegen das Angemessenheitsgebot des § 113 Abs. 1 Satz 3 führen zur Anfechtbarkeit.95) Auszahlun_____________ 86) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 89; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 24; Schick/Voß, WPg 2019, 945, 949. 87) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 89. 88) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 90; Schick/Voß, WPg 2019, 945, 945. 89) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 90; Schick/Voß, WPg 2019, 945, 945. 90) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 91. 91) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 117. 92) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 118; näher dazu Schick/Voß, WPg 2019, 945, 949. 93) BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127, 129 = ZIP 1991, 653, 654; BGH, Urt. v. 2.4.2007 – II ZR 325/05, Rz. 15, ZIP 2007, 1056, 1058 f.; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 113 AktG Rz. 71. 94) Spindler in: BeckOGK-AktR, § 113 AktG Rz. 71; Koch, AktG, § 113 Rz. 3. 95) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 5; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 113 AktG Rz. 73.

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Verträge mit Aufsichtsratsmitgliedern

gen von Vergütungen an Aufsichtsratsmitglieder, denen keine oder eine unwirksame Vergütungsfestsetzung durch die Satzung oder die Hauptversammlung zugrunde liegt, sind nach Bereicherungsgrundsätzen zurückzugewähren.96) VII. Steuerliche Behandlung 30 Die Aufsichtsratsvergütung ist einkommensteuerpflichtig (§ 18 Abs. 1 Nr. 3 i. V. m. § 2 Abs. 1 Nr. 3 EStG), und zwar sowohl für Anteilseigner- als auch für Arbeitnehmervertreter.97) Aufsichtsratsmitglieder, die weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort im Inland haben, unterliegen als beschränkt Steuerpflichtige einem Einbehalt bei der Einkommensteuer von 30 % (zuzüglich Solidaritätszuschlag).98) Während bisher sowohl die Anteils- als auch die Arbeitnehmervertreter umsatzsteuerlich als Unternehmer behandelt wurden und die Aufsichtsratsvergütung daher der Umsatzsteuer unterlag (sofern nicht das Aufsichtsratsmitglied Kleinunternehmer ist, § 19 Abs. 1 UStG), hat sich hierzu die Rechtsprechung und die Handhabung der Finanzverwaltung geändert.99) Ein Aufsichtsratsmitglied ist dann kein Unternehmer mehr, wenn es für seine Aufsichtsratstätigkeit eine „nicht variable“ Festvergütung erhält und damit kein Vergütungsrisiko trägt.100) Das BMF hat diese Auffassung übernommen und den Umsatzsteuer-Anwendungserlass (UStAE) entsprechend angepasst.101) Die Unternehmereigenschaft wird angenommen, wenn bei fester und variabler Aufsichtsratsvergütung (wobei Sitzungsgelder als variable Vergütung betrachtet werden) die variablen Bestandteile mindestens 10 % der Gesamtvergütung im Geschäftsjahr betragen.102) _____________ Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 113 Rz. 112; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 113 Rz. 54. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 111 Rz. 169; Semler/v. Schenck/Wilsing-Grau, ArbHdb. AR, § 13 Rz. 150. Semler/v. Schenck/Wilsing-Grau, ArbHdb. AR, § 13 Rz. 150. S. zur bisherigen Rechtslage: K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 113 Rz. 40; näher Spindler in: BeckOGK-AktR, § 113 Rz. 79 f. 100) BFH, Urt. v. 27.11.2019 – V R 23/19 (V R 62/17), DB 2020, 265, 266; näher dazu: Semler/v. Schenck/Wilsing-Grau, ArbHdb. AR, § 13 Rz. 148; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 113 Rz. 80. 101) BMF-Schreiben v. 8.7.2021 – III C 2 – S 7104/19/10001:003 (2021/0761949), BStBl. I 2021, 919; BMFSchreiben v. 29.3.2022 – III C 2 – S 7104/19/10001:005 (2022/0096963), abrufbar unter https:// www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/BMF_Schreiben/Steuerarten/Umsatzsteuer/ Umsatzsteuer-Anwendungserlass/2022-03-29-unternehmereigenschaft-von-aufsichtsratsmitgliedern.pdf ?__blob=publicationFile&v=1 (Abrufdatum: 7.4.2022). 102) Abschnitt 2.2 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3a UStAE. 96) 97) 98) 99)

§ 114 Verträge mit Aufsichtsratsmitgliedern Werner Paul Schick

(1) Verpflichtet sich ein Aufsichtsratsmitglied außerhalb seiner Tätigkeit im Aufsichtsrat durch einen Dienstvertrag, durch den ein Arbeitsverhältnis nicht begründet wird, oder durch einen Werkvertrag gegenüber der Gesellschaft zu einer Tätigkeit höherer Art, so hängt die Wirksamkeit des Vertrags von der Zustimmung des Aufsichtsrats ab. (2) 1Gewährt die Gesellschaft auf Grund eines solchen Vertrags dem Aufsichtsratsmitglied eine Vergütung, ohne daß der Aufsichtsrat dem Vertrag zugestimmt hat, so hat das Aufsichtsratsmitglied die Vergütung zurückzugewähren, es sei denn, daß der Aufsichtsrat den Vertrag genehmigt. 2Ein Anspruch des Aufsichtsratsmitglieds gegen die Gesellschaft auf Herausgabe der durch die geleistete Tätigkeit erlangten Bereicherung bleibt unberührt; der Anspruch kann jedoch nicht gegen den Rückgewähranspruch aufgerechnet werden. 898

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Verträge mit Aufsichtsratsmitgliedern

Literatur: Bosse, Rechtliche Anforderungen an Verträge mit Aufsichtsratsmitgliedern und die Zustimmung des Aufsichtsrats nach § 114 AktG, NZG 2007, 172; Cahn, Beratungsverträge mit Aufsichtsratsmitgliedern, Der Konzern 2012, 501; v. Falkenhausen, Der Anwalt im Aufsichtsrat, Interessenkonflikte und Unabhängigkeit – Gesellschaftsrecht und anwaltliches Berufsrecht, ZIP 2013, 862; Fischer, Der Rückgewähranspruch bei Beraterverträgen mit Aufsichtsratsmitgliedern, BB 2015, 1411; Fuhrmann, Beraterverträge mit Organmitgliedern in der Aktiengesellschaft, NZG 2017, 291; Hoffmann-Becking, Beratungsverträge mit Aufsichtsratsmitgliedern – grenzenlose Anwendung des § 114 AktG?, in: Festschrift für Karsten Schmidt, 2009, S. 657; Ihrig, Vergütungszahlungen auf einen Beratungsvertrag mit einem Aufsichtsratsmitglied vor Zustimmung des Aufsichtsrats, ZGR 2013, 417; Kanzler, Rückabwicklung von Beratungsverträgen in der Aktiengesellschaft, AG 2013, 554; v. d. Linden, Zu den Anforderungen an Beratungsverträge der AG mit Aufsichtsratsmitgliedern bei Zwischenschaltung von Drittunternehmen, DB 2021, 1940; Lutter/Kremer, Die Beratung der Gesellschaft durch Aufsichtsratsmitglieder, ZGR 1992, 87; Müller, Aufsichtsratsmandat und anwaltliche Tätigkeit, NZG 2002, 797; Peltzer, Beratungsverträge der Gesellschaft mit Aufsichtsratsmitgliedern, ZIP 2007, 305; Ruoff, Der richtige Umgang mit Beratungsaufträgen an Aufsichtsratsmitglieder nach dem Fresenius-Urteil des BGH, BB 2013, 899; Spindler, Beratungsverträge mit Aufsichtsratsmitgliedern – Vorabzustimmung oder nachträgliche Genehmigung, NZG 2011, 334.

Übersicht I. Gegenstand und Zweck der Norm ............................................ 1 II. Zustimmungserfordernis (§ 114 Abs. 1) ..................................... 3 1. Dienst- und Werkverträge, insbesondere Beraterverträge ............. 3 2. Bestimmtheitserfordernis .................. 4 I.

III. Leistungen außerhalb der Aufsichtsratstätigkeit .............................. 5 1. Abgrenzungskriterien ........................ 5 2. Altverträge .......................................... 6 3. Umgehungsschutz ............................. 7 4. Zustimmung des Aufsichtsrats ........ 10 IV. Rechtsfolgen fehlender Zustimmung (§ 114 Abs. 2) ........................ 13

Gegenstand und Zweck der Norm

§ 114 Abs. 1 unterwirft Dienst- oder Werkverträge höherer Art (insbesondere Beratungs- 1 verträge) zwischen einem Aufsichtsratsmitglied und der vom Vorstand vertretenen Gesellschaft einem Zustimmungserfordernis und damit einer präventiven Kontrolle durch den Aufsichtsrat.1) Die Norm ist im Zusammenhang mit § 113 und der dort geregelten alleinigen Zuständigkeit der Hauptversammlung für die Aufsichtsratsvergütung (vorbehaltlich einer bereits in der Satzung enthaltenen Regelung) zu sehen.2) Es sollen im Interesse der Aktionäre und der Gläubiger der Gesellschaft sowohl eine „Selbstbedienung“ der Aufsichtsratsmitglieder als auch eine Kompetenz des Vorstands ausgeschlossen werden, über die Vergütung der Mitglieder des Überwachungsorgans zu befinden; § 114 flankiert

_____________ 1)

2)

Ausführlich zum Normzweck: Hoffmann-Becking in: FS K. Schmidt, S. 657 ff.; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 114 Rz. 2 ff.; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 114 Rz. 1 ff.; s. a. Peltzer, ZIP 2007, 305, 309. BGH, Urt. v. 10.7.2012 – II ZR 48/11 (Fresenius), BGHZ 194, 14, Rz. 13 = ZIP 2012, 1807, 1808, dazu EWiR 2012, 647 (Hoffmann-Theinert); OLG Nürnberg, Urt. v. 8.3.2017 – 12 U 927/15, Rz. 49, BeckRS 2017, 108720 = NZI 2017, 679, dazu EWiR 2017, 717 (Pätzold/Zönnchen); K. Schmidt/LutterDrygala, AktG, § 114 Rz. 3; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 114 Rz. 3; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 114 Rz. 2.

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Verträge mit Aufsichtsratsmitgliedern

diesen Schutzzweck und soll Umgehungen des § 113 verhindern.3) § 114 Abs. 2 regelt den Rückgewähranspruch der Gesellschaft bei fehlender Zustimmung nach § 114 Abs. 1. 2 Die bisher im Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) enthaltene Empfehlung (Ziff. 5.4.6 Abs. 3 Satz 2 DCGK 2017), die von der Gesellschaft an Aufsichtsratsmitglieder gezahlten Vergütungen oder gewährten Vorteile für persönlich erbrachte Leistungen, insbesondere Beratungs- und Vermittlungsleistungen, im Anhang oder im Lagebericht individualisiert anzugeben, ist in der geltenden Fassung nicht mehr enthalten.4) Diese Empfehlung zielte auf eine präventive Wirkung ab – durch Transparenz sollte Missbrauch verhindert werden.5) II.

Zustimmungserfordernis (§ 114 Abs. 1)

1.

Dienst- und Werkverträge, insbesondere Beraterverträge

3 Nach § 114 Abs. 1 zustimmungspflichtig sind Dienstverträge und Werkverträge, durch die das Aufsichtsratsmitglied sich zu Tätigkeiten höherer Art verpflichtet. Die Anforderungen an eine Tätigkeit höherer Art sind nicht zu überspannen. In der Praxis werden gesonderte Verträge mit einem Aufsichtsratsmitglied in aller Regel eine Tätigkeit höherer Art beinhalten.6) Ausdrücklich ausgenommen von der Zustimmungspflicht sind Dienstverträge, die ein Arbeitsverhältnis begründen. Hierdurch wird sichergestellt, dass die Arbeitsverträge der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat nicht dem Zustimmungserfordernis nach § 114 Abs. 1 unterliegen;7) dies gilt aber nicht, wenn neben dem Arbeitsvertrag ein weiteres Rechtsverhältnis begründet werden soll.8) 2.

Bestimmtheitserfordernis

4 Der Inhalt des Vertrags (insbesondere die speziellen Beratungsgegenstände), der dem Aufsichtsrat zur Zustimmung vorgelegt wird, und das vorgesehene Entgelt müssen so konkret bezeichnet werden, dass sich der Aufsichtsrat ein eigenständiges Urteil über Art und Umfang der Leistung des Aufsichtsratsmitglieds sowie über die Höhe und Angemessenheit der dafür vorgesehenen Vergütung bilden kann.9) Einem Vertrag, der nicht hinreichend konkret gegenüber dem Aufsichtsrat offengelegt wird, kann nicht nach § 114 Abs. 1 zugestimmt werden.10) _____________ 3) BGH, Urt. v. 10.7.2012 – II ZR 48/11 (Fresenius), BGHZ 194, 14, Rz. 13 = ZIP 2012, 1807, 1808; BGH, Urt. v. 3.7.2006 – II ZR 151/04 (IFA), BGHZ 168, 188, 193 = ZIP 2006, 1529, 1531; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 114 Rz. 7; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 87; ausführlich und kritisch zum herrschenden Verständnis des Normzwecks: Cahn, Der Konzern 2012, 501 ff. 4) S. dazu Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-v. Werder/Bachmann, DCGK, Teil 2 Einleitung Rz. 30. 5) Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, 7. Aufl. 2018, Rz. 1446; s. dazu auch OLG Nürnberg, Urt. v. 8.3.2017 – 12 U 927/15, Rz. 49, BeckRS 2017, 108720 = AG 2018, 166, 168; Lutter/ Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 878. 6) OLG Nürnberg, Urt. v. 8.3.2017 – 12 U 927/15, Rz. 51, BeckRS 2017, 108720 = AG 2018, 166, 168; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 114 Rz. 20; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 114 Rz. 5, geht davon aus, dass diese Einschränkung praktisch nicht von Relevanz ist; zu grundsätzlichen Fragen der Mitgliedschaft eines Anwalts im Aufsichtsrat einer AG: v. Falkenhausen, ZIP 2013, 862 ff. 7) OLG Hamm, Urt. v. 4.3.2020 – 8 U 32/19, Rz. 87, NZG 2020, 162, 165; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 114 Rz. 21; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 114 Rz. 5. 8) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 114 Rz. 19 a. E.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 114 Rz. 5; Hopt/ Roth, Der Aufsichtsrat, § 114 Rz. 21. 9) BGH, Urt. v. 3.7.2006 – II ZR 151/04 (IFA), BGHZ 168, 188, 197 f. = ZIP 2006, 1529, 1533; BGH, Urt. v. 4.7.1994 – II ZR 197/93, BGHZ 126, 340, 344 f. = ZIP 1994, 1216, 1217; OLG Nürnberg, Urt. v. 8.3.2017 – 12 U 927/15, Rz. 73 f., BeckRS 2017, 108720 = NZI 2017, 679. 10) OLG Nürnberg, Urt. v. 8.3.2017 – 12 U 927/15, Rz. 51, BeckRS 2017, 108720 = AG 2018, 166, 170; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 114 Rz. 25; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 114 Rz. 33.

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Verträge mit Aufsichtsratsmitgliedern III.

Leistungen außerhalb der Aufsichtsratstätigkeit

1.

Abgrenzungskriterien

§ 114

Da ein entgeltlicher Vertrag zwischen Aufsichtsratsmitglied und Gesellschaft, der eine Or- 5 gantätigkeit des Aufsichtsratsmitglieds zum Inhalt hat, bereits gemäß § 134 BGB wegen Verstoßes gegen § 113 Abs. 1 nichtig ist,11) erfasst § 114 Abs. 1 nur Verträge über Leistungen des Aufsichtsratsmitglieds außerhalb des organschaftlichen Pflichtenkreises.12) Nur soweit es um Tätigkeiten des Aufsichtsratsmitglieds geht, die außerhalb seiner Organpflichten liegen, kommt überhaupt eine Zustimmung des Aufsichtsrats nach § 114 Abs. 1 in Betracht.13) Nach ständiger Rechtsprechung des BGH beschränkt sich dies auf Fragen eines besonderen Fachgebiets („spezielle Einzelfragen“), die eine besondere Beratungstiefe erfordern und daher nicht Teil der Beratungsaufgabe des Aufsichtsratsmitglieds sind.14) Weiter wird verlangt, dass der Vertrag eindeutige Feststellungen ermöglichen muss, ob die nach dem Vertrag zu vergütenden Leistungen außer- oder innerhalb des organschaftlichen Pflichtenkreises des Aufsichtsratsmitglieds liegen und ob der Vertrag nicht verdeckte Sonderzuwendungen einschließt.15) Die speziellen Beratungsgegenstände und das vorgesehene Entgelt müssen so konkret bezeichnet werden, dass sich der Aufsichtsrat ein eigenständiges Bild über die Höhe und den Umfang der Leistungen sowie über die Höhe und Angemessenheit der Vergütung bilden kann.16) Die Anforderungen der Rechtsprechung zum Bestimmtheitserfordernis sind streng, insbesondere führen allgemeine und unpräzise Ausführungen zu der vereinbarten Tätigkeit dazu, dass keine Genehmigungsfähigkeit nach § 114 Abs. 1 in Frage kommt.17) 2.

Altverträge

Nach dem Wortlaut des § 114 wird der Abschluss der dort genannten Verträge mit am- 6 tierenden Aufsichtsratsmitgliedern erfasst.18) Darüber hinaus ist § 114 aber auch auf vor

_____________ 11) BGH, Urt. v. 20.11.2006 – II ZR 279/05, Rz. 13, BGHZ 170, 60 = ZIP 2007, 22, 23; OLG Köln, Beschl. v. 11.7.2019 – 18 U 37/18, Rz. 19, NZG 2019, 1351, 1352. 12) BGH, Urt. v. 10.7.2012 – II ZR 48/11 (Fresenius), BGHZ 194, 14, Rz. 13 = ZIP 2012, 1807, 1808; BGH, Urt. v. 2.4.2007 – II ZR 325/05, ZIP 2007, 1056, 1059; BGH, Urt. v. 20.11.2006 – II ZR 279/05, BGHZ 170, 60, 65 = ZIP 2007, 22, 23, dazu EWiR 2007, 99 (Drygala) – ständ. Rspr. 13) BGH, Urt. v. 20.11.2006 – II ZR 279/05, Rz. 13, BGHZ 170, 60 = ZIP 2007, 22, 23; s. a. Lutter/ Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 859; Lutter/Kremer, ZGR 1992, 87, 96 ff.; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 114 Rz. 22. 14) BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127, 132 = ZIP 1991, 653, 655 f.; BGH, Urt. v. 4.7.1994 – II ZR 197/93, BGHZ 126, 340, 344 f. = ZIP 1994, 1216, 1217; s. a. OLG Köln, Urt. v. 31.1.2013 – 18 U 21/12, ZIP 2013, 516, 518, dazu EWiR 2013, 163 (v. Falkenhausen); Habersack in: MünchKomm-AktG, § 114 Rz. 24; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 859. 15) BGH, Urt. v. 10.7.2012 – II ZR 48/11 (Fresenius), BGHZ 194, 14, Rz. 13 = ZIP 2012, 1807, 1808; BGH, Urt. v. 2.4.2007 – II ZR 325/05, ZIP 2007, 1056, 1059; BGH, Urt. v. 20.11.2006 – II ZR 279/05, BGHZ 170, 60, 65 = ZIP 2007, 22, 23; OLG Köln, Urt. v. 31.1.2013 – 18 U 21/12, ZIP 2013, 516, 518 – ständ. Rspr. 16) BGH, Urt. v. 20.11.2006 – II ZR 279/05, Rz. 13, BGHZ 170, 60 = ZIP 2007, 22, 23; s. a. OLG Köln, Beschl. v. 11.7.2019 – 18 U 37/18, Rz. 19, NZG 2019, 1351, 1352. 17) BGH, Urt. v. 20.11.2006 – II ZR 279/05, Rz. 13, BGHZ 170, 60 = ZIP 2007, 22, 23; s. a. OLG Köln, Urt. v. 31.1.2013 – 18 U 21/12, ZIP 2013, 516, 518; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 862; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 114 Rz. 25; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 114 Rz. 34. 18) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 114 Rz. 44; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 114 Rz. 2.

Werner Paul Schick

901

§ 114

Verträge mit Aufsichtsratsmitgliedern

der Bestellung zum Aufsichtsratsmitglied abgeschlossene Verträge anwendbar.19) Auch vor der Übernahme des Aufsichtsratsmandats abgeschlossene Altverträge bedürfen der Zustimmung des Aufsichtsrats nach § 114 Abs. 1, ohne diese verlieren sie für die Dauer des Aufsichtsratsmandats ihre Wirkung.20) 3.

Umgehungsschutz

7 Um Umgehungen zu vermeiden, gilt § 114 Abs. 1 nicht nur für unmittelbar mit dem Aufsichtsratsmitglied geschlossene Verträge, sondern auch für bestimmte Gesellschaften, die dem Aufsichtsratsmitglied zuzuordnen sind.21) So ist bei einem Vertrag mit einer Sozietät in der Rechtsform einer Personengesellschaft, an der das Aufsichtsratsmitglied beteiligt ist, die Norm analog anzuwenden.22) Auch ein Vertrag über Dienst- oder Werkleistungen höherer Art zwischen der Gesellschaft und einer Kapitalgesellschaft, dessen alleiniger Gesellschafter das Aufsichtsratsmitglied ist oder an dem das Aufsichtsratsmitglied wesentlich beteiligt ist, fällt unter § 114 Abs. 1.23) Der Vertrag mit einer Kapitalgesellschaft, an der das Aufsichtsratsmitglied – nicht notwendig beherrschend beteiligt ist – unterliegt dann den Kontrollmechanismen des § 114, wenn dem Aufsichtsratsmitglied mittelbare Zuwendungen zufließen, bei denen es sich nicht nur um ganz geringfügige Leistungen handelt oder die im Vergleich zur Aufsichtsratsvergütung einen vernachlässigenswerten Umfang haben.24) Hierbei kommt es auf die Gesamthöhe der gezahlten Vergütungen und nicht auf den einzelnen Beratungsauftrag an.25) Insbesondere der Abschluss eines Beratungsvertrages mit einer Anwalts- oder Steuerberatungssozietät, der das Aufsichtsratsmitglied angehört, kann mithin in den Anwendungsbereich der Norm fallen.26) Dies folgt nach der Rechtsprechung des BGH daraus, dass der Sinn und Zweck der §§ 113, 114, die unabhängige Wahrnehmung der organschaftlichen Überwachungsfunktion zu gewährleisten, auch in diesem Fall berührt ist.27) In zwei aktuellen Entscheidungen hat der BGH den _____________ 19) BGH, Urt. v. 4.7.1994 – II ZR 197/93, BGHZ 126, 340, 346 f. = ZIP 1994, 1216, 1218; BGH, Urt. v. 2.7.1998 – IX ZR 63/97, ZIP 1999, 1801, 1803; OLG Hamm, Urt. v. 4.3.2020 – 8 U 32/19, Rz. 83, Der Konzern 2021, 162, 164; OLG Nürnberg, Urt. v. 8.3.2017 – 12 U 927/15, Rz. 60, BeckRS 2017, 108720 = AG 2018, 166, 169; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 114 Rz. 10; K. Schmidt/LutterDrygala, AktG, § 114 Rz. 12; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 861. 20) BGH, Urt. v. 2.4.2007 – II ZR 325/05, ZIP 2007, 1056, 1059; BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127, 133 f. = ZIP 1991, 653, 655 f.; BGH, Urt. v. 4.7.1994 – II ZR 197/93, BGHZ 126, 340, 348 = ZIP 1994, 1216, 1218; BGH, Urt. v. 3.7.2006 – II ZR 151/04 (IFA), BGHZ 168, 188, 199 = ZIP 2006, 1529, 1533; OLG Hamm, Urt. v. 4.3.2020 – 8 U 32/19, Rz. 83, Der Konzern 2021, 162, 164. 21) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 21.9.2005 – 1 U 14/05, NZG 2006, 29; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 114 Rz. 50 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 114 Rz. 3; Fuhrmann, NZG 2017, 291, 296. 22) BGH, Urt. v. 2.4.2007 – II ZR 325/05, Rz. 11, ZIP 2007, 1056; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 114 Rz. 3; Fuhrmann, NZG 2017, 291, 296; kritisch Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 114 Rz. 58. 23) BGH, Urt. v. 3.7.2006 – II ZR 151/04, WM 2006, 1581, 1583; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 114 Rz. 3; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 51. 24) BGH, Urt. v. 10.7.2012 – II ZR 48/11 (Fresenius), Rz. 14, BGHZ 194, 14 = ZIP 2012, 1807, 1809; BGH, Urt. v. 20.11.2006 – II ZR 279/05, Rz. 7 f., BGHZ 170, 60, 62 f. = ZIP 2007, 22, 23; BGH, Urt. v. 2.4.2007 – II ZR 325/05, ZIP 2007, 1056, 1058; OLG Köln, Beschl. v. 11.7.2019 – 18 U 37/18, Rz. 17, NZG 2019, 1351 (keine Beschränkung auf 50 % Beteiligung); kritisch hierzu: HoffmannBecking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 51; Ihrig, ZGR 2013, 417, 434 f.; ablehnend: Cahn, Der Konzern 2012, 501, 504 ff. 25) BGH, Urt. v. 10.7.2012 – II ZR 48/11 (Fresenius), Rz. 15, BGHZ 194, 14 = ZIP 2012, 1807, 1809; OLG Köln, Beschl. v. 11.7.2019 – 18 U 37/18, Rz. 17, NZG 2019, 1351. 26) S. dazu BGH, Urt. v. 2.4.2007 – II ZR 325/05, ZIP 2007, 1056, 1058; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 15.2.2011 – 5 U 30/10 (Fresenius), ZIP 2011, 425, 426 f., dazu EWiR 2011, 203 (Linnerz); kritisch hierzu: Hoffmann-Becking in: FS K. Schmidt, S. 657, 663 f.; Cahn, Der Konzern 2012, 501, 504 f. 27) BGH, Urt. v. 20.11.2006 – II ZR 279/05, BGHZ 170, 60, 64 = ZIP 2007, 22, 23; BGH, Urt. v. 2.4.2007 – II ZR 325/05, ZIP 2007, 1056, 1058; zustimmend: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 114 Rz. 14; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 876.

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Verträge mit Aufsichtsratsmitgliedern

§ 114

Anwendungsbereich auf Beratungsverträge mit einer durch ein Aufsichtsratsmitglied der AG gesetzlich vertretenen Gesellschaft und mit einem zwischengeschalteten Drittunternehmen erweitert. Die §§ 113, 114 greifen auch dann ein, wenn das Aufsichtsratsmitglied zwar nicht selbst an der Gesellschaft, mit der der Vorstand einen Beratungsvertrag abschließt, beteiligt ist, aber das Aufsichtsratsmitglied deren gesetzlicher Vertreter (etwa Vorstandsvorsitzender) ist.28) Damit folgt der BGH in der Frage, ob §§ 113, 114 analog § 115 Abs. 3 auch Verträge mit juristischen Personen erfassen, deren gesetzlicher Vertreter ein Aufsichtsratsmitglied ist, der dies bejahenden Auffassung29) im Schrifttum. Die §§ 113, 114 sind zudem anwendbar, wenn ein Unternehmen, dessen alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer ein Aufsichtsratsmitglied einer AG ist, einen Beratungsvertrag über Angelegenheit der AG nicht unmittelbar mit dieser, sondern mit einem Drittunternehmen schließt, welches seinerseits die AG berät.30) Der Schutzzweck gebietet auch dann deren Anwendung, um der Gefahr zu begegnen, dass ein Aufsichtsratsmitglied mittelbar eine Vergütung für Tätigkeiten erhält, die bereits von seiner organschaftlichen Beratungspflicht erfasst sind.31) Der Umgehungsschutz greift – in analoger Anwendung von § 115 Abs. 2 AktG – auch bei 8 (Berater-)Verträgen der Gesellschaft mit nahestehenden Personen des Aufsichtsratsmitglieds, etwa Ehe-/Lebenspartner oder sonstige nahe Angehörige.32) Ob sich § 114 auch generell auf Verträge von Aufsichtsratsmitgliedern mit verbundenen 9 Unternehmen erstreckt, ist umstritten.33) Zwar enthält § 114 insoweit anders als § 115 Abs. 1 Satz 2 keine ausdrückliche Regelung, der Schutzzweck der Norm spricht jedoch dafür, sie zum Schutz vor Umgehungen auch dann anzuwenden, wenn der Vertrag nach seinem Inhalt auch unmittelbar mit der Muttergesellschaft hätte abgeschlossen werden können oder andere konkrete Indizien für eine missbräuchliche Umgehung sprechen.34) Nach dem Schutzzweck der Norm bedürfen Beratungsverträge von Aufsichtsratsmitgliedern oder deren Sozietäten mit von der Gesellschaft abhängigen Unternehmen einer Zustimmung des Aufsichtsrats, wenn der Vorstand in der Lage ist, den Vertragsschluss mit dem abhängigen Unternehmen zu beeinflussen, wovon in der Regel nach §§ 17 f. auszugehen ist.35) 4.

Zustimmung des Aufsichtsrats

Die Zustimmung zu einem von § 114 erfassten Beratungsvertrag kann als (vorherige) Ein- 10 willigung oder (nachträgliche) Genehmigung erteilt werden36) (Letzteres folgt schon aus § 114 Abs. 2 Satz 1). Davon geht der BGH zwar in der Fresenius-Entscheidung ebenfalls grundsätzlich aus,37) nimmt aber an, dass eine Vergütungszahlung durch den Vorstand nur _____________ 28) BGH, Urt. v. 29.6.2021 – II ZR 75/20, Rz. 19, ZIP 2021, 1596, 1597. 29) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 114 Rz. 14; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 114 Rz. 10; a. A. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 114 Rz. 60; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 114 Rz. 18. 30) BGH, Urt. v. 22.6.2021 – II ZR 225/20, Rz. 23 f., ZIP 2021, 1538, 1540; zustimmend v. d. Linden, DB 2021, 1940; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 114 Rz. 13. 31) BGH, Urt. v. 22.6.2021 – II ZR 225/20, Rz. 24, ZIP 2021, 1538, 1540. 32) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 114 Rz. 3; Fuhrmann, NZG 2017, 291, 296; Spindler in: BeckOGK-AktR § 114 Rz. 10; a. A. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 114 Rz. 59. 33) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 114 Rz. 16 f.; Spindler, NZG, 2011, 334, 336. 34) Cahn, Der Konzern 2012, 501, 502 f.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 52; Spindler, NZG, 2011. 334, 336; noch weitergehend: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 114 Rz. 17; a. A. Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 114 Rz. 15 ff.; s. a. OLG Hamburg, Urt. v. 17.1.2007 – 11 U 48/06, ZIP 2007, 814, 818 f. 35) BGH, Urt. v. 10.7.2012 – II ZR 48/11 (Fresenius), Rz. 16, BGHZ 194, 14 = ZIP 2012, 1807, 1809; s. a. Ihrig, ZGR 2013, 417, 435; ablehnend: Cahn, Der Konzern 2012, 501, 502 f. 36) OLG München, Urt. v. 13.10.2005 – 23 U 1949/05, AG 2006, 337, 338 = ZIP 2006, 712; K. Schmidt/ Lutter-Drygala, AktG, § 114 Rz. 17; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 863. 37) BGH, Urt. v. 10.7.2012 – II ZR 48/11 (Fresenius), Rz. 18, BGHZ 194, 14 = ZIP 2012, 1808, 1809.

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§ 114

Verträge mit Aufsichtsratsmitgliedern

rechtmäßig ist, wenn eine vorherige Zustimmung des Aufsichtsrats erfolgt ist.38) Der Beratungsvertrag ist bis zur Entscheidung über die Genehmigung nach § 114 Abs. 2 Satz 1 schwebend unwirksam, weshalb noch kein Zahlungsanspruch besteht bzw. der Vorstand noch nicht zahlen darf.39) An der Rechtswidrigkeit einer gleichwohl geleisteten Zahlung ändert sich nach der Auffassung des BGH auch dann nichts, wenn der Aufsichtsrat den Vertrag genehmigt hat.40) 11 Während im Schrifttum vertreten wird, dass ein wegen unpräziser Bezeichnung der Vertragspflichten gegen §§ 113 f. verstoßender Vertrag nachträglich konkretisiert werden und dann vom Aufsichtsrat genehmigt werden kann,41) hat der BGH diese Frage bisher offengelassen.42) 12 Verträge, die unter § 114 fallen, bedürfen der ausdrücklichen Zustimmung des Aufsichtsrats; eine konkludente Zustimmung des Aufsichtsrats genügt ebenso wenig wie eine Zustimmung der Hauptversammlung.43) Der Aufsichtsrat entscheidet über die Zustimmung durch Beschluss (§ 108 Abs. 1); das betroffene Aufsichtsratsmitglied ist vom Stimmrecht ausgeschlossen.44) Eine Delegation auf einen Ausschuss ist zulässig, da § 114 in § 107 Abs. 3 Satz 7 nicht genannt wird.45) Insbesondere mit Blick auf die Fresenius-Entscheidung des BGH empfiehlt es sich, einen Ausschuss entsprechend zu ermächtigen.46) IV.

Rechtsfolgen fehlender Zustimmung (§ 114 Abs. 2)

13 Bei fehlender oder verweigerter Zustimmung hat das betroffene Aufsichtsratsmitglied eine gleichwohl bereits erhaltene Vergütung zurückzugewähren (Rückgewähranspruch nach § 114 Abs. 2 Satz 1).47) Erfasst sind auch dem Aufsichtsratsmitglied unrechtmäßig überlassene Gegenstände48) sowie gezogene Nutzungen (bzw. Wertersatz).49) Dieser aktienrecht-

_____________ 38) BGH, Urt. v. 10.7.2012 – II ZR 48/11 (Fresenius), Rz. 16, BGHZ 194, 14 = ZIP 2012, 1807, 1809 f.; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 15.2.2011 – 5 U 30/10 (Fresenius), ZIP 2011, 425, 426 f., dazu Drygala, ZIP 2011, 427 ff.; Spindler, NZG, 2011, 334 ff. 39) BGH, Urt. v. 10.7.2012 – II ZR 48/11 (Fresenius), Rz. 19, BGHZ 194, 14 = ZIP 2012, 1807, 1809; so auch: Spindler, NZG 2011, 334, 336 f.; ablehnend: Cahn, Der Konzern 2012, 501, 507 f. 40) BGH, Urt. v. 10.7.2012 – II ZR 48/11 (Fresenius), Rz. 19 f., BGHZ 194, 14 = ZIP 2012, 1807, 1809; a. A. Cahn, Der Konzern 2012, 501, 507 f. 41) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 114 Rz. 29; Bosse, NZG 2007, 172, 174 f.; Müller, NZG 2002, 797, 801. 42) BGH, Urt. v. 10.7.2012 – II ZR 48/11 (Fresenius), Rz. 18, BGHZ 194, 14 = ZIP 2012, 1808, 1809; BGH, Urt. v. 20.11.2006 – II ZR 279/05, Rz. 15, BGHZ 170, 60 = ZIP 2007, 22, 23. 43) OLG Hamm, Urt. v. 4.3.2020 – 8 U 32/19, Rz. 90, Der Konzern 2021, 162, 165; OLG Nürnberg, Urt. v. 8.3.2017 – 12 U 927/15, BeckRS 2017, 108720 = AG 2018, 166, 169; Habersack in: MünchKommAktG, § 114 Rz. 28 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 114 Rz. 8. 44) BGH, Urt. v. 2.4.2007 – II ZR 325/05, Rz. 13, ZIP 2007, 1056, 1058; OLG Nürnberg, Urt. v. 8.3.2017 – 12 U 927/15, Rz. 62, BeckRS 2017, 108720 = AG 2018, 166, 169; Habersack in: MünchKommAktG, § 114 Rz. 30; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 864. 45) BGH, Urt. v. 10.7.2012 – II ZR 48/11 (Fresenius), Rz. 21, BGHZ 194, 14 = ZIP 2012, 1807, 1810; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 114 Rz. 8; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 114 Rz. 30; a. A. Cahn, Der Konzern 2012, 501, 503. 46) S. dazu Ihrig, ZGR 2013, 417, 420 f.; Ruoff, BB 2013, 899, 902. 47) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 877; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 114 Rz. 31; ausführlich dazu Kanzler, AG 2013, 554 ff.; Fischer, BB 2015, 1411, 1415 ff. 48) BGH, Urt. v. 4.7.1994 – II ZR 197/93, BGHZ 126, 340, 350 = ZIP 1994, 1216, 1219; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 114 Rz. 82; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 114 AktG Rz. 28. 49) OLG Hamm, Urt. v. 4.3.2020 – 8 U 32/19, Rz. 99, Der Konzern 2021, 162, 166; Spindler in: BeckOGKAktR, § 114 AktG Rz. 28.

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Kreditgewährung an Aufsichtsratsmitglieder

§ 115

liche Rückgewährungsanspruch wird sofort fällig.50) Das betroffene Aufsichtsratsmitglied kann gegen den Rückgewähranspruch nicht mit dem eigenen Bereicherungsanspruch aufrechnen (§ 114 Abs. 2 Satz 2), sondern allenfalls mit anderen Forderungen.51) Der Rückgewährungsanspruch verjährt nach den allgemeinen Regeln (§§ 195, 199 BGB);52) die Verjährungsfrist gemäß §§ 116, 93 Abs. 6 i. V. m. Abs. 3 Nr. 7 betrifft nur Schadensersatzansprüche gegen Aufsichtsratsmitglieder wegen Mitwirkung an der Gewährung unzulässiger Vergütungen.53) Sofern der Vorstand den Rückgewährungsanspruch nicht geltend macht, kommt eine 14 Schadensersatzpflicht der Vorstandsmitglieder nach § 93 Abs. 2 in Betracht.54) Nach § 93 Abs. 3 Nr. 7 machen die Mitglieder des Vorstands bzw. des Aufsichtsrats sich schadensersatzpflichtig, wenn entgegen § 114 eine Vergütung gewährt bzw. daran mitgewirkt55) wird. _____________ 50) OLG Hamm, Urt. v. 4.3.2020 – 8 U 32/19, Rz. 91, Der Konzern 2021, 162, 165; K. Schmidt/LutterDrygala, AktG, § 114 Rz. 20; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 114 Rz. 32 und 34; Fischer, BB 2015, 1411, 1415. 51) BGH, Urt. v. 4.7.1994 – II ZR 197/93, BGHZ 126, 340, 349 f. = ZIP 1994, 1216, 1219. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 114 Rz. 34; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 114 Rz. 83. 52) BGH, Urt. v. 3.7.2006 – II ZR 151/04, Rz. 21, BGHZ 168, 188 = ZIP 2006, 1529; OLG Hamm, Urt. v. 4.3.2020 – 8 U 32/19, Rz. 91, Der Konzern 2021, 166; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 114 Rz. 11. 53) BGH, Urt. v. 3.7.2006 – II ZR 151/04 (IFA), Rz. 21, BGHZ 168, 188, 200 = ZIP 2006, 1529. 54) Spindler in: BeckOGK-AktR, § 114 AktG Rz. 24; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 114 Rz. 11. 55) BGH, Urt. v. 3.7.2006 – II ZR 151/04 (IFA), BGHZ 168, 188, 200 = ZIP 2006, 1529, 1533; OLG Nürnberg, Urt. v. 8.3.2017 – 12 U 927/15, Rz. 85 und Rz. 90, BeckRS 2017, 108720 = AG 2018, 166, 170; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 114 Rz. 36; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 114 Rz. 82.

§ 115 Kreditgewährung an Aufsichtsratsmitglieder Werner Paul Schick

(1) 1Die Gesellschaft darf ihren Aufsichtsratsmitgliedern Kredit nur mit Einwilligung des Aufsichtsrats gewähren. 2Eine herrschende Gesellschaft darf Kredite an Aufsichtsratsmitglieder eines abhängigen Unternehmens nur mit Einwilligung ihres Aufsichtsrats, eine abhängige Gesellschaft darf Kredite an Aufsichtsratsmitglieder des herrschenden Unternehmens nur mit Einwilligung des Aufsichtsrats des herrschenden Unternehmens gewähren. 3Die Einwilligung kann nur für bestimmte Kreditgeschäfte oder Arten von Kreditgeschäften und nicht für länger als drei Monate im voraus erteilt werden. 4 Der Beschluß über die Einwilligung hat die Verzinsung und Rückzahlung des Kredits zu regeln. 5Betreibt das Aufsichtsratsmitglied ein Handelsgewerbe als Einzelkaufmann, so ist die Einwilligung nicht erforderlich, wenn der Kredit für die Bezahlung von Waren gewährt wird, welche die Gesellschaft seinem Handelsgeschäft liefert. (2) Absatz 1 gilt auch für Kredite an den Ehegatten, Lebenspartner oder an ein minderjähriges Kind eines Aufsichtsratsmitglieds und für Kredite an einen Dritten, der für Rechnung dieser Personen oder für Rechnung eines Aufsichtsratsmitglieds handelt. (3) 1Ist ein Aufsichtsratsmitglied zugleich gesetzlicher Vertreter einer anderen juristischen Person oder Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft, so darf die Gesellschaft der juristischen Person oder der Personenhandelsgesellschaft Kredit nur mit Einwilligung des Aufsichtsrats gewähren; Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt sinngemäß. 2Dies gilt nicht, wenn die juristische Person oder die Personenhandelsgesellschaft mit der Gesellschaft verbunden ist oder wenn der Kredit für die Bezahlung von Waren gewährt wird, welche die Gesellschaft der juristischen Person oder der Personenhandelsgesellschaft liefert. Werner Paul Schick

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§ 115

Kreditgewährung an Aufsichtsratsmitglieder

(4) Wird entgegen den Absätzen 1 bis 3 Kredit gewährt, so ist der Kredit ohne Rücksicht auf entgegenstehende Vereinbarungen sofort zurückzugewähren, wenn nicht der Aufsichtsrat nachträglich zustimmt. (5) Ist die Gesellschaft ein Kreditinstitut oder Finanzdienstleistungsinstitut, auf das § 15 des Gesetzes über das Kreditwesen anzuwenden ist, gelten anstelle der Absätze 1 bis 4 die Vorschriften des Gesetzes über das Kreditwesen. Literatur: Dreher, Interessenkonflikte bei Aufsichtsratsmitgliedern von Aktiengesellschaften, JZ 1990, 896; Fleischer, Aktienrechtliche Zweifelsfragen der Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder, WM 2004, 1057; Hoffmann-Becking, Unabhängigkeit im Aufsichtsrat, NZG 2014, 80.

Übersicht I. Gegenstand und Zweck der Norm ........................................... 1 II. Einwilligung des Aufsichtsrats ....... 3 I.

III. Rückgewähranspruch bei fehlerhafter oder fehlender Einwilligung (§ 115 Abs. 4) ............................ 5

Gegenstand und Zweck der Norm

1 Die Norm betrifft die Kreditvergabe der Gesellschaft an Aufsichtsratsmitglieder. Sie soll Missbräuchen, wie insbesondere die unangemessene Beeinflussung einzelner Aufsichtsratsmitglieder durch Kreditvergabe in unangemessener Höhe bzw. zu unüblichen Konditionen, vorbeugen, um deren Unabhängigkeit zu sichern.1) Daher werden Kreditbeziehungen mit den Aufsichtsratsmitgliedern zwar nicht verboten, aber transparent gemacht und an strenge Regeln gebunden.2) Kredit- und Finanzleistungsinstitute sind gemäß § 115 Abs. 5 vom Anwendungsbereich der Norm ausgenommen. 2 § 115 enthält zwingendes Recht und lehnt sich eng an § 89 an, wobei jedoch etwa eine Ausnahme für Kleinkredite (§ 89 Abs. 1 Satz 5) fehlt und für Warenkredite eine Ausnahme vorgesehen ist (§ 115 Abs. 1 Satz 5), die in § 89 fehlt.3) II. Einwilligung des Aufsichtsrats 3 Der Begriff „Kreditgewährung“ ist weit auszulegen. Neben Darlehen werden auch unübliche Stundungen oder Garantien, Bürgschaften und die Gewährung anderer Sicherheiten außerhalb des üblichen Rahmens erfasst.4) Erfasst wird die Kreditgewährung an ein Aufsichtsratsmitglied (§ 115 Abs. 1 Satz 1), eine nahe stehende Person (§ 115 Abs. 2) oder an eine Gesellschaft, die durch ein Aufsichtsratsmitglied gesetzlich vertreten wird (§ 115 Abs. 3).5) Kreditgeber muss die Gesellschaft (§ 115 Abs. 1 Satz 1) oder ein herrschendes oder abhängiges Unternehmen (§ 115 Abs. 1 Satz 2) sein. Da Kreditgewährung an Aufsichtsratsmitglieder auch eine Related Party Transaction i. S. der §§ 111a ff. sein kann, sind – im Falle des Überschreitens des Schwellenwerts (§ 111b Abs. 1) – die Regelungen des § 115 und der §§ 111a ff. kumulativ anzuwenden.6) _____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6)

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Habersack in: MünchKomm-AktG, § 115 Rz. 2; Hoffmann-Becking, NZG 2014, 801, 803; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 115 Rz. 1; ausführlich zu der entsprechenden Norm für Vorstandsmitglieder, § 89 AktG (Parallelnorm): Fleischer, WM 2004, 1057 ff. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 115 Rz. 2; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 879; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 115 Rz. 3. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 115 Rz. 4 f. und Rz. 23; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 115 Rz. 5. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 115 Rz. 7; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 879; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 115 Rz. 23. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 115 Rz. 9 und 11; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 56; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 115 Rz. 12 ff. und Rz. 20. K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 115 Rz. 11; Habersack in: MünchKomm-AktG, Nachtrag ARUG II, § 111a Rz. 6; Hirte/Heidel-Heidel/Illner, Das neue Aktienrecht, § 111a Rz. 5.

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Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder

§ 116

Die die Kreditgewährung an Aufsichtsratsmitglieder bedarf der vorab zu erteilenden 4 Zustimmung (Einwilligung) durch ausdrücklichen Beschluss des Aufsichtsrats (des herrschenden Unternehmens, § 115 Abs. 1 Satz 27))8), an dem das durch die Kreditgewährung begünstigte Aufsichtsratsmitglied nicht teilnehmen darf.9) Anstelle des Aufsichtsrats kann ein Ausschuss gemäß § 107 Abs. 3 entscheiden.10) Die Einwilligung kann nicht pauschal und höchstens für drei Monate im Voraus erteilt werden (§ 115 Abs. 1 Satz 3).11) Es müssen die Verzinsung und die Rückzahlung festgelegt werden (§ 115 Abs. 1 Satz 4). § 115 Abs. 3 Satz 1 erstreckt das Einwilligungserfordernis auf Kredite an eine juristische Person, deren Vertretungsorgan ein Aufsichtsratsmitglied angehört, oder eine Personenhandelsgesellschaft, deren Gesellschafter ein Aufsichtsratsmitglied ist.12) Bei der Durchführung des Kredits wird die Gesellschaft durch den Vorstand vertreten, § 78 Abs. 1.13) Gewährte Kredite sind im Anhang anzugeben (§§ 285 Nr. 9 lit. c, 314 Abs. 1 Nr. 6 lit. c HGB). III.

Rückgewähranspruch bei fehlerhafter oder fehlender Einwilligung (§ 115 Abs. 4)

Ein Verstoß gegen § 115 Abs. 1 bis 3 lässt die Wirksamkeit des gewährten Kredits unbe- 5 rührt; der Kredit ist nach § 115 Abs. 4 sofort zurückzugewähren.14) Die Genehmigung (nachträgliche Zustimmung, § 184 Abs. 1 BGB) der Kreditgewährung durch ausdrücklichen Beschluss des Aufsichtsrats unter Beachtung von § 115 Abs. 1 Satz 3 und Satz 4 lässt nach § 115 Abs. 4 die Rückgewährpflicht entfallen.15) _____________ 7) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 115 Rz. 13; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 56. 8) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 115 Rz. 16 f; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 115 Rz. 18 und Rz. 29. 9) Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 115 Rz. 37; Dreher, JZ 1990, 896, 897 und 901. 10) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 115 Rz. 17; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 115 Rz. 29. 11) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 115 Rz. 17; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 115 Rz. 30. 12) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 115 Rz. 12; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 115 Rz. 21. 13) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 115 Rz. 16; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 115 Rz. 32. 14) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 115 Rz. 19; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 115 Rz. 38 f. 15) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 115 Rz. 19; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 115 Rz. 38.

§ 116 Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder Werner Paul Schick

1

Für die Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder gilt § 93 mit Ausnahme des Absatzes 2 Satz 3 über die Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder und § 15b der Insolvenzordnung sinngemäß. 2Die Aufsichtsratsmitglieder sind insbesondere zur Verschwiegenheit über erhaltene vertrauliche Berichte und vertrauliche Beratungen verpflichtet. 3Sie sind namentlich zum Ersatz verpflichtet, wenn sie eine unangemessene Vergütung festsetzen (§ 87 Absatz 1). Literatur: Annuß/Theusinger, Das VorstAG – Praktische Hinweise zum Umgang mit dem neuen Recht, BB 2009, 2434; Bayer/Scholz, Die Pflichten von Aufsichtsrat und Hauptversammlung beim Vergleich über Haftungsansprüche gegen Vorstandsmitglieder, ZIP 2015, 149; Binder, Mittelbare Einbringung eigener Aktien als Sacheinlage und Informationsgrundlagen von Finanzierungsentscheidungen in Vorstand und Aufsichtsrat, ZGR 2012, 757; Buck-Heeb, Wissenszurechnung, Informationsorganisation und Ad-hoc-Mitteilungspflicht bei Kenntnis eines Auf-

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Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder

sichtsratsmitglieds, AG 2015, 801; Diekmann/Fleischmann, Umgang mit Interessenkonflikten in Aufsichtsrat und Vorstand der Aktiengesellschaft, AG 2013, 141; Fleischer, Aufsichtsratsverantwortlichkeit für die Vorstandsvergütung und Unabhängigkeit der Vergütungsberater, BB 2010, 67; Fleischer, Das Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG), NZG 2009, 801; Foerster, Beweislastverteilung und Einsichtsrecht bei Inanspruchnahme ausgeschiedener Organmitglieder, ZHR 176 (2012) 221; Goj, Verjährungsbeginn der aktienrechtlichen Organhaftung bei sog. „Dauerunterlassen“, ZIP 2019, 447; Habersack, Verschwiegenheitspflicht und Wissenszurechnung – insbesondere im Konzern und mit Blick auf die Pflicht zur Ad-hocPublizität, DB 2016, 1551; Harbarth/v. Plettenberg, Aktienrechtsnovelle 2016: Punktuelle Fortentwicklung des Aktienrechts, AG 2016, 145; Hauptmann, Rechte und Pflichten des ausgeschiedenen Aufsichtsratsmitglieds, AG 2017, 329; Helmrich/Eidam, Untreue durch Verzicht auf Schadensersatzansprüche gegen (ehemalige) Führungskräfte einer Aktiengesellschaft?, ZIP 2011, 257; Hoffmann, Urteilsbildungs- und Verhinderungspflicht des Aufsichtsrats, AG 2012, 478; Hoffmann-Becking, Unabhängigkeit im Aufsichtsrat, NZG 2014, 801; Hoffmann-Becking, Der Aufsichtsrat im Konzern, ZHR 159 (1995) 325; Hoffmann-Becking/Krieger, Leitfaden zur Anwendung des Gesetzes zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG), NZG Beil. zu Heft 26/2009, S. 1; Hopt, Die Verantwortlichkeit von Vorstand und Aufsichtsrat: Grundsatz und Praxisprobleme – unter besonderer Berücksichtigung der Banken, ZIP 2013, 1793; Ihrig/ Wandt, Die Aktienrechtsnovelle 2016, BB 2016, 6; Ihrig/Wandt/Wittgens, Die angemessene Vorstandsvergütung drei Jahre nach Inkrafttreten des VorstAG, Grundsätze, Leitlinien und Zweifelsfragen in der Praxis – eine Bestandsaufnahme, ZIP Beilage z. Heft 40/2012, S. 1; Koch, Wissenszurechnung aus dem Aufsichtsrat, ZIP 2015, 1757; Koch, Begriff und Rechtsfolgen von Interessenkonflikten und Unabhängigkeit im Aktienrecht, ZGR 2014, 697; Löbbe/Lüneborg, Das Easy-Software-Urteil des BGH: Verjährung der Aufsichtsratshaftung wegen Verstoßes gegen die ARAG/Garmenbeck-Pflichten, Der Konzern 2019, 53; Lutter, Verhaltenspflichten von Organmitgliedern bei Interessenkonflikten in: Festschrift für Hans-Joachim Priester, 2007, S. 417; Lutter, Der Aufsichtsrat im Konzern, AG 2006, 517; Lutter, Zum unternehmerischen Ermessen des Aufsichtsrats, ZIP 1995, 441; Lutter/Quack, Mitbestimmung und Schadensabwehr, in: Festschrift für Thomas Raiser, 2005, S. 259; Mann, §§ 394 f. AktG im Geflecht von Individual- und Kollektivinteressen, AG 2018, 57; Merkt/Mylich, Einlage eigener Aktien und Rechtsrat durch den Aufsichtsrat, NZG 2012, 525; Mülbert/Sajnovits, Verschwiegenheitspflichten von Aufsichtsratsmitgliedern als Schranken der Wissenszurechnung, NJW 2016, 2540; Mutter/Gayk, Wie die Verbesserung der Aufsichtsratsarbeit – wider jede Vernunft – die Haftung verschärft, ZIP 2003, 1773; Säcker/Boesche, Vom Gutsherren zum Gutsverwalter: Wandlungen im Aufsichtsratsrecht unter besonderer Berücksichtigung des Mannesmann-Urteils, BB 2006, 897; Schwintowski, Die Zurechnung des Wissens von Mitgliedern des Aufsichtsrats in einem oder mehreren Unternehmen, ZIP 2015, 617; Seibert, Das VorstAG – Regelungen zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung und zum Aufsichtsrat, WM 2009, 1489; Spindler, Kommunale Mandatsträger in Aufsichtsräten – Verschwiegenheitspflicht und Weisungsgebundenheit, ZIP 2011, 689; Veil, Weitergabe von Informationen durch den Aufsichtsrat an Aktionäre und Dritte, ZHR 172 (2008) 239; Wilsing/v. d. Linden, Selbstbefreiung des Aufsichtsrat vom Gebot der Gremienvertraulichkeit, ZHR 178 (2014) 419; Windbichler, Arbeitnehmerinteressen im Unternehmen und gegenüber dem Unternehmen – Eine Zwischenbilanz, AG 2004, 190; Ziegelmeier, Die Systematik der Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern gegenüber der Gesellschaft, ZGR 2007, 144; Ziemons, Rechtsanwälte im Aufsichtsrat – im Dickicht von Berufsrecht, Aktienrecht und Corporate Governance Kodex, ZGR 2016, 839.

Übersicht I. Allgemeines ....................................... 1 II. Sorgfaltspflicht der Aufsichtsratsmitglieder (§ 116 Satz 1) ..................................... 7

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III. Treuepflicht und Verschwiegenheitspflicht (§ 116 Satz 2) ................. 9 IV. Schadensersatzpflicht ..................... 20 V. Verjährung ....................................... 24

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Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder I.

§ 116

Allgemeines

In § 116 Satz 1 wird für die Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmit- 1 glieder auf die sinngemäße Anwendung der Parallelnorm für den Vorstand (§ 93 mit Ausnahme des Abs. 2 Satz 3) verwiesen. Insoweit sind jedoch die unterschiedlichen Aufgaben von Vorstand und Aufsichtsrat, insbesondere die Konzeption des Aufsichtsratsmandats als Nebentätigkeit zu berücksichtigen.1) Als Sorgfaltsmaßstab gilt, dass Aufsichtsratsmitglieder entsprechend dem Leitbild des ordentlichen Geschäftsleiters sinngemäß ihre Funktion als ordentliche „Überwacher“ einschließlich der Beratung des Vorstands zu erfüllen haben.2) Da § 93 Abs. 2 Satz 3 ausdrücklich nicht anzuwenden ist, muss die D&O-Versicherung für 2 Aufsichtsratsmitglieder3) keinen Selbstbehalt enthalten.4) Die in Ziff. 3.8 Abs. 3 des Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) i. d. F. v. 7.2.2017 noch enthaltene Empfehlung, einen der Regelung in § 93 Abs. 2 Satz 3 entsprechenden Selbstbehalt für den Aufsichtsrat zu vereinbaren, ist im DCGK i. d. F. v. 16.12.2019 nicht mehr enthalten.5) § 116 Satz 2 betont die Verpflichtung zur Verschwiegenheit. § 116 Satz 3 hebt die Scha- 3 densersatzpflicht der Aufsichtsratsmitglieder bei Festsetzung unangemessener Vergütung des Vorstands deklaratorisch hervor.6) § 116 Satz 1 wurde durch das SanInsFoG7) dahingehend ergänzt, dass auch § 15b InsO 4 sinngemäß gilt. Diese Ergänzung ist eine notwendige Änderung als Folge der Aufhebung von § 92 Abs. 2 und § 93 Abs. 3 Nr. 6.8) Der Zweck der Aufsichtsratshaftung nach § 116 ist Schadensprävention (die Aufsichts- 5 ratsmitglieder sollen zu sorgfaltsgemäßem und loyalen Verhalten angehalten werden) und Schadensausgleich.9) §§ 116 Satz 1, 93 regeln die Innenhaftung nicht abschließend.10) Eine Haftung des Aufsichtsratsmitglieds kann sich auch aus speziellen Haftungsvorschriften oder aus den allgemeinen Vorschriften über unerlaubte Handlungen ergeben11) (siehe dazu Rz. 22). Ob eine Schadensersatzpflicht gegenüber Aktionären, Gläubigern oder Dritten (Außenhaftung) in Frage kommt, richtet sich nach besonderen Vorschriften außerhalb des Aktiengesetzes.12)

_____________ 1) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 1; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 74. 2) OLG München, Urt. v. 8.7.2015 – 7 U 3130/14, ZIP 2015, 2472, 2476; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 74; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 116 Rz. 1. 3) Zu deren Zulässigkeit trotz des zwingenden Charakters der Haftung nach § 116 Satz 1, § 93; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 4; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 22. 4) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. Gesetzentwurf VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 11 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 13. 5) Dazu: Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, G. 24 Rz. 8. 6) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 9; Fleischer, NZG 2009, 801, 804. 7) Art. 15 Nr. 2 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungsund Insolvenzfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG) v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256. 8) Bericht d. Ausschusses R/V z. SanInsFoG, BT-Drucks. 19/25353, S. 17; Koch, AktG, § 116 Rz. 6a. 9) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 2; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 116 AktG Rz. 3; Hopt, ZIP 2013, 1793, 1795. 10) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 80. 11) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 80; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 13 Rz. 983. 12) Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 27; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 327 ff.

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§ 116

Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder

6 Nachdem die Haftung nach §§ 116 Satz 1, 93 lange Zeit in der Gerichtspraxis keine große Rolle gespielt hat, hat sich dies seit der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung des BGH13) (siehe dazu Rz. 20 und § 111 Rz. 9) und der Finanzkrise deutlich verändert.14) II.

Sorgfaltspflicht der Aufsichtsratsmitglieder (§ 116 Satz 1)

7 Bei der sinngemäßen Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 1 ist auf die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Aufsichtsratsmitglieds – mithin eines Überwachers (§ 111 Abs. 1) – abzustellen.15) Die Sorgfaltspflicht bei der Überwachung der Geschäftsführung nach § 111 Abs. 1 bezieht sich nicht nur auf eine in die Vergangenheit gerichtete Kontrolle der Vorstandstätigkeit; die Überwachung ist auch präventiv angelegt und wirkt in die Zukunft.16) Die Kontrolle erstreckt sich nicht nur auf abgeschlossene Sachverhalte, sondern auch auf grundsätzliche Fragen der künftigen Geschäftspolitik17) (siehe dazu § 111 Rz. 5). Sie ist nicht nur auf eine Rechtmäßigkeitsprüfung beschränkt, sondern muss die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Geschäftsführung einbeziehen.18) Jedenfalls bei besonders bedeutenden und riskanten Geschäften (zur daraus resultierenden Intensivierung der Überwachungspflicht siehe § 111 Rz. 6) darf der Aufsichtsrat sich nicht auf die bloße Entgegennahme der Informationen des Vorstands beschränken; jedes Aufsichtsratsmitglied trifft die Pflicht zur selbständigen und eigenverantwortlichen Risikoanalyse.19) Kann ein Aufsichtsratsmitglied diese Risikoeinschätzung (etwa bei komplexen Derivatgeschäften) nicht selbst vornehmen, vermag hieraus auch die Pflicht resultieren, auf die Hinzuziehung sachkundiger externer Berater durch den Aufsichtsrat hinzuwirken.20) Befindet die Gesellschaft sich in einer Situation, in der alle vorherigen Aufsichtsratsmitglieder ihre Mandate niedergelegt haben, so steigen auch die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht eines neuen Aufsichtsratsmitglieds; es hat dann etwa die Pflicht, sich zeitnah durch Vorlage der Sitzungsprotokolle über die Beschlusslage des bisherigen Aufsichtsrats zu informieren.21) 8 Für alle Aufsichtsratsmitglieder gilt ein typisierter Verschuldensmaßstab, unabhängig von ihren persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten,22) und zwar für die Anteilseigner- und Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat in gleicher Weise.23) Jedes Aufsichtsratsmitglied muss über den Mindeststandard an Kenntnissen und Fähigkeiten verfügen oder sich an_____________ 13) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 = ZIP 1997, 883. 14) Hopt, ZIP 2013, 1793, 1796; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 1; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 17. 15) OLG München, Urt. v. 8.7.2015 – 7 U 3130/14, ZIP 2015, 2472, 2476; LG Dortmund, Urt. v. 1.8.2001 – 20 O 143/93, AG 2002, 97, 98, dazu EWiR 2002, 463 (Borges); Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 11; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 74. 16) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 107; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 126; s. a. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.12.2009 – I-6 W 45/09, ZIP 2010, 28, 31 – dort wird eine Pflichtverletzung des Aufsichtsrats damit begründet, dass er Geschäfte des Vorstands, die gegen den Unternehmenszweck verstoßen, nicht hätte „zulassen dürfen“. 17) BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127, 129 f. = ZIP 1991, 653, 654. 18) BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127, 129 f. = ZIP 1991, 653, 654. 19) OLG Stuttgart, Urt. v. 29.2.2012 – 20 U 3/11 (Piëch), ZIP 2012, 625, 627, dazu EWiR 2012, 303 (Lieder); Hoffmann, AG 2012, 478, 482 ff.; BGH, Beschl. v. 6.11.2012 – II ZR 111/12, ZIP 2012, 2438, 2439, dazu EWiR 2013, 229 (Heidel/Schatz). 20) OLG Stuttgart, Urt. v. 29.2.2012 – 20 U 3/11 (Piëch), ZIP 2012, 625, 628; s. dazu Henze, Der Aufsichtsrat 2013, 12, 13 (Urteilsanm.); BGH, Beschl. v. 6.11.2012 – II ZR 111/12, ZIP 2012, 2438, 2439. 21) OLG Düsseldorf, Urt. v. 6.11.2014 – I-6 U 16/14, ZIP 2015, 1586, 1588, dazu EWiR 2015, 509 (Redeke); s. dazu Reichard, GWR 2015, 187. 22) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 3; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 13 Rz. 1009; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 70. 23) BGH, Urt. v. 15.11.1982 – II ZR 27/82 (Hertie), BGHZ 85, 293, 295 f. = ZIP 1983, 55, 56; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 3; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 23.

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Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder

§ 116

eignen, der zum Verständnis aller normalerweise anfallenden Geschäftsvorgänge erforderlich ist.24) Darüber hinaus sind jedoch Differenzierungen zulässig, d. h. aufgrund einer besonderen Funktion (Ausschussmitgliedschaft, Vorsitzender des Aufsichtsrats oder eines Ausschusses, Finanzexperten nach § 100 Abs. 5)25) können für einzelne Aufsichtsratsmitglieder höhere Anforderungen gelten.26) Diese Aufsichtsratsmitglieder haben für die Kenntnisse und Fähigkeiten einzustehen, die die jeweilige besondere Funktion erfordert; verfügen sie nicht hierüber, trifft sie ein Übernahmeverschulden.27) Umstritten ist, ob die individuelle Leistungsfähigkeit bzw. spezielle Kenntnisse eine Haftung begründen oder verschärfen können.28) Da die besonderen individuellen Kenntnisse und Fähigkeiten gerade der erklärte Anlass für die Wahl in den Aufsichtsrat waren, haben die jeweiligen Aufsichtsratsmitglieder auch hierfür einzustehen.29) Ein Aufsichtsratsmitglied, das über beruflich erworbene Spezialkenntnisse (etwa als Rechtsanwalt) verfügt, unterliegt einem erhöhten Sorgfaltsmaßstab, soweit diese betroffen sind.30) III.

Treuepflicht und Verschwiegenheitspflicht (§ 116 Satz 2)

Die Aufsichtsratsmitglieder trifft eine Treue- und Verschwiegenheitspflicht. Die Treue- 9 pflicht verpflichtet sie, sich i. R. ihrer Aufsichtsratstätigkeit der Gesellschaft gegenüber loyal zu verhalten31) und das Unternehmensinteresse zu wahren, insbesondere andere Interessen dahinter zurückzustellen.32) Maßstab ist das Wohl der Gesellschaft (§ 116 Satz 1 i. V. m. § 93 Abs. 1 Satz 2). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das Aufsichtsratsmandat als Nebentätigkeit ausgeübt wird, woraus Interessenkonflikte resultieren können.33) Dies ist etwa dann der Fall, wenn das Aufsichtsratsmitglied „hauptberuflich“ Vorstandsmitglied einer anderen Gesellschaft ist. Die Literatur hat mit Blick auf mögliche Konfliktsituationen Fallgruppen gebildet und 10 Lösungsvorschläge für die jeweilige Konfliktsituation entwickelt.34) Im Grundsatz gilt, _____________ 24) BGH, Urt. v. 15.11.1982 – II ZR 27/82 (Hertie), BGHZ 85, 293, 295 f. = ZIP 1983, 55, 56; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 3; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 13 Rz. 1009; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 24; zur Verschwiegenheitspflicht kommunaler Mandatsträger: Spindler, ZIP 2011, 689, 690 ff. 25) S. Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 26 f.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 76 f. 26) BGH, Urt. v. 17.5.1993 – II ZR 89/02, ZIP 1993, 1079, 1085 – Kreditausschuss einer Großbank; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 27; Mutter/Gayk, ZIP 1993, 1773, 1775 – Prüfungsausschuss; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 112. 27) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 13 Rz. 1011; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 27 und Rz. 75; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 4. 28) So BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09 (Ision), Rz. 28 a. E., ZIP 2011, 2097, 2102, dazu EWiR 2011, 793 (Vetter); LG Hamburg, Urt. v. 16.12.1980 – 80229/79, ZIP 1981, 194, 197; OLG Düsseldorf, Urt. v. 8.3.1984 – 6 U 75/83, ZIP 1984, 825, 830; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 13 Rz. 1011; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 28; a. A. Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 52; Mutter/Gayk, ZIP 2003, 1773, 1775. 29) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 28; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 116 AktG Rz. 19; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 553. 30) BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09 (Ision), Rz. 28, ZIP 2011, 2097, 2102; zustimmend: Binder, ZGR 2012, 757, 774 f.; Merkt/Mylich, NZG 2012, 525, 530; Hopt, ZIP 2013, 1793, 1798; Lutter/ Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 13 Rz. 1011. 31) BGH, Beschl. v. 6.11.2012 – II ZR 111/12, ZIP 2012, 2438, 2439. 32) BGH, Urt. v. 21.12.1979 – II ZR 244/78 (Schaffgotsch), NJW 1980, 1629; OLG Hamburg, Beschl. v. 23.1.1990 – 11 W 92/89 (HEW/Jansen), ZIP 1990, 311, 312 f.; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 144. 33) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 44; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 115; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 80 und Rz. 82; s. a. Koch, ZGR 2014, 697, 700 f. und 707 f. 34) Lutter in: FS Priester, S. 417, 418 ff.; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 894 ff.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 85; Hoffmann-Becking, NZG 2014, 801, 807 f.; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 173 ff.

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dass Interessenkollisionen das Aufsichtsratsmitglied nicht entlasten. Es bleibt verpflichtet, allein das Wohl der Gesellschaft zu wahren.35) Die Aufsichtsratsmitglieder sind jedoch gehalten, ihre Mitwirkung im Aufsichtsrat unter Berücksichtigung des konkreten Konflikts zu beschränken.36) In konkreten Entscheidungssituationen erscheint (vom Maß des Konflikts abhängig) ein differenziertes Vorgehen zweckmäßig, um den (potentiellen) Interessenkonflikt adäquat zu berücksichtigen bzw. die Mitwirkung im Aufsichtsrat angemessen zu beschränken. Insoweit kommen die Offenlegung des (potentiellen) Interessenkonflikts,37) eine Stimmenthaltung bei einer Abstimmung im Aufsichtsrat, ein Verzicht auf Zugang zu den Informationen zu dem konfliktbelasteten Gegenstand bzw. auf Sitzungsteilnahme bei deren Behandlung im Aufsichtsrat sowie ein vorübergehendes Ruhenlassen des Mandats in Betracht.38) Als Ultima Ratio bleibt die Niederlegung eines der kollidierenden Mandate,39) was der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) für wesentliche und nicht nur vorübergehende Interessenkonflikte empfiehlt (E. 1 Satz 3).40) Die gerichtliche Abberufung des Aufsichtsratsmitglieds aus wichtigem Grund (§ 103 Abs. 3) kommt in gravierenden Fällen pflichtwidrigen Verhaltens in Frage.41) In dem Bericht des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung (§ 171 Abs. 2) soll nach dem DCGK über aufgetretene Interessenkonflikte und deren Behandlung informiert werden (E. 1 Satz 2 DCGK).42) 11 Für die Arbeitnehmervertreter ergeben sich systemimmanente Interessen- bzw. Pflichtenkollisionen, da sie nach den Mitbestimmungsgesetzen die Arbeitnehmer und Gewerkschaften repräsentieren.43) Die Arbeitnehmervertreter haben sich bei ihrer Aufsichtsratstätigkeit ausschließlich am Wohle des Unternehmens zu orientieren.44) Die Teilnahme an Tarifverhandlungen (etwa als Verhandlungsführer der Gewerkschaften) sowie die passive Beteiligung an (rechtmäßigen) Arbeitskämpfen wird zutreffend als mit der Aufsichtsratstätigkeit (noch) vereinbar erachtet, eine aktive Beteiligung tendenziell jedoch nicht.45)

_____________ 35) BGH, Urt. v. 21.12.1979 – II ZR 244/78 (Schaffgotsch), NJW 1980, 1629. 36) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 898 ff.; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 85; Diekmann/Fleischmann, AG 2013, 141, 145 ff. (Interessenkonflikte sind zugunsten der Gesellschaft aufzulösen). 37) S. a. die diesbezügliche Empfehlung E. 1 Satz 1 des DCGK. 38) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 901 f.; Semler/v. Schenck/Wilsingv. Schenck, ArbHdb. AR, § 5 Rz. 127. 39) LG Hannover, Beschl. v. 12.3.2009 – 21 T 2/09, ZIP 2009, 761, 762; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 900; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 85. 40) S. dazu Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder-Kremer, DCGK, E. 1 Rz. 4 und Rz. 16. 41) OLG Hamburg, Beschl. v. 23.1.1990 – 11 W 92/89 (HEW/Jansen), ZIP 1990, 311, 312 f.; Lutter/ Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 900; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 179. 42) Nach BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 185/07, ZIP 2009, 460, 464, ist die Entsprechenserklärung gemäß § 161 unrichtig, wenn hiergegen verstoßen wird; näher dazu: Kremer/Bachmann/Lutter/v. WerderKremer, DCGK, E. 1 Rz. 15 (Offenlegung in „neutralisierter Form“ zur Wahrung der Vertraulichkeit); Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 466; s. aber auch § 101 Rz. 12. 43) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 907; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 115 und Rz. 120; Windbichler, AG 2004, 190 ff. 44) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 84; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 182; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 122; Lutter/Quack in: FS Raiser, S. 259, 264 f. 45) So überwiegend das gesellschaftsrechtliche Schrifttum: Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 12 Rz. 908; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 84; Semler/v. Schenckv. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 214 f.; a. A. die Lit. zum MitbestG, vgl. Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG/DrittelbG, § 25 MitbestG Rz. 150 f. (Organisation, Führung und Teilnahme an rechtmäßigen Streiks grundsätzlich zulässig); Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, § 26 MitbestG Rz. 30 (allerdings wird Initiierung oder aktive Leitung als unzulässig erachtet, wenn hierbei Kenntnisse aus dem Aufsichtsrat genutzt würden); s. a. Lutter/Quack in: FS Raiser, S. 259, 266 f.

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Die Verschwiegenheitspflicht folgt aus § 116 Satz 1 i. V. m. § 93 Abs. 1 Satz 3 bzw. (dog- 12 matisch) aus der Treuepflicht der Aufsichtsratsmitglieder46) und umfasst nicht allgemein bekannte (offenkundige) Tatsachen, an deren Geheimhaltung ein objektives Interesse des Unternehmens besteht.47) Sie ist das funktionsnotwendige Korrelat zur Pflicht des Vorstands, den Aufsichtsrat umfassend nach § 90 AktG zu informieren.48) § 116 Satz 2 betont besonders die Pflicht zur Verschwiegenheit über erhaltene vertrauliche Berichte und Beratungen. Dies hat klarstellenden Charakter bzw. Appellfunktion und enthält Beispiele für die Gegenstände der Verschwiegenheitspflicht, wie sich aus dem Wort „insbesondere“ ergibt.49) Ergänzend gilt weiterhin die Verweisung auf § 93 Abs. 1 Satz 3, die etwa Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse erfasst.50) Die Verschwiegenheitspflicht erfasst jede vertrauliche Information und insbesondere den gesamten Inhalt und Verlauf der Beratungen des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse.51) Das Beratungsgeheimnis umfasst die Gegenstände und den Gang der Beratungen (einschließlich der Stellungnahmen der Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder) sowie das Abstimmungsergebnis und das Abstimmungsverhalten.52) Die Verschwiegenheitspflicht besteht gegenüber allen nicht zu den Organmitgliedern der Gesellschaft gehörenden Personen (etwa für in den Aufsichtsrat gewählte Bankenvertreter gegenüber der Bank).53) Für Umstände, die unter die Verschwiegenheitspflicht nach § 116 Satz 1 i. V. m. § 93 Abs. 1 Satz 3 fallen, scheidet auch eine Wissenszurechnung aus.54) Das Aufsichtsratsmitglied darf – soweit dies im Einzelfall erforderlich ist – externe Berater 13 und Experten hinzuziehen (zur Frage, wer die Kosten hierfür trägt, siehe § 113 Rz. 9), ohne dass hierdurch die Verschwiegenheitspflicht verletzt wird.55) Sofern sie nicht bereits gesetzlich zur Verschwiegenheit verpflichtet sind, müssen die eingeschalteten Berater und Experten hierzu verpflichtet werden.56) Die Verschwiegenheitspflicht wird auch nicht verletzt, wenn das Aufsichtsratsmitglied 14 vorbereitend oder unterstützend Auskunfts- und Hilfspersonen, wie etwa Assistenz- oder _____________ 46) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 45; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 116 AktG Rz. 106; Zieglmeier, ZGR 2007, 144, 158. 47) BGH, Urt. v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325, 329; BGH, Urt. v. 26.4.2016 – XI ZR 108/15, ZIP 2016, 1063, 1066, dazu EWiR 2016, 423 (Vetter). 48) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 45; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 97; Zieglmeier, ZGR 2007, 144, 158; s. a. OLG München, Urt. v. 14.3.2012 – 7 U 681/11, ZIP 2012, 1671: ein Verstoß gegen das Gebot der Offenheit gegenüber dem Aufsichtsrat vermag die Abberufung eines Vorstandsmitglieds nach § 84 Abs. 3 zu rechtfertigen. 49) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 9; Veil, ZHR 172 (2008) 239, 242; s. auch Spindler in: BeckOGKAktR, § 116 AktG Rz. 120. 50) Begr. RegE TransPuG, BT-Drucks. 14/8769, S. 18. 51) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 9; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 52 und Rz. 54; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 116 AktG Rz. 120. 52) BGH, Urt. v. 5.7.1975 – II ZR 156/73 (Bayer), BGHZ 64, 325, 330 und 332 („vor allem die Stimmabgabe und die Stellungnahme anderer Aufsichtsratsmitglieder“); BGH, Beschl. v. 14.1.2014 – II ZB 5/12, Rz. 76 f., ZIP 2014, 671, 678, dazu EWiR 2014, 309 (Bungert/de Raet); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13.7.2015 – I-26 W 16/14, ZIP 2015, 1779, 1781; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 63; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 6 Rz. 266 f. 53) BGH, Urt. v. 26.4.2016 – XI ZR 108/15, Rz. 32, ZIP 2016, 1063, 1066; BGH, Urt. v. 26.4.2016 – XI ZR 110/15, Rz. 31, BKR 2016, 345, 348. 54) BGH, Urt. v. 26.4.2016 – XI ZR 108/15, Rz. 32, ZIP 2016, 1063, 1066; BGH, Urt. v. 26.4.2016 – XI ZR 110/15, Rz. 31, BKR 2016, 345, 348; näher dazu: Mülbert/Sajnovits, NJW 2016, 2540 ff.; ausführlich zur Wissenszurechnung aus dem Aufsichtsrat: Habersack, DB 2016, 1551, 1553 f.; Schwintowski, ZIP 2015, 617 ff.; Koch, ZIP 2015, 1757 ff.; Buck-Heeb, AG 2015, 801 ff. 55) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 252; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 453. 56) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 252, die auch empfehlen gesetzlich zur Verschwiegenheit Verpflichtete nochmals ausdrücklich zur Verschwiegenheit zu verpflichten; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 453.

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Sekretariatsmitarbeiter und hauseigene Experten einsetzt.57) Ihnen können der Verschwiegenheitspflicht unterfallende Informationen mitgeteilt werden; das Aufsichtsratsmitglied muss diese Personen zur Verschwiegenheit verpflichten und trägt die Verantwortung für deren Einhaltung, weshalb das Aufsichtsratsmitglied die Verpflichtung der Mitarbeiter schriftlich dokumentieren und möglichst überprüfen sollte.58) 15 Für Konzernsachverhalte59) ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Verschwiegenheitspflicht (zu den weiteren Pflichten des Aufsichtsrats der Obergesellschaft, siehe § 111 Rz. 13) auch für die Geheimnisse und vertraulichen Angaben der Konzernunternehmen gilt, und zwar auch für ein Aufsichtsratsmitglied, das von einem herrschenden Unternehmen in den Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens gewählt (oder entsandt) wurde, gegenüber dem herrschenden Unternehmen.60) Für den Aufsichtsrat eines abhängigen Unternehmens wird jedoch von der wohl h. M. angenommen, dass dessen Verschwiegenheitspflicht insoweit gelockert ist, als eine Informationsweitergabe an den Vorstand der herrschenden Gesellschaft zulässig ist.61) Hiergegen wird eingewandt, dass die Informationserteilung Sache des Vorstands ist.62) Für die Praxis bietet sich als Ausweg an, dass der Vorstand des abhängigen Unternehmens sein Einverständnis mit der Informationsweitergabe erklärt.63) 16 Die Verschwiegenheitspflicht gilt für Anteilseigner- und Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat gleichermaßen,64) es gibt keine gespaltene Vertraulichkeit.65) Sie ist abschließend geregelt und darf durch Regelungen in der Satzung oder Geschäftsordnung weder abgemildert noch verschärft werden.66) Zulässig sind jedoch das Gesetz erläuternde Hinweise bzw. Richtlinien.67) Die Aufsichtsratsmitglieder verfügen über keinen Beurteilungsspielraum bei der Frage, ob eine Information nach § 116 geheimhaltungspflichtig ist. Entscheidend ist die objektiv am Interesse der Gesellschaft ausgerichtete Beurteilung,68) die ge_____________ 57) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 253; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 454. 58) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 10; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 454. 59) Ausführlich zum Aufsichtsrat im Konzern: Lutter, AG 2006, 517 ff.; Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995) 325 ff. 60) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 6 Rz. 281; Spindler/Stilz-Spindler, AktG, § 116 Rz. 121; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 462 f.; Habersack in: MünchKommAktG, § 116 Rz. 57; s. a. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 12. 61) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 6 Rz. 282; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 12; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 107 Rz. 42, K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 116 Rz. 37 (soweit es der einheitlichen Leitung des Konzerns dient); a. A.: Habersack in: MünchKommAktG, § 116 Rz. 57; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 463. 62) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 57; Habersack, DB 2016, 1551, 1554; dies konzediert grundsätzlich auch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 12; s. a. BGH, Urt. v. 26.4.2016 – XI ZR 108/15, Rz. 35, ZIP 2016, 1063, 1067: Allein der Vorstand ist „Herr der Geschäftsgeheimnisse“. 63) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 12; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 107 Rz. 42 (Fn. 141); Spindler in: BeckOGK-AktR, § 116 AktG Rz. 103. 64) Zur partiellen Durchbrechung durch § 394 AktG zugunsten der Vertreter von Gebietskörperschaften: Spindler, ZIP 2011, 689, 691 ff.; zu Rechtsanwälten im Aufsichtsrat und dem auch dann geltenden Vorrang der aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflicht: Ziemons, ZGR 2016, 839, 855 f. 65) OLG Stuttgart, Beschl. v. 7.11.2006 – 8 W 388/06, AG 2007, 218, 219; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 58; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 416. 66) BGH, Urt. v. 5.6.1975 – II ZR 156/73 (Bayer), BGHZ 64, 325, 326 f. = NJW 1975, 1412. 67) BGH, Urt. v. 5.6.1975 – II ZR 156/73 (Bayer), BGHZ 64, 325, 328 = NJW 1975, 1412, 1413; s. dazu: Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 67 f.; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 116 AktG Rz. 124. 68) BGH, Urt. v. 5.6.1975 – II ZR 156/73 (Bayer), BGHZ 64, 325, 329 = NJW 1975, 1412, 1413; OLG Stuttgart, Beschl. v. 7.11.2006 – 8 W 388/06, AG 2007, 218, 219; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 50; Veil, ZHR 172 (2008) 239, 244.

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Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder

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richtlich voll nachprüfbar ist.69) Da es nicht disponibel ist, welche Informationen der Geheimhaltungspflicht unterliegen, ist auch eine im Vorhinein erklärte bereichsweite Befreiung eines Aufsichtsratsmitglieds weder ausdrücklich noch konkludent möglich.70) Die Offenlegung von Informationen, die der Verschwiegenheitspflicht unterfallen, kann 17 in bestimmten (Konflikt-)Situationen im Interesse der Gesellschaft sein.71) Da die Weitergabe von Informationen und die Informationspolitik Aufgaben des Vorstands sind, wird angenommen, dass dieser auch für die Entscheidung über die Offenlegung zuständig ist.72) Allein dem Vorstand als „Herrn der Geschäftsgeheimnisse“73) soll es obliegen, im Einzelfall nach sorgfältiger Interessenabwägung für eine Offenlegung zu optieren und vertrauliche Angaben oder Geheimnisse öffentlich zu machen.74) Der BGH geht jedoch auch davon aus, dass der Aufsichtsrat sich von der Verschwiegenheitspflicht des § 116 Satz 2 „in gewissen Grenzen“ selbst befreien kann.75) Diese Kompetenz ist dem Aufsichtsrat als Gesamtorgan zuzubilligen, wenn die Geheimnisse in seine Sphäre fallen, weshalb etwa die Frage der Offenlegung von Aufsichtsratsprotokollen von ihm zu entscheiden ist.76) Die Verschwiegenheitspflicht gilt unbefristet, d. h. auch nach Ausscheiden aus dem Auf- 18 sichtsrat darf das (ehemalige) Aufsichtsratsmitglied die während seiner Amtszeit erlangten Informationen nicht preisgeben.77) Nach dem Ausscheiden ist das Aufsichtsratsmitglied verpflichtet, alle in seinem Besitz befindlichen Geschäftsunterlagen (einschließlich Duplikate und Kopien) zurückzugeben78) (siehe dazu auch § 107 Rz. 15). Sollte die Gesellschaft das ausgeschiedene Aufsichtsratsmitglied wegen einer Pflichtverletzung in Anspruch nehmen, muss die Gesellschaft ihm Einsicht in die dafür maßgeblichen Unterlagen gewähren79) (entsprechend § 810 BGB)80). Spezialgesetzliche Grenzen der Verschwiegenheitspflicht für Vertreter von Gebietskör- 19 perschaften enthalten die §§ 394, 395.81) Im Rahmen der Aktienrechtsnovelle 2016 wurde _____________ 69) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 11 a. E.; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 53; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 62. 70) BGH, Urt. v. 26.4.2016 – XI ZR 108/15, Rz. 34, ZIP 2016, 1063, 1067; BGH, Urt. v. 26.4.2016 – XI ZR 110/15, Rz. 33, BKR 2016, 348. 71) Ausführlich dazu: Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 471 ff.; s. a. Lutter/Krieger/ Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 6 Rz. 283. 72) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 6 Rz. 284; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 62 (u. U. nach Einholung der Zustimmung des Aufsichtsrats). 73) BGH, Urt. v. 5.6.1975 – II ZR 156/73 (Bayer), BGHZ 64, 325, 329 = NJW 1975, 1412, 1413. 74) BGH, Urt. v. 26.4.2016 – XI ZR 110/15, Rz. 34, BKR 2016, 345, 348. 75) BGH, Urt. v. 23.4.2012 – II ZR 163/10, Rz. 40, BGHZ 193, 110 = ZIP 2012, 1291, 1294, dazu EWiR 2012, 437 (Bross); s. a. BGH, Urt. v. 19.2.2013 – II ZR 56/12, Rz. 30, ZIP 2013, 720, 723, dazu EWiR 2013, 333 (Schatz); ausführlich und kritisch zu diesen Entscheidungen insoweit: Wilsing/v. d. Linden, ZHR 178 (2014) 419, 426 ff. 76) Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 226; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 116 AktG Rz. 109; ähnlich Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 62 (nach Maßgabe der funktionalen Zuständigkeit des Aufsichtsrats). 77) BGH, Beschl. v. 7.7.2008 – II ZR 71/07, Rz. 4, ZIP 2008, 1821; OLG Koblenz, Beschl. v. 5.3.1987 – 6 W 38/87, WM 1987, 480, 481 = ZIP 1987, 637; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 15 und Rz. 50; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 116 AktG Rz. 115. 78) BGH, Beschl. v. 7.7.2008 – II ZR 71/07 (Metro), Rz. 3, 7, ZIP 2008, 1821, 1822, dazu EWiR 2008, 737 (Paul); Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 15 und Rz. 50; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 116 AktG Rz. 115; kritisch dazu Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 857. 79) BGH, Beschl. v. 7.7.2008 – II ZR 71/07 (Metro), Rz. 5, ZIP 2008, 1821, 1822; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 25.9.1979 – 5 U 210/78, DB 1979, 2476 f.; s. a. Hauptmann, AG 2017, 329, 335. 80) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 25.9.1979 – 5 U 210/78, DB 1979, 2476 f.; näher dazu Foerster, ZHR 176 (2012) 221, 232 f. 81) Näher dazu: Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 278; Mann, AG 2018, 57 ff.; Ziegelmeier, ZGR 2007, 144, 159 ff.

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§ 116

Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder

ein neuer Satz 3 in § 394 eingefügt.82) Danach kann die Berichtspflicht, die nach § 394 Satz 1 dazu führt, dass diese Aufsichtsratsmitglieder keiner Verschwiegenheitspflicht unterliegen, auf Gesetz, Satzung oder dem Aufsichtsrat in Textform mitgeteilten Rechtsgeschäft beruhen (zu den Einzelheiten siehe § 394 Rz. 8 ff.) IV.

Schadensersatzpflicht

20 Verletzen Aufsichtsratsmitglieder ihre Pflichten, so sind sie gemäß § 116 Satz 1 i. V. m. § 93 Abs. 2 als Gesamtschuldner der Gesellschaft zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. Die in § 116 Satz 1 vorgesehene sinngemäße Anwendung des § 93 gilt auch für die Haftung der Aufsichtsratsmitglieder. Auf die Ausführungen zur Haftung der Vorstandsmitglieder wird daher insoweit verwiesen (siehe § 93 Rz. 63 ff.). Die Grundlage der Haftung eines Aufsichtsratsmitglieds ist ein Pflichtverstoß, der in der Missachtung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Aufsichtsratsmitglieds liegt.83) Die Aufsichtsratsmitglieder haften, wenn sie ihre Aufgabe als ordentlicher Überwacher nicht ausfüllen.84) Sie sind auch verpflichtet, eigenverantwortlich das Bestehen von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern zu prüfen und, soweit die gesetzlichen Voraussetzungen dafür vorliegen, solche unter Beachtung des Gesetzes- und Satzungsrechts und der von ihm vorgegebenen Maßstäbe zu verfolgen.85) Wird diese Anspruchsverfolgungspflicht nicht erfüllt, kann hieraus eine Schadensersatzpflicht nach § 116 Satz 1, § 93 Abs. 2 Satz 1 resultieren.86) Für die Aufsichtsratsmitglieder gilt auch § 93 Abs. 1 Satz 2 und damit die dort kodifizierte „Business Judgement Rule“ (siehe dazu § 93 Rz. 22 ff.), soweit der Aufsichtsrat eine unternehmerische Entscheidung trifft.87) Hier sind etwa die Zustimmung zu zustimmungspflichtigen Geschäften nach § 111 Abs. 4 Satz 288) und die Personalentscheidungen des Aufsichtsrats (Auswahl der Vorstandsmitglieder)89) sowie die Festsetzung der Vorstandsbezüge90) zu nennen. Eine unternehmerische Entscheidung liegt dagegen nicht vor, wenn der Aufsichtsrat nach den Grundsätzen

_____________ 82) 83) 84) 85) 86) 87)

88) 89)

90)

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S. dazu Harbarth/v. Plettenberg, AG 2016, 145, 154; Ihrig/Wandt, BB 2016, 6, 13 f. OLG München, Urt. v. 8.7.2015 – 7 U 3130/14, ZIP 2015, 2472, 2476. OLG München, Urt. v. 8.7.2015 – 7 U 3130/14, ZIP 2015, 2472, 2476. BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95 (ARAG/Garmenbeck), BGHZ 135, 244, 252 = ZIP 1997, 883, 885; BGH, Urt. v. 18.9.2018 – II ZR 152/17 (Easy Software), Rz. 14, ZIP 2018, 2117, 2118. BGH, Urt. v. 18.9.2018 – II ZR 152/17 (Easy Software), Rz. 14, ZIP 2018, 2117, 2118; s. dazu Löbbe/ Lüneborg, Der Konzern 2019, 53, 54 ff. OLG München, Urt. v. 8.7.2015 – 7 U 3130/14, ZIP 2015, 2472, 2476; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 116 Rz. 11; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 39 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 5; Raiser/Veil, KapG, § 15 Rz. 93; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 87. Lutter, ZIP 1995, 441, 442; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 41; Semler/v. Schenckv. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 304. Lutter, ZIP 1995, 441, 442; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 41; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 88; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 304; s. a. OLG München, Urt. v. 12.1.2017 – 23 U 3582/16, ZIP 2017, 372, 374, dazu EWiR 2017, 233 (Goslar): „breites, eigenes unternehmerisches Ermessen“ des Aufsichtsrats bei der Entscheidung über die Bestellung. BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04 (Mannesmann), BGHSt 50, 331, 332 = NJW 2006, 522, 523; Fleischer, BB 2010, 67, 70; Ihrig/Wandt/Wittgens, ZIP Beilage z. Heft 40/2012, S. 1, 29 (innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens); Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 33 Rz. 88; Semler/ v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 304 und Rz. 524; a. A. Habersack in: MünchKommAktG, § 116 Rz. 41; das LG München I, Beschl. v. 29.3.2007 – 5 HK O 12931/06, AG 2007, 458 = ZIP 2007, 1664, dazu EWiR 2007, 481 (Kort), geht von einem weiten Beurteilungs- und Ermessensspielraum des Aufsichtsrats bei der Beurteilung der Angemessenheit der Vorstandsbezüge aus.

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Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder

§ 116

der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung des BGH91) zur Verfolgung von Ersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder verpflichtet ist92) (siehe dazu § 111 Rz. 9). § 116 Satz 3 hebt die Schadensersatzpflicht der Aufsichtsratsmitglieder bei Festsetzung 21 einer unangemessenen Vergütung (Verstoß gegen § 87 Abs. 1) deklaratorisch hervor.93) Die angemessene Festsetzung der Vorstandsvergütung gehörte auch vor Einfügung dieser Norm durch das VorstAG94) bereits zu den Organpflichten des Aufsichtsrats.95) Die Pflichten des Aufsichtsrats bei der Festsetzung der Vorstandsvergütung ergeben sich aus § 87 Abs. 1 (siehe dazu § 87 Rz. 4 ff.) und (bei börsennotierten Gesellschaften) auch aus § 87a (siehe dazu § 87a Rz. 1 und Rz. 19 ff.) eine Billigung oder Nichtbilligung des Vergütungssystems nach § 120a Abs. 1 lässt eine etwaige Haftung des Aufsichtsrats unberührt.96) Da § 116 Satz 3 nur deklaratorische Bedeutung hat, bleibt eine Haftung für Sorgfaltspflichtverletzungen bei der Vergütungsherabsetzung nach § 87 Abs. 2 (obwohl in § 116 Satz 3 nicht erwähnt) unberührt; sie ergibt sich aus §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2.97) Die Ersatzpflicht nach §§ 116, 93 besteht nur gegenüber der Gesellschaft (Innenhaf- 22 tung). Eine Haftung des Aufsichtsratsmitglieds kann sich auch speziellen Haftungsvorschriften (§ 117 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, konzernrechtliche Haftung nach §§ 310, 318 Abs. 2, 323 Abs. 1 Satz 2). Eine (unmittelbare) Haftung gegenüber Aktionären, Gläubigern oder Dritten (Außenhaftung) kann sich etwa aus § 117 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 sowie aus Deliktsrecht (insbesondere nach §§ 826, 830 BGB) ergeben.98) Letzteres kommt auch in Betracht, wenn der Aufsichtsrat vorsätzlich strafbares oder sittenwidriges Handeln des Vorstands veranlasst oder unterstützt.99) Die Haftung der Aufsichtsratsmitglieder nach §§ 116, 93 ist zwingend; die Gesellschaft 23 kann weder im Vorhinein auf die Haftung verzichten noch sie mildern.100) Ein nachträglicher Verzicht oder Vergleich ist nur unter Beachtung von § 93 Abs. 4 Satz 3 möglich.101) Streitigkeiten über Organhaftungsansprüche sind schiedsfähig.102) _____________ 91) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244, 254 f. = ZIP 1997, 883, 886; s. Helmrich/ Eidam, ZIP 2011, 257 ff. (zu etwaigen strafrechtlichen Aspekten eines Verfolgungsverzichts). 92) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 42 (allerdings komme dem Aufsichtsrat insoweit ein gewisser Beurteilungsspielraum zu, als er zu prüfen habe, ob Interessen der Gesellschaft den Verzicht auf die Anspruchsverfolgung rechtfertigen); Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 5; a. A. Semler/ v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 308. 93) Ihrig/Wandt/Wittgens, ZIP Beilage z. Heft 40/2012, S. 1, 29 (innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens); Seibert, WM 2009, 1489, 1491; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 18. 94) Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG) v. 31.7.2009, BGBl. I, 2015, 2509, ausführlich dazu Hoffmann-Becking/Krieger, NZG Beil. zu Heft 26/2009, S. 1 ff.; Ihrig/Wandt/Wittgens, ZIP Beilage z. Heft 40/2012, S. 2 ff. 95) Annuß/Theusinger, BB 2009, 2434, 2440; ausführlich zu den Voraussetzungen für die Gewährung von Sondervergütungen unter Berücksichtigung des Mannesmann-Urteils: Säcker/Boesche, BB 2006, 897 ff. 96) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 93; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 120a Rz. 5; Schick/Voß, WPg 2019, 945, 948. 97) Spindler in: BeckOGK-AktR, § 116 AktG Rz. 60; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 18. 98) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 14; ausführlich dazu: Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 75 ff.; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 740 ff.; ausführlich zu den Ansprüchen aus Deliktsrecht: Spindler in: BeckOGK-AktR, § 116 AktG Rz. 232 ff. 99) OLG Düsseldorf, Urt. v. 23.6.2008 – I-9 U 22/08, ZIP 2008, 1922, 1923; K. Schmidt/Lutter-Drygala, AktG, § 116 Rz. 50; kritisch dazu Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 116 Rz. 14. 100) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 4; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 22. 101) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 13 Rz. 1023; Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 4; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 16 und Rz. 22; hier ist als Beispiel etwa der Siemens/ Neubürger-Vergleich zu nennen, dem die Hauptversammlung der Siemens AG am 27.1.2015 zustimmte, näher dazu Bayer/Scholz, ZIP 2015, 149 ff. 102) Habersack in: MünchKomm-AktG, § 116 Rz. 4; Hopt/Roth, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 22.

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§ 117 V.

Schadenersatzpflicht Verjährung

24 Ersatzansprüche aus Sorgfaltspflichtverletzungen gegen Aufsichtsratsmitglieder verjähren nach §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 6 in fünf Jahren, bei börsennotierten Gesellschaften (und Kreditinstituten, § 52a Abs. 1 KWG) in zehn Jahren (maßgeblich ist die Börsennotierung im Zeitpunkt der Pflichtverletzung).103) Die Verjährung beginnt gemäß § 200 Satz 1 BGB mit der Entstehung des Anspruchs.104) Besteht die Pflichtverletzung darin, dass der Aufsichtsrat Ersatzansprüche gegen den Vorstand verjähren lässt, so beginnt nach der „EasySoftware-Entscheidung“ des BGH die Verjährung erst, wenn die Ersatzansprüche gegen den Vorstand (nach fünf oder zehn Jahren) verjährt sind.105) _____________ 103) Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 714; Spindler in: BeckOGK-AktR, § 116 AktG Rz. 187. 104) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, § 13 Rz. 1023; Semler/v. Schenck-v. Schenck, Der Aufsichtsrat, § 116 Rz. 719. 105) BGH, Urt. v. 18.9.2018 – II ZR 152/17, Rz. 17 ff., ZIP 2018, 2117, 2118 ff.; s. dazu Spindler in: BeckOGK-AktR, § 116 AktG Rz. 194; Löbbe/Lüneborg, Der Konzern 2019, 53, 56 ff.; ablehnend Goj, ZIP 2019, 447, 451 ff.

Dritter Abschnitt Benutzung des Einflusses auf die Gesellschaft § 117 Schadenersatzpflicht Dirk Kocher

(1) 1Wer vorsätzlich unter Benutzung seines Einflusses auf die Gesellschaft ein Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsrats, einen Prokuristen oder einen Handlungsbevollmächtigten dazu bestimmt, zum Schaden der Gesellschaft oder ihrer Aktionäre zu handeln, ist der Gesellschaft zum Ersatz des ihr daraus entstehenden Schadens verpflichtet. 2Er ist auch den Aktionären zum Ersatz des ihnen daraus entstehenden Schadens verpflichtet, soweit sie, abgesehen von einem Schaden, der ihnen durch Schädigung der Gesellschaft zugefügt worden ist, geschädigt worden sind. (2) 1Neben ihm haften als Gesamtschuldner die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats, wenn sie unter Verletzung ihrer Pflichten gehandelt haben. 2Ist streitig, ob sie die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewandt haben, so trifft sie die Beweislast. 3Der Gesellschaft und auch den Aktionären gegenüber tritt die Ersatzpflicht der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats nicht ein, wenn die Handlung auf einem gesetzmäßigen Beschluß der Hauptversammlung beruht. 4 Dadurch, daß der Aufsichtsrat die Handlung gebilligt hat, wird die Ersatzpflicht nicht ausgeschlossen. (3) Neben ihm haftet ferner als Gesamtschuldner, wer durch die schädigende Handlung einen Vorteil erlangt hat, sofern er die Beeinflussung vorsätzlich veranlaßt hat. (4) Für die Aufhebung der Ersatzpflicht gegenüber der Gesellschaft gilt sinngemäß § 93 Abs. 4 Satz 3 und 4. (5) 1Der Ersatzanspruch der Gesellschaft kann auch von den Gläubigern der Gesellschaft geltend gemacht werden, soweit sie von dieser keine Befriedigung erlangen können. 2Den Gläubigern gegenüber wird die Ersatzpflicht weder durch einen Verzicht oder Vergleich der Gesellschaft noch dadurch aufgehoben, daß die Handlung auf einem

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Dirk Kocher

§ 117

Schadenersatzpflicht

Beschluß der Hauptversammlung beruht. 3Ist über das Vermögen der Gesellschaft das Insolvenzverfahren eröffnet, so übt während dessen Dauer der Insolvenzverwalter oder der Sachwalter das Recht der Gläubiger aus. (6) Die Ansprüche aus diesen Vorschriften verjähren in fünf Jahren. (7) Diese Vorschriften gelten nicht, wenn das Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsrats, der Prokurist oder der Handlungsbevollmächtigte durch Ausübung 1. der Leitungsmacht auf Grund eines Beherrschungsvertrags oder 2. der Leitungsmacht einer Hauptgesellschaft (§ 319), in die die Gesellschaft eingegliedert ist, zu der schädigenden Handlung bestimmt worden ist. Literatur: Hoffmann, Grenzen der Einflussnahme auf Unternehmensleitungsentscheidungen durch Kreditgläubiger, WM 2012, 10; Kocher, Strategien im Umgang mit aktivistischen Aktionären und Investoren in Deutschland, DB 2016, 2887; Prütting, Der Vermögensschutz von Gesellschaften gegenüber externer Einflussnahme – geprüft am Beispiel der GmbH, ZGR 2015, 849; Redeke, Zur Verlängerung der Verjährungsfristen für Organhaftungsansprüche, BB 2010, 910; Schockenhoff/Culmann, Shareholder Activism in Deutschland, ZIP 2015, 297; Thaeter/Guski, Shareholder Activism: Gesellschaftsrechtliche Schranken aktiven Aktionärsverhaltens, AG 2007, 301; Ulmer, Das Sonderrecht der §§ 311 ff. AktG und sein Verhältnis zur allgemeinen aktienrechtlichen Haftung für Schädigungen der AG, in: Festschrift für Uwe Hüffer, 2010, S. 999.

Übersicht I. Bedeutung und Rechtsnatur ............ 1 II. Haftung wegen schädigender Beeinflussung (§ 117 Abs. 1) ............ 3 1. Benutzung von Einfluss ..................... 3 2. Schaden der Gesellschaft und/oder von Aktionären ................................... 4 3. Rechtswidrigkeit und Vorsatz ........... 5 4. Rechtsdurchsetzung ........................... 7 III. Mithaftung (§ 117 Abs. 2, Abs. 3) ................................................. 8 I.

1. Der Verwaltung (§ 117 Abs. 2) ......... 8 2. Des Nutznießers (§ 117 Abs. 3) ............................................... 10 IV. Haftungsmodalitäten (§ 117 Abs. 4, Abs. 6) ....................... 11 1. Verzicht/Vergleich (§ 117 Abs. 4) ............................................... 11 2. Verjährung (§ 117 Abs. 6) ............... 12 V. Ausnahmen (§ 117 Abs. 7) ............. 13 VI. Konkurrenzen ................................. 14

Bedeutung und Rechtsnatur

Die praktische Bedeutung der Norm ist verschwindend,1) obgleich versucht wird, einen 1 gegenüber dem Konzernrecht eigenständigen Anwendungsbereich zu erschließen.2) Überwiegend wird § 117 dem Deliktsrecht zugeordnet,3) mit der Folge, dass §§ 393, 830, 2 840 BGB Anwendung finden.4) Schutzzweck ist der Schutz des Gesellschaftsvermögens _____________ 1)

2)

3)

4)

Vgl. Schall in: BeckOGK-AktR, § 117 AktG Rz. 1; Schockenhoff/Culmann, ZIP 2015, 297, 307; Thaeter/ Guski, AG 2007, 301, 304. Für analoge Anwendung von Abs. 1 auf die GmbH Prütting, ZGR 2015, 849, 868 ff. So für ausländische, in Deutschland notierte Kapitalgesellschaften (etwa britische PLCs) i. S. eines „Sonderkonzernrechts“ und zur denkbaren Erstreckung auf andere Kapitalgesellschaftsformen i. S. eines „Auffangkonzernrechts“ Schall in: BeckOGK-AktR, § 117 AktG Rz. 33, 34. BGH, Urt. v. 22.6.1992 – II ZR 178/90, ZIP 1992, 1464, 1471; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 117 Rz. 3; Kort in: GroßKomm-AktG, § 117 Rz. 19 und Rz. 94 f.; a. A. Voigt, Haftung aus Einfluss auf die Aktiengesellschaft (§§ 117, 309, 317 AktG), S. 80 ff. – Haftung aus Sonderverbindung in Form einer organhaftungsähnlichen Verantwortlichkeit des Einflussnehmers. Bürgers/Körber/Lieder-Israel, AktG, § 117 Rz. 1; K. Schmidt/Lutter-Witt, AktG, § 117 Rz. 2; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 117 Rz. 5.

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§ 117

Schadenersatzpflicht

und des Aktionärsvermögens5) sowie die Autonomie der Willensbildung in der Gesellschaft.6) II.

Haftung wegen schädigender Beeinflussung (§ 117 Abs. 1)

1.

Benutzung von Einfluss

3 Unter „Einfluss auf die Gesellschaft“ versteht man eine rechtliche oder tatsächliche Machtstellung, die zur Durchsetzung gesellschaftsfremder Interessen geeignet ist,7) unabhängig davon, woraus diese entspringt.8) Der mögliche Täterkreis beschränkt sich nicht auf Gesellschafter; auch Organe, Funktionsträger und Repräsentanten der Arbeitnehmer der Gesellschaft, Kreditgeber,9) Lieferanten,10) und sonstige Gläubiger, politische Amtsinhaber oder dem Organmitglied/leitenden Angestellten persönlich verbundene Individuen sind tauglich.11) Sowohl juristische als auch natürliche Personen kommen in Betracht.12) In jüngster Zeit wird das Thema im Zusammenhang mit aktivistischen Aktionären diskutiert, ist auch dort aber nur in seltenen Extremfällen einschlägig.13) Der Einfluss muss im Sinne einer Instrumentalisierung der Machtstellung benutzt werden.14) Regelfall ist die Einflussnahme auf einzelne Verwaltungsmitglieder15) oder auf das gesamte Organ.16) Die Einflussnahmehandlung muss zumindest mitursächlich werden für das Handeln der Organmitglieder, Prokuristen oder Handlungsbevollmächtigten. Sie erfordert kein missbräuchliches oder verwerfliches Verhalten,17) das über die Rechtswidrigkeit (siehe unten Rz. 5) hinausgeht. 2.

Schaden der Gesellschaft und/oder von Aktionären

4 Die Einflussnahme muss kausal werden für einen nach dem allgemeinen Schadensrecht zu ermittelnden Schaden bei der Gesellschaft (§ 117 Abs. 1 Satz 1) und/oder den Aktionären (§ 117 Abs. 1 Satz 2),18) bei letzteren jedoch nur, soweit er über den durch Wertverlust der Aktien verursachten Schaden hinausgeht.19)

_____________ 5) Allg. M., vgl. nur Schall in: BeckOGK-AktR, § 117 AktG Rz. 5 m. w. N. 6) K. Schmidt/Lutter-Witt, AktG, § 117 Rz. 1. 7) Allg. M., vgl. etwa Heidel-Kleinertz/Walchner, AktR, § 117 AktG Rz. 5; Spindler in: MünchKommAktG, § 117 Rz. 10. 8) Vgl. K. Schmidt/Lutter-Witt, AktG, § 117 Rz. 6; ausführlich Spindler in: MünchKomm-AktG, § 117 Rz. 16 ff. 9) Hoffmann, WM 2012, 10, 13. 10) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 117 Rz. 3. 11) K. Schmidt/Lutter-Witt, AktG, § 117 Rz. 6; zur umstrittenen Frage, ob weisungsabhängig handelnde Angestellte Täter sein können ablehnend Kort in: GroßKomm-AktG, § 117 Rz. 102, da sie nicht „[w]er“ i. S. der Norm, sondern nur ein Werkzeug, seien, mit einschränkendem Verweis auf haftungsrechtliche Privilegierungen im Außenverhältnis; bejahend Spindler in: MünchKomm-AktG, § 117 Rz. 11. 12) Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, AktG, § 117 Rz. 9; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 117 Rz. 10. 13) Schockenhoff/Culmann, ZIP 2015, 297, 307; Thaeter/Guski, AG 2007, 301 ff.; Kocher, DB 2016, 2887, 2889. 14) Kort in: GroßKomm-AktG, § 117 Rz. 128; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 117 Rz. 3. 15) Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, AktG, § 117 Rz. 10; Schall in: BeckOGK-AktR, § 117 AktG Rz. 17. 16) Damit geht die Beeinflussung einzelner Organmitglieder einher, vgl. Spindler in: MünchKomm-AktG, § 117 Rz. 21; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 117 Rz. 4. 17) Hölters-Leuering/Goertz, AktG, § 117 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Witt, AktG, § 117 Rz. 7. 18) Henssler/Strohn-Henssler, GesR, § 117 AktG Rz. 2; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 117 Rz. 30. 19) BGH, Urt. v. 4.3.1985 – II ZR 271/83, ZIP 1985, 607, 607.

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§ 117

Schadenersatzpflicht 3.

Rechtswidrigkeit und Vorsatz

Es ist umstritten, ob die Rechtswidrigkeit der Einflussnahme durch die Tatbestandsmä- 5 ßigkeit indiziert wird20) oder ob sie gesondert festzustellen ist.21) Letztgenannter Auffassung ist zu folgen, da bei offenen Tatbeständen die Rechtswidrigkeit stets im Wege einer besonderen Wertung ermittelt werden muss.22) Es soll eine umfassende Interessenabwägung stattfinden. Gegenüberzustellen sind auf der einen Seite die Vermögensinteressen der Gesellschaft bzw. ihrer Aktionäre sowie auf der anderen Seite sonstige Gesellschafts- und Unternehmensbelange.23) Die Rechtswidrigkeit entfällt regelmäßig, wenn sich das beeinflusste Verwaltungsmitglied oder -organ pflichtgemäß verhalten hat. Zu seinen Gunsten, nicht aber zu denjenigen des Einflussnehmenden, findet die Business Judgement Rule Anwendung.24) Die Rechtswidrigkeit kann sich jedoch selbst bei pflichtgemäßem Handeln des Beeinflussten daraus ergeben, dass die Art und Weise der Einflussnahme missbräuchlich oder verwerflich ist.25) Der subjektive Tatbestand erfordert Vorsatz – dolus eventualis genügt – bzgl. aller objek- 6 tiven Tatbestandsmerkmale. Der in Absatz 1 geforderte Vorsatz muss das Wissen, Einfluss auf die Gesellschaft zu haben, den Willen, diesen Einfluss zur Bestimmung des Verwaltungsmitglieds zu einem Handeln oder Unterlassen zu benutzen, und das Bewusstsein, dass dieses Handeln oder Unterlassen objektiv gegen die Pflichten des verleiteten Verwaltungsmitglieds verstößt, umfassen. Wissen um die Pflichtwidrigkeit des Verwaltungshandelns begrenzt die Haftung insbesondere in den Fällen, in denen der Einflussnehmer berechtigte eigene Interessen verfolgt.26) Die Beweislast liegt beim Anspruchssteller, eine Beweislastumkehr wie in § 117 Abs. 2 Satz 2 ist nicht vorgesehen. Einige Stimmen plädieren in Ausnahmefällen für eine Vermutung des Schädigungsvorsatzes, wenn beim Einflussnehmenden eine Vorteilserlangung in Höhe des Schadens der Gesellschaft gegeben ist.27) Dies ist jedoch zu pauschal. 4.

Rechtsdurchsetzung

Ersatzansprüche der Gesellschaft sind vom Vorstand geltend zu machen, soweit sie sich 7 nicht (auch) gegen den Vorstand richten; insoweit ist der Aufsichtsrat zuständig (§ 112).28) Soweit diese Organe nicht tätig werden, können die Aktionäre nach §§ 147, 148 vorge_____________ 20) Kort in: GroßKomm-AktG, § 117 Rz. 154, welchem zufolge die Rechtswidrigkeit der Einflussnahme durch eine pflichtwidrige Handlung des Beeinflussten indiziert wird; Schall in: BeckOGK-AktR, § 117 AktG Rz. 22 f.; mit Einschränkungen Spindler in: MünchKomm-AktG, § 117 Rz. 31 m. w. N. 21) So etwa Hoffmann, WM 2012, 10, 13; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 117 Rz. 6 m. w. N. Hier ist noch streitig, ob eine solche Feststellung stets erforderlich ist oder nur in Fällen, in denen dem handelnden Organmitglied/leitenden Angestellten keine Pflichtwidrigkeit vorgeworfen werden kann, vgl. auch K. Schmidt/Lutter-Witt, AktG, § 117 Rz. 10; Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, AktG, § 117 Rz. 10 ff., die die Pflichtwidrigkeit als zusätzliches Tatbestandsmerkmal einordnen. 22) Vgl. nur Grüneberg-Sprau, BGB, § 823 Rz. 25. 23) Schall in: BeckOGK-AktR, § 117 AktG Rz. 23; für eine Gleichstellung mit dem Treuepflichtmaßstab für die uneigennützige Rechtsausübung Gröntgen, Operativer shareholder activism, S. 102. 24) Allg. M., vgl. etwa Kort in: GroßKomm-AktG, § 117 Rz. 153; Schall in: BeckOGK-AktR, § 117 AktG Rz. 24; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 117 Rz. 34. 25) Kort in: GroßKomm-AktG, § 117 Rz. 155; Hölters-Leuering/Goertz, AktG, § 117 Rz. 6; ungeachtet der Einordnung der Pflichtwidrigkeit als zusätzliches Tatbestandsmerkmal so auch Grigoleit-Grigoleit/ Tomasic, AktG, § 117 Rz. 11. 26) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 117 Rz. 40. 27) Kort in: GroßKomm-AktG, § 117 Rz. 162; K. Schmidt/Lutter-Witt, AktG, § 117 Rz. 13; für eine Vermutung im Einzelfall, nicht dagegen generell Hölters-Leuering/Goertz, AktG, § 117 Rz. 10; Mertens/ Cahn in: KölnKomm-AktG, § 117 Rz. 24; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 117 Rz. 43. 28) Vgl. statt aller K. Schmidt/Lutter-Witt, AktG, § 117 Rz. 20.

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§ 117

Schadenersatzpflicht

hen.29) Hat ein Aktionär einen unmittelbaren Anspruch nach § 117 Abs. 1 Satz 2, so kann er direkt gegen den Einflussinhaber vorgehen.30) Nach § 117 Abs. 5 können Gläubiger den Ersatzanspruch der Gesellschaft geltend machen, wenn sie gegenüber der Gesellschaft ausfallen. III.

Mithaftung (§ 117 Abs. 2, Abs. 3)

1.

Der Verwaltung (§ 117 Abs. 2)

8 Neben dem Einflussnehmenden haften die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats gesamtschuldnerisch (§ 421 BGB), wenn sie ihre Pflichten verletzt haben, sich nicht exkulpieren können (§ 117 Abs. 2 Satz 2) und ihr Handeln nicht auf einem gesetzmäßigen Hauptversammlungsbeschluss beruht (§ 117 Abs. 2 Satz 3). Eine Billigung des Aufsichtsrats ist unbeachtlich (§ 117 Abs. 2 Satz 4). Eine Freistellung von der Haftung gemäß § 117 Abs. 2 im Anstellungsvertrag oder in der Satzung scheidet parallel zur Unmöglichkeit der Haftungsfreistellung bei Vorstandspflichtverletzungen aus.31) Beim Fehlen einer Haupttat (etwa für den Fall fehlenden Vorsatzes beim Einflussnehmer) wird die Mithaftung des vorsätzlich handelnden Verwaltungsmitglieds im Wege einer teleologischen Extension der Vorschrift erwogen, um die beim Wegfall der Haupttat ansonsten entstehende Haftungslücke zu schließen.32) 9 Die Voraussetzungen der Mithaftung entsprechen denen der §§ 93, 116, sodass die Norm in der Praxis allein i. R. der Ansprüche der Aktionäre gemäß § 117 Abs. 1 Satz 2 relevant ist, deren Voraussetzungen ebenso erfüllt sein müssen.33) Ein Vorteil gegenüber den §§ 93, 116 besteht in der gesamtschuldnerischen Haftung auch des beeinflussten Verwaltungsmitglieds und des Einflussnehmenden. 2.

Des Nutznießers (§ 117 Abs. 3)

10 Die Vorschrift bewirkt eine Verschärfung der Anstifterhaftung nach § 830 Abs. 2 BGB (siehe oben Rz. 2). Der „Vorteil“ muss materieller Natur sein, wobei die Höhe sowie die Stoffgleichheit mit dem Schaden der Gesellschaft irrelevant sind.34) Die „Veranlassung“ setzt voraus, dass vorsätzlich eine Einflussnahme und fahrlässig eine Pflichtwidrigkeit eines Verwaltungsmitglieds samt deren schädigenden Folgen herbeigeführt werden.35) Der Vorsatz muss indes nicht die Erlangung eines Vorteils umfassen.36) Im Gegensatz zu § 830 Abs. 2 BGB besteht die Haftung auch gegenüber den Aktionären (§ 117 Abs. 1 Satz 2). IV.

Haftungsmodalitäten (§ 117 Abs. 4, Abs. 6)

1.

Verzicht/Vergleich (§ 117 Abs. 4)

11 Anwendung finden § 93 Abs. 4 Satz 3 und 4, soweit es um Ersatzansprüche der Gesellschaft (nicht der Aktionäre nach § 117 Abs. 1 Satz 2) geht. _____________ 29) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 117 Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-Witt, AktG, § 117 Rz. 5; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 117 Rz. 48. 30) Zur Abgrenzung von bloßen Reflexschäden und unmittelbaren Schäden der Aktionäre s. Spindler in: MünchKomm-AktG, § 117 Rz. 54. 31) Kort in: GroßKomm-AktG, § 117 Rz. 195; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 117 Rz. 58. 32) Schall in: BeckOGK-AktR, § 117 AktG Rz. 28. 33) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 117 Rz. 10; Schall in: BeckOGK-AktR, § 117 AktG Rz. 27. 34) Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 117 Rz. 27, mit dem Hinweis, der Vorteil brauche kein Sondervorteil i. S. des § 101 Abs. 2 Satz 2 AktG 1937 zu sein. 35) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 117 Rz. 11; Mertens/Cahn in: KölnKomm-AktG, § 117 Rz. 28; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 117 Rz. 63. 36) Kort in: GroßKomm-AktG, § 117 Rz. 221.

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§ 118

Allgemeines 2.

Verjährung (§ 117 Abs. 6)

Verjährung tritt ein nach fünf Jahren ab Anspruchsentstehung, § 200 BGB. Eine Berufung 12 auf Verjährung scheidet aus, wenn der Schuldner die Geltendmachung von Ansprüchen arglistig verhindert hat.37) Die Verjährungsfrist von Organhaftungsansprüchen wurde zwar i. R. von § 93 Abs. 6 für börsennotierte Gesellschaften auf zehn Jahre verlängert,38) nicht aber hinsichtlich der Ansprüche aus § 117. Der Übertragung der Zehn-Jahres-Frist in § 93 Abs. 6 auf § 117 Abs. 6 steht das Gesetzgebungsverfahren entgegen.39) Die Frist des § 117 Abs. 6 wird umgekehrt nicht auf Ansprüche aus Treuepflichtverletzung oder aus allgemeinem Deliktsrecht (§ 823 BGB) angewendet, die gemäß §§ 195, 199 BGB regelmäßig verjähren.40) V.

Ausnahmen (§ 117 Abs. 7)

Eine Haftung nach § 117 ist ausgeschlossen, wenn die Einflussnahme unmittelbar oder 13 mittelbar und rechtmäßig aufgrund Eingliederung oder eines Beherrschungsvertrags (§ 291 Abs. 1) erfolgt.41) VI.

Konkurrenzen

§ 311 verdrängt § 117; das Verhältnis zu § 317 ist umstritten,42) jedoch hat dies praktisch 14 keine Relevanz, da § 317 wesentlich geringere Anforderungen an eine Ersatzpflicht stellt als § 117. § 117 ist neben §§ 823 Abs. 1, 826 BGB und neben §§ 93, 116 anwendbar. Auch eine Haftung aus Treuepflichtverletzung kommt in Betracht, wenn der Einflussinhaber Aktionär der geschädigten Gesellschaft ist. § 117 ist kein Schutzgesetz i. S. des § 823 Abs. 2 BGB.43) _____________ 37) 38) 39) 40) 41) 42) 43)

Heidel-Kleinertz/Walchner, AktR, § 117 AktG Rz. 17; K. Schmidt/Lutter-Witt, AktG, § 117 Rz. 28. Restrukturierungsgesetz v. 9.12.2010, BGBl. I 2010, 1900; vgl. hierzu ausführlich Redeke, BB 2010, 910. K. Schmidt/Lutter-Witt, AktG, § 117 Rz. 28a. Kort in: GroßKomm-AktG, § 117 Rz. 235 f. Hier gelten Sondervorschriften (§§ 300 ff., 322, 324), K. Schmidt/Lutter-Witt, AktG, § 117 Rz. 30. Vgl. zum Streitstand Heidel-Kleinertz/Walchner, AktR, § 117 AktG Rz. 21. Vgl. zum Ganzen K. Schmidt/Lutter-Witt, AktG, § 117 Rz. 32 ff.

Vierter Abschnitt Hauptversammlung Erster Unterabschnitt Rechte der Hauptversammlung § 118 Allgemeines Dirk Kocher

(1) 1Die Aktionäre üben ihre Rechte in den Angelegenheiten der Gesellschaft in der Hauptversammlung aus, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt. 2Die Satzung kann vorsehen oder den Vorstand dazu ermächtigen vorzusehen, dass die Aktionäre an der Hauptversammlung auch ohne Anwesenheit an deren Ort und ohne einen Bevollmächtigten teilnehmen und sämtliche oder einzelne ihrer Rechte ganz oder teilweise im Wege elektronischer Kommunikation ausüben können. 3Bei elektronischer Aus-

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§ 118

Allgemeines

übung des Stimmrechts ist dem Abgebenden der Zugang der elektronisch abgegebenen Stimme nach den Anforderungen gemäß Artikel 7 Absatz 1 und Artikel 9 Absatz 5 Unterabsatz 1 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 von der Gesellschaft elektronisch zu bestätigen. 4Sofern die Bestätigung einem Intermediär erteilt wird, hat dieser die Bestätigung unverzüglich dem Aktionär zu übermitteln. 5§ 67a Absatz 2 Satz 1 und Absatz 3 gilt entsprechend. (2) 1Die Satzung kann vorsehen oder den Vorstand dazu ermächtigen vorzusehen, dass Aktionäre ihre Stimmen, auch ohne an der Versammlung teilzunehmen, schriftlich oder im Wege elektronischer Kommunikation abgeben dürfen (Briefwahl). 2Absatz 1 Satz 3 bis 5 gilt entsprechend. (3) 1Die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats sollen an der Hauptversammlung teilnehmen. 2Die Satzung kann jedoch bestimmte Fälle vorsehen, in denen die Teilnahme von Mitgliedern des Aufsichtsrats im Wege der Bild- und Tonübertragung erfolgen darf. (4) Die Satzung oder die Geschäftsordnung gemäß § 129 Abs. 1 kann vorsehen oder den Vorstand oder den Versammlungsleiter dazu ermächtigen vorzusehen, die Bild- und Tonübertragung der Versammlung zuzulassen. Literatur: Arnold, Aktionärsrechte und Hauptversammlung nach dem ARUG, Der Konzern 2009, 88; Arnold/Carl/Götze, Aktuelle Fragen bei der Durchführung der Hauptversammlung, AG 2011, 349; Besse, Online-Hauptversammlung und Versammlungsleitung – welche rechtlichen Fragen gilt es zu klären?, AG 2012, R 358; Drinhausen/Keinath, Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrichtlinie (ARUG) – Ein Beitrag zur Modernisierung der Hauptversammlung, BB 2008, 1238; Hoffmann-Becking, Der Aufsichtsrat der AG und sein Vorsitzender in der Hauptversammlung, NZG 2017, 281; Kiefner/Friebel, Stimmrechtsausübung in der Hauptversammlung durch den Vollmachtgeber trotz fortgestehender Bevollmächtigung eines Vertreters?, NZG 2011, 887; Kocher, Der Einfluss festgelegter Stimmen auf Hauptversammlungen, BB 2014, 2317; Krause/Jenderek, Rechtsprobleme einer fremdsprachigen deutschen Hauptversammlung, NZG 2007, 246; Linnerz/Hoppe, Die Form der Anmeldung zur Hauptversammlung – eine in der Praxis unterschätzte Formalie?, BB 2016, 1098; Noack, Briefwahl und Online-Teilnahme an der Hauptversammlung: der neue § 118 AktG, WM 2009, 2289; v. Nussbaum, Neue Wege zur Online-Hauptversammlung durch das ARUG, GWR 2009, 215; Ott, Die Hauptversammlung einer Einpersonen-Aktiengesellschaft, RNotZ 2014, 423; Paschos/ Goslar, Der Referentenentwurf des Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG) aus. Sicht der Praxis, AG 2008, 605; Schüppen/Tretter, Hauptversammlungssaison 2009 – Satzungsgestaltung in Zeiten des Trommelfeuers, Überlegungen und Formulierungsvorschläge von MoMiG bis ARUG, ZIP 2009, 493; Seibert/Florstedt, Der Regierungsentwurf des ARUG – Inhalt und wesentliche Änderungen gegenüber dem Referentenentwurf, ZIP 2008, 2145; Seibt/Danwerth, Referentenentwurf des Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen. Eine kritische Analyse, AG 2022, 179; Simons, Die Online-Abstimmung in der Hauptversammlung, NZG 2017, 567; Spindler, Gesellschaftsrecht und Digitalisierung, ZGR 2018, 17; Zöllter-Petzold, Zum Teilnahmerecht des Vorstands und des Aufsichtsrats an Vollversammlungen einer Aktiengesellschaft, NZG 2013, 607; Kruchen, Virtuelle Hauptversammlungen, DZWiR 2020, 431; Zetzsche, Aktionärsidentifikation, Aktionärslegitimation und das Hauptversammlungsverfahren nach ARUG II, AG 2020, 1; Zetzsche, Know Your Shareholder, der intermediärsgestützte Aktionärsbegriff und das Hauptversammlungsverfahren, ZGR 2019, 1.

Übersicht I. Bedeutung ......................................... 1 II. Teilnahmerecht (§ 118 Abs. 1, Abs. 2) ................................................ 2 924

1. Präsenzaktionäre (§ 118 Abs. 1 Satz 1) .................................................. 2 a) Grundlagen ................................... 2

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§ 118

Allgemeines b) c) d) e)

Rechtsinhaberschaft ..................... 3 Gewillkürte Stellvertretung ......... 4 Legitimationszession ................... 6 Satzungsmäßige Gestaltungsmöglichkeiten ............................... 7 f) Amtswalter und gesetzliche Vertreter ....................................... 8 g) Rechtsinhalt und Schranken ........ 9 h) Rechtsfolgen von Verletzungen und Durchsetzung des Teilnahmerechts ......................... 12 2. Online-Aktionäre (§ 118 Abs. 1 Satz 2) ............................................... 13 a) Grundsätzliches .......................... 13 b) Elektronische Kommunikation ....................................... 14 c) Umfang der Rechteeinräumung ................................. 15 I.

d) Anfechtbarkeit ........................... 3. Briefwahl (§ 118 Abs. 2) .................. III. Stimmzugangsbestätigung (§ 118 Abs. 1 Sätze 3 bis 5) ............. IV. Teilnahmerecht Sonstiger (§ 118 Abs. 3) ................................... 1. Verwaltungsmitglieder ..................... a) Teilnahmerecht und -pflicht ...... b) Rechtsfolgen der Verletzung des Teilnahmerechts/der Teilnahmepflicht ............................... 2. Dritte ................................................ V. Übertragung der Hauptversammlung in Bild und Ton (§ 118 Abs. 4) ................................... VI. Pandemiebedingte Sonderregelungen und weiterführende Gesetzespläne ..................................

16 17 18 23 23 23

26 28

29

30

Bedeutung

Nach § 118 Abs. 1 Satz 1 ist die Hauptversammlung das Willensbildungsorgan der Aktio- 1 näre. Kernvoraussetzung ist die tatsächliche Versammlung der Aktionäre. Zur Steigerung der Beteiligungsquote der Aktionäre hat sich das Hauptversammlungsrecht indes von der Präsenzpflicht der Aktionäre entfernt, ohne die Präsenzhauptversammlung überflüssig zu machen. Auf die Corona-bedingten vorübergehenden Sonderregelungen für Hauptversammlungen ohne Präsenz der Aktionäre und weiterführende Gesetzespläne wird unten Rz. 30 ff. kurz eingegangen. II.

Teilnahmerecht (§ 118 Abs. 1, Abs. 2)

1.

Präsenzaktionäre (§ 118 Abs. 1 Satz 1)

a)

Grundlagen

Das Teilnahmerecht der Aktionäre ist unentziehbar (siehe aber auch Rz. 3) und stimm- 2 rechtsunabhängig; es hat keine ausdrückliche Regelung erfahren, sondern wird als Ausfluss aus dem Mitgliedschaftsrecht selbstverständlich vorausgesetzt. Eine Teilnahmepflicht der Aktionäre besteht nicht und lässt sich auch nicht durch die Satzung begründen.1) b)

Rechtsinhaberschaft

Maßgeblich für die Rechtsinhaberschaft ist die formale Stellung als Aktionär, nicht die 3 wirtschaftliche Berechtigung an der Aktie.2) So steht das Teilnahmerecht etwa dem Treuhänder und nicht dem Treugeber zu.3) Auch die Inhaberschaft an sog. isolierten Spitzen berechtigt zur Teilnahme bis zum Abschluss des Zusammenlegungsverfahrens nach einer Kapitalherabsetzung, nicht aber sog. ADRs (American Depositary Receipts). In diesem Fall werden die bei einer Depotbank hinterlegten Aktien von Zertifikaten repräsentiert, die bloß verbriefte schuldrechtliche Ansprüche darstellen und keine originären Mitglied_____________ 1) 2) 3)

Allg. M., vgl. etwa Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 98; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 118 Rz. 37 – nur bei Abschluss eines Stimmbindungsvertrags mit einem Dritten. Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 118 AktG Rz. 13. Mülbert in: GroßKomm-AktG, § 118 Rz. 69.

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§ 118

Allgemeines

schaftsrechte.4) Bei gesetzlicher Untersagung der Rechteausübung, also in Fällen der §§ 20 Abs. 7, 21 Abs. 4 Satz 1, 56 Abs. 3 Satz 3, 71b, 71d, 71e, 328 Abs. 1 Satz 1 AktG, § 44 WpHG und § 59 WpÜG, entfällt das Teilnahmerecht. c)

Gewillkürte Stellvertretung

4 Die Bevollmächtigung eines Vertreters zur Teilnahme ist zulässig. Streitig ist, ob die Teilnahmevollmacht analog § 134 Abs. 3 Satz 3 in Textform zu erfolgen hat, soweit die Satzung dies nicht regelt.5) Die Parallele zu § 134 Abs. 3 Satz 3 ergibt sich daraus, dass die Stimmrechtsausübung durch einen Vertreter und dessen Teilnahme an der Hauptversammlung eng miteinander verknüpft sind. Vor Geltung des ARUG wurde vertreten, dass die Erteilung einer Stimmrechtsvollmacht zwangsläufig die Teilnahmevollmacht umfasst.6) Dies gilt nunmehr aufgrund der Möglichkeit der Briefwahl (siehe unten Rz. 17) nicht mehr uneingeschränkt. In der Regel wird aber trotzdem davon auszugehen sein, dass eine formgerechte Stimmrechtsvollmacht gemäß § 134 Abs. 3 Satz 1 die Ermächtigung zur Teilnahme an der Hauptversammlung enthält, sofern aus ihr nicht ausdrücklich etwas anderes hervorgeht. Nach Verfechtern der Formfreiheit sei eine konkludente Bevollmächtigung, etwa durch Übergabe der Eintrittskarte, möglich.7) Praktisch spricht hiergegen, dass die Gesellschaft regelmäßig Einlasskontrollen durchführen wird, bei denen sich der Teilnehmer auszuweisen hat. In der Praxis sollte daher stets eine Vollmacht in Textform erteilt werden. 5 Außer für Fälle gesetzlicher oder organschaftlicher Gesamtvertretung wird überwiegend vertreten, dass eine Erhöhung der Teilnehmerzahl durch Vertretung nicht zulässig sei; die gleichzeitige Teilnahme von Aktionär und Vertreter sei ausgeschlossen.8) Durch die Neufassung des § 134 Abs. 3 Satz 2 geht der Gesetzgeber an sich von der Möglichkeit der Vervielfältigung von Vollmachten aus. Daraus folgt zum einen, dass die bloße Bevollmächtigung eines Vertreters das Teilnahmerecht des Aktionärs nicht ausschließt.9) Zum anderen ist auch die gewillkürte Gesamtvertretung zulässig. Erscheinen mehrere Einzelvertreter, darf die Gesellschaft jedoch alle bis auf einen zurückweisen (§ 134 Abs. 3 Satz 2). Im Fall der gesetzlichen Gesamtvertretung bedarf der allein erschienene Gesamtvertreter einer (Unter-)Vollmacht der übrigen Gesamtvertreter und hat in Ermangelung einer solchen kein Teilnahmerecht.10) d)

Legitimationszession

6 Neben der Bevollmächtigung eines oder mehrerer Vertreter besteht die Möglichkeit der Legitimationszession. Hierbei wird ein Dritter ermächtigt (§ 185 BGB), sämtliche Mitgliedschaftsrechte des Aktionärs einschließlich des Teilnahmerechts als fremdes Recht im eigenen Namen auszuüben (siehe dazu näher § 129 Rz. 31 f.). Nach allgemeiner Ansicht ist

_____________ 4) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 53; Mülbert in: GroßKomm-AktG, § 118 Rz. 91. 5) Gegen das Textformerfordernis Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 118 AktG Rz. 15; dafür K. Schmidt/ Lutter-Spindler, AktG, § 118 Rz. 30; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 60. 6) So immer noch Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 60. 7) Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 118 AktG Rz. 15. 8) Grigoleit-Herrler, AktG, § 118 Rz. 29; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 118 AktG Rz. 16; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 60 m. w. N.; a. A. K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 118 Rz. 31; Mülbert in: GroßKomm-AktG, § 118 Rz. 73. 9) Kiefner/Friebel, NZG 2011, 887, 888. 10) Insoweit zutreffend Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 61.

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§ 118

Allgemeines

die Einschaltung mehrerer Legitimationsaktionäre zwecks Repräsentation jeweils eines Teils des Aktienbestandes zulässig.11) e)

Satzungsmäßige Gestaltungsmöglichkeiten

Die Satzung kann Anforderungen an den Nachweis der Teilnahmeberechtigung stellen.12) 7 Der satzungsmäßige Ausschluss der Legitimationszession ist umstritten. Teilweise wird darin bei der börsennotierten AG im Hinblick auf die Stimmrechtsausübung eine unzulässige Fungibilitätsbeschränkung gesehen,13) teilweise wird auf einen Widerspruch zu § 129 Abs. 3 hingewiesen, der die Stimmrechtsübertragung erlaubt.14) Die überwiegende Meinung bejaht indes die Möglichkeit ihres Ausschlusses in der Satzung.15) Satzungsmäßige Anforderungen an die Person des Vertreters sind kritisch zu beurteilen.16) Spätestens mit Erlass der Aktionärsrechterichtlinie,17) wonach es ausdrücklich auch den Gesellschaften nicht mehr ermöglicht werden darf, Einschränkungen bzgl. der Person des Stimmrechtsvertreters vorzusehen, dürfte eine solche Regelung bei börsennotierten AG gegen Art. 10 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie verstoßen.18) Die pauschale satzungsmäßige Begrenzung der Anzahl gewillkürter Vertreter auf eine Person ist für den Fall, dass ein Aktionär Aktien in mehr als einem Depot hält, gemäß Art. 10 Abs. 2 Satz 3 der Richtlinie europarechtswidrig.19) f)

Amtswalter und gesetzliche Vertreter

Diese (etwa Testamentsvollstrecker, Insolvenzverwalter und Geschäftsführer) sind ohne 8 weiteres teilnahmeberechtigt. Problemen beim Nachweis ihrer Stellung dürfte mit einfachen Abschriften etwa des Testamentsvollstreckerzeugnisses oder des Bestellungsbeschlusses zum Insolvenzverwalter abgeholfen sein.20) g)

Rechtsinhalt und Schranken

Das Teilnahmerecht umfasst das Recht auf physische Präsenz, d. h. das Recht auf unge- 9 hinderten Zugang zum und Aufenthalt im Versammlungssaal bis zum Versammlungsende, das Rederecht sowie das Recht auf Gehör, das Beschlussantragsrecht und das Recht auf Einsicht in das Teilnehmerverzeichnis.21) Das Zugangsrecht umfasst die Auffindbarkeit des Versammlungssaals, die tatsächliche 10 Zugangsmöglichkeit sowie den Einlass ohne überlange Wartezeiten. Behindertengerechte _____________ 11) 12) 13) 14) 15) 16) 17) 18)

19) 20) 21)

Vgl. nur Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 63. Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 118 AktG Rz. 15; Henssler/Strohn-Liebscher, GesR, § 118 AktG Rz. 19. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 32. So Happ-Ludwig, AktienR, Nr. 10.12 Rz. 1.4; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 118 AktG Rz. 41. Vgl. etwa Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 67 m. w. N. – „unproblematisch“; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 134 Rz. 237. Vgl. OLG Stuttgart, Beschl. v. 28.5.1990 – 8 W 203/90, NJW-RR 1990, 1316, 1317; Arnold in: MünchKomm-AktG, § 134 Rz. 45 – keine Vorgaben zur Person des Bevollmächtigten. Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften, ABl. (EU) L 184/17 v. 14.7.2007. OLG Braunschweig, Beschl. v. 27.8.2013 – 2 W 142/12, Rz. 22, BeckRS 2014, 20216; Grigoleit-Herrler, AktG § 134 Rz. 35; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 118 AktG Rz. 41; zur früheren Rechtslage bereits OLG Stuttgart, Beschl. v. 28.5.1990 – 8 W 203/90, NJW-RR 1990, 1316, 1316 f. K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 118 Rz. 31; anders noch Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 67 – ebenfalls „unproblematisch“. Vgl. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 123 Rz. 43. Vgl. K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 118 Rz. 25.

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Allgemeines

Zugangsmöglichkeiten müssen vorhanden sein,22) wenn auch nur auf Anfrage. Zulässig sind Eingangskontrollen unter Prüfung der Identität und der Vertretungsverhältnisse,23) jedoch sind Taschen-/Gepäckkontrollen mit einem Durchleuchtungsgerät vorzunehmen; erst im Falle eines konkreten Verdachts darf eine Einsichtnahme in die Tasche/das Gepäckstück erfolgen.24) Der Besitz einer Eintrittskarte ist keine Teilnahmevoraussetzung.25) Unzulässig ist die Zutrittsverweigerung für Begleitpersonen, auf die der Aktionär aus gesundheitlichen Gründen oder aufgrund von Verständnisproblemen nicht verzichten kann, z. B. Dolmetscher im Fall ausländischer, allein fremdsprachiger Aktionäre.26) Sonstigen (fachlichen) Assistenzpersonen muss kein Zutritt gewährt werden. Soweit die Gesellschaft Nebenräume wie einen Catering-Bereich oder Raucherzonen zum Präsenzbereich erklärt,27) ist keine Übertragung der Hauptversammlung in diese Räume durch Lautsprecher erforderlich. Bei fehlender Beschallung dieser Nebenräume sind gefasste Beschlüsse nicht anfechtbar.28) 11 Die Versammlungssprache ist deutsch, wenn nicht das Einvernehmen aller Teilnehmer hinsichtlich einer anderen Versammlungssprache besteht; das Rederecht ist somit in deutscher Sprache auszuüben. Teilnehmer haben weder Anspruch auf Zulassung anderssprachiger Wortbeiträge noch auf Bereitstellung eines Dolmetschers.29) h)

Rechtsfolgen von Verletzungen und Durchsetzung des Teilnahmerechts

12 Verletzungen des Zugangsrechts oder des Anwesenheitsrechts berechtigen zur Beschlussanfechtung nach § 243 Abs. 1 (§ 245 Nr. 2).30) Eine Beschlussanfechtung wegen Verletzung des Rede- oder Antragsrechts setzt dagegen nach einer Literaturansicht stets einen Widerspruch zur Niederschrift voraus (§ 245 Nr. 1).31) Wird vorab bekannt, dass eine Verletzung des Teilnahmerechts bevorsteht, so kann hiergegen im Wege der Leistungsklage vorgegangen bzw. eine einstweilige Verfügung erwirkt werden.32) Schadensersatzansprüche kommen in Betracht, wenn der Aktionär einen Schaden erleidet, der nicht durch eine Anfechtungsklage abgewendet werden konnte.33) Ob daneben die Feststellungsklage gemäß § 256 ZPO zulässig ist, ist von der Rechtsprechung nicht geklärt und in der Literatur umstritten.34) _____________ 22) Vgl. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 65; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 118 Rz. 25. 23) Vgl. AG München, Urt. v. 14.12.1994 – 263 C 23327/94, AG 1995, 335; vgl. auch Kubis in: MünchKommAktG, § 118 Rz. 69. 24) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 16.2.2007 – 5 W 43/06, ZIP 2007, 629, 630. 25) Arnold/Carl/Götze, AG 2011, 349, 353. 26) Vgl. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 69. 27) Zur ausreichenden Raumkapazität vgl. Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 118 AktG Rz. 17. 28) Zu alldem BGH, Beschl. v. 8.10.2013 – II ZR 329/12, ZIP 2013, 2257 mit Anm. v. Falkenhausen = NZG 2013, 1430, dazu EWiR 2014, 5 (Goslar). 29) Allg. M., vgl. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 77 m. w. N.; insgesamt kritisch Krause/Jenderek, NZG 2007, 246, 247. 30) BGH, Urt. v. 11.11.1965 – II ZR 122/63, NJW 1966, 43, 44; vgl. auch Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 118 AktG Rz. 18 f. 31) Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 118 AktG Rz. 19; a. A. LG München I, Urt. v. 11.12.2008 – 5 HKO 15201/08, ZIP 2009, 663, 665 – Widerspruch nur bei Nachfrage des Versammlungsleiters erforderlich, ob alle Fragen beantwortet seien; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 79 – Widerspruch nie erforderlich. 32) Vgl. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 72 m. w. N; Mülbert in: GroßKomm-AktG, § 118 Rz. 81. 33) Mülbert in: GroßKomm-AktG, § 118 Rz. 82. 34) Dafür Mülbert in: GroßKomm-AktG, § 118 Rz. 81; ablehnend Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 72; K Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 118 Rz. 36.

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Allgemeines 2.

Online-Aktionäre (§ 118 Abs. 1 Satz 2)

a)

Grundsätzliches

Die Satzung kann vorsehen oder den Vorstand35) ermächtigen, dass Aktionäre auch „online“ 13 an der Hauptversammlung teilnehmen und sämtliche oder einzelne ihrer Rechte ausüben können.36) In überschießender Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie gelten die Regelungen zur Online-Teilnahme unabhängig von der Börsennotierung.37) Online-Aktionäre sind als Teilnehmer in das Teilnehmerverzeichnis aufzunehmen und zweckmäßigerweise als solche kenntlich zu machen. Hiervon strikt zu unterscheiden ist die Frage, inwieweit die Rechteausübung in der Hauptversammlung selbst durch elektronische Hilfsmittel erfolgen kann.38) Zu pandemiebedingten Online-Hauptversammlungen und weiterführenden Gesetzesplänen siehe unten Rz. 30 ff. b)

Elektronische Kommunikation

Es handelt sich um einen offenen Begriff, der nicht etwa nur die sog. „Zwei-Wege-Direkt- 14 verbindung“ umfasst,39) sondern auch die Möglichkeit der Bild- und Tonübertragung (§ 118 Abs. 4) oder einen Internetdialog zur Stimmrechtsausübung.40) Auch eine Ausübung des Fragerechts per E-Mail ist nach Wahl der Gesellschaft denkbar.41) c)

Umfang der Rechteeinräumung

Einer Satzungsregelung bzw. Vorstandsermächtigung nach § 118 Abs. 1 Satz 2 zugänglich 15 sind sämtliche mitgliedschaftlichen Rechte in beliebiger Kombination. Hinsichtlich des „Ob“ und des „Wie“ der Rechte, die den Aktionären bei einer Online-Teilnahme eingeräumt werden, besteht ein weiter Spielraum.42) Wird indes den Aktionären die aktive Teilnahme gänzlich verwehrt, liegt eine bloße Online-Übertragung vor, deren Zulässigkeit sich nicht nach § 118 Abs. 1 Satz 2, sondern nach § 118 Abs. 4 richtet.43) Den online teilnehmenden Aktionären kann nach der Regierungsbegründung zum ARUG das Widerspruchsrecht zur Niederschrift per Satzung entzogen werden.44) § 53a steht dem nicht entgegen.45) Angesichts der Tragweite der Entscheidung wird teilweise empfohlen, dies in der Satzung festzulegen,46) ohne dass dies Wirksamkeitsvoraussetzung wäre. Solange eine Möglichkeit zur Präsenzteilnahme besteht, sind Einschränkungen einer Online-Teilnahme _____________ 35) Überwiegend wird hierfür ein Vorstandsbeschluss für erforderlich gehalten, also eine Delegation abgelehnt, vgl. Kruchen, DZWiR 2020, 431, 435. 36) Ausführlich dazu Noack, WM 2009, 2289, und allgemeiner Spindler, ZGR 2018, 17 ff.; bisher wagen aber nur wenige Gesellschaften den Schritt zum Angebot einer wirklichen Online-Teilnahme, Besse, AG 2012, R 358. 37) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 118 Rz. 10; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 118 Rz. 51. 38) Dazu ausführlich Simons, NZG 2017, 567. 39) So aber Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 118 Rz. 10. 40) Noack, WM 2009, 2289, 2293; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 118 Rz. 56. 41) v. Nussbaum, GWR 2009, 215, 215. 42) Begr. RegE ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 26; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 118 AktG Rz. 45; Heidel-Krenek/Pluta, AktR, § 118 AktG Rz. 19; nach Seibert/Florstedt, ZIP 2008, 2145, 2146, kann die Satzungsregelung sämtliche Verwaltungsnebenrechte der Aktionäre betreffen. 43) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 118 Rz. 55. 44) Begr. RegE ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 26; außerdem Noack, WM 2009, 2289, 2293; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 118 AktG Rz. 45; Kruchen, DZWiR 2020, 431, 433; a. A. Heidel-Krenek/Pluta, AktR, § 118 AktG Rz. 27; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 118 Rz. 60 – teleologische Reduktion von § 245 Nr. 1 in diesen Fällen. 45) So wiederum Begr. RegE ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 26; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 118 AktG Rz. 45 m. w. N. 46) Vgl. den Formulierungsvorschlag bei Schüppen/Tretter, ZIP 2009, 493, 495.

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auch deshalb unproblematisch, weil auf sie kein Anspruch besteht und Aktionären, die weitergehende Rechte ausüben wollen, die physische Teilnahme offensteht.47) d)

Anfechtbarkeit

16 Hier ist § 243 Abs. 3 Nr. 1 zu beachten, wonach eine durch eine technische Störung (etwa der Ausfall von Lautsprechern, Kameras oder Monitoren im Versammlungsraum oder der zur Online-Übertragung genutzten Technik)48) verursachte Rechtsverletzung grundsätzlich nicht zur Anfechtung berechtigt. Die Norm beschränkt das Anfechtungsrecht auf Fälle grober Fahrlässigkeit, also der vorwerfbaren Verletzung des unmittelbar einleuchtenden Mindestmaßes technischer und organisatorischer Sorgfalt durch die AG bzw. ihrer Erfüllungsgehilfen.49) Hierfür trägt der anfechtende Aktionär die Beweislast.50) 3.

Briefwahl (§ 118 Abs. 2)

17 Gemäß § 118 Abs. 2 kann in der Satzung vorgesehen bzw. der Vorstand ermächtigt werden vorzusehen, dass Aktionäre ihr Stimmrecht schriftlich oder im Wege elektronischer Kommunikation (z. B. per E-Mail oder Internetdialog) ausüben dürfen,51) wobei Textform i. S. des § 126b BGB genügt.52) Im Unterschied zur Online-Teilnahme nehmen Briefwähler nicht an der Hauptversammlung teil; sie sind daher nicht in das Teilnehmerverzeichnis aufzunehmen.53) Dagegen zählen Briefwahlstimmen zum vertretenen Grundkapital.54) Soll Briefwahl angeboten werden, so empfiehlt sich die Verwendung standardisierter Formulare, die zwingend zu verwenden sind (ob im Ausdruck oder elektronisch).55) Der DCGK empfahl in einer früheren Fassung in Ziff. 2.3.1, dass diese Formulare leicht erreichbar auf der Internetseite der AG zugänglich gemacht werden sollen. Zur Anmeldung siehe § 123 Rz. 4 ff. Das Gesetz regelt weder bis wann Briefwahlstimmen abzugeben sind noch bis wann und wie sie widerrufen werden können. Solange die Satzung hierzu keine Vorgaben macht,56) kann dies in der Einladung festgelegt werden.57) Dabei ist es auch zulässig, nach Übertragungswegen zu differenzieren, also z. B. elektronische Briefwahl länger zuzulassen als postalische, wenn beide angeboten werden. Briefwähler können auf die Änderung von Beschlussvorschlägen in der Hauptversammlung außer bei einer entsprechend lange eingeräumten Online-Abstimmungsmöglichkeit mit Echtzeitfunktion meist

_____________ 47) In diese Richtung auch Kruchen, DZWiR 2020, 431, 433. 48) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 91. 49) Hüffer/Schäfer in: MünchKomm-AktG, § 243 Rz. 110, wobei von einigen Stimmen das Verschuldenskriterium kritisiert und eine Sphärenaufteilung bevorzugt wird, vgl. Arnold, Der Konzern 2009, 88, 92; Drinhausen/Keinath, BB 2008, 1238, 1240; Paschos/Goslar, AG 2008, 605, 610 f. 50) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 243 Rz. 44. 51) Diese Möglichkeit wird in der Praxis von zahlreichen Aktionären genutzt, vgl. Arnold/Carl/Götze, AG 2011, 349, 357. 52) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 118 Rz. 58; vgl. auch Begr. RegE ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 27; implizit auch Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 118 AktG Rz. 54. 53) Vgl. Noack, WM 2009, 2289, 2291; Grigoleit-Herrler, AktG, § 118 Rz. 20. 54) Begr. RegE ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 27. 55) Vgl. hierzu v. Nussbaum, GWR 2009, 215, 215 f. 56) Vgl. zu Satzungsbestimmungen Grigoleit-Herrler, AktG, § 118 Rz. 13; ausführlich zum Widerruf der Stimmabgabe Wicke, Einführung in das Recht der Hauptversammlung, S. 28; Tröger in: KölnKommAktG, § 118 Rz. 113. 57) Vgl. Kruchen, DZWiR 2020, 431, 450. Auf den zulassenden Vorstandsbeschluss abstellend Tröger in: KölnKomm-AktG, § 118 Rz. 113; dieser muss freilich durch die Einladung den Aktionären noch zur Kenntnis gebracht werden.

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nicht reagieren, was aber deren Änderungsmöglichkeiten richtigerweise nicht einschränkt (siehe § 124 Rz. 40).58) III.

Stimmzugangsbestätigung (§ 118 Abs. 1 Sätze 3 bis 5)

Die Neuregelung durch das ARUG II verpflichtet Gesellschaften, elektronisch abstimmenden Aktionären in elektronischer Form den Zugang ihrer Stimmausübung (nicht aber anderer Aktionärsrechte) zu bestätigen. Die Regelung ergänzt insoweit § 129 Abs. 5, nach dem alle Aktionäre eine Bestätigung der Stimmenzählung verlangen können (siehe § 129 Rz. 37). Im Unterschied zu § 129 Abs. 5 ist den elektronisch abstimmenden Aktionären die Bestätigung über den Zugang automatisch zu erteilen und nicht nur auf Verlangen. Elektronische Ausübung meint Fälle, in denen die Übermittlung an die Gesellschaft elektronisch geschieht, was z. B. bei elektronischer Briefwahl oder elektronischer Bevollmächtigung und Weisung an den Stimmrechtsvertreter der Gesellschaft der Fall ist. Elektronische Vorgänge zwischen Aktionär und Intermediär sind dagegen für die Einstufung nicht relevant.59) Elektronische Ausübung dürfte nur die direkte elektronische Ausübung, z. B. über ein Investorenportal erfassen, nicht dagegen die Übermittlung eines Anhangs per E-Mail.60) Unschädlich ist, wenn die elektronische Stimmausübung zugleich mit der Anmeldung zur Hauptversammlung erfolgt, wenn die Gesellschaft diesen Weg eröffnet hat.61) Wird die Stimme der Gesellschaft von einem Intermediär (elektronisch) übermittelt, erhält dieser die elektronische Bestätigung (Art. 9 Abs. 5 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212)62) und leitet sie, ggf. mehrstufig, weiter, was durch Satz 4 und den Verweis auf § 67a Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 sichergestellt wird. Inhalt, Format und Frist der Bestätigung werden durch die Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 in deren Art. 7 Abs. 1 i. V. m. Tabelle 6 des Anhangs und Art. 9 Abs. 5 Satz 1 festgelegt. Die Bestätigung ist danach „unmittelbar“ nach der Stimmabgabe zu übermitteln, was nur durch ein automatisches System darstellbar sein dürfte, das auch von einem Dienstleister betrieben werden kann. Das Format ergibt sich zwingend aus Tabelle 6. Zum Inhalt gehören weder die Aussage, dass die Stimmen gültig sind und berücksichtigt werden (eine Prüfung ist also nicht nötig und wäre „unmittelbar“ auch gar nicht möglich), noch die Art der Stimmausübung. Der Aktionär kann somit später, z. B. zur Ermöglichung einer Anfechtungsklage, lediglich beweisen, dass überhaupt eine Stimmausübung übermittelt wurde.63) Weder das AktG noch das Europäische Recht regeln die Rechtsfolgen, u. a. von Verstößen der Gesellschaft. Hat die Gesellschaft eine Bestätigung ausgestellt, wird sie schwer vortragen können, nichts erhalten zu haben. Sie ist aber nicht hinsichtlich des Inhalts und der Zulässigkeit des Übermittelten präkludiert, da dies nicht Inhalt der Bestätigung ist. Unterbleibt die Übermittlung oder weist inhaltliche Defizite auf, kann dies nicht die Anfechtbarkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen begründen, da Aktionäre hierdurch nicht von der Stimmausübung abgehalten werden. _____________ 58) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 118 Rz. 18; Kocher, BB 2014, 2317, 2319 ff. Zu den Nachteilen des Briefwählers auch Tröger in: KölnKomm-AktG, § 118 Rz. 112. 59) Zetzsche, AG 2020, 1, 16; Zetzsche, ZGR 2019, 1, 32. 60) Im Einzelnen ist str., unter welchen Voraussetzungen die Bestätigung zu erteilen ist. Vgl. dazu Tröger in: KölnKomm-AktG, § 118 Rz. 106. 61) Zetzsche, AG 2020, 1, 16. 62) Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 der Kommission v. 3.9.2018 zur Festlegung von Mindestanforderungen zur Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die Identifizierung der Aktionäre, die Informationsübermittlung und die Erleichterung der Ausübung der Aktionärsrechte, ABl. (EU) L 223/1 v. 4.9.2018. 63) Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 118 AktG Rz. 50.

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§ 118 IV.

Allgemeines Teilnahmerecht Sonstiger (§ 118 Abs. 3)

1.

Verwaltungsmitglieder

a)

Teilnahmerecht und -pflicht

23 Anders als Aktionäre unterliegen die amtierenden, also nicht Kandidaten und nach h. M. auch keine ausgeschiedenen Mitglieder, wenn das nicht aus nachwirkender Loyalität in Sondersituationen erforderlich ist64) Verwaltungsmitglieder einer grundsätzlichen („sollen“) Teilnahmepflicht,65) die höchstpersönlich zu erfüllen ist. Dieser Grundsatz kann für Aufsichtsratsmitglieder gemäß § 118 Abs. 3 Satz 2 durch die Satzung eingeschränkt werden, in dem eine Übertragung zugelassen werden kann. Teilnahmepflichtig sind alle amtierenden und stellvertretenden (§ 94) Vorstandsmitglieder sowie sämtliche Aufsichtsratsmitglieder, d. h. auch Arbeitnehmervertreter. Soweit das Verwaltungsmitglied aus wichtigem Grund an der Teilnahme gehindert ist, liegt keine vorwerfbare Pflichtverletzung vor.66) Wichtige Gründe sind insbesondere schwere Krankheit oder eine unaufschiebbare Dienstreise.67) Bei Terminkollisionen ist bei Vorstandsmitgliedern ein strengerer Maßstab anzulegen als bei Aufsichtsratsmitgliedern, die dringenden Verpflichtungen i. R. ihrer hauptberuflichen Tätigkeit Vorrang einräumen können.68) Zu Besonderheiten bei Vollversammlungen siehe § 121 Rz. 42. 24 Die Teilnahmepflicht von Aufsichtsratsmitgliedern kann durch die Satzung dergestalt eingeschränkt werden, dass ihnen in bestimmten Fällen die Teilnahme ohne physische Präsenz durch Bild- und Tonübertragung ermöglicht wird. Die Satzung selbst muss die Ausnahmetatbestände nennen.69) Erforderlich ist stets eine beidseitige und kumulative Übertragung von Bild und Ton.70) 25 Das Rederecht steht Verwaltungsmitgliedern grundsätzlich zu, ist jedoch durch ihre organschaftlichen (und im Fall von Vorstandsmitgliedern auch anstellungsvertraglichen) Geheimhaltungs- und sonstigen Organpflichten eingeschränkt.71) Ein eigenes Beschlussantragsrecht steht den einzelnen Verwaltungsmitgliedern hinsichtlich Sachanträgen dagegen nicht zu, da sie an die Beschlussanträge des jeweiligen Gesamtorgans (§ 124 Abs. 3) gebunden sind.72) Sie werden aber zur Stellung von Geschäftsordnungsanträgen für berechtigt gehalten; hierbei muss aber genau differenziert werden, ob dieses Recht im Einzelfall dem einzelnen Organmitglied zusteht oder nicht vielmehr dem Gesamtorgan. Natürlich können sie, wenn sie zugleich Aktionäre sind, in dieser Eigenschaft und nur unter Einhaltung der dafür geltenden Regeln also ohne Privilegierung) mit allen Aktionärsrechten auftreten.73)

_____________ 64) Tröger in: KölnKomm-AktG, § 118 Rz. 209 ff. 65) Mülbert in: GroßKomm-AktG, § 118 Rz. 48; a. A. nur Ott, RNotZ 2014, 423, 424. Zur regelmäßig nicht anzunehmenden Teilnahmepflicht ausgeschiedener Verwaltungsmitglieder vgl. Kubis in: MünchKommAktG, § 118 Rz. 99, sowie Mülbert in: GroßKomm-AktG, § 118 Rz. 60. 66) Allg. M., vgl. nur K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 118 Rz. 41 m. w. N.; Hoffmann in: BeckOGKAktR, § 118 AktG Rz. 28. 67) Vgl. Mülbert in: GroßKomm-AktG, § 118 Rz. 55 m. w. N. 68) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 101 m. w. N.; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 118 Rz. 42. 69) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 104; Grigoleit-Herrler, AktG, § 118 Rz. 32. 70) Begr. RegE TransPuG, BT-Drucks. 14/8769, S. 19; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 118 Rz. 31. 71) So zutreffend Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 100 m. w. N.; kritisch in Bezug darauf, von einer „Einschränkung“ des Rederechts zu sprechen Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 118 AktG Rz. 24, 24.1. 72) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 118 Rz. 40 m. w. N.; Mülbert in: GroßKomm-AktG, § 118 Rz. 51; a. A. Tröger in: KölnKomm-AktG, § 118 Rz. 197. 73) Ausführlich zum Ganzen Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281, 286 f.

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§ 118

Allgemeines b)

Rechtsfolgen der Verletzung des Teilnahmerechts/der Teilnahmepflicht

Wird ein Verwaltungsmitglied zu Unrecht in seinem Teilnahmerecht beschränkt, so kommt 26 eine Anfechtung der Beschlüsse nach § 245 Nr. 4 durch den Gesamtvorstand oder nach § 245 Nr. 5 durch das einzelne Verwaltungsmitglied grundsätzlich in Betracht (zur Verletzung des Teilnahmerechts im Falle einer Vollversammlung siehe aber unten § 121 Rz. 42). Ferner kann das Amt aus wichtigem Grund niedergelegt werden.74) Verletzt ein Verwaltungsmitglied seine Teilnahmepflicht, so hat dies keine unmittelbaren 27 beschlussrechtlichen Konsequenzen, jedoch kann bei Fernbleiben eines Vorstandsmitglieds ggf. eine Anfechtbarkeit gefasster Beschlüsse wegen einer Verletzung des Auskunftsrechts im Raum stehen, wenn eine Frage deswegen nicht beantwortet werden konnte.75) Auch kann dies im Einzelfall eine Abberufung aus wichtigem Grund sowie Schadensersatzansprüche der Gesellschaft nach sich ziehen.76) 2.

Dritte

Der Abschlussprüfer hat grundsätzlich weder eine Teilnahmepflicht noch ein Teilnahme- 28 recht. Anderes gilt nur in Fällen der Feststellung des Jahresabschlusses durch die Hauptversammlung (§ 176 Abs. 2 Satz 1). Zur Beratung des Vorstands ist eine vom Versammlungsleiter zuzulassende Teilnahme des Abschlussprüfers jedoch sinnvoll. In diversen Spezialgesetzen wird Vertretern von Aufsichtsbehörden ein Teilnahmerecht eingeräumt (vgl. z. B. § 44 Abs. 4 und 5 KWG, § 83 Abs. 1 Nr. 5 VAG). Die Zulassung von Gästen wie z. B. Medienvertretern liegt im Ermessen des Versammlungsleiters, soweit nicht die Satzung oder die Geschäftsordnung anderes vorsieht und dazu z. B. den Vorstand ermächtigt.77) Streitig ist, ob dagegen eine Letztentscheidung der Hauptversammlung möglich ist.78) Ein aktienrechtliches Teilnahmerecht des beurkundenden Notars wird zu Recht abgelehnt, da er lediglich aufgrund eines Geschäftsbesorgungsvertrags für die Gesellschaft tätig wird.79) Ähnliches gilt für vom Vorstand beauftragte Berater, die als Hilfskräfte der Verwaltung ebenfalls von Gästen zu unterscheiden sind.80) V.

Übertragung der Hauptversammlung in Bild und Ton (§ 118 Abs. 4)

Die Satzung oder die Geschäftsordnung können vorsehen oder den Vorstand oder den 29 Versammlungsleiter dazu ermächtigen, die Bild- und Tonübertragung der Hauptversammlung zuzulassen. Dies erfasst nur die einseitige Übertragung des Geschehens und dessen Aufzeichnung.81) Auch wenn diese Möglichkeit in der Satzung oder der Geschäftsordnung vorgesehen ist, folgt daraus kein Anspruch der einzelnen Aktionäre auf eine solche Übertragung.82) Ein Widerspruchsrecht von Aktionären etwa im Hinblick auf die Betroffenheit des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bei der Übertragung ihrer Redebeiträge kann jedenfalls per Satzung ausgeschlossen werden.83) Viele Gesellschaften übertragen zu_____________ 74) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 102; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 118 Rz. 43. 75) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 118 Rz. 44; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 118 Rz. 21; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 103; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 118 Rz. 205. 76) Allg. M., vgl. nur Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 118 Rz. 21. 77) Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281, 287; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 118 Rz. 48 m. w. N. 78) Ausführlich hierzu Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281, 287 f. 79) Vgl. etwa Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 107 m. w. N.; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 118 Rz. 47; Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281, 287. 80) Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281, 287. 81) Vgl. Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 118 AktG Rz. 56 f. 82) Begr. RegE TransPuG, BT-Drucks. 14/8769, S. 19; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 118 Rz. 118. 83) Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 118 AktG Rz. 57; Heidel-Krenek/Pluta, AktR, § 118 AktG Rz. 78.

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§ 118

Allgemeines

lässigerweise aber auch nur bis zum Ende der Vorstandsrede, also nicht die Generaldebatte mit den Aktionärsbeiträgen.84) Ohne weiteres zulässig ist die offengelegte Übertragung ins Foyer oder ein Back-Office. VI.

Pandemiebedingte Sonderregelungen und weiterführende Gesetzgebungspläne

Literatur: Götze, Die Änderungen im Recht der virtuellen Hauptversammlung nach dem Gesetz zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens, NZG 2021, 213; Herrler, Die virtuelle Hauptversammlung nach dem COVID-19-Gesetz, DNotZ 2020, 468; Lieder, Virtuelle Hauptversammlungen im Jahre 2021 und danach, ZIP 2021, 161; Mayer/Jenne/Miller, Die virtuelle Hauptversammlung – 40 Praxisfragen zu Grundlagen, Planung, Einberufung und Durchführung der Hauptversammlung nach dem COVID-19-GesR-G, BB 2020, 1282; Mutter/Kruchen, Paukenschlag des Gesetzgebers: Virtuelle HV 4.0 ab dem 28.2.2021; Schüppen, Coronavirus: Praxisfragen der C19-Hauptversammlung, WPg 2021, 121; Seibt/Danwerth, Die Zukunft der virtuellen Hauptversammlung während und nach der COVID-19-Pandemie – Erkenntnisse der Hauptversammlungssaison 2020, Trends und Ausblick, NZG 2020, 1241; Simons/Hauser, „Corona-Hauptversammlung“, die Zweite – Zweifelsfragen bei der Durchführung virtueller Hauptversammlungen nach der Verlängerungs-VO, NZG 2020, 1406; Simons/Hauser, Die virtuelle Hauptversammlung – Aktuelle Praxisfragen unter dem Regime der „Corona“-Gesetzgebung, NZG 2020, 488; Wicke, Die virtuelle Hauptversammlung während der Corona-Pandemie – aktienrechtlicher Ausnahmezustand, DStR 2020, 885.

30 Um in Zeiten der COVID-19-Pandemie insbesondere weitgehend präsenzlose Hauptversammlungen abhalten zu können, hat der Gesetzgeber 202085) umfassende befristete Sonderregelungen geschaffen, die im Jahr 2021 mit einigen Änderungen ab dem 28.2.202186) wiederum befristet verlängert wurden. Es ist dabei immer erforderlich, für jeden Fall genau zu untersuchen, welche Regelungen zeitlich anwendbar sind bzw. waren.87) Darüber kann hier nur ein kurzer Überblick gegeben werden.88) Weitere Sonderregelungen sind teilweise auch bei den entsprechenden Spezialnormen (vor allem §§ 59, 120, 122, 123, 125, 126, 127 und 131) kommentiert. An dieser Stelle werden kurz die einberufungsund teilnahmerelevanten Sonderregelungen zusammengefasst. 31 Unter den folgenden Voraussetzungen erlaubt § 1 Abs. 2 Satz 1 COVGesMG eine Hauptversammlung ohne physische Teilnahme von Aktionären und ihren Vertretern: Die gesamte Versammlung wird in Bild und Ton übertragen, die Stimmrechtsausübung ist durch elektronische Teilnahme (wird in der Praxis fast nie angeboten) oder per Briefwahl und Bevollmächtigung möglich, Widerspruch kann elektronisch eingelegt werden und ein modifiziertes Fragerecht (siehe dazu § 131 Rz. 45 ff.) wird eingeräumt. Richtigerweise gilt diese Möglichkeit uneingeschränkt und ohne weitere Erfordernisse auch für außerordentliche Versammlungen, auch wenn diese über Strukturmaßnahmen beschließen sollten. Unabhängig von der physischen Teilnahmemöglichkeit erleichtert § 1 Abs. 1 COVGesMG _____________ 84) Vgl. Kruchen, DZWiR 2020, 431, 432. 85) Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts- Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (COVGesMG) v. 27.3.2020, BGBl. I 2020, 569, 570 (= Art. 2 des Gesetzes zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht (COVAbmildG) v. 27.3.2020, BGBl. I 2020, 569. 86) COVGesMG geändert durch Art. 11 des Gesetzes zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Anpassung pandemiebedingter Vorschriften im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht sowie im Miet- und Pachtrecht v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3328. 87) Zu Übergangsvorschriften Götze, NZG 2021, 213. 88) Vgl hierzu das separate Literaturverzeichnis oben. Ausführlich z. B. Hirte/Heidel-Krenek, AktR, S. 379 ff.; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 118 Rz. 122 ff.; speziell zu den Änderungen für die Saison 2021 Mutter/ Kruchen, AG 2021, 108 ff.

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§ 119

Rechte der Hauptversammlung

die Zulassung einer elektronischen Teilnahme, einer elektronischen Briefwahl, einer elektronischen Übertragung und der elektronischen Teilnahme von Aufsichtsratsmitgliedern gegenüber § 118, in dem eine Satzungs- oder Geschäftsordnungsermächtigung jeweils entbehrlich ist. § 1 Abs. 3 COVGesMG erlaubt zur größeren Flexibilität umfangreiche Fristverkürzun- 32 gen: Die Einberufung kann in Abweichung zu § 123 am 21. Tag vor der Versammlung erfolgen. Dann muss sich der Nachweis auf den Beginn des zwölften Tages beziehen und am vierten Tag zugehen. Außerdem müssen Mitteilungen dann in Abweichung von § 125 zwölf Tage vor der Versammlung bzw. an die zwölf Tage vor der Versammlung im Aktienregister eingetragenen Aktionäre versandt werden. Schließlich können dann Ergänzungsverlangen abweichend von § 122 Abs. 2 bis 14 Tage vor der Versammlung gestellt werden. Es ist umstritten, ob und inwieweit, diese Möglichkeiten trotz der inzwischen besseren Planbarkeit auch in der Saison 2021 genutzt werden dürfen. Unstrittig dürfte dies für den Fall sein, in denen eine bereits einberufene Präsenzversammlung pandemiebedingt abgesagt und die Fristverkürzung genutzt wird, um eine virtuelle Versammlung am gleichen Tag abzuhalten. Auch sonst mag es aber gute Gründe dafür geben. Eine generelle Einschränkung ist nicht anzuerkennen. In jedem Fall kann eine diesbezügliche Fehleinschätzung im Interesse der Rechtssicherheit keinen Anfechtungsgrund darstellen. All diese Maßnahmen sind unternehmerische Ermessensentscheidungen und bedürfen der 33 Zustimmung des Aufsichtsrats (§ 1 Abs. 6 Satz 1 COVGesMG). Das führt dazu, dass bei faktischer Unmöglichkeit einer Präsenzversammlung der Vorstand entgegen § 121 Abs. 2 Satz 1 eine Hauptversammlung letztlich nicht allein einberufen kann. § 1 Abs. 7 COVGesMG enthält einen weitgehenden Anfechtungsausschluss, nach dem eine 34 Verletzung der dort genannten Normen (insbesondere das Teilnahme-, Stimm- und Fragerecht) nur bei nachgewiesenem Vorsatz der Gesellschaft einen Anfechtungsgrund darstellt. Der Gesetzgeber beabsichtigt Gesellschaften, aufgrund einer satzungsmäßigen Ermächti- 35 gung, künftig dauerhaft rein virtuelle Hauptversammlungen zu ermöglichen, bei denen die Aktionärsrechte aber gegenüber den Pandemieregeln ausgebaut und stärker ins Vorfeld verlagert werden sollen.89) _____________ 89) Vgl. näher Seibt/Danwerth, AG 2022, 179 ff.

§ 119 Rechte der Hauptversammlung Dirk Kocher

(1) Die Hauptversammlung beschließt in den im Gesetz und in der Satzung ausdrücklich bestimmten Fällen, namentlich über 1. die Bestellung der Mitglieder des Aufsichtsrats, soweit sie nicht in den Aufsichtsrat zu entsenden oder als Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer nach dem Mitbestimmungsgesetz, dem Mitbestimmungsergänzungsgesetz, dem Drittelbeteiligungsgesetz oder dem Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung zu wählen sind; 2. die Verwendung des Bilanzgewinns; 3. das Vergütungssystem und den Vergütungsbericht für Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats der börsennotierten Gesellschaft;

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Rechte der Hauptversammlung

4. die Entlastung der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats; 5. die Bestellung des Abschlußprüfers; 6. Satzungsänderungen; 7. Maßnahmen der Kapitalbeschaffung und der Kapitalherabsetzung; 8. die Bestellung von Prüfern zur Prüfung von Vorgängen bei der Gründung oder der Geschäftsführung; 9. die Auflösung der Gesellschaft. (2) Über Fragen der Geschäftsführung kann die Hauptversammlung nur entscheiden, wenn der Vorstand es verlangt. Literatur: Altmeppen, Gestreckter Nachteilsausgleich bei Benachteiligung der faktisch abhängigen AG durch Hauptversammlungsbeschluss nach § 119 Abs. 2 AktG, ZIP 2016, 441; Arnold, Mitwirkungsbefugnisse der Aktionäre nach Gelatine und Macrotron, ZIP 2005, 1573; Balthasar, Allgemeine Zugangsvoraussetzungen zu den Restrukturierungsinstrumenten, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 18; Bayer, Delisting: Korrektur der Frosta-Rechtsprechung durch den Gesetzgeber, NZG 2015, 1169; Brellochs, Der Rückzug von der Börse nach „Frosta“, AG 2014, 633; Brinkmann, Der strategische Eigenantrag – Missbrauch oder kunstgerechte Handhabung des Insolvenzverfahrens?, ZIP 2014, 197; Dietz-Vellmer, Hauptversammlungsbeschlüsse nach § 119 Abs. 2 AktG – ein geeignetes Mittel zur Haftungsvermeidung für Organe?, NZG 2014, 721; Eidenmüller, Strategische Insolvenz: Möglichkeiten, Grenzen, Rechtsvergleichung, ZIP 2014, 1197; Ekkenga/Schneider, „Holzmüller“ und seine Geburtsfehler – hier: Die angebliche Schrankenlosigkeit der Vertretungsmacht des Mutter-Vorstands im Konzern, ZIP 2017, 1053; v. Falkenhausen, Enthaftung durch Hauptversammlungsbeschluss – Kann § 93 IV Satz 1 AktG den Vorstand vor Haftung schützen?, NZG 2016, 601; Fehrenbach, Die Beteiligung der Gesellschafter beim Eigenantrag der Gesellschaft auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens, ZIP 2020, 2370; Feldhaus, Der Verkauf von Unternehmensteilen einer Aktiengesellschaft und die Notwendigkeit einer außerordentlichen Hauptversammlung, BB 2009, 562; Fleischer, Ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeiten im Aktienrecht, NJW 2004, 2335; Goette, Organisation und Zuständigkeit im Konzern, AG 2006, 522; Groß, Die Neuregelung des Anlegerschutzes beim Delisting, AG 2015, 812; Habersack, Mitwirkungsrechte der Aktionäre nach Macrotron und Gelatine, AG 2005, 137; Hippeli, Kein ungeschriebenes Zustimmungserfordernis der Hauptversammlung zu einem Merger of Equals, NZG 2019, 535; Hofmeister, Veräußerung und Erwerb von Beteiligungen bei der Aktiengesellschaft: Denkbare Anwendungsfälle der Gelatine-Rechtsprechung?, NZG 2008, 47; Keller, Der Gesellschafter im Insolvenzplanverfahren, BB 2020, 2435; Kiefner, Beteiligungserwerb und ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeit, ZIP 2011, 545; Kleinhenz/Leyendecker, Voraussetzungen und Reichweite der Haftungsbefreiung nach § 93 Abs. 4 S. 1 AktG bei M&A-Transaktionen, BB 2012, 861; Koch, Die Zuständigkeit der Hauptversammlung für Zusammenschlussvorhaben nach dem Linde/Praxair-Modell, ZGR 2019, 588; Kocher/ Seiz, Das neue Delisting nach § 39 Abs. 2 – 6 BörsG, DB 2016, 153; Koppensteiner, Holzmüller auf dem Prüfstand des BGH, Der Konzern 2004, 381; v. d. Linden, Kann die Satzung eine Börsennotierung vorschreiben?, NZG 2015, 176; Lutter, Zahlungseinstellung und Überschuldung unter der neuen Insolvenzordnung, ZIP 1999, 641; Priester, Aktionärsentscheid zum Unternehmenserwerb, AG 2011, 654; Rauhut, Die Gesellschafter unter dem StaRUG, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 52; Rousseau/Wasse, Der Beschluss der Hauptversammlung über die Verwendung eines Bilanzverlustes, NZG 2010, 535; Saenger/Al-Wraikat, Insolvenzrecht versus Gesellschaftsrecht: Wer darf bei der GmbH wann den Schutzschirm öffnen?, NZG 2013, 1201; Schäfer, Muss die Hauptversammlung einem Schutzschirmverfahrens zustimmen?, ZIP 2020, 1950; Schockenhoff, Delisting – Karlsruhe locuta, causa finita?, ZIP 2013, 2429; Scholz, Zurück ins „Macrotron“-Zeitalter durch Satzungsregelung?, BB 2015, 2248; Seibt/Bulgrin, Entwurf zum Unternehmensstabilisierungs- und Restrukturierungsgesetz (StaRUG) – Kritische Analyse aus gesellschaftsrechtlicher Sicht, DB 2020, 2226; Seibt/Bulgrin, Strategische Insolvenz: Insolvenz-

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Rechte der Hauptversammlung

planverfahren als Gestaltungsinstrument zur Überwindung bestandsgefährdender Umstände, ZIP 2017, 353; Seidel/Kromer, Fusion von Linde und Praxair auch ohne Hauptversammlungsbeschluss zulässig, AG 2019, 206; Skauradszun; Anteilsinhaberrechte im präventiven Restrukturierungsrahmen, NZG 2019, 761; Spahlinger, Die Rolle der Gesellschafter im Restrukturierungsverfahren: Gestaltungsspielräume des deutschen Gesetzgebers, Einflussmöglichkeiten, Chancen und Risiken für die Gesellschafter, NZI Beilage z. Heft 1/2019, S. 69; Stephan/Strenger, Die Zuständigkeit der Hauptversammlung bei Strukturveränderungen – ein anlassbedingter Vorschlag, AG 2017, 346; Stöber, Ungeschriebene Hauptversammlungskompetenzen am Beispiel des Börsenrückzugs und der fakultativen Insolvenzantragstellung, WM 2014, 1757; Strohn, Zur Zuständigkeit der Hauptversammlung bei Zusammenschlussvorhaben unter Gleichen, ZHR 182 (2018) 114; Weißhaupt, Holzmüller-Informationspflichten nach den Erläuterungen des BGH in Sachen „Gelatine“, AG 2004, 585; Wertenbruch, Gesellschafterbeschluss für Insolvenzantrag bei drohender Zahlungsunfähigkeit?, DB 2013, 1592; Wilsing, Die Zuständigkeit für Unternehmenszusammenschlüsse am Beispiel Linde/Praxair – Gedanken de lege lata und de lege ferenda, in: Festschrift für Reinhard Marsch-Barner, 2018, S. 595.

Übersicht I. Regelungsgehalt und Bedeutung .... 1 II. Zuständigkeitskatalog (§ 119 Abs. 1) ................................................. 3 1. Regelmäßig wiederkehrende Maßnahmen ........................................ 3 2. Strukturmaßnahmen .......................... 4 3. Sonderfälle .......................................... 6 III. Zuständigkeit in Geschäftsführungsangelegenheiten (§ 119 Abs. 2) ................................................. 7 1. Allgemeines ........................................ 7 a) Begriff der Geschäftsführungsangelegenheiten ................... 7 b) Grundsatz: Keine Zuständigkeit ................................ 8 I.

c) Vertretungszuständigkeit ............ 9 2. Voraussetzungen der Hauptversammlungskompetenz ................ 11 3. Beschlussfassung .............................. 13 4. Beschlusswirkung ............................. 14 IV. Ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeiten ........... 18 1. Überblick .......................................... 18 2. Reichweite ........................................ 19 a) Qualitativ .................................... 19 b) Quantitativ ................................. 21 3. Einzelfälle ......................................... 26 4. Informationspflichten ...................... 34 5. Beschlussfassung .............................. 36 6. Rechtsfolgen von Verstößen ........... 37

Regelungsgehalt und Bedeutung

§ 119 legt die Zuständigkeit der Hauptversammlung1) fest und grenzt ihren Kompetenz- 1 bereich gegenüber dem der anderen Organe ab. Der Zweck der Norm liegt somit in der Machtverteilung zwischen den Organen, Nebeneffekt ist die Enthaftung des Vorstands gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1.2) Die Kompetenzen der Hauptversammlung lassen sich abschließend aus dem Gesetz (wenn 2 auch nicht aus § 119) ableiten (Enumerationsprinzip, zu Ausnahmen siehe Rz. 18 ff.).3) Ihr steht kein Recht zu, Kompetenzen an sich zu ziehen (keine Kompetenz-Kompetenz).4) Die Kompetenzordnung des § 119 ist satzungsfest5) und gebietet Zurückhaltung bei der Annahme ungeschriebener Hauptversammlungskompetenzen.6) Sie beschränkt auch _____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6)

Zu deren Tätigkeitsformen Tröger in: KölnKomm-AktG, § 119 Rz. 18 ff. So ganz h. A., vgl. nur K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 119 Rz. 1 m. w. N. Bungert in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 35 Rz. 11. Vgl. nur Heidel-Krenek/Pluta, AktR, § 119 AktG Rz. 4; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 119 Rz. 9. K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 119 Rz. 2. Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 119 Rz. 1.

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Rechte der Hauptversammlung

die Minderheitenrechte aus § 122, die nur für Tagesordnungspunkte bestehen, für die die Hauptversammlung eine Kompetenz hat. II.

Zuständigkeitskatalog (§ 119 Abs. 1)

1.

Regelmäßig wiederkehrende Maßnahmen

3 § 119 Abs. 1 Nr. 1 nennt die Bestellung der Mitglieder des Aufsichtsrats nach § 101 Abs. 1, soweit keine Entsendung (§ 101 Abs. 2) oder Wahl nach den Mitbestimmungsgesetzen erfolgt. § 119 Abs. 1 Nr. 2 betrifft die Hauptversammlungszuständigkeit nach § 174 Abs. 1, den Beschluss über die Verwendung des Bilanzgewinns. Beschlussvorschläge über die Verwendung eines etwaigen Bilanzverlustes sollten vermieden werden, da ohnehin ein automatischer Verlustvortrag erfolgt und der Hauptversammlung kein Entscheidungsspielraum verbleibt.7) § 119 Abs. 1 Nr. 3 umfasst die durch das ARUG II8) eingeführten Hauptversammlungsvoten zu Vergütungssystem und Vergütungsbericht nach § 120a. § 119 Abs. 1 Nr. 4 nennt die Entlastung der Verwaltungsmitglieder nach § 120 Abs. 1, § 119 Abs. 1 Nr. 5 die Bestellung des Abschlussprüfers nach § 318 Abs. 1 HGB. 2.

Strukturmaßnahmen

4 § 119 Abs. 1 Nr. 6 betrifft Satzungsänderungen, § 179; § 119 Abs. 1 Nr. 7 nennt Kapitalmaßnahmen nach §§ 182 ff. und §§ 222 ff. § 119 Abs. 1 Nr. 8 betrifft die Bestellung von Sonderprüfern und Nr. 9 die Auflösung der Gesellschaft gemäß § 262 Abs. 1 Nr. 2. 5 Weitere Strukturmaßnahmen sind insbesondere im Umwandlungsgesetz (§§ 65 Abs. 1, 73, 193 Abs. 1, 226 ff. UmwG), aber auch im AktG (§§ 71 Abs. 1 Nr. 8, 179a Abs. 1, 274 Abs. 1, 319, 320, 327a) der Hauptversammlungszuständigkeit zugewiesen. Auch §§ 33 Abs. 2, 33a Abs. 2 Nr. 1, 33c Abs. 1 und 2 WpÜG enthalten eine solche. Daneben sind einige ungeschriebene Hauptversammlungskompetenzen anerkannt, siehe Rz. 18 ff. 3.

Sonderfälle

6 Hierunter sind sämtliche Maßnahmen zu verstehen, die nicht als regelmäßig wiederkehrende oder als Strukturmaßnahmen einzustufen sind.9) § 119 Abs. 1 Nr. 7 nennt die Bestellung von Sonderprüfern, § 142 Abs. 1. Weitere Hauptversammlungszuständigkeiten finden sich etwa in §§ 50, 52 Abs. 1, 84 Abs. 3, 103 Abs. 1 und § 147 Abs. 1 und 2. III.

Zuständigkeit in Geschäftsführungsangelegenheiten (§ 119 Abs. 2)

1.

Allgemeines

a)

Begriff der Geschäftsführungsangelegenheiten

7 Erfasst sind sämtliche tatsächliche oder rechtliche Tätigkeiten, die unmittelbar auf die Verfolgung des Gesellschaftszwecks gerichtet sind und die originär der Kompetenz des Vorstands unterfallen, d. h. für die weder eine gesetzliche Zuständigkeit des Aufsichtsrats besteht noch eine geschriebene oder ungeschriebene gesetzliche Hauptversammlungskompetenz.10) Auch bereits abgeschlossene Maßnahmen können der Hauptversammlung _____________ 7) Vgl. Rousseau/Wasse, NZG 2010, 535, 536. 8) Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2637. 9) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 119 Rz. 12; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 119 Rz. 8. 10) Vgl. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 119 Rz. 24; zu den äußerst geringen Gestaltungsmöglichkeiten in der Satzung vgl. Mülbert in: GroßKomm-AktG, § 119 Rz. 190.

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Rechte der Hauptversammlung

vorgelegt werden,11) allerdings ist hierbei Vorsicht geboten: Mangels der erforderlichen Kausalität („beruhen“, § 93 Abs. 4 Satz 1) zwischen der Maßnahme und dem Hauptversammlungsbeschluss kann keine Enthaftung nach § 93 Abs. 4 Satz 1 mehr eintreten (siehe näher § 93 Rz. 82).12) Ferner darf mit letzterem weder eine nach § 120 unzulässige Entlastung für Einzelmaßnahmen (siehe § 120 Rz. 6) noch ein vorsorglicher Regressverzicht erstrebt werden. Dagegen entfällt die Ersatzpflicht gegenüber der Gesellschaft durch eine Vorlage in dem Fall, dass ein vom Vorstand durchgeführter Vertragsschluss noch unter dem Zustimmungsvorbehalt der Hauptversammlung steht.13) b)

Grundsatz: Keine Zuständigkeit

Geschäftsführungsangelegenheiten unterfallen der Zuständigkeit des Vorstands; es besteht 8 im Grundsatz keine Hauptversammlungszuständigkeit. Die Hauptversammlung kann eine solche auch nicht durch Beschluss begründen. Dies gilt auch in der Einpersonen-AG.14) c)

Vertretungszuständigkeit

Auch hier gilt der allgemeine Grundsatz, dass der Vorstand die Gesellschaft vertritt (§ 78 9 Abs. 1). Ausnahmen bestehen bei rein verbandsinternen Maßnahmen, für die die Hauptversammlung organschaftliche Vertretungsmacht ausübt. Hierzu zählen die Bestellung und Abberufung von Aufsichtsratsmitgliedern, die Entlastung von Organmitgliedern und die Bestellung von besonderen Vertretern nach § 147 Abs. 2.15) Darüber hinaus hat die Hauptversammlung bei der Bestellung von Sonderprüfern eine rechtsgeschäftliche Vertretungsbefugnis.16) Keine Vertretungsbefugnis besteht in Fällen, in denen eine Maßnahme des Vorstands intern 10 nur mit Zustimmung der Hauptversammlung wirksam wird oder in denen ein Vertragsschluss unter der aufschiebenden Bedingung der Zustimmung der Hauptversammlung steht.17) 2.

Voraussetzungen der Hauptversammlungskompetenz

Maßnahmen aus seinem Zuständigkeitsbereich18) kann der Vorstand grundsätzlich nach 11 freiem Ermessen der Hauptversammlung vorlegen. Erforderlich ist ein Beschluss des Kol-

_____________ 11) Vgl. BGH, Urt. v. 15.1.2001 – II ZR 124/99 (Altana/Milupa), ZIP 2001, 416, 417. 12) Vgl. Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 119 AktG Rz. 20; a. A. für den Fall, dass der abgeschlossene Vertrag unter dem Rücktrittsvorbehalt der Nichtzustimmung der Hauptversammlung steht, Kleinhenz/ Leyendecker, BB 2012, 861, 862 f.; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 119 Rz. 25, mit der Einschränkung, dass den Vorstand dann das Risiko eines abweichenden Beschlusses trifft. 13) Vgl. BGH, Urt. v. 15.1.2001 – II ZR 124/99 (Altana/Milupa), ZIP 2001, 416, 417; v. Falkenhausen, NZG 2016, 601, 602 m. w. N. 14) Ganz h. M., vgl. nur K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 119 Rz. 14 m. w. N. 15) Vgl. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 119 Rz. 19 m. w. N.; Mülbert in: GroßKomm-AktG, Vor §§ 118 – 147 Rz. 23 m. w. N. 16) Vgl. Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 119 Rz. 11; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 119 Rz. 19; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 142 Rz. 35; für organschaftliche Vertretungsbefugnis auch in diesem Fall Mülbert in: GroßKomm-AktG, Vor §§ 118 – 147 Rz. 22. 17) Vgl. BGH, Urt. v. 15.1.2001 – II ZR 124/99 (Altana/Milupa), ZIP 2001, 416, 418; Bürgers/Körber/ Lieder-Reger, AktG, § 119 Rz. 11; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 119 Rz. 19; K. Schmidt/LutterSpindler, AktG, § 118 Rz. 13 – intern zustimmungsbedürftige Maßnahmen; zu ungeschriebenen Hauptversammlungszuständigkeiten BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 (Gelatine), ZIP 2004, 993 mit Anm. Altmeppen, dazu EWiR 2004, 573 (Just) und ebenso unten Rz. 18 ff. 18) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 119 Rz. 24 m. w. N.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 119 Rz. 13.

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Rechte der Hauptversammlung

legialorgans mit der nach § 77 erforderlichen Mehrheit.19) Verweigert der Aufsichtsrat die erforderliche Zustimmung zu einer Geschäftsführungsmaßnahme des Vorstands (§ 111 Abs. 4 Satz 3), kann dieser die Maßnahme ohne nochmalige vorherige Anrufung des Aufsichtsrats der Hauptversammlung zur Billigung vorlegen, jedoch gilt in diesen Fällen das qualifizierte Mehrheitserfordernis nach § 111 Abs. 4 Satz 4.20) 12 Der Vorstand hat der Hauptversammlung einen Beschlussvorschlag nach § 124 Abs. 3 Satz 1 zu unterbreiten (siehe § 124 Rz. 19 f.).21) Ferner sind der Hauptversammlung sämtliche Informationen zur Verfügung zu stellen, die für die sachgerechte Willensbildung benötigt werden.22) 3.

Beschlussfassung

13 Notwendig ist grundsätzlich die einfache Mehrheit, § 133 Abs. 1.23) Etwas anderes gilt in Fällen des § 111 Abs. 4 Satz 3. Inhaltlich ist die Hauptversammlung nicht in dem Sinne an den Beschlussvorschlag des Vorstands gebunden, dass sie ihn nur annehmen oder ablehnen kann. Vielmehr kann sie Änderungen am Beschlussvorschlag des Vorstands vornehmen.24) 4.

Beschlusswirkung

14 Dem Hauptversammlungsbeschluss kommt prinzipiell keine Außenwirkung zu. 15 Gegenüber dem Vorstand entfaltet der Hauptversammlungsbeschluss grundsätzlich Bindungswirkung, § 83 Abs. 2.25) Sobald der Hauptversammlung einmal eine Geschäftsführungsmaßnahme vorgelegt wurde, erfährt der Vorstand folglich einen Kontrollverlust. 16 Keine Bindungswirkung entfalten gesetzeswidrige, also nichtige und anfechtbare Beschlüsse, letztere jedenfalls, soweit sie fristgemäß angefochten wurden, und Beschlüsse, deren Vollzug gesetzeswidrig wäre.26) 17 Durch Herbeiführung eines Hauptversammlungsbeschlusses kann der Vorstand ferner gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 seine Haftung gegenüber der Gesellschaft ausschließen (siehe schon Rz. 7).27) Die Hauptversammlung ist zu diesem Zweck vor Beschlussfassung umfassend zu informieren (siehe näher Rz. 34 f.). Nichtige Beschlüsse können den Vorstand ebenso wenig befreien wie solche „Enthaftungsbeschlüsse“, zu deren Anfechtung der Vorstand verpflichtet ist. Die bloße Anfechtbarkeit des Beschlusses durch den Vorstand ist für seine Haftungsbefreiung hingegen unschädlich.28)

_____________ 19) Vgl. nur K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 119 Rz. 16 m. w. N.; Mülbert in: GroßKomm-AktG, § 119 Rz. 198. 20) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 119 Rz. 26; ebenso Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 119 AktG Rz. 18. 21) Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 119 AktG Rz. 17. 22) BGH, Urt. v. 15.1.2001 – II ZR 124/99 (Altana/Milupa), ZIP 2001, 416, 417. 23) Vgl. nur K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 119 Rz. 23 m. w. N. 24) Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 119 AktG Rz. 21; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 119 Rz. 26. 25) Allg. M., vgl. nur Kubis in: MünchKomm-AktG, § 119 Rz. 27; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 119 Rz. 25. 26) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 119 Rz. 27; ohne Hinweis auf die Notwendigkeit einer fristgemäßen Anfechtung entsprechender Beschlüsse K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 119 Rz. 25 m. w. N. 27) Allg. M., s. Dietz-Vellmer, NZG 2014, 721, 725 ff.; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 119 AktG Rz. 23; Mülbert in: GroßKomm-AktG, § 119 Rz. 210. 28) Ausführlich zu alledem v. Falkenhausen, NZG 2016, 601, 603 f. m. w. N., der allerdings gerade keine Anfechtungspflicht des Vorstands anerkennt.

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§ 119

Rechte der Hauptversammlung IV.

Ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeiten

1.

Überblick

Vom BGH zunächst auf § 119 Abs. 2 gestützt (Ermessensschrumpfung)29) und entgegen 18 der Annahme einer Gesetzesanalogie zu gesetzlich geregelten Mitwirkungsbefugnissen,30) werden ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeiten nunmehr als das „Ergebnis offener Rechtsfortbildung“ bezeichnet.31) In der Literatur wird dies zum Teil kritisiert.32) Für die Praxis hat die Frage eine untergeordnete Bedeutung. 2.

Reichweite

a)

Qualitativ

Nach der sog. Holzmüller-Entscheidung des BGH gibt es „grundlegende Entscheidungen, 19 die durch die Außenvertretungsmacht des Vorstands, seine gemäß § 82 Abs. 2 AktG begrenzte Geschäftsführungsbefugnis wie auch durch den Wortlaut der Satzung formal noch gedeckt sind, gleichwohl aber so tief in die Mitgliedsrechte der Aktionäre und deren im Anteilseigentum verkörpertes Vermögensinteresse eingreifen, dass der Vorstand vernünftigerweise nicht annehmen kann, er dürfe sie in ausschließlich eigener Verantwortung treffen, ohne die Hauptversammlung zu beteiligen“.33) Diese Aussage wurde näher konkretisiert durch die sog. GelatineRechtsprechung34) aus dem Jahr 2004. So stellte der BGH klar, dass derlei Hauptversammlungskompetenzen nur „ausnahmsweise und in engen Grenzen“ anzuerkennen seien.35) Der Schutzzweck liege darin, die Aktionäre vor Eingriffen in ihre Mitgliedsrechte, die ihren Auswirkungen nach an die Notwendigkeit einer Satzungsänderung heranreichten, zu schützen. Ein solcher Eingriff kann, muss aber nicht in der Mediatisierung des Einflusses der Aktionäre liegen.36) Zugleich solle der Schutz der Anteilseigner vor einer „nachhaltigen Schwächung des Wertes ihrer Beteiligung“ durch grundlegende Entscheidungen des Vorstands gewährleistet werden.37) Somit bedarf es zunächst einer grundlegenden Strukturentscheidung für die Gesellschaft, die 20 etwa mit umwandlungsrechtlichen Vorgängen oder dem Abschluss von Unternehmensverträgen vergleichbar ist.38) b)

Quantitativ

In einem zweiten Schritt ermittelt der BGH, ob die Maßnahme zu einer „nachhaltigen 21 Schwächung des Wertes“ der Beteiligung der Aktionäre führt. Dies ist regelmäßig erst dann _____________ 29) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 (Holzmüller), ZIP 1982, 568, 571. 30) BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 (Gelatine), ZIP 2004, 993, 997 mit Anm. Altmeppen, m. w. N. 31) BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 (Gelatine), ZIP 2004, 993, 997 mit Anm. Altmeppen, sowie BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 (Gelatine II), NZG 2004, 575, 578 = ZIP 2004, 1001, dazu EWiR 2004, 1161 (Hirte). 32) So etwa bei Arnold, ZIP 2005, 1573, 1575; Fleischer, NJW 2004, 2335, 2337; Koppensteiner, Der Konzern 2004, 381, 385 f.; Weißhaupt, AG 2004, 585, 586; vgl. auch K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 119 Rz. 29. 33) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 (Holzmüller), ZIP 1982, 568, 571. 34) BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 (Gelatine), ZIP 2004, 993 mit Anm. Altmeppen, sowie BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 (Gelatine II), NZG 2004, 575 = ZIP 2004, 1001. 35) BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 (Gelatine), ZIP 2004, 993 mit Anm. Altmeppen, sowie BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 (Gelatine II), NZG 2004, 575 = ZIP 2004, 1001. 36) So zutreffend Goette, AG 2006, 522, 525. 37) BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 (Gelatine), ZIP 2004, 993, 996 mit Anm. Altmeppen, sowie BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 (Gelatine II), NZG 2004, 575, 577 = ZIP 2004, 1001. 38) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 119 Rz. 30.

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Rechte der Hauptversammlung

der Fall, „wenn der Bereich, auf den sich die Maßnahme erstreckt, in seiner Bedeutung für die Gesellschaft die Ausmaße der Ausgliederung in dem vom Senat entschiedenen HolzmüllerFall erreicht“;39) die dort vorgenommene Maßnahme betraf ca. 80 % des Substanzwerts der Gesellschaft. Betroffen war der „wertvollste Betriebszweig“.40) 22 Dem folgend wird in der Literatur ein Schwellenwert von ca. 75 – 80 %, allerdings bezogen auf diverse Parameter, angenommen.41) 23 Dabei ist noch ungeklärt, auf welche Größen sich der Schwellenwert zu beziehen hat. Jedenfalls ist eine Gesamtwürdigung der Umstände notwendig.42) Herangezogen werden zumeist die Ertragskraft, die Bilanzsumme und die Umsatzerlöse43) und das Ergebnis vor Zinsen und Steuern,44) daneben auch die Mitarbeiterzahl,45) das Anlagevermögen und das Eigenkapital.46) In zeitlicher Hinsicht ist der Zeitpunkt der Durchführung der Maßnahme maßgeblich.47) 24 Im Ausgangspunkt müssen sich diese Größen auf die Gesellschaft – und nicht den gesamten Konzern – beziehen.48) Etwas anderes gilt, sofern die Strukturmaßnahme mehrere Tochtergesellschaften einer Konzernobergesellschaft betrifft. Die selbständige Betrachtung einzelner Konzerngesellschaften ist dann nicht mehr sinnvoll; vielmehr ist hinsichtlich der Strukturmaßnahme eine konsolidierte Betrachtung anzustellen.49) 25 Probleme können sich in diesem Fall bei der Berechnung des Schwellenwertes ergeben. Konzern- und Einzelabschlüsse sind für diese Zwecke nach demselben Standard (HGB bzw. IFRS) aufzustellen bzw. dahingehend überzuleiten. Zudem stellt sich die Frage, inwieweit Binnenumsätze im Konzern zu berücksichtigen sind. 3.

Einzelfälle

26 Der BGH selbst nannte als zustimmungspflichtige Maßnahmen ursprünglich die Ausgründung eines Betriebs auf eine Tochtergesellschaft sowie die anschließende oder isolierte Durchführung einer Kapitalerhöhung auf Ebene der Tochtergesellschaft, was bzgl. einer Kapitalerhöhung jedenfalls bei voller Bezugsrechtsausübung schon mangels Gefährdung nicht überzeugen kann,50) den dortigen Abschluss von Unternehmensverträgen51) sowie _____________ 39) BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 (Gelatine), ZIP 2004, 993, 998 mit Anm. Altmeppen, sowie BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 (Gelatine II), NZG 2004, 575, 579 = ZIP 2004, 1001. 40) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 (Holzmüller), ZIP 1982, 568, 571. 41) Vgl. K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 119 Rz. 32; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 119 AktG Rz. 39; Fuhrmann, AG 2004, 339, 341; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 119 Rz. 25. 42) So OLG Stuttgart, Urt. v. 13.7.2005 – 20 U 1/05, ZIP 2005, 1415, 1418; vgl. auch Bürgers/Körber/ Lieder-Reger, AktG, § 119 Rz. 21, und Semler/Stengel/Leonard-Schlitt, UmwG, Anh. § 173 Rz. 35. 43) So OLG Hamm, Urt. v. 19.11.2007 – 8 U 216/07 (Arcandor), ZIP 2008, 832, 834, dazu EWiR 2008, 227 (v. d. Linden/Ogorek); OLG Stuttgart, Urt. v. 13.7.2005 – 20 U 1/05, ZIP 2005, 1415, 1418. 44) LG München I, Urt. v. 8.6.2006 – 5 HK 5025/06, ZIP 2006, 2036, 2040. 45) OLG Hamm, Urt. v. 19.11.2007 – 8 U 216/07 (Arcandor), ZIP 2008, 832, 834; LG München I, Urt. v. 8.6.2006 – 5 HK 5025/06, ZIP 2006, 2036, 2040. 46) So OLG Stuttgart, Urt. v. 13.7.2005 – 20 U 1/05, ZIP 2005, 1415, 1418. 47) Ohne weitere Begr. implizit BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 (Gelatine), ZIP 2004, 993, 994 mit Anm. Altmeppen. 48) Vgl. etwa OLG Stuttgart, Urt. v. 13.7.2005 – 20 U 1/05, ZIP 2005, 1415, 1418; K. Schmidt/LutterSpindler, AktG, § 119 Rz. 32; a. A. Semler/Stengel/Leonard-Schlitt, UmwG, Anh. § 173 Rz. 35; Feldhaus, BB 2009, 562, 567 f. 49) Vgl. LG München I, Urt. v. 8.6.2006 – 5 HK 5025/06, ZIP 2006, 2036, 2040. 50) Dennoch undifferenziert BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 (Holzmüller), ZIP 1982, 568, 573; dagegen zu Recht mit ausführlicher Darstellung Kubis in: MünchKomm-AktG, § 119 Rz. 80 ff. 51) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 (Holzmüller), ZIP 1982, 568, 573.

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die Auflösung oder die Übertragung des gesamten Gesellschaftsvermögens (§ 179a).52) Ferner wurde die „Umhängung“ einer Tochtergesellschaft unter eine andere Tochtergesellschaft aufgrund des damit verbundenen „weiteren Mediatisierungseffekts“53) als – bei entsprechender wirtschaftlicher Bedeutung – zustimmungspflichtig eingestuft. Maßnahmen auf der Ebene bestehender Enkelgesellschaften sollen dagegen keine Zustimmungspflicht auslösen, da die Aktionäre der Obergesellschaft „auch zuvor nur beschränkten Einfluss hatten“.54) Die Fallgruppe der Veräußerung von Beteiligungen und Unternehmensteilen unter- 27 liegt nach heute überwiegender Ansicht unabhängig von ihrer Größenordnung keiner Zustimmungspflicht.55) Der BGH hat in seiner Entscheidung Stuttgarter Hofbräu geurteilt, dass die Veräußerung einer Beteiligung mangels Mediatisierungseffekt nicht unter die Holzmüller-Doktrin fällt. Dieses Ergebnis verhindert einen Wertungswiderspruch zu § 179a, der die Veräußerung des gesamten Vermögens voraussetzt. Ein teilweise vorgebrachter Desinvestitionseffekt56) infolge einer Veräußerung unterhalb des maßgeblichen Schwellenwerts (siehe Rz. 22) kann vor dem Hintergrund des § 179a keine Hauptversammlungskompetenz begründen. Hauptversammlungspflichtig wird eine Veräußerung gemäß § 179, wenn die Satzung an den geänderten Unternehmensgegenstand anzupassen ist oder ein Fall des § 179a Abs. 1 Satz 1 vorliegt.57) Demgegenüber kann auch nicht mit einer „Teilliquidation“ argumentiert werden. Strittig ist der Erwerb von Beteiligungen.58) Ein Urteil des LG Frankfurt am Main, wonach 28 der Erwerb der Zustimmung der Hauptversammlung bedurfte,59) wurde aufgehoben.60) Der BGH hat die Frage offengelassen.61) Richtigerweise ist sie grundsätzlich zu verneinen. Aktuell ist der Merger of Equals in die Diskussion geraten. Diesbezüglich hat das LG Mün- 29 chen I im Fall Linde/Praxair eine Zustimmung der Hauptversammlung der Linde AG zu einem die Fusion vorbereitenden sog. Business Combination Agreement (BCA) für entbehr_____________ 52) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 (Holzmüller), ZIP 1982, 568, 574. 53) BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 (Gelatine), ZIP 2004, 993 mit Anm. Altmeppen, sowie BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 (Gelatine II), NZG 2004, 575 = ZIP 2004, 1001. 54) OLG Hamm, Urt. v. 19.11.2007 – 8 U 216/07 (Arcandor), ZIP 2008, 832, 833 f., dazu EWiR 2008, 227, 228 (v. d. Linden/Ogorek). 55) BVerfG, Beschl. v. 7.9.2011 – 1 BvR 1460/10 (Strabag), ZIP 2011, 2094, dazu EWiR 2012, 3 (Nietsch); OLG Hamm, Urt. v. 19.11.2007 – 8 U 216/07 (Arcandor), ZIP 2008, 832, 834 f., dazu EWiR 2008, 227, 228 (v. d. Linden/Ogorek); ferner in einem obiter dictum OLG Stuttgart, Urt. v. 13.7.2005 – 20 U 1/05, ZIP 2005, 1415, 1418; bestätigt durch BGH, Beschl. v. 20.11.2006 – II ZR 226/05, ZIP 2007, 24 mit Anm. v. Falkenhausen = DStR 2007, 586; aus der Literatur vgl. etwa Feldhaus, BB 2009, 562, 567; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 119 Rz. 22; Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 119 Rz. 16; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 119 Rz. 35; v. Falkenhausen, ZIP 2007, 24, 25 f. (Urteilsanm.); Hofmeister, NZG 2008, 47, 50; Goette, AG 2006, 522, 527 m. w. N.; a. A. Hoffmann in: BeckOGKAktR, § 119 AktG Rz. 43 ff., mit dem Hinweis, dass es im vorstehend aufgeführten BGH-Beschluss lediglich um die Veräußerung von 50 % der Kommanditanteile an einer Tochtergesellschaft ging. 56) Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 119 AktG Rz. 44; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 119 Rz. 155. 57) Ausführlich v. Falkenhausen, ZIP 2007, 24, 26 (Urteilsanm.). 58) Dazu Kiefner, ZIP 2011, 545; Priester, AG 2011, 654; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 119 Rz. 34. Rechtspolitisch für eine Ausdehnung auf wesentliche Aktiv- und Passivtransaktionen Stephan/Strenger, AG 2017, 346 ff. 59) LG Frankfurt/M., Urt. v. 15.12.2009 – 3-5 O 208/09, ZIP 2010, 429, 431 m. w. N. (inzwischen aufgehoben durch OLG Frankfurt/M., Urt. v. 7.12.2010 – 5 U 29/10, ZIP 2011, 75, s. Fn. 57); dem Urteil des LG Frankfurt/M. zustimmend Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 119 AktG Rz. 37. In diese Richtung auch Goj, Ungeschriebenes Hauptversammlungserfordernis beim Beteiligungswert?, u. a. S. 341. 60) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 7.12.2010 – 5 U 29/10, ZIP 2011, 75, dazu EWiR 2011, 33 (Nikoleyczik/ Wahl); bestätigt durch BGH, Beschl. v. 7.2.2012 – II ZR 253/10, ZIP 2012, 515, dazu WuB II A § 120 AktG 1.12 (Wilhelm). 61) BGH, Beschl. v. 7.2.2012 – II ZR 253/10, ZIP 2012, 515, dazu WuB II A § 120 AktG 1.12 (Wilhelm).

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lich gehalten.62) Entscheidungstragend war in Abgrenzung zu Holzmüller/Gelatine die freie Wahlmöglichkeit der Aktionäre hinsichtlich der Annahme des Übernahmeangebots, die eine Machtposition verleihe, die „sogar über die Auswirkungen eines Hauptversammlungsbeschlusses hinausgehen wird“.63) Eine Hauptversammlungszuständigkeit könne außerdem nicht aus der Notwendigkeit einer Satzungsänderung (§ 179 Abs. 1 Satz 1) bei fehlender Konzernöffnungsklausel abgeleitet werden, da das AktG gerade keine sog. Konzerneingangskontrolle vorsieht.64) Die Entscheidung ist in der Literatur zu Recht überwiegend auf Zustimmung gestoßen.65) 30 Oft weniger relevant ist die Frage, ob der Börsengang der Gesellschaft (IPO) der Zustimmungspflicht unterliegt, da in der überwiegenden Mehrheit der Fälle ein Kapitalerhöhungsbeschluss oder Beschlüsse über eine oft notwendige oder sinnvolle Satzungsänderung seitens der Hauptversammlung zu fassen sein werden, neben denen ein weiterer Zustimmungsbeschluss zum Börsengang jedenfalls nicht erforderlich ist.66) Bei einem IPO ohne Kapitalerhöhung (also durch reine Umplatzierung) oder sonstigen hauptversammlungspflichtigen Maßnahmen ist richtigerweise (str.) kein Hauptversammlungsbeschluss erforderlich,67) wie sich als actus contrarius aus der Wertung in § 39 BörsG für das Delisting ergibt. 31 Die Anforderungen an das Delisting sind inzwischen in § 39 Abs. 2 bis 6 BörsG geregelt. Ein darauf gerichteter Emittentenantrag setzt ein Angebot zum Erwerb aller betroffenen Wertpapiere voraus, das nach den maßgeblichen WpÜG-Vorschriften zu veröffentlichen ist. Ein Hauptversammlungsbeschluss ist nicht erforderlich, eine Vorlage gemäß § 119 Abs. 2 bleibt dem Vorstand aber unbenommen.68) Unklar ist, ob Börsenordnungen einen Hauptversammlungsbeschluss fordern können. Dem ist entgegenzutreten, da sich der Gesetzgeber klar gegen eine Zuständigkeit der Hauptversammlung entschieden hat.69) Aus diesem Grund ist richtigerweise auch die Zulässigkeit einer satzungsmäßigen Festlegung der Börsennotierung einer AG oder eine Festschreibung der Macrotron-Grundsätze in der Satzung zu verneinen, sodass das Delisting keine Satzungsänderung erfordert.70) 32 Im Restrukturierungsbereich ist stark umstritten, ob ein (insolvenzrechtlich fakultativer) Insolvenzantrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit nach § 18 InsO der vorherigen Hauptversammlungszustimmung bedarf. Eine starke Meinung bejaht dies wegen der Auf_____________ 62) LG München I, Urt. v. 20.12.2018 – 5 HK O 15236/17, ZIP 2019, 266. 63) Insofern handele es sich gerade nicht um einen nach Holzmüller/Gelatine erforderlichen „Eingriff“ des Vorstands in die Mitgliedsrechte und Vermögensinteressen der Aktionäre: vgl. LG München I, Urt. v. 20.12.2018 – 5 HK O 15236/17, ZIP 2019, 266, 269; Koch, ZGR 2019, 588, 611; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 119 Rz. 154. Die erforderliche Mediatisierung könne nicht festgestellt werden: LG München I, Urt. v. 20.12.2018 – 5 HK O 15236/17, ZIP 2019, 266, 269; Hippeli, NZG 2019, 535 f.; differenzierend: Strohn ZHR 182 (2018) 114, 149 ff. 64) Vgl. LG München I, Urt. v. 20.12.2018 – 5 HK O 15236/17, ZIP 2019, 266, 273; Koch, ZGR 2019, 588, 602; Seidel/Kromer, AG 2019, 206, 207; a. A. Strohn, ZHR 182 (2018) 114, 138. 65) Vgl. etwa Wilsing in: FS Marsch-Barner, S. 595; Koch, ZGR 2019, 588; Seidel/Kromer, AG 2019, 206; Hippeli, NZG 2019, 535; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 119 Rz. 154; a. A. Strohn, ZHR 182 (2018) 114; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 119 AktG Rz. 50 f. 66) Vgl. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 119 Rz. 84; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 119 Rz. 23. 67) Zutreffend Tröger in: KölnKomm-AktG, § 119 Rz. 164 ff. m. N. auch zur Gegenansicht. 68) Kocher/Seiz, DB 2016, 153, 158. 69) Groß, AG 2015, 812, 813 f.; Kocher/Seiz, DB 2016, 153, 158; a. A. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 119 Rz. 39. 70) Wie hier Groß, AG 2015, 812, 814; Kocher/Seiz, DB 2016, 153, 158; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 119 AktG Rz. 59 ff; Scholz, BB 2015, 2248; v. d. Linden, NZG 2015, 176; Bayer, NZG 2015, 1169, 1178; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 119 Rz. 174; a. A. bzgl. Satzungsfestlegung aber Habersack, AG 2005, 137, 141; Schockenhoff, ZIP 2013, 2429, 2434; Arnold, ZIP 2005, 1573, 1576; Brellochs, AG 2014, 633, 638; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 119 Rz. 93, der auch von erfolgreichen Handelsregistereintragungen bestimmter Satzungsklauseln berichtet.

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Rechte der Hauptversammlung

lösungswirkung der Insolvenzeröffnung (§ 262 Abs. 1 Nr. 3) und wegen der Gefahren für die Aktionäre, in deren Rechte durch einen Insolvenzplan (bis zum Entzug z. B. durch Kapitalherabsetzung auf null)71) eingegriffen werden kann (§ 225a InsO).72) Es besteht aber Einigkeit, dass ein Fehlen den Antrag nicht unwirksam machen würde.73) Die ebenfalls verbreitete und überwiegende Gegenauffassung hält eine Hauptversammlungsbefassung nicht für erforderlich und verweist vor allem auf eine Gefährdung des gesetzlichen Sanierungsziels (u. a. zu lange Dauer durch die Einberufungsfristen in einer Krisensituation), die Mitwirkungsrechte der Aktionäre im Insolvenzplanverfahren, die Verursachung des Eingriffs erst durch einen nachgelagerten hoheitlichen Akt sowie die Vorstandsdisziplinierung durch Haftungsrisiken.74) Letztlich geht es hier um das Verhältnis der beiden Rechtsgebiete. Rein aktienrechtlich ließe sich zwar einiges für eine Hauptversammlungspflichtigkeit anführen, auch wenn das nicht zwingend ist. Dieses Ergebnis würde aber einen Wertungswiderspruch zum Insolvenzrecht bedeuten, das eine Sanierung durch Anträge schon bei drohender Zahlungsunfähigkeit und der Möglichkeit des Insolvenzplans erleichtern will, auch gegen den Willen der Aktionäre zu entscheiden. Daher können diese im Insolvenzplanverfahren überstimmt werden.75) Diese insolvenzrechtliche Festlegung liefe bei drohender Zahlungsunfähigkeit praktisch leer, wenn die Aktionäre bereits die Einleitung des Verfahrens verhindern könnten und auch sonst wegen der langen Hauptversammlungsfristen, so dass eine Hauptversammlungspflichtigkeit ausscheidet.76) Das Insolvenzrecht setzt sich daher richtigerweise mit seiner spezielleren Regelung durch,77) damit die Aktionäre nicht das Blockadepotential haben, das der Gesetzgeber gerade verhindern wollte. Ein zusätzliches Argument entsteht, wenn auf dem Weg in die Krise zwischenzeitlich das halbe Grundkapital verbraucht ist und eine Hauptversammlung nach § 92 einberufen wird, die den Aktionären die Möglichkeit gibt, ihrerseits Sanierungsmaßnahmen zu beschließen und damit die Krise vor Eintritt eines Insolvenzantragsgrundes zu beenden.78) Eine ähnliche Frage stellt sich für ein Restrukturierungsplanverfahren nach dem Sta- 33 RUG79), wo die Anzeige des Restrukturierungsvorhabens nach § 31 StaRUG und die weiteren Verfahrensschritte wiederum der Abwendung einer drohenden Zahlungsunfähigkeit i. S. von § 18 InsO dienen (§ 29 Abs. 1 StaRUG) und daher nicht nur die Befolgung einer Rechtspflicht darstellt. Die Argumente sind hierauf nur teilweise übertragbar, _____________ 71) Umfassend dazu z. B. Brünkmans in: Brünkmans/Thole, Hdb. Insolvenzplan, § 34. 72) Stöber, WM 2014, 1757, 1762 f.; Saenger/Al-Wraikat, NZG 2013, 1201, 1204; Seibt/Bulgrin, ZIP 2017, 353, 361; Brinkmann, ZIP 2014, 197, 205; Wertenbruch, DB 2013, 1592 ff.; Schäfer, ZIP 2020, 1950 ff. – für das Schutzschirmverfahren. Zur GmbH als Komplementärin einer KG, bei der die hiesigen Wertungen aufgrund der größeren Zuständigkeit der Gesellschafterversammlung freilich nur teilweise übertragbar sind, auch OLG München, Urt. v. 21.3.2013 – 23 U 3344/12, NZG 2013, 742, 744. 73) So insbesondere auch Uhlenbruck-Mock, InsO, § 18 Rz. 77; Mock in: Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Hdb., § 91 Rz. 15; zum StaRUG auch Seibt/Bulgrin, DB 2020, 2226, 2235. Zur GmbH bzw. GmbH & Co. KG OLG München, Urt. v. 21.3.2013 – 23 U 3344/12, NZG 2013, 742, 744. 74) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 119 Rz. 24; Fehrenbach, ZIP 2020, 2370 ff.; Grigoleit-Herrler, AktG, § 119 Rz. 31; K. Schmidt-K. Schmidt, InsO, § 18 Rz. 31; Mock in: Gottwald/Haas, InsolvenzrechtsHdb., § 91 Rz. 15; Mülbert in: GroßKomm-AktG, § 119 Rz. 179; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 119 Rz. 179 – 181; Eidenmüller, ZIP 2014, 1197, 1203 f.; Lutter, ZIP 1999, 641, 642. 75) Ausführlich Keller, BB 2020, 2435 ff. 76) Gleichsinnig Mülbert in: GroßKomm-AktG, § 119 Rz. 180. Diesen Aspekt hat das OLG München, Urt. v. 21.3.2013 – 23 U 3344/12, NZG 2013, 742, 744, nicht geprüft, obwohl er bei allen Rechtsformen relevant ist. 77) Vgl. auch Tröger in: KölnKomm-AktG, § 119 Rz. 181. 78) Zwingende Voraussetzung für die hier vertretene Auffassung ist dies freilich nicht und z. B. bei einer reinen Liquiditätskrise werden die Voraussetzungen von § 92 auch nicht immer vorher eintreten. 79) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG) v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256.

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§ 119

Rechte der Hauptversammlung

da dieses Verfahren nicht zur Auflösung der Gesellschaft führt, allerdings nach § 2 Abs. 3 StaRUG in gleichem Maße in die Aktionärsrechte (einschließlich der Gefahr des „Überstimmtwerdens“) eingegriffen werden kann wie im Insolvenzplan. Die Wertung verschiebt sich daher tendenziell noch weiter in Richtung gegen ein Hauptversammlungserfordernis. Hinzu kommt die Wertung aus der Restrukturierungrichtlinie80) (dort Art. 12), die eine grundlose Verhinderung durch Gesellschafter verhindern will,81) was wertungsmäßig auf die in der Richtlinie nicht ausdrücklich geregelte Vorbereitungsphase ausstrahlt.82) Somit sprechen hier erst recht die besseren Gründe gegen eine Hauptversammlungspflichtigkeit. Leider wird dies in ersten Stellungnahmen zu dem Gesetz auch anders gesehen.83) 4.

Informationspflichten

34 Auch bei ungeschriebenen Zuständigkeiten hat der Vorstand der Hauptversammlung sämtliche Informationen mitzuteilen, die für eine sachgerechte Entscheidung erforderlich sind. § 124 Abs. 2 Satz 3 ist analog anzuwenden,84) sodass der wesentliche Inhalt zustimmungsbedürftiger Verträge bekannt zu machen ist (siehe § 124 Rz. 13 ff.). Eine Berichtspflicht, etwa in Analogie zu den §§ 186 Abs. 4, 293a, wird dagegen nur dann in Betracht kommen, wenn nur ein Konzept zur Abstimmung gebracht werden soll, das noch nicht hinreichend in Vertragsentwürfe umgesetzt ist, wobei die Praxis hier aus Vorsichtsgründen im Zweifel einen Bericht vorsehen sollte.85) Ein danach zu erstellender Bericht ist auszulegen und auf Verlangen zu versenden.86) 35 Soweit bereits Verträge vorliegen, war es nach Ansicht des BGH eine Frage des Einzelfalls, ob diese auszulegen und auf Verlangen an die Aktionäre zu versenden sind.87) Maßstab sei, ob den Aktionären ohne Kenntnisnahme von dem Vertragstext eine „verantwortliche Entscheidung“ zuzumuten sei; dies gilt erst recht, wenn die Wirksamkeit des Vertrages von der Zustimmung der Hauptversammlung abhänge.88) Die Frage ist nach der Neufassung durch das ARUG II in Kenntnis dieser Thematik richtigerweise nur noch an § 124 Abs. 2 Satz 3 zu messen (siehe § 124 Rz. 13 ff.), da jedenfalls seither keine planwidrige Regelungslücke mehr angenommen werden kann, die die vorher vertretenen Analogien rechtfertigen könnte. Der Praxis wird aber trotzdem weiterhin verbreitet empfohlen, auch Verträge auszulegen (bei fremdsprachlichen Verträgen nebst deutscher Übersetzung).89) _____________ 80) Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. 81) Dazu ausführlich Skauradszun, NZG 2019, 761 ff. 82) So schon Spahlinger, NZI Beilage z. Heft 1/2019, S. 69, 71. 83) Anders als hier (auch hier für Hauptversammlungspflicht, außer evtl. wenn für den Vorstand ausnahmsweise eine Ermessensreduzierung auf null vorliegt) Seibt/Bulgrin, DB 2020, 2226, 2236 f.; in diese Richtung (Vorlagepflicht ohne Differenzierung zwischen den Gesellschaftsformen außer in den letzten zwölf Monaten vor Zahlungsunfähigkeit wegen dann entfallender Fortführungsprognose) Balthasar, NZI Beilage Heft 5/2021, S. 18, 20 ff.; ohne Öffnungen Rauhut, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 52, 53 f. 84) OLG Schleswig, Urt. v. 8.12.2005 – 5 U 57/04 (MobilCom), ZIP 2006, 421, 424; LG Frankfurt/M., Urt. v. 12.12.2000 – 3/5 O 149/99, DB 2001, 751, 751 f. 85) Vgl. K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 119 Rz. 44 m. w. N.; eine generelle Berichtspflicht ablehnend OLG München, Urt. v. 14.2.2001 – 7 U 6019/99, ZIP 2001, 700, 703 f., dazu EWiR 2001, 459 (Mutter), bestätigt durch BGH, Urt. v. 25.11.2002 – II ZR 133/01 (Macrotron), ZIP 2003, 387, 391. 86) Vgl. K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 119 Rz. 44 m. w. N.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 119 Rz. 28. 87) BGH, Urt. v. 15.1.2001 – II ZR 124/99 (Altana/Milupa), ZIP 2001, 416, 418. 88) BGH, Urt. v. 15.1.2001 – II ZR 124/99 (Altana/Milupa), ZIP 2001, 416, 418. 89) So z. B. trotz eigener dogmatischer Zweifel Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 119 Rz. 28.

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§ 120

Entlastung 5.

Beschlussfassung

Maßnahmen, die der ungeschriebenen Hauptversammlungszuständigkeit nach Holzmüller- 36 Grundsätzen unterliegen, bedürfen eines mit einfacher Stimmenmehrheit sowie Dreiviertelmehrheit des vertretenen Grundkapitals gefassten Beschlusses.90) Daraus folgt auch bei der börsenfernen AG nach h. M. gemäß § 130 Abs. 1 Satz 3 die Beurkundungsbedürftigkeit des Beschlusses.91) 6.

Rechtsfolgen von Verstößen

Grundsätzlich wird die Vertretungsmacht des Vorstands durch eine Kompetenzverlet- 37 zung nicht berührt. Im Innenverhältnis drohen dem Vorstand (§ 93 Abs. 2) und ggf. auch dem Aufsichtsrat (§ 116) Schadensersatzpflichten.92) Weiterhin kann eine Abberufung des Vorstands folgen (§ 84 Abs. 3 Satz 2) sowie ein Unterlassungsanspruch93) gegen ihn begründet sein. Sofern nach der Holzmüller-Doktrin eine Vorlagepflicht gegenüber der Hauptversammlung besteht, kommt bei deren Verletzung eine Unwirksamkeit im Außenverhältnis nur unter dem Gesichtspunkt des Missbrauchs der Vertretungsmacht durch den Vorstand in Betracht.94) Dazu muss der Vertragspartner eindeutige Hinweise auf die Verletzung der Hauptversammlungskompetenz ignorieren oder kollusiv mit dem Vorstand zusammenwirken. Vor dem Hintergrund einer üblichen Due Diligence bei Unternehmenstransaktionen kann ein Käufer ggf. konkrete Anhaltspunkte für eine Kompetenzverletzung haben.95) Ist die Hauptversammlungszuständigkeit aber wie in vielen Grenzfällen zweifelhaft, wird man kaum einen Missbrauch der Vertretungsmacht annehmen können, solange die Verneinung der Zuständigkeit vernünftig vertretbar war. _____________ 90) BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 (Gelatine), ZIP 2004, 993, 998 mit Anm. Altmeppen, m. w. N., sowie BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 (Gelatine II), NZG 2004, 575, 579 = ZIP 2004, 1001; dies wurde in der Literatur vielfach kritisiert, ist im Rechtsfortbildungskonzept des BGH jedoch folgerichtig und somit für die Praxis geklärt, vgl. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 119 Rz. 29 m. w. N. 91) Mit ausführlichen Nachweisen Tröger in: KölnKomm-AktG, § 119 Rz. 212. 92) Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 119 AktG Rz. 77; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 119 Rz. 26. 93) OLG Hamm, Urt. v. 19.11.2007 – 8 U 216/07 (Arcandor), ZIP 2008, 832, 832 f.; Tröger in: KölnKommAktG, § 119 Rz. 192 ff. 94) Erweiternd Tröger in: KölnKomm-AktG, § 119 Rz. 187, und in Fällen von Kapitalmaßnahmen bei Töchtern oder deren Gründung Ekkenga/B. Schneider, ZIP 2017, 1053 ff. 95) Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 119 AktG Rz. 76, und sehr weitgehend Tröger in: KölnKomm-AktG, § 119 Rz. 187.

§ 120 Entlastung Dirk Kocher

(1) 1Die Hauptversammlung beschließt alljährlich in den ersten acht Monaten des Geschäftsjahrs über die Entlastung der Mitglieder des Vorstands und über die Entlastung der Mitglieder des Aufsichtsrats. 2Über die Entlastung eines einzelnen Mitglieds ist gesondert abzustimmen, wenn die Hauptversammlung es beschließt oder eine Minderheit es verlangt, deren Anteile zusammen den zehnten Teil des Grundkapitals oder den anteiligen Betrag von einer Million Euro erreichen. (2) 1Durch die Entlastung billigt die Hauptversammlung die Verwaltung der Gesellschaft durch die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats. 2Die Entlastung enthält keinen Verzicht auf Ersatzansprüche.

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§ 120

Entlastung

(3) Die Verhandlung über die Entlastung soll mit der Verhandlung über die Verwendung des Bilanzgewinns verbunden werden. Literatur: Bachmann, Die Einmann-AG, NZG 2001, 961; Bedkowski/Kocher, Termin der ordentlichen Hauptversammlung nach EHUG und TUG, AG 2007, 341; v. d. Linden, Inhalts- und Verfahrensfehler von Entlastungsbeschlüssen, ZIP 2013, 2343; Reichard, Anfechtung von Entlastungsbeschlüssen wegen treuwidrig erteilter Entlastung, GWR 2015, 377; Scholz, Gesamtverantwortung, Gesamtentlastung – Gesamtnichtigkeit?, AG 2017, 612.

Übersicht I. Bedeutung und Regelungsgehalt ... II. Der Entlastungsbeschluss (§ 120 Abs. 1 – 3) ................................ 1. Zuständigkeit und Frist (§ 120 Abs. 1) .................................... 2. Verfahren (§ 120 Abs. 3) und Bindung ....................................... 3. Gesamtentlastung (§ 120 Abs. 1 Satz 1) und Einzelentlastung (§ 120 Abs. 1 Satz 2) ......................... a) Gesamtentlastung (§ 120 Abs. 1 Satz 1) ............................... I.

1 2 2

4. 5. 6.

4

5

7.

5

b) Einzelentlastung (§ 120 Abs. 1 Satz 2)/Teilentlastung .................. 6 Beschlussfassung ................................ 7 Stimmverbote (§ 136 Abs. 1) ............. 8 Inhalt und Wirkung (§ 120 Abs. 2) ................................................. 9 a) Positiver Entlastungsbeschluss ....................................... 9 b) Verweigerung der Entlastung .... 10 Anfechtbarkeit .................................. 11 a) Inhaltsfehler ................................ 11 b) Verfahrensfehler ......................... 12

Bedeutung und Regelungsgehalt

1 Trotz seiner fehlenden rechtlichen Wirkung hat der Entlastungsbeschluss große Bedeutung für die Organmitglieder; bei großen Publikumsgesellschaften kommt die hohe Öffentlichkeitswirkung einer verweigerten Entlastung hinzu. Der Entlastungsbeschluss bzw. seine Verweigerung stellen den praktisch häufigsten Anlass für aktienrechtliche Anfechtungsklagen dar.1) Zum Beschlussgegenstand siehe unten Rz. 9. Der frühere Absatz 4 wurde durch das ARUG II2) gestrichen und ist in § 120a aufgegangen. II.

Der Entlastungsbeschluss (§ 120 Abs. 1 – 3)

1.

Zuständigkeit und Frist (§ 120 Abs. 1)

2 Zuständig ist allein die Hauptversammlung. Ist der Vorstand zugleich Alleinaktionär, ist wegen des Stimmverbots aus § 136 Abs. 1 AktG (siehe näher Rz. 8) kein Entlastungsbeschluss zu fassen.3) Übrige Vorstände und Aufsichtsräte kann ein Alleinaktionär aber durch Einzelbeschlüsse (§ 120 Abs. 1 Satz 2) entlasten.4) 3 Die Acht-Monats-Frist entspricht der Frist des § 175 Abs. 1 Satz 2 zur Einberufung der ordentlichen Hauptversammlung auf einen Zeitpunkt in dieser Frist (bei der SE beträgt sie nach Art. 54 Abs. 1 SE-VO nur sechs Monate). Unberührt bleibt hiervon freilich der Zeitpunkt der Vornahme der Einberufung der ordentlichen Hauptversammlung nach § 175 _____________ 1) 2) 3)

4)

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Kubis in: MünchKomm-AktG, § 120 Rz. 2 m. w. N. Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2637. H. M., vgl. etwa Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120 AktG Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 120 Rz. 14; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120 Rz. 56; gegen die Annahme eines Stimmverbots und stattdessen für eine teleologische Reduktion Mülbert in: GroßKomm-AktG, § 120 Rz. 135; a. A. Bachmann, NZG 2001, 961, 968. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 120 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 120 Rz. 14.

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§ 120

Entlastung

Abs. 1 Satz 1.5) Eine Fristüberschreitung hat keine unmittelbaren Konsequenzen, sie führt insbesondere nicht zu einer Anfechtbarkeit der verspätet gefassten Entlastungsbeschlüsse.6) Ein Aktionär kann die Einhaltung der Frist nicht erzwingen.7) Die pandemiebedingten Sonderregelungen (§ 1 Abs. 5 COVGesMG)8) verlängern während ihrer Gültigkeit die Frist für die ordentliche Hauptversammlung der deutschen AG nach § 175 Abs. 1 Satz 2 auf das gesamte Geschäftsjahr; § 120 wird dabei nicht angesprochen, was aber ein unschädliches Versehen sein dürfte.9) 2.

Verfahren (§ 120 Abs. 3) und Bindung

Die Entscheidung über die Entlastung soll gemäß § 120 Abs. 3 im gleichen Hauptver- 4 sammlungstermin wie der Gewinnverwendungsbeschluss gefasst werden und gebietet daher im Ausgangspunkt auch, über die Entlastung aller Organmitglieder in derselben Hauptversammlung abzustimmen. Ein Verstoß gegen dieses Verbindungsgebot bleibt allerdings ohne Rechtsfolgen.10) Der Beschlussvorschlag kann auf Erteilung oder Verweigerung der Entlastung oder auf Vertagung der Entlastungsentscheidung lauten.11) Eine Vertagung kommt vor allem bei laufenden Ermittlungen oder Sonderprüfungen in Betracht.12) Die Vertagung muss dabei nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgen. Die Verwaltung muss vielmehr bei jeder Hauptversammlung prüfen, ob inzwischen genug Klarheit eingetreten ist, um über die Entlastung zu entscheiden. Ist das nicht der Fall, muss richtigerweise nicht jedes Jahr erneut eine Vertagung beschlossen werden. Eine Bindung der Hauptversammlung an frühere Entlastungsentscheidungen wird überwiegend abgelehnt, wenn nicht Vertrauen der Verwaltungsmitglieder entgegensteht. Eine zunächst verweigerte Entlastung kann daher später noch gewährt werden, eine zunächst gewährte Entlastung allerdings nur dann widerrufen werden, wenn dafür ein besonderer Grund besteht.13) 3.

Gesamtentlastung (§ 120 Abs. 1 Satz 1) und Einzelentlastung (§ 120 Abs. 1 Satz 2)

a)

Gesamtentlastung (§ 120 Abs. 1 Satz 1)

Hierbei handelt es sich um die Entlastung sämtlicher Vorstands- oder Aufsichtsratsmit- 5 glieder in einem Abstimmungsgang und ohne Differenzierungsmöglichkeit; dies stellt den gesetzlichen Regelfall dar.14) Die Entlastung ist für jedes Gremium gesondert anzu_____________ 5) Dazu und zu den resultierenden Problemen Bedkowski/Kocher, AG 2007, 341 ff. 6) Vgl. Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120 AktG Rz. 7; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 120 Rz. 17; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120 Rz. 145. 7) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 120 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 120 Rz. 17. 8) Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts- Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (COVGesMG) v. 27.3.2020, BGBl. I 2020, 569, 570 (= Art. 2 des Gesetzes zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht (COVAbmildG) v. 27.3.2020, BGBl. I 2020, 569. 9) Gleichsinnig Grigoleit-Herrler, AktG, § 120 Rz. 4a m. w. N. 10) Allg. M., vgl. nur Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 120 Rz. 14; Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 120 Rz. 16. 11) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 120 Rz. 20 m. w. N.; Happ-Ludwig, AktienR, Nr. 10.02 Rz. 11.2; a. A. Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120 AktG Rz. 8 m. w. N., wonach nur ein positiv auf Erteilung der Entlastung gerichteter Antrag zulässig sein soll, eine Vertagung komme nur innerhalb der AchtMonats-Frist in Betracht. 12) Vgl. nur Marsch-Barner/Schäfer-Marsch-Barner, Hdb. börsennotierte AG, § 31 Rz. 18; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120 Rz. 78. 13) Näher Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120 AktG Rz. 10 f. m. N. zum Meinungsstand; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120 Rz. 119 ff. 14) Vgl. etwa OLG München, Urt. v. 17.3.1995 – 23 U 5930/94, NJW-RR 1996, 159, 160; implizit auch LG München I, Urt. v. 15.4.2004 – 5 HK O 10813/03, ZIP 2004, 853, 854.

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§ 120

Entlastung

kündigen und zu beschließen, eine gemeinsame Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat unter einem gemeinsamen Tagesordnungspunkt ohne Differenzierungsmöglichkeit der Aktionäre ist unzulässig und anfechtbar.15) Entlastungszeitraum ist regelmäßig das letzte abgeschlossene Geschäftsjahr.16) Soll hiervon abgewichen werden, ist dies durch eine entsprechende Klarstellung in der Tagesordnung deutlich zu machen.17) b)

Einzelentlastung (§ 120 Abs. 1 Satz 2)/Teilentlastung

6 Die gesonderte personenbezogene Abstimmung mit Differenzierungsmöglichkeit über einzelne Mitglieder des Vorstands oder Aufsichtsrats erfolgt, wenn die Hauptversammlung dies beschließt, ein Minderheitenquorum es beantragt18) oder wenn der Versammlungsleiter dies bestimmt.19) Ein Antrag zur Einzelentlastung kann auch bereits mit dem Vorschlag der Verwaltung gemäß § 124 Abs. 3 Satz 1 bekannt gemacht werden.20) Auch die Einzelentlastung kann in einem Abstimmungsgang erfolgen. Wird ein Antrag auf Einzelentlastung gestellt, ohne dass das Quorum erreicht ist, kann richtigerweise auch direkt über die Gesamtentlastung abgestimmt werden verbunden mit dem Hinweis, dass bei deren Ablehnung Einzelentlastung erfolgt.21) Nicht zulässig ist eine Teilentlastung nur für Einzelmaßnahmen, wohingegen umgekehrt eine Ausklammerung von Einzelmaßnahmen aus der generellen Entlastung umstritten ist.22) 4.

Beschlussfassung

7 Die Beschlussfassung erfolgt mit einfacher Mehrheit, wenn nicht in der Satzung eine größere Mehrheit vorgesehen ist (§ 133 Abs. 1). 5.

Stimmverbote (§ 136 Abs. 1)

8 Es ist zwischen Einzel- und Gesamtentlastung zu unterscheiden. Bei Gesamtentlastung trifft das Stimmverbot des § 136 Abs. 1 alle Aktionäre, die Mitglieder des zu entlastenden (nicht hingegen eines anderen)23) Organs sind. Bei Einzelentlastung darf ein Aktionär nie bei seiner eigenen Entlastung mitstimmen. Weiterhin geht die Rechtsprechung davon aus, dass ein Aktionär einem Stimmverbot auch hinsichtlich anderer Organmitglieder unterliegt, wenn er an einem Vorgang beteiligt war, der dem zu entlastenden Organmitglied als Pflichtverletzung vorgeworfen wird.24) Ohne eine solche Mitwirkung darf ein Aktionär bei der Entlastung übriger Organmitglieder mit abstimmen.25) _____________ 15) Allg. M., vgl. etwa OLG München, Beschl. v. 13.9.2005 – 7 U 2759/05, WM 2006, 1486; Mülbert in: GroßKomm-AktG, § 120 Rz. 118 m. w. N. K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 120 Rz. 21 m. w. N. 16) Vgl. LG Frankfurt/M., Urt. v. 30.4.2004 – 3/9 O 107/03, AG 2005, 51, 52. 17) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 120 Rz. 20. 18) Bei diesem Antrag entfaltet das Stimmverbot des § 136 Abs. 1 (s. unten Rz. 8) keine Wirkung, OLG München, Urt. v. 17.3.1995 – 23 U 5930/94, NJW-RR 1996, 159, 159. 19) So ausdrücklich BGH, Urt. v. 21.9.2009 – II ZR 174/08, NZG 2009, 1270, 1271 = ZIP 2009, 2051 m. w. N., dazu EWiR 2010, 1 (Priester). Vgl. auch Scholz, AG 2017, 612. 20) Heidel-Krenek/Pluta, AktR, § 120 AktG Rz. 21. 21) Das ist freilich sehr streitig, vgl. zum Meinungsstand Scholz, AG 2017, 612, 616, Fn. 28. 22) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 120 Rz. 23 f. m. w. N. 23) H. M., Arnold in: MünchKomm-AktG, § 136 Rz. 9; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120 AktG Rz. 23 m. w. N.; implizit ebenso Mülbert in: GroßKomm-AktG, § 120 Rz. 134. 24) BGH, Urt. v. 21.9.2009 – II ZR 174/08, NZG 2009, 1270, 1271 f. = ZIP 2009, 2051; Arnold in: MünchKomm-AktG, § 136 Rz. 8 m. w. N.; a. A. Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120 AktG Rz. 22. 25) BGH, Urt. v. 21.9.2009 – II ZR 174/08, NZG 2009, 1270, 1272 = ZIP 2009, 2051; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 136 Rz. 20 m. w. N.

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§ 120

Entlastung 6.

Inhalt und Wirkung (§ 120 Abs. 2)

a)

Positiver Entlastungsbeschluss

Im Entlastungsbeschluss liegt die Erklärung der Hauptversammlung, sie billige die Tätig- 9 keit der Verwaltung als im Großen und Ganzen gesetzes- und satzungsmäßig.26) Damit gehen jedoch keine statusrechtlichen Folgen einher, sodass etwa eine Abberufung durch den Aufsichtsrat i. R. des § 84 Abs. 3 Satz 1 weiterhin möglich bleibt.27) Auch tritt keine Enthaftung ein (Abs. 2 Satz 2).28) b)

Verweigerung der Entlastung

Ebenso wenig hat die Verweigerung der Entlastung unmittelbare statusrechtliche Konse- 10 quenzen: Weder liegt darin ein Vertrauensentzug i. S. des § 84 Abs. 3 Satz 2 noch ein Votum nach § 103 Abs. 1.29) Eine Amtsniederlegung durch das betroffene Organmitglied und die Kündigung seines Anstellungsvertrags aus wichtigem Grund sind bei willkürlicher Entlastungsverweigerung möglich.30) Abzulehnen ist dagegen die Ansicht, der Vorstand sei in diesem Fall zur Amtsniederlegung ohne Kündigung seines Anstellungsvertrags zwecks Fortzahlung seiner Bezüge berechtigt.31) Dies ist mangels Annahmeverzug der Gesellschaft regelmäßig mit allgemeinem Dienstvertragsrecht (§§ 614, 615 BGB) unvereinbar, sodass die Amtsniederlegung des Vorstands immer mit der Kündigung seines Anstellungsvertrages einhergehen muss.32) Rechtsschutz gegen die Entlastungsverweigerung besteht mangels Rechtswirkung nicht.33) Wenn die Gesellschaft konkrete Ansprüche gegen ein Verwaltungsmitglied erhoben hat, ist zu deren Abwehr die Erhebung einer negativen Feststellungsklage statthaft.34) 7.

Anfechtbarkeit

a)

Inhaltsfehler

Ein Entlastungsbeschluss ist trotz des an sich bestehenden Ermessensspielraums der Haupt- 11 versammlung inhaltlich gesetzeswidrig und damit nach § 243 Abs. 1 anfechtbar, wenn Gegenstand der Entlastung ein Verhalten ist, das eindeutig einen schwerwiegenden Gesetzes- oder Satzungsverstoß darstellt.35) Diese BGH-Formel legt zugleich den Maßstab für die Relevanz i. S. des § 243 Abs. 1 fest.36) An der Eindeutigkeit fehlt es, wenn Vorstand und Aufsichtsrat sich nicht über eine zweifelsfreie Gesetzeslage hinweggesetzt _____________ 26) Vgl. nur BGH, Urt. v. 25.11.2002 – II ZR 133/01 (Macrotron), ZIP 2003, 387, 388 f.; BGH, Urt. v. 18.10.2004 – II ZR 250/02 (Thyssen/Krupp), ZIP 2004, 2428, 2429, dazu EWiR 2005, 241 (F. Wagner). Ausführlich zum Beschlussinhalt Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120 Rz. 23 ff. 27) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 120 Rz. 31; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 120 Rz. 49. 28) Ausführlich dazu Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120 Rz. 106 ff. 29) Allg. M., vgl. nur Hölters-Drinhausen, AktG, § 120 Rz. 29; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 120 Rz. 37 f. m. w. N. 30) Vgl. BGH, Urt. v. 20.5.1985 – II ZR 165/84, ZIP 1985, 1325, 1326 – hier zur GmbH; HöltersDrinhausen, AktG, § 120 Rz. 30; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120 AktG Rz. 38 m. w. N.; weitergehend Kubis in: MünchKomm-AktG, § 120 Rz. 37, für den das Kriterium der Willkür bedeutungslos ist. 31) So aber Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 120 Rz. 16; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 120 Rz. 37. 32) Ausführlich Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120 AktG Rz. 43. 33) Im Ergebnis auch Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120 Rz. 133. 34) Vgl. BGH, Urt. v. 20.5.1985 – II ZR 165/84, ZIP 1985, 1325, 1327 – hier zur GmbH; HöltersDrinhausen, AktG, § 120 Rz. 34. 35) BGH, Urt. v. 25.11.2002 – II ZR 133/01 (Macrotron), ZIP 2003, 387, 388; BGH, Urt. v. 18.10.2004 – II ZR 250/02 (Thyssen/Krupp), ZIP 2004, 2428, 2429. Ausführlich zu den Begriffen Tröger in: KölnKommAktG, § 120 Rz. 86 ff. 36) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 120 Rz. 56.

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§ 120a

Votum zum Vergütungssystem und zum Vergütungsbericht

haben, die Gesetzmäßigkeit des in Frage stehenden Verhaltens umstritten und nicht gerichtlich geklärt ist.37) Der Rechtsverstoß muss von den Teilnehmern der Hauptversammlung erkannt werden oder zumindest auf Grundlage der vorhandenen Informationen erkennbar gewesen sein.38) Praxisfälle sind u. a. die Abgabe einer in einem nicht unwesentlichen Punkt unrichtigen Entsprechenserklärung oder das Versäumnis, eine in einem nicht unwesentlichen Punkt unrichtig gewordene Entsprechenserklärung zu korrigieren;39) dazu können auch die Missachtung der Überwachungspflicht durch den Aufsichtsrat und die Gefährdung der Kreditwürdigkeit der Gesellschaft durch öffentliche Kritik an der Geschäftspolitik gehören.40) Die Entlastung eines zur Zeit des Versäumnisses bereits ausgeschiedenen Aufsichtsratsmitglieds kann jedoch nicht aufgrund dieses Versäumnisses angefochten werden.41) Findet eine Gesamtentlastung statt, führt ein Anfechtungsgrund in der Person nur eines Organmitglieds richtigerweise nur zur Teilanfechtbarkeit des Beschlusses.42) b)

Verfahrensfehler

12 Ein Entlastungsbeschluss ist (vorbehaltlich der i. R. des § 243 Abs. 4 zu prüfenden Relevanz) wegen eines Verfahrensfehlers anfechtbar bei Verstößen gegen die Rechnungslegungs-, Rechenschafts- und Auskunftspflichten aus § 175 und § 176 sowie gegen die Auskunftspflichten des § 131.43) Eine trotz wirksam beantragter Einzelentlastung durchgeführte Gesamtentlastung führt ebenso wie die gemeinsame Entlastung von Aufsichtsrat und Vorstand (siehe dazu Rz. 5) zur Anfechtbarkeit.44) _____________ 37) BGH, Beschl. v. 7.2.2012 – II ZR 253/10, ZIP 2012, 515, dazu WuB II A § 120 AktG 1.12 (Wilhelm). 38) OLG Stuttgart, Urt. v. 17.11.2010 – 20 U 2/10, ZIP 2010, 2349; OLG Köln, Urt. v. 9.7.2009 – 18 U 167/08, ZIP 2009, 1999, 2000, dazu EWiR 2010, 105 (Blasche). 39) BGH, Urt. v. 21.9.2009 – II ZR 174/08, ZIP 2009, 2051, 2053 f. = NZG 2009, 1270; BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 185/07 (Kirch/Deutsche Bank), ZIP 2009, 460, 465, dazu EWiR 2010, 343 (Herchen); für das Erfordernis eines Informationsdefizits der abstimmenden Aktionäre OLG Celle, Urt. v. 27.6.2018 – 9 U 78/17, AG 2018, 631. 40) BGH, Beschl. v. 6.11.2012 – II ZR 111/12 (Piëch), ZIP 2012, 2438, 2439, dazu EWiR 2013, 229 (Heidel/ Schatz). 41) Vgl. BGH, Hinweisbeschl. v. 7.12.2009 – II ZR 63/08, ZIP 2010, 879, 880, dazu EWiR 2010, 441 (Kort). 42) Ausführlich hierzu Scholz, AG 2017, 612, 613 ff. 43) Dem BGH zufolge (BGH, Urt. v. 18.10.2004 – II ZR 250/02 [Thyssen/Krupp], ZIP 2004, 2428, 2429) ist der Beschluss anfechtbar, wenn „das Auskunftsbegehren auf Vorgänge von einigem Gewicht gerichtet ist, die für die Beurteilung der Vertrauenswürdigkeit der Verwaltung von Bedeutung sind“. 44) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 120 Rz. 54.

§ 120a Votum zum Vergütungssystem und zum Vergütungsbericht Dirk Kocher

(1) 1Die Hauptversammlung der börsennotierten Gesellschaft beschließt über die Billigung des vom Aufsichtsrat vorgelegten Vergütungssystems für die Vorstandsmitglieder bei jeder wesentlichen Änderung des Vergütungssystems, mindestens jedoch alle vier Jahre. 2Der Beschluss begründet weder Rechte noch Pflichten. 3Er ist nicht nach § 243 anfechtbar. 4Ein das Vergütungssystem bestätigender Beschluss ist zulässig. (2) Beschluss und Vergütungssystem sind unverzüglich auf der Internetseite der Gesellschaft zu veröffentlichen und für die Dauer der Gültigkeit des Vergütungssystems, mindestens jedoch für zehn Jahre, kostenfrei öffentlich zugänglich zu halten.

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Votum zum Vergütungssystem und zum Vergütungsbericht

§ 120a

(3) Hat die Hauptversammlung das Vergütungssystem nicht gebilligt, so ist spätestens in der darauf folgenden ordentlichen Hauptversammlung ein überprüftes Vergütungssystem zum Beschluss vorzulegen. (4) 1Die Hauptversammlung der börsennotierten Gesellschaft beschließt über die Billigung des nach § 162 erstellten und geprüften Vergütungsberichts für das vorausgegangene Geschäftsjahr. 2Absatz 1 Satz 2 und 3 ist anzuwenden. (5) Bei börsennotierten kleinen und mittelgroßen Gesellschaften im Sinne des § 267 Absatz 1 und 2 des Handelsgesetzbuchs bedarf es keiner Beschlussfassung nach Absatz 4, wenn der Vergütungsbericht des letzten Geschäftsjahres als eigener Tagesordnungspunkt in der Hauptversammlung zur Erörterung vorgelegt wird. Literatur: Anzinger, Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung: Kompetenzverteilung und Offenlegung nach der zweiten Aktionärsrechterichtlinie, ZGR 2019, 39; Bachmann/Pauschinger, Die Neuregelung der Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung durch das ARUG II, ZIP 2019, 1; Bungert/Wansleben, ARUG II: Say on Pay und Related Party Transaction im Regierungsentwurf aus Sicht der Praxis, BB 2019, 1026; v. Falkenhausen/Kocher, Erste Erfahrungen mit dem Vergütungsvotum der Hauptversammlung, AG 2010, 623; Florstedt, Die neuen Aktionärsvoten zur Organvergütung, ZGR 2019, 630; Heldt, „Say on Pay“ und „Related Party Transactions“ im Referentenentwurf des ARUG II aus gesellschaftsrechtspolitischer Sicht, AG 2018, 905; Diekmann, Say on Pay – Umsetzung ins deutsche Recht nach dem ARUG II-Referentenentwurf, BB 2018, 3010; Löbbe/Fischbach, Die Neuregelungen des ARUG II zur Vergütung von Vorstand und Aufsichtsrat börsennotierter Aktiengesellschaften, AG 2019, 373; Mutter/Werner, Stimmverbote bei Beschlüssen nach § 120 Abs. 4 AktG?, AG-Report 2020, R 346; Paschos/Goslar, Der Regierungsentwurf des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II), AG 2019, 365; Paschos/Goslar, Der Referentenentwurf des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) aus Sicht der Praxis, AG 2018, 857; Vetter/ Lauterbach, Flexibilität wahrende Ausgestaltung der Vorstandsvergütung und Bindungswirkung des Vergütungssystems nach § 87a Abs. 2 AktG, AG 2021, 89.

Übersicht I. Bedeutung und Überblick ................ 1 II. Votum zum Vergütungssystem für die Vorstandsmitglieder (§ 120a Abs. 1 – 3) ............................... 4 1. Anwendungsbereich, Turnus ............. 4 2. Beschlussgegenstand und Beschlussinhalt ........................................ 9 3. Beschlussverfahren ........................... 12 a) Eigener Tagesordnungspunkt ... 13 b) Beschlussvorschlag des Aufsichtsrats ..................................... 15 c) Aktionärsrechte .......................... 17 d) Informationspflichten ................ 19 e) Mehrheitserfordernis und Stimmverbote ............................. 21 4. Rechtswirkungen .............................. 22 a) Grundsatz ................................... 22 b) Lage bei Billigung ....................... 24

c) Lage bei Verweigerung der Billigung (§ 120a Abs. 3) ........... 5. Anfechtungsausschluss (§ 120a Abs. 1 Satz 3) ...................... 6. Zugänglichmachung (§ 120a Abs. 2) ............................................... 7. Zulässigkeit von Satzungsregelungen ......................................... III. Votum zum Vergütungsbericht (§ 120a Abs. 4 und 5) ....................... 1. Anwendungsbereich und Turnus .... 2. Beschlussverfahren ........................... 3. Rechtswirkungen .............................. 4. Anfechtungsausschluss .................... 5. Ausnahme für KMU (§ 120a Abs. 5) ................................. 6. Zulässigkeit von Satzungsregelungen .........................................

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§ 120a I.

Votum zum Vergütungssystem und zum Vergütungsbericht

Bedeutung und Überblick

1 Die durch das ARUG II1) geschaffene Norm setzt Art. 9a der Zweiten Aktionärsrechterichtlinie2) (ARRL II) um3) und löst den alten § 120 Abs. 4 ab. Sie erweitert die Mitwirkung der Hauptversammlung in Vergütungsfragen erheblich, ohne ihr allerdings die inhaltliche Vergütungsentscheidung zu übertragen.4) Sie ist immer in Zusammenhang mit den neuen materiellen Anforderungen an die Vergütung in §§ 87 und 87a (sowie den weitergehenden Empfehlungen des DCGK) zu sehen. Insbesondere enthält § 87 Abs. 4 eine weitere Hauptversammlungszuständigkeit in diesem Zusammenhang (Beschluss über die Herabsetzung der Maximalvergütung des Vorstands). 2 § 120a Abs. 1 – 3 regeln die Abstimmung über das System der Vorstandsvergütung, während Absätze 4 und 5 die Abstimmung über den Vergütungsbericht betreffen, der sich auf die Vergütung von Vorstand und Aufsichtsrat bezieht. Die Abstimmung über die Vergütung des Aufsichtsrats ist hingegen in § 113 Abs. 3 separat angesiedelt (dazu § 113 Rz. 20 ff.). 3 Im Gegensatz zu Art. 87 Abs. 4 sind die Voten nach § 120a, die trotz dieser Bezeichnung Beschlüsse darstellen,5) beratend und nicht bindend. Sie sollen vor allem den Aufsichtsrat durch die Öffentlichkeitswirksamkeit der Abstimmungsergebnisse disziplinieren.6) Übergangsvorschriften sind in § 26j Abs. 1 geregelt. II.

Votum zum Vergütungssystem für die Vorstandsmitglieder (§ 120a Abs. 1 – 3)

1.

Anwendungsbereich, Turnus

4 Nur die Hauptversammlung der börsennotierten AG (§ 3 Abs. 2) ist zu einem entsprechenden Votum verpflichtet und berechtigt (nicht also der einfache oder qualifizierte Freiverkehr).7) Zur Frage der satzungsmäßigen Anwendungsausdehnung auf nicht börsennotierte Gesellschaften siehe unten Rz. 34. 5 Eine Beschlussfassung ist mindestens8) alle vier Jahre erforderlich oder ggf. bereits früher, falls eine wesentliche Änderung erfolgt. Die Jahre beziehen sich aus Gründen des Gleichlaufs mit dem sonstigen Hauptversammlungszyklus auf Geschäftsjahre, nicht auf Kalenderjahre.9) Für die Praxis ist also auf die ordentliche Hauptversammlung im vierten Geschäftsjahr zu achten, das auf das letzte Votum folgt.10) 6 Schwierigkeiten bereitet die Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „wesentlichen Veränderung“. Hier sollte insbesondere auf die finanziellen Auswirkungen für die Gesellschaft einerseits und die Verhaltenssteuerungswirkung für den Vorstand11) andererseits geachtet werden. Es ist aber z. B. streitig, ob jede Änderung der Höchstgrenzen wesent_____________ 1) Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2637. 2) Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre (Zweite Aktionärsrechterichtlinie – ARRL II), ABl. (EU) L 132/1 v. 20.5.2017. 3) Ausführlich zu den europarechtlichen Vorgaben Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 12 – 15. 4) Zu Rechtspolitik, Rechtsvergleichung und Empirie vgl. Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120a Rz. 1 – 23. 5) Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 16 f.; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120a Rz. 24. 6) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 120a Rz. 1. 7) Hirte/Heidel-Krenek, Das neue Aktienrecht, § 120a AktG Rz. 5. 8) Frühere freiwillige Vorlagen sind zulässig, vgl. Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 21. 9) Heldt, AG 2018, 905, 908; Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 16; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120a Rz. 29. 10) Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 29. 11) Diese betonend Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120a Rz. 30.

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Votum zum Vergütungssystem und zum Vergütungsbericht

§ 120a

lich sein soll.12) Bei anderen Elementen wird z. B. eine marktgerechte Fortschreibung für zulässig gehalten oder auf die Zahl der geänderten Vergütungsaspekte abgestellt.13) Bis zu einer weiteren Klärung sollte die Praxis hier im Zweifel eher vorsichtig agieren. Es geht allerdings zu weit, jede inhaltliche Änderung als wesentlich anzusehen, die über Fehlerkorrekturen oder Redaktionelles hinausgeht.14) Das Gesetz regelt nicht, wann ein neues Votum im Falle einer wesentlichen Änderung 7 erforderlich ist. Angesichts des Aufwands und der sonstigen Systematik muss man davon ausgehen, dass die Einberufung einer außerordentlichen Hauptversammlung hierfür nicht erforderlich ist, sondern bis zur nächsten turnusgemäßen ordentlichen Hauptversammlung abgewartet werden kann.15) Das sollte auch dann gelten, wenn zwischendurch aus anderen Gründen eine außerordentliche Hauptversammlung stattfindet. Hält sich der Aufsichtsrat nicht an den Turnus, kann dies seine Entlastung anfechtbar 8 machen, wenn der Verstoß eindeutig und schwerwiegend ist.16) Zur Frage eines Minderheitsverlangens siehe Rz. 18. Daneben wird teilweise auch eine Leistungsklage erwogen.17) 2.

Beschlussgegenstand und Beschlussinhalt

Beschlussgegenstand ist das Vergütungssystem für den Vorstand in seiner Gesamtheit. 9 Eine Beschlussfassung nur über Teile davon oder Einzelfragen oder gar Einzelvergütungen ist nicht zulässig.18) Das Beschlussergebnis kann nur auf Billigung oder Nichtbilligung lauten; die Hauptversammlung kann dagegen keine inhaltlichen Änderungen vornehmen.19) Das beruht letztlich darauf, dass das Votum an der Vergütungsverantwortung des Aufsichtsrats (und seiner Haftung dafür) nichts ändert und diesen nicht bindet (dazu unten Rz. 22 f.). Die Nichtbilligung resultiert allerdings bereits aus der Ablehnung der Billigung, muss also nicht separat beschlossen werden.20) Auch eine Vertagung der Sachentscheidung wird abgelehnt.21) Nach § 120a Abs. 1 Satz 4 kann der Beschluss auch auf Bestätigung eines Vergütungssystems 10 lauten. Dabei kann das geltende System erneut vorgelegt werden (in diesem Fall wird ausnahmsweise ein bereits angewendetes System vorgelegt)22), soll aber auch durch eine Bezugnahme erfolgen können.23) Verweigert die Hauptversammlung die Bestätigung, löst dies _____________ 12) Dafür Anzinger, ZGR 2019, 39, 78 f.; Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 17; dagegen Hüffer/KochKoch, AktG, § 120a Rz. 4. 13) So die Überlegungen bei Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 17. Tendenziell strenger Hirte/HeidelKrenek, Das neue Aktienrecht, § 120a AktG Rz. 11. 14) So aber Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 30. Weiterführend zu Bindungswirkungen für den Aufsichtsrat nach § 87a Vetter/Lauterbach, AG 2021, 89, 90 f. 15) Gleichsinnig Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 17. 16) So auch Hirte/Heidel-Krenek, Das neue Aktienrecht, § 120a AktG Rz. 14, der dies regelmäßig annimmt. Es kann aber bei Zweifelsfragen (Bsp. wesentliche Änderung) auch anders zu beurteilen sein (keine Eindeutigkeit). 17) Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 22; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 26 und Rz. 32 f. – auch mit Überlegungen zur einstweiligen Verfügung und Schadenersatzfragen. 18) Florstedt, ZGR 2019, 630, 650; Bachmann/Pauschinger, ZIP 2019, 1, 4; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 120a Rz. 4; Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 12; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 18; a. A. in sachlicher Hinsicht Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120a Rz. 35. 19) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 92; Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 12, 34. 20) Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 19 und Rz. 22. 21) Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 36. 22) Hierzu Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 13. 23) Hirte/Heidel-Krenek, Das neue Aktienrecht, § 120a AktG Rz. 14; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 120a Rz. 6.

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§ 120a

Votum zum Vergütungssystem und zum Vergütungsbericht

die Folgen von § 120a Abs. 3 aus (siehe dazu Rz. 25 ff.)24). Auch über die Vorlage im Wege der Bestätigung entscheidet nur der Aufsichtsrat.25) 11 Nicht vorgesehen und nicht zulässig ist ein Widerruf der Billigung. Für den Aufsichtsrat besteht hierfür kein Bedarf, da er immer ein angepasstes System vorlegen kann und die Aktionärsrechte (siehe dazu Rz. 17) können auf diesem Weg nicht erweitert werden.26) 3.

Beschlussverfahren

12 Das Beschlussverfahren unterliegt einer Reihe von Besonderheiten, die auf der Verantwortung des Aufsichtsrats für die Vergütung beruhen. Insbesondere hat die Hauptversammlung kein Initiativrecht.27) a)

Eigener Tagesordnungspunkt

13 Die Abstimmung über das Vergütungssystem erfordert einen eigenen Tagesordnungspunkt. Unter dem Tagesordnungspunkt Entlastung des Aufsichtsrats kann zwar immer eine Diskussion von Vergütungsfragen stattfinden, nicht aber eine Abstimmung über das Vergütungssystem.28) Daran ändert auch der Anfechtungsausschluss und die Tatsache, dass ein Verstoß gegen § 124 Abs. 4 nur einen Anfechtungsgrund darstellt, nichts, da der Versammlungsleiter sich auch dann an das Gesetz zu halten hat und § 124 Abs. 4 ein klares Verbot ausspricht.29) 14 Die Aufnahme in die Tagesordnung ist durch die Vorgaben zum Turnus und zu den Folgen bei einer verweigerten Billigung weitgehend vorgegeben. Ein Ermessen besteht hingegen bzgl. einer früheren als der geforderten Vorlage.30) Aus der alleinigen inhaltlichen und beschlussvorschlagsrechtlichen Zuständigkeit des Aufsichtsrats folgt auch dessen Kompetenz, über die Aufnahme in die Tagesordnung zu entscheiden.31) b)

Beschlussvorschlag des Aufsichtsrats

15 Den Beschlussvorschlag an die Hauptversammlung unterbreitet nach § 124 Abs. 3 Satz 1 allein der Aufsichtsrat, da nur er nach § 87 für die Vorstandsvergütung und nach § 87a für das Vergütungssystem zuständig ist.32) Aussagen des Vorstandes hierzu sind nicht angezeigt.33) 16 Inhaltlich wird der Vorschlag auf die Billigung des eigenen Systems gerichtet sein.34) Es wird aber diskutiert, ob der Aufsichtsrat mehrere Vergütungssysteme vorlegen und im Wege von Eventual- oder Alternativvorschlägen zur Abstimmung stellen darf.35) Beschlussvorschlagsrechtlich mag dies zulässig sein. Es ist aber zu prüfen, ob der Aufsichtsrat noch _____________ 24) 25) 26) 27) 28) 29) 30) 31)

32) 33) 34) 35)

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Hirte/Heidel-Krenek, Das neue Aktienrecht, § 120a AktG Rz. 14. Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 20. Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 24. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 120a Rz. 3. Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 8 und 22. A. A. Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 34. Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 9. Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 10; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120a Rz. 38. Differenzierter Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 34, der den Vorstand hierzu auch bei Verstößen des Aufsichtsrats verpflichtet sieht. Löbbe/Fischbach, AG 2019, 373, 378. Nachdrücklich Mutter/Werner, AG-Report 2020, R 346. Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 21; näher Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120a Rz. 32. Dafür Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 9.

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Votum zum Vergütungssystem und zum Vergütungsbericht

§ 120a

seiner Verpflichtung aus § 87a Abs. 1 Satz 1 nachkommt, „ein“ Vergütungssystem zu beschließen. Auch vor dem Hintergrund von § 87a Abs. 2 Satz 1 erschiene es nicht unbedenklich, wenn der Aufsichtsrat mehrere Systeme in dieser Art vorlegt und sich damit unter diesen eine Auswahlmöglichkeit erwirkt. Unproblematisch sollte es hingegen sein, ein altes System noch einmal hilfsweise für die Ablehnung des neuen Systems zur Bestätigung vorzuschlagen. c)

Aktionärsrechte

Die fortbestehende Alleinzuständigkeit des Aufsichtsrats für die Vorstandsvergütung und 17 die Abstimmung über die Billigung des gerade vom Aufsichtsrat vorgelegten Systems (§ 120a Abs. 1 Satz 1) hat weitreichende Auswirkungen auf die Rechte der Aktionäre: Das Vergütungsvotum kann nicht zum Gegenstand von Gegenanträgen zu dem Tagesordnungspunkt nach § 126 oder in der Hauptversammlung gemacht werden.36) Eine andere Frage ist, ob Aktionäre die Abstimmung über die Billigung im Wege des 18 Minderheitenverlangens nach § 122 Abs. 1 oder 2 (was bei § 87 Abs. 4 für die Herabsetzung der Maximalvergütung vorgesehen ist) auf die Tagesordnung setzen können. Die Gesetzesmaterialien betonen die Vorlagezuständigkeit des Aufsichtsrats.37) Verbreitet wird ein Minderheitsverlangen daher abgelehnt.38) Die Gegenansicht hält es für zulässig39) und will der Minderheit in diesem Zusammenhang sogar gestatten, jedes der Hauptversammlung in der Vergangenheit einmal vorgelegte System erneut zur Abstimmung zu stellen.40) Noch weitergehender wird vertreten, dass die qualifizierte Minderheit sogar ein eigenes Vergütungssystem zur Abstimmung stellen kann.41) Ebenfalls wird ein Minderheitsverlangen auf Fälle beschränkt vertreten, in denen eine Vorlagepflicht besteht.42) Richtigerweise kann ein Minderheitsverlangen jedenfalls nichts daran ändern, dass das System nur vom Aufsichtsrat aufgestellt werden kann. Unterlässt der bereits die Aufstellung, gibt es keinen tauglichen Abstimmungsgegenstand. Stellt er auf, legt aber nicht vor, beschränkt er sich letztlich selbst in seiner Möglichkeit, dieses von ihm aufgestellte System auch anzuwenden (§ 87a Abs. 2); die Fälle dürften daher nicht gerade häufig eintreten und § 87a Abs. 2 sowie die Möglichkeit einer Entlastungsanfechtung dürften ausreichende Sanktionen darstellen. d)

Informationspflichten

Nach § 124 Abs. 2 Satz 3 ist das Vergütungssystem im Vorfeld bekannt zu machen. Da- 19 rüber hinausgehende Berichts- oder Erläuterungspflichten bestehen nicht.43) Nicht speziell geregelt ist der Umfang des Auskunftsrechts nach § 131. Teilweise wird aus 20 der fehlenden Gegenantragsfähigkeit eine Einschränkung des Auskunftsrechts abgeleitet.44) _____________ 36) Paschos/Goslar, AG 2019, 365, 369; Paschos/Goslar, AG 2018, 857, 863; Bungert/Wansleben, BB 2019, 1026; Löbbe/Fischbach, AG 2019, 373, 378; Bachmann/Pauschinger, ZIP 2019, 1, 4; Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 12; Hirte/Heidel-Krenek, Das neue Aktienrecht, § 120a AktG Rz. 8. 37) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 92. 38) Löbbe/Fischbach, AG 2019, 373, 378; Bachmann/Pauschinger, ZIP 2019, 1, 4. 39) Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 10; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120a Rz. 39. 40) So Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 14. 41) Hirte/Heidel-Krenek, Das neue Aktienrecht, § 120a AktG Rz. 8. Hiergegen zu Recht Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 18, und Paschos/Goslar, AG 2018, 857, 863. 42) Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 35. 43) Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120a Rz. 41; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 21; Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 8. 44) So Bachmann/Pauschinger, ZIP 2019, 1, 4; dagegen Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 8; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120a Rz. 42.

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§ 120a e)

Votum zum Vergütungssystem und zum Vergütungsbericht

Mehrheitserfordernis und Stimmverbote

21 Der Beschluss bedarf bei Zustimmung wie Ablehnung der einfachen Mehrheit.45) Ein Stimmverbot nach § 136 Abs. 1 Satz 1 (direkt oder analog) besteht nicht.46) 4.

Rechtswirkungen

a)

Grundsatz

22 Nach § 120a Abs. 1 Satz 2 begründet der Beschluss weder Rechte noch Pflichten.47) § 87a Abs. 2 Satz 1 bindet den Aufsichtsrat bei der konkreten Festsetzung nur an ein der Hauptversammlung zur Billigung „vorgelegtes“ System. Das ist aber unabhängig vom Beschlussergebnis, tritt also insbesondere auch bei einem ablehnenden Beschluss ein (wobei ein früher vorgelegtes System ebenfalls befolgt werden kann, siehe unten Rz. 25). Im Detail unterscheidet die Diskussion aber durchaus zwischen den Beschlussergebnissen. 23 Aufgrund der mangelnden Rechtswirkung des Beschlusses wirkt sich dieser auch nicht auf die Haftung des Aufsichtsrats für die Vergütungsentscheidung aus, weder in die eine noch in die andere Richtung.48) Diese Entscheidung muss im jeweils maßgeblichen Zeitpunkt unabhängig nach den Maßgaben des Gesetzes und der Business Judgement Rule getroffen werden. b)

Lage bei Billigung

24 Wird das vorgelegte System gebilligt, wird teilweise eine Selbstbindung des Aufsichtsrats angenommen, das zuletzt gebilligte System auch anzuwenden, statt auf ein früher vorgelegtes System zurückzugreifen, was nach dem Wortlaut von § 87a Abs. 2 Satz 1 zulässig wäre.49) Das widerspricht aber auch dem klaren Wortlaut von § 120a Abs. 1 Satz 2, der gerade jegliche Bindung ausschließt.50) Gleichwohl kann man sich nur schwer einen Aufsichtsrat vorstellen, der ein neues System vorlegt und bei dessen Billigung dann doch ein altes (evtl. sogar abgelehntes!) System anwendet. Ihm droht aber auch ohne die Annahme einer Selbstbindung nicht nur der Zorn der Aktionäre, sondern auch der Vorwurf einer Pflichtverletzung, wenn diese Entscheidung nicht i. S. der Business Judgement Rule dem Unternehmensinteresse entspricht, wobei der Aufsichtsrat ja gerade dokumentiert hat, dass nach seiner Ansicht das neue System diesem Interesse am besten dient. Der Rückgriff muss daher aus diesem Grund inhaltlich sehr gut begründet sein. Vorstandsmitglieder haben keinen Anspruch auf Vergütung auf Grundlage des gebilligten Systems.51) Auch wenn dies kein rechtlicher Punkt ist, sei darauf hingewiesen, dass viele Investoren schon dann Erklärungen, neue Abstimmungen und Nachjustierungen erwarten, wenn keine überwältigende Zustimmung von 80 % oder gar 90 % erzielt wird.

_____________ 45) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 120a Rz. 5; Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 11. 46) Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120a Rz. 44; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 120a Rz. 5; Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 11. 47) Rechtspolitische Kritik hieran z. B. bei Bachmann/Pauschinger, ZIP 2019, 1, 5. 48) Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120a Rz. 46. Grundsätzlich auch Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 24. 49) So Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 23, und Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 25, wenn nicht eine Rechtswidrigkeit des neuen Systems erkannt wird oder sonst ein wichtiger Grund besteht. 50) Auch die Regierungsbegründung scheint nicht von einer Selbstbindung auszugehen, vgl. Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 92 f. Ablehnend auch Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 38. 51) Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 38.

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Votum zum Vergütungssystem und zum Vergütungsbericht c)

§ 120a

Lage bei Verweigerung der Billigung (§ 120a Abs. 3)

Auch die Verweigerung der Billigung bindet den Aufsichtsrat inhaltlich nicht,52) sondern 25 er ist auch dann nach § 87a Abs. 2 Satz 1 frei, das zwar vorgelegte aber abgelehnte System anzuwenden.53) Als Alternative steht ihm bis zur Vorlage eines neuen Systems an die Hauptversammlung auch hier lediglich der Rückgriff auf ein früher vorgelegtes (gebilligtes oder abgelehntes) System zur Verfügung.54) Hiergegen kann bei Ablehnung der Billigung noch viel weniger mit einer Selbstbindung des Aufsichtsrats argumentiert werden. Jedenfalls wäre es unzulässig, auf einzelne Punkte der Kritik durch punktuelle Korrekturen schon vor der Vorlage eines entsprechenden neuen Systems zu reagieren.55) Daneben besteht nach § 120a Abs. 3 nur eine Pflicht zur Vorlage eines überprüften, nicht 26 aber eines geänderten Vergütungssystems.56) Die allgemeine Sorgfaltspflicht verpflichtet den Aufsichtsrat, eine kritische Überprüfung aus Anlass der Ablehnung vorzunehmen, die aber durchaus zu einem Festhalten am Vergütungssystem führen kann, damit dies nicht auf diesem Umweg doch einen bindenden Charakter erhält.57) Dabei ist aber der faktische Druck der Investoren sicher nicht zu unterschätzen und kann sich auch auf die Entlastungsergebnisse auswirken,58) ohne die Entlastung allerdings anfechtbar zu machen. Nach dem klaren Wortlaut muss das überprüfte System erst bei der nächsten ordentli- 27 chen Hauptversammlung vorgelegt werden, wobei die Nutzung einer außerordentlichen Hauptversammlung hierfür aber zulässig bleibt, z. B. um die Bindung an ein von den Aktionären abgelehntes System zu beenden, wenn man nicht stattdessen auf ein früher vorgelegtes System zurückgehen kann (insbesondere bei Zurückweisung des ersten Vergütungssystems)59)oder will. Eine Abstimmung über ein weiteres System in derselben Hauptversammlung dürfte nur bei Eventual- oder Alternativvorschlägen (siehe dazu Rz. 16) möglich sein.60) Ein ablehnendes Votum hat keine Auswirkungen auf bestehende Vorstandsdienstver- 28 träge,61) wenn diese nicht für diesen Fall eine Anpassungsklausel vorsehen, was nach zutreffender, überwiegender Auffassung zulässig ist.62) Die Aufnahme einer solchen Klausel ist allerdings keinesfalls erforderlich und dürfte in der Praxis die Ausnahme bleiben.

_____________ 52) Bachmann/Pauschinger, ZIP 2019, 1, 5; Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 26. 53) Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120a Rz. 47; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 39. 54) Dies ist zulässig, vgl. Löbbe/Fischbach, AG 2019, 373, 379; Diekmann, BB 2018, 3010, 3011; GrigoleitHerrler, AktG, § 120a Rz. 26; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 31; Paschos/Goslar, AG 2018, 857, 863; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120a Rz. 47; zweifelnd Bachmann/Pauschinger, ZIP 2019, 1, 6. 55) Paschos/Goslar, AG 2019, 365, 369; Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 28; Tröger in: KölnKommAktG, § 120a Rz. 47. 56) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 94; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 31; kritisch Anzinger, ZGR 2019, 39, 82. 57) Löbbe/Fischbach, AG 2019, 373, 378 f.; Bachmann/Pauschinger, ZIP 2019, 1, 6. 58) So auch Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 19. 59) Ausführlich zu dieser Konstellation Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 29. 60) Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 20. 61) Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120a Rz. 48; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 23. Im Ausgangspunkt auch Hirte/Heidel-Krenek, Das neue Aktienrecht, § 120a AktG Rz. 12, mit der Überlegung, dass bei Neuverträgen wegen der Publizität ein Missbrauch der Vertretungsmacht vorliegen kann, wenn von dem vorgelegten System abgewichen wird; skeptisch hiergegen Tröger in: KölnKommAktG, § 120a Rz. 49. 62) Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 30 m. w. N. zum alten Recht in Fn. 84; a. A. zu § 120 Abs. 4 a. F. aus Kompetenzgründen Fleischer/Bedkowski, AG 2009, 677, 684.

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§ 120a 5.

Votum zum Vergütungssystem und zum Vergütungsbericht

Anfechtungsausschluss (§ 120a Abs. 1 Satz 3)

29 Das Gesetz schließt eine Anfechtung des (positiven wie negativen)Beschlusses ausdrücklich aus. Eine Anfechtungsklage wäre daher unzulässig.63) Das gilt richtigerweise wie schon bei § 120 Abs. 4 Satz 3 a. F. auch für eine Anfechtung wegen behaupteter Verfahrensfehler.64) 30 Umstritten ist, was für eine vom Wortlaut nicht erfasste Nichtigkeitsklage gilt. Teilweise wird vertreten, auch die Nichtigkeitsklage sei ausgeschlossen, weil nur so der Intention des Gesetzgebers Rechnung getragen werden könne. Eine Ausnahme sei davon nur dann zu machen, wenn der Beschluss kompetenzwidrig ist, insbesondere also über Einzelvergütungen beschlossen oder von dem vorgelegten Vergütungssystem unzulässig abgewichen wird (siehe dazu oben Rz. 9).65) Andere Stimmen halten eine Bindung an den Wortlaut, der in Kenntnis der Stimmen zu § 120 Abs. 4 a. F.66) entstand, für zwingend.67) Die Relevanz der Frage wird dadurch gemindert, dass eine Feststellung der Nichtigkeit des Beschlusses rechtlich folgenlos bleiben dürfte: Das Vergütungssystem bliebe auch dann ein „vorgelegtes“ i. S. von § 87a Abs. 2 Satz 1.68) 31 Nicht ausgeschlossen ist eine Anfechtung der Entlastung des Aufsichtsrats wegen des Inhalts des Vergütungssystems oder konkreter Vergütungsentscheidungen. Dafür ist freilich ein eindeutiger und schwerwiegender Rechtsverstoß erforderlich, der gerade angesichts des unternehmerischen Ermessens bei vielen Vergütungsfragen selten vorkommen sollte.69) 6.

Zugänglichmachung (§ 120a Abs. 2)

32 Die Veröffentlichung von System und Beschluss (letzterer mit Datum und Beschlussergebnis)70) und wohl auch im Falle eines ablehnenden Beschlusses71) auf der Internetseite hat unverzüglich zu erfolgen. Für das bereits ohnehin anderweitig dort zugängliche System kann das ggf. durch Verlinkung geschehen, sodass keine Doppelung erforderlich ist.72) Für die Unverzüglichkeit bietet sich eine Orientierung an den zu § 130 Abs. 6 entwickelten Grundsätzen an, wo sieben Tage akzeptiert werden.73) Wie dort bleiben Verstöße an sich sanktionslos (siehe § 130 Rz. 78) und lassen insbesondere die Rechtmäßigkeit von Beschluss und Vergütungssystem unberührt. 33 Die Dokumente müssen für die Dauer der Gültigkeit des Systems, mindestens aber für zehn Jahre kostenfrei öffentlich zugänglich sein. Die Frage ist, wann ein System „gültig“ ist. Darunter wird das derzeit vom Aufsichtsrat tatsächlich angewandte System verstanden.74) Die Mindestfrist von zehn Jahren wird oft dazu führen, dass neben diesem aktuell _____________ 63) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 120a Rz. 6. 64) Schon zu § 120 Abs. 4 a. F. v. Falkenhausen/Kocher, AG 2010, 623, 628; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 120a Rz. 6; Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 31; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120a Rz. 56. 65) So Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 120a Rz. 6; Löbbe/Fischbach, AG 2019, 373, 378. 66) Zur damaligen Lage v. Falkenhausen/Kocher, AG 2010, 623, 628. 67) So Bachmann/Pauschinger, ZIP 2019, 1, 6; Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 31; Hirte/Heidel-Krenek, Das neue Aktienrecht, § 120a AktG Rz. 13; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120a Rz. 54. 68) Evtl. a. A. Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 26, der jedenfalls eine erneute Vorlagepflicht nach Abs. 3 annimmt. 69) Hierzu schon unter § 120 Abs. 4 a. F. v. Falkenhausen/Kocher, AG 2010, 623, 628. Ähnlich Hirte/ Heidel-Krenek, Das neue Aktienrecht, § 120a AktG Rz. 13. 70) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/15153, S. 93; Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 32. 71) Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 40. 72) Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 32. 73) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 120a Rz. 8; Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 34; Hirte/Heidel-Krenek, Das neue Aktienrecht, § 120a AktG Rz. 15. 74) Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 42 ff.

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Votum zum Vergütungssystem und zum Vergütungsbericht

§ 120a

angewandten System noch ältere Systeme zugänglich sind. In diesem Fall ist anzugeben, welches System derzeit angewendet wird,75) vor allem wenn dies nicht das zeitlich jüngste sein sollte. 7.

Zulässigkeit von Satzungsregelungen

Nicht börsennotierte Gesellschaften sollen durch Satzungsregelung ein entsprechendes 34 Regime schaffen können, da das Votum keine Rechtsfolge hat (und natürlich nur unter dieser Voraussetzung) und daher nicht gegen § 23 Abs. 5 verstoßen soll.76) Bei börsennotierten Gesellschaften ist das Regime weitgehend zwingend. Die Satzung kann 35 also nicht eine Bindungswirkung, die Anfechtbarkeit oder einen längeren Turnus festlegen.77) Die Festlegung eines kürzeren Turnus wird dagegen teilweise als ergänzende Regelung i. S. von § 23 Abs. 5 Satz 2 als zulässig angesehen,78) was aber durchaus nicht unkritisch ist. Unproblematisch ist jedenfalls eine satzungsmäßig qualifizierte Mehrheit oder ein weiteres Beschlusserfordernis i. S. von § 133 Abs. 1.79) III.

Votum zum Vergütungsbericht (§ 120a Abs. 4 und 5)

Nach § 120a Abs. 4 und 5 ist auch über die Billigung des geprüften Vergütungsberichts 36 nach § 162 durch die Hauptversammlung zu beschließen. Dieser umfasst anders als das Vorstandsvergütungssystem, dessen Billigung § 120a Abs. 1 regelt, auch die Aufsichtsratsvergütung, was zu Abweichungen bzgl. des Beschlussverfahrens führt. 1.

Anwendungsbereich und Turnus

Zum Anwendungsbereich kann nach oben (siehe Rz. 4) verwiesen werden. Die Abstimmung 37 hat im Turnus der Berichtserstellung, nach § 162 also jährlich,80) zu erfolgen und wird damit nach Ablauf der Übergangsphase zum regelmäßigen Tagesordnungspunkt der ordentlichen Hauptversammlung werden.81) 2.

Beschlussverfahren

Soweit hier keine Besonderheiten erörtert werden, kann dazu auf die Ausführungen zum 38 Vergütungsvotum (siehe oben Rz. 12 ff.) verwiesen werden. Beschlussgegenstand ist die Billigung des Vergütungsberichts in seiner formell durch den Abschlussprüfer geprüften (§ 162 Abs. 3) Form.82) Die Pflicht zur Bekanntmachung des Vergütungsberichts ergibt sich aus § 124 Abs. 2 Satz 3 und 4. Auch bei § 120a Abs. 4 kann die Hauptversammlung nur die Billigung des Berichts oder 39 deren Ablehnung beschließen, diesen aber nicht inhaltlich modifizieren oder teilweise billigen,83) so dass auch hier kein Gegenantragsrecht besteht,84) richtigerweise auch nicht _____________ 75) Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 33. 76) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 120a Rz. 1; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120a Rz. 27; Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 36. Für Abstimmungsmöglichkeit auch ohne Satzungsregelung Bachmann/Pauschinger, ZIP 2019, 1 – hiergegen ausdrücklich Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 36. 77) Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 35. 78) Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 35; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120a Rz. 66. 79) Tröger in: KölnKomm-AktG, § 120a Rz. 65; Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 35. 80) Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 41. 81) Näher Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 46. 82) Hirte/Heidel-Krenek, Das neue Aktienrecht, § 120a AktG Rz. 19. 83) Insoweit a. A. Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 42. 84) Löbbe/Fischbach, AG 2019, 373, 384; Hirte/Heidel-Krenek, Das neue Aktienrecht, § 120a AktG Rz. 20.

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§ 120a

Votum zum Vergütungssystem und zum Vergütungsbericht

zur Dokumentation inhaltlicher Kritikpunkte.85) Gegen ein Minderheitsverlangen nach § 122 bestehen hier weniger Bedenken als bei § 120a Abs. 1, wenn der Vergütungsbericht tatsächlich vorliegt, da zur Abstimmung jedes Jahr eine Pflicht besteht.86) Wurde der Bericht nicht erstellt, gibt es keinen tauglichen Beschlussgegenstand. 40 Größter Unterschied zum Vergütungsvotum ist die Kompetenz für den Beschlussvorschlag: Sie liegt hier wieder wie üblich bei Vorstand und Aufsichtsrat.87) 3.

Rechtswirkungen

41 Auch dieses Votum begründet weder Rechte noch Pflichten und ist damit nicht bindend. Anders als in § 120a Abs. 1 ist auch keine Vorlage eines neuen und/oder überprüften Berichts erforderlich.88) Es handelt sich bei der Ablehnung daher um eine reine Meinungsäußerung der Aktionäre, die damit ihre Unzufriedenheit weniger über die Art der Berichterstattung ausdrücken werden (wenngleich auch das denkbar ist), sondern bzgl. der Vorstandsvergütung eher über die konkrete Anwendung des Vergütungssystems.89) Diese Gründe sind rechtlich allerdings grundsätzlich unbedeutend90) und indizieren insbesondere nicht das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Pflichtverletzung der Verwaltungsorgane.91) Dennoch ist im nächsten Vergütungsbericht nach § 162 Abs. 1 Nr. 6 anzugeben, wie der Hauptversammlungsbeschluss berücksichtigt wurde, selbst wenn die Gründe einer Ablehnung nicht bekannt sind. 4.

Anfechtungsausschluss

42 Hierzu kann auf oben (siehe Rz. 29 ff.) verwiesen werden (vgl. § 120a Abs. 4 Satz 2). Hinzu kommt, dass eine Anfechtung oder Nichtigerklärung erst recht folgenlos bleiben dürfte.92) 5.

Ausnahme für KMU (§ 120a Abs. 5)

43 Die Erleichterung beruht auf Art. 9b Abs. 4 Unterabs. 2 ARRL II. Bei kleinen und mittelgroßen Gesellschaften i. S. des § 267 Abs. 1 und 2 HGB genügt es, den Vergütungsbericht unter einem eigenen Tagesordnungspunkt zur bloßen Erörterung vorzulegen. Die Erleichterung beschränkt sich also auf den Wegfall des Beschlusserfordernisses. Dies wird noch dadurch relativiert, dass bisher nicht geklärt ist, wer die Kompetenz hat, über die Inanspruchnahme der Erleichterung zu entscheiden: Das Erfordernis von Tagesordnungspunkt und Beschlussvorschlag sprechen für Vorstand und Aufsichtsrat, es werden aber auch der Versammlungsleiter sowie Satzung oder Geschäftsordnung der Hauptversamm-

_____________ 85) So aber Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 47. Solange dies nicht endgültig geklärt ist, empfiehlt sich vorsichtshalber eine Veröffentlichung. 86) Ohne diese Einschränkung Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 46. 87) Hirte/Heidel-Krenek, Das neue Aktienrecht, § 120a AktG Rz. 20; Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 41; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 46. 88) Löbbe/Fischbach, AG 2019, 373, 384; Hirte/Heidel-Krenek, Das neue Aktienrecht, § 120a AktG Rz. 21. 89) Löbbe/Fischbach, AG 2019, 373, 384; Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 45. 90) Teilweise wird aber ein Treupflichtverstoß erwogen, wenn die Vergütung sich i. R. des von der Hauptversammlung gebilligten Systems hält, Bachmann/Pauschinger, ZIP 2019, 1, 8. Wegen des Anfechtungsausschlusses dürfte diese Frage aber keine praktische Bedeutung erlangen. Außerdem berücksichtigt dies nicht die Möglichkeit einer Kritik an der Umsetzung des Systems im Einzelfall. Für freies Ermessen der Hauptversammlung auch Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 37. 91) Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 43. 92) Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 43.

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lung vertreten.93) Sollten hier Uneinigkeiten zu befürchten sein, ist es wohl oft einfacher, den Beschluss proaktiv herbeizuführen. 6.

Zulässigkeit von Satzungsregelungen

Eine satzungsmäßige Pflicht, das Regime auf nicht börsennotierte Gesellschaften aus- 44 zudehnen, kommt hier (zu § 120a Abs. 1 siehe oben Rz. 34) nur in Betracht, wenn auch ein Vergütungsbericht vorliegt. Teilweise wird vertreten, dass auch eine Pflicht hierzu in der Satzung festgelegt werden könne.94) Das erscheint vor dem Hintergrund der Satzungsstrenge gemäß § 23 Abs. 5 aber zu weitgehend. Zum Satzungsspielraum bei börsennotierten Gesellschaften kann auf oben (siehe Rz. 35) 45 verwiesen werden. _____________ 93) Hoffmann in: BeckOGK-AktR, § 120a AktG Rz. 49. 94) So Grigoleit-Herrler, AktG, § 120a Rz. 46.

Zweiter Unterabschnitt Einberufung der Hauptversammlung § 121 Allgemeines Dirk Kocher

(1) Die Hauptversammlung ist in den durch Gesetz oder Satzung bestimmten Fällen sowie dann einzuberufen, wenn das Wohl der Gesellschaft es fordert. (2) 1Die Hauptversammlung wird durch den Vorstand einberufen, der darüber mit einfacher Mehrheit beschließt. 2Personen, die in das Handelsregister als Vorstand eingetragen sind, gelten als befugt. 3Das auf Gesetz oder Satzung beruhende Recht anderer Personen, die Hauptversammlung einzuberufen, bleibt unberührt. (3) 1Die Einberufung muss die Firma, den Sitz der Gesellschaft sowie Zeit und Ort der Hauptversammlung enthalten. 2Zudem ist die Tagesordnung anzugeben. 3Bei börsennotierten Gesellschaften hat der Vorstand oder, wenn der Aufsichtsrat die Versammlung einberuft, der Aufsichtsrat in der Einberufung ferner anzugeben: 1. die Voraussetzungen für die Teilnahme an der Versammlung und die Ausübung des Stimmrechts sowie gegebenenfalls den Nachweisstichtag nach § 123 Absatz 4 Satz 2 und dessen Bedeutung; 2. das Verfahren für die Stimmabgabe a) durch einen Bevollmächtigten unter Hinweis auf die Formulare, die für die Erteilung einer Stimmrechtsvollmacht zu verwenden sind, und auf die Art und Weise, wie der Gesellschaft ein Nachweis über die Bestellung eines Bevollmächtigten elektronisch übermittelt werden kann sowie b) durch Briefwahl oder im Wege der elektronischen Kommunikation gemäß § 118 Abs. 1 Satz 2, soweit die Satzung eine entsprechende Form der Stimmrechtsausübung vorsieht; 3. die Rechte der Aktionäre nach § 122 Abs. 2, § 126 Abs. 1, den §§ 127, 131 Abs. 1; die Angaben können sich auf die Fristen für die Ausübung der Rechte beschrän-

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§ 121

Allgemeines

ken, wenn in der Einberufung im Übrigen auf weitergehende Erläuterungen auf der Internetseite der Gesellschaft hingewiesen wird; 4. die Internetseite der Gesellschaft, über die die Informationen nach § 124a zugänglich sind. (4) 1Die Einberufung ist in den Gesellschaftsblättern bekannt zu machen. 2Sind die Aktionäre der Gesellschaft namentlich bekannt, so kann die Hauptversammlung mit eingeschriebenem Brief einberufen werden, wenn die Satzung nichts anderes bestimmt; der Tag der Absendung gilt als Tag der Bekanntmachung. 3Die Mitteilung an die im Aktienregister Eingetragenen genügt. (4a) Bei börsennotierten Gesellschaften, die nicht ausschließlich Namensaktien ausgegeben haben oder welche die Einberufung den Aktionären nicht unmittelbar nach Absatz 4 Satz 2 übersenden, ist die Einberufung spätestens zum Zeitpunkt der Bekanntmachung solchen Medien zur Veröffentlichung zuzuleiten, bei denen davon ausgegangen werden kann, dass sie die Information in der gesamten Europäischen Union verbreiten. (5) 1Wenn die Satzung nichts anderes bestimmt, soll die Hauptversammlung am Sitz der Gesellschaft stattfinden. 2Sind die Aktien der Gesellschaft an einer deutschen Börse zum Handel im regulierten Markt zugelassen, so kann, wenn die Satzung nichts anderes bestimmt, die Hauptversammlung auch am Sitz der Börse stattfinden. (6) Sind alle Aktionäre erschienen oder vertreten, kann die Hauptversammlung Beschlüsse ohne Einhaltung der Bestimmungen dieses Unterabschnitts fassen, soweit kein Aktionär der Beschlußfassung widerspricht. (7) 1Bei Fristen und Terminen, die von der Versammlung zurückberechnet werden, ist der Tag der Versammlung nicht mitzurechnen. 2Eine Verlegung von einem Sonntag, einem Sonnabend oder einem Feiertag auf einen zeitlich vorausgehenden oder nachfolgenden Werktag kommt nicht in Betracht. 3Die §§ 187 bis 193 des Bürgerlichen Gesetzbuchs sind nicht entsprechend anzuwenden. 4Bei nichtbörsennotierten Gesellschaften kann die Satzung eine andere Berechnung der Frist bestimmen. Literatur: Bayer/Hoffmann, Der Ort der Hauptversammlung, AG 2013, R 23; Blasche, Zur Erforderlichkeit eines Versammlungsleiters bei der Einpersonen-Aktiengesellschaft, AG 2017, 16; Bungert, Hauptversammlungen deutscher Aktiengesellschaften und Auslandsbezug, AG 1995, 26; Bungert/Leyendecker-Langner, Hauptversammlungen im Ausland, BB 2015, 268; Florstedt, Fristen und Termine im Recht der Hauptversammlung, ZIP 2010, 761; Kocher, Rechtsgeschäftliche Vertretung von Kapitalgesellschaften in Vollversammlungen anderer Kapitalgesellschaften, NZG 2016, 1220; Kocher, BGH: Absage einer Hauptversammlung – Anfechtungsbefugnis des Vorstands, BB 2015, 2636; Kocher/Lönner, Anfechtungsrisiken wegen unklarer Vorbesitzzeit beim Ergänzungsverlangen?, BB 2010, 1675; v. d. Linden, Hauptversammlungen – neue Herausforderungen durch die DSGVO, BB 2019, 75; Löschhorn, Notwendigkeit einer Datenschutzerklärung bei der Einladung zur Hauptversammlung von Aktiengesellschaften, AG 2018, 319; Mohamed, Der Berechtigungsnachweis für die Hauptversammlung in neuem Gewande – von der Legitimationsmethodik 2.0 über die Aktienrechtsnovelle 2016, ZIP 2016, 1100; Mohamed, Die Sprachverwirrung in der ausländisch geprägten Hauptversammlung von AG oder SE, NZG 2015, 1263; Quass, Nichtigkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen wegen eines Umschreibestopps im Aktienregister?, AG 2009, 432; Schroeder/Pussar, Neues Anfechtungsrisiko bei der HVEinberufung: Fristen für Ergänzungsverlangen, BB 2010, 717; Söhner, Die Aktienrechtsnovelle 2016, ZIP 2016, 151; Terbrack, L’etat c’est moi – oder: Von der trügerischen Allherrlichkeit des Alleinaktionärs bei Hauptversammlungen, RNotZ 2012, 221; Wandt, Was und wann? – Die Auswirkungen der Aktienrechtsnovelle 2016 auf die Einberufung der Hauptversammlung, NZG 2016, 367; Zetzsche, Datenschutz und Hauptversammlung, AG 2019, 233; Zipperle/Lingen, Das

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§ 121

Allgemeines

Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrichtlinie im Überblick, BB 2020, 131; ZöllterPetzoldt, Zum Teilnahmerecht des Vorstands und des Aufsichtsrats an Vollversammlungen einer Aktiengesellschaft, NZG 2013, 607.

Übersicht I. Regelungsgehalt, Bedeutung ........... 1 II. Einberufungsgründe (§ 121 Abs. 1) ................................................. 2 1. Gesetzliche Einberufungsgründe ...... 2 a) Ausdrückliche gesetzliche Einberufungspflicht ..................... 2 b) Einberufungspflicht aufgrund Hauptversammlungszuständigkeit ........................................... 3 2. Satzungsmäßige Einberufungsgründe ................................................. 4 3. Einberufung zum Wohl der Gesellschaft ......................................... 5 4. Fakultative Einberufung .................... 6 5. Rechtsfolgen eines Verstoßes ............ 7 III. Einberufungsberechtigung (§ 121 Abs. 2) ..................................... 9 1. Vorstand (§ 121 Abs. 2 Satz 1, Satz 2) ................................................. 9 2. Andere Personen (§ 121 Abs. 2 Satz 3) ............................................... 11 3. Rechtsfolgen eines Verstoßes .......... 14 IV. Inhalt der Einberufung (§ 121 Abs. 3) ................................... 15 1. Allgemeines ...................................... 15 2. Belehrungspflicht nach der DSGVO ............................................ 17 3. Basisangaben für alle Gesellschaften (§ 121 Abs. 3 Satz 1, Satz 2) ............................................... 19 I.

4. Pflichtangaben für börsennotierte Gesellschaften (§ 121 Abs. 3 Satz 3) ............................................... a) § 121 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 ........... b) § 121 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 ........... c) § 121 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3 ........... d) § 121 Abs. 3 Satz 3 Nr. 4 ........... 5. Rechtsfolgen eines Verstoßes .......... V. Bekanntmachung (§ 121 Abs. 4, Abs. 4a) ............................................. 1. Bekanntmachung in den Gesellschaftsblättern (§ 121 Abs. 4 Satz 1) ............................................... 2. Einberufung durch Brief etc. (§ 121 Abs. 4 Satz 2, Satz 3) ............ a) Namentlich bekannte Aktionäre ............................................. b) Form der Übermittlung ............. c) Tag der Bekanntmachung .......... 3. Zuleitung an Medien (§ 121 Abs. 4a) ............................................. 4. Rechtsfolgen bei Verstößen ............ VI. Ort der Hauptversammlung (§ 121 Abs. 5) ................................... VII. Zeit der Hauptversammlung ....... VIII. Vollversammlung (§ 121 Abs. 6) ............................................... IX. Berechnung von Fristen und Terminen (§ 121 Abs. 7) ................. X. Absage der Hauptversammlung ....

22 22 23 25 26 27 28

28 29 29 30 31 32 33 34 38 39 43 44

Regelungsgehalt, Bedeutung

§ 121 gilt auch für gesonderte Versammlungen (§ 138 Satz 2), für Übernahmesachverhalte 1 ist § 16 Abs. 3, 4 WpÜG zu beachten. Soweit die Aktien zum Börsenhandel zugelassen sind, sind auch §§ 48 ff. WpHG zu beachten. Die Regelungen des § 121 sind zwingend, soweit in der Satzung nichts anders vorgesehen ist (§ 23 Abs. 5, zu den Möglichkeiten siehe Rz. 4, 13, 30 und 34 ff.). Die Bekanntmachungspflichten müssen dabei im Zusammenhang mit den Zuleitungspflichten in § 125 gelesen werden. II.

Einberufungsgründe (§ 121 Abs. 1)

1.

Gesetzliche Einberufungsgründe

a)

Ausdrückliche gesetzliche Einberufungspflicht

Die Hauptversammlung ist einzuberufen, soweit das Gesetz dies ausdrücklich anordnet, 2 namentlich in den Fällen der §§ 92 Abs. 1, § 120 Abs. 1 Satz 1, 122 Abs. 1 Satz 1, 175 Abs. 1

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Allgemeines

und § 327a Abs. 1; ferner z. B. gemäß § 44 Abs. 5 KWG, § 3 Abs. 1 BausparkG, § 83 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 VAG und § 3 PfandBG. b)

Einberufungspflicht aufgrund Hauptversammlungszuständigkeit

3 Eine Einberufungspflicht ergibt sich mittelbar in den Fällen, in denen das Gesetz eine Beschlussfassung durch die Hauptversammlung vorsieht (siehe § 119 Rz. 3 ff.) sowie in Fällen ungeschriebener Hauptversammlungszuständigkeit (siehe § 119 Rz. 18 ff.). Steht ein vom Vorstand mit einem Dritten geschlossener Vertrag unter dem Vorbehalt der Zustimmung der Hauptversammlung, wird zwar eine vertragliche Einberufungspflicht des Vorstands begründet, die jedoch mangels gesetzlicher oder satzungsmäßiger Zuständigkeit der Hauptversammlung nicht an § 121 zu messen ist.1) 2.

Satzungsmäßige Einberufungsgründe

4 Dem Satzungsgeber sind hier durch die gesetzliche Kompetenzordnung enge Grenzen gesetzt (§ 23 Abs. 5).2) Möglich ist, der Hauptversammlung die Zustimmung zur Übertragung vinkulierter Namensaktien vorzubehalten (§ 68 Abs. 2 Satz 3) sowie das Quorum des § 122 Abs. 1 abzusenken. 3.

Einberufung zum Wohl der Gesellschaft

5 Diese Variante hat kaum praktische Relevanz.3) Auch eine beschlusslose Hauptversammlung ist denkbar, auch wenn hier eine Einberufungspflicht zum Wohl der Gesellschaft in aller Regel nicht bestehen wird.4) 4.

Fakultative Einberufung

6 Der Vorstand kann die Hauptversammlung einberufen in den Fällen des § 111 Abs. 4 Satz 3 und des § 119 Abs. 2. Dies ist auch zulässig zur Einholung eines Meinungsbildes ohne Beschlussfassung, ohne dass dazu eine Pflicht besteht.5) 5.

Rechtsfolgen eines Verstoßes

7 Kommt der Vorstand seiner Einberufungspflicht nicht nach, stellt dies eine Pflichtverletzung (§ 93) dar und kann Schadensersatzansprüche der Gesellschaft auslösen. In diesem Fall hat nach § 111 Abs. 3 der Aufsichtsrat die Hauptversammlung einzuberufen, ist ansonsten aber möglicherweise ebenfalls gegenüber der Gesellschaft zum Schadensersatz verpflichtet (§§ 93, 116).6) Aktionäre haben keine direkten Schadensersatzansprüche.7) Die Einberufung der Hauptversammlung kann von Aktionären nicht im Wege der Leistungsklage durchgesetzt werden, es ist vielmehr nach § 122 Abs. 1 zu verfahren.8) Wird die ordentliche Hauptversammlung nicht einberufen, kann das Registergericht ein Zwangsgeld festsetzen (§§ 407, 175). _____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8)

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Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 11 m. w. N; vgl. auch K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 121 Rz. 11. Hölters-Drinhausen, AktG, § 121 Rz. 9; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 9 m. w. N. Vgl. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 9; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 121 Rz. 5. Für die h. M. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 10; im Detail Noack/Zetzsche in: KölnKommAktG, § 121 Rz. 28. Vgl. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 Rz. 11 m. w. N. Teilweise wird die fakultative Einberufung auch als gesetzlicher Einberufungsgrund angesehen, vgl. Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 121 Rz. 22. Butzke in: GroßKomm-AktG, § 121 Rz. 31; vgl. auch K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 121 Rz. 19. Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 121 Rz. 30; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 115; a. A. in Bezug auf Fälle verspäteter Dividendenzahlung K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 121 Rz. 19. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 13; vgl. zur fehlenden Zulässigkeit einer diesbezüglichen Feststellungsklage LG Frankfurt/M., Urt. v. 3.4.2001 – 3/5 O 109/00, AG 2001, 491, 492.

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§ 121

Allgemeines

Wird die Hauptversammlung grundlos einberufen, bleibt dies ohne Auswirkung auf die mög- 8 licherweise dennoch gefassten Beschlüsse.9) III.

Einberufungsberechtigung (§ 121 Abs. 2)

1.

Vorstand (§ 121 Abs. 2 Satz 1, Satz 2)

Der Vorstand, der hierüber – abweichend von § 77 Abs. 1 – zwingend10) mit einfacher 9 Mehrheit beschließt, beruft die Hauptversammlung ein. Bei der Beschlussfassung muss der Vorstand ordnungsgemäß besetzt sein, ansonsten ist der Einberufungsbeschluss unwirksam. Ob in der Folge in der Hauptversammlung gefasste Beschlüsse nichtig oder bloß anfechtbar sind, ist nicht abschließend geklärt.11) Eine BGH-Entscheidung,12) in der Hauptversammlungsbeschlüsse nach Vorschlägen eines unterbesetzten Vorstands gemäß § 124 Abs. 3 als anfechtbar eingestuft wurden, deutet darauf hin, dass auch aus der Einberufung eines fehlerhaft besetzten Vorstands allenfalls die Anfechtbarkeit der gefassten Beschlüsse resultiert.13) Der Vorstand hat über alle Eckdaten der einzuberufenden Hauptversammlung wie Ort, Zeit und Tagesordnung zu beschließen.14) § 121 Abs. 2 Satz 2 sieht vor, dass in das Handelsregister als Vorstand eingetragene Per- 10 sonen als zur Mitwirkung an der Beschlussfassung befugt gelten. Die fehlende Befugnis zur Mitwirkung an der Einberufungsentscheidung wird demnach unwiderlegbar und unabhängig von Gutgläubigkeit fingiert.15) Daraus folgt indessen weder ein Recht noch eine Pflicht des nicht mehr amtierenden, aber noch eingetragenen Vorstandsmitglieds zur Mitwirkung an der Beschlussfassung.16) Unberührt bleibt die Mitwirkungsberechtigung nicht eingetragener, aber wirksam bestellter Vorstandsmitglieder.17) Die Fiktion greift ein, wenn die Handelsregistereintragung bei Bekanntmachung der Einberufung im Bundesanzeiger besteht.18) 2.

Andere Personen (§ 121 Abs. 2 Satz 3)

Durch § 121 Abs. 2 Satz 3 werden keine selbstständigen Einberufungsrechte begründet, 11 sondern die Norm verweist auf vorhandene Einberufungszuständigkeiten im Gesetz oder der Satzung.19) _____________ 9) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 14; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 121 Rz. 17. 10) Vgl. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 13 m. w. N. Abweichend hiervon soll nach Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 18, dann ein einstimmiger Beschluss erforderlich sein, wenn die Hauptversammlung allein zur Vorlage einer Geschäftsführungsfrage nach § 119 Abs. 2 einberufen werden soll. 11) Für die Nichtigkeit LG Münster, Urt. v. 3.12.1997 – 21 O 161/97, AG 1998, 344, 344; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 29 m. w. N.; für die Anfechtbarkeit LG Heilbronn, Urt. v. 19.11.1999 – 3 KfH O 227/99, AG 2000, 373, 374 f.; Heidel-Müller, AktR, § 121 AktG Rz. 11; K. Schmidt in: GroßKomm-AktG, § 243 Rz. 29; gegen jedwede Fehlerhaftigkeit der gefassten Hauptversammlungsbeschlüsse Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 121 Rz. 57 f. 12) BGH, Urt. v. 12.11.2001 – II ZR 225/99, ZIP 2002, 172, dazu EWiR 2002, 885 (Saenger/Bergjan). 13) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 121 Rz. 57. 14) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 121 Rz. 34. 15) Allg. M., vgl. statt vieler Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 121 Rz. 7; zur umstrittenen Frage, ob dies auch im Fall der fehlenden Geschäftsfähigkeit des Vorstandsmitglieds gilt, bejahend Kubis in: MünchKommAktG, § 121 Rz. 30; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 17 m. w. N; K. Schmidt in: GroßKommAktG, § 241 Rz. 44; im Ergebnis auch Noack/Zetsche in: KölnKomm-AktG, § 121 Rz. 60; verneinend Butzke in: GroßKomm-AktG, § 241 Rz. 28. 16) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 10.5.1988 – 5 U 285/86, NJW-RR 1989, 546, 547 f.; K. Schmidt/LutterZiemons, AktG, § 121 Rz. 21. 17) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 20 m. w. N.; Hölters-Drinhausen, AktG, § 121 Rz. 15. 18) Zukünftig steht, sofern kein Fall von § 26h Abs. 3 Satz 1 EGAktG vorliegt, nur noch der Bundesanzeiger als Gesellschaftsblatt offen (§ 25), Wandt, NZG 2016, 367, 371. 19) Butzke in: GroßKomm-AktG, § 121 Rz. 30.

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Allgemeines

12 So hat nach § 111 Abs. 3 unter den dort genannten Voraussetzungen (bei der SE nach Art. 54 Abs. 2 SE-VO wohl auch ohne sie) neben dem Vorstand der Aufsichtsrat ein gesetzliches Recht, die Hauptversammlung einzuberufen (siehe schon Rz. 7), wobei eine Delegation auf einen Ausschuss nicht in Frage kommt, § 107 Abs. 3 Satz 3. Aus der nichtigen Wahl des gesamten Aufsichtsrats folgt die Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit (siehe oben Rz. 9) nachfolgender Hauptversammlungsbeschlüsse, wenn die Einberufung durch den Aufsichtsrat erfolgte. Dasselbe gilt für die nichtige Wahl einzelner Mitglieder, sofern hierdurch die Stimmenmehrheit im Aufsichtsrat oder dessen Beschlussfähigkeit entfällt.20) Eine angefochtene, aber noch nicht für nichtig erklärte Wahl eines Aufsichtsratsmitglieds führt nicht zur Anfechtbarkeit der Hauptversammlungsbeschlüsse (näher siehe § 124 Rz. 42 f.).21) Ferner einberufungsberechtigt sind Abwickler (§ 268 Abs. 2) und Minderheitsaktionäre, soweit sie vom Gericht gemäß § 122 ermächtigt sind. Ebenfalls zu nennen sind aufsichtsrechtliche Einberufungsbefugnisse (z. B. § 44 Abs. 5 KWG), obschon die Aufsichtsbehörde nicht selbst die Hauptversammlung einberufen, sondern dies nur vom Vorstand verlangen kann. Dem Insolvenzverwalter steht kein Einberufungsrecht zu.22) 13 Die Satzung kann weiteren Personen, z. B. Aktionären oder Aktionärsgruppen, gesellschaftsfremden Dritten oder einzelnen Mitgliedern des Vorstands bzw. des Aufsichtsrats eine Einberufungsbefugnis einräumen.23) 3.

Rechtsfolgen eines Verstoßes

14 Erfolgt die Einberufung durch Nichtberechtigte, so sind darauf hin gefasste Hauptversammlungsbeschlüsse gemäß § 241 Nr. 1 nichtig, sofern kein Fall der Vollversammlung vorliegt (§ 121 Abs. 6). IV.

Inhalt der Einberufung (§ 121 Abs. 3)

1.

Allgemeines

15 Hinsichtlich des Bekanntmachungsinhalts wird zwischen börsennotierten (§ 3 Abs. 2) und nicht börsennotierten Gesellschaften differenziert. Letztere haben zwar nur noch die Basisangaben des § 121 Abs. 3 Satz 1 und 2 zu machen; es entfallen somit Angaben zu Teilnahmebedingungen auch für im Freiverkehr notierte Gesellschaften.24) Eine solche Vorgehensweise wirft jedoch mehr Fragen auf Seiten der Aktionäre auf und ist daher nicht zu empfehlen. Jedenfalls die Teilnahmebedingungen sollten angegeben werden. 16 Die in § 121 Abs. 3 genannten Angaben sind zwingend, jedoch nicht abschließend. Ferner sind die Angaben nach § 124 Abs. 2 und 3 zu machen; Emittenten i. S. des § 2 Abs. 13 WpHG unterliegen ferner den Veröffentlichungspflichten des § 49 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WpHG.25) _____________ 20) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 28; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 121 Rz. 59. 21) Vgl. BGH, Urt. v. 19.2.2013 – II ZR 56/12, NZG 2013, 456, 458 = BB 2013, 1166 mit Anm. Kocher, dazu EWiR 2013, 333 (Schatz); Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 28. 22) Allg. M., Hölters-Drinhausen, AktG, § 121 Rz. 17; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 25; Noack/ Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 121 Rz. 48. 23) Vgl. etwa Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 23 m. w. N. Wird einem einzelnen Vorstandsmitglied in der Satzung Einberufungsbefugnis erteilt, führt dies nicht etwa dazu, dass nicht mehr das Gesamtorgan, sondern nur noch das einzelne Mitglied einberufungsberechtigt wäre (so aber Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 26); vielmehr tritt die Einberufungsberechtigung des einzelnen Mitglieds neben die des Gesamtorgans, vgl. Butzke in: GroßKomm-AktG, § 121 Rz. 30. 24) Heidel-Müller, AktR, § 121 AktG Rz. 23 – mit Hinweis darauf, dass diese freiwillig erfolgen können. 25) Vgl. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 25; Grigoleit-Herrler, AktG, § 121 Rz. 10.

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§ 121

Allgemeines 2.

Belehrungspflicht nach der DSGVO

Seit Inkrafttreten der Datenschutzgrundverordnung (EU) 2016/679 (DSGVO) am 25.5.2018 17 steht bei Vorbereitung und Durchführung der Hauptversammlung eine die AG treffende Belehrungspflicht bzgl. der Verarbeitung personenbezogener Daten im Raum. Anknüpfungspunkte hierfür sind bspw. das Führen der Anmeldelisten, die Versendung der Eintrittskarten oder das Erfassen und Auswerten der Stimmen. Dieser Pflicht kann durch öffentliche Belehrung nachgekommen werden, insbesondere durch Integration in die Einberufungsunterlagen, durch das Beifügen zu den Zuleitungen nach § 125 oder durch Bereitstellen auf der Internetseite der Gesellschaft.26) Um die leichte Zugänglichkeit i. S. des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 DSGVO zu gewährleisten, sollte dabei auch das Thema eines möglichen sog. Medienbruchs beachtet werden.27) Den Inhalt der Belehrung geben die Art. 13 und 14 DSGVO vor. Werden Hauptversammlungs-Dienstleister beauftragt, sollten Auftragsverarbeitungsverträge 18 geschlossen werden, die den Anforderungen des Art. 28 DSGVO und der übrigen Bestimmungen genügen.28) Zu beachten ist schließlich, dass es trotz der Pflicht zur Löschung nach Art. 17 DSGVO in fast allen Fällen zu einer Speicherdauer für Aktionärsdaten kommt, die nur durch die Aufbewahrungsfrist des § 257 HGB beschränkt wird.29) 3.

Basisangaben für alle Gesellschaften (§ 121 Abs. 3 Satz 1, Satz 2)

Zu nennen sind die Firma (§ 4), der Sitz (§ 5) bzw. bei Doppelsitz beide Sitze und der 19 Termin (Datum und Uhrzeit). Die Uhrzeiten müssen Intermediäre den Aktionären nach Art. 4 Abs. 1 i. V. m. Tabelle 3 des Anhangs der Durchführungsverordnung (EU) 2018/ 121230) (dort Ziff. C. 2) auch im UTC-Format übermitteln, weswegen es sich anbieten kann, diese Angabe in die Einberufung aufzunehmen. Dies ist zwar für die Gesellschaft nicht für die Einberufung verpflichtend, für den Inhalt der Mitteilungen an Aktionäre über die Intermediäre gilt aber § 125 Abs. 5 (siehe § 125 Rz. 19 ff.). Außerdem ist der Ort (Abs. 5) anzugeben. Hierzu gehört wörtlich genommen nicht die Adresse des Sitzungssaals, die aber dennoch in vernünftig auffindbarer Form anzugeben ist.31) Eine nachträgliche Verlegung in einen anderen Sitzungssaal in der gleichen Gemeinde ist keine Änderung des Ortes, wird aber dennoch nur unter sehr engen Voraussetzungen (Erreichbarkeit zu Fuß oder Fahrweg innerhalb weniger Minuten und bei Verlegung erst am Versammlungstag ausreichender Ausschilderung am ursprünglichen Versammlungsort) für zulässig gehalten.32) Richtigerweise ist im Interesse der Teilnahmemöglichkeit der Aktionäre nach dem Zeitpunkt der Verlegung zu differenzieren: Geschieht diese am Versammlungstag, sind die Anforderungen sicher höher als bei einer Veröffentlichung im Vorfeld: Je früher diese geschieht und je wichtiger die Gründe für die Verlegung sind, desto größere Änderungen wird man zulassen können, vor allem da die Aktionäre sich dann rechtzeitig auf die Anreise einstellen können. _____________ 26) Vgl. v. d. Linden, BB 2019, 75 f. 27) Daher wird bspw. empfohlen, die Erfüllung der Informationspflichten mittels des gleichen Mediums erfolgen zu lassen wie die Einladung zur Hauptversammlung, vgl. Löschhorn, AG 2018, 319. Das hat sich in dieser Strenge allerdings nicht durchgesetzt. 28) Vgl. Löschhorn, AG 2018, 319, 322. 29) Vgl. Zetzsche, AG 2019, 233, 240. 30) Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 der Kommission v. 3.9.2018 zur Festlegung von Mindestanforderungen zur Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die Identifizierung der Aktionäre, die Informationsübermittlung und die Erleichterung der Ausübung der Aktionärsrechte, ABl. (EU) L 223/1 v. 4.9.2018. 31) Allg. M., vgl. nur Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 121 Rz. 9. 32) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 41; Hölters-Drinhausen, AktG, § 121 Rz. 23.

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§ 121

Allgemeines

20 Die Dauer der Hauptversammlung muss nicht angegeben werden,33) außer es können ersichtlich nicht an einem Tag sämtliche Tagesordnungspunkte behandelt werden; in diesem Fall soll bereits in der Einberufung deutlich zu machen sein, dass die Hauptversammlung zwei oder mehr Tage in Anspruch nehmen wird.34) Zur Zeit der Hauptversammlung und Fortsetzung nach Mitternacht siehe Rz. 38. Anzugeben ist ferner die Tagesordnung mit den Informationen nach § 124 Abs. 2 und Beschlussvorschlägen, § 124 Abs. 3. Grundsätzlich ist die Gesellschaft an die angekündigte Tagesordnung gebunden und muss aufgeführte Punkte behandeln, darf aber keine Beschlüsse zu unangekündigten Themen fassen (zu Ausnahmen bei Vollversammlung siehe Rz. 39).35) Die Pflicht zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit Tagesordnungspunkten entfällt bei ihrer Absetzung, die den Grundsätzen einer Absage der Hauptversammlung folgt (siehe dazu Rz. 44 ff.).36) Dementsprechend kann nach ihrem Beginn nur die Hauptversammlung selbst bekannt gemachte Tagesordnungspunkte absetzen. 21 Weitere Angaben sind bei nicht börsennotierten Gesellschaften nicht vorgeschrieben. In der Praxis üblich und empfehlenswert ist dennoch jedenfalls die Angabe der Teilnahmevoraussetzungen. 4.

Pflichtangaben für börsennotierte Gesellschaften (§ 121 Abs. 3 Satz 3)

a)

§ 121 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1

22 Anzugeben sind von der gesetzlichen Regelung abweichende37) Satzungsbestimmungen zur Anmeldung (§ 123 Abs. 2) und Legitimation (§ 123 Abs. 3), wobei die inhaltlich zutreffende Wiedergabe ausreicht.38) Ferner sind der Nachweisstichtag (§ 123 Abs. 4 Satz 2) datumsmäßig sowie dessen Bedeutung zu nennen.39) Ungeklärt ist, ob zu den Pflichtangaben auch ein Umschreibestopp bei Namensaktien zählt (sofern von der Gesellschaft vorgesehen),40) dessen Angabe sich vorsichtshalber und aus praktischen Gründen empfiehlt. b)

§ 121 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2

23 Gemäß § 121 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 lit. a ist das Verfahren für die Stimmabgabe durch Bevollmächtigte anzugeben. Hier sind die Form der Vollmachtserteilung und die Art und Weise der Übermittlung (§ 134 Abs. 3 Satz 4) an die Gesellschaft zu nennen. Soweit Formulare für die Beauftragung gesellschaftsbenannter Stimmrechtsvertreter zwingend zu benutzen sind, ist auf sie hinzuweisen.41) _____________ 33) OLG Koblenz, Urt. v. 26.4.2001 – 6 U 746/95, ZIP 2001, 1093, 1093. 34) LG Frankfurt/M., Urt. v. 28.11.2006 – 3-5 O 93/06, ZIP 2007, 1861, 1863; LG Mainz, Urt. v. 14.4.2005 – 12 HK O 82/04, NZG 2005, 819, 819. 35) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 33; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 45 – weitergehend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 121 Rz. 9 – schon die Behandlung unangekündigter Themen ist unzulässig; zum Beschlussfassungsverbot gemäß § 124 Abs. 4 s. dort Rz. 43 ff. 36) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 121 Rz. 110; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 100; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 121 Rz. 18; zur Absetzung in Fällen des § 122 Abs. 2 s. dort Rz. 27. 37) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 46 m. w. N. 38) OLG Stuttgart, Beschl. v. 1.12.2008 – 20 W 12/08, AG 2009, 204, 210. 39) Begr. RegE ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 28; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 47. 40) Dagegen Quass, AG 2009, 432, 436 ff. m. w. N.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 121 Rz. 10 m. w. N.; dafür LG Köln, Beschl. v. 5.12.2008 – 82 O 91/08, NZG 2009, 467, 468 f.; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 64. 41) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 121 Rz. 102. Den Aktionären börsennotierter Gesellschaften kann bei der Bevollmächtigung gesellschaftsbenannter Stimmvertreter die Verwendung bestimmter Vollmachtsformulare vorgegeben werden, während die Aktionäre eine Vollmacht nach § 134 Abs. 3 Satz 3 stets in Textform erteilen können und eine zwingende Verwendung bestimmter Formulare nicht vorgeschrieben werden kann, vgl. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 49.

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§ 121

Allgemeines

§ 121 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 lit. b schreibt vor, dass Angaben zum Verfahren für die Stimm- 24 abgabe im Wege der Briefwahl (§ 118 Abs. 2) oder der Online-Teilnahme (§ 118 Abs. 1 Satz 2) zu machen sind, wenn die Satzung oder der Vorstand aufgrund Satzungsermächtigung diese Verfahren vorsieht. Ist dies nicht der Fall, ist eine Negativanzeige nicht notwendig.42) c)

§ 121 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3

In der Einberufung sind zumindest die Fristen für die Ausübung der Aktionärsrechte 25 aus §§ 122 Abs. 2, 126 Abs. 1, 127 und 131 Abs. 1 datumsmäßig (bei § 131 Abs. 1 gibt es keine Frist, so dass diese auch nicht mit Datum zu bezeichnen ist) anzugeben bzw. darauf hinzuweisen, wenn die Rechtsausübung nicht fristgebunden ist. Im Übrigen kann auf die Internetseite der Gesellschaft verwiesen werden, wenn dort nähere Angaben zu den genannten Aktionärsrechten zu finden sind.43) Die Vorbesitzzeit des § 122 Abs. 1 Satz 3 ist richtigerweise keine Frist i. S. des § 121 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3,44) wobei aufgrund des Wortlauts („weitergehende Erläuterungen“) zumindest ein Hinweis auf die Vorbesitzzeit auf der Internetseite für erforderlich gehalten wird.45) Eine datumsmäßige Angabe ist nicht erforderlich. d)

§ 121 Abs. 3 Satz 3 Nr. 4

Schließlich ist die Internetseite der Gesellschaft, auf der die Informationen nach § 124a 26 zugänglich sind, anzugeben. Die Angabe des genauen Pfads ist nicht gefordert.46) 5.

Rechtsfolgen eines Verstoßes

Fehlen Basisangaben nach § 121 Abs. 3 Satz 1, sind gleichwohl gefasste Beschlüsse nichtig, 27 § 241 Nr. 1, es sei denn, die Voraussetzungen des § 121 Abs. 6 (Vollversammlung) lagen vor. Wird entgegen § 121 Abs. 3 Satz 2 die Tagesordnung nicht angegeben, so darf nach § 124 Abs. 4 Satz 1 nicht Beschluss gefasst werden. Verstöße hiergegen sowie gegen § 121 Abs. 3 Satz 3 begründen bei Relevanz die Anfechtbarkeit nach § 243 Abs. 1.47) V.

Bekanntmachung (§ 121 Abs. 4, Abs. 4a)

1.

Bekanntmachung in den Gesellschaftsblättern (§ 121 Abs. 4 Satz 1)

Hierbei handelt es sich um den gesetzlichen Regelfall der Bekanntmachung, der stets gewählt 28 werden kann,48) selbst wenn die Gesellschaft nur Namensaktien ausgegeben hat (Umkehrschluss zu Abs. 4a). Durch die Satzung lassen sich zusätzliche Anforderungen an die Bekanntmachung begründen, Erleichterungen sind nicht zulässig (§ 23 Abs. 5 Satz 1).49) Emit_____________ 42) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 52 m. w. N.; vgl. ferner Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 121 Rz. 10c. 43) Vgl. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 121 Rz. 10d; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 68; Noack/ Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 121 Rz. 106. 44) Streitig, so jedenfalls Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 121 Rz. 10d m. w. N.; Bürgers/Körber-Reger, AktG, § 121 Rz. 13d; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 54; Empfohlen wird daher, bis zur gerichtlichen Klärung die Haltedauer datumsmäßig konkret zu benennen, vgl. Kocher/Lönner, BB 2010, 1675, 1679; ebenso Schroeder/Pussar, BB 2010, 717, 718 f. Für die SE stellt sich diese Problematik nicht, da eine vergleichbare Haltefrist von Art. 56 SE-VO, § 50 Abs. 2 SEAG nicht vorgesehen ist, vgl. auch Kubis in: MünchKomm-AktG, Art. 55, 56 SE-VO Rz. 19. 45) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 121 Rz. 10d; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 55. 46) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 56; Grigoleit-Herrler, AktG, § 121 Rz. 18. 47) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 121 Rz. 11; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 121. 48) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 121 Rz. 11a; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 121 Rz. 76. 49) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 60; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 74.

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§ 121

Allgemeines

tenten i. S. des § 2 Abs. 13 WpHG haben ferner § 49 WpHG zu beachten. Die Einberufung muss nach § 121 Abs. 4 Satz 1 in den Bundesanzeiger eingerückt werden (vgl. zum Bundesanzeiger als alleiniges Gesellschaftsmedium § 25). Für Altsatzungen gilt weiterhin die Pflicht zur Einberufung in etwaigen weiteren Gesellschaftsblättern (§ 26h Abs. 3 Satz 1 EGAktG); seit dem 1.2.2016 ist jedoch nicht die Publikation des letzten Blattes, sondern allein die Bekanntmachung im Bundesanzeiger für die Bekanntmachung (und einen etwaigen Fristbeginn und etwaige weitere Rechtsfolgen) maßgeblich (§ 26h Abs. 3 Satz 2 EGAktG).50) 2.

Einberufung durch Brief etc. (§ 121 Abs. 4 Satz 2, Satz 3)

a)

Namentlich bekannte Aktionäre

29 Sind der Gesellschaft die Aktionäre namentlich bekannt, kann sie statt durch Bekanntmachung in den Gesellschaftsblättern oder durch eingeschriebenen Brief (zu satzungsmäßigen Erleichterungen siehe Rz. 30) zur Hauptversammlung laden. Bei Namensaktien gilt gegenüber der Gesellschaft gemäß § 67 Abs. 2 weiterhin nur der im Aktienregister Eingetragene als Aktionär, sodass eine Ladung nach § 121 Abs. 4 Satz 2 auf dieser Basis vorgenommen werden kann, was Satz 3 i. d. F. des ARUG II nun noch einmal ausdrücklich klarstellt. Bei börsennotierten Gesellschaften mit Namensaktien können die Voraussetzungen zwar theoretisch erfüllt sein, praktisch hat dieser Weg hier dennoch kaum Bedeutung.51) Bei Inhaberaktien ist dagegen fast immer die Bekanntmachung nach § 121 Abs. 4 Satz 1 zu empfehlen.52) b)

Form der Übermittlung

30 Die Satzung kann hier Erleichterungen, etwa eine Ladung per Fax oder E-Mail, vorsehen.53) Wurde hiervon nicht Gebrauch gemacht, ist die Einberufung durch eingeschriebenen Brief zu übermitteln. Ein Rückschein ist nicht erforderlich, jedoch ist unklar, ob ein Einwurfeinschreiben ausreicht.54) Zweckmäßig ist daher eine Versendung als Übergabeeinschreiben.55) Unabhängig von der Zustellungsart genügt für die Erklärung selbst Textform (§ 126b BGB).56) Daneben gelten die §§ 125 ff. jedenfalls dann, wenn in der übermittelten Einberufung nicht alle danach erforderlichen Informationen enthalten sind. Sind sie dagegen bereits enthalten, wird eine zusätzliche Zuleitung verbreitet für entbehrlich gehalten.57) c)

Tag der Bekanntmachung

31 Gemäß § 121 Abs. 4 Satz 2 Halbs. 2 gilt der Tag der Absendung, also der Tag der Aufgabe der Briefe beim Beförderungsunternehmen,58) als der Tag der Bekanntmachung. Maßgeblich ist der Tag der Aufgabe des letzten Briefes.59) _____________ 50) Butzke in: GroßKomm-AktG, § 121 Rz. 87; so bereits zur alten Rechtslage K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 121 Rz. 76. 51) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 61m. w. N. 52) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 121 Rz. 11d; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 121 Rz. 139. 53) Begr. RegE z. Gesetz zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts und anderer Vorschriften an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr, BT-Drucks. 14/4987, S. 30; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 121 Rz. 11 f.; zum ARUG II auch Zipperle/Lingen, BB 2020, 131, 137. 54) Dafür zumindest LG Mannheim, Urt. v. 8.3.2007 – 23 O 10/06, NZG 2008, 111, 112 – hier zur GmbH. 55) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 69; Grigoleit-Herrler, AktG, § 121 Rz. 22. 56) Vgl. Begr. RegE z. Gesetz zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts und anderer Vorschriften an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr, BT-Drucks. 14/4987, S. 30. 57) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 74 f. m. w. N. 58) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 73 m. w. N.; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 121 Rz. 150. 59) Allg. M., vgl. nur Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121AktG Rz. 73 m. w. N.

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§ 121

Allgemeines 3.

Zuleitung an Medien (§ 121 Abs. 4a)

Soweit die Bekanntmachung nach § 121 Abs. 4 Satz 1 erfolgt und die Gesellschaft börsen- 32 notiert ist, hat sie die Einberufung spätestens im Zeitpunkt der Bekanntmachung solchen Medien zur Veröffentlichung zuzuleiten, bei denen davon ausgegangen werden kann, dass sie die Informationen in der gesamten Europäischen Union verbreiten (vgl. § 3a WpAIV). § 121 Abs. 4a stellt klar, dass diese Pflicht nicht besteht, falls entweder nur Namensaktien ausgegeben wurden oder alle Aktionäre (auch solche von Inhaberaktien) die Einberufung mittels eingeschriebenem Brief erhalten (§ 122 Abs. 4 Satz 2, siehe dazu Rz. 29).60) Teilweise wurden diese Ausnahmen von der Zuleitungspflicht für europarechtswidrig gehalten,61) sodass sich auch weiterhin eine Zuleitung an entsprechende Medien empfohlen wurde.62) Zur weiteren Aktionärsinformation sind außerdem die Zuleitungspflichten in § 125 zu beachten (siehe dazu auch oben Rz. 30). 4.

Rechtsfolgen bei Verstößen

Wird gegen die Bekanntmachungspflichten aus § 121 Abs. 4 verstoßen, folgt daraus gemäß 33 § 241 Nr. 1 die Nichtigkeit der in der Hauptversammlung gefassten Beschlüsse.63) Genehmigen die nicht geladenen Aktionäre die Beschlüsse, kann die Nichtigkeit nicht mehr geltend gemacht werden (§ 242 Abs. 2 Satz 4).64) Ein Verstoß gegen § 121 Abs. 4a führt weder zur Nichtigkeit (§ 241) noch zur Anfechtbarkeit (§ 243 Abs. 3 Nr. 2) der Beschlüsse, jedoch ist § 405 Abs. 3a Nr. 1 (Ordnungswidrigkeit) einschlägig.65) VI.

Ort der Hauptversammlung (§ 121 Abs. 5)

Soweit die Satzung nichts anderes vorsieht, soll die Hauptversammlung am Sitz (§ 5) der 34 Gesellschaft stattfinden. Bei Doppelsitz kommen beide Orte in Frage.66) Sind Aktien der Gesellschaft zum Handel im regulierten Markt einer deutschen Börse67) zugelassen, so kann die Hauptversammlung auch am Sitz der Börse stattfinden. Auch ohne Satzungsregelung ist ein Abweichen von diesen Orten möglich, wenn hierfür ein sachlicher Grund vorliegt, z. B. Mangel eines geeigneten Versammlungslokals o. Ä.68) Die Zielgesellschaft eines öffentlichen Angebots kann jeden Versammlungsort wählen (§ 16 Abs. 4 WpÜG). Verboten ist eine Satzungsregelung, die die Auswahl des Ortes gänzlich in das Ermessen 35 des Einberufenden stellt. So sind zumindest geographische Vorgaben zur Eingrenzung auf

_____________ 60) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 121 Rz. 11i; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 121 Rz. 90. 61) Ausführlich Söhner, ZIP 2016, 151, 155 m. w. N.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 121 Rz. 90 im Hinblick auf Art. 5 Abs. 2 Unterabs. 2 der Aktionärsrechterichtlinie; a. A. Rieckers in: BeckOGKAktR, § 121 AktG Rz. 77 – europarechtskonform. 62) Wandt, NZG 2016, 367, 371. 63) Bekanntgabefehler aufgrund von Versäumnissen eines Aktionärs etwa in Form unterbliebener Mitteilung einer Adressänderung erfüllen nicht die Voraussetzungen von § 241 Nr. 1, Kubis in: MünchKommAktG, § 121 Rz. 86. 64) Diese Situation ist abzugrenzen von derjenigen in § 121 Abs. 6, s. dazu Rz. 39 ff. 65) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 86; Henssler/Strohn-Liebscher, GesR, § 121 AktG Rz. 21. 66) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 121 Rz. 12; Grigoleit-Herrler, AktG, § 121 Rz. 26. 67) Die Einbeziehung in den Freiverkehr genügt also nicht, vgl. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 83 m. w. N.; Butzke in: GroßKomm-AktG, § 121 Rz. 116. 68) Entscheidend ist, dass der Ort für sämtliche Gesellschafter günstiger zu erreichen ist als der Satzungssitz, vgl. OLG Dresden, Urt. v. 13.6.2001 – 13 U 2639/00 (Sachsenmilch), ZIP 2001, 1539, 1541; LG Frankfurt/M., Urt. v. 2.10.2007 – 3-5 O 177/07 (Nanoinvests), ZIP 2007, 2034, 2035.

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§ 121

Allgemeines

eine überschaubare Anzahl an Orten notwendig.69) Es ist nicht erforderlich, dass die Gesellschaft am satzungsmäßigen Versammlungsort eine Zweigniederlassung o. Ä. unterhält.70) 36 Die Abhaltung der Hauptversammlung im Ausland ist auch für börsennotierte Gesellschaften möglich, wenn die Satzung dies vorsieht, diese Bestimmung am Teilnahmeinteresse der Aktionäre ausgerichtet (zumutbar) und die Gleichwertigkeit einer möglichen Beurkundung gewährleistet ist.71) Nach der Judikatur sprechen eine weite Anreise der Aktionäre sowie mangelnder Bezug des Versammlungsorts zum Tätigkeitsbereich der Gesellschaft gegen eine Ausrichtung am Aktionärsinteresse.72) Implizit scheint der BGH allein auf das Interesse deutscher Aktionäre abzustellen, was angesichts zunehmend grenzüberschreitender Aktionärskreise nicht unbedingt sachgerecht ist.73) Daneben sind hier insbesondere die allgemeinen Anforderungen an die Bestimmbarkeit des Hauptversammlungsorts (siehe Rz. 34 f.) zu beachten. 37 Als Rechtsfolge sind sowohl der satzungsändernde Beschluss zur Festlegung eines unzulässigen Hauptversammlungsortes74) wie auch dort gefasste Beschlüsse anfechtbar.75) Werden letztere nicht angefochten, sind sie wirksam und ggf. vom Registergericht einzutragen.76) Ob es auch eine unzulässige, aber nicht angefochtene Satzungsregelung zum Hauptversammlungsort einzutragen hat, ist ungeklärt.77) Enthält eine eingetragene Satzungsregelung nur ein zu weites Ermessen, ist eine darauf gestützte Einberufungsentscheidung (und die dort dann gefassten Beschlüsse) jedenfalls dann nicht zu beanstanden, wenn das Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt wurde. VII. Zeit der Hauptversammlung 38 Die Zulässigkeit der Einberufung in zeitlicher Hinsicht richtet sich nach Zumutbarkeit und Verkehrsanschauung.78) Als Richtschnur gilt, dass die Hauptversammlung an Werk- und

_____________ 69) BGH, Urt. v. 21.10.2014 – II ZR 330/13, BB 2015, 142, 143 mit Anm. Görtz = ZIP 2014, 2494, dazu EWiR 2015, 3 (Kiem/Reutershan) – hier hat der BGH eine Satzungsregelung beanstandet, welcher zufolge die Hauptversammlung in mehr als 60 europäischen Städten abgehalten werden konnte; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 121 Rz. 13; Bungert/Leyendecker-Langner, BB 2015, 268, 269; Praxisbeispiel zur Satzungsgestaltung bei Bayer/Hoffmann, AG 2013, R 23. 70) Vgl. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 84 m. w. N.; Noack/Zetzsche in: KölnKommAktG, § 121 Rz. 180 m. w. N. 71) BGH, Urt. v. 21.10.2014 – II ZR 330/13, BB 2015, 142, 143 mit Anm. Görtz = ZIP 2014, 2494; vgl. jeweils m. w. N. Grigoleit-Herrler, AktG, § 121 Rz. 33; Bürgers/Körber-Reger, AktG, § 121 Rz. 24. Die Beurkundung kann im Ausland von Konsularbeamten (§ 10 Abs. 2 KonsG) oder von ausländischen Personen vorgenommen werden, die – das Urteil nennt diesen nicht explizit – den Anforderungen des Art. 11 Abs. 1 EGBGB genügen, BGH, Urt. v. 21.10.2014 – II ZR 330/13, BB 2015, 142, 143 mit Anm. Görtz = ZIP 2014, 2494. Zu den Auswirkungen des vorstehend genannten BGH-Urteils auf das Abhalten der Hauptversammlung oder einzelner Redebeiträge in einer Fremdsprache Mohamed, NZG 2015, 1263. 72) BGH, Urt. v. 21.10.2014 – II ZR 330/13, BB 2015, 142, 143 mit Anm. Görtz = ZIP 2014, 2494. Die Literatur hält insbesondere einen durch den Versammlungsort bedingten wesentlichen finanziellen Mehraufwand für unzulässig, Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 121 Rz. 15 m. w. N.; Rieckers in: BeckOGKAktR, § 121 AktG Rz. 88 f. 73) Bungert/Leyendecker-Langner, BB 2015, 268, 269. 74) BGH, Urt. v. 21.10.2014 – II ZR 330/13, BB 2015, 142, 142 mit Anm. Görtz = ZIP 2014, 2494. 75) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 93, K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 121 Rz. 99. 76) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 93; allgemein Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 243 Rz. 51 ff. 77) Dagegen OLG Hamburg, Beschl. v. 7.5.1993 – 2 Wx 55/91, ZIP 1993, 921, 923; Kubis in: MünchKommAktG, § 121 Rz. 93; dafür K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 121 Rz. 99; Bungert, AG 1995, 26, 33. 78) OLG Koblenz, Urt. v. 23.11.2000 – 6 U 1434/95, ZIP 2001, 1095, 1096, dazu EWiR 2001, 205 (Hasselbach); Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 121 Rz. 68 f.

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§ 121

Allgemeines

Samstagen sowie zu gewöhnlichen Geschäftszeiten anzusetzen ist.79) Nach überwiegender Auffassung führt eine Fortsetzung einer für einen Tag einberufenen Hauptversammlung nach Mitternacht nicht zur Nichtigkeit80), sondern allenfalls bei Unzumutbarkeit zur Anfechtbarkeit.81) Kurzfristige Überschreitungen sind typischerweise nicht unzumutbar.82) Mehrtägige, am Folgetag nach Unterbrechung fortgesetzte, Hauptversammlungen sind nur bei entsprechender Einberufung zulässig (siehe Rz. 20). Bei unzumutbarer Festlegung der Hauptversammlungszeit oder grundloser Überlänge droht keine Nichtigkeit gefasster Beschlüsse, im Einzelfall aber deren Anfechtbarkeit83); dafür gelten richtigerweise hohe Anforderungen. VIII. Vollversammlung (§ 121 Abs. 6) Sind sämtliche Aktionäre (also auch solche ohne Stimmrecht)84) erschienen oder vertreten, 39 ist die Einhaltung der §§ 121 – 128 sowie hierauf verweisender Normen entbehrlich, soweit kein Widerspruch gegen die Beschlussfassung erhoben wird. Dies gilt ebenso, wenn es nur einen Aktionär gibt (sog. Einpersonen-AG).85) Außerhalb dieser ausdrücklich ausgenommenen Vorschriften führt die Vollversammlung aber zu weiteren Spezialproblemen (etwa i. R. von § 130 und § 118 Abs. 3).86) Nicht nur, aber vor allem bei der EinpersonenAG stellt sich bei vielen Vorschriften auch außerhalb dieses Unterabschnitts die Frage, ob und wie sie einzuhalten sind.87) Richtigerweise sind in jeder Vollversammlung alle Vorschriften verzichtbar, die ausschließlich dem Aktionärsschutz dienen. Dazu gehören z. B. die §§ 52 Abs. 2 Satz 2 ff., 183 Abs. 1 Satz 2, 186 Abs. 2 und 4 sowie 203 Abs. 2 Satz 2.88) Für das Vorliegen einer Vollversammlung reicht das zufällige Zusammentreffen89) aller 40 Aktionäre ebenso wenig aus wie die Beschlussfassung im Umlaufverfahren90) oder per Briefwahl.91) Die Online-Teilnahme (siehe § 118 Rz. 13 ff.) ist hingegen ausreichend.92) Zulässig ist außerdem die Stellvertretung (siehe dazu auch Rz. 41) sowie der Einsatz von Legitimationsaktionären.93) Die Anwesenheit aller Aktionäre kann nach Teilen der Literatur mittels

_____________ 79) Bei Publikumsgesellschaften scheiden auch der 24.12. und der 31.12. aus, so Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 121 Rz. 68 f. 80) So aber LG Mainz, Urt. v. 14.4.2005 – 12 HKO 82/04, NZG 2005, 819, 820; LG Düsseldorf, Beschl. v. 16.5.2007 – 36 O 99/06, ZIP 2007, 1859, 1860. 81) Dafür OLG Koblenz, Urt. v. 26.4.2001 – 6 U 746/95, ZIP 2001, 1093, 1093; OLG München, Urt. v. 28.9.2011 – 7 U 711/11 (HRE), AG 2011, 840, 842 = ZIP 2011, 1955, dazu EWiR 2012, 23 (MaierReimer/Seulen); Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 121 Rz. 17 m. w. N. 82) Zutreffend Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 125. 83) Henssler/Strohn-Liebscher, GesR, § 121 AktG Rz. 28; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 121 Rz. 35 ff. 84) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 96 m. w. N.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 121 Rz. 101. 85) Unstreitig, vgl. etwa Terbrack, RNotZ 2012, 221, 221 f. 86) Zum Teilnahmerecht von Vorstand und Aufsichtsrat und diesbezüglichen Benachrichtigungspflichten vgl. § 118 Rz. 23 ff. 87) Dazu ausführlich Blasche, AG 2017, 16 ff. 88) Ähnlich Noack/Zetsche in: KölnKomm-AktG, § 121 Rz. 216 und 218. 89) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 95; Noack/Zetsche in: KölnKomm-AktG, § 121 Rz. 202. Hier ist allerdings die Abgrenzung zu einer durchaus zulässigen Spontanversammlung sehr schwierig. 90) Butzke in: GroßKomm-AktG, § 121 Rz. 134; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 102. 91) Gemäß § 118 Abs. 2 nehmen Briefwähler nicht an der Hauptversammlung teil; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 121 Rz. 204; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 121 Rz. 102. 92) Heidel-Müller, AktR, § 121 AktG Rz. 49; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 96. 93) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 121 Rz. 20; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 96.

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§ 121

Allgemeines

Teilnehmerverzeichnis (§ 129) nachgewiesen werden,94) während andere auf ein etwaiges notarielles Protokoll verweisen.95) 41 Das Widerspruchsrecht der Aktionäre kann jeweils bis zur Verkündung der einzelnen Abstimmungsergebnisse ausgeübt werden und bezieht sich allein auf die (konkrete) Beschlussfassung an sich, nicht auf den Inhalt gefasster Beschlüsse.96) Ist eine juristische Person Aktionär, kann ihr Widerspruchsrecht sowie den Verzicht darauf nach zutreffender Ansicht nicht nur von gesetzlichen, sondern auch von rechtsgeschäftlich bevollmächtigten Vertretern, insbesondere von Prokuristen, ausgeübt werden.97) In der Praxis empfiehlt sich vorsichtshalber gleichwohl eine ausdrückliche Bevollmächtigung zum Widerspruch und zum Verzicht hierauf. Die Ausübung des Widerspruchsrechts hindert den Aktionär andererseits nicht an der Stimmabgabe zu den Beschlüssen.98) Ein Widerspruch i. S. des § 121 Abs. 6 kann zugleich den von § 245 Nr. 1 vorausgesetzten Widerspruch darstellen, wenn er zur Niederschrift erklärt wurde.99) 42 Es ist streitig, ob Vorstand und Aufsichtsrat im Vorfeld der Vollversammlung zu informieren sind.100) Für die Praxis empfiehlt sich jedenfalls zur Vermeidung einer denkbaren Beschlussanfechtung eine solche Unterrichtung, wo sie möglich ist.101) Ob hieraus eine Anfechtbarkeit resultiert, ist umstritten,102) richtigerweise aber zu verneinen, da der Gesamtheit der Aktionäre die Möglichkeit zur freien Willensbildung zustehen muss. IX.

Berechnung von Fristen und Terminen (§ 121 Abs. 7)

43 Diese für börsennotierte Gesellschaften zwingende Vorschrift (§ 121 Abs. 7 Satz 4) stellt klar, dass der Tag der Hauptversammlung bei Fristen und Terminen,103) die von ihr an zurückberechnet werden, nicht mitgezählt wird. Die Anwendung der §§ 187 – 193 BGB wird ausgeschlossen (§ 121 Abs. 7 Satz 3), die Verlegung von einem Sonntag, einem Sonnabend oder Feiertag auf einen Werktag wird ausgeschlossen (§ 121 Abs. 7 Satz 2). X.

Absage der Hauptversammlung

44 Der BGH hat in jüngerer Zeit zu den Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Absage einer Hauptversammlung Stellung genommen.104) Danach ist stets das einberufende Organ (in der Regel also der Vorstand) für eine Absage zuständig, auch wenn die Einberufung einem Minderheitsverlangen folgte (§ 122 Abs. 1). Zeitlich besteht die Kompetenz aber nur vor Beginn der Hauptversammlung, also bevor sich die erschienenen Aktionäre zur in der _____________ 94) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 97; weniger deutlich auch Butzke in: GroßKomm-AktG, § 121 Rz. 137 – „zuverlässige Grundlage“. 95) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 121 Rz. 205; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 120 Rz. 22. 96) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 121 Rz. 21; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 97. 97) Kocher, NZG 2016, 1220, 1221 f.; a. A. zur Vollversammlung der GmbH gemäß § 51 Abs. 3 GmbHG: LG Duisburg, Urt. v. 15.1.2016 – 22 O 100/15, NZG 2016, 1229 – nur gesetzliche Vertreter einer juristischen Person können auf Form und Frist der Einberufung der Gesellschafterversammlung verzichten. 98) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 121 Rz. 209. 99) Vgl. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 97. 100) Dafür, jedoch unter Annahme einer praktischen Sanktionslosigkeit von Verstößen Zöllter-Petzold, NZG 2013, 607; Butzke in: GroßKomm-AktG, § 121 Rz. 144; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 121 AktG Rz. 105; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 98; dagegen offenbar Noack-Zetzsche in: KölnKommAktG, § 121 Rz. 206. 101) Grigoleit-Herrler, AktG, § 121 Rz. 44. 102) Zöllter-Petzold, NZG 2013, 607, 610 f. m. w. N.; Tröger in: KölnKomm-AktG, § 118 Rz. 199. 103) Ein Termin ist nach der Gesetzesbegründung eine juristische Sekunde, die auf 0:00 Uhr des errechneten Tages fällt, vgl. Begr. RegE ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 28. 104) BGH, Urt. v. 30.6.2015 – II ZR 142/14, ZIP 2015, 2069, dazu EWiR 2015, 661 (Bayer/Scholz).

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Einberufung auf Verlangen einer Minderheit

§ 122

Einberufung angegebenen Uhrzeit im Versammlungsraum eingefunden haben.105) Danach können ausschließlich die Aktionäre eine Absage beschließen. In der Praxis empfiehlt sich zur Vermeidung von Aktionärsbeschwerden dennoch weiterhin die förmliche Eröffnung der Hauptversammlung. Eine Absage durch das zuständige Organ ist auch dann wirksam, wenn sie pflichtwidrig 45 erfolgte.106) Die Minderheit kann somit auf die gerichtliche Ermächtigung zur selbständigen Einberufung nach § 122 Abs. 3 (siehe § 122 Rz. 27 ff.) angewiesen sein. Infolge einer unwirksamen (etwa kompetenzwidrigen) Absage ist das Teilnahmerecht der- 46 jenigen Aktionäre verletzt, die die Unwirksamkeit nicht erkennen konnten und infolgedessen auf ihre Teilnahme verzichtet haben. Anschließend gefasste Beschlüsse sind nicht nichtig, aber gemäß § 243 Abs. 1 anfechtbar.107) Das Anfechtungsrecht besteht sogar zugunsten des Vorstands, auch wenn dieser mittels unwirksamer Absage die Anfechtbarkeit begründet hat und damit eine Minderheiteninitiative vereitelt wird.108) Ein Ausschluss der Anfechtungsbefugnis ist jedoch denkbar, wenn der Vorstand zur Herbeiführung der Anfechtbarkeit gerade darauf abzielt, die verfahrensmäßige Rechtswidrigkeit eines ihm inhaltlich nicht genehmen Beschlusses herbeizuführen.109) _____________ 105) Die förmliche Eröffnung der Hauptversammlung ist nach dem BGH nicht maßgeblich, BGH, Urt. v. 30.6.2015 – II ZR 142/14, ZIP 2015, 2069, 2072; a. A. aus Gründen der Rechtssicherheit Kocher, BB 2015, 2636, 2642; außerdem Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 121 Rz. 117; Kubis in: MünchKommAktG, § 121 Rz. 103. 106) Zustimmend Kocher, BB 2015, 2636, 2642. 107) BGH, Urt. v. 30.6.2015 – II ZR 142/14, ZIP 2015, 2069, 2074. 108) BGH, Urt. v. 30.6.2015 – II ZR 142/14, ZIP 2015, 2069, 2074. 109) Kocher, BB 2015, 2636, 2642.

§ 122 Einberufung auf Verlangen einer Minderheit Dirk Kocher

(1) 1Die Hauptversammlung ist einzuberufen, wenn Aktionäre, deren Anteile zusammen den zwanzigsten Teil des Grundkapitals erreichen, die Einberufung schriftlich unter Angabe des Zwecks und der Gründe verlangen; das Verlangen ist an den Vorstand zu richten. 2Die Satzung kann das Recht, die Einberufung der Hauptversammlung zu verlangen, an eine andere Form und an den Besitz eines geringeren Anteils am Grundkapital knüpfen. 3Die Antragsteller haben nachzuweisen, dass sie seit mindestens 90 Tagen vor dem Tag des Zugangs des Verlangens Inhaber der Aktien sind und dass sie die Aktien bis zur Entscheidung des Vorstands über den Antrag halten. 4§ 121 Absatz 7 ist entsprechend anzuwenden. (2) 1In gleicher Weise können Aktionäre, deren Anteile zusammen den zwanzigsten Teil des Grundkapitals oder den anteiligen Betrag von 500.000 Euro erreichen, verlangen, daß Gegenstände auf die Tagesordnung gesetzt und bekanntgemacht werden. 2 Jedem neuen Gegenstand muss eine Begründung oder eine Beschlussvorlage beiliegen. 3Das Verlangen im Sinne des Satzes 1 muss der Gesellschaft mindestens 24 Tage, bei börsennotierten Gesellschaften mindestens 30 Tage vor der Versammlung zugehen; der Tag des Zugangs ist nicht mitzurechnen. (3) 1Wird dem Verlangen nicht entsprochen, so kann das Gericht die Aktionäre, die das Verlangen gestellt haben, ermächtigen, die Hauptversammlung einzuberufen oder den Gegenstand bekanntzumachen. 2Zugleich kann das Gericht den Vorsitzenden der Versammlung bestimmen. 3Auf die Ermächtigung muß bei der Einberufung oder BeDirk Kocher

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§ 122

Einberufung auf Verlangen einer Minderheit

kanntmachung hingewiesen werden. 4Gegen die Entscheidung ist die Beschwerde zulässig. 5Die Antragsteller haben nachzuweisen, dass sie die Aktien bis zur Entscheidung des Gerichts halten. (4) Die Gesellschaft trägt die Kosten der Hauptversammlung und im Fall des Absatzes 3 auch die Gerichtskosten, wenn das Gericht dem Antrag stattgegeben hat. Literatur: Bayer/Scholz/Weiß, Anmeldung und Berechtigungsnachweis bei Einberufung einer Hauptversammlung durch die Aktionärsminderheit gem. § 122 Abs. 3 AktG, AG 2013, 742; Butzke, Zweifelsfragen zum Umgang des Vorstands mit zulässigen Ergänzungsverlangen nach § 122 Abs. 2 AktG, in: Festschrift Reinhard Marsch-Barner, 2018, S. 103; Cziupka/Kraack, Der „untaugliche Versuch“ der Absage einer auf Minderheitsverlangen einberufenen Hauptversammlung, DNotZ 2016, 15; Florstedt, Fristen und Termine im Recht der Hauptversammlung, ZIP 2010, 761; Halberkamp/Gierke, Das Recht der Aktionäre auf Einberufung einer Hauptversammlung, NZG 2004, 494; Hoffmann-Becking, Der Aufsichtsrat der AG und sein Vorsitzender in der Hauptversammlung, NZG 2017, 281; Klöhn, Gesellschaftsrecht in der Eigenverwaltung: Die Grenzen des Einflusses auf die Geschäftsführung gemäß § 276a Satz 1 InsO, NZG 2013, 81; Kocher, Zur Bedeutung von Beschlussvorschlägen der Verwaltung für die Fassung und Anfechtung von Hauptversammlungsbeschlüssen, AG 2013, 406; König/Römer, Reichweite aktien- und kapitalmarktrechtlicher Rechtsausübungshindernisse, NZG 2004, 944; Kuthe/Beck, Vom Minderheitenschutz zum „Shareholder Activism“ – Die Aktionärsverlangen nach § 122 AktG, AG 2019, 898; v. d. Linden, Die gerichtliche Bestimmung eines neutralen Versammlungsleiters – ein betagtes Instrument im Lichte des Shareholder Activism, in: Festschrift für Reinhard Marsch-Barner, 2018, S. 303; Reger, Keine Pflicht des Vorstands zur Ablehnung rechtsmissbräuchlicher Einberufungsverlangen, NZG 2013, 536; Schmittmann/Hippeli, Gerichtliche Ermächtigung einer Aktionärsminderheit zur Einberufung einer Hauptversammlung i. S. d. § 122 Abs. 3 AktG in der Insolvenz, DZWIR 2018, 501; Theusinger/Schilha, Gerichtliche Bestimmung eines unparteiischen Versammlungsleiters für einzelne Tagesordnungspunkte der Hauptversammlung, NZG 2016, 56; Thole, Die Einberufung einer Hauptversammlung nach Insolvenzeröffnung und die Kostenfrage, ZIP 2018, 1565; Weber, Absage einer auf ein Aktionärsverlangen einberufenen Hauptversammlung und Abhaltung einer Hauptversammlung durch die Aktionäre, NZG 2013, 890.

Übersicht I. Regelungsgehalt, Bedeutung .......... 1 II. Einberufungsverlangen (§ 122 Abs. 1) ................................................ 2 1. Aktionärseigenschaft ......................... 2 2. Quorum .............................................. 4 3. Mindestbesitzzeit und Nachweis ...... 5 4. Antrag, Adressat und Prüfung .......... 8 5. Rücknahme des Verlangens ............ 14 6. Fehlende Rücknahme der Aktionärsminderheit/Absage ......... 15 7. Satzungsregelungen ......................... 16 III. Ergänzungsverlangen (§ 122 Abs. 2) .............................................. 17 1. Allgemeines ...................................... 17 2. Aktionärseigenschaft, Quorum ...... 19 3. Mindestbesitzzeit ............................ 20 4. Antrag, Adressat, Frist und Prüfung ............................................. 21

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5. Rücknahme des Ergänzungsverlangens .......................................... 24 6. Rechtsfolge ....................................... 25 7. Satzungsregelungen .......................... 26 IV. Gerichtliche Geltendmachung (§ 122 Abs. 3) und Kosten (§ 122 Abs. 4) ................................... 27 1. Zuständigkeit .................................... 28 2. Antragsberechtigung ........................ 29 3. Antragsfrist ....................................... 30 4. Entscheidung des Gerichts .............. 31 5. Versammlungsleiter .......................... 32 6. Erledigung ......................................... 33 7. Rechtsbehelf ..................................... 34 8. Einberufung durch die Aktionäre .......................................... 35 9. Kosten (§ 122 Abs. 4) ...................... 36

Dirk Kocher

Einberufung auf Verlangen einer Minderheit I.

§ 122

Regelungsgehalt, Bedeutung

Die Norm erlaubt einer qualifizierten Aktionärsminderheit, die Einberufung der Haupt- 1 versammlung (§ 122 Abs. 1) bzw. Ergänzung der Tagesordnung (§ 122 Abs. 2) zu verlangen und dies ggf. gerichtlich durchzusetzen (§ 122 Abs. 3). § 122 ermöglicht somit die Ausübung mitgliedschaftlicher Aktionärsrechte und dient dem Minderheitenschutz.1) II.

Einberufungsverlangen (§ 122 Abs. 1)

1.

Aktionärseigenschaft

Es kommt ausschließlich auf das Teilnahmerecht, nicht auf das Stimmrecht an. Daher kön- 2 nen auch Inhaber von Vorzugsaktien, nicht voll eingezahlter (§ 134 Abs. 2) oder verpfändeter2) bzw. mit einem Nießbrauch belasteter3) Aktien sowie im Einzelfall einem Stimmverbot unterliegende4) Aktionäre die Einberufung der Hauptversammlung verlangen, nicht jedoch die Inhaber von Aktien, aus denen dem Inhaber qua Gesetz zeitweise keine Rechte zustehen (vgl. z. B. §§ 20 Abs. 7, 21 Abs. 4, § 71d i. V. m. § 71b, § 44 WpHG, § 59 WpÜG).5) Stellvertretung ist zulässig, jedoch muss sich die Vollmacht auf die Einberufung beziehen; 3 sofern eine Stimmrechtsvollmacht nicht dahingehend auszulegen ist, genügt sie nicht.6) Legitimationsaktionäre sind ebenso wie Insolvenz- und Nachlassverwalter, Testamentsvollstrecker7) und Abwesenheitspfleger8) von Aktionären berechtigt, die Einberufung zu verlangen. 2.

Quorum

Die Einberufung bedarf eines Quorums von 5 % des Grundkapitals.9) Bezugsgröße ist zu- 4 nächst das im Handelsregister eingetragene Grundkapital (dieses Quorum gilt nach Art. 55 Abs. 1 SE-VO i. V. m. § 50 Abs. 1 SEAG auch für die SE). Eigene Aktien sind deswegen genauso wie solche, deren Stimmrechte ruhen, nicht abzusetzen.10) Bereits beschlossene, aber noch nicht im Handelsregister eingetragene Kapitalerhöhungen sind nicht zu berücksichtigen, soweit die Eintragung konstitutiv ist. Ausgegebene Bezugsaktien aus bedingtem Kapital sind dagegen schon vor Eintragung zu berücksichtigen.11) In der Praxis sind insbesondere Veränderungen des Grundkapitals durch Ausübung von Bezugsrechten aus Aktienoptionen relevant. Nachdem solche Veränderungen zumindest bei börsennotierten _____________ 1) Vgl. OLG München, Beschl. v. 9.11.2009 – 31 Wx 134/09, AG 2010, 84, 85; OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.11.2008 – 8 W 370/08, AG 2009, 169, 170; a. A. Butzke in: FS Marsch-Barner, S. 103, 104 – mit Verweis auf den Umstand, dass die Rechte in § 122 auch einem einzelnen Mehrheitsaktionär zustehen können. 2) Einhellig Butzke in: GroßKomm-AktG, § 122 Rz. 10; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 122 Rz. 23, Kubis in: MünchKomm-AktG, § 122 Rz. 3. 3) So generell Kubis in: MünchKomm-AktG, § 122 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 122 Rz. 2, § 118 Rz. 27; für den Fall, dass dem Aktionär nach den den Nießbrauch regelnden Vereinbarungen das Stimmrecht zusteht ebenso Bungert in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 36 Rz. 21, und Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 122 Rz. 23, was nach Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 7, der Fall ist. 4) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 26.3.1986 – 20 W 202/85, NJW-RR 1986, 781, 781; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 7 m. w. N. 5) Vgl. König/Römer, NZG 2004, 944, 945; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 122 Rz. 7 m. w. N. 6) Hölters-Drinhausen, AktG, § 122 Rz. 4; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 122 Rz. 5. 7) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 122 Rz. 5; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 8. 8) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 26.3.1986 – 20 W 202/85, NJW-RR 1986, 781. 9) Insbesondere aktivistische Aktionäre werden das Quorum zumeist erreichen, da sie in der Regel professionell agieren, sich oft koordinieren und einen vergleichsweise hohen Besitzanteil haben, Gröntgen, Operativer shareholder activism, S. 23. 10) Halberkamp/Gierke, NZG 2004, 494, 495; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 122 Rz. 7. 11) Hölters-Drinhausen, AktG, § 122 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 122 Rz. 7.

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§ 122

Einberufung auf Verlangen einer Minderheit

Gesellschaften nach § 26a und § 49 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG zu veröffentlichen sind, erhält der Aktionär hiervon Kenntnis. Auf welche Weise der Aktionär das Quorum erreicht, spielt keine Rolle. Dieses kann z. B. auch über eine Wertpapierleihe beschafft werden. Die Ausgestaltung als Minderheitenrecht hindert nicht die Geltendmachung durch einen Mehrheitsaktionär.12) 3.

Mindestbesitzzeit und Nachweis

5 Die Antragsteller haben nachzuweisen, dass sie bereits 90 Tage vor dem Tag des Zugangs des Verlangens beim Vorstand Inhaber der Aktien waren und diese bis zu dessen Entscheidung behalten werden. Die Berechnung der Neunzig-Tage-Frist hat dabei entsprechend § 121 Abs. 7 (siehe § 121 Rz. 43) zu erfolgen. Daneben gilt zur Berechnung der Aktienbesitzzeit die allgemeine Regelung des § 70. Bei der SE ist dieses Erfordernis nicht übernommen (Art. 55 SE-VO i. V. m. § 50 Abs. 1 SEAG). 6 Das Quorum muss bis zur Entscheidung des Vorstands über das Einberufungsverlangen gehalten und dies muss nachgewiesen werden. Lehnt der Vorstand die Einberufung ab und verfahren die Aktionäre nach § 122 Abs. 3, so muss das Quorum bis zur gerichtlichen Entscheidung über den Antrag vorliegen. Die gesetzliche Neuregelung in Abs. 3 Satz 5 meint die rechtskräftige Entscheidung über den Antrag.13) Offen bleibt hingegen die Frage, ob das Quorum auch zum Zeitpunkt der Einberufung durch die vom Gericht ermächtigten Aktionäre noch gegeben sein muss.14) 7 Für den Begriff des Antragsstellers ist auf die antragstellenden Aktionäre und ihre Gesamtrechtsnachfolger abzustellen; eine Auswechslung ist nicht zulässig.15) Der Nachweis ist durch Bescheinigung des depotführenden Instituts zu erbringen, bei Namensaktien ist für Vergangenheit und Gegenwart die Eintragung im Aktienregister maßgeblich.16) Für das Halten bis zur Entscheidung genügt auch bei Namensaktien das Aktienregister richtigerweise nicht, vielmehr kann hier vor allem auf einen Depotsperrvermerk mit Informationspflicht der Depotbank zurückgegriffen werden.17) Einer besonderen Form bedarf es grundsätzlich nicht.18) Eine Bevollmächtigung ist allerdings in Textform nachzuweisen.19)

_____________ 12) Zu § 122 Abs. 2 auch OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 19.6.2017 – 5 U 150/16, ZIP 2017, 1714, 1716, dazu EWiR 2017, 653 (v. d. Linden). 13) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 122 Rz. 55; so auch bereits nach alter Rechtslage, OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.1.2004 – I-3 Wx 290/03, ZIP 2004, 314, 314, dazu EWiR 2004, 261 (Vetter); Noack/ Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 122 Rz. 30. 14) Dafür Butzke in: GroßKomm-AktG, § 122 Rz. 100; dafür Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 122 Rz. 89; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 62; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 122 Rz. 55; dagegen Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 122 Rz. 12; dagegen zu § 122 a. F. Kubis in: MünchKommAktG, § 122 Rz. 67 – „Nachbesitzzeit“ bis zur Umsetzung der Ermächtigungsentscheidung nicht vorgeschrieben. 15) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.1.2004 – I-3 Wx 290/03, ZIP 2004, 314, 314 f. 16) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 122 Rz. 3; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 17 m. w. N. 17) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 17, der allerdings bei Namensaktien neben dem Verweis auf das Aktienregister auch die bloße Absichtsbekundung des Antragsstellers genügen lässt. 18) So kann insbesondere auch ein PDF genügen vgl. Kuthe/Beck, AG 2019, 898, 899. 19) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 16 m. w. N.

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Dirk Kocher

Einberufung auf Verlangen einer Minderheit 4.

§ 122

Antrag, Adressat und Prüfung

Der Antrag ist schriftlich (§ 126 BGB) an die Gesellschaft, vertreten durch den Vorstand, zu 8 richten.20) Mitzuteilen sind der Zweck und die Gründe für das Einberufungsverlangen (beachte bei der SE Art. 55 Abs. 2 SE-VO: „Punkte für die Tagesordnung“). „Gründe“ bezeichnet allein die Eilbedürftigkeit, nicht weshalb die Hauptversammlung 9 überhaupt befasst werden soll.21) „Zweck“ bezeichnet die Beschlussgegenstände, über die die Hauptversammlung konkret entscheiden soll.22) Zulässige Beschlussgegenstände sind solche, die in den Kompetenzbereich der Haupt- 10 versammlung fallen,23) nicht auf die Fassung eines gesetzes- oder satzungswidrigen Beschlusses gerichtet sind und sich nicht als rechtsmissbräuchlich24) darstellen.25) Besonderheiten bestehen bei Vergütungsvoten: Für eine Herabsetzung der Vergütung verweist § 87 Abs. 4 ausdrücklich auf die Tagesordnungsergänzung nach § 122 Abs. 2 Satz 1, nicht aber auf das Einberufungsverlangen nach § 122 Abs. 1. Ob darin eine Einschränkung liegt, ist noch ungeklärt. Bei den Beschlussgegenständen nach § 120a (und § 113 Abs. 3) ist umstritten, ob diese den Mechanismen von § 122 zugänglich sind (siehe § 120a Rz. 32). Mangels Rechtswirkung von Beschlüssen nach § 120a wird hier außerdem die Dringlichkeit oft besonders fraglich sein.26) Das Verfahren nach § 122 wird weder durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch 11 durch die Regelung zur Eigenverwaltung in § 276a InsO generell ausgeschlossen, soweit in insolvenzfreien Bereichen die gesellschaftsrechtlichen Kompetenzen bestehen bleiben.27) In diesen Bereich fallen bspw. die Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern und deren Abberufung,28) der Vertrauensentzug gegenüber dem Vorstand,29) Satzungsänderungen für _____________ 20) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 122 Rz. 14 f. m. w. N.; elektronische Form (§ 126a BGB) genügt nach überwiegender Ansicht ebenso, nicht aber Textform (§ 126b BGB) Hüffer/Koch-Koch, § 122 Rz. 4 m. w. N. Zu Adressat und Antragsgegner in der Insolvenz vgl. AG München, Beschl. v. 19.3.2018 – HRB 226715, AG 2018, 415 f. = ZIP 2018, 741, und LG München I, Beschl. v. 19.4.2018 – 5 HK O 5426/18, ZIP 2018, 875 f. 21) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 122 Rz. 4; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 122 Rz. 13 m. w. N. 22) OLG Köln, Beschl. v. 15.6.1959 – 8 W 61/59, WM 1959, 1402, 1403 – zu § 106 AktG 1937; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 122 Rz. 13 m. w. N. 23) Die Hauptversammlungskompetenz ist auch in Holzmüller-/Gelatine-Fällen betroffen, wenn der Vorstand eine tatsächlich darunter fallende Maßnahme ohne Hauptversammlungsbeschluss durchzuführen beabsichtigt, das Initiativrecht des Vorstands bleibt jedoch unberührt, Henssler/Strohn-Liebscher, GesR, § 122 AktG Rz. 6; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 24 m. w. N. Dazu auch Strohn, ZHR 182 (2018) 114, 124 ff. 24) Vgl. hierzu OLG München, Hinweisbeschl. v. 3.5.2019 – 31 Wx 216/19, ZIP 2019 1167; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.6.2014 – 11 Wx 49/14, ZIP 2015, 125, 126 f., dazu EWiR 2015, 43 (Theusinger/Kraft); OLG Düsseldorf, Urt. v. 5.7.2012 – I-6 U 69/11, AG 2013, 264, 266; OLG München, Beschl. v. 9.11.2009 – 31 Wx 134/09, AG 2010, 84, 85. 25) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 122 Rz. 15 ff.; Reger, NZG 2013, 536, 536 m. w. N.; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 23 ff. m. w. N.; ausführlich Halberkamp/Gierke, NZG 2004, 494, 497 ff. 26) Vgl. hinsichtlich der Ermächtigung zur Einberufung einer Hauptversammlung nach § 122 Abs. 3 OLG München, Beschl. v. 14.5.2018 – 31 Wx 122/18, WM 2018, 1648, 1650; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11.4.2013 – 3 Wx 36/13, ZIP 2013, 1022, 1023; Schmittmann/Hippeli, DZWIR 2018, 501, 505 ff.; a. A. wohl AG Montabaur, Beschl. v. 19.6.2012 – HRB 20744, ZIP 2012, 1307 = BeckRS 2012, 14971; allgemein Klöhn, NZG 2013, 81, 83. 27) Evtl. gemäß § 122 Abs. 4 anfallende Kosten stehen diesem Ergebnis nach OLG München, Beschl. v. 14.5.2018 – 31 Wx 122/18, WM 2018, 1648, 1650 nicht entgegen. 28) OLG München, Beschl. v. 14.5.2018 – 31 Wx 122/18, WM 2018, 1648, 1651; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11.4.2013 – 3 Wx 36/13, ZIP 2013, 1022, 1023; zum insolvenzneutralen Bereich, s. Koch in: MünchKommAktG, § 264 Rz. 66 ff. 29) OLG München, Beschl. v. 14.5.2018 – 31 Wx 122/18, WM 2018, 1648, 1651.

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§ 122

Einberufung auf Verlangen einer Minderheit

Abstimmungsmehrheiten,30) Kapitalerhöhungen31) sowie im Einzelfall auch Sonderprüfungen32). 12 Streitig ist, ob rein informatorische Hauptversammlungen ohne Beschlussfassung einberufen werden dürfen. Bejaht wird dies jedenfalls für Fälle der §§ 92, 175 Abs. 1 Satz 2.33) Ansonsten wird es zwar bei der Einberufung beschlussloser Hauptversammlungen regelmäßig an der vielfach geforderten Dringlichkeit fehlen,34) was aber keine pauschale Verneinung dieses Rechts rechtfertigt,35) sondern im Einzelfall zu prüfen ist. Zudem wird damit die Vorstandskompetenz gespiegelt, beschlusslose Hauptversammlungen einzuberufen (siehe § 121 Rz. 5 f.). § 124 Abs. 2 Satz 2 ist zu beachten. 13 Genügt das Verlangen den gesetzlichen Anforderungen, so ist die Hauptversammlung grundsätzlich einzuberufen (dem Vorstand ist eine angemessene Prüfungsfrist zuzubilligen); der Vorstand hat den damit verbundenen Kostenaufwand nicht im Hinblick auf seine Sinnhaftigkeit aus seiner eigenen Perspektive zu prüfen, sondern nur im Rahmen des Rechtsmissbrauchs (siehe dazu Rz. 10).36) 5.

Rücknahme des Verlangens

14 Die Aktionärsminderheit kann ihr Verlangen jederzeit zurücknehmen.37) Die Rücknahme macht das Verlangen gegenstandslos, wenn nicht eine Einberufung der Hauptversammlung schon erfolgt ist.38) Ist eine Einberufung bei Rücknahme bereits erfolgt, ist der Vorstand dagegen berechtigt (nicht aber verpflichtet), die Hauptversammlung abzusagen.39) 6.

Fehlende Rücknahme der Aktionärsminderheit/Absage

15 Auch wenn es an einer Rücknahme des Einberufungsverlangens mangelt, so hat der Vorstand nach dem BGH bis zum Beginn der Hauptversammlung die Kompetenz zur Absage, da er

_____________ 30) OLG München, Beschl. v. 14.5.2018 – 31 Wx 122/18, WM 2018, 1648, 1651. 31) Dies gilt auch im Falle eines Insolvenzplanverfahrens, solange der Plan noch nicht bestätigt ist: OLG München, Beschl. v. 14.5.2018 – 31 Wx 122/18, WM 2018, 1648, 1652; Schmittmann/Hippeli, DZWIR 2018, 501, 507; a. A. Thole, ZIP 2018, 1565, 1566 ff. 32) OLG München, Beschl. v. 14.5.2018 – 31 Wx 122/18, WM 2018, 1648, 1652; gegen die Beschlusskompetenz der Hauptversammlung für die Anordnung von Sonderprüfungen im Insolvenzverfahren Arnold in: MünchKomm-AktG, § 142, Rz. 36 f.; ablehnend im konkreten Fall Thole, ZIP 2018, 1565, 1566; differenzierend Klöhn, EWiR 2018, 501 f. (Urteilsanm.). 33) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 23 m. w. N.; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 122 Rz. 61, wollen eine beschlusslose Hauptversammlung auch zur Beratung eines Übernahmeangebots (§ 16 Abs. 3 WpÜG) zulassen. 34) Butzke in: GroßKomm-AktG, § 122 Rz. 23; kritisch ebenso Kubis in: MünchKomm-AktG, § 122 Rz. 16, der zudem mit zusätzlichem Zeit- und Kostenaufwand argumentiert; Butzke in: GroßKommAktG, § 122 Rz. 23; ebenfalls eher ablehnend OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.6.2014 – 11 Wx 49/14, ZIP 2015, 125, 127. 35) Hölters-Drinhausen, AktG, § 122 Rz. 11; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 122 Rz. 62 – zumindest für börsenferne Gesellschaften. 36) OLG Düsseldorf, Urt. v. 5.7.2012 – I-6 U 69/11, AG 2013, 264, 266; mit Einschränkungen zustimmend Reger, NZG 2013, 536, 537. 37) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 122 Rz. 52; vgl. auch Weber, NZG 2013, 890, 891. 38) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 122 Rz. 14; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 22. 39) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 122 Rz. 4; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 122 Rz. 14; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 22; a. A. Semler/Volhard/Reichert-Reichert/Balke, ArbHdb. HV, § 4 Rz. 46 – Pflicht des Vorstands zur Absage der einberufenen Hauptversammlung, wenn er nicht diese zum Wohle der Gesellschaft für erforderlich hält.

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Einberufung auf Verlangen einer Minderheit

§ 122

formal gesehen das einberufende Organ ist (siehe dazu § 121 Rz. 44).40) Bei einer unwirksamen Absage des Vorstands nach Beginn der Hauptversammlung (siehe § 121 Rz. 44 ff.) und dem nachfolgenden Verlassen der Hauptversammlung durch Aktionäre ist fraglich, ob der Vorstand dem Minderheitsverlangen zur Einberufung „entsprochen“ hat, da in diesem Fall die Anrufung des Gerichts gemäß Absatz 3 ausgeschlossen wäre.41) 7.

Satzungsregelungen

Nach § 122 Abs. 1 Satz 2 sind Erleichterungen, insbesondere bzgl. der Form des Antrags, 16 zulässig, nicht aber Erschwerungen.42) III.

Ergänzungsverlangen (§ 122 Abs. 2)

1.

Allgemeines

Die Anberaumung beschlussloser Gegenstände kann hier im Gegensatz zum Einberufungs- 17 verlangen unstreitig verlangt werden.43) Dies ergibt sich aus einem Vergleich mit dem Wortlaut von § 122 Abs. 2 Satz 1 a. F., der noch „Gegenstände zur Beschlussfassung“ vorausgesetzt hat.44) Im Übrigen ist das Verhältnis zwischen Einberufungsverlangen und Ergänzungsverlangen 18 umstritten.45) 2.

Aktionärseigenschaft, Quorum

Erforderlich ist ein Quorum von 5 % des Grundkapitals oder eines anteiligen Nennbe- 19 trags (§ 8 Abs. 3 Satz 3) von 500.000 € (für die SE nach Art. 56 SE-VO i. V. m. § 50 Abs. 2 SEAG). Die Ausgestaltung als Minderheitenrecht hindert nicht die Geltendmachung durch einen Mehrheitsaktionär.46) 3.

Mindestbesitzzeit

Auch i. R. des Ergänzungsverlangens gilt nunmehr die Neunzig-Tage-Frist vor dem Tag 20 des Zugangs beim Vorstand (siehe näher Rz. 5). Bei der Berechnung der Besitzzeit gilt wiederum § 70. Bei der SE ist dieses Erfordernis nicht übernommen (Art. 56 SE-VO i. V. m. § 50 Abs. 2 SEAG). Zum Nachweiserfordernis siehe oben Rz. 7.

_____________ 40) BGH, Urt. v. 30.6.2015 – II ZR 142/14, ZIP 2015, 2069, 2071, dazu EWiR 2015, 661 (Bayer/Scholz); ausführlich Cziupka/Kraatz, DNotZ 2016, 15 ff.; zu einer möglichen Vertagungspflicht des Vorstandes Butzke in: FS Marsch-Barner, S. 103, 112 ff. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung i. S. von § 49 FamFG in einem Verfahren nach § 122 Abs. 3 derart, dass dem Vorstand die Absage einer von ihm einberufenen Hauptversammlung untersagt wird, ist unzulässig nach OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 2.3.2017 – 20 W 198/16, AG 2019, 47. 41) Gegen ein solches „Entsprechen“ unter Verweis auf den Schutzzweck von § 122 im Fall der wirksamen Absage der einberufenen Hauptversammlung Cziupka/Kraatz, DNotZ 2016, 15, 20. 42) Begr. RegE z. Gesetz zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts und anderer Vorschriften an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr, BT-Drucks. 14/4987, S. 30; Halberkamp/Gierke, NZG 2004, 494, 496; Grigoleit-Herrler, AktG, § 122 Rz. 10. 43) Florstedt, ZIP 2010, 761, 765; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 38 m. w. N. 44) Hölters-Drinhausen, AktG, § 122 Rz. 18. 45) Für ein Exklusivitätsverhältnis OLG München, Hinweisbeschl. v. 3.5.2019 – 31 Wx 2016/19, ZIP 2019, 1167, 1168; für ein Plus-Minus Verhältnis Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 122 Rz. 98; zum Meinungsstand ausführlich Kuthe/Beck, AG 2019, 898, 903. 46) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 19.6.2017 – 5 U 150/16, ZIP 2017, 1714, 1716.

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§ 122 4.

Einberufung auf Verlangen einer Minderheit Antrag, Adressat, Frist und Prüfung

21 Zu Form und Adressat siehe Rz. 8 ff. Gemäß § 122 Abs. 2 Satz 2 muss jedem neuen Beschlussgegenstand eine Begründung oder Beschlussvorlage beiliegen.47) Dem Wortlaut entsprechend („oder“) wird vielfach angenommen, dass auch beim Verlangen nach Beschlussgegenständen eine Begründung ausreichend und keine Beschlussvorlage erforderlich ist.48) Dann bliebe aber offen, wie es zu einem Beschlussvorschlag kommen soll, da die Verwaltung hierzu nach § 124 Abs. 3 Satz auch nicht verpflichtet ist. Teilweise wird vorgebracht, die Anforderungen an die Begründung entsprechen denen des § 126 Abs. 1,49) was dem Gesetzeswortlaut jedoch nicht zu entnehmen ist. 22 Das Ergänzungsverlangen muss der Gesellschaft spätestens zu dem in § 122 Abs. 2 Satz 3 genannten Zeitpunkt zugehen, d. h. bei börsennotierten Gesellschaften mindestens 30 Tage, bei sonstigen Gesellschaften mindestens 24 Tage vor der Hauptversammlung. Zu Besonderheiten bei pandemiebedingten Fristverkürzungen siehe § 118 Rz. 30. Für die Fristberechnung gilt § 121 Abs. 7. Es bleibt dem Vorstand jedoch unbenommen, verfristete Anträge gleichwohl unverzüglich nach Zugang (§ 124 Abs. 1 Satz 1) der Tagesordnung hinzuzufügen.50) Ansonsten sind verspätete Anträge nach bestrittener Ansicht bei der nächsten Hauptversammlung zu berücksichtigen, sofern dies inhaltlich noch sinnvoll erscheint.51) Das ist jedoch zu weitgehend. 23 Zu den Schranken eines Ergänzungsverlangens gilt das oben Ausgeführte mit der Maßgabe, dass an die Annahme des Rechtsmissbrauchs höhere Anforderungen zu stellen sind, da im Fall eines Ergänzungsverlangens die Hauptversammlung ohnehin stattfindet, sodass für die Gesellschaft weniger Mehraufwand entsteht.52) Das bedeutet aber nicht, dass diese Schranke hier bedeutungslos wäre. Speziell zu Vergütungsvoten siehe Rz. 10. Kommt der Vorstand nach angemessener Prüfungsfrist zum Ergebnis der Zulässigkeit des Verlangens, ist ihm zu entsprechen. 5.

Rücknahme des Ergänzungsverlangens

24 Die Rücknahme folgt grundsätzlich denselben Regeln wie bei der Einberufung (siehe Rz. 14).53) Erfolgt sie bis zur Bekanntgabe des Ergänzungsverlangens, ist der Vorstand zur Streichung des Tagesordnungspunktes berechtigt, danach nur noch die Hauptversammlung.54) Begründet wird diese Einschränkung mit möglichen Vorbereitungen der Aktionäre (etwa Briefwählern) für die Abstimmung über den bekannt gemachten Tagesordnungs_____________ 47) Henssler/Strohn-Liebscher, GesR, § 122 AktG Rz. 9; einschränkend Kubis in: MünchKomm-AktG, § 122 Rz. 32, der die Begründungspflicht nur bei beschlusslosen Gegenständen bejaht und bei Beschlussgegenständen eine Beschlussvorlage für erforderlich hält. 48) Kocher, AG 2013, 406, 407; Grigoleit-Herrler, AktG, § 122 Rz. 12; Heidel-Müller, AktR, § 122 AktG Rz. 26; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 46; a. A. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 122 Rz. 48; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 122 Rz. 32. 49) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 47. 50) Vgl. nur Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 122 Rz. 46 – bloße Organisationsfrist. 51) KG, Beschl. v. 3.12.2002 – 1 W 363/02, ZIP 2003, 1042, 1044; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 122 Rz. 46, a. A. Butzke in: GroßKomm-AktG, § 122 Rz. 59; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 50; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 122 Rz. 43, mit der Begründung, Ergänzungsverlangen bezögen sich stets auf eine bestimmte Hauptversammlung. 52) LG Frankfurt/M., Beschl. v. 10.12.2003 – 3-16 T 17/03, DB 2004, 300; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 56 m. w. N. 53) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 122 Rz. 52; Grigoleit-Herrler, AktG, § 122 Rz. 13; differenzierend Butzke in: FS Marsch-Barner, S. 103, 114 ff. 54) Butzke in: GroßKomm-AktG, § 122 Rz. 72; Hüffer/Koch-Koch, § 122 Rz. 9a; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 122 Rz. 53.

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Einberufung auf Verlangen einer Minderheit

§ 122

punkt und einer daraus folgenden denkbaren Ergebnisverzerrung, wenn von mehreren zusammenhängenden Tagesordnungspunkten einer gestrichen wird.55) 6.

Rechtsfolge

Der Vorstand muss die Veröffentlichung eines berechtigten Ergänzungsverlangens gemäß 25 § 124 Abs. 1 Satz 1 und § 124a Satz 2 unverzüglich vornehmen.56) Fraglich ist, ob der Zeitpunkt eines Record Date nach § 123 Abs. 4 ein Enddatum für eine spätest mögliche Veröffentlichung setzt. Bei börsennotierten AGs wird aus Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Aktionärsrechterichtlinie57) zu Recht abgeleitet, dass eine Veröffentlichung nach dem Record Date nicht mehr zulässig ist.58) Bei nicht börsennotierten AGs mit satzungsmäßigem Record Date (siehe § 123 Rz. 15) gilt dies hingegen nicht, sondern es bleibt bei § 121 Abs. 1 BGB, da sonst aufgrund der bei börsenfernen AGs sechs Tage länger bestehenden Möglichkeit des Ergänzungsantrags keine Zeit mehr zur Prüfung bliebe.59) Die Minderheit hat nach überwiegender Ansicht das Recht zur inhaltlichen Diskussion der aufgenommenen Tagesordnungspunkte.60) 7.

Satzungsregelungen

Auch hier kann die Satzung nur Erleichterungen zugunsten der Aktionäre vorsehen.61) IV.

26

Gerichtliche Geltendmachung (§ 122 Abs. 3) und Kosten (§ 122 Abs. 4)

Ausdruck des Minderheitenschutzes ist die Möglichkeit der gerichtlichen Durchsetzung 27 der Rechte aus § 122 Abs. 1 und 2, sofern der Vorstand seiner Einberufungs- oder Ergänzungspflicht nicht nachkommt. Neben der Ermächtigung der Minderheit zur Einberufung der Hauptversammlung kann das Gericht ihren Vorsitzenden festlegen. 1.

Zuständigkeit

Die Zuständigkeit liegt beim AG (§ 23a Abs. 2 Nr. 4 GVG i. V. m. § 375 Nr. 3 FamFG), 28 für die örtliche Zuständigkeit sind §§ 376 Abs. 1, 377 FamFG zu beachten.62) 2.

Antragsberechtigung

Antragsberechtigt sind die Aktionäre, die das Verlangen nach § 122 Abs. 1 oder 2 vorge- 29 bracht haben, sowie ihre Gesamtrechtsnachfolger.63) Solange das Quorum erfüllt ist, ist es unschädlich, wenn einzelne Aktionäre den Antrag nicht unterstützen, die ursprünglich _____________ 55) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 122 Rz. 53. 56) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 122 Rz. 34. 57) Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften (Aktionärsrechterichtlinie – ARRL), ABl. (EU) L 184/17 v. 14.7.2007. 58) Vgl. v. d. Linden, EWiR 2017, 653 (Urteilsanm.) m. w. N. 59) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 19.6.2017 – 5 U 150/16, ZIP 2017, 1714, 1715 f.; dazu v. d. Linden, EWiR 2017, 653 (Urteilsanm.). A. A. noch die Vorinstanz: LG Frankfurt/M., Urt. v. 27.10.2016 – 3-5 O 157/16, AG 2017, 366, 366 f. = ZIP 2017, 377. 60) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 122 Rz. 9a m. w. N. 61) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 122 Rz. 39; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 41. 62) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 122 Rz. 44; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 122 Rz. 56. 63) Nach überwiegender Ansicht aufgrund des zwischenzeitlich bestehenden Verweises auf § 142 Abs. 2 Satz 2 nicht Einzelrechtsnachfolger, Kubis in: MünchKomm-AktG, § 122 Rz. 45; ohne Begründung ebenso Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 62 m. w. N.

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§ 122

Einberufung auf Verlangen einer Minderheit

das Einberufungs- oder Ergänzungsverlangen mitgetragen haben.64) Der Nachweis (dazu oben Rz. 7) muss hinsichtlich des weiteren Haltens bis zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erbracht werden (§ 122 Abs. 3 Satz 5). 3.

Antragsfrist

30 Eine Antragsfrist ist nicht vorgesehen, jedoch kann übermäßiges Zuwarten zur Unzulässigkeit des Antrags führen.65) 4.

Entscheidung des Gerichts

31 Die Entscheidung erfolgt durch Beschluss (§ 38 Abs. 1 Satz 1 FamFG). Dem Gericht steht kein Ermessen zu, d. h. bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 122 Abs. 1 bzw. 2 ist dem Antrag stattzugeben.66) 5.

Versammlungsleiter

32 Auf Anregung oder von Amts wegen bestimmt das Gericht den Versammlungsleiter (§ 122 Abs. 3 Satz 2).67) Einen anderen als den satzungsmäßigen darf es nur bestimmen, wenn bei diesem konkrete Anhaltspunkte bestehen, er werde die Versammlung nicht neutral leiten.68) Daran sind hohe Anforderungen zu stellen, da ein gerichtlicher Eingriff in die satzungsmäßige Festlegung eine Ausnahme bleiben muss. Im Falle des § 122 Abs. 2 wird er nur bei den Tagesordnungspunkten tätig, die Gegenstand des Minderheitsverlangens sind.69) Das Gericht soll nach bestrittener Ansicht über den Wortlaut hinaus („zugleich“) auch unabhängig von der Entsprechung des Minderheitsverlangens und Einberufung der Hauptversammlung durch den Vorstand isoliert einen Versammlungsleiter bestimmen können, wenn sich nach der Einberufung die Befangenheit des eigentlich vorgesehenen Versammlungsleiters offenbart.70) Das wird man allenfalls in ganz engen Ausnahmefällen erwägen können und nur, wenn eine Einberufung nur durch den Druck des gerichtlichen Verfahrens erfolgte. 6.

Erledigung

33 Wenn die Hauptversammlung zwischenzeitlich entsprechend dem Verlangen gesetzesund satzungsgemäß einberufen und durchgeführt worden ist, tritt im gerichtlichen Verfahren gemäß § 122 Abs. 1 bis 3 die Hauptsacheerledigung ein.71)

_____________ 64) LG Duisburg, Beschl. v. 21.8.2003 – 21 T 6/02, ZIP 2004, 76, 77. 65) Ganz h. M., vgl. nur Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 66 m. w. N.; Grigoleit-Herrler, AktG, § 122 Rz. 15. 66) OLG München, Beschl. v. 9.11.2009 – 31 Wx 134/09, AG 2010, 84, 85; OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.11.2008 – 8 W 370/08, AG 2009, 169, 170; AG Stuttgart, Beschl. v. 15.3.2006 – HRB 19360, AG 2006, 514, 514. 67) Zum Streit um die materiellen Voraussetzungen der Norm umfassenend v. d. Linden, FS Marsch-Barner, 303, 307 ff. 68) Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281, 283 m. w. N. 69) Vgl. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 122 Rz. 60 m. w. N.; Heidel-Müller, AktR, § 122 AktG Rz. 32; ausführlich hierzu Theusinger/Schilha, NZG 2016, 56, 59; v. d. Linden, FS Marsch-Barner, 303, 314. 70) Tendenziell OLG Hamburg, Beschl. v. 16.12.2011 – 11 W 89/11, AG 2012, 294, 295; sehr weitergehend OLG Köln, Urt. v. 9.3.2017 – 18 U 19/16, ZIP 2017, 1211 = AG 2017, 351 m. N., dazu EWiR 2017, 393 (Klaaßen-Kaiser/Bünten). Ausführlich Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281, 283; kritisch zum isolierten Antrag v. d. Linden, FS Marsch-Barner, 303, 306 f. 71) BGH, Beschl. v. 8.5.2012 – II ZB 17/11, ZIP 2012, 1313, 1314, dazu EWiR 2012, 581 (Kort).

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Einberufung auf Verlangen einer Minderheit 7.

§ 122

Rechtsbehelf

Gemäß § 122 Abs. 3 Satz 4 ist die Beschwerde (§ 63 FamFG) zulässig, deren Einlegung aller- 34 dings keinen Suspensiveffekt auslöst.72) 8.

Einberufung durch die Aktionäre

Gibt das Gericht dem Antrag statt, so können die Aktionäre die Einberufung und Vorbe- 35 reitung in eigenem Namen vornehmen73) und haben in der Einberufung bzw. in der Bekanntmachung auf die Gerichtsentscheidung hinzuweisen (§ 122 Abs. 3 Satz 3); ansonsten droht die Anfechtbarkeit gefasster Beschlüsse nach § 243 Abs. 1.74) Hierbei genügt die Angabe „aufgrund gerichtlicher Ermächtigung“.75) Die Form der Einberufung richtet sich nach den §§ 121, 123 und 124.76) Nach neuer Gesetzeslage ist zwar geklärt, dass das Quorum jedenfalls zum Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung bestehen muss, nicht aber, ob dies auch noch zum Zeitpunkt der Einberufung durch die Aktionäre erforderlich ist (siehe ausführlich Rz. 6). Zur Einberufung sind nur die den Antrag stellenden Aktionäre und ihre Gesamtrechtsnachfolger berechtigt.77) Eine vom Gericht etwa gesetzte Ausübungsfrist (vgl. für die SE Art. 55 Abs. 3 S. 1 SE-VO) ist einzuhalten; ohne eine solche haben die Aktionäre in angemessener Zeit die Einberufung bzw. Anpassung der Tagesordnung vorzunehmen.78) Unterläuft den ermächtigten Aktionären ein Einberufungsfehler, der zur Nichtigkeit der in der folgenden Hauptversammlung gefassten Beschlüsse führt, verbraucht dies nach der Rechtsprechung des BGH79) die Ermächtigung nicht, um die Aktionäre nicht auf eine erneute gerichtliche Ermächtigung zu verweisen. Offen ist, wie dies bei bloßer Anfechtbarkeit von Beschlüssen gesehen würde. 9.

Kosten (§ 122 Abs. 4)

Die Gesellschaft trägt letztlich die Kosten der Hauptversammlung; dies kann nicht durch 36 Hauptversammlungsbeschluss ausgeschlossen werden.80) Die Aktionäre müssen Verträge im eigenen Namen abschließen, haben aber einen Freistellungsanspruch bzw. einen Erstattungsanspruch gegen die Gesellschaft.81) Ob es sich bei den Kosten nach § 122 Abs. 4 um eine Masseverbindlichkeit handelt, ist um- 37 stritten.82) _____________ 72) Umkehrschluss aus § 64 Abs. 3 FamFG, Kubis in: MünchKomm-AktG, § 122 Rz. 64; ebenso Noack/ Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 122 Rz. 107. 73) Hölters-Drinhausen, AktG, § 122 Rz. 24; Heidel-Müller, AktR, § 122 AktG Rz. 34. 74) Henssler/Strohn-Liebscher, GesR, § 122 AktG Rz. 13; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 85 m. w. N. 75) Ganz h. M., vgl. nur K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 122 Rz. 67 m. w. N.; Rieckers in: BeckOGKAktR, § 122 AktG Rz. 85 m. w. N. 76) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 82 m. w. N.; vgl. auch K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 122 Rz. 65. 77) Vgl. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 122 Rz. 65 m. w. N.; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 122 Rz. 67; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 79. Zur Möglichkeit, eine einstweilige Verfügung auf Vornahme der Maßnahmen nach §§ 124, 125 gegen die AG zu erwirken vgl. LG München I, Beschl. v. 19.4.2018 – 5 HK O 5426/18, ZIP 2018, 875 f. 78) Vgl. BGH, Urt. v. 10.10.2017 – II ZR 375/15, NJW 2018, 52, 58; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 122 Rz. 68. 79) BGH, Urt. v. 10.10.2017 – II ZR 375/15, ZIP 2017, 2245, 2251 f. 80) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 88; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 122 Rz. 73. 81) Ganz h. M., vgl. nur Kubis in: MünchKomm-AktG, § 122 Rz. 73 m. w. N. 82) Offengelassen in OLG München, Beschl. v. 14.5.2018 – 31 Wx 122/18, WM 2018, 1648; ausführlich zum Meinungsstand m. w. N. Thole, ZIP 2018, 1565, 1567 ff.

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§ 123

Frist, Anmeldung zur Hauptversammlung, Nachweis

38 Die Gerichtskosten können der Gesellschaft auferlegt werden, wenn das Gericht dem Minderheitsverlangen stattgibt. Andernfalls kann das Gericht nach § 81 FamFG verfahren und die Gerichtskosten nach billigem Ermessen teilen. Außergerichtliche Kosten sind grundsätzlich von jedem Beteiligten selbst zu tragen, das Gericht kann jedoch aus Billigkeitsgründen nach § 81 FamFG verfahren.83) _____________ 83) Vgl. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 122 AktG Rz. 90 m. w. N.; Grigoleit-Herrler, AktG, § 122 Rz. 23.

§ 123 Frist, Anmeldung zur Hauptversammlung, Nachweis Dirk Kocher

(1) 1Die Hauptversammlung ist mindestens dreißig Tage vor dem Tage der Versammlung einzuberufen. 2Der Tag der Einberufung ist nicht mitzurechnen. (2) 1Die Satzung kann die Teilnahme an der Hauptversammlung oder die Ausübung des Stimmrechts davon abhängig machen, dass die Aktionäre sich vor der Versammlung anmelden. 2Die Anmeldung muss der Gesellschaft unter der in der Einberufung hierfür mitgeteilten Adresse mindestens sechs Tage vor der Versammlung zugehen. 3In der Satzung oder in der Einberufung auf Grund einer Ermächtigung durch die Satzung kann eine kürzere, in Tagen zu bemessende Frist vorgesehen werden. 4Der Tag des Zugangs ist nicht mitzurechnen. 5Die Mindestfrist des Absatzes 1 verlängert sich um die Tage der Anmeldefrist. (3) Die Satzung kann bestimmen, wie die Berechtigung zur Teilnahme an der Versammlung oder zur Ausübung des Stimmrechts nachzuweisen ist; Absatz 2 Satz 5 gilt in diesem Fall entsprechend. (4) 1Bei Inhaberaktien börsennotierter Gesellschaften reicht ein Nachweis gemäß § 67c Absatz 3 aus. 2Der Nachweis des Anteilsbesitzes nach § 67c Absatz 3 hat sich bei börsennotierten Gesellschaften auf den Beginn des 21. Tages vor der Versammlung zu beziehen und muss der Gesellschaft unter der in der Einberufung hierfür mitgeteilten Adresse mindestens sechs Tage vor der Versammlung zugehen. 3In der Satzung oder in der Einberufung auf Grund einer Ermächtigung durch die Satzung kann eine kürzere, in Tagen zu bemessende Frist vorgesehen werden. 4Der Tag des Zugangs ist nicht mitzurechnen. 5Im Verhältnis zur Gesellschaft gilt für die Teilnahme an der Versammlung oder für die Ausübung des Stimmrechts als Aktionär nur, wer den Nachweis erbracht hat. (5) Bei Namensaktien börsennotierter Gesellschaften folgt die Berechtigung zur Teilnahme an der Versammlung oder zur Ausübung des Stimmrechts gemäß § 67 Absatz 2 Satz 1 aus der Eintragung im Aktienregister. Literatur: Bayer/Lieder, Umschreibungsstopp bei Namensaktien vor Durchführung der Hauptversammlung, NZG 2009, 1361; Bayer/Scholz/Weiß, Anmeldung und Berechtigungsnachweis bei Einberufung einer Hauptversammlung durch die Aktionärsminderheit gem. § 122 Abs. 3 AktG, AG 2013, 742; Bedkowski/Kocher, Termin der ordentlichen Hauptversammlung nach EHUG und TUG, AG 2007, 342; Götze/Nartowska, Der Regierungsentwurf der Aktienrechtsnovelle 2014 – Anmerkungen aus der Praxis, NZG 2015, 298; Grobecker, Beachtenswertes zur Hauptversammlungssaison, NZG 2010, 165; Grunewald, Die Rechtsstellung des Legitimationsaktionärs, ZGR 2015, 347; Herfs/Rowold, Mehr Rechtssicherheit in der Hauptversammlung, DB 2019, 712; Kuthe, Umgang mit Anmeldefehlern bei einer (Publikums-)Hauptversammlung, BB 2019, 776; Linnerz/Hoppe, Die Form der Anmeldung zur Hauptversammlung – eine in der Praxis

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Frist, Anmeldung zur Hauptversammlung, Nachweis

§ 123

unterschätzte Formalie?, BB 2016, 1098; Mohamed, Der Berechtigungsnachweis für die Hauptversammlung in neuem Gewande – von der Legitimationsmethodik 2.0 über die Aktienrechtsnovelle 2016, ZIP 2016, 1100; Mutter, § 123 Abs. 4 Satz 1 AktG – treffen wir 2021 in Hauptversammlungen Buridians Esel?, AG 2021, R 5; Noack, Briefwahl und Online-Teilnahme an der Hauptversammlung: der neue § 118 AktG, WM 2009, 2289; v. Nussbaum, Zu Nachweisstichtag (record date) und Eintragungssperre bei Namensaktien, NZG 2009, 456; Reger/Jud, Verletzung des Gleichbehandlungsgebots durch nachträgliche Zulassung zur Hauptversammlung und Anfechtbarkeit von Wahlbeschlüssen bei Abweichung vom DCGK, AG 2019, 172; Zetzsche, Aktionärsidentifikation, Aktionärslegitimation und das Hauptversammlungsverfahren nach ARUG II, AG 2020, 1.

Übersicht I. Regelungsgehalt und Bedeutung .... 1 II. Einberufungsfrist (§ 123 Abs. 1) ...... 2 1. Dauer ................................................... 2 2. Fristberechnung ................................. 3 III. Anmeldung (§ 123 Abs. 2) ............... 4 1. Anmeldeerfordernis ........................... 4 2. Anmeldefrist ....................................... 7 IV. Legitimation (§ 123 Abs. 3) .............. 9 1. Grundsätzliches .................................. 9 2. Satzungsregelungen für börsenferne Gesellschaften ......................... 14 V. Modifikationen für börsennotierte Gesellschaften (§ 123 Abs. 4, Abs. 5) ....................... 16 I.

1. Allgemeines ...................................... 2. Berechtigungsnachweis bei Inhaberaktien (§ 123 Abs. 4) ........... a) Form und Inhalt des Nachweises (§ 123 Abs. 4 Satz 1) ...... b) Record Date (§ 123 Abs. 4 Satz 2) ......................................... 3. Berechtigungsnachweis bei Namensaktien (§ 123 Abs. 5) .......... VI. Eintrittskarte ................................... VII. Rechtsfolgen von Verstößen ........

16 17 17 19 25 28 29

Regelungsgehalt und Bedeutung

§ 123 regelt die Einberufungsfrist für die Hauptversammlung (§ 123 Abs. 1), Möglichkei- 1 ten und Grenzen von satzungsmäßigen Anmeldeerfordernissen (§ 123 Abs. 2) und Teilnahmerechtsnachweisen (§ 123 Abs. 3 bis 5). Normzweck ist es, den Aktionären ausreichend Zeit für ihre Vorbereitung zu gewähren und sie vor übermäßig strengen Teilnahmebedingungen zu bewahren.1) Gleichzeitig soll richtigerweise der AG eine rechtssichere Berechtigungskontrolle ermöglicht werden. Die Information der Aktionäre über die Einberufung regelt § 125 Abs. 5. Dieser ist auch zu beachten, soweit den Aktionären Fristen und Termine i. S. von § 123 mitzuteilen sind: Intermediäre müssen den Aktionären nach Art. 4 Abs. 1 i. V. m. Tabelle 3 des Anhangs der Durchführungsverordnung (EU) 2018/12122) die nach § 123 relevanten Uhrzeiten oft auch im UTC-Format übermitteln, weswegen es sich anbieten kann, diese Angabe in die Einberufung aufzunehmen. Dies ist zwar für die Gesellschaft nicht für die Einberufung verpflichtend, für den Inhalt der Mitteilungen an Aktionäre über die Intermediäre gilt aber § 125 Abs. 5 (siehe § 125 Rz. 19 ff.).

_____________ 1) 2)

Allg. M., vgl. nur Kubis in: MünchKomm-AktG, § 123 Rz. 1; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 1. Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 der Kommission v. 3.9.2018 zur Festlegung von Mindestanforderungen zur Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die Identifizierung der Aktionäre, die Informationsübermittlung und die Erleichterung der Ausübung der Aktionärsrechte, ABl. (EU) L 223/1 v. 4.9.2018.

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§ 123

Frist, Anmeldung zur Hauptversammlung, Nachweis

II.

Einberufungsfrist (§ 123 Abs. 1)

1.

Dauer

2 Die Einberufungsfrist beträgt mindestens 30 Tage; soweit in der Satzung ein Anmeldeerfordernis gemäß § 123 Abs. 2 vorgesehen ist, verlängert sich diese Mindestfrist nach § 123 Abs. 2 Satz 5 um die in Absatz 2 Satz 2 bestimmte oder per Satzung verkürzte Anmeldefrist. Eine Verkürzung der Einberufungsfrist auf 14 Tage ist in § 16 Abs. 4 WpÜG für Übernahmesachverhalte vorgesehen. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 3 FMStBG ist die Einberufung einer Hauptversammlung, die über Kapitalerhöhungen i. R. einer Rekapitalisierung nach § 7 FMStFG entscheiden soll, spätestens am 21. Tag vor der Hauptversammlung zu bewirken. Soweit die nach §§ 61 Satz 1, 63 Abs. 1, 125 Satz 1 UmwG i. V. m. § 123 Abs. 1 AktG maßgebliche Dreißig-Tages-Frist kürzer ist als die in Art. 6, 11 Abs. 1 der Fusionsrichtlinie3) und Art. 4, 9 Abs. 1 der Spaltungsrichtlinie4) vorgesehene Monatsfrist, ist letztere maßgeblich.5) Eine Ausdehnung der Frist auf mehr als zehn bis zwölf Wochen wird zum Teil kritisch gesehen und vom Vorliegen einer besonderen Rechtfertigung abhängig gemacht; ggf. kann der Vergessensgefahr mit einer Erinerungsbekanntmachung vorgebeugt werden.6) Zu pandemiebedingten Fristverkürzungsmöglichkeiten siehe § 118 Rz. 32. 2.

Fristberechnung

3 Diese richtet sich nach § 121 Abs. 7. Der Tag der Hauptversammlung ist nicht mitzurechnen. Dasselbe gilt nach § 123 Abs. 1 Satz 2 für den Tag der Einberufung. Die Einberufung ist somit spätestens zum Ablauf (24:00 Uhr) des 31. Tages vor der Hauptversammlung zu bewirken.7) Maßgeblich ist die Bekanntmachung im Bundesanzeiger (§ 25) bzw. die Absendung von Einschreiben gemäß § 121 Abs. 4 Satz 2 (siehe § 121 Rz. 29).8) III.

Anmeldung (§ 123 Abs. 2)

1.

Anmeldeerfordernis

4 Die Satzung kann ein solches für die Teilnahme an der Hauptversammlung oder die Stimmrechtsausübung vorsehen. Zulässig ist eine Regelung, wonach die Anmeldung mit einem Berechtigungsnachweis zu verbinden ist.9) § 123 Abs. 2 differenziert nicht zwischen Namens- und Inhaberaktien, sodass für beide ein Anmeldeerfordernis begründet werden kann.10) Soweit die Satzung keine Regelung zur Form der Anmeldung trifft, ist sie formlos möglich.11) So kommt insbesondere die Übersendung eines Legitimationsnachweises als konkludente Anmeldung in Betracht.12) Ob ein in der Einberufung ohne Satzungsgrundlage vorgesehenes Formerfordernis für die Anmeldung zur Anfechtbarkeit gefasster Beschlüsse _____________ 3) Dritte Richtlinie 78/855/EWG des Rates v. 9.10.1978 gemäß Art. 54 Abs. 3 lit. g des Vertrages betreffend die Verschmelzung von Aktiengesellschaften, ABl. (EG) L 295/36 v. 20.10.1978. 4) Sechste Richtlinie 82/891/EWG des Rates v. 17.12.1982 gemäß Art. 54 Abs. 3 lit. g des Vertrages betreffend die Spaltung von Aktiengesellschaften, ABl. (EG) L 378/47 v. 31.12.1982. 5) Vgl. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 5 m. w. N.; Grigoleit-Herrler, AktG, § 123 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 123 Rz. 2. 6) Näher hierzu Bedkowski/Kocher, AG 2007, 342, 344 f. 7) Begr. RegE ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 29. 8) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 123 Rz. 2; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 123 Rz. 43 ff. 9) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 Rz. 15; Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 123 Rz. 6. 10) Vgl. Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 13. 11) Linnerz/Hoppe, BB 2016, 1098, 1099; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 17 m. w. N. 12) Kuthe, BB 2019, 776, 777 f; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 123 Rz. 11; gegen die Möglichkeit einer solchen konkludenten Anmeldung bei satzungsmäßigem Formerfordernis Linnerz/Hoppe, BB 2016, 1098, 1099.

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Frist, Anmeldung zur Hauptversammlung, Nachweis

§ 123

führt, ist ungeklärt.13) Jedenfalls bei Bestehen eines Legitimationserfordernisses (z. B. § 123 Abs. 4 bei Inhaberaktien), dessen Form auf die Anmeldung erstreckt wird, ist das mangels Erschwernisses zu verneinen. Außerdem muss der Gesellschaft auch bei Namensaktien eine Identitätsprüfung ermöglicht werden. Die Satzung darf an die Form keine übermäßigen Anforderungen stellen (z. B. notarielle Beglaubigung).14) Die Anmeldung durch einen Stellvertreter ist möglich.15) Legitimationsaktionäre müssen sich bei Namensaktien im Namen des Aktionärs anmelden, sofern sie nicht selbst im Aktienregister eingetragen sind.16) Diese Lage wird durch das ARUG II weiter verkompliziert: Erfolgt die Anmeldung über 5 Intermediäre haben diese nach § 67c Abs. 1 und Art. 6 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 sowie Tabelle 5 in deren Anhang ein bestimmtes Format einzuhalten (siehe dazu § 67c Rz 21 ff.).17) Normadressaten sind aber nur die Intermediäre. Der Aktionär kann daher die Anmeldung auch selbst übermitteln, ohne dabei an diese Vorgaben gebunden zu sein.18) Daher können Verstöße eines Intermediärs gegen die Angabepflichten in Tabelle 5 auch nur dann die Zulässigkeit der Anmeldung beeinträchtigen, wenn dadurch zugleich die beschriebenen Anmeldeerfordernisse für eine Anmeldung durch den Aktionär selbst verletzt werden. Bezüglich ähnlicher Fragen für den Nachweis siehe aber auch unten Rz. 17. Sieht die Satzung für die Stimmrechtsausübung ein Anmeldeerfordernis vor, so gilt dies 6 im Grundsatz neben der Online-Teilnahme (siehe § 118 Rz. 13 ff.) auch für die Briefwahl, soweit die Satzung die Briefwahl nicht hiervon ausnimmt.19) In der Anforderung der Briefwahlunterlagen kann eine konkludente Anmeldung jedenfalls zur Briefwahl zu sehen sein.20) Wird die Briefwahl über einen Internetdialog ermöglicht, werden hierfür regelmäßig Zugangsdaten notwendig sein, die dem Briefwähler erst nach Anmeldung übersandt werden. 2.

Anmeldefrist

Gemäß § 123 Abs. 2 Satz 2 beträgt die Anmeldefrist mindestens sechs Tage vor der Haupt- 7 versammlung, wenn nicht die Satzung gemäß § 123 Abs. 2 Satz 3 eine kürzere Frist vorsieht. Die Anmeldefrist ist nach § 121 Abs. 7 zu berechnen. Der Tag des Zugangs ist dabei nicht mitzurechnen (§ 123 Abs. 2 Satz 4). Die Anmeldung muss daher der Gesellschaft spätestens am siebten Tage vor dem Tag der Hauptversammlung zugehen.21) Umstritten ist, ob Aktionäre trotz Versäumnisses der Anmelde- oder Nachweisfrist zur 8 Hauptversammlung unter Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes nach § 53a zugelassen werden können.22) Der BGH hat diese Frage zwar offengelassen, allerdings soll der Gleichbehandlungsgrundsatz jedenfalls dann verletzt sein, wenn säumige Aktionäre zur _____________ 13) Hierzu Linnerz/Hoppe, BB 2016, 1098, 1101. 14) Hölters-Drinhausen, AktG, § 123 Rz. 8; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 123 Rz. 11 – Schriftform zulässig; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 17. 15) Grigoleit-Herrler, AktG, § 123 Rz. 5; zu Ausnahmen von der grundsätzlich zu wahrenden Offenheit bei der Vertretung von Inhaberaktien vgl. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 20. 16) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 123 Rz. 99; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 20 – im Teilnehmerverzeichnis erscheint allein der Legitimationsaktionär. 17) Ausführlich Zetzsche, AG 2020, 1, 8 f. 18) Zutreffend Grigoleit-Rachlitz, AktG, § 67c Rz. 9. 19) Vgl. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 22; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 123 Rz. 93. 20) Vgl. Noack, WM 2009, 2289, 2291; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 22 m. w. N. 21) Hölters-Drinhausen, AktG, § 123 Rz. 6; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 23. 22) Zum Meinungsstand BGH, Urt. v. 9.10.2018 – II ZR 78/17, WM 2019, 258, 259 f. = ZIP 2019, 322; Reger/Jud, AG 2019, 172 f.

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§ 123

Frist, Anmeldung zur Hauptversammlung, Nachweis

Teilnahme an der Hauptversammlung zugelassen werden, obwohl die Einladung (wie in der Praxis fast immer) ausdrücklich auf die Erforderlichkeit der Fristwahrung hinweist.23) Dem ist nicht zuzustimmen, da hieraus keine Ungleichbehandlung all derjenigen Aktionäre folgt, die um eine Zulassung bitten, und kein Aktionär auf diese Möglichkeit hingewiesen wird. In der Praxis sollten verspätete Anmeldungen bzw. Legitimierungen aber aufgrund der Entscheidung des BGH zurückgewiesen werden.24) Außerdem ist davon abzuraten, das Erfordernis fristgemäßer Anmeldung in der Satzung als Soll-Vorschrift auszugestalten oder den Ausschluss in der Einladung unter den Vorbehalt des nachträglichen einseitigen Verzichts auf das Anmeldeerfordernis zu stellen, da bei fehlender Ermächtigung zu dieser Gestaltung in der Satzung die Gefahr von Satzungsverstößen und damit der Anfechtbarkeit von Beschlüssen gem. § 243 Abs. 1 Alt. 2 besteht.25) Außerdem kann sich dann die Frage stellen, unter welchen Voraussetzungen die Gesellschaft zu einer Zulassung sogar verpflichtet sein könnte. IV.

Legitimation (§ 123 Abs. 3)

1.

Grundsätzliches

9 § 123 Abs. 3 eröffnet die Möglichkeit, in der Satzung zu bestimmen, wie sich Teilnehmer an der Hauptversammlung als Aktionäre zu legitimieren haben. Die Satzung kann dies nur für das Stimmrecht oder bereits für das Teilnahmerecht als Erfordernis postulieren. Von dieser allgemeinen Regel sind Inhaber- und Namensaktien erfasst.26) Abs. 4 und 5 regeln jeweils Einzelheiten zu beiden Aktienformen, die für börsennotierte Gesellschaften gelten. Abs. 3 gilt ohne Abänderung nur für nicht börsennotierte Gesellschaften.27) Gemäß § 123 Abs. 3 ist nur teilnahme- und stimmberechtigt, wer den Nachweis in der in der Satzung vorgesehenen Form erbracht hat.28) Daneben ist § 67c Abs. 3 i. V. m. der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 zu beachten. 10 Soweit die Satzung keine Regelung zum Berechtigungsnachweis trifft, hat sich nach allgemeinen Grundsätzen derjenige, der Rechte ausüben möchte, als Berechtigter zu legitimieren, soweit nicht der andere Teil die entsprechenden Unterlagen vorhalten muss.29) 11 Zu differenzieren ist nach verbrieften und unverbrieften Aktien. Handelt es sich um verbriefte Inhaberaktien, so genügt jedenfalls die Vorlage der Aktienurkunde; sie ist indes nicht erforderlich. Ausreichend ist ebenfalls die Vorlage einer Bescheinigung des depotführenden Kreditinstituts.30) Bei verbrieften Namensaktien gilt im Ausgangspunkt die Eintragung ins Aktienregister gemäß § 67 Abs. 231) (zur Satzungsfreiheit börsenferner Gesellschaften siehe Rz. 15). 12 Für unverbriefte Aktien – gleich ob Namens- oder Inhaberaktien – gilt, dass ein Nachweis der Zeichnung nicht erforderlich ist, da die Gesellschaft diesbezügliche Unterlagen vorzu_____________ 23) BGH, Urt. v. 9.10.2018 – II ZR 78/17, WM 2019, 258, 259 f. = ZIP 2019, 322; zustimmend Herfs/Rowold, DB 2019, 712, 713. 24) Reger/Jud, AG 2019, 172, 173; Herfs/Rowold, DB 2019, 712, 714; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 63. 25) Vgl. Reger/Jud, AG 2019, 172, 173; Herfs/Rowold, DB 2019, 712, 714; Kuthe, BB 2019, 776, 777; Grigoleit-Herrler, AktG, § 123 Rz. 5. 26) Henssler/Strohn-Liebscher, GesR, § 123 AktG Rz. 7; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 123 Rz. 9. 27) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 123 Rz. 9. 28) Zu Spaltgesellschaften s. BGH, Urt. v. 25.9.1989 – II ZR 53/89, ZIP 1989, 1546. 29) Vgl. etwa Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 30; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 123 Rz. 3. 30) Allg. M., Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 31; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 123 Rz. 150; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 123 Rz. 19. 31) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 29 und 32.

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Frist, Anmeldung zur Hauptversammlung, Nachweis

§ 123

halten hat.32) Dagegen haben sowohl der Einzel- als auch der Gesamtrechtsnachfolger jedenfalls von Inhaberaktien den Nachweis ihrer Berechtigung zu führen. Bei Abtretungen ist dieser Nachweis durch eine lückenlose Kette von Abtretungsurkunden zu erbringen.33) Eine Rechtsnachfolge durch Erbschaft kann durch Vorlage eines Erbscheins nachgewiesen werden (§ 2365 BGB), umwandlungsrechtliche Vorgänge durch Vorlage des Handelsregisterauszugs.34) Bei Namensaktien muss die Abtretung hingegen nach § 67 Abs. 2 nicht nachgewiesen werden, da auch unverbriefte Aktien ins Aktienregister einzutragen sind (§ 67 Abs. 1 Satz 1).35) Voraussetzung des Stimmrechts ist grundsätzlich die vollständige Erbringung der Ein- 13 lage, § 134 Abs. 2 Satz 1. Der Aktionär hat diesbezüglich jedoch nicht Nachweis zu führen, da die Gesellschaft über diese Information verfügt.36) 2.

Satzungsregelungen für börsenferne Gesellschaften

Gemeint sind sämtliche Gesellschaften, die nicht börsennotiert i. S. des § 3 Abs. 2 sind, ins- 14 besondere also auch Gesellschaften, deren Aktien nur im Freiverkehr gehandelt werden.37) Im Rahmen der allgemeinen Grenzen besteht Satzungsfreiheit hinsichtlich der Legitima- 15 tionsanforderungen für Inhaber- und Namensaktien.38) Nach vor allem für Namensaktien bestrittener Ansicht kann die nicht börsennotierte Gesellschaft für beide Aktienformen erhöhte Nachweiserfordernisse stellen39) wie etwa Hinterlegungsanforderungen oder die Vorlage von Aktienurkunden.40) Zulässig ist auch die Regelung eines Nachweisstichtages (Record Date)41), unabhängig von der Aktiengattung. In jedem Fall müssen die Anforderungen zumutbar sein und dürfen keine materiellen Voraussetzungen wie Haltedauern einführen.42) V.

Modifikationen für börsennotierte Gesellschaften (§ 123 Abs. 4, Abs. 5)

1.

Allgemeines

Der Berechtigungsnachweis unterliegt bei börsennotierten Gesellschaften den Maßgaben 16 der Absätze 4 und 5. Nur soweit dort keine Regelungen getroffen werden, und damit in _____________ 32) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 33 m. w. N.; Grigoleit-Herrler, AktG, § 123 Rz. 12. 33) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 123 Rz. 3; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 123 Rz. 20 m. w. N.; Noack/ Zetsche in: KölnKomm-AktG, § 123 Rz. 134. 34) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 33 m. w. N.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 123 Rz. 43. 35) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 33. 36) Vgl. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 123 Rz. 21 m. w. N.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 123 Rz. 3. 37) Vgl. Heider in: MünchKomm-AktG, § 3 Rz. 38 m. w. N. 38) Vgl. OLG Stuttgart, Hinweisbeschl. v. 12.10.2007 – 20 U 13/07, ZIP 2008, 182, 182; Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5693, S. 17: „Nicht börsennotierte Gesellschaften sollen demgegenüber hinsichtlich der Anforderungen an den Nachweis und den ‚Record Date’ völlige Satzungsautonomie behalten“. 39) Götze/Nartowska, NZG 2015, 298, 301; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 123 Rz. 10; a. A. im Hinblick auf Namensaktien Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 35 und Rz. 38 – wegen § 67 Abs. 2 nur Ausgestaltung und Ergänzung. 40) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 123 Rz. 23; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 36; bei Fehlen einer Verbriefung kann das Hinterlegungserfordernis den Nachweis durch das depotführende Kreditinstitut genügen lassen, vgl. Henssler/Strohn-Liebscher, GesR, § 123 AktG Rz. 8. 41) Unstreitig, Begr. RegE Aktienrechtsnovelle 2016, BT-Drucks. 18/4349, S. 23. Dies auch für Namensaktien anerkennend Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 35. 42) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 35.

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§ 123

Frist, Anmeldung zur Hauptversammlung, Nachweis

sehr beschränktem Ausmaß, besteht Satzungsfreiheit in den Grenzen des Absatzes 3 (siehe dazu Rz. 15).43) 2.

Berechtigungsnachweis bei Inhaberaktien (§ 123 Abs. 4)

a)

Form und Inhalt des Nachweises (§ 123 Abs. 4 Satz 1)

17 Bei börsennotierten Inhaberaktien genügte nach altem Recht ein in Textform erstellter besonderer Nachweis des Anteilsbesitzes durch das depotführende Institut. Das ARUG II lässt nun einen Nachweis gem. § 67c Abs. 3 genügen. Danach wird dieser vom Letztintermediär (typischerweise die Depotbank44)) in Textform ausgestellt, der dabei die Vorgaben von Art. 5 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 und deren Tabelle 4 des Anhangs zwingend zu beachten hat (siehe hierzu § 67c Rz. 26).45) Da hierzu immer der Name des Aktionärs gehört, ist eine anonyme Teilnahme, z. B. durch „Vollmachtsbesitz“ mit Ausstellug auf den Bevollmächtigten, nicht mehr möglich.46) Nicht geregelt ist hingegen die Sprache, wobei englische Bescheinigungen auch ohne entsprechende Satzungsregelung neben deutschen akzeptiert werden müssen.47) 18 Generell sollte die Satzung die gesetzliche Regelung nur wiederholen, einen Nachweis nach § 67c Abs. 3 also ausreichen lassen und nicht etwa verlangen, um Flexibilität zu behalten, falls Intermediäre die komplizierten Vorgaben der Durchführungsverordnung48) im Einzelfall nicht einhalten sollten.49) Wie weit diese Flexibilität dann gehen wird, ist indes noch ungeklärt.50) In der Satzung bestimmte alternative Legitimationsformen sind weiterhin möglich.51) Dies ist insbesondere dann zweckmäßig, wenn Einzel- oder Sammelurkunden ausgegeben wurden, die privat verwahrt werden.52) Problematisch sind nicht angepasste Altsatzungen, die nur einen Nachweis nach altem Recht genügen lassen, also nicht einmal vorsehen, dass ein Nachweis nach § 67c Abs. 3 in jedem Fall genügt.53) Dass dieser dennoch genügt, folgt aus zwingendem Gesetzesrecht. Unklar ist allerdings, ob daneben auch ein Nachweis nach altem Recht akzeptiert werden muss oder ob eine damals gesetzeswiederholende Regelung eher so auszulegen ist, dass sie die Anwendung des jeweils aktuellen gesetzlichen Systems befiehlt.54)

_____________ 43) Böttcher/Carl/Schmidt/Seibert-Schmidt, Die Aktienrechtsnovelle, § 6 Rz. 73; Rieckers in: BeckOGKAktR, § 123 AktG Rz. 39. 44) Näher – auch zur Frage einer satzungsmäßigen Länderbegrenzung – Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 45. 45) Ausführlich Zetzsche, AG 2020, 1, 7. 46) Zetzsche, AG 2020, 1, 7; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 47. 47) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 48 m. N. auch zu engeren und weiteren Auffassungen. 48) Zu den Schwierigkeiten etwa Zetzsche, AG 2020, 1, 6 f. 49) Dies erwartet z. B. Butzke, AG 2020, R 57 mit entsprechender Empfehlung. Zu den Rechtsfolgen auch oben Rz. 5. 50) Vgl. dazu Mutter, AG 2020, R 58. 51) Grigoleit-Herrler, AktG, § 123 Rz. 21; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 123 Rz. 11; Rieckers in: BeckOGKAktR, § 123 AktG Rz. 43 – kein gesetzlicher Zwang zur Depotverwahrung. 52) Vgl. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 123 Rz. 47 m. w. N.; Grigoleit-Herrler, AktG, § 123 Rz. 21; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 43. 53) Zu den darauf folgenden Risiken näher Mutter, AG 2021, R 5. 54) In letzterem Sinne Mutter, AG 2021, R 5. Im Ergebnis ähnlich K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 123 Rz. 44 f, wonach die Satzungsregelung wegen Gesetzesverstoß unanwendbar wird. A. A. – für Wirkung als satzungsmäßige Erleichterung – Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 44.

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Frist, Anmeldung zur Hauptversammlung, Nachweis b)

§ 123

Record Date (§ 123 Abs. 4 Satz 2)

Gesetzlich geregelt ist ein Nachweisstichtag (Record Date) nur für Inhaberaktien. Er fällt auf den Beginn des 21. Tag vor Beginn der Hauptversammlung. Dies ist der Stichtag, auf den sich der Legitimationsnachweis zu beziehen hat. Eine Sonderregelung trifft § 7 Abs. 1 Satz 4 FMStBG für Hauptversammlungen, die über eine Rekapitalisierung nach § 7 FMStFG Beschluss zu fassen haben: Stichtag ist hier der 18. Tag vor der Hauptversammlung. Dies gilt für sämtliche Formen des Legitimationsnachweises, nicht nur die Bescheinigung des Letztintermediärs gemäß § 123 Abs. 4 Satz 1, um Doppellegitimationen zu verhindern.55) Zu Besonderheiten bei pandemiebedingten Verkürzungen der Einberufungsfrist siehe § 118 Rz. 32. Die Bedeutung der Regelung erschließt sich aus einer Zusammenschau mit § 123 Abs. 4 Satz 5. Als Inhaber sämtlicher versammlungsbezogener Rechte (nicht nur des Teilnahmerechts) wird danach grundsätzlich unwiderleglich vermutet, wer einen auf den Beginn des Stichtags ausgestellten Nachweis vorgelegt hat.56) Spätere Änderungen sind unerheblich. Umstritten ist, ob auch der Gesamtrechtsnachfolger als Nachweiserbringer anzuerkennen ist.57) Bei Einzelrechtsnachfolge empfiehlt sich eine Vollmacht des Verkäufers. Umstritten bleibt, welche Befugnisse die Gesellschaft bei Zweifeln an der Richtigkeit des Nachweises hat, was vor allem bei Fremdbesitz immer wieder eine Rolle spielt.58) Richtigerweise kann die Gesellschaft jedenfalls bei konkreten Anhaltspunkten eine Plausibilisierung verlangen.59) Auf den Stichtag und seine Bedeutung ist in der Einberufung gemäß § 121 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 hinzuweisen.60) Für die Berechnung des Stichtags gilt § 121 Abs. 7, d. h. der Tag der Hauptversammlung ist nicht mitzuzählen (§ 121 Abs. 7 Satz 1). Eine Verlegung des Termins findet nicht statt, wenn er auf einen Samstag, Sonntag oder Feiertag fällt (§ 121 Abs. 7 Satz 2). Maßgeblich für den Beginn des Stichtags ist die Ortszeit am Sitz der Gesellschaft.61) Der Nachweis muss nicht am Stichtag ausgestellt werden; eine spätere Ausstellung, die sich auf den Stichtag bezieht, ist ausreichend. Nicht genügend ist dagegen eine Ausstellung des Nachweises vor dem Stichtag.62) Die Falschausstellung und das Gebrauchen einer gefälschten Bescheinigung sind in § 402 unter Strafe gestellt. Der Nachweis muss der Gesellschaft unter der in der Einberufung zu diesem Zweck mitgeteilten Adresse gemäß Absatz 4 Satz 2 mindestens sechs Tage vor der Hauptversammlung zugehen, sofern nicht die Satzung oder die Einberufung aufgrund einer Satzungsermächtigung eine kürzere Frist für ausreichend erklärt.63) Dies entspricht der Anmeldefrist (siehe Rz. 7; dort auch zur Zulassung verfristeter Eingänge). _____________ 55) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5693, S. 17; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 51. 56) Vgl. Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092. S. 14; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 123 Rz. 34; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 58 f. m. w. N. 57) Dagegen Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 123 Rz. 12a; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 123 Rz. 60; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 123 Rz. 38; dafür Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 62; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 123 Rz. 201; wohl auch Grigoleit-Herrler, AktG, § 123 Rz. 24. 58) Hierzu z. B. Mohamed, ZIP 2016, 1100; Grunewald, ZGR 2015, 347. 59) Grigoleit-Herrler, AktG, § 123 Rz. 21; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 69 m. N. auch zu weiteren Ansichten. 60) Nach OLG Frankfurt/M., Urt. v. 21.7.2009 – 5 U 139/08, Rz. 30, NZG 2009, 1068, 1069, ist ein Hinweis auf den Regelungsgehalt von § 123 Abs. 4 Satz 5 n. F. nicht erforderlich; dem dürfte im Hinblick auf § 121 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 nicht zu folgen sein. Nach OLG München, Beschl. v. 17.1.2008 – 7 U 2358/07, AG 2008, 508, 508, ist jedenfalls die wörtliche Wiedergabe des § 123 Abs. 4 Satz 5 n. F. nicht erforderlich. 61) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 56; Grigoleit-Herrler, AktG, § 123 Rz. 17. 62) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 123 Rz. 62 m. w. N.; Hölters-Drinhausen, AktG, § 123 Rz. 13. 63) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 123 Rz. 13.

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§ 123 3.

Frist, Anmeldung zur Hauptversammlung, Nachweis Berechtigungsnachweis bei Namensaktien (§ 123 Abs. 5)

25 Die Teilnahme- und Stimmrechtsberechtigung folgt bei Namensaktien börsennotierter Gesellschaften aus der Eintragung im Aktienregister gemäß § 67 Abs. 2. Dieser Umstand ist indisponibel. Umstritten ist, ob dies auch für den zeitlichen Bezugspunkt (Tag der Hauptversammlung) gilt.64) 26 Ein Record Date wurde anders als bei Inhaberaktien nicht eingeführt.65) Ob es jedoch per Satzung festgelegt werden darf, ist umstritten66) Angesichts der Unsicherheit ist hiervon abzuraten. 27 Eine ähnliche Wirkung erzielt auch ein Umschreibestopp.67) Eine daraus resultierende Veränderungssperre des Aktienregisters bedarf nach einer Literaturansicht einer Satzungsregelung oder einer dort festgeschriebenen Vorstandsermächtigung.68) Der Umschreibestopp verhindert im Vorfeld der Hauptversammlung die unzulässige Mehrfachausübung von Stimmrechten etwa in dem Fall, dass angemeldeten Aktionären Eintrittskarten ausgehändigt wurden, anschließend aber Dritte im Aktionärsregister eingetragen werden und damit ebenfalls teilnehmen dürften.69) Der Beginn des Umschreibestopps sollte dabei zweckmäßigerweise durch den Anmeldeschluss70) bzw. den Ablauf der Zugangsfrist für den Legitimationsnachweis71) bestimmt werden.72) Eine kürzere Dauer des Umschreibestopps ist jedoch zulässig.73) Die maximal zulässige Dauer des Umschreibestopps umfasst nach Einführung des ARUG die sechs Tage vor der Hauptversammlung,74) wobei der Tag der Hauptversammlung und der Tag des Zugangs der Anmeldung nicht mitzurechnen sind.75) VI.

Eintrittskarte

28 Nicht gesetzlich geregelt ist die in der Praxis verbreitete Eintrittskarte, die regelmäßig versandt wird, wenn alle Teilnahmevoraussetzungen erfüllt sind. Sie ist nicht Teilnahmevor-

_____________ 64) Vgl. dazu Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 55. 65) Zum Gesetzesverfahren i. R. der Aktienrechtsnovelle 2016 s. Begr. RegE, BT-Drucks. 18/4349, S. 23 f.; der vorgeschlagene § 123 Abs. 6 ist später weggefallen, vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses R/V z. RegE Aktienrechtsnovelle 2016, BT-Drucks. 18/6681, S. 11. 66) Dafür Böttcher/Carl/Schmidt/Seibert-Schmidt, Die Aktienrechtsnovelle, § 6 Rz. 74; dagegen K. Schmidt/ Lutter-Ziemons, AktG, § 123 Rz. 36, wonach § 67 Abs. 2 seine Wirkung am Tag der Hauptversammlung entfaltet, sodass kein davon abweichendes Datum maßgeblich sein kann. So auch Rieckers in: BeckOGKAktR, § 123 AktG Rz. 55. 67) Zur Zulässigkeit BGH, Urt. v. 21.9.2009 – II ZR 174/08, NZG 2009, 1270 = ZIP 2009, 2051, dazu EWiR 2010, 1 (Priester); Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 38; Henssler/Strohn-Liebscher, GesR, § 123 AktG Rz. 9. 68) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 123 Rz. 35; Grigoleit-Herrler, AktG, § 123 Rz. 27 – Satzungsregelung notwendig; a. A. zu Recht Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 123 Rz. 237 f.; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 38 – keine separate statutarische Ermächtigung erforderlich, sofern nach der Satzung die Anmeldefrist mindestens so lang wie die Legitimationsfrist ist. 69) Vgl. v. Nussbaum, NZG 2009, 456, 457. 70) Grobecker, NZG 2010, 165, 166; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 67 Rz. 20; v. Nussbaum, NZG 2009, 456, 457. 71) Vgl. Bayer/Lieder, NZG 2009, 1361, 1363. 72) BGH, Urt. v. 21.9.2009 – II ZR 174/08, NZG 2009, 1270, 1271 = ZIP 2009, 2051; Henssler/StrohnLiebscher, GesR, § 123 AktG Rz. 9; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 38. 73) v. Nussbaum, NZG 2009, 456, 457; Bayer/Lieder, NZG 2009, 1361, 1363; vgl. Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 123 Rz. 239. 74) Grigoleit-Herrler, AktG, § 123 Rz. 27. 75) Bayer/Lieder, NZG 2009, 1361, 1363.

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Frist, Anmeldung zur Hauptversammlung, Nachweis

§ 123

aussetzung, d. h. die Teilnahmeberechtigung kann auch anders nachgewiesen werden.76) Sie ersetzt auch nicht den Bestandsnachweis bei Inhaberaktien nach § 123 Abs. 4 Satz 1. Allerdings wird sie verbreitet als Quittung angesehen, sodass der Überbringer zuzulasssen sein soll, wenn nicht etwas der Teilnahme positiv entgegensteht.77) Da die Teilnahmevoraussetzungen aber größtenteils nicht nach der Einladung disponibel sind, dürfte der Quittungseffekt beschränkt sein, da er hieran nichts ändern kann. VII. Rechtsfolgen von Verstößen Eine Verlängerung der in § 123 Abs. 2 Satz 3 vorgesehenen Anmeldefrist oder der in § 123 29 Abs. 4 Satz 3 vorgesehenen Zugangsfrist führen zur Anfechtbarkeit der in der Hauptversammlung gefassten Beschlüsse, wenn Anmeldungen/Nachweise, die der Gesellschaft innerhalb der gesetzlichen oder satzungsmäßigen Frist zugehen, wegen ihrer vermeintlichen Verspätung in der Hauptversammlung nicht mehr berücksichtigt werden.78) Werden sie dagegen berücksichtigt und wird somit gegen das Teilnahmerecht des Aktionärs nicht verstoßen, fehlt es an der nach § 243 Abs. 1 erforderlichen Relevanz.79) Die Verkürzung der genannten Fristen in der Einberufung ohne entsprechende Satzungser- 30 mächtigung soll dagegen nach verbreiteter Ansicht nicht zu einer Anfechtbarkeit der gefassten Beschlüsse führen.80) Zur Rechtslage vor dem ARUG entschied das OLG München allerdings, dass eine Verkürzung der Anmeldefrist in der Einberufung ohne entsprechende Satzungsregelung zur Beschlussanfechtbarkeit führt.81) In der Praxis empfiehlt es sich daher, die Fristen in der Einberufung nur zu verkürzen, wenn hierfür eine Satzungsermächtigung besteht. Die unrechtmäßige Verweigerung der Teilnahme eines Aktionärs führt prinzipiell zur An- 31 fechtbarkeit gefasster Beschlüsse. Anderes kann sich ergeben, wenn die Depotbank die Anmeldung oder Nachweiserbringung verspätet vornimmt und daher eine berechtigte Teilnahmeverweigerung vorliegt.82) Umgekehrt kann die Zulassung von Nichtberechtigten bei deren Stimmabgabe, sofern sie ausschlaggebend für gefasste Beschlüsse waren,83) oder einem Redebeitrag vorbehaltlich der dann schwierigen Relevanzprüfung i. S. des § 243 Abs. 1 ebenfalls zur Anfechtbarkeit führen.84) Die bloße Anwesenheit von Nichberechtigten genügt richtigerweise nicht.85) Zur Gleichbehandlung bei verfristeten Anmeldungen oder Nachweisen siehe oben Rz. 8.

_____________ 76) OLG Hamburg, Urt. v. 11.1.2002 – 11 U 145/01, AG 2002, 460, 465; OLG München, Urt. v. 12.11.1999 – 23 U 3319/99, AG 2000, 134, 135 f.; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 123 Rz. 67; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 71. 77) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 123 Rz. 66 f.; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 71. 78) Vgl. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 123 Rz. 50; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 76 m. w. N. 79) Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 123 Rz. 19. 80) Butzke in: GroßKomm-AktG, § 123 Rz. 36 u. 103; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 123 Rz. 50 m. w. N.; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 76. 81) OLG München, Urt. v. 26.3.2008 – 7 U 4782/07, WM 2008, 1072, 1073 = ZIP 2008, 975 (LS). 82) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 123 Rz. 51; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 123 AktG Rz. 77 – Relevanz zu verneinen. 83) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 123 Rz. 84 – „Zünglein an der Waage“; Herfs/Rowold, DB 2019, 712, 713; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 243 Rz. 19. 84) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 123 Rz. 52; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 123 Rz. 85; gegen eine mögliche Relevanz von Redebeiträgen Kuthe, BB 2019, 776, 778. 85) Vgl. BGH, Urt. v. 9.10.2018 – II ZR 78/17, WM 2019, 258, 260 = ZIP 2019, 322.

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§ 124

Bekanntmachung von Ergänzungsverlangen; Vorschläge zur Beschlussfassung

§ 124 Bekanntmachung von Ergänzungsverlangen; Vorschläge zur Beschlussfassung Dirk Kocher

(1) 1Hat die Minderheit nach § 122 Abs. 2 verlangt, dass Gegenstände auf die Tagesordnung gesetzt werden, so sind diese entweder bereits mit der Einberufung oder andernfalls unverzüglich nach Zugang des Verlangens bekannt zu machen. 2§ 121 Abs. 4 gilt sinngemäß; zudem gilt bei börsennotierten Gesellschaften § 121 Abs. 4a entsprechend. 3Bekanntmachung und Zuleitung haben dabei in gleicher Weise wie bei der Einberufung zu erfolgen. (2) 1Steht die Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern auf der Tagesordnung, so ist in der Bekanntmachung anzugeben, nach welchen gesetzlichen Vorschriften sich der Aufsichtsrat zusammensetzt; ist die Hauptversammlung an Wahlvorschläge gebunden, so ist auch dies anzugeben. 2Die Bekanntmachung muss bei einer Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften, für die das Mitbestimmungsgesetz, das Montan-Mitbestimmungsgesetz oder das Mitbestimmungsergänzungsgesetz gilt, ferner enthalten: 1. Angabe, ob der Gesamterfüllung nach § 96 Absatz 2 Satz 3 widersprochen wurde, und 2. Angabe, wie viele der Sitze im Aufsichtsrat mindestens jeweils von Frauen und Männern besetzt sein müssen, um das Mindestanteilsgebot nach § 96 Absatz 2 Satz 1 zu erfüllen. 3

Soll die Hauptversammlung über eine Satzungsänderung, das Vergütungssystem für die Vorstandsmitglieder, die Vergütung des Aufsichtsrats nach § 113 Absatz 3, den Vergütungsbericht oder über einen Vertrag beschließen, der nur mit Zustimmung der Hauptversammlung wirksam wird, so ist bei einer Satzungsänderung der Wortlaut der Satzungsänderung, bei einem vorbezeichneten Vertrag dessen wesentlicher Inhalt, im Übrigen der vollständige Inhalt der Unterlagen zu den jeweiligen Beschlussgegenständen bekanntzumachen. 4Satz 3 gilt auch im Fall des § 120a Absatz 5. (3) 1Zu jedem Gegenstand der Tagesordnung, über den die Hauptversammlung beschließen soll, haben der Vorstand und der Aufsichtsrat, zur Beschlussfassung nach § 120a Absatz 1 Satz 1 und zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern und Prüfern nur der Aufsichtsrat, in der Bekanntmachung Vorschläge zur Beschlußfassung zu machen. 2 Bei Gesellschaften, die Unternehmen von öffentlichem Interesse nach § 316a Satz 2 des Handelsgesetzbuchs sind, ist der Vorschlag des Aufsichtsrats zur Wahl des Abschlussprüfers auf die Empfehlung des Prüfungsausschusses zu stützen. 3Satz 1 findet keine Anwendung, wenn die Hauptversammlung bei der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern nach § 6 des Montan-Mitbestimmungsgesetzes an Wahlvorschläge gebunden ist, oder wenn der Gegenstand der Beschlußfassung auf Verlangen einer Minderheit auf die Tagesordnung gesetzt worden ist. 4Der Vorschlag zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern oder Prüfern hat deren Namen, ausgeübten Beruf und Wohnort anzugeben. 5Hat der Aufsichtsrat auch aus Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer zu bestehen, so bedürfen Beschlüsse des Aufsichtsrats über Vorschläge zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern nur der Mehrheit der Stimmen der Aufsichtsratsmitglieder der Aktionäre; § 8 des Montan-Mitbestimmungsgesetzes bleibt unberührt. (4) 1Über Gegenstände der Tagesordnung, die nicht ordnungsgemäß bekanntgemacht sind, dürfen keine Beschlüsse gefaßt werden. 2Zur Beschlußfassung über den in der Versammlung gestellten Antrag auf Einberufung einer Hauptversammlung, zu An998

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Bekanntmachung von Ergänzungsverlangen; Vorschläge zur Beschlussfassung

§ 124

trägen, die zu Gegenständen der Tagesordnung gestellt werden, und zu Verhandlungen ohne Beschlußfassung bedarf es keiner Bekanntmachung. Literatur: Arnold/Carl/Götze, Aktuelle Fragen bei der Durchführung der Hauptversammlung, AG 2011, 349; Blöink/Wolter, AReG-RegE – Überblick über die Änderungen gegenüber dem Referentenentwurf, BB 2016, 107; DAV (Handelsrechtsausschuss), Stellungnahme zum Referentenentwurf des Abschlussprüfungsreformgesetzes (AReG) vom 27.3.2015, NZG 2015, 752; Deilmann/ Messerschmidt, Vorlage von Verträgen an die Hauptversammlung, NZG 2004, 977; Florstedt, Fristen und Termine im Recht der Hauptversammlung, ZIP 2010, 761; Groß, Vorbereitung und Durchführung von Hauptversammlungsbeschlüssen zu Erwerb oder Veräußerung von Unternehmensbeteiligungen, AG 1996, 111; Happ/Bednarz, Zu Beschlussvorschlägen von Vorstand und Aufsichtsrat gem. § 124 Abs. 3 AktG, in: Festschrift für Reinhard Marsch-Barner, 2018, S. 215; Heinze, Wen trifft die Vorschlagspflicht bei der Abberufung von Aufsichtsratsmitgliedern?, AG 2011, 540; Hoppe, Hauptversammlungssaison 2017: Rechte und Pflichten des Versammlungsleiters bei Wahlentscheidungen der Hauptversammlung, NZG 2017, 361; Kocher, Der Einfluss festgelegter Stimmen auf Hauptversammlungen, BB 2014, 2317; Kocher, Zur Bedeutung von Beschlussvorschlägen der Verwaltung für die Fassung und Anfechtung von Hauptversammlungsbeschlüssen, AG 2013, 406; Lanfermann, Prüferauswahl nach der EU-Abschlussprüferreform, BB 2014, 2348; Lanfermann/Maul, Gründe für die Nichtigkeit des Jahresabschlusses nach § 256 AktG im Licht der EU-Abschlussprüferreform, BB 2015, 1003; Liebscher/Rinker, Das Finanzmarktintegritätsstabilisierungsgesetz, BKR 2021, 466; v. d. Linden, Beschlussvorschläge an die Hauptversammlung bei Einberufung aufgrund eines Mehrheitsverlangens, AG 2016, 280; Meder, Die Mitwirkung des Vorstands am Kandidatenauswahlverfahren für Aufsichtsratswahlen, DStR 2008, 1242; Meyer/Mattheus, Das Abschlussprüfungsreformgesetz (AReG) – Neuerungen für Prüfungsausschüsse, DB 2016, 695; Petersen/Zwirner/Boecker, Das AReG wurde verabschiedet, DStR 2016, 984; Quick, Abschlussprüfungsreformgesetz (AReG) – Kritische Würdigung zentraler Neuregelungen, DB 2016, 1205; Reger/Jud, Verletzung des Gleichbehandlungsgebots durch nachträgliche Zulassung zur Hauptversammlung und Anfechtbarkeit von Wahlbeschlüssen bei Abweichung vom DCGK, AG 2019, 172; Schilha, Neues Anforderungsprofil, mehr Aufgaben und erweitere Haftung für den Aufsichtsrat nach Inkrafttreten der Abschlussprüferreform, ZIP 2016, 1316; Schilha/Wolf, Bestätigung von Gewinnverwendungsbeschluss und Aufsichtsratswahl durch die Hauptversammlung, NZG 2014, 337; Scholz, Unzulässigkeit der Hauptversammlung gem § 124 IV AktG, AG 2008, 11; Schüppen, Die europäische Abschlussprüferreform und ihre Implementierung in Deutschland, NZG 2016, 247; Schürnbrand, Rechtsfolgen von Verstößen gegen die EU-Verordnung zur Abschlussprüfung, AG 2016, 70; Seibt/Scholz, Wahlkandidaten der Gesellschaft für den Aufsichtsrat, AG 2016, 739; Simons, Der Nominierungsausschluss nach dem DCGK 2020, AG 2020, 75; Slavik, Ausgewählte Probleme der aktienrechtlichen Sonderprüfung, WM 2017, 1684; Thum/ Klofat, Der ungetreue Aufsichtsrat – Handlungsmöglichkeiten des Vorstands bei Pflichtverletzungen des Aufsichtsrats, NZG 2010, 1087; Weitnauer, Verstöße gegen den Deutschen Corporate Governance Kodex als Anfechtungsgrund von Hauptversammlungsbeschlüssen, GWR 2018, 301.

Übersicht I. Regelungsgehalt und Bedeutung .... 1 II. Ergänzungsverlangen (§ 124 Abs. 1) ................................................. 3 III. Pflichtangaben bei besonderen Beschlussgegenständen (§ 124 Abs. 2) ................................................. 7 1. Aufsichtsratswahlen (§ 124 Abs. 2 Satz 1, Satz 2) .......................... 7 2. Satzungsänderungen (§ 124 Abs. 2 Satz 3 Alt. 1) ......................... 11

3. Vergütungsentscheidungen (§ 124 Abs. 2 Satz 3 Alt. 2, Satz 4) ............. 4. Zustimmungsbedürftige Verträge (§ 124 Abs. 2 Satz 3 Alt. 3) .............. 5. Analoge Anwendung von § 124 Abs. 2 Satz 3 ..................................... IV. Beschlussvorschläge (§ 124 Abs. 3) ............................................... 1. Grundsatz ......................................... 2. Ausnahmen und Besonderheiten ....

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§ 124

Bekanntmachung von Ergänzungsverlangen; Vorschläge zur Beschlussfassung

a) Vorschlagspflicht nur des Aufsichtsrats .............................. 22 b) Beschlussvorschlag zur Wahl des Abschlussprüfers ................. 25 c) Angaben zur Person von Aufsichtsratsmitgliedern oder Prüfern und Sonderbeschlussrecht der Aktionärsvertreter ..... 34 I.

d) Keine Vorschlagspflicht ............. 38 3. Bindungswirkung .............................. 40 4. Rechtsfolgen von Verstößen ........... 42 V. Unzulässige Beschlussfassung (§ 124 Abs. 4 Satz 1) ........................ 45 VI. Bekanntmachungsfreie Gegenstände (§ 124 Abs. 4 Satz 2) ............ 46

Regelungsgehalt und Bedeutung

1 § 124 Abs. 1 betrifft die Bekanntmachung von Minderheitsverlangen, § 124 Abs. 2 die Bekanntmachung bei besonderen Beschlussgegenständen mit Sonderregeln für mitbestimmte börsennotierte Gesellschaften. § 124 Abs. 3 betrifft Beschlussvorschläge der Verwaltung und § 124 Abs. 4 die Bindungswirkung der bekannt gemachten Tagesordnung. 2 Die Norm dient der rechtzeitigen Information der Aktionäre und soll sie in die Lage versetzen, zu entscheiden, ob sie an der Hauptversammlung teilnehmen wollen, sowie sich sachgemäß darauf vorzubereiten.1) II.

Ergänzungsverlangen (§ 124 Abs. 1)

3 Zulässige Ergänzungsverlangen einer Minderheit nach § 122 Abs. 2 sind mit der Einberufung zur Hauptversammlung bekannt zu machen, wenn sie der Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt bereits vorliegen. Andernfalls hat die Bekanntmachung separat und unverzüglich (§ 121 Abs. 1 Satz 1 BGB) nach Zugang zu erfolgen. Dem Vorstand sind in der Regel drei Tage zur rechtlichen Prüfung des Ergänzungsverlangens zuzubilligen, bevor er die Veröffentlichung veranlasst2) Bei einer Veröffentlichung im Bundesanzeiger kommt der dortige technische Vorlauf hinzu, bevor die Veröffentlichung erfolgt ist. Zur Frage, ob die Veröffentlichung vor einem Record Date erfolgen muss siehe § 122 Rz. 25. 4 Für Übernahmefälle gilt § 16 Abs. 4 Satz 7 WpÜG, wonach bei Einberufung der Hauptversammlung der Zielgesellschaft (vgl. § 16 Abs. 3 WpÜG) die dort genannten Unterlagen zugänglich und bekannt zu machen sind. Eine Bekanntmachung der Kurzfassung des Ergänzungsverlangens genügt; jedoch ist der Volltext zugänglich zu machen und in der Bekanntmachung auf die Fundstelle des Volltextes zu verweisen.3) 5 Für die Bekanntmachung nach § 124 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 gilt § 121 Abs. 4 sinngemäß, sodass sie entweder durch Veröffentlichung im Bundesanzeiger (vgl. § 25) oder, soweit die Aktionäre namentlich bekannt sind, durch eingeschriebenen Brief erfolgen könnte. Jedoch ist gemäß § 124 Abs. 1 Satz 3 die Bekanntmachungsform zu wählen, die bereits für die Einberufung selbst gewählt wurde. 6 Ferner gilt für börsennotierte Gesellschaften § 121 Abs. 4a entsprechend. Danach haben Gesellschaften, die nicht ausschließlich Namensaktien ausgegeben und durch eingeschriebenen Brief geladen haben, die Einberufung spätestens zum Zeitpunkt der Bekanntma_____________ 1) 2) 3)

Allg. M., vgl. nur BGH, Urt. v. 25.11.2002 – II ZR 49/01 (Hypo-Vereinsbank), ZIP 2003, 290, 292, dazu EWiR 2003, 199 (Bayer/Fischer). Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 124 Rz. 22; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 4 – drei bis vier Tage; unter Bezugnahme auf die Gesetzeshistorie Florstedt, ZIP 2010, 761, 765 m. w. N. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 8 m. w. N.; Angerer/Geibel/Süßmann-Geibel/Süßmann, WpÜG, § 16 Rz. 88 ff.; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124 Rz. 74, der jedoch darauf hinweist, dass die Erleichterungen nicht für sämtliche Minderheitsverlangen i. S. von § 124 Abs. 1 Satz 1 gelten; Butzke in: GroßKomm-AktG, § 124 Rz. 20, welchem zufolge Ergänzungsverlangen nach § 122 Abs. 2 der Regelung nicht unterfallen sollen.

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Bekanntmachung von Ergänzungsverlangen; Vorschläge zur Beschlussfassung

§ 124

chung solchen Medien zur Veröffentlichung zuzuleiten, bei denen davon ausgegangen werden kann, dass sie die Information in der gesamten EU verbreiten. Siehe § 121 Rz. 32 zu den dazu bestehenden Diskussionen. III.

Pflichtangaben bei besonderen Beschlussgegenständen (§ 124 Abs. 2)

1.

Aufsichtsratswahlen (§ 124 Abs. 2 Satz 1, Satz 2)

In der Bekanntmachung4) ist zunächst anzugeben, nach welchen gesetzlichen Vorschrif- 7 ten sich der Aufsichtsrat zur Zeit der Einberufung5) zusammensetzt, also §§ 96 ff., ggf. i. V. m. einem der Mitbestimmungsgesetze. Mängel hierbei sind nach der Rechtsprechung des BGH in der Regel anfechtungsrelevant.6) Die Wiedergabe des Gesetzestextes oder eine Begründung sind nicht erforderlich.7) Zwar wird eine Pflicht zur Angabe von Satzungsbestimmungen durch § 124 Abs. 2 Satz 1 nicht begründet, da sich dieser nur auf gesetzliche Vorschriften bezieht, ein Verweis auch auf einschlägige Satzungsbestimmungen ist gleichwohl zweckmäßig.8) Die Bindung der Hauptversammlung an Wahlvorschläge ist in der Bekanntmachung nur 8 anzugeben, sofern sie besteht (§ 124 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2). Sie kann sich gemäß § 101 Abs. 1 Satz 2 aus §§ 6, 8 des Montan-MitbestG bzw. bei der SE aus § 36 Abs. 4 Satz 2 SEBG ergeben. Eine Negativanzeige ist nicht mehr erforderlich. Ist die Geschlechterquote nach § 96 Abs. 2 zu erfüllen, ist eine Angabe zum möglichen 9 Widerspruch zur Gesamterfüllung i. S. des § 96 Abs. 2 Satz 3 gemäß § 124 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 obligatorisch. Das Erfordernis sowohl einer Positiv- als auch einer Negativanzeige ergibt sich aus einem Vergleich mit dem abweichenden Wortlaut des § 124 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 der bloß zur Positivanzeige verpflichtet (siehe Rz. 8).9) Daneben ist gemäß § 124 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 die konkrete Zahl der Männer und Frauen 10 anzugeben, die dem Aufsichtsrat zur Erfüllung der Geschlechterquote mindestens angehören müssen.10) 2.

Satzungsänderungen (§ 124 Abs. 2 Satz 3 Alt. 1)

Bekannt zu machen ist der Wortlaut der beabsichtigten Satzungsänderung. Wird der Ge- 11 genstand der Satzungsänderung hierdurch nicht hinreichend kenntlich, etwa weil die Wiedergabe des Wortlauts aus sich heraus nicht verständlich ist, ist es nach einer Ansicht in der Rechtsprechung erforderlich, zusätzlich den wesentlichen Inhalt der Satzungsänderung bekannt zu machen.11) _____________ 4) Die Angaben müssen in der Einberufung gemacht werden, eine separate Veröffentlichung genügt nicht, vgl. etwa Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 10 m. w. N. 5) Butzke in: GroßKomm-AktG, § 124 Rz. 26; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 16. 6) BGH, Urt. 10.10.2017 – II ZR 375/15, ZIP 2017, 2245, 2252 f., dazu EWiR 2018, 39 (Seibt) – mit der Ausnahme einer Anfechtung durch den Vorstand, dem dies ohnehin bekannt sein muss. 7) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 15. 8) Grigoleit-Herrler, AktG, § 124 Rz. 4; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 124 Rz. 55; strenger Noack/ Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 124 Rz. 33, wonach eine Nennung von Satzungsbestimmungen im Falle einer ansonsten bestehender Irreführungsgefahr bei Angabe nur der gesetzlichen Vorschriften verpflichtend ist. 9) Vgl. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 124 Rz. 60; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 124 Rz. 6a. 10) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 124 Rz. 61 ff. mit Formulierungsbeispiel. 11) So OLG Celle, Urt. v. 15.7.1992 – 9 U 65/91, AG 1993, 178, 179; gegen Annahme einer entsprechenden Pflicht zu Recht in Ermangelung präziser Kriterien Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 27; mit Hinweis auf rechtliche Gefahren Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124 Rz. 20.

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§ 124 3.

Bekanntmachung von Ergänzungsverlangen; Vorschläge zur Beschlussfassung Vergütungsentscheidungen (§ 124 Abs. 2 Satz 3 Alt. 2, Satz 4)

12 Bei allen Vergütungsentscheidungen nach ARUG II12) ist der vollständige Inhalt der Unterlagen bekannt zu machen. Eine bloße Zurverfügungstellung im Internet genügt auch hier trotz der Länge der Dokumente nicht.13) Bei den Unterlagen handelt es sich je nach Tagesordnungspunkt um das vollständige Vergütungssystem des Vorstands, das vollständige Vergütungssystem und die konkrete Festsetzung für den Aufsichtsrat bzw. den vollständigen und geprüften Vergütungsbericht einschließlich aller darin in Bezug genommenen Unterlagen.14) Nach Satz 4 ist die Bekanntmachung des Vergütungsberichts auch dann erforderlich, wenn dieser nach § 120a Abs. 5 nur vorgelegt werden soll. 4.

Zustimmungsbedürftige Verträge (§ 124 Abs. 2 Satz 3 Alt. 3)

13 Hierzu zählen neben den qua Gesetzes und qua ungeschriebener Hauptversammlungskompetenz (siehe § 119 Rz. 18 ff.) zustimmungsbedürftigen Verträgen auch vom Vorstand nach § 119 Abs. 2 vorgelegte Verträge.15) Die Bekanntmachungspflicht gilt über den Wortlaut hinaus für Entwürfe16), Änderungen17) und nach bestrittener Ansicht auch für die Beendigung18) zustimmungsbedürftiger Verträge. 14 Bekannt zu machen ist der wesentliche Inhalt. Was diesen ausmacht, ist in der Praxis oft streitig.19) Die Wiedergabe des vollständigen Wortlauts befreit nach h. L. von der Pflicht zur Bekanntmachung des wesentlichen Inhalts.20) Aufgrund der vorgenannten Meinungsverschiedenheiten in diesem Punkt empfiehlt es sich gleichwohl, sowohl den Vertrag als auch seinen wesentlichen Inhalt zu veröffentlichen. Komplexe Vertragswerke sind im Vorstandsbericht zu erläutern.21) Soll nicht der vollständige Wortlaut wiedergegeben werden, so sind zumindest die Vertragsparteien und die Hauptleistungspflichten, Gewährleistungsbestimmungen, für die Gesellschaft nachteilige Wettbewerbsverbote oder Vertragsstrafen, ferner die ggf. vorhandenen Regelungen zum Schutz von Minderheitsaktionären sowie bei Dauerschuldverhältnissen zur Vertragsbeendigung zu nennen.22) Strittig ist die Bekannt-

_____________ 12) Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2637. 13) Mit rechtspolitischer Kritik hieran Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 30. 14) Begr. RegE ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, 95; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 30. 15) Vgl. BGH, Urt. v. 15.1.2001 – II ZR 124/99 (Altana/Milupa), ZIP 2001, 416, 417 f.; OLG Schleswig, Urt. v. 8.12.2005 – 5 U 57/04 (MobilCom), ZIP 2006, 421, 424. 16) Groß, AG 1996, 111, 114; Grigoleit-Herrler, AktG, § 124 Rz. 9; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124 Rz. 23; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 124 Rz. 49. 17) Es genügt, die Änderungen bzw. ihren wesentlichen Inhalt bekannt zu machen, sofern sie ohne den Gesamtkontext bzw. das Grundwerk verständlich sind, BGH, Urt. v. 15.6.1992 – II ZR 18/91, ZIP 1992, 1227, 1231; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 32. Bei einer Aufspaltung der Gesamtvereinbarung auf verschiedene Verträge bezieht sich das Zustimmungserfordernis auf sämtliche dieser Verträge, vgl. BGH, Urt. v. 16.11.1981 – II ZR 150/80, ZIP 1982, 172, 177; dies gilt auch für das Bekanntmachungserfordernis, vgl. OLG Schleswig, Urt. v. 8.12.2005 – 5 U 57/04 (MobilCom), ZIP 2006, 421, 426. 18) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124 Rz. 23; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 124 Rz. 13; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 124 Rz. 49; a. A. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 33. 19) Vgl. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124 Rz. 24 ff. 20) So etwa Deilmann/Messerschmidt, NZG 2004, 977, 979; Grigoleit-Herrler, AktG, § 124 Rz. 11; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 124 Rz. 73; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 34 m. w. N.; a. A. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124 Rz. 25. 21) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 124 Rz. 73; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 34. 22) Vgl. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124 Rz. 24; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 35.

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Bekanntmachung von Ergänzungsverlangen; Vorschläge zur Beschlussfassung

§ 124

machungspflicht bei Rechtswahlklauseln und Schiedsgerichtsvereinbarungen.23) Siehe zu den Informationspflichten bei Verträgen auch § 119 Rz. 34 f. Nur die Bekanntmachung des wesentlichen Inhalts hat in deutscher Sprache zu erfolgen.24) 15 5.

Analoge Anwendung von § 124 Abs. 2 Satz 3

Nach bisher h. M. ist im Fall von Kapitalerhöhungen mit Bezugsrechtsausschluss der ge- 16 mäß § 186 Abs. 4 Satz 2 erforderliche Vorstandsbericht bzw. dessen wesentlicher Inhalt analog § 124 Abs. 2 Satz 3 Alt. 2 bekannt zu machen.25) Ferner wird überwiegend angenommen, dass Konzept und wesentlicher Inhalt von Struk- 17 turmaßnahmen, die nach der Holzmüller/Gelatine-Doktrin zustimmungsbedürftig sind (siehe § 119 Rz. 26 ff.), aber zu ihrer Umsetzung keines Vertragsschlusses bedürfen, analog § 124 Abs. 2 Satz 3 Alt. 2 bekannt zu machen sind.26) Eine Analogie von Absatz 2 Satz 3 für die Auflegung eines Aktienoptionsprogramms oder 18 die Ausgabe von Wandelschuldverschreibungen bzw. Genussrechten wird nach ganz h. M. abgelehnt.27) IV.

Beschlussvorschläge (§ 124 Abs. 3)

1.

Grundsatz

Grundsätzlich obliegt nach § 124 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 sowohl dem Vorstand als auch dem 19 Aufsichtsrat die Pflicht, zu jedem Gegenstand der Tagesordnung einen Beschlussvorschlag zu machen. In der Praxis wird regelmäßig ein einheitlicher Beschlussvorschlag erfolgen, jedoch hat jedes Organ hierüber separat Beschluss zu fassen.28) Ein Verstoß führt nach bestrittener Meinung zur Anfechtbarkeit der daraufhin gefassten Hauptversammlungsbeschlüsse (siehe näher Rz. 42 ff.).29) Beschlussvorschläge sind in der Form von Anträgen zu formulieren.30) Alternativ- und 20 Eventualvorschläge sind zulässig.31) _____________ 23) Dafür LG München I, Urt. v. 31.1.2008 – 5 HK O 19782/06, BB 2008, 522, 522; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 124 Rz. 55; dagegen Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 124 Rz. 14; Rieckers in: BeckOGKAktR, § 124 AktG Rz. 35. 24) Vgl. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124 Rz. 24 m. w. N; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 34. 25) Vgl. BGH, Urt. v. 9.11.1992 – II ZR 230/91, ZIP 1992, 1728, 1733; LG Berlin, Urt. v. 13.12.2004 – 101 O 124/04, DB 2005, 1320, 1321; Grigoleit-Herrler, AktG, § 124 Rz. 12; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 124 Rz. 79; ablehnend Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 37; Kubis in: MünchKommAktG, § 124 Rz. 27, unter Berufung auf die Fassung des § 186 Abs. 4 Satz 2 seit Erlass des ARUG. 26) OLG München, Urt. v. 14.2.2001 – 7 U 6019/99, ZIP 2001, 700, 703, dazu EWiR 2001, 459 (Mutter); LG Stuttgart, Urt. v. 9.10.2000 – 7 KfH O 66/2000, ZIP 2000, 2110, 2112, dazu EWiR 2000, 1087 (Luttermann); Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 124 Rz. 11 m. w. N.; a. A. Noack/Zetzsche in: KölnKommAktG, § 124 Rz. 53. 27) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124 Rz. 29; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 39 – anderweitige gesetzliche Informationspflichten ausreichend. 28) Die Beschlussfassung durch eines der Organe über den Vorschlag ist auch nach dessen Bekanntmachung aber vor der Hauptversammlung noch möglich, wenn beide Organe übereinstimmen, vgl. OLG Stuttgart, Beschl. v. 21.12.2012 – 20 AktG 1/12, ZIP 2013, 170, dazu EWiR 2013, 263 (Nikoleyczik/Gubitz). 29) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 124 Rz. 21; a. A. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124 Rz. 59, der davon ausgeht, dass nur ein Beschlussvorschlag erforderlich sei, wenn eines der Organe seiner Beschlussvorschlagspflicht nicht nachkommt; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 72; generell zu Verstößen gegen § 124 Abs. 3 Satz 1 BGH, Urt. v. 12.11.2001 – II ZR 225/99, ZIP 2002, 172, 173, dazu EWiR 2002, 885 (Saenger/Bergjan); OLG München, Beschl. v. 28.1.2002 – 7 W 814/01, ZIP 2002, 1353, 1354, dazu EWiR 2002, 1029 (Schwab). 30) Allg. M., vgl. nur Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 40 m. w. N. 31) So die h. M., vgl. etwa Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124 Rz. 40 m. w. N.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 124 Rz. 17; gegen die Zulässigkeit von Alternativanträgen K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 124 Rz. 19.

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§ 124

Bekanntmachung von Ergänzungsverlangen; Vorschläge zur Beschlussfassung

21 Jedenfalls die Vorschlagskompetenz des Aufsichtsrats bleibt auch im Insolvenzverfahren bestehen, sofern es um Punkte geht, die dem insolvenzfreien Bereich angehören.32) 2.

Ausnahmen und Besonderheiten

a)

Vorschlagspflicht nur des Aufsichtsrats

22 Ausnahmsweise unterbreitet nach § 124 Abs. 3 Satz 1 nur der Aufsichtsrat Beschlussvorschläge, wenn die Hauptversammlung über die Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern33) oder Prüfern entscheiden soll. Der DCGK empfahl früher zusätzlich die Bekanntgabe der Kandidatenvorschläge für den Aufsichtsratsvorsitz (Ziff. 5.4.3 a. F.); dies ist entfallen. Prüfer sind der Abschluss- bzw. Konzernabschlussprüfer (§ 318 Abs. 1 HGB), der Sonderprüfer (§ 142 Abs. 1) und der Prüfer i. S. des § 115 Abs. 5 WpHG. Das ausschließliche Vorschlagsrecht gilt nur für die Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern, nicht aber für ihre Abberufung.34) Falls nach angefochtener Aufsichtsratswahl ein Bestätigungsbeschluss gemäß § 244 gefasst wird, darf entsprechend Absatz 3 Satz 1 nur der Aufsichtsrat (die identischen) Beschlussvorschläge machen.35) Eine Vorstandsinitiative zur Abberufung einzelner oder sämtlicher Aufsichtsratsmitglieder kann nach einer Literaturansicht wirksam sein, wenn der Aufsichtsrat zuvor Gelegenheit zur Abgabe eines Beschlussvorschlags hatte.36) 23 Seit dem ARUG II gibt es mit dem Vergütungsvotum über das Vergütungssystem für den Vorstand (§ 120a Abs. 1) einen weiteren Tagesordnungspunkt, für den nur der Aufsichtsrat den Beschlussvorschlag unterbreitet. 24 Bei mitbestimmten Gesellschaften ist für Wahlvorschläge für den Aufsichtsrat noch § 124 Abs. 3 Satz 5 zu beachten: Sie bedürfen nur der Mehrheit der Anteilseignervertreter. Außerdem empfiehlt der DCGK in D. 5 zur Vorbereitung unabhängig von der Mitbestimmung die Einrichtung eines Nominierungsausschusses.37) b)

Beschlussvorschlag zur Wahl des Abschlussprüfers

25 Im Fall der in § 124 Abs. 3 Satz 2 genannten Unternehmen und Institutionen hat der Aufsichtsrat seinen Vorschlag auf die Empfehlung des Prüfungsausschusses zu stützen. Das sollte in der Einladung entsprechend angegebenen werden, auch wenn es das Gesetz nicht vorschreibt (zu Ausnahmen siehe unten Rz. 29 ff.). Außerdem sind die seit dem 17.6.2016 unmittelbar geltenden europarechtlichen Vorgaben der AbschlussprüferVO38) zu beachten. Die Komplexität der Prüferauswahl steigt dadurch. 26 Hinzu kommen schärfere Anforderungen an die Prüferrotation durch das FISG39).

_____________ 32) OLG München, Beschl. v. 9.9.2018 – 7 U 2697/18, ZIP 2018, 1796 f. 33) Hierzu näher Meder, DStR 2008, 1242 ff. auch bzgl. der Grenzen einer Vorstandseinbindung. 34) Heinze, AG 2011, 540, 541 f.; Grigoleit-Herrler, AktG, § 124 Rz. 19; trotz Zweifeln im Ergebnis auch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 124 Rz. 18; zum Meinungsstand Happ/Bednarz in: FS Marsch-Barner, S. 215, 223; Gröntgen, Operativer shareholder activism, S. 272 ff. 35) LG Frankfurt/M., Urt. v. 12.11.2013 – 3-05 O 151/13, ZIP 2013, 2405, 2407; Schilha/Wolf, NZG 2014, 337, 338. 36) Thum/Klofat, NZG 2010, 1087, 1089 f. m. w. N. 37) Ausführlich zu diesem Simons, AG 2020, 75 ff. 38) Verordnung (EU) Nr. 537/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.4.2014 über spezifische Anforderungen an die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse und zur Aufhebung des Beschlusses 2005/909/EG der Kommission, ABl. (EU) L 158/77 v. 27.5.2014. 39) Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität (Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz – FISG) v. 3.6.2021, BGBl. I 2021, 1534. Dazu Liebscher/Rinker, BKR 2021, 466, 469 f.

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Bekanntmachung von Ergänzungsverlangen; Vorschläge zur Beschlussfassung

§ 124

Durch das AReG40) wurde § 124 Abs. 3 Satz 2 in persönlicher Hinsicht von kapitalmarktna- 27 hen Gesellschaften (§ 264d HGB) auf CRR-Kreditinstitute41) sowie Versicherungsunternehmen erweitert. Dies deckt sich mit dem Anwendungsbereich der AbschlussprüferVO, die für „Unternehmen von öffentlichen Interesse“ gilt,42) sog. Public Interest Entities (PIEs). Die Einrichtung eines Prüfungsausschusses war lange Zeit nicht zwingend, sondern nur von 28 D. 3 DCGK empfohlen.43) Durch § 107 Abs. 4 wird der Prüfungsausschuss für Unternehmen von öffentlichem Interesse nun verpflichtend vorschrieben. Für die weiteren Anforderungen kommt es darauf an, ob es sich um eine nach Art. 17 AbschlussprüferVO zulässige Erneuerung eines Prüfungsmandats innerhalb der Frist von zehn Jahren handelt oder nicht. Bei einer zulässigen Erneuerung verlangt Art. 16 Abs. 2 AbschlussprüferVO nur eine Empfehlung des Prüfungsausschusses wie § 124 Abs. 3 Satz 2. Bei dieser ist allerdings zu erklären, dass sie frei von ungebührlicher Einflussnahme und ohne bestimmte Beschränkungen erfolgte (Art. 16 Abs. 2 Satz 3 AbschlussprüferVO), was wegen Art. 16 Abs. 5 Satz 1 AbschlussprüferVO als Teil der Empfehlung in die Einladung aufgenommen werden sollte. Handelt es sich nicht um eine zulässige Erneuerung, sondern um eine Neuvergabe oder um eine Wiederbestellung im elften Jahr zur Verlängerung der Frist auf 20 Jahre nach § 318 Abs. 1a Satz 1 HGB, sind noch die folgenden Besonderheiten zu beachten: Existiert ein Prüfungsausschuss, richtet sich das Zustandekommen der in § 124 Abs. 3 29 Satz 2 genannten Empfehlung bei einer Neuvergabe unmittelbar nach Art. 16 Abs. 2 bis 5 AbschlussprüferVO. Dadurch soll die Grundlage für eine fundierte Auswahlentscheidung der Hauptversammlung geschaffen werden.44) Die Empfehlung ist mit einer Begründung zu versehen und muss zwei Vorschläge für das Prüfungsmandat samt diesbezüglicher begründeter Präferenz des Prüfungsausschusses enthalten (Art. 16 Abs. 2 AbschlussprüferVO). Ab dem in Art. 41 Abs. 4 AbschlussprüferVO genannten Zeitpunkt liegt ihr, außer bei kleinen und mittleren Unternehmen i. S. von Art. 16 Abs. 4 AbschlussprüferVO, ein formelles Ausschreibungsverfahren zugrunde (Einzelheiten siehe Art. 16 Abs. 3 Unterabs. 1 AbschlussprüferVO)45). Für dieses ist der Prüfungsausschuss zuständig (Art. 16 Abs. 3 Unterabs. 2 AbschlussprüferVO). Über den Wortlaut des AktG hinaus sind nach Art. 16 Abs. 5 AbschlussprüferVO Teil des Beschlussvorschlags des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung auch die Empfehlung, Vorschläge und Präferenz des Prüfungsausschusses; zudem sind vom Aufsichtsrat die Gründe für eine etwaige Abweichung von _____________ 40) Gesetz zur Umsetzung der prüfungsbezogenen Regelungen der Richtlinie 2014/56/EU sowie zur Ausführung der entsprechenden Vorgaben der Verordnung (EU) Nr. 537/2014 im Hinblick auf die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse (Abschlussprüfungsreformgesetz – AReG) v. 10.5.2016, BGBl. I 2016, 1142. 41) Vgl. zum Begriff Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.6.2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 646/2012 (Capital Requirements Regulation – CRR), ABl. (EU) L 176/1 v. 27.6.2013 – Kreditinstitute, die Einlagengeschäft betreiben; so auch Butzke in: GroßKomm-AktG, § 124 Rz. 90, Fn. 152. 42) Art. 3 der Verordnung (EU) Nr. 537/2014 i. V. m. Art. 2 Nr. 13 der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2006 über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen, zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 84/253/EWG des Rates (Abschlussprüferverordnung – AbschlussprüferVO), ABl. (EU) L 157/87 v. 9.6.2006; vom Wahlrecht zur Erweiterung des Kreises der Adressaten um besonders bedeutsame Unternehmen hat Deutschland keinen Gebrauch gemacht. 43) Vgl. Butzke in: GroßKomm-AktG, § 124 Rz. 90. 44) Lanfermann/Maul, BB 2015, 1003, 1006; Meyer/Mattheus, DB 2016, 695, 697; Schürnbrand, AG 2016, 70, 76; a. A. DAV (Handelsrechtsausschuss), NZG 2015, 752, 753. 45) Ausführlich Meyer/Mattheus, DB 2016, 695, 697.

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§ 124

Bekanntmachung von Ergänzungsverlangen; Vorschläge zur Beschlussfassung

der Präferenz des Prüfungsausschusses anzugeben (Art. 16 Abs. 5 AbschlussprüferVO).46) Der Aufsichtsrat ist nicht an die Präferenz des Prüfungsausschusses gebunden. Seit jeher besteht Einigkeit, dass auch keine Bindung an die Empfehlung insgesamt besteht.47) Die in der Vergangenheit umstrittene Frage, ob eine Abweichung hiervon – nunmehr also von den beiden Vorschlägen des Prüfungsausschusses als Gesamtheit – in der Einberufung oder in der Hauptversammlung durch den Aufsichtsrat zu begründen ist,48) wurde im Zuge der EU-Abschlussprüferreform zwar nicht explizit beantwortet. Müssen dem Gesetz zufolge jedoch schon Gründe dafür angeführt werden, dass der Präferenz des Prüfungsausschusses nicht gefolgt wird, so gilt dies aber wohl erst recht (a minori ad maius) für die vollständige Abweichung von dessen Empfehlung. Der vorgeschlagene Prüfer muss in jedem Fall am Ausschreibungsverfahren gemäß Art. 16 Abs. 3 AbschlussprüferVO teilgenommen haben, Art. 16 Abs. 5 Unterabs. 2 Satz 2 AbschlussprüferVO. 30 Anders gestaltete sich das Verfahren in den Fällen, in denen kein Prüfungsausschuss eingerichtet wurde. Dann bleibt es bei der Gesamtverantwortung des Aufsichtsrats.49) Dies erfordert einige Adaptionen, die im Einzelnen noch unklar bzw. umstritten sind. So übernimmt der Aufsichtsrat die Funktionen des Prüfungsausschusses hinsichtlich der in Art. 16 Abs. 3 AbschlussprüferVO geregelten Ausschreibung. Sein Beschlussvorschlag an die Hauptversammlung erfolgt demgegenüber zumindest im Ausgangspunkt ohne den ansonsten verpflichtenden Einbezug der Empfehlung des Prüfungsausschusses und der zugehörigen Dokumentation in Gestalt der Vorschläge und der Präferenz des Prüfungsausschusses. 31 Fraglich ist aber, ob der Aufsichtsrat seinen Vorschlag zu begründen hat. Eine Empfehlung oder gar eine Präferenz des Prüfungsausschusses, von der nur in begründeter Form abgewichen werden könnte, sind von vornherein nicht einschlägig. Es besteht jedoch wegen der in Art. 16 Abs. 2 Unterabs. 2 AbschlussprüferVO vorgesehenen Begründung der Empfehlung, die über Art. 16 Abs. 5 Unterabs. 1 AbschlussprüferVO Teil des Beschlussvorschlages des Aufsichtsrats wird, möglicherweise eine vom Aufsichtsrat ersatzweise zu erfüllende originäre Begründungspflicht hinsichtlich der Prüferauswahl. Hiergegen ließe sich zunächst einwenden, die Begründung seitens des Prüfungsausschusses diene nur der Unterstützung der Aufsichtsratsmitglieder bei ihrer Entscheidung über den Beschlussvorschlag. In systematischer Hinsicht ist aber festzustellen, dass – wenn ein Prüfungsausschuss existiert – nach der gesetzlichen Regelung der Hauptversammlung stets irgendeine Begründung für den letztlich vorgeschlagenen Prüfer mitgeteilt wird: Entweder geschieht dies vermittels der Präsentation der begründeten Empfehlung oder, indem der Aufsichtsrat von letzterer in begründeter Weise abweicht. Der Hauptversammlung sollte daher jedenfalls bis zur Klärung der Frage auch in der vorliegenden Konstellation – durch den Aufsichtsrat – eine Begründung für die Prüferauswahl geliefert werden. Zum Teil wird weitergehend vertreten, dass der Aufsichtsrat in sinngemäßer Anwendung von Art. 16 Abs. 2 AbschlussprüferVO zwecks Gewährleistung einer echten Auswahlentscheidung selbst min_____________ 46) Die frühere Auseinandersetzung über dessen Notwendigkeit (vgl. Butzke in: GroßKomm-AktG, § 124 Rz. 90, Fn. 155 f.) ist damit zugunsten einer Begründungspflicht entschieden worden. 47) Butzke in: GroßKomm-AktG, § 124 Rz. 91; so ebenfalls schon vor der EU-Abschlussprüferreform Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 103; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 124 Rz. 22; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 56; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 124 Rz. 38. Eine dementsprechende Schlussfolgerung lässt sich nunmehr aus Art. 16 Abs. 5 Unterabs. 2 Satz 2 AbschlussprüferVO ziehen. 48) Dafür Hölters-Drinhausen, AktG, § 124 Rz. 15; dagegen Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124 Rz. 46; dafür Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 56; für Begründungspflicht im Beschlussvorschlag Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 103; für Mitteilung in der Einberufung und Begründung in der Hauptversammlung K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 124 Rz. 38. Vor diesem Hintergrund war auch schon früher sicherheitshalber zu empfehlen, eine entsprechende Angabe aufzunehmen. 49) Bürgers/Körber/Lieder-Israel, AktG, § 107 Rz. 26a; Heidel/Schall-Schüppen, HGB, § 324 Rz. 3.

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destens zwei Vorschläge inkl. begründeter Präferenz für das Prüfungsmandat unterbreiten muss.50) Das findet richtigerweise keine Stütze in der AbschlussprüferVO, sollte aber bis zur Klärung der Frage in der Praxis aus Vorsichtsgründen durchgeführt werden. Im Fall eines Verstoßes gegen die genannten Anforderungen des Art. 16 AbschlussprüferVO 32 ist nach § 318 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 HGB das Ersetzungsverfahren eröffnet; zudem wird in § 256 Abs. 1 Nr. 3 lit. d klargestellt, dass eine Missachtung der Vorgaben der AbschlussprüferVO keine Nichtigkeit des Jahresabschlusses auslöst.51) Eine Beschlussanfechtung ist damit in diesem Zusammenhang wegen des Vorrangs des Ersetzungsverfahrens ausgeschlossen, § 243 Abs. 3 Nr. 3.52) Daneben werden die Vorschriften der AbschlussprüferVO teilweise auch als Verbotsgesetze i. S. von § 134 BGB in Erwägung gezogen.53) Das kann aber richtigerweise nicht zu einer Beschlussnichtigkeit der Wahl führen. Schließlich wurden mit § 405 Abs. 3b – 3d (i. V. m. § 404a) für die Verletzung von Pflichten durch Mitglieder von Aufsichtsrat und Prüfungsausschuss54) von PIEs im Zusammenhang mit der Bestellung des Abschlussprüfers Ordnungswidrigkeiten- bzw. Straftatbestände geschaffen.55) Ausgesprochene Sanktionen werden nach § 69 Abs. 1a WPO von der Abschlussprüferaufsichtsstelle offengelegt (Naming and Shaming). Liegen die Voraussetzungen von § 70 StGB vor, kann durch das Gericht zudem ein Berufsverbot verhängt werden.56) Unbeschadet der Entstehung des Vorschlags zur Wahl des Abschlussprüfers hat die EU- 33 Abschlussprüferreform schon im Vorfeld Auswirkungen auf die Frage, welche Abschlussprüfer überhaupt in Betracht kommen, indem sie die Unternehmen unter bestimmten Umständen zum periodischen Wechsel derselben verpflichtet, sog. externe Rotation. Darüber hinaus werden u. a. Anforderungen an die Qualifikation von Mitgliedern des Prüfungsausschusses bzw. des Aufsichtsrats statuiert und die Erbringung von Nichtprüfungsleistungen durch Abschlussprüfer wird weiteren qualitativen wie quantitativen Restriktionen unterworfen.57) c)

Angaben zur Person von Aufsichtsratsmitgliedern oder Prüfern und Sonderbeschlussrecht der Aktionärsvertreter

Inhaltlich ergibt sich gemäß § 124 Abs. 3 Satz 4 die Besonderheit, dass der Vorschlag zur 34 Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern oder Prüfern deren Namen, ausgeübten Beruf und Wohnort (ausreichend ist die Nennung der politischen Gemeinde)58) anzugeben hat. Der _____________ 50) Schilha, ZIP 2016, 1316, 1327; Schüppen, NZG 2016, 247, 251 f.; Hoppe, NZG 2017, 361, 366. 51) Vgl. Blöink/Wolter, BB 2016, 107, 108; Schürnbrand, AG 2016, 70, 77, der die Ungleichbehandlung von Verstößen gegen andere Normen als Art. 16 AbschlussprüferVO kritisiert. 52) Zumindest die Anfechtbarkeit des Hauptversammlungsbeschlusses als Folge auch von Verstößen gegen einzelne Vorgaben von Art. 16 Abs. 3 AbschlussprüferVO wäre ansonsten als zu weitgehend angesehen worden, so etwa Lanfermann/Maul, BB 2015, 1003, 1006. 53) Schürnbrand, AG 2016, 70, 71. 54) Eine Sanktionierung von Mitgliedern des Vorstandes bzw. der Geschäftsführung wurde nicht vorgesehen, so Meyer/Mattheus, DB 2016, 695, 698. 55) Dies gilt für PIEs jeglicher Rechtsform, s. z. B. §§ 87 Abs. 1 – 3, 86 GmbHG, §§ 152 Abs. 1a, 151a GenG sowie §§ 332 Abs. 4a – 4c, 331 Abs. 2a VAG, §§ 20 Abs. 2a – 2c, 19a PublG. Bei Kreditinstituten sind die §§ 340n Abs. 2a, 340m Abs. 2 HGB, bei Versicherungsunternehmen die §§ 341n Abs. 2a, 341m Abs. 2 HGB zu beachten. Für Gesellschaften, die § 324 HGB unterfallen („alleinstehender“ bzw. „isolierter“ Prüfungsausschuss), gelten insoweit die inhaltsgleichen §§ 334 Abs. 2a, 333a HGB. 56) Zu Einzelheiten Meyer/Mattheus, DB 2016, 695, 699; Schüppen, NZG 2016, 247, 254. 57) Zu alldem Petersen/Zwirner/Boecker, DStR 2016, 984; Quick, DB 2016, 1205; Schilha, ZIP 2016, 1316, 1317. 58) Allg. M., Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 61; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 124 Rz. 75; kritisch Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124 Rz. 47 – abzustellen ist auf den regelmäßigen Einsatzort bei der Ausübung der hauptamtlichen Tätigkeit.

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Begriff des „ausgeübten Berufs“ ist im Hinblick auf den Normzweck so auszulegen, dass die Aktionäre eine Vorstellung von der Eignung der Kandidaten für die Aufsichtsratstätigkeit bekommen können sollen.59) So ist etwa die Bezeichnung „Rechtsanwalt“ nicht genügend, sondern vielmehr ist auch die Angabe der Kanzlei erforderlich, für die der Nominierte tätig ist.60) Soll wie üblich eine Gesellschaft Prüfer werden, ergibt sich der „Beruf“ aus ihrer (statt des „Namens“ anzugebenden) Firma und ist nicht gesondert zu nennen.61) 35 Die Angaben überschneiden sich teilweise mit Mitteilungspflichten nach § 125 (siehe § 125 Rz. 3 ff. zu dortigen Weiterungen), sodass sie regelmäßig bereits im Zuge der Einberufung erfüllt werden. Der DCGK empfiehlt in C. 13 bei Bekanntgabe der Wahlvorschläge die Offenlegung der persönlichen und geschäftlichen Beziehungen der Kandidaten zum Unternehmen, zu seinen Organen oder zu wesentlich an der Gesellschaft beteiligten Aktionären.62) In C. 14 DCGK wird die Beifügung eines Lebenslaufs empfohlen; hierfür genügen richtigerweise ein Einstellen des Lebenslaufs ins Internet und ein Verweis hierauf in der Einladung.63) 36 Neuerdings wird geltend gemacht, dass die Aufsichtsratskandidaten vor dem Hintergrund ihres persönlichen Risikomanagements und der faktischen Notwendigkeit, ihre Eignung zu untersuchen, gemäß § 109 Abs. 1 Satz 2 vereinzelt Aufsichtsratssitzungen beiwohnen und – sofern Vertraulichkeit vertraglich gewährleistet ist – über Vorgänge informiert werden dürfen, die für die Kandidaten zwecks Beurteilung des Risikoprofils des zu übernehmenden Postens relevant sind.64) 37 Hinsichtlich des Verfahrens bei der Beschlussfassung des Aufsichtsrats über seinen Beschlussvorschlag zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern ist gemäß § 124 Abs. 3 Satz 5 im mitbestimmten Aufsichtsrat zu beachten, dass die Aufsichtsratsmitglieder der Aktionäre ein Sonderbeschlussrecht haben.65) § 8 Montan-MitbestG bleibt unberührt. d)

Keine Vorschlagspflicht

38 Ist die Hauptversammlung nach § 6 Montan-MitbestG an Wahlvorschläge gebunden oder wurde ein Gegenstand aufgrund eines Minderheitsverlangens nach § 122 auf die Tagesordnung gesetzt,66) sind weder der Vorstand noch der Aufsichtsrat verpflichtet, einen Beschlussvorschlag hierzu zu machen, § 124 Abs. 3 Satz 3. Im letzteren Fall bleibt es der Verwaltung jedoch unbenommen, eigene Beschlussvorschläge zu formulieren.67) 39 In der Rechtsprechung wird die Frage, ob § 124 Abs. 3 Satz 3 auch für Einberufungs- oder Ergänzungsverlangen einer Mehrheit gilt, uneinheitlich beantwortet.68) Die Literatur streitet insbesondere darum, ob das Übertragungsverlangen eines Mehrheitsaktionärs i. R. von § 327a _____________ 59) Vgl. Begr. RegE KonTraG, BT-Drucks. 13/9712, S. 17. 60) Vgl. Begr. RegE KonTraG, BT-Drucks. 13/9712, S. 17; LG Hannover, Urt. v. 17.3.2010 – 23 O 124/09, ZIP 2010, 833, 838 f.; dazu EWiR 2010, 345 (Reger/Theusinger); kritisch Rieckers in: BeckOGKAktR, § 124 AktG Rz. 61. 61) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124 Rz. 47; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 62. 62) Näher hierzu Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 23. 63) Wie hier Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 22. 64) Ausführlich Seibt/Scholz, AG 2016, 739, 743 ff. 65) Vgl. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 124 Rz. 26; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 124 Rz. 79. 66) Dies meint alle von § 122 erfassten Konstellationen, also mit und ohne gerichtliche Ermächtigung und Einberufungs- ebenso wie Ergänzungsverlangen, vgl. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 66. 67) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124 Rz. 32 m. w. N.; Butzke in: GroßKomm-AktG, § 124 Rz. 63. 68) Dafür OLG Düsseldorf, Urt. v. 5.7.2012 – I-6 U 69/11, AG 2013, 264; dagegen LG Köln, Urt. v. 3.11.2010 – 91 O 4/10, BeckRS 2015, 14961; zusammenfassend (auch unter Inbezugnahme unveröffentlichter Urteile) v. d. Linden, AG 2016, 280, 281f.

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unter § 124 Abs. 3 Satz 3 Alt. 2 fällt.69) Vorsichtshalber sollte die Verwaltung daher eigene Beschlussvorschläge veröffentlichen (siehe Rz. 38). 3.

Bindungswirkung

Bekannt gemachte Beschlussvorschläge müssen in der Hauptversammlung nicht zur Ab- 40 stimmung gestellt, sondern können fallengelassen werden.70) Eine Bindung an den Wortlaut des bekannt gemachten Änderungsvorschlags dergestalt, dass dieser nur angenommen oder abgelehnt werden kann, besteht nicht. Vielmehr kann die Hauptversammlung zu dem Beschlussgegenstand in den Grenzen von § 124 Abs. 4 auch einen abweichenden Wortlaut beschließen.71) Abweichende Anträge der Verwaltung selbst sind nach leicht überwiegender und zutreffender Auffassung unabhängig davon zulässig, ob sich seit der Bekanntmachung Änderungen der Sach- und Rechtslage ergeben haben.72) Auch bei im Vorfeld der Hauptversammlung festgelegten Stimmen (etwa mittels Briefwahl, Weisungen an Stimmrechtsvertreter oder Beauftragung einer Bank) ist es nach richtiger Ansicht nicht geboten, die Abweichungsmöglichkeiten einzuschränken, da sich Aktionäre hinreichend gegen das Verfallen ihrer Stimme schützen können.73) Eine Grenze ist jedoch – abgesehen von Absatz 4 – bei rechtsmissbräuchlichem Vorgehen der Verwaltung zu ziehen, das darauf abzielt, vorher abgegebene Stimmen auszuhebeln.74) Ungeklärt ist, ob Opposition aus Reihen der Aktionäre einen zulässigen Abweichungsgrund 41 darstellt, wenn man entgegen der hier vertretenen Auffassung einen solchen verlangt.75) In diesen Fällen empfiehlt es sich für die Verwaltung, abweichende Anträge durch Aktionäre stellen zu lassen und sich diesen anzuschließen.76) Redaktionelle Änderungen zwischen Beschlussvorschlag und Antrag sind nicht zu beanstanden.77) 4.

Rechtsfolgen von Verstößen

Die jedenfalls früher h. M. hat die Anfechtbarkeit von Verstößen gegen § 124 Abs. 3 42 regelmäßig bejaht, etwa wenn der Vorstand zu Aufsichtsratswahlen Beschlussvorschläge verfasst (siehe Rz. 22)78) oder solche von einem fehlerhaft besetzten Organ unterbreitet _____________ 69) Dafür Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 124 Rz. 80, Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 66; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 124 Rz. 45; v. d. Linden, AG 2016, 280, 283 f.; dagegen Grunewald in: MünchKomm-AktG, § 327a Rz. 12. 70) OLG Stuttgart, Urt. v. 21.12.1993 – 10 U 48/93, AG 1994, 411, 415; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124 Rz. 48 m. w. N.; mit Einschränkungen für Briefwahlfälle Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 124 Rz. 62. 71) OLG Celle, Urt. v. 15.7.1992 – 9 U 65/91, AG 1993, 178, 179. 72) OLG Hamm, Urt. v. 28.2.2005 – 8 W 6/05, AG 2005, 361, 363; Kocher, AG 2013, 406, 410; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 40 m. w. N.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 124 Rz. 17 m. w. N.; a. A. OLG Stuttgart, Urt. v. 21.12.1993 – 10 U 48/93, ZIP 1995, 1515, 1522; Arnold/Carl/Götze, AG 2011, 349, 354; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 124 Rz. 94 m. w. N. – nur unter o. g. Voraussetzungen zulässig. 73) Ausführlich Kocher, AG 2013, 406, 411; a. A. Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 124 Rz. 62. 74) Kocher, AG 2013, 406, 411; vgl. auch Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 40. 75) Dafür Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124 Rz. 49; dagegen K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 124 Rz. 95. 76) Vgl. Happ/Bednarz in: FS Marsch-Barner, S. 215, 216. 77) LG Stuttgart, Urt. v. 8.11.1991 – 2 KfH O 135/91, WM 1992, 58, 61; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124 Rz. 49. 78) BGH, Urt. v. 25.11.2002 – II ZR 49/01 (Hypo-Vereinsbank), ZIP 2003, 290, 291 f.; Schürnbrand, AG 2016, 70, 77; a. A. Kocher, AG 2013, 406, 413, unter Hinweis auf die in der Praxis typischerweise gegebene Beteiligung des Vorstands bei der Auswahl von Aufsichtsratskandidaten und Abschlussprüfern.

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wurden.79) Die Gegenansicht nimmt dies nur bei im Einzelfall festgestellter Relevanz des Verstoßes gegen § 124 Abs. 2 bzw. Abs. 3 für die Aktionärsrechte an.80) 43 Der BGH hat für die nur angefochtene Wahl eines Aufsichtsratsmitglieds entschieden, dass Beschlussvorschläge des Aufsichtsrates bis zur Nichtigerklärung der Wahl wirksam sind, da bis dahin eine ordnungsgemäße Organbesetzung vorliege und der Wahlbeschluss erst rückwirkend unwirksam werde.81) Dabei lehnt der BGH, anders als ein Großteil der Literatur, jedoch eine Anwendung der Lehre vom faktischen Organ ab, was in der Praxis etwa zur Folge hat, dass sich der von einem potenziell fehlerhaft gewählten Aufsichtsrat bestellte Vorstand seinerseits nicht auf die vereinbarte Vertragslaufzeit berufen kann.82) 44 Eine Abweichung des Wahlvorschlags von Empfehlungen des DCGK führt nach umstrittener aber zutreffender Ansicht des BGH nicht zur Unwirksamkeit des Wahlvorschlags oder der Bekanntmachung und damit nicht zur Anfechtbarkeit der Wahl.83) V.

Unzulässige Beschlussfassung (§ 124 Abs. 4 Satz 1)

45 Bekanntmachungsfehler, also Verstöße gegen § 124 Abs. 1 bis 3, führen grundsätzlich zur Anfechtbarkeit dennoch gefasster Hauptversammlungsbeschlüsse. Nicht anwesende Aktionäre sind gemäß § 245 Nr. 2 Alt. 3 anfechtungsbefugt. Der Versammlungsleiter kann gleichwohl die Beschlussfassung zulassen, um eine Wiederholung der Hauptversammlung zu vermeiden, wenn das Anfechtungsrisiko gering erscheint oder es unwahrscheinlich ist, dass der Bekanntmachungsfehler für das Beschlussergebnis relevant wird.84) VI.

Bekanntmachungsfreie Gegenstände (§ 124 Abs. 4 Satz 2)

46 Keiner Bekanntmachung bedürfen Anträge auf Vertagung, auf Einberufung einer weiteren Hauptversammlung mit neuer Tagesordnung,85) sowie Verhandlungen ohne Beschlussfassung; Letzteres gilt nicht in Fällen des § 92 Abs. 1, des § 17586) und soweit dies gesetzlich angeordnet ist, wie etwa im Fall des § 145 Abs. 6 Satz 5. 47 Ferner bekanntmachungsfrei sind Anträge zu Gegenständen der Tagesordnung. Streitig ist, ob zwecks Ermittlung der Grenze für die Beschlussfassung auf den einzelnen Tagesordnungspunkt oder den nicht zur Tagesordnung gehörenden ausformulierten Beschlussvorschlag nach § 124 Abs. 3 abzustellen ist. Nach h. A. soll letzterer lediglich Zusatzinformationen bieten und nicht den Beschlussgegenstand eingrenzen.87) Gleichwohl folgt aus dem Beschlussvorschlag eine Erwartungshaltung der Aktionäre hinsichtlich des Beschlussgegenstands, sodass vom Beschlussvorschlag nicht überraschend abgewichen werden darf.88) _____________ 79) BGH, Urt. v. 12.11.2001 – II ZR 225/99, ZIP 2002, 172, 173. 80) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 124 Rz. 88 ff.; ausführlich zu Einzelfällen Kocher, AG 2013, 406, 412; Scholz, AG 2008, 11, 14 f. 81) BGH, Urt. v. 19.2.2013 – II ZR 56/12, BB 2013, 1166, 1169 mit Anm. Kocher = ZIP 2013, 720 = NZG 2013, 456, dazu EWiR 2013, 333 (Schatz). 82) Ausführlich zu Problematik und Praxisfolgen Kocher, BB 2013, 1166, 1170 (Urteilsanm.). 83) BGH, Urt. v. 9.10.2018 – II ZR 78/17, WM 258, 261 ff.; a. A. OLG München, Urt. v. 6.8.2008 – 7 U 5628/07, BeckRS 2009, 110 (hiergegen schon Kocher/Bedkowski, BB 2009, 235); Weitnauer, GWR 2018, 301, 304; zum Meinungsstand Reger/Jud, AG 2019, 172, 173 f. 84) Vgl. etwa LG Berlin, Urt. v. 17.2.2003 – 99 O 111/02, ZIP 2003, 1352, 1353; Butzke in: GroßKommAktG, § 124 Rz. 101. 85) Allg. M., vgl. nur K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 124 Rz. 87 m. w. N.; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 124 Rz. 93, 96. 86) Vgl. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124 Rz. 71; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 124 Rz. 103. 87) OLG Celle, Urt. v. 15.7.1992 – 9 U 65/91, AG 1993, 178, 179; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 124 Rz. 8 m. w. N.; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 121 Rz. 65. 88) Kocher, AG 2013, 406, 407 f. – dort auch zahlreiche Nachweise zur Kasuistik.

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Veröffentlichungen auf der Internetseite der Gesellschaft

§ 124a

Ferner ist umstritten, ob durch eine Bezugnahme auf den Vorschlagstext in der Tages- 48 ordnung die Beschlussfassung auf den Vorschlag beschränkt wird.89) Dem ist entgegenzuhalten, dass dadurch das Gegenantragsrecht der Aktionäre (§ 126 Abs. 1) auf die Ablehnung beschränkt und somit ausgehöhlt würde. Der Vorschlagstext ist vielmehr zur Konkretisierung heranzuziehen, soweit dies erforderlich ist, um den genannten Überraschungsschutz der Aktionäre sicherzustellen.90) Um das Gegenantragsrecht nicht auszuhöhlen, findet auch keine zusätzliche Begrenzung durch Erfordernisse eines Vorstandsberichts (vgl. z. B. § 186 Abs. 4 Satz 2) oder einer Wortlautbekanntmachung (vgl. z. B. § 124 Abs. 2 Satz 3) statt, die für den Inhalt eines in der Hauptversammlung gestellten Gegenantrages natürlich nicht mehr erfüllt werden könnten. Zu den bekanntmachungsfreien Anträgen zu Gegenständen der Tagesordnung zählen 49 Geschäftsordnungsanträge,91) Anträge zur anderen Verwendung des Bilanzgewinns, Gegenanträge und sachlich ergänzende Anträge92). Dazu werden nach abzulehnender h. A. z. B. Sonderprüfungsanträge i. R. des Entlastungsantrags gezählt.93) Umstritten ist die Reichweite von § 124 Abs. 4 Satz 2 Alt. 2 bei Satzungsänderungen. 50 Die Konkretisierung des Tagesordnungspunkts „Satzungsänderung“ im Beschlussvorschlag grenzt jedoch nach richtiger Auffassung die zulässigen Beschlussmöglichkeiten jedenfalls thematisch ein.94) Bei Verstoß gegen die Beschlussgrenzen von § 124 Abs. 4 sind gefasste Beschlüsse vor- 51 behaltlich der Relevanz und mit Ausnahme der Zustimmung aller Aktionäre bei einer Vollversammlung (§ 121 Abs. 6) anfechtbar.95) _____________ 89) Dafür Hölters-Drinhausen, AktG, § 124 Rz. 16; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 76; dagegen Kocher, AG 2013, 406, 407. 90) Kocher, AG 2013, 406, 407. 91) Butzke in: GroßKomm-AktG, § 124 Rz. 115 f. 92) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124 Rz. 64 ff.; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 77 ff. 93) OLG Brandenburg, Urt. v. 6.6.2001 – 7 U 145/00, AG 2003, 328, 329; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 124 Rz. 90 f.; Details bei Slavik, WM 2017, 1684, 1684 f.; ausführlich zur Gegenauffassung Kocher, AG 2013, 406, 409. 94) Kocher, AG 2013, 406, 408 m. w. N.; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124 AktG Rz. 76; Hüffer/KochKoch, AktG, § 124 Rz. 8 – Präzisierung durch Beschlussvorschlag; a. A. Kubis in: MünchKommAktG, § 124 Rz. 65 – beim Tagesordnungspunkt „Satzungsänderung“ ist jeder abweichende Antrag von § 124 Abs. 4 Satz 2 Alt. 2 erfasst. 95) Allg. M., BGH, Urt. v. 20.9.2004 – II ZR 288/02, ZIP 2004, 2093, 2093, dazu EWiR 2005, 49 (Noack); Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124 Rz. 52 f. m. w. N.

§ 124a Veröffentlichungen auf der Internetseite der Gesellschaft Dirk Kocher

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Bei börsennotierten Gesellschaften müssen alsbald nach der Einberufung der Hauptversammlung über die Internetseite der Gesellschaft zugänglich sein: 1. der Inhalt der Einberufung; 2. eine Erläuterung, wenn zu einem Gegenstand der Tagesordnung kein Beschluss gefasst werden soll; 3. die der Versammlung zugänglich zu machenden Unterlagen; 4. die Gesamtzahl der Aktien und der Stimmrechte im Zeitpunkt der Einberufung, einschließlich getrennter Angaben zur Gesamtzahl für jede Aktiengattung;

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§ 124a

Veröffentlichungen auf der Internetseite der Gesellschaft

5. gegebenenfalls die Formulare, die bei Stimmabgabe durch Vertretung oder bei Stimmabgabe mittels Briefwahl zu verwenden sind, sofern diese Formulare den Aktionären nicht direkt übermittelt werden. 2

Ein nach Einberufung der Versammlung bei der Gesellschaft eingegangenes Verlangen von Aktionären im Sinne von § 122 Abs. 2 ist unverzüglich nach seinem Eingang bei der Gesellschaft in gleicher Weise zugänglich zu machen.

Literatur: Drinhausen/Keinath, BB-Rechtsprechungs- und Gesetzgebungsreport zum Hauptversammlungsrecht 2009, BB 2010, 3; Förster, Aktionärsrechte in der Hauptversammlung – quo vaditis?, AG 2011, 362; Hecker/Bröcker, Die CSR-Berichtspflicht in der Hauptversammlungssaison 2018, AG 2017, 761; Höreth/Linnerz, Die Terminplanung der Hauptversammlung nach ARUG – Handlungsempfehlungen für die Praxis, GWR 2010, 155; Horn, Änderungen bei der Vorbereitung und Durchführung der Hauptversammlung nach dem Referentenentwurf zum ARUG, ZIP 2008, 1558; v. Nussbaum, Neue Wege zur Online-Hauptversammlung durch das ARUG, GWR 2009, 215; Paschos/Goslar, Der Regierungsentwurf des Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG), AG 2009, 14.

Übersicht I. Regelungsgehalt und Bedeutung ... 1 II. Relevante Informationen und Unterlagen ........................................ 3 I.

III. Modalitäten ........................................ 9 IV. Rechtsfolgen von Verstößen .......... 12

Regelungsgehalt und Bedeutung

1 Bei börsennotierten Gesellschaften müssen alsbald (siehe unten Rz. 9) nach der Einberufung bestimmte Unterlagen und Informationen über die Internetseite der Gesellschaft zugänglich sein. Diese wird so „zum zentralen Medium des Informationsaustauschs zwischen Gesellschaft und Aktionär“.1) Das Gesetz definiert weder hier noch an anderen Stellen, an denen der Begriff benutzt wird, was die „Internetseite der Gesellschaft ist“. Zwar muss die Veröffentlichung dort selbst geschehen und darf sich nicht auf eine externe Verlinkung beschränken. Da Zweck des Erfordernis aber das leichte Auffinden für die Aktionäre ist, kann es nur darauf ankommen, dass es sich um die Seite handelt, mit der sich die Gesellschaft auch sonst für Zwecke des Aktionärsdialogs im Internet präsentiert. Das muss nicht dieselbe Seite sein, auf der der Kundendialog stattfindet. Unerheblich ist daher auch, auf wen die Domain registriert ist und wer die Seite technisch betreibt. Das spielt für das Informationsinteresse der Aktionäre keine Rolle. 2 Der DCGK ging früher etwas darüber hinaus, indem danach die Unterlagen auf der Internetseite „leicht erreichbar“ sein sollten (Ziff. 2.3.1 a. F.). Das war ohnehin kaum justiziabel. II.

Relevante Informationen und Unterlagen

3 Der Wortlaut („über die Internetseite“) ist so zu verstehen, dass die Informationen tatsächlich auf der Internetseite der Gesellschaft zugänglich sein müssen; eine Verlinkung auf eine Drittseite ist unzureichend.2) Zugänglich zu machen ist zunächst der Inhalt der Einberufung (§ 124a Satz 1 Nr. 1); dieser bestimmt sich nach § 121 Abs. 3. Erfasst sind auch die Beschlussvorschläge der Verwaltung nach § 124 Abs. 3.3) Insbesondere die Ein_____________ 1) 2) 3)

Begr. RegE ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 30. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124a AktG Rz. 5; unter Verweis auf die Art. 5 Abs. 4 der Aktionärsrechterichtlinie Kubis in: MünchKomm-AktG, § 124a Rz. 5. Begr. RegE ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 30.

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Veröffentlichungen auf der Internetseite der Gesellschaft

§ 124a

berufung nach § 124a Satz 1 Nr. 1 kann bereits Angaben nach den nachfolgenden Nummern enthalten. Eine doppelte Wiedergabe ist dann und auch allgemein nicht notwendig. Beschlusslose Tagesordnungspunkte sind vom Vorstand als einberufendem Organ (§ 121 4 Abs. 2)4) zu erläutern (§ 124a Satz 1 Nr. 2), d. h. deren Inhalt kurz zu beschreiben, um den fehlenden Beschlussvorschlag zu kompensieren.5) Auf der Internetseite sind ferner gemäß § 124a Satz 1 Nr. 3 sämtliche Unterlagen einzu- 5 stellen, die der Hauptversammlung je nach den anstehenden Tagesordnungspunkten nach den Vorschriften des AktG und anderer Gesetze zugänglich zu machen sind.6) § 124a Satz 1 Nr. 4 sieht vor, dass die Gesamtzahl der Aktien (unter Einrechnung eigener 6 Aktien)7) und der Stimmrechte im Zeitpunkt der Einberufung, einschließlich getrennter Angaben zur Gesamtzahl für jede Aktiengattung, zu nennen ist. Dies entspricht weitgehend der Veröffentlichungspflicht aus § 49 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WpHG, der in der Praxis bereits durch Wiedergabe der Gesamtzahl der Aktien und der Stimmrechte in der Einberufung nachgekommen wird.8) Soweit die Gesellschaft Formulare vorhält, die bei der Stimmabgabe durch Vertretung 7 oder mittels Briefwahl zu verwenden sind, sind auch diese zugänglich zu machen, wenn sie nicht direkt an die Aktionäre übermittelt werden (§ 124a Satz 1 Nr. 5). Nur verbindlich zu benutzende Formulare sind erfasst.9) Die Bereitstellung von Internetdialogen ist zulässig und genügend.10) Auch Ergänzungsverlangen nach § 122 Abs. 2 sind auf der Internetseite zugänglich zu 8 machen (§ 124a Satz 2), wenn sie zulässig sind. III.

Modalitäten

Die in § 124a Satz 1 genannten Informationen und Unterlagen sind „alsbald“ nach der Ein- 9 berufung der Hauptversammlung auf der Website einzustellen. Die Verwendung dieses nicht legaldefinierten Begriffs hat in der Literatur zu Recht Kritik erfahren.11) Nach der Gesetzesbegründung bedeutet „alsbald“, dass die Informationen nach der Bekanntmachung im Bundesanzeiger auf die Unternehmenswebsite eingestellt werden müssten, was aber erfahrungsgemäß schon wegen der betriebsinternen Abläufe und der erforderlichen Technik eine gewisse Zeit benötige.12) Ein Einstellen am Tag nach Veröffentlichung der Einberufung im Bundesanzeiger wird überwiegend als ausreichend erachtet (siehe aber auch Rz. 10).13)

_____________ 4) Es ist umstritten, ob dies auch gilt, wenn Aktionäre aufgrund gerichtlicher Ermächtigung nach § 122 Abs. 3 die Hauptversammlung einberufen, dafür Horn, ZIP 2008, 1558, 1561, Fn. 43; dagegen Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124a AktG Rz. 11. 5) Vgl. Horn, ZIP 2008, 1558, 1561; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 124a Rz. 2. 6) Z. B. §§ 52 Abs. 2 Satz 2, 175 Abs. 2 Satz 1, 176 Abs. 1 Satz 1, 179a Abs. 2 Satz 1, 293f Abs. 1, 319 Abs. 3 Satz 1, 327c Abs. 3 AktG, § 63 Abs. 1 UmwG. Zum nichtfinanziellen Bericht in diesem Zusammenhang Hecker/Bröcker, AG 2017, 761, 768. 7) Begr. RegE ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 30. 8) Vgl. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124a AktG Rz. 15; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 124a Rz. 30. 9) Begr. RegE ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 30. 10) Höreth/Linnerz, GWR 2010, 155; v. Nussbaum, GWR 2009, 215, 218; Paschos/Goslar, AG 2009, 14, 17. 11) Vgl. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124a AktG Rz. 4 m. w. N.; Paschos/Goslar, AG 2009, 14, 17. 12) Begr. RegE ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 30. 13) Drinhausen/Keinath, BB 2010, 3, 5; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124a AktG Rz. 4, der in Ausnahmefällen auch zwei bis drei Tage nach der Einberufung ausreichen lässt.

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10 Zu beachten aber ist, dass durch die Zugänglichmachung auf der Internetseite die Auslegungs- und Zusendungspflichten der Gesellschaft nach vielen Vorschriften entfallen,14) aber nur wenn die betreffenden Unterlagen schon ab der Einberufung zur Verfügung stehen. 11 Ergänzungsverlangen nach § 122 Abs. 2 sind unverzüglich (§ 121 Abs. 1 Satz 1 BGB) nach ihrem Eingang bei der Gesellschaft auf der Internetseite einzustellen (§ 124a Satz 2). Dem Vorstand steht eine angemessene Frist zur Prüfung des Ergänzungsverlangens zu (siehe § 124 Rz. 3).15) IV.

Rechtsfolgen von Verstößen

12 Verstöße gegen § 124a selbst führen nicht zur Anfechtbarkeit gleichwohl gefasster Hauptversammlungsbeschlüsse, § 243 Abs. 3 Nr. 2.16) Die Anfechtbarkeit gemäß § 243 Abs. 1 kann sich aber aus Verstößen gegen sonstige Auslegungs- und Zusendungspflichten der Gesellschaft (siehe Rz. 10) ergeben, sofern die entsprechenden Unterlagen nicht ab dem Zeitpunkt der Einberufung auf der Internetseite der AG zugänglich gemacht werden.17) Verstöße gegen § 124a stellen eine Ordnungswidrigkeit dar, § 405 Abs. 3a Nr. 2. _____________ 14) Vgl. z. B. §§ 52 Abs. 2 Satz 4, 175 Abs. 2 Satz 4, 179a Abs. 2 Satz 3, 293f Abs. 3, 319 Abs. 3 Satz 3, 327c Abs. 5 AktG, § 63 Abs. 4 UmwG. 15) Drinhausen/Keinath, BB 2010, 3, 5; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 124a AktG Rz. 19. 16) Vgl. auch Begr. RegE ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 30. 17) Dazu etwa Hennrichs/Pöschke in: MünchKomm-AktG, § 175 Rz. 23, 43.

§ 125 Mitteilungen für die Aktionäre und an Aufsichtsratsmitglieder Dirk Kocher

(1) 1Der Vorstand einer Gesellschaft, die nicht ausschließlich Namensaktien ausgegeben hat, hat die Einberufung der Hauptversammlung mindestens 21 Tage vor derselben wie folgt mitzuteilen: 1. den Intermediären, die Aktien der Gesellschaft verwahren, 2. den Aktionären und Intermediären, die die Mitteilung verlangt haben, und 3. den Vereinigungen von Aktionären, die die Mitteilung verlangt haben oder die in der letzten Hauptversammlung Stimmrechte ausgeübt haben. 2

Der Tag der Mitteilung ist nicht mitzurechnen. 3Ist die Tagesordnung nach § 122 Abs. 2 zu ändern, so ist bei börsennotierten Gesellschaften die geänderte Tagesordnung mitzuteilen. 4In der Mitteilung ist auf die Möglichkeiten der Ausübung des Stimmrechts durch einen Bevollmächtigten, auch durch eine Vereinigung von Aktionären, hinzuweisen. 5Bei börsennotierten Gesellschaften sind einem Vorschlag zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern Angaben zu deren Mitgliedschaft in anderen gesetzlich zu bildenden Aufsichtsräten beizufügen; Angaben zu ihrer Mitgliedschaft in vergleichbaren in- und ausländischen Kontrollgremien von Wirtschaftsunternehmen sollen beigefügt werden. (2) Die gleiche Mitteilung hat der Vorstand einer Gesellschaft, die Namensaktien ausgegeben hat, den zu Beginn des 21. Tages vor der Hauptversammlung im Aktienregister Eingetragenen zu machen sowie den Aktionären und Intermediären, die die Mitteilung verlangt haben, und den Vereinigungen von Aktionären, die die Mitteilung verlangt oder die in der letzten Hauptversammlung Stimmrechte ausgeübt haben.

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Mitteilungen für die Aktionäre und an Aufsichtsratsmitglieder

§ 125

(3) Jedes Aufsichtsratsmitglied kann verlangen, daß ihm der Vorstand die gleichen Mitteilungen übersendet. (4) Jedem Aufsichtsratsmitglied und jedem Aktionär sind auf Verlangen die in der Hauptversammlung gefassten Beschlüsse mitzuteilen. (5) 1Für Inhalt und Format eines Mindestgehaltes an Informationen in den Mitteilungen gemäß Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2 gelten die Anforderungen der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212. 2§ 67a Absatz 2 Satz 1 gilt für die Absätze 1 und 2 entsprechend. 3Bei börsennotierten Gesellschaften sind die Intermediäre, die Aktien der Gesellschaft verwahren, entsprechend den §§ 67a und 67b zur Weiterleitung und Übermittlung der Informationen nach den Absätzen 1 und 2 verpflichtet, es sei denn, dem Intermediär ist bekannt, dass der Aktionär sie von anderer Seite erhält. 4Das Gleiche gilt für nichtbörsennotierte Gesellschaften mit der Maßgabe, dass die Bestimmungen der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 nicht anzuwenden sind. Literatur: Kuntz, Kommunikation mit Aktionären nach ARUG II, AG 2020, 18; Paschos/Goslar, Der Regierungsentwurf des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II), AG 2019, 365; Paschos/Goslar, Der Referentenentwurf des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) aus Sicht der Praxis, AG 2018, 857; Zetzsche, Aktionärsidentifikation, Aktionärslegitimation und das Hauptversammlungsverfahren nach ARUG II, AG 2020, 1; Zipperle/Lingen, Das Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie im Überblick, BB 2020, 131.

Übersicht I. Regelungsgegenstand ....................... 1 II. Mitteilungspflichten im Vorfeld der Hauptversammlung (§ 125 Abs. 1 – 3 und Abs. 5) ........................ 3 1. Mitteilungsempfänger ........................ 3 a) Auch Inhaberaktien (§ 125 Abs. 1) .......................................... 4 b) Namensaktien (§ 125 Abs. 2) ...... 7 2. Mitteilungsinhalt (§ 125 Abs. 1 und 5) .................................................. 9 a) Mitteilungsinhalte nach § 125 Abs. 1 ................................ 10 b) Mitteilungsinhalte nach § 125 Abs. 5 ................................ 16 3. Format und Zuleitung (§ 125 Abs. 5) ............................................... 19 a) Intermediäre und Aktionärsvereinigung ................................. 19 I.

b) Aktionäre .................................... c) Mitteilungen nach § 125 Abs. 3 .......................................... 4. Fristen ............................................... a) Mitteilungen nach § 125 Abs. 1 (Inhaberaktien) .............. b) Mitteilungen nach § 125 Abs. 2 (Namensaktien) .............. c) Mitteilungen nach § 125 Abs. 3 .......................................... 5. Rechtsfolgen ..................................... III. Mitteilung gefasster Beschlüsse nach der Hauptversammlung (§ 125 Abs. 4) ................................... 1. Mitteilungsempfänger ...................... 2. Mitteilungsinhalt .............................. 3. Form und Frist ................................. 4. Rechtsfolge bei Verstößen ...............

21 23 24 24 27 28 29

30 30 31 32 33

Regelungsgegenstand

Die Norm regelt schwerpunktmäßig die Übermittlung der Hauptversammlungseinladung 1 und dient damit der Information vor allem der Aktionäre in Ergänzung zur Bekanntmachung nach § 121 Abs. 4 und 4a. Der Übermittlungsvorgang wurde im Zuge des ARUG II1) vollständig neu geregelt und übernimmt nun auch Aufgaben des in diesem Zusammenhang _____________ 1)

Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2637.

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Mitteilungen für die Aktionäre und an Aufsichtsratsmitglieder

aufgehobenen § 128 a. F.2) Die Norm ist lex specialis zur allgemeinen Informationsübermittlungsnorm für börsennotierte Unternehmen in § 67a (§ 67a Abs. 1 Satz 2).3) 2 Verpflichteter ist trotz des missverständlichen Wortlauts („Vorstand“) die Gesellschaft, die sich auch Dienstleistern bedienen darf.4) II.

Mitteilungspflichten im Vorfeld der Hauptversammlung (§ 125 Abs. 1 – 3 und Abs. 5)

1.

Mitteilungsempfänger

3 Mitteilungsempfänger sind zunächst immer Aufsichtsratsmitglieder, die dies verlangen (§ 125 Abs. 3). Eine einmalige Äußerung des Verlangens durch die Aufsichtsratsmitglieder für deren gesamte Amtszeit ist möglich.5) Hinsichtlich der Übermittlung in Richtung der Aktionäre unterscheidet die Regelung danach, ob mind. auch Inhaberaktien ausgegeben wurden (§ 125 Abs. 1) oder (nur) Namensaktien (§ 125 Abs. 2), um Doppelmitteilungen zu reduzieren.6) Die Berechtigten sollen nach bestrittener Ansicht durch widerrufliche Weisung auf die Übermittlung verzichten können; der Streit hat für die Praxis keine große Bedeutung,7) außer vielleicht für Zentralverwahrer. a)

Auch Inhaberaktien (§ 125 Abs. 1)

4 Hat die Gesellschaft mindestens auch Inhaberaktien ausgegeben, müssen die Mitteilungen zunächst an alle Intermediäre erfolgen, die Aktien der Gesellschaft verwahren; bei ihnen kommt es also nicht auf Verlangen oder Stimmrechtsausübung an. Streitig ist der Begriff der Verwahrung: Setzt man voraus, dass Aktienurkunden physisch verwahrt werden, trifft das praktisch nur auf Zentralverwahrer, in Deutschland also die Clearstream Banking AG, zu.8) Versteht man den Begriff weiter, sind die Letztintermediäre gemeint.9) Zu deren Weiterleitungspflichten siehe Rz. 9 ff. 5 Aktionären und Intermediären, die dies verlangt haben, ist die Mitteilung ebenso zu machen. Schließlich muss sie auch an Aktionärsvereinigungen erfolgen, die es verlangt oder in der letzten Hauptversammlung Stimmrechte ausgeübt haben. 6 Aktionärsvereinigungen sind auf Dauer angelegte Personenzusammenschlüsse, deren Hauptzweck darin besteht, Aktionärsrechte in organisierter Form auszuüben.10) Ob Stimmrechte ausgeübt wurden (Enthaltungen sollen genügen), hat die Gesellschaft anhand des Teilnehmerverzeichnisses und ihrer weiteren Unterlagen selbst zu prüfen.11) Vorzugsaktien sind damit mangels Stimmrecht außer bei Sonderbeschlüssen nach bestrittener Ansicht nicht erfasst, was aber wegen der Möglichkeit eines Verlangens richtigerweise hinnehmbar

_____________ 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9) 10) 11)

Vgl. Paschos/Goslar, AG 2018, 857, 874; Zetzsche, AG 2020, 1, 13. Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 1. Vgl. nur Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 9 m. w. N. So h. M., vgl. nur Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 125 Rz. 3 f.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 125 Rz. 47 m. w. N.; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 125 Rz. 146. Paschos/Goslar, AG 2019, 365, 367. Ebenso mit Nachweisen zu den Meinungen Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 3. So Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 4. So Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 12. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 17 m. w. N.; Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 7. Allg. M., vgl. nur Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 18 m. w. N.; Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 7.

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ist.12) Das Mitteilungsverlangen kann formlos erfolgen, eine Frist besteht nicht.13) Ein Versand noch nach z. B. Ablauf der Anmeldefrist erscheint zwar sinnlos, sollte aber angesichts des offenen Wortlauts im Zweifel eher vorgenommen werden.14) Inwieweit die Aktionärseigenschaft nachzuweisen ist, wird unterschiedlich beurteilt, sodass auch hier im Zweifel eher großzügig verfahren werden sollte.15) Ein Verlangen vor jeder Hauptversammlung wird überwiegend nicht für erforderlich gehalten, vielmehr sei ein Dauerverlangen möglich.16) Intermediäre können sich die Informationen für ihre Weiterleitung statt durch Anforderung auch auf anderem Wege beschaffen.17) b)

Namensaktien (§ 125 Abs. 2)

Hat die Gesellschaft Namensaktien ausgegeben, sind Mitteilungsempfänger die Inhaber von 7 Namensaktien, die zu Beginn des 21. Tages (nach altem Recht vor ARUG II war es der 14. Tag) vor der Hauptversammlung im Aktienregister eingetragen sind; ein Eintragungsantrag allein genügt nicht.18) Weitere Rechtsfolgen hat der 21. Tag bei Namensaktien anders als bei Inhaberaktien nicht.19) Zu Besonderheiten bei pandemiebedingten Verkürzungen der Einberufungsfrist und weiterführenden Gesetzgebungsplänen siehe § 118 Rz. 30 ff. Ebenso berechtigt sind sonstige Aktionäre und Intermediäre, die die Mitteilung verlangt 8 haben.20) Schließlich sind auch hier Aktionärsvereinigungen erfasst, die es verlangt oder in der letzten Hauptversammlung Stimmrechte ausgeübt haben. Insoweit kann auf die Ausführungen zu Absatz 1 (siehe Rz. 6) verwiesen werden. 2.

Mitteilungsinhalt (§ 125 Abs. 1 und 5)

Für den Mitteilungsinhalt wird nicht zwischen den Aktienarten unterschieden; § 125 Abs. 2 9 verweist insoweit auf Absatz 1. Daneben ist jeweils § 125 Abs. 5 zu beachten. a)

Mitteilungsinhalte nach § 125 Abs. 1

Gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 ist die Einberufung der Hauptversammlung so, wie sie tatsächlich 10 veröffentlicht wurde, mit dem in § 121 Abs. 3 i. V. m. § 124 Abs. 3 und ggf. § 124 Abs. 2 vorgesehenen Inhalt zu übermitteln, eine Kurzfassung ist nicht ausreichend.21) Nur börsennotierte Gesellschaften haben nach § 125 Abs. 1 Satz 3 im Falle eines zulässigen Ergänzungsverlangens nach § 122 Abs. 2 auch die geänderte Tagesordnung mitzuteilen. Wird einem verfristeten Ergänzungsverlangen stattgegeben, so ist auch die daraufhin ge_____________ 12) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 125 Rz. 120; a. A. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 18; kritisch und mit der Empfehlung zu großzügiger Handhabung Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 7. 13) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 125 Rz. 5 m. w. N.; Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 5; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 14 und Rz. 16. 14) Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 5 f. – mit Darstellung des Streitstandes hierzu. 15) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 13; Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 5. 16) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 125 Rz. 31; Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 5 f.; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 125 Rz. 126; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 125 Rz. 4; ablehnend HöltersDrinhausen, AktG, § 125 Rz. 2; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 125 Rz. 5; Bürgers/Körber/ Lieder-Reger, AktG, § 125 Rz. 3. 17) Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 6. 18) Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 9; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 21. 19) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 21; Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 9. 20) Der Wortlaut erfasst dagegen nicht sonstige Intermediäre, außer wenn sie selbst im Register stehen, vgl. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 19 gegen Zetzsche, AG 2020, 1, 14 f. 21) Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 13; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 125 Rz. 5. Zweifelnd, inwieweit Abs. 5 nunmehr abschließend ist, Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 27 f.

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§ 125

Mitteilungen für die Aktionäre und an Aufsichtsratsmitglieder

änderte Tagesordnung mitzuteilen.22) Entgegen dem vermeintlichen Wortlaut genügt dafür auch eine getrennte Mitteilung, wenn sie klar genug ist, so dass für den Aktionär keine Zweifel entstehen.23) 11 Weiter ist gemäß § 125 Abs. 1 Satz 4 darauf hinzuweisen, dass der Aktionär sich vertreten lassen kann, insbesondere auch durch eine Aktionärsvereinigung. Diese Pflicht trifft alle AGs und nicht nur solche, die börsennotiert sind.24) Ein gesonderter Hinweis ist richtigerweise entbehrlich, wenn er, wie üblich, schon in den Teilnahmebedingungen enthalten ist. Ein Verstoß gegen die Hinweispflicht führt nach OLG München zur Anfechtbarkeit des Hauptversammlungsbeschlusses gemäß § 243 Abs. 1.25) 12 Gemäß § 125 Abs. 1 Satz 5 Halbs. 1 haben börsennotierte Gesellschaften Vorschlägen zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern Angaben zu deren Mitgliedschaft in anderen gesetzlich zu bildenden Aufsichtsräten beizufügen.26) Hiermit sind richtigerweise nur nach deutschem Recht zu bildende Aufsichtsräte gemeint.27) Erfasst sind die bei der AG, der KGaA und der SE sowie nach dem Mitbestimmungsrecht28) vorgeschriebenen Aufsichtsräte. 13 Maßgeblicher Zeitpunkt für das Bestehen der genannten Mitgliedschaften ist die Abfassung des Wahlvorschlags.29) Änderungen in diesem Zusammenhang können bis zur Mitteilungsabfassung berücksichtigt oder aber danach auf der Hauptversammlung mitgeteilt werden.30) 14 Weiter sollen gemäß § 125 Abs. 1 Satz 5 Halbs. 2 auch Angaben zur Mitgliedschaft in vergleichbaren in- und ausländischen Kontrollgremien von Wirtschaftsunternehmen – nicht also von karitativen oder wissenschaftlichen Einrichtungen31) – gemacht werden. Maßgeblich ist hierbei die funktionelle Vergleichbarkeit, d. h. die Kompetenzen des Gremiums.32) Ein Unterlassen dieser Angaben führt nicht zur Anfechtbarkeit der in der Hauptversammlung gefassten Beschlüsse.33) 15 In der Praxis sind die nach § 125 Abs. 1 Satz 5 erforderlichen Informationen regelmäßig in der Einberufung enthalten. Eine doppelte Erwähnung ist nicht erforderlich, ebenso wenig eine Fehlanzeige.34) _____________ 22) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 30; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 125 Rz. 11. 23) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 125 Rz. 28; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 30; Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 14; a. A. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 125 Rz. 13. 24) OLG München, Urt. v. 4.7.2018 – 7 U 131/18, AG 2019, 266, 268; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 31; a. A. Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 125 Rz. 33. 25) OLG München, Urt. v. 4.7.2018 – 7 U 131/18, AG 2019, 266, 268. 26) Die überzeugende h. L. will die Pflicht der Gesellschaft auf Fälle begrenzen, in denen der Wahlvorschlag von der Verwaltung kommt, etwa Hölters-Drinhausen, AktG, § 125 Rz. 10; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 125 Rz. 6; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 125 Rz. 41; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 27; a. A. unter Hinweis auf das Ziel umfassender Transparenz Kubis in: MünchKommAktG, § 125 Rz. 13. 27) Schröer, ZIP 1999, 1163, 1163 m. w. N.; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 125 Rz. 14; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 35; a. A. Schütze, AG 1967, 342. 28) § 6 Abs. 1 MitbestG, § 1 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 DrittelbG, § 3 Abs. 1 Montan-MitbestG, § 3 Abs. 1 Satz 2 Montan-MitbestGErgG. 29) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 35 m. w. N.; Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 17; a. A. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 125 Rz. 14, welchem zufolge der Tag der Übersendung der Mitteilung nach § 125 Abs. 1 maßgeblich ist. 30) Begr. RegE KonTraG, BT-Drucks. 13/9712, S. 17. 31) Begr. RegE KonTraG, BT-Drucks. 13/9712, S. 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 125 Rz. 6. 32) Schröer, ZIP 1999, 1163, 1165; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 36 m. w. N. 33) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 125 Rz. 41 m. w. N.; Hölters-Drinhausen, AktG, § 125 Rz. 14. 34) Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 17.

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Mitteilungen für die Aktionäre und an Aufsichtsratsmitglieder b)

§ 125

Mitteilungsinhalte nach § 125 Abs. 5

Hier ist die Systematik etwas unübersichtlich. Die teilweise Ausnahme für nicht börsen- 16 notierte Gesellschaften in § 125 Abs. 5 Satz 4 bezieht sich nicht auf den Mitteilungsinhalt nach Satz 1.35) Für den Mitteilungsinhalt36) verweist § 125 Abs. 5 Satz 1 auf die Durchführungsverord- 17 nung (EU) 2018/121237). Sie sind dort in Art. 4 i. V. m. Tabelle 3 des Anhangs geregelt. Diese sind sehr umfangreich und umfassen anders als das bisherige Aktienrecht in §§ 121 und 123 für Zeitangaben jeweils auch die Angabe der Zeitzone und eine Zeitangabe im UTC-Format. Anders als beim Inhalt der Einberufung ist hier auch die Gesellschaft Normadressatin, so dass es sich anbieten kann, diese Angaben auch jeweils schon mit in die Einberufung und nicht nur isoliert in die Mitteilung aufzunehmen. Durch den Verweis auf Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/ 18 1212 werden börsennotierte Gesellschaften die Mitteilungsinhalte nach § 125 Abs. 5 jedenfalls in deutscher und englischer Sprache vorlegen müssen.38) Zu weiteren Vorgaben der Durchführungsverordnung siehe auch unten Rz. 19. 3.

Format und Zuleitung (§ 125 Abs. 5)

a)

Intermediäre und Aktionärsvereinigung

Jedenfalls den Intermediären39) sind die Mitteilungen nach § 125 Abs. 1 und 2 elektro- 19 nisch zu übermitteln (§ 125 Abs. 5 Satz 3 und 4 i. V. m. § 67a)40), die ihrerseits zur Weiterleitung verpflichtet sind, wenn die Informationen nicht schon anderweitig erhalten werden. Das gilt unabhängig von der Börsennotierung der Gesellschaft, wobei aber nach § 125 Abs. 5 Satz 4 nur bei börsennotierten Gesellschaften noch die Regelungen der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 zu beachten sind.41) Erforderlich ist eine aktive Übermittlung, also nicht nur ein Einstellen auf die Internetseite.42) Allerdings erlaubt Tabelle 3 des Anhangs zur Durchführungsverordnung in ihrem Einleitungssatz eine Übermittlung mit eingeschränktem Inhalt (Blöcke A, B und C der Tabelle), wenn die übrigen Informationen auf der Internetseite verfügbar sind und ein Hyperlink mitübermittelt wird. Der Bankenverband empfiehlt hingegen aus technischer Sicht das Ausfüllen aller Blöcke.43) 20 Außerdem empfiehlt er, in der Tabelle das Record Date mit dem Ende des 22. Tages vor der Hauptversammlung statt mit dem Beginn des 21. Tages anzugeben, wie § 123 Abs. 4

_____________ 35) Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 13. 36) Zu diesem Charakter Zetzsche, AG 2020, 1, 15. 37) Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 der Kommission v. 3.9.2018 zur Festlegung von Mindestanforderungen zur Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die Identifizierung der Aktionäre, die Informationsübermittlung und die Erleichterung der Ausübung der Aktionärsrechte, ABl. (EU) L 223/1 v. 4.9.2018. 38) Näher Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 38. 39) Bei Aktionärsvereinigungen ist dies str. Dagegen Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 42. Dafür Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 18. 40) Zipperle/Lingen, BB 2020, 131, 137; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 37. 41) Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 18 i. V. m. § 67a Rz. 30; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 37. Ausführlich zu den Inhalten der einzelnen Tabellenfelder Umsetzungsleitfaden des Bankenverbandes, Modul 2: Hauptversammlung v. 19.11.2020. Abrufbar unter: https://bankenverband.de/media/files/ 2020-11-19-leitfaden-modul2-hv-final.pdf. 42) Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 18. 43) Umsetzungsleitfaden des Bankenverbandes, Modul 2: Hauptversammlung v. 19.11.2020, S. 5. Abrufbar unter: https://bankenverband.de/media/files/2020-11-19-leitfaden-modul2-hv-final.pdf.

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§ 125

Mitteilungen für die Aktionäre und an Aufsichtsratsmitglieder

das eigentlich vorsieht.44) Hier besteht eine technische Unsicherheit, wobei man dies dadurch abmildern sollte, dass jedenfalls dann kein Einberufungsmangel vorliegt, wenn es nicht zu Anmeldeschwierigkeiten für die Aktionäre kommt. In der Einladung sollte in jedem Fall der aktienrechtliche Termin angegeben werden, evtl. mit einem erläuternden Hinweis, dass und warum in der Tabelle ein (scheinbar) abweichender Termin angegeben wird. b)

Aktionäre

21 Für Mitteilungen an Aktionäre fehlen präzise Vorgaben zur Übermittlungstechnik. Art. 2 Abs. 4 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 enthält nur eine Vorgabe für das Format der Weiterleitung von Intermediären an Aktionäre durch „allgemein verfügbare Instrumente und Fazilitäten“. Es ist daher unklar, inwieweit eine rein elektronische Übermittlung per E-Mail hier genügt, jedenfalls wenn eine entsprechende Satzungsregelung vorliegt, für die das Gesetz jetzt aber keine Grundlage mehr vorsieht.45) 22 Bei börsennotierten Gesellschaften deutscher Herkunft ist dabei noch das Spannungsverhältnis zu § 49 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 WpHG zu beachten: Das dortige sichere Identifikationserfordernis wird bei Inhaberaktien oft kaum zu gewährleisten sein. Außerdem ist die (widerrufliche) Zustimmung jedes einzelnen Aktionärs erforderlich,46) die teilweise konkludent in der ansonsten widerspruchslosen Angabe einer E-Mail-Adresse gesehen wird.47) Immerhin ist die Anfechtung wegen Verstößen hiergegen nach § 52 WpHG ausgeschlossen. c)

Mitteilungen nach § 125 Abs. 3

23 Es ist umstritten, ob hier durch die Beibehaltung des Wortes „übersendet“ Papierform erforderlich ist.48) Dies ist richtigerweise abzulehnen; eine elektronische Übermittlung ist zulässig. 4.

Fristen

a)

Mitteilungen nach § 125 Abs. 1 (Inhaberaktien)

24 Die Mitteilung ist bei Inhaberaktion spätestens 21 Tage vor der Hauptversammlung zu bewirken, wobei gemäß § 125 Abs. 1 Satz 2 der Tag der Mitteilung nicht mitzurechnen ist. Abzustellen ist richtigerweise auf die Absendung.49) Zu Besonderheiten bei pandemiebedingten Verkürzungen der Einberufungsfrist und weiteren Gesetzgebungsplänen siehe § 118 Rz. 30 ff. Für die Fristberechnung gilt § 121 Abs. 7.50) Für Übernahmesachverhalte gilt § 16 Abs. 4 Satz 5 WpÜG.51) 25 Bei börsennotierten Gesellschaften ist daneben Art. 9 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 zu beachten, der aber eigentlich in seinem § 125 Abs. 1 eine Übermittlung spätestens am Geschäftstag nach Bekanntgabe verlangt. Der deutsche Gesetzgeber scheint _____________ 44) Arg. aus Art. 1 Nr. 7 der Durchführungsverordnung und wegen des Problems, dass Tabelle 3 keine Uhrzeiten vorsieht: Umsetzungsleitfaden des Bankenverbandes, Modul 2: Hauptversammlung v. 19.11.2020, S. 13. Abrufbar unter: https://bankenverband.de/media/files/2020-11-19-leitfaden-modul2-hv-final.pdf. 45) Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 19; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 44. 46) Zum Ganzen Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 20 mit der Schlussfolgerung, dass sich Papierversand kaum gänzlich ausschließen lassen wird. Vgl. auch Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 45 f. 47) So von Zetzsche, AG 2020, 1, 15; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 45. 48) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 125 Rz. 16, 14; nur bei Einwilligung elektronische Mitteilung zulassend: K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 125 Rz. 50; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 125 Rz. 80; Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 21; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 47. 49) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 50; Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 22; str. 50) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 48; Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 22. 51) Vgl. hierzu Kubis in: MünchKomm-AktG, § 125 Rz. 52.

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Mitteilungen für die Aktionäre und an Aufsichtsratsmitglieder

§ 125

das übersehen zu haben, was zu Rechtsunsicherheit führt:52) Soll zu zwei Zeitpunkten versandt werden, gilt nur § 125 Abs. 1, weil dieser europarechtlich zulässig den relevanten Geschäftstag definiert53) oder kommt es nur auf den Geschäftstag nach der Veröffentlichung der Einladung an, weil dieser ja nach § 125 Abs. 1 zulässig wäre, da er mindestens 21 Tage vor der Hauptversammlung liegt? Die Frage muss als ungeklärt gelten, so dass es wichtig ist, dass jedenfalls die Anfechtung richtigerweise ausgeschlossen ist, wenn genug Zeit für die Aktionäre bleibt, was bei Einhaltung der Frist in § 125 Abs. 1 der Fall ist (siehe dazu unten Rz. 27). Von technischer Seite wird auch erwogen und angeboten, die Mitteilung i. S. der erstgenannten Ansicht mit Einberufungsveröffentlichung als „unvollständig“ und dann noch einmal 21 Tage vor der Versammlung als „vollständig“ zu übermitteln. Bei Entstehung einer Mitteilungspflicht nach diesem Stichtag (z. B. bei Verlangen) ist diese 26 jeweils unverzüglich zu erfüllen.54) b)

Mitteilungen nach § 125 Abs. 2 (Namensaktien)

Die Frist des § 125 Abs. 1 gilt bei Namensaktien nicht, was sinnvoll ist, weil es für die Mit- 27 teilung hier darauf ankommt, wer zu Beginn des 21. Tages vor der Hauptversammlung im Aktienregister eingetragen ist.55) Die Versendung hat daher unverzüglich nach dem Stichtag zu erfolgen.56) Zu Besonderheiten bei pandemiebedingten Verkürzungen der Einberufungsfrist und weiteren Gesetzgebungsplänen siehe § 118 Rz. 30 ff. Eine Nichteinhaltung der Frist ist unbeachtlich, wenn dem Aktionär noch genügend Zeit zur Vorbereitung auf die Hauptversammlung bleibt.57) c)

Mitteilungen nach § 125 Abs. 3

Mitteilungen an Aufsichtsratsmitglieder haben unverzüglich zu erfolgen.58) 5.

28

Rechtsfolgen

Außer bei den Sollvorschriften nach § 125 Abs. 1 Satz 5 Halbs. 2 (siehe dazu Rz. 14) führt 29 eine Verletzung des § 125 Abs. 1, 2, 3 und 5 zur Beschlussanfechtbarkeit, wenn sie für das Zustandekommen relevant war.59) Irrelevant ist ein Verstoß gegen Mitteilungspflichten, wenn ein fiktiver Durchschnittsaktionär trotz Kenntnis des Fehlers dem Beschlussantrag zugestimmt hätte.60) Zu bejahen ist die Relevanz in der Regel beim vollständigen Unterlassen der Mitteilung, nicht aber beim versehentlichen Unterlassen der Mitteilung an einzelne Aktionäre oder Aufsichtsratsmitglieder.61) Auch geringfügige Fristüberschreitungen sollten unschädlich sein;62) daher empfiehlt sich bei Versäumnissen immer eine möglichst schnelle Nachholung.63) _____________ 52) 53) 54) 55) 56) 57) 58) 59) 60) 61) 62) 63)

Ausführlich Zetzsche, AG 2020, 1, 13 f. Hierfür (ohne anderes Vorgehen auszuschließen) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 54. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 50 f. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 125 Rz. 29 m. w. N.; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 55. RegBegr, BT-Drucks. 19/9739 S. 96; Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 23; Rieckers in: BeckOGKAktR, § 125 AktG Rz. 55. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 125 Rz. 42. Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 23. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 125 Rz. 22; Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 26. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 125 Rz. 39; ähnlich Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 125 Rz. 156 – Maßstab ist ein die Treuepflicht achtender Aktionär, nicht ein Querulant. Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 125 Rz. 70 und Rz. 156 ff. Gleichsinnig Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 125 Rz. 101. Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 26.

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§ 125

Mitteilungen für die Aktionäre und an Aufsichtsratsmitglieder

III.

Mitteilung gefasster Beschlüsse nach der Hauptversammlung (§ 125 Abs. 4)

1.

Mitteilungsempfänger

30 Mitteilungsempfänger sind diejenigen Aufsichtsratsmitglieder und Aktionäre, die dies verlangen. Für den Nachweis der Aktionärsstellung gelten die oben dargestellten Grundsätze (siehe Rz. 6) entsprechend. Das Verlangen kann formlos erfolgen.64) Ein Dauerauftrag sollte hier entgegen der h. L.65) – anders als bei den Vorfeldmitteilungen – nicht anerkannt werden, da es kein permanentes Interesse an nachlaufender Information gibt (wegen § 130 Abs. 6 besonders nicht bei börsennotierten Gesellschaften). 2.

Mitteilungsinhalt

31 Mitteilungsinhalt sind die von der Hauptversammlung gefassten Beschlüsse zu Sachanträgen.66) Die Mitteilung konkreter Abstimmungsergebnisse ist nicht erforderlich, aber unschädlich. Reine Verfahrensbeschlüsse sind richtigerweise nicht mitzuteilen.67) Die Pflicht tritt bei börsennotierten Gesellschaften neben § 130 Abs. 6, was rechtspolitisch verfehlt ist und zu unnötigem Zusatzaufwand ohne Informationsmehrwert führen kann. 3.

Form und Frist

32 Die Mitteilung kann aktienrechtlich schriftlich oder elektronisch erfolgen, wobei aber wieder § 49 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 WpHG zu beachten ist.68) Die Mitteilung hat unverzüglich (§ 121 Abs. 1 Satz 1 BGB) zu erfolgen. Die Frist des § 130 Abs. 6 hat keine Maßstabsfunktion, da diese die Veröffentlichung der konkreten Abstimmungsergebnisse betrifft, welche nach § 125 Abs. 4 gerade nicht mitzuteilen sind;69) andererseits handelt es sich bei § 130 Abs. 6 um einen typischerweise automatisierten Vorgang. 4.

Rechtsfolge bei Verstößen

33 Ein Verstoß gegen § 125 Abs. 4 führt nicht zur Anfechtbarkeit von Beschlüssen, da das nachträgliche Unterlassen einer Mitteilung dafür nicht ursächlich sein kann.70) Auch die materielle Präklusionsfrist des § 246 Abs. 1 für Aktionäre wird nicht verlängert; das wäre aus Gründen der Rechtssicherheit nicht vertretbar. Hingegen sind Schadensersatzansprüche von Aktionären gemäß § 280 Abs. 1 BGB denkbar.71)

_____________ 64) 65) 66) 67)

68) 69)

70) 71)

Henssler/Strohn-Liebscher, GesR, § 125 AktG Rz. 11; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 125 Rz. 68. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 65; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 125 Rz. 185. Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 20; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 125 Rz. 66. Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 125 Rz. 66 und 181; Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 25; a. A. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 125 Rz. 35 wegen der Relevanz für die Prüfung von Anfechtungsklagen. Grigoleit-Herrler, AktG, § 125 Rz. 25; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 125 Rz. 186. Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 125 Rz. 184; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 125 Rz. 35; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 125 AktG Rz. 66; a. A. wohl K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 125 Rz. 69; Heidel-Müller, AktR, § 125 AktG Rz. 29. Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 125 Rz. 189. Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 125 Rz. 189 f.

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§ 126

Anträge von Aktionären

§ 126 Anträge von Aktionären Dirk Kocher

(1) 1Anträge von Aktionären einschließlich des Namens des Aktionärs, der Begründung und einer etwaigen Stellungnahme der Verwaltung sind den in § 125 Abs. 1 bis 3 genannten Berechtigten unter den dortigen Voraussetzungen zugänglich zu machen, wenn der Aktionär mindestens 14 Tage vor der Versammlung der Gesellschaft einen Gegenantrag gegen einen Vorschlag von Vorstand und Aufsichtsrat zu einem bestimmten Punkt der Tagesordnung mit Begründung an die in der Einberufung hierfür mitgeteilte Adresse übersandt hat. 2Der Tag des Zugangs ist nicht mitzurechnen. 3Bei börsennotierten Gesellschaften hat das Zugänglichmachen über die Internetseite der Gesellschaft zu erfolgen. 4§ 125 Abs. 3 gilt entsprechend. (2) 1Ein Gegenantrag und dessen Begründung brauchen nicht zugänglich gemacht zu werden, 1. soweit sich der Vorstand durch das Zugänglichmachen strafbar machen würde, 2. wenn der Gegenantrag zu einem gesetz- oder satzungswidrigen Beschluß der Hauptversammlung führen würde, 3. wenn die Begründung in wesentlichen Punkten offensichtlich falsche oder irreführende Angaben oder wenn sie Beleidigungen enthält, 4. wenn ein auf denselben Sachverhalt gestützter Gegenantrag des Aktionärs bereits zu einer Hauptversammlung der Gesellschaft nach § 125 zugänglich gemacht worden ist, 5. wenn derselbe Gegenantrag des Aktionärs mit wesentlich gleicher Begründung in den letzten fünf Jahren bereits zu mindestens zwei Hauptversammlungen der Gesellschaft nach § 125 zugänglich gemacht worden ist und in der Hauptversammlung weniger als der zwanzigste Teil des vertretenen Grundkapitals für ihn gestimmt hat, 6. wenn der Aktionär zu erkennen gibt, daß er an der Hauptversammlung nicht teilnehmen und sich nicht vertreten lassen wird, oder 7. wenn der Aktionär in den letzten zwei Jahren in zwei Hauptversammlungen einen von ihm mitgeteilten Gegenantrag nicht gestellt hat oder nicht hat stellen lassen. 2

Die Begründung braucht nicht zugänglich gemacht zu werden, wenn sie insgesamt mehr als 5.000 Zeichen beträgt. (3) Stellen mehrere Aktionäre zu demselben Gegenstand der Beschlußfassung Gegenanträge, so kann der Vorstand die Gegenanträge und ihre Begründungen zusammenfassen.

Literatur: Ihrig/Wagner, Rechtsfragen bei der Vorbereitung von Hauptversammlungen börsennotierter Gesellschaften, in: Festschrift für Sebastian Spiegelberger, 2009, S. 722; Mutter, Gegenanträge – was sind 5.000 Zeichen?, ZIP 2002, 1759; Noack, Das neue Recht der Gegenanträge nach § 126 AktG, BB 2003, 1393; Sasse, § 126 AktG – Rechtsunsicherheiten bei der Behandlung von Gegenanträgen, NZG 2004, 153.

Übersicht I. Regelungsgehalt, Bedeutung ........... 1 II. Zugänglichmachung von Gegenanträgen .............................................. 2 1. Voraussetzungen ................................ 2 2. Zugänglichmachung ........................... 8

III. Ausnahmen von der Pflicht zur Zugänglichmachung (§ 126 Abs. 2) ..................................... 9 IV. Zusammenfassungsrecht des Vorstands (§ 126 Abs. 3) ................. 16 V. Rechtsfolgen von Verstößen ......... 17

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§ 126 I.

Anträge von Aktionären Regelungsgehalt, Bedeutung

1 Die Regelung dient der frühzeitigen Information der Aktionäre über angekündigte Gegenanträge zu Beschlussvorschlägen der Verwaltung.1) Geregelt ist daher genau genommen auch nur die Pflicht zur Zugänglichmachung solcher Ankündigungen im Vorfeld der Hauptversammlung. Derartige Ankündigungen ersetzen weder die eigentliche mündliche Antragstellung in der Hauptversammlung selbst, noch sind sie dafür notwendige Voraussetzung, Für Übernahmesachverhalte gilt § 16 Abs. 4 Satz 7 WpÜG. Eine Ausnahme gilt für virtuelle Hauptversammlungen ohne Teilnahme von Aktionären oder ihren Vertretern nach den aktuellen pandemiebedingten Sonderregelungen, solange diese in Kraft sind: Anträge oder Wahlvorschläge von Aktionären, die nach § 126 oder § 127 AktG zugänglich zu machen sind, gelten als dort in der Versammlung gestellt, wenn der den Antrag stellende oder den Wahlvorschlag unterbreitende Aktionär ordnungsgemäß legitimiert und zur Hauptversammlung angemeldet ist (§ 1 Abs. 2 Satz 3 COVGesMG2). Unter der im Jahr 2020 gültigen Regelung war diese Fiktion nicht vorgeschrieben, wurde von vielen Gesellschaften aber bereits freiwillig und zulässigerweise so praktiziert. Zu weiteren gesetzgeberischen Plänen siehe § 118 Rz. 30 ff. II.

Zugänglichmachung von Gegenanträgen

1.

Voraussetzungen

2 Antragsberechtigt sind sämtliche Aktionäre, deren Rechte nicht ruhen.3) Maßgeblicher Zeitpunkt ist der Eingang des Antrags bei der Gesellschaft.4) Eine offene Stellvertretung ist zulässig.5) Ebenso sind Legitimationsaktionäre i. R. ihrer Ermächtigung antragsberechtigt.6) Der Aktionär hat innerhalb der Frist des § 126 Abs. 1 einen zeitnahen Legitimationsnachweis zu erbringen, sofern seine Aktionärsstellung der Gesellschaft nicht bekannt ist.7) Will die Gesellschaft einen Gegenantrag wegen fehlender Legitimation nicht veröffentlichen, sollte sie den Aktionär zuvor darauf hinweisen und ihm Gelegenheit geben, die Unterlagen fristgerecht zu komplettieren. 3 Ein Gegenantrag liegt vor, wenn der Aktionär einem Beschlussvorschlag der Verwaltung (zu Minderheitenverlangen siehe unten Rz. 4) zu einem bestimmten Tagesordnungspunkt (zu Wahlvorschlägen vgl. auch § 127) einen inhaltlich abweichenden Beschlussantrag entgegensetzt.8) Dies ist dann nicht der Fall, wenn der Aktionär lediglich beantragt, gegen den Verwaltungsvorschlag zu stimmen. Streitig ist die Einstufung lediglich ablehnender Gegenanträge, sofern das Gesetz einen Sachbeschluss zwingend vorsieht (z. B. über die Gewinnverwendung oder Vorstandsentlastung). Während auch hier die Qualität eines _____________ 1) 2)

3) 4) 5)

6) 7) 8)

Allg. M., vgl. etwa K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 126 Rz. 1; Grigoleit-Herrler, AktG, § 126 Rz. 1. Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts- Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (COVGesMG) v. 27.3.2020, BGBl. I 2020, 569, 570 (= Art. 2 des Gesetzes zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht (COVAbmildG) v. 27.3.2020, BGBl. I 2020, 569. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 126 Rz. 13; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 126 AktG Rz. 6. Vgl. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 126 AktG Rz. 6 m. w. N.; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 126 Rz. 4. Vgl. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 126 Rz. 5 m. w. N.; a. A. entgegen dem klaren Wortlaut der Norm K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 126 Rz. 16 – auch mittelbare Stellvertretung zumindest durch institutionelle Stimmrechtsvertreter zulässig. Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 126 Rz. 19; Butzke in: GroßKomm-AktG, § 126 Rz. 10. Nicht zwingend zeitgleich mit dem Gegenantrag, vgl. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 126 AktG Rz. 8 m. w. N. Vgl. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 126 Rz. 9 m. w. N.; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 126 Rz. 22 f.

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§ 126

Anträge von Aktionären

Gegenantrags zum Teil verneint wird,9) will die wohl h. L. durch Auslegung das etwaige Ziel ermitteln, die Hauptversammlung zu einer „irgendwie andersartigen“ Sachentscheidung zu veranlassen und damit einen Gegenantrag annehmen.10) In der Praxis empfiehlt sich hier ob der ungeklärten Rechtslage vorsorglich eine Veröffentlichung. Nicht publizitätspflichtig sind bedingte oder alternative Gegenanträge,11) wohl aber Haupt- und Hilfsgegenanträge.12) Weiterhin soll die Pflicht zur Zugänglichmachung in Fällen der Konkretisierung eines Verwaltungsvorschlags durch einen Aktionär, bei der Unterstützung eines von mehreren alternativen Vorschlägen sowie bei der Beantragung der Vertagung eines Tagesordnungspunktes bestehen.13) Für börsennotierte Gesellschaften wird unter Berufung auf Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 lit. b 4 der Aktionärsrechterichtlinie (ARRL)14), wonach von Aktionären Beschlussvorschläge zu allen Punkten der Tagesordnung gemacht werden können, eine europarechtskonforme Auslegung erwogen: Die Pflicht zur Zugänglichmachung bestehe auch, wenn die Verwaltung zu Tagesordnungspunkten eines Minderheitenverlangens (§ 122) in Übereinstimmung mit § 124 Abs. 3 Satz 3 keine Beschlussvorschläge unterbreitet.15) Teleologisch macht dies ohnehin Sinn, da das Informationsbedürfnis der Aktionäre nicht davon abhängt, von wem der ursprüngliche Vorschlag stammt und ob die Verwaltung dazu Stellung genommen hat. Der Gegenantrag ist zu begründen, wofür maximal 5.000 Zeichen (siehe Rz. 15) in An- 5 spruch genommen werden dürfen, wenn der Aktionär eine Zugänglichmachung auch der Begründung wünscht (§ 126 Abs. 2 Satz 2). Der Gegenantrag muss nicht schriftlich gestellt werden, es genügt Textform und Über- 6 mittlung per Fax, E-Mail u. Ä.16) Gibt die Gesellschaft eine Adresse für die Übermittlung von Gegenanträgen an, so handelt es sich hierbei um die ausschließliche Zugangsmöglichkeit für diese; eine Übermittlung an sonstige E-Mail-Adressen bzw. Faxnummern bzw. die Versendung an sonstige Niederlassungen der Gesellschaft scheidet dann aus.17) Gegenanträge müssen der Gesellschaft spätestens 14 Tage vor der Hauptversammlung 7 zugehen, wobei der Tag des Zugangs nach § 126 Abs. 2 nicht mitzurechnen ist. Die Fristberechnung richtet sich nach § 121 Abs. 7. Nach Fristablauf übermittelte Gegenanträge müssen nicht, können jedoch von der Gesellschaft freiwillig zugänglich gemacht werden.18)

_____________ 9) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 126 Rz. 25 f.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 126 Rz. 7, wonach der Gegenantrag überdies ein Sachantrag sein muss, ebenda Rz. 9. 10) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 126 Rz. 14; Grigoleit-Herrler, AktG, § 126 Rz. 5; Rieckers in: BeckOGKAktR, § 126 AktG Rz. 9 m. w. N. 11) Allg. M., Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 126 AktG Rz. 12; Hölters-Drinhausen, AktG, § 126 Rz. 14 und Rz. 6; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 126 Rz. 7; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 126 Rz. 13. 12) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 126 Rz. 13; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 126 Rz. 29. 13) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 126 Rz. 13. 14) Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften (Aktionärsrechterichtlinie – ARRL), ABl. (EU) L 184/17 v. 14.7.2007. 15) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 126 Rz. 27 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 126 Rz. 2 m. w. N. 16) Grigoleit-Herrler, AktG, § 126 Rz. 8 m. w. N. 17) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 126 AktG Rz. 19 f. m. w. N., wonach allerdings im Fall von nur einer E-Mail-Adresse oder nur einer Fax-Nummer nach – zu hinterfragender – h. M. ein Zugang am Verwaltungssitz (per Post oder durch Aushändigung) weiterhin möglich sein soll. 18) Ausführlich Ihrig/Wagner in: FS Spiegelberger, 2009, S. 722, 728 f.; ebenso Rieckers in: BeckOGKAktR, § 126 AktG Rz. 22; Grigoleit-Herrler, AktG, § 126 Rz. 9; Noack/Zetzsche in: KölnKommAktG, § 126 Rz. 44 – Gleichbehandlungsgrundsatz gemäß § 53a ist zu berücksichtigen.

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§ 126 2.

Anträge von Aktionären Zugänglichmachung

8 Börsennotierte Gesellschaften haben Gegenanträge auf ihrer Internetseite zugänglich zu machen (§ 126 Abs. 1 Satz 3), nicht börsennotierte Gesellschaften können die Gegenanträge auch im Bundesanzeiger (§ 25) veröffentlichen oder den Berechtigten individuell zusenden.19) Aufsichtsratsmitglieder können stets die Übersendung der Gegenanträge verlangen (§ 126 Abs. 1 Satz 4). Liegen die Voraussetzungen dafür vor, so hat die Zugänglichmachung unverzüglich nach Eingang und Prüfung des jeweiligen Gegenantrags sowie ggf. nach Verfassung einer Stellungnahme der Verwaltung zu erfolgen.20) III.

Ausnahmen von der Pflicht zur Zugänglichmachung (§ 126 Abs. 2)

9 § 126 Abs. 2 Satz 1 enthält eine abschließende21) Aufzählung von Gründen, bei deren Vorliegen ein ansonsten ordnungsgemäß übermittelter Gegenantrag nicht zugänglich gemacht werden muss. Praktisch relevant sind vor allem die Ausschlussgründe des § 126 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3.22) Für börsennotierte Gesellschaften wird z. T. eine (in ihrer Reichweite umstrittene) einschränkende Auslegung propagiert, um den Vorgaben der ARRL zu entsprechen: Während § 126 Abs. 2 uneingeschränkt für die Antragsbegründung gelte, seien zumindest Absatz 2 Satz 1 Nr. 6 und 7 auf den Gegenantrag selbst nicht anzuwenden.23) 10 Nach § 126 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 muss ein Gegenantrag nicht zugänglich gemacht werden, soweit sich der Vorstand hierdurch strafbar machen würde. Dies ist weit auszulegen und erfasst auch Ordnungswidrigkeiten.24) Aufgrund des von den anderen Ziffern abweichenden Wortlauts („soweit“ statt „wenn“) ist der Vorstand verpflichtet, zur Strafbarkeit führende Passagen zu streichen, soweit dies ohne Sinnentstellung möglich ist, und die gekürzte Fassung zugänglich zu machen.25) 11 Gemäß § 126 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 müssen Gegenanträge, die auf die Fassung eines gesetzes- oder satzungswidrigen Beschlusses gerichtet sind, nicht zugänglich gemacht werden. Hier handelt es sich um Beschlüsse, die bei ihrem Zustandekommen nichtig oder anfechtbar wären, unabhängig davon, ob dies auf formellen oder materiellen Beschlussmängeln beruht.26) 12 Die Zugänglichmachung kann gemäß § 126 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ferner unterbleiben, wenn die Begründung oder der Gegenantrag selbst27) in wesentlichen Punkten offensichtlich falsche oder irreführende Angaben oder Beleidigungen enthält. Der Wortlaut erlaubt es, den Gegenantrag in diesen Fällen insgesamt nicht zugänglich zu machen („wenn“ statt „soweit“). Dies ist zu begrüßen, da die Vorschrift infolge ihrer Beschränkung auf „wesent_____________ 19) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 126 Rz. 59 ff. m. w. N.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 126 Rz. 27 f. 20) Allg. M., vgl. etwa K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 126 Rz. 33 m. w. N.; Rieckers in: BeckOGKAktR, § 126 AktG Rz. 30 m. w. N. 21) LG Frankfurt/M., Urt. v. 20.1.1992 – 3/1 O 169/91, AG 1992, 235, 236. 22) Vgl. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 126 Rz. 8 f. 23) Grigoleit-Herrler, AktG, § 126 Rz. 13; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 126 Rz. 70; strenger K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 126 Rz. 38 ff. – Nr. 3 bis 7 nicht anwendbar; im Ergebnis eine richtlinienkonforme Auslegung ablehnend Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 126 AktG Rz. 35. 24) Butzke in: GroßKomm-AktG, § 126 Rz. 57; Hölters-Drinhausen, AktG, § 126 Rz. 15; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 126 AktG Rz. 36; a. A. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 126 Rz. 29 – Beschränkung auf Straftaten. 25) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 126 Rz. 29; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 126 AktG Rz. 36 m. w. N. 26) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 126 AktG Rz. 37; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 126 Rz. 30 ff; HöltersDrinhausen, AktG, § 126 Rz. 16. 27) Allg. M., vgl. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 126 AktG Rz. 39 m. w. N.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 126 Rz. 45 m. w. N.

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§ 126

Anträge von Aktionären

liche Punkte“ ohnehin nur schwerwiegende Fälle erfasst. § 126 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Alt. 1 umfasst nur Angaben zu Tatsachen, die den Kern der Begründung ausmachen.28) Für die Wesentlichkeit der Tatsachen ist entscheidend, dass ein verständiger Durchschnittsaktionär bei der Entscheidung über seine Stimmabgabe durch sie beeinflusst würde.29) Die Angaben müssen für den unbefangenen, mit den Verhältnissen nicht vertrauten Leser offensichtlich falsch oder irreführend sein.30) Beleidigungen (§ 185 StGB) sowie üble Nachrede (§ 186 StGB) und Verleumdungen (§ 187 StGB) lassen die Pflicht zur Zugänglichmachung auch dann entfallen, wenn sie nicht wesentliche Punkte der Begründung betreffen, es sei denn, der Aktionär kann ein berechtigtes Interesse (§ 193 StGB) glaubhaft machen oder den Wahrheitsbeweis erbringen (§§ 186, 187 StGB).31) Nicht ernst gemeinte Gegenanträge müssen nach § 126 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 nicht zu- 13 gänglich gemacht werden. Maßstab ist, ob der Aktionär unzweifelhaft zu erkennen gibt, dass er nicht an der Hauptversammlung teilnehmen und sich nicht vertreten lassen wird,32) denn dort müssen die Anträge mündlich gestellt werden. Unterhalb der Schwelle der eindeutigen Erkennbarkeit liegt nur eine Ankündigung vor. Auch die Zugänglichmachung rein destruktiver Gegenanträge i. S. des § 126 Abs. 2 Satz 1 14 Nr. 4, 5 und 7 kann unterbleiben.33) Bei überlanger Begründung kann gemäß § 126 Abs. 2 Satz 2 eine Zugänglichmachung 15 der Begründung, nicht aber des Gegenantrags als solchem, unterbleiben. Überlang ist die Begründung, wenn sie mehr als 5.000 Zeichen umfasst. Hierzu zählen Satzzeichen und nach bestrittener Ansicht auch Leerzeichen.34) Der Vorstand hat nach h. L. ein Recht zur sinnwahrenden Kürzung, nicht aber zur Zugänglichmachung nur der ersten 5.000 Zeichen.35) Da der Wortlaut („wenn“) das Recht gewährt, die Begründung insgesamt nicht zugänglich zu machen, ist eine Kürzung weder notwendig noch empfehlenswert. IV.

Zusammenfassungsrecht des Vorstands (§ 126 Abs. 3)

Stellen mehrere Aktionäre zu demselben Beschlussgegenstand Gegenanträge, so kann der 16 Vorstand diese Anträge und ihre Begründungen zusammenfassen, auch wenn sie inhaltlich voneinander abweichen.36) Voraussetzung ist, dass die Gegenanträge in ihrem Kern erhalten bleiben und dass bei Abweichungen eine Zuordnung zum betreffenden Aktionär _____________ 28) Allg. M., vgl. etwa K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 126 Rz. 45 m. w. N.; Kubis in: MünchKommAktG, § 126 Rz. 34 m. w. N. 29) Grigoleit-Herrler, AktG, § 126 Rz. 14; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 126 AktG Rz. 40. 30) OLG Stuttgart, Urt. v. 1.12.1994 – 13 U 46/94, ZIP 1995, 378, 379; Grigoleit-Herrler, AktG, § 126 Rz. 14. 31) Allg. M., vgl. etwa Kubis in: MünchKomm-AktG, § 126 Rz. 35 m. w. N. 32) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 126 AktG Rz. 47; Grigoleit-Herrler, AktG, § 126 Rz. 14; weiter Kubis in: MünchKomm-AktG, § 126 Rz. 38 – Publizitätspflicht entfällt auch, wenn Antragsteller aus Rechtsgründen nicht an der Hauptversammlung teilnehmen kann; dies ablehnend K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 126 Rz. 48. 33) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 126 Rz. 49. 34) Vgl. Mutter, ZIP 2002, 1759, 1759; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 126 Rz. 40; Rieckers in: BeckOGKAktR, § 126 AktG Rz. 49 m. w. N.; a. A. Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 126 Rz. 108; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 126 Rz. 9. 35) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 126 Rz. 9; Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 126 Rz. 24; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 126 AktG Rz. 50 m. w. N; a. A. Heidel-Müller, AktR, § 126 AktG Rz. 33 – auch Zugänglichmachung der ersten 5.000 Zeichen möglich; a. A. Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 126 Rz. 107 – auch keine Berechtigung zur Kürzung; wie letztgenannte Kubis in: MünchKomm-AktG, § 126 Rz. 40. 36) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 126 Rz. 42 f.; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 126 AktG Rz. 52.

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§ 127

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nach wie vor möglich ist.37) Teilweise wird vertreten, § 126 Abs. 3 sei wegen Verstoßes gegen die ARRL für börsennotierte Gesellschaften nicht anzuwenden.38) Zur Vermeidung der Anfechtbarkeit von Beschlüssen (siehe Rz. 17) ist dieses Recht jedenfalls mit Vorsicht anzuwenden. V.

Rechtsfolgen von Verstößen

17 Unterbleibt die Zugänglichmachung eines Gegenantrags zu Unrecht, so führt dies bei Relevanz zur Anfechtbarkeit des betroffenen Hauptversammlungsbeschlusses gemäß § 243 Abs. 1. Dasselbe gilt für eine Zusammenfassung der Gegenanträge bzw. ihrer Begründungen unter Verstoß gegen § 126 Abs. 3. Die Relevanz ist hierbei jeweils im Einzelfall zu prüfen.39) Sofern ein inhaltlich identischer Gegenantrag zugänglich gemacht wurde, wird es hieran fehlen, nicht aber, wenn ein Gegenantrag samt Begründung gar nicht zugänglich gemacht wurde.40) Zu beachten ist außerdem die Beweislastverteilung: Verstöße gegen § 126 Abs. 1 muss der Aktionär, das Vorliegen einer Ausnahme nach § 126 Abs. 2 die Gesellschaft darlegen und beweisen.41) _____________ 37) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 126 Rz. 51; Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 126 AktG Rz. 52; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 126 Rz. 112. 38) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 126 Rz. 110; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 126 Rz. 51; a. A. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 126 AktG Rz. 51. 39) Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 126 AktG Rz. 53 m. w. N. 40) Ausführlich Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 126 Rz. 114 ff. 41) Hölters-Drinhausen, AktG, § 126 Rz. 26; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 126 Rz. 53.

§ 127 Wahlvorschläge von Aktionären Dirk Kocher

1

Für den Vorschlag eines Aktionärs zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern oder von Abschlußprüfern gilt § 126 sinngemäß. 2Der Wahlvorschlag braucht nicht begründet zu werden. 3Der Vorstand braucht den Wahlvorschlag auch dann nicht zugänglich zu machen, wenn der Vorschlag nicht die Angaben nach § 124 Absatz 3 Satz 4 und § 125 Abs. 1 Satz 5 enthält. 4Der Vorstand hat den Vorschlag eines Aktionärs zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften, für die das Mitbestimmungsgesetz, das Montan-Mitbestimmungsgesetz oder das Mitbestimmungsergänzungsgesetz gilt, mit folgenden Inhalten zu versehen: 1. Hinweis auf die Anforderungen des § 96 Absatz 2, 2. Angabe, ob der Gesamterfüllung nach § 96 Absatz 2 Satz 3 widersprochen wurde und 3. Angabe, wie viele der Sitze im Aufsichtsrat mindestens jeweils von Frauen und Männern besetzt sein müssen, um das Mindestanteilsgebot nach § 96 Absatz 2 Satz 1 zu erfüllen. Literatur: Rahlmeyer, Die Stellungnahme der Verwaltung zu Wahlvorschlägen von Aktionären gem. § 127 AktG, ZIP 2015, 1958.

1 Die Norm ergänzt § 126 dahingehend, dass den in § 125 Abs. 1 – 3 genannten Berechtigten auch Vorschläge seitens der Aktionäre zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern oder Abschlussprüfern zugänglich zu machen sind. Sie dient wie § 126 der Information der Ak-

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Aktionärsforum

tionäre über derartige Ankündigungen, die von der Antragstellung der Hauptversammlung zu unterscheiden sind (siehe § 126 Rz. 1 – auch bezüglich der pandemiebedingten Sonderregelungen). Abweichend von § 126 Abs. 1 Satz 1 ist eine Begründung des Wahlvorschlags nicht er- 2 forderlich (Satz 2). Gemäß Satz 3 muss der Vorstand den Wahlvorschlag neben den Fällen des § 126 Abs. 2 auch dann nicht zugänglich machen, wenn der Vorschlag die von § 124 Abs. 3 Satz 4 und § 125 Abs. 1 Satz 5 geforderten Angaben nicht enthält. Der Aktionär hat also den Namen, Beruf und Wohnort des Kandidaten (siehe dazu § 124 Rz. 34) anzugeben sowie bei einer börsennotierten Gesellschaft, ob die zur Wahl vorgeschlagene Person Mitglied in anderen gesetzlich zu bildenden Aufsichtsräten ist. Angaben zur Mitgliedschaft in vergleichbaren in- und ausländischen Kontrollgremien „sollen“, müssen aber nicht gemacht werden.1) Anders als i. R. von § 126 wird teilweise für verpflichtend gehalten bzw. zur Vermeidung 3 eines Anfechtungsrisikos empfohlen, dass Stellungnahmen zu Wahlvorschlägen ausschließlich vom Aufsichtsrat abgegeben werden.2) Nach § 127 Satz 4 sind Wahlvorschläge von Aktionären um die abstrakten Anforderun- 4 gen des § 96 Abs. 2 (siehe § 96 Rz. 12 f.) und die konkreten Angaben zu Widersprüchen gegen die Gesamterfüllung sowie die erforderliche Sitzzahl (dazu § 96 Rz. 14) durch den Vorstand zu ergänzen. Diese Angaben müssen also noch nicht in der Vorschlagsankündigung des Aktionärs enthalten sein. Teilweise wird vertreten, § 127 Satz 4 wegen der etwas von § 124 Abs. 2 Satz 2 abweichenden Anforderungen für Wahlvorschläge des Aufsichtsrats selbst3) teleologisch „auf null“ zu reduzieren.4) Die Praxis sollte sich an den Wortlaut halten. _____________ 1) 2) 3)

4)

Vgl. Heidel-Müller, AktR, § 127 AktG Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 127 Rz. 6. Rahlmeyer, ZIP 2015, 1958, 1959 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 127 Rz. 1. Dort entfallen die Pflicht zur Ergänzung des Vorschlags um die abstrakten Anforderungen des § 96 Abs. 2 sowie das Erfordernis zur Eingliederung der Zusatzangaben in den Wahlvorschlag (Angabe in der Bekanntmachung reicht aus). K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 127 Rz. 13 f.; ablehnend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 127 Rz. 2.

§ 127a Aktionärsforum Dirk Kocher

(1) Aktionäre oder Aktionärsvereinigungen können im Aktionärsforum des Bundesanzeigers andere Aktionäre auffordern, gemeinsam oder in Vertretung einen Antrag oder ein Verlangen nach diesem Gesetz zu stellen oder in einer Hauptversammlung das Stimmrecht auszuüben. (2) Die Aufforderung hat folgende Angaben zu enthalten: 1. den Namen und eine Anschrift des Aktionärs oder der Aktionärsvereinigung, 2. die Firma der Gesellschaft, 3. den Antrag, das Verlangen oder einen Vorschlag für die Ausübung des Stimmrechts zu einem Tagesordnungspunkt, 4. den Tag der betroffenen Hauptversammlung. (3) Die Aufforderung kann auf eine Begründung auf der Internetseite des Auffordernden und dessen elektronische Adresse hinweisen.

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Aktionärsforum

(4) Die Gesellschaft kann im Bundesanzeiger auf eine Stellungnahme zu der Aufforderung auf ihrer Internetseite hinweisen. (5) Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung die äußere Gestaltung des Aktionärsforums und weitere Einzelheiten insbesondere zu der Aufforderung, dem Hinweis, den Entgelten, zu Löschungsfristen, Löschungsanspruch, zu Missbrauchsfällen und zur Einsichtnahme zu regeln. Literatur: Bayer/Hoffmann, Aktionärsforum im Dornröschenschlaf, AG 2013, R 61; Seibert, Aktionärsforum und Aktionärsforumsverordnung nach § 127a AktG, AG 2006, 16; Spindler, Die Reform der Hauptversammlung und der Anfechtungsklage durch das UMAG, NZG 2005, 825.

Übersicht I. Regelungsgehalt und Bedeutung ... 1 II. Aufforderung im Aktionärsforum (§ 127a Abs. 1) ....................... 4 III. Inhalt der Aufforderung (§ 127a Abs. 2) ................................... 8 I.

IV. Begründung der Aufforderung (§ 127a Abs. 3) .................................. 10 V. Stellungnahme der Gesellschaft (§ 127a Abs. 4) .................................. 12

Regelungsgehalt und Bedeutung

1 Das Aktionärsforum ist eine Rubrik des Bundesanzeigers (erreichbar über www.bundesanzeiger.de). Die Ausgestaltung ist durch die Verordnung über das Aktionärsforum nach § 127a des AktG1) näher geregelt. 2 Zweck ist es, die Kommunikation unter den Aktionären sowie deren Stimmrechtsausübung zu erleichtern; dies soll das Erreichen von Schwellenwerten zur Ausübung von Minderheitenrechten (z. B. §§ 122, 142 Abs. 2, 148 Abs. 2 Satz 2) begünstigen und dadurch zu einer verbesserten Eigentümerkontrolle führen.2) 3 Das Aktionärsforum ist misslungen und in der Praxis quasi bedeutungslos.3) Es haben sich stattdessen private Foren gebildet,4) die anders als das Aktionärsforum kostenlos sind (siehe Rz. 7) und nicht den hier beschriebenen Restriktionen unterliegen. II.

Aufforderung im Aktionärsforum (§ 127a Abs. 1)

4 Im Aktionärsforum dürfen nur Aufforderungen veröffentlicht werden und keine Begründungen, Stellungnahmen oder sonstige Meinungsäußerungen.5) Hinweise darauf sind jedoch zulässig (§ 127a Abs. 3 und 4, siehe dazu auch Rz. 10). Eintragungen sind in Deutsch oder Englisch abzufassen (§ 1 Abs. 2 Satz 2 AktFoV). Die Aufforderung im Aktionärsforum stellt für sich noch kein abgestimmtes Verhalten i. S. des § 34 Abs. 2 WpHG und § 30 Abs. 2 WpÜG dar. 5 Gegenstand einer Aufforderung kann die Stellung eines Antrags oder eines Verlangens nach dem AktG sein. Andere Gesetze bleiben außer Betracht.6) Zudem kann die Aufforderung auf die Ausübung des Stimmrechts gerichtet sein. _____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6)

Verordnung über das Aktionärsforum nach § 127a des AktG v. 22.11.2005 (AktFoV), BGBl. I 2005, 3193. Vgl. Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 15. Bayer/Hoffmann, AG 2013, R 61, R 62; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 127a Rz. 2. Bayer/Hoffmann, AG 2013, R 61, R 62; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 127a Rz. 2 – Chat Boards privater Wirtschaftsdienste. Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 127a Rz. 2. Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 127a AktG Rz. 12; weiteres Verständnis dagegen bei Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 127a Rz. 39, und bei Kubis in: MünchKomm-AktG, § 127a Rz. 5 – Norm ist auch auf vergleichbare Situationen in Spezialgesetzen anzuwenden.

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Zur Veröffentlichung einer Aufforderung sind gemäß § 127a Abs. 1 nur Aktionäre oder 6 Aktionärsvereinigungen (siehe dazu § 125 Rz. 2) berechtigt. Zum Nachweis genügt eine Versicherung gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 AktFoV, sofern keine Zweifel vorliegen. In diesem Fall kann der Betreiber die Vorlage von Nachweisen in Schrift- oder Textform verlangen (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AktFoV). Vor Veröffentlichung ist die Registrierung unter Angabe der in § 3 Abs. 1 AktFoV ge- 7 nannten Informationen erforderlich.7) Auf die Veröffentlichung hat der Aktionär keinen Anspruch;8) sie erfolgt aufgrund eines Vertrages mit dem Bundesanzeiger gegen ein Entgelt (i. H. v. derzeit pauschal 25 € für eine Eintragung).9) Die bloße Einsichtnahme ist jederzeit für jedermann kostenfrei und ohne Registrierung möglich, § 7 Abs. 1 Satz 1 AktFoV. III.

Inhalt der Aufforderung (§ 127a Abs. 2)

§ 127a Abs. 2 Nr. 1 bis 4 zählen den notwendigen Inhalt einer Aufforderung auf. Dieser 8 Aufzählung fügt § 3 Abs. 3 Satz 1 AktFoV die Angabe einer E-Mail-Adresse sowie die Erklärung hinzu, ob der Auffordernde als Aktionär oder als Aktionärsvereinigung handelt. Ist eine Aufforderung missbräuchlich (Regelbeispiele in § 3 Abs. 5 Satz 1 AktFoV), wird 9 sie unverzüglich gelöscht, § 3 Abs. 5 Satz 2 AktFoV. IV.

Begründung der Aufforderung (§ 127a Abs. 3)

Die Aufforderung darf selbst keine Begründung umfassen, aber mittels einer Verlinkung 10 unmittelbar (vgl. § 5 Abs. 1 Satz 1 AktFoV) auf eine Begründung auf der Internetseite des Auffordernden verweisen und dessen E-Mail-Adresse angeben.10) Hat die Gesellschaft rechtliche Bedenken gegen die dort veröffentlichte Begründung und 11 möchte gegen diese vorgehen, so stehen ihr die allgemeinen Abwehransprüche und prozessualen Rechtsbehelfe zur Verfügung.11) Die Situation ist vergleichbar mit gesellschaftskritischen Äußerungen eines Aktionärs in sonstigen Foren.12) V.

Stellungnahme der Gesellschaft (§ 127a Abs. 4)

Zu der Aufforderung kann die Gesellschaft nicht unmittelbar im Bundesanzeiger Stellung 12 nehmen; sie kann dies jedoch durch eine Verlinkung, die unmittelbar auf die Seite führt, die eine Stellungnahme enthält.13) Auch bei Löschung der Aufforderung kann dieser Hinweis bei einem berechtigten Interesse der Gesellschaft bestehen bleiben.14) _____________ 7) Eine Identitätsüberprüfung – etwa durch Postident-Verfahren, wie vorgeschlagen von Spindler, NZG 2005, 825, 828 – erfolgt bei der Registrierung nicht; sie ist auch nicht erforderlich, vgl. Seibert, AG 2006, 16, 18. 8) Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 16; der Bundesanzeigers soll aber aufgrund seiner Monopolstellung einem Kontrahierungszwang unterliegen, so Grigoleit-Herrler, AktG, § 127a Rz. 1. 9) Vgl. die Preisliste für das „Aktionärsforum“ im Bundesanzeiger, abrufbar unter: https://www.bundesanzeiger.de/ebanzwww/i18n/doc//D049Preisliste.pdf?document=D59&language=de (Abrufdatum: 23.6.2022). 10) Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 15 u. 16; kritisch zur Einschränkung auf Internet und elektronische Adresse Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 127a Rz. 4. 11) Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 16. 12) Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 16; dementsprechend Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 127a Rz. 7; Spindler, NZG 2005, 825, 828; zum Vorgehen gegen den Betreiber des Bundesanzeigers Rieckers in: BeckOGK-AktR, § 127a AktG Rz. 25. 13) Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 16. 14) Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 127a Rz. 8.

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§ 128

(aufgehoben)

§ 128 (aufgehoben) Dirk Kocher

1 § 128 (Übermittlung der Mitteilungen) wurde i. R. des ARUG II m. W. v. 1.1.2020 aufgehoben.1) _____________ 1)

Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II), v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2637.

Dritter Unterabschnitt Verhandlungsniederschrift. Auskunftsrecht § 129 Geschäftsordnung; Verzeichnis der Teilnehmer; Nachweis der Stimmzählung Thomas Wachter

(1) 1Die Hauptversammlung kann sich mit einer Mehrheit, die mindestens drei Viertel des bei der Beschlußfassung vertretenen Grundkapitals umfaßt, eine Geschäftsordnung mit Regeln für die Vorbereitung und Durchführung der Hauptversammlung geben. 2In der Hauptversammlung ist ein Verzeichnis der erschienenen oder vertretenen Aktionäre und der Vertreter von Aktionären mit Angabe ihres Namens und Wohnorts sowie bei Nennbetragsaktien des Betrags, bei Stückaktien der Zahl der von jedem vertretenen Aktien unter Angabe ihrer Gattung aufzustellen. (2) 1Sind einem Intermediär oder einer in § 135 Abs. 8 bezeichneten Person Vollmachten zur Ausübung des Stimmrechts erteilt worden und übt der Bevollmächtigte das Stimmrecht im Namen dessen, den es angeht, aus, so sind bei Nennbetragsaktien der Betrag, bei Stückaktien die Zahl und die Gattung der Aktien, für die ihm Vollmachten erteilt worden sind, zur Aufnahme in das Verzeichnis gesondert anzugeben. 2 Die Namen der Aktionäre, welche Vollmachten erteilt haben, brauchen nicht angegeben zu werden. (3) 1Wer von einem Aktionär ermächtigt ist, im eigenen Namen das Stimmrecht für Aktien auszuüben, die ihm nicht gehören, hat bei Nennbetragsaktien den Betrag, bei Stückaktien die Zahl und die Gattung dieser Aktien zur Aufnahme in das Verzeichnis gesondert anzugeben. 2Dies gilt auch für Namensaktien, als deren Aktionär der Ermächtigte im Aktienregister eingetragen ist. (4) 1Das Verzeichnis ist vor der ersten Abstimmung allen Teilnehmern zugänglich zu machen. 2Jedem Aktionär ist auf Verlangen bis zu zwei Jahren nach der Hauptversammlung Einsicht in das Teilnehmerverzeichnis zu gewähren. (5) 1Der Abstimmende kann von der Gesellschaft innerhalb eines Monats nach dem Tag der Hauptversammlung eine Bestätigung darüber verlangen, ob und wie seine Stimme gezählt wurde. 2Die Gesellschaft hat die Bestätigung gemäß den Anforderungen in Artikel 7 Absatz 2 und Artikel 9 Absatz 5 Unterabsatz 2 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 zu erteilen. 3Sofern die Bestätigung einem Intermediär erteilt wird, hat dieser die Bestätigung unverzüglich dem Aktionär zu übermitteln. 4§ 67a Absatz 2 Satz 1 und Absatz 3 gilt entsprechend.

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Geschäftsordnung; Verzeichnis der Teilnehmer; Nachweis der Stimmzählung

§ 129

Literatur: Austmann, Verfahrensanträge in der Hauptversammlung, in: Festschrift für Michael Hoffmann-Becking, 2013, S. 45; Bayer/Scholz, Der Legitimationsaktionär – Aktuelle Fragen aus der gerichtlichen Praxis, NZG 2013, 721; Binder, BB-Rechtsprechungsreport zur Hauptversammlung 2019/2020, BB 2021, 259; Binder, BB-Rechtsprechungsreport zur Hauptversammlung 2018/2019, BB 2020, 770; Blasche, Zur Erforderlichkeit eines Versammlungsleiters bei der Einpersonen-Aktiengesellschaft, AG 2017, 16; Danwerth, Das Teilnehmerverzeichnis der virtuellen Hauptversammlung, NZG 2020, 586; Drinhausen/Marsch-Barner, Zur Rechtsstellung des Aufsichtsratsvorsitzenden als Leiter der Hauptversammlung einer börsennotierten Gesellschaft, AG 2014, 757; Faßbender, Die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft aus notarieller Sicht, RNotZ 2009, 425; Grunewald, Die Rechtsstellung des Legitimationsaktionärs, ZGR 2015, 347; Guntermann, Das Recht der Aktionäre zur Teilnahme an der Hauptversammlung. Eine Betrachtung aus Anlass der COVID-19-Pandemie, ZGR 2021, 436; Hauschild/Zimmermann, Die Weitergabe des Stimmbogens in der Hauptversammlung an Dritte – eine Petitesse?, in: Festschrift für Gerd Krieger, 2020, S. 331; Herrler, Generelle Beschränkung der Frage- und Redezeit durch den Versammlungsleiter – erweiterte Befugnisse durch eine Regelung i. S. v. § 131 Abs. 2 Satz 2 AktG, DNotZ 2010, 331; Hoffmann-Becking, Der Aufsichtsrat der AG und sein Vorsitzender in der Hauptversammlung, NZG 2017, 281; Hoppe, Hauptversammlungssaison 2017: Rechte und Pflichten des Versammlungsleiters bei Wahlentscheidungen der Hauptversammlung, NZG 2017, 361; Ihrig, Zur Entscheidungskompetenz der Hauptversammlung in Fragen der Versammlungsleitung, in: Festschrift für Wulf Goette, 2011, S. 205; Jerczynski, Beschränkung des Frage- und Rederechts der Aktionäre in der Hauptversammlung, NJW 2010, 1566; Kersting, Eine Niederlage für Berufskläger? – Zur Zulässigkeit inhaltlicher Beschränkungen des Frage- und Rederechts der Aktionäre gem. § 131 Abs. 2 Satz 2 AktG, NZG 2010, 446; Kocher/ Feigen, Hilfspersonen des Versammlungsleiters, NZG 2015, 620; Koschmieder, Datenschutzrechtliche Vorgaben für die Verarbeitung von Aktionärsdaten, DB 2019, 2113; Kremer, Zur Praxis der Hauptversammlungsleitung, in: Festschrift für Michael Hoffmann-Becking, 2013, S. 697; v. d. Linden, Hauptversammlungen – neue Herausforderungen durch die DSGVO, BB 2019, 75; v. d. Linden, Die Abwahl des Versammlungsleiters – Irrwege, Umwege, Auswege, DB 2017, 1371; v. d. Linden, Haftung für Fehler bei der Leitung der Hauptversammlung, NZG 2013, 208; Noack, Die Legitimationsübertragung – eine dubiose Rechtsfigur, in: Festschrift für Eberhard Stilz, 2014, S. 439; Piroth, Die Klarstellung zur Mitteilungspflicht des Legitimationsaktionärs im Rahmen des geplanten Kleinanlegerschutzgesetzes, AG 2015, 10; Poelzig, Die Haftung des Leiters der Hauptversammlung – Grundlage, Grenzen und Durchsetzung der Haftung, AG 2015, 476; Richter, Unterliegt der im Aktienregister eingetragene Legitimationsaktionär den Mitteilungspflichten aus den §§ 21 ff. WpHG?, WM 2013, 2296 (Teil I) und WM 2013, 2337 (Teil II); Rieckers, Nachlese zur Hauptversammlungssaison 2020 und Ausblick auf 2021, DB 2021, 98; Rieckers, Nachlese zur Hauptversammlungssaison 2019 und Ausblick auf 2020, DB 2020, 207; Rieckers, Nachlese zur Hauptversammlungssaison 2017 und Ausblick auf 2018, DB 2017, 2720 (Teil 1) und DB 2018, 2786 (Teil 2); Rieckers, Nachlese zur Hauptversammlungssaison 2016 und Ausblick auf 2017, DB 2015, 2526; Schatz, Beschlussvereitelung durch den Versammlungsleiter und Reaktionsmöglichkeiten der Aktionäre, AG 2015, 696; Schatz/Stein, Die Abwahl des Versammlungsleiters durch die Hauptversammlung, NJW-Spezial 2016, 335; Schürnbrand, Rechtsstellug und Verantwortlichkeit des Leiters der Hauptversammlung, NZG 2014, 1211; Terbrack, L’etat c’est moi – oder: Von der trügerischen Allherrlichkeit des Alleinaktionärs bei Hauptversammlungen, RNotZ 2012, 221; Theusinger/Schilha, Gerichtliche Bestimmung eines unparteiischen Versammlungsleiters für einzelne Tagesordnungspunkte der. Hauptversammlung, NZG 2016, 56; Theusinger/Schilha, Die Leitung der Hauptversammlung – eine Aufgabe frei von Haftungsrisiken?, BB 2015, 131; Vetter, Unternehmensexterne als Versammlungsleiter der Hauptversammlung, in: Festschrift für Alfred Bergmann, 2018, S. 799; Weber, Absage einer auf ein Aktionärsverlangen einberufenen Hauptversammlung und Abhaltung einer Hauptversammlung durch die Aktionäre, NZG 2013, 890; Wettich, Aktuelle Entwicklungen und Trends in der Hauptversammlungssaison 2015 und Ausblick auf 2016, AG 2015, 681; Wicke, Amtsbeendigung des Hauptversammlungsleiters, NZG 2018, 161.

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§ 129

Geschäftsordnung; Verzeichnis der Teilnehmer; Nachweis der Stimmzählung Übersicht

I. Überblick ........................................... 1 II. Geschäftsordnung (§ 129 Abs. 1 Satz 1) ................................................ 3 1. Ermächtigung ..................................... 3 2. Inhalt der Geschäftsordnung ............ 4 3. Verfahren bei Erlass einer Geschäftsordnung .................................. 9 4. Verstöße gegen die Geschäftsordnung ............................................ 13 III. Teilnehmerverzeichnis (§ 129 Abs. 1 Satz 2 – Abs. 5) .......... 14 1. Zweck des Teilnehmerverzeichnisses ................................... 14 2. Aufstellung des Teilnehmerverzeichnisses ................................... 16 3. Inhalt des Teilnehmerverzeichnisses ................................... 23 a) Überblick ................................... 23 b) Eigenbesitz ................................. 24 I.

c) Vollmachtsbesitz ........................ 29 d) Fremdbesitz ................................ 31 e) Sonstiger Inhalt .......................... 33 4. Publizität des Teilnehmerverzeichnisses .................................... 34 a) In der Hauptversammlung ......... 34 b) Nach der Hauptversammlung ... 35 c) Nachweis der Stimmenzählung (§ 129 Abs. 5) ............................. 37 5. Verstöße im Zusammenhang mit dem Teilnehmerverzeichnis ............. 41 IV. Versammlungsleitung ..................... 44 1. Allgemeines ....................................... 44 2. Versammlungsleiter .......................... 45 a) Person des Versammlungsleiters ........................................... 45 b) Befugnisse des Versammlungsleiters ........................................... 47

Überblick

1 Im dritten Unterabschnitt (§§ 129 bis 132) des vierten Abschnitts des AktG sind einzelne Fragen der Durchführung der Hauptversammlung geregelt. Die einleitende Vorschrift des § 129 betrifft dabei vor allem zwei Fragenbereiche: zum einen die Ermächtigung der Hauptversammlung zur Schaffung einer Geschäftsordnung (§ 129 Abs. 1 Satz 1) und zum anderen die Verpflichtung zur Führung eines Teilnehmerverzeichnisses (§ 129 Abs. 1 Satz 2 bis Abs. 5). Die Vorschrift ist zwingend.1) Für Sonderbeschlüsse und Sonderversammlungen gelten die Regelungen entsprechend (§ 138 Satz 2). 2 Die Vorschrift ist mehrfach geändert worden,2) zuletzt durch das ARUG II3) (Folgeänderung in § 129 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 5) und das ARUG4) (Folgeänderung in § 129 Abs. 2 Satz 1). Danach kann der Abstimmende von der Gesellschaft eine Bestätigung darüber verlangen, ob und wie seine Stimme gezählt wurde (§ 129 Abs. 5 AktG n. F., zur zeitlichen Anwendbarkeit s. Art. 26j EGAktG). II.

Geschäftsordnung (§ 129 Abs. 1 Satz 1)

1.

Ermächtigung

3 Die Hauptversammlung kann sich eine Geschäftsordnung mit Regeln für die Vorbereitung und Durchführung der Hauptversammlung geben (§ 129 Abs. 1 Satz 1). Die Regelung hat allerdings lediglich deklaratorische Bedeutung. Bereits vor der Einführung der

_____________ 1) 2) 3) 4)

Teilweise weitergehend im Hinblick auf § 129 Abs. 4 Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 46; Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 129 Rz. 17. S. die Nachweise bei Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 129 Rz. 1. Art. 1 Nr. 17 des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2637; s. dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 19/9739, S. 97 f. Art. 1 Nr. 18 des Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG), BGBl. I 2009, 2479; s. dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 16/11642, S. 47 und S. 49 ff.

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Geschäftsordnung; Verzeichnis der Teilnehmer; Nachweis der Stimmzählung

§ 129

Vorschrift im Jahr 19985) war allgemein anerkannt, dass die Hauptversammlung in einer Geschäftsordnung Verfahrensregeln zum Ablauf der Hauptversammlung niederlegen kann.6) Die Vorschrift wird vielfach als überflüssig7) angesehen. In der Praxis hat die Geschäftsordnung der Hauptversammlung (anders als die Geschäftsordnung des Vorstands, siehe § 77 oder des Aufsichtsrats, siehe § 107) nur geringe Bedeutung. 2.

Inhalt der Geschäftsordnung

Inhaltlich betrifft die Geschäftsordnung die Vorbereitung und Durchführung der Haupt- 4 versammlung (§ 129 Abs. 1 Satz 1). Allerdings ist der mögliche Inhalt der Geschäftsordnung durch die zwingenden Vorgaben des Aktienrechts in mehrfacher Hinsicht beschränkt.8) Die Geschäftsordnung steht in der Normenhierarchie unter dem AktG und der Satzung und darf diesen daher nicht widersprechen (siehe auch § 23 Abs. 5).9) Darüber hinaus darf die Geschäftsordnung die Leitungs- und Ordnungsbefugnisse des Versammlungsleiters nicht beschränken, da ihm diese nicht von der Hauptversammlung gewährt werden, sondern kraft seines Amtes zustehen. Schließlich darf die Geschäftsordnung auch nicht in die Rechte der Aktionäre eingreifen (wie etwa das Teilnahme-, Stimm- oder Auskunftsrecht). Aufgrund dieser ungeschriebenen Grenzen haben Geschäftsordnungen für die Hauptversammlung in der Praxis nur eine geringe Bedeutung (anders als die Geschäftsordnungen für den Vorstand oder den Aufsichtsrat).10) Beispiele für zulässige Regelungen in der Geschäftsordnung einer Hauptversammlung 5 sind etwa:11) –

Zulassung von Bild- und Tonübertragungen der Versammlung (§ 118 Abs. 4),



Ermächtigung des Versammlungsleiters zur Beschränkung des Frage- und Rederechts der Aktionäre (§ 131 Abs. 2 Satz 2),



Bestimmung des Versammlungsleiters (soweit nicht bereits durch die Satzung vorgegeben),



Zulassung von Gästen und Vertretern der Medien zur Hauptversammlung,



Teilnahmerecht des Abschlussprüfers an der Hauptversammlung (über § 176 Abs. 2 hinausgehend),



Behandlung einzelner Tagesordnungspunkte,



Eröffnung, Unterbrechung, Fortsetzung, Vertagung oder Schließung der Hauptversammlung.

_____________ 5) Art. 1 Nr. 18 des Gesetzes zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) v. 27.4.1998, BGBl. I 1998, 78; s. dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 13/9712, S. 19. 6) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 129 Rz. 1a. 7) So K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 129 Rz. 1; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 3. 8) Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 4. 9) Missverständlich insoweit die Begr. RegE KonTraG, BT-Drucks. 13/9712, S. 19 f. 10) Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 129 Rz. 1a; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 129 Rz. 3; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 129 Rz. 4. 11) Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 129 Rz. 7; Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 129 Rz. 6; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 12; Spindler/ Stilz-Wicke, AktG, § 129 Rz. 10. – Weitergehend teilweise die in der Begr. RegE genannten Bsp., BTDrucks. 13/9712, S. 19.

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§ 129

Geschäftsordnung; Verzeichnis der Teilnehmer; Nachweis der Stimmzählung

6 Allerdings ist auch in diesen Fällen eine Regelung in einer Geschäftsordnung keineswegs immer sinnvoll, weil sie zu einer ungewollten Selbstbindung der Verwaltung führt und zudem die richtige Entscheidung in der jeweiligen Situation unter Umständen erschwert. 7 Unzulässig wären dagegen etwa folgende Regelungen in der Geschäftsordnung einer Hauptversammlung:12) –

Ausübung allgemeiner Ordnungsbefugnisse des Versammlungsleiters,



Sicherheitskontrollen,



Einberufung der Hauptversammlung (siehe §§ 121 bis 128),



Ausübung des Stimmrechts (§§ 133 bis 135).

8 Eine Regelung durch die Geschäftsordnung ist insbesondere auch in den Fällen unzulässig, in denen der Gesetzgeber eine Regelungsmöglichkeit durch die Satzung (z. B. §§ 121 Abs. 5 Satz 1, 122 Abs. 1 Satz 2, § 123 Abs. 2 und 3, 134 Abs. 4), aber eben nicht auch durch die Geschäftsordnung vorgesehen hat (Umkehrschluss aus §§ 118 Abs. 4 und 131 Abs. 2 Satz 2).13) Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn die Satzung ausdrücklich eine Ermächtigung für eine Regelung in einer Geschäftsordnung vorsieht.14) 3.

Verfahren bei Erlass einer Geschäftsordnung

9 Der Erlass einer Geschäftsordnung erfolgt durch Beschluss der Hauptversammlung. Der Beschluss der Hauptversammlung bedarf einer Mehrheit, die mindestens drei Viertel des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals umfasst (§ 129 Abs. 1 Satz 1) und der einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen (§ 133 Abs. 1). Die Satzung kann (anders als etwa für satzungsändernde Beschlüsse, § 179 Abs. 2 Satz 2) keine andere Kapitalmehrheit vorsehen und auch keine weiteren Erfordernisse aufstellen (siehe § 179 Abs. 2 Satz 3). Der Beschluss der Hauptversammlung bedarf stets der notariellen Beurkundung (§ 130 Abs. 1). 10 Mit der Einberufung der Hauptversammlung ist der Vorschlag zur Beschlussfassung über die Geschäftsordnung bekannt zu machen (§§ 121 Abs. 3 und 4 sowie 124 Abs. 3 und 4). Die vorgeschlagene Geschäftsordnung ist i. Ü. weder im Wortlaut15) noch ihrem wesentlichen Inhalt nach16) gesondert bekannt zu machen (siehe § 124 Abs. 2 Satz 2).17) Denn die Geschäftsordnung ist mit der Satzung bzw. einem zustimmungsbedürftigen Vertrag nicht vergleichbar. Der Inhalt der Geschäftsordnung muss den Aktionären auch nicht über die Internetseite der Gesellschaft zugänglich gemacht werden (siehe etwa §§ 175 Abs. 2, 124a).18) Die Geschäftsordnung ist nicht zum Handelsregister einzureichen (siehe demgegenüber für die Satzung, §§ 37 Abs. 4 Nr. 1, 181). 11 Für die (vollständige oder teilweise) Änderung oder Aufhebung einer Geschäftsordnung gelten dieselben Verfahrensregeln und Mehrheitserfordernisse wie für deren erstmaligen _____________ 12) Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 6; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, § 129 Rz. 5. 13) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 129 Rz. 1c; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 4. 14) A. A. allerdings Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 129 Rz. 5; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 4; Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 129 Rz. 4. 15) Dafür Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 129 Rz. 8; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 129 Rz. 10. 16) Dafür Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 8; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 129 Rz. 1d; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 9. 17) Zutreffend Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 129 Rz. 20. 18) So aber Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 9; Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 129 Rz. 11; dagegen zu Recht Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 8.

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Geschäftsordnung; Verzeichnis der Teilnehmer; Nachweis der Stimmzählung

§ 129

Erlass.19) Die gesetzliche Regelung ist (entgegen einer weit verbreiteten Meinung) nicht auf den erstmaligen Erlass einer neuen Geschäftsordnung beschränkt (siehe Gesetzeswortlaut „Geschäftsordnung … geben“ in § 129 Abs. 1 Satz 1). Eine punktuelle Durchbrechung der Geschäftsordnung ist im Einzelfall mit einer qualifi- 12 zierten Mehrheit möglich.20) 4.

Verstöße gegen die Geschäftsordnung

Ein Beschluss der Hauptversammlung, der unter Verstoß gegen die Bestimmungen der Ge- 13 schäftsordnung gefasst worden ist, kann grundsätzlich nicht angefochten werden. Denn eine Beschlussanfechtung ist nur wegen Verletzung des Gesetzes oder der Satzung, nicht aber auch der Geschäftsordnung möglich (§ 243 Abs. 1).21) Etwas anderes gilt aber dann, wenn in dem Verstoß gegen die Geschäftsordnung zugleich auch ein Verstoß gegen das Gesetz oder die Satzung zu sehen ist (z. B. § 53a).22) III.

Teilnehmerverzeichnis (§ 129 Abs. 1 Satz 2 – Abs. 5)

1.

Zweck des Teilnehmerverzeichnisses

In der Hauptversammlung23) ist ein Teilnehmerverzeichnis aufzustellen (§ 129 Abs. 1 14 Satz 2).24) Nach der amtlichen Gesetzesbegründung hat das Teilnehmerverzeichnis vor allem den Zweck festzuhalten, welche Personen (als Aktionär, Bevollmächtigte oder Fremdbesitzer) an der Hauptversammlung teilgenommen haben.25) In der Praxis dient das Teilnehmerverzeichnis vor allem auch als Präsenzliste und ermöglicht somit insbesondere die Feststellung der Beschlussfähigkeit, die Ermittlung des Abstimmungsergebnisses (z. B. beim Subtraktionsverfahren) und die Kontrolle von gesetzlichen Stimmrechtsausschlüssen (z. B. nach §§ 20 Abs. 7, 21 Abs. 4, 71b oder § 136 Abs. 1). Darüber hinaus lässt sich anhand des Teilnehmerverzeichnisses feststellen, ob den anwesenden Personen ein Redeund Fragerecht zusteht (oder sie bspw. nur als Gast an der Hauptversammlung teilnehmen). Der Vorstand kann anhand des Teilnehmerverzeichnisses zudem feststellen, welchen Intermediären bzw. Aktionärsvereinigungen er die Einberufung der Hauptversammlung mitteilen muss (§ 125 Abs. 1 Satz 1). Nicht bezweckt (und auch nicht erreicht), wird dagegen die Transparenz der Beteili- 15 gungsverhältnisse (insbesondere weil in den Fällen des § 129 Abs. 2 und Abs. 3 die Aktionäre im Teilnehmerverzeichnis nicht aufgeführt werden).26) _____________ 19) Wie hier K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 129 Rz. 12; anders die h. M. in Bezug auf die vollständige Aufhebung – nur einfache Mehrheit erforderlich – Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 129 Rz. 10; Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 9; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 129 Rz. 1e; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 10. 20) Ebenso K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 129 Rz. 11; anders aber die wohl überwiegende Meinung, Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 10; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 11. 21) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, AktG, § 129 Rz. 28 ff.; a. A. – unter Hinweis darauf, dass die GO auf einer gesetzlichen Grundlage in Gestalt von § 129 Abs. 1 Satz 1 beruht – K. Schmidt/LutterZiemons, AktG, § 129 Rz. 14; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 14. 22) Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 11; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 129 Rz. 1g. 23) Zum Teilnehmerverzeichnis in der virtuellen Hauptversammlung s. Danwerth, NZG 2020, 586; Guntermann, ZGR 2021, 436. 24) Zum Datenschutz s. Koschmieder, DB 2019, 2113; v. d. Linden, BB 2019, 75. 25) Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 2; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 129 Rz. 1; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 129 Rz. 32 ff.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 129 Rz. 2; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 1 f. 26) Weitergehend Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 1 und 22.

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§ 129 2.

Geschäftsordnung; Verzeichnis der Teilnehmer; Nachweis der Stimmzählung Aufstellung des Teilnehmerverzeichnisses

16 Ein Teilnehmerverzeichnis ist in jeder Hauptversammlung aufzustellen, und zwar auch dann, wenn es sich um eine Vollversammlung27) oder eine Einmann-AG28) handelt. 17 Das AktG regelt nur, dass in der Hauptversammlung ein Teilnehmerverzeichnis aufzustellen ist (§ 129 Abs. 1 Satz 2), lässt aber offen, wer dafür zuständig ist. Die Frage ist umstritten.29) Richtigerweise sind die Gesellschaft (vertreten durch den Vorstand)30) und der Versammlungsleiter gemeinsam für die Aufstellung des Teilnehmerverzeichnisses verantwortlich. Der Gesellschaft obliegt die Pflicht zur Vorbereitung der Hauptversammlung. Damit muss sie auch die technischen und organisatorischen Voraussetzungen für die Aufstellung des Teilnehmerverzeichnisses schaffen. Der Versammlungsleiter muss dagegen die korrekte Führung des Teilnehmerverzeichnisses in der Hauptversammlung sicherstellen. Dabei kann er sich der von der Gesellschaft bereitgestellten Hilfsmittel bedienen. 18 Das Teilnehmerverzeichnis ist „in der Hauptversammlung“ aufzustellen (§ 129 Abs. 1 Satz 2). Üblich und zulässig ist es aber, mit der Aufstellung des Teilnehmerverzeichnisses bereits vor der Hauptversammlung zu beginnen (auf der Grundlage der erfolgten Anmeldungen, Hinterlegungen oder Eintragungen im Aktienregister).31) Denn spätestens „vor der ersten Abstimmung“ muss die Aufstellung des Teilnehmerverzeichnisses abgeschlossen sein (§ 129 Abs. 4 Satz 1).32) Gegebenenfalls muss der Versammlungsleiter die Hauptversammlung bis zur Fertigstellung des Teilnehmerverzeichnisses unterbrechen. 19 Änderungen im Kreis der Teilnehmer (z. B. vorzeitiges Verlassen der Hauptversammlung oder nachträgliches Erscheinen von Aktionären) sind in Nachträgen zum Teilnehmerverzeichnis festzuhalten. Eine Aktualisierung des Teilnehmerverzeichnisses ist insbesondere vor Beginn jeder Abstimmung erforderlich.33) Das bei Beginn der Versammlung erstellte Teilnehmerverzeichnis und die späteren Nachträge bilden zusammen ein einheitliches Teilnehmerverzeichnis. 20 Das Teilnehmerverzeichnis kann schriftlich oder elektronisch geführt werden.34) Das gesetzliche Einsichtsrecht muss allerdings auch nach der Hauptversammlung noch gewährleistet sein (§ 129 Abs. 4 Satz 2). Das Teilnehmerverzeichnis muss stets so geführt werden, dass es für einen Einsicht nehmenden Aktionär übersichtlich und verständlich ist (Rechtsgedanke § 238 Abs. 1 HGB). 21 Eine Unterzeichnung des Teilnehmerverzeichnisses (durch den Versammlungsleiter oder eine andere Person) ist gesetzlich nicht vorgesehen und auch nicht erforderlich.

_____________ 27) Allg. M., s. nur Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 14; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 129 Rz. 5. 28) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 129 Rz. 17; a. A. aber die ganz h. M. Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 14; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 129 Rz. 5; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 15. 29) Offengelassen von BGH, Urt. v. 30.6.2015 – II ZR 142/14, Rz. 34, ZIP 2015, 2069 mit Anm. Schüppen, dazu EWiR 2015, 661 (Bayer/Scholz). S. zum Streitstand und für eine differenzierende Lösung HöltersDrinhausen, AktG, § 129 Rz. 15; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 129 Rz. 6 f. 30) Dafür Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 129 Rz. 17; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 129 Rz. 81; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 129 Rz. 15; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 16; Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 129 Rz. 20 f. 31) Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 17. 32) Weitergehend K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 129 Rz. 19 – Teilnehmerverzeichnis muss bereits vor Beginn der Aussprache aufgestellt und zugänglich sein. 33) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 129 Rz. 20; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 19 f.; Spindler/Stilz-Wicke, § 129 Rz. 24; mit gewissen Einschränkungen auch Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 18; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 129 Rz. 75 f. 34) Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 19; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 129 Rz. 18.

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Geschäftsordnung; Verzeichnis der Teilnehmer; Nachweis der Stimmzählung

§ 129

Den beurkundenden Notar treffen in Bezug auf das Teilnehmerverzeichnis keine Prüfungs-, 22 Kontroll- oder Überwachungspflichten.35) Denn das Teilnehmerverzeichnis muss nicht beurkundet und der Niederschrift auch nicht als Anlage beigefügt werden (siehe § 130 Abs. 2 und 3). Fehler bei der Aufstellung des Teilnehmerverzeichnisses können daher auch nicht zur Nichtigkeit des Hauptversammlungsbeschlusses (nach § 241 Nr. 2) führen (allerdings kann der Beschluss anfechtbar sein, § 243 Abs. 1). Der Notar darf die Beurkundung auch dann nicht ablehnen, wenn das Teilnehmerverzeichnis ganz fehlt oder nach seiner Auffassung fehlerhaft ist (siehe § 4 BeurkG und § 14 Abs. 2 BNotO). 3.

Inhalt des Teilnehmerverzeichnisses

a)

Überblick

Im Teilnehmerverzeichnis sind Aktionäre (Eigenbesitz, „E“), Bevollmächtigte (Vollmachts- 23 besitz, „V“) und Fremdbesitzer (Fremdbesitz, „F“) mit unterschiedlichen Angaben aufzuführen (§ 129 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, 3 und 5). b)

Eigenbesitz

In das Teilnehmerverzeichnis sind die erschienenen und vertretenen Aktionäre sowie die Ver- 24 treter von Aktionären aufzunehmen (sog. Eigenbesitz, § 129 Abs. 1 Satz 2). Erschienene Aktionäre sind die Aktionäre, die ihre Aktien im eigenen Namen halten. Als 25 erschienen gelten auch Aktionäre, die online36) an der Hauptversammlung teilnehmen (§ 118 Abs. 1 Satz 2), nicht dagegen auch die Aktionäre, die ihr Stimmrecht i. R. der Briefwahl ausüben (§ 118 Abs. 2).37) Treuhandverhältnisse sind im Teilnehmerverzeichnis nicht besonders anzugeben.38) „Vertretene Aktionäre“ meint diejenigen Aktionäre, die aufgrund offener Stellvertretung 26 von einer anderen Person vertreten werden. In diesem Fall ist sowohl der offene Stellvertreter als auch der vertretene Aktionär in das Teilnehmerverzeichnis aufzunehmen (§ 129 Abs. 1 Satz 2 und Umkehrschluss aus § 129 Abs. 2 Satz 2). Im Falle offener Stellvertretung gehören die Aktien zum Eigenbesitz (und nicht zum Vollmachtsbesitz wie im Falle der verdeckten Stellvertretung). Anzugeben ist jeweils der (Vor-39) und Nach-)Name und der Wohnort des Aktionärs (und 27 im Falle der offenen Stellvertretung auch zusätzlich des Vertreters) (§ 129 Abs. 1 Satz 2). Nicht (zwingend) anzugeben sind dagegen der Beruf, das Geburtsdatum oder die vollständige Wohnanschrift. Bei Gesellschaften sind an Stelle von Name und Wohnort die Firma und der Sitz anzugeben. Bei einem Wohnort bzw. Sitz im Ausland ist aus Gründen der Transparenz auch die Angabe des entsprechenden Staates geboten.40)

_____________ 35) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 129 Rz. 16; weitergehend allerdings die h. M., wonach dem Notar zumindest eine summarische Rechtmäßigkeitsprüfung bzw. eine Plausibilitätskontrolle obliegt, Bürgers/ Körber/Lieder-Reger, AktG, § 129 Rz. 18; Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 16; Noack/ Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 129 Rz. 83 f.; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 17 und 20. 36) Zum Teilnehmerverzeichnis in der virtuellen Hauptversammlung s. Danwerth, NZG 2020, 586 sowie die Nachweise bei § 131 Rz. 45 ff. 37) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 129 Rz. 47 und 49; Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 129 Rz. 31. 38) Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 25; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 129 Rz. 46. 39) Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 20; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 23; a. A. Spindler/ Stilz-Wicke, AktG, § 129 Rz. 26. 40) Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 20; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 24; Spindler/StilzWicke, AktG, § 129 Rz. 26; a. A. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 129 Rz. 25.

Thomas Wachter

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§ 129

Geschäftsordnung; Verzeichnis der Teilnehmer; Nachweis der Stimmzählung

28 Ferner sind Angaben zum Umfang des Aktienbesitzes und zur Gattung der Aktien erforderlich (§ 129 Abs. 1 Satz 2). Bei Nennbetragsaktien (siehe § 8 Abs. 2) ist der gesamte Nennbetrag, bei Stückaktien (siehe § 8 Abs. 3) die Zahl der Aktien anzugeben (siehe auch § 134 Abs. 1 Satz 1). Bei Aktien unterschiedlicher Gattungen (§ 11) – und nur dann – ist im Hinblick auf etwaige Sonderbeschlüsse (siehe z. B. §§ 179 Abs. 3, 182 Abs. 2 Satz 2, 222 Abs. 2 Satz 2) zusätzlich die jeweilige Gattung anzugeben. c)

Vollmachtsbesitz

29 In Fällen der offenen Stellvertretung ist im Teilnehmerverzeichnis sowohl die Person des Vertreters als auch des Aktionärs offen zu legen (§ 129 Abs. 1 Satz 2). Dagegen ist es in Fällen der verdeckten Stellvertretung (Handeln im Namen dessen, den es angeht) ausreichend, nur die Person des Bevollmächtigten (und nicht auch die des Aktionärs) im Teilnehmerverzeichnis anzugeben (sog. Vollmachtsbesitz, § 129 Abs. 2 Satz 2). Eine solche verdeckte Stellvertretung ist allerdings nur durch Intermediäre (§ 129 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 67a Abs. 4, siehe auch § 135 Abs. 5 Satz 2), Aktionärsvereinigungen (§ 135 Abs. 8) und Finanzdienstleister (§ 129 Abs. 5, § 125 Abs. 5) zulässig. Gleichgestellt sind darüber hinaus die von der Gesellschaft benannten Stimmrechtsvertreter41) (siehe § 134 Abs. 3 Satz 5).42) In allen anderen Fällen ist nur eine offene Stellvertretung möglich. 30 Im Teilnehmerverzeichnis ist die verdeckte Stellvertretung gesondert anzugeben (in der Praxis meist abgekürzt „V“, § 129 Abs. 2 Satz 2). Allerdings ist nicht jeder Vollmachtsbesitz einzeln aufzuführen. Vielmehr können wert- und gattungsgleiche Aktien zusammengefasst werden, wenn ein Bevollmächtigter mehrere Aktionäre vertritt.43) In Bezug auf die erforderlichen Angaben zum Umfang des Aktienbesitzes gelten die gleichen Anforderungen wie beim Eigenbesitz (§ 129 Abs. 2 Satz 1). d)

Fremdbesitz

31 Bei der (offenen und verdeckten) Stellvertretung handelt der Vertreter jeweils im fremden Namen. Davon zu unterscheiden ist der Fall der sog. Legitimationsübertragung, bei der der Aktionär eine (beliebige) andere Person (nicht aber ein Intermediär, § 135 Abs. 1 Satz 1) zeitlich befristet ermächtigt (§ 185 BGB), das (fremde) Stimmrecht im eigenen Namen auszuüben.44) Die Legitimationszession45) ist gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt, wird aber im Gesetz als zulässig vorausgesetzt (siehe § 129 Abs. 3, § 135 Abs. 6). Als Fall des Fremdbesitzes wird auch die Ausübung des Stimmrechts durch einen Testamentsvollstrecker oder einen Insolvenzverwalter angesehen.46)

_____________ 41) Zur Stimmrechtsausübung durch einen von der Gesellschaft benannten, aber nicht bei dieser tätigen Stimmrechtsvertreter s. OLG Hamm, Urt. v. 8.10.2012 – I-8 U 270/11, ZIP 2013, 1024. 42) Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 23; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 31. 43) Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 24; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 32; a. A. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 129 Rz. 26. 44) Zur Anfechtungsbefugnis des wahren Aktionärs im Falle einer Legitimationsübertragung s. LG Frankfurt/M., Urt. v. 18.12.2012 – 3-05 O 96/12, ZIP 2013, 119. Zustimmend Bayer/Scholz, NZG 2013, 721, 722 f. – Zur Anfechtung eines Hauptversammlungsbeschlusses wegen der Ausübung des Stimmrechts durch einen nicht ausreichend ermächtigten Legitimationsaktionär s. OLG Bremen, Beschl. v. 16.8.2012 – 2 U 51/12 (AktG), ZIP 2013, 460. Ablehnend Bayer/Scholz, NZG 2013, 721, 723 f. 45) Grundlegend Mohamed, Die Legitimationszession im Aktienrecht: Eine Untersuchung zu den Legitimations- und Strukturfragen der anonymen Repräsentanz, 2018. 46) Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 25; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 129 Rz. 62.

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Thomas Wachter

Geschäftsordnung; Verzeichnis der Teilnehmer; Nachweis der Stimmzählung

§ 129

Im Teilnehmerverzeichnis ist die Legitimationsübertragung anzugeben (meist gekenn- 32 zeichnet als „F“, § 129 Abs. 3 Satz 1). Dabei wird nur der Legitimationsaktionär,47) nicht aber auch der übertragende Aktionär selbst aufgeführt. In Bezug auf den Aktienbesitz sind die gleichen Angaben wie beim Vollmachtsbesitz zu machen. Dies gilt auch für die Möglichkeit Aktien mehrerer Aktionäre zusammenzufassen, wenn für diese nur ein Legitimationsaktionär handelt.48) Die Legitimationsübertragung ist im Teilnehmerverzeichnis auch dann anzugeben, wenn der Legitimationsaktionär bereits im Aktienregister eingetragen ist (§ 129 Abs. 3 Satz 2 als Klarstellung gegenüber § 67 Abs. 2).49) e)

Sonstiger Inhalt

Weitere Angaben sind im Teilnehmerverzeichnis zwar möglich, aber weder erforderlich 33 noch üblich. Insbesondere sind keine Angaben zu machen zu etwaigen Stimmverboten, Belastungen von Aktien mit Nießbrauchs- oder Pfandrechten oder zur Leistung der Einlagen (siehe § 134 Abs. 2).50) 4.

Publizität des Teilnehmerverzeichnisses

a)

In der Hauptversammlung

Das Teilnehmerverzeichnis ist vor der ersten Abstimmung51) (gleich welcher Art) allen 34 Teilnehmern (schriftlich oder elektronisch) zugänglich zu machen (§ 129 Abs. 4 Satz 1).52) Zugangsberechtigt sind nicht nur Aktionäre und deren Vertreter, sondern alle Teilnehmer, d. h. auch die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats, der Abschlussprüfer und der beurkundende Notar (nicht aber auch Gäste und Vertreter der Medien).53) Nachdem das Teilnehmerverzeichnis zugänglich gemacht worden ist, kann umgehend mit der Abstimmung begonnen werden.54) Das Teilnehmerverzeichnis muss bis zum Ende der Hauptversammlung zugänglich bleiben. b)

Nach der Hauptversammlung

Nach der Hauptversammlung muss die Gesellschaft jedem Aktionär (nicht auch Dritten) 35 auf die Dauer von zwei Jahren Einsicht in das Teilnehmerverzeichnis gewähren (§ 129 Abs. 4 Satz 2). Die Einsichtsgewährung kann schriftlich oder elektronisch erfolgen. Ausreichend wäre es demnach grundsätzlich auch, das Teilnehmerverzeichnis den Aktionären über die Internetseite der Gesellschaft zugänglich zu machen. Gleichwohl sollte dies aus Gründen des Daten- und Persönlichkeitsschutzes im Regelfall nicht geschehen (siehe auch § 30a Abs. 1 Nr. 3 WpHG für börsennotierte Gesellschaften).55) Zur Einsichtnahme _____________ 47) Allgemein zur Rechtsstellung des Legitimationsaktionärs s. Bayer/Scholz, NZG 2013, 721; Grunewald, ZGR 2015, 347; Noack in: FS Stilz, S. 439 ff. 48) Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 27; Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 129 Rz. 28; a. A. – trotz des identischen Wortlauts „gesondert anzugeben“ in § 129 Abs. 2 und 3 AktG – Kubis in: MünchKommAktG, § 129 Rz. 34. 49) Zur (nicht bestehenden) Mitteilungspflicht von Legitimationsaktionären nach § 21 Abs. 1 WpHG s. die Klarstellung durch Art. 3 Nr. 5 des Kleinanlegerschutzgesetzes v. 3.7.2015, BGBl. I 2015, 1114. Ausführlich dazu Piroth, AG 2015, 10; Wettich, AG 2015, 681, 682. 50) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 129 Rz. 4. 51) A. A. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 129 Rz. 19 und 31 – vor Beginn der Aussprache. 52) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 129 Rz. 13. 53) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 129 Rz. 13; großzügiger – Ermessen des Versammlungsleiters – HöltersDrinhausen, AktG, § 129 Rz. 29; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 35. 54) Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 30; Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 129 Rz. 32; a. A. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 37 – Mindestfrist von 15 Minuten. 55) S. Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 129 Rz. 31; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 129 Rz. 33.

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§ 129

Geschäftsordnung; Verzeichnis der Teilnehmer; Nachweis der Stimmzählung

berechtigt sind alle Aktionäre, die im Teilnehmerverzeichnis als solche aufgeführt sind oder im Zeitpunkt des Einsichtsverlangens Aktionäre sind.56) 36 Im Handelsregister kann das Teilnehmerverzeichnis heute nicht mehr abgerufen werden (§ 9 Abs. 1 HGB). Das Teilnehmerverzeichnis ist der Niederschrift über die Hauptversammlung nicht mehr als Anlage beizufügen (siehe § 130 Abs. 3), so dass das Handelsregister insoweit auch keine Publizitätswirkung mehr hat (§ 130 Abs. 5). Etwas anderes gilt nur dann, wenn das Teilnehmerverzeichnis der Niederschrift ausnahmsweise freiwillig beigefügt worden ist. c)

Nachweis der Stimmenzählung (§ 129 Abs. 5)

37 Der Abstimmende kann von der Gesellschaft eine Bestätigung darüber verlangen, ob und wie seine Stimme gezählt wurde (§ 129 Abs. 5). Die Vorschrift wurde durch das ARUG II57) eingeführt und gilt für alle Hauptversammlungen, die nach dem 3.9.2020 einberufen worden sind (siehe Art. 26j Abs. 4 EGAktG). Die Vorschrift soll dem Aktionär die Prüfung ermöglichen, ob seine Stimme ordnungsgemäß aufgezeichnet und gezählt wurde. 38 Die Frist für das Verlangen des Abstimmenden beträgt einen Monat nach dem Tag der Hauptversammlung (siehe § 246 Abs. 1). Für die Fristberechnung gelten §§ 187 bis 193 BGB (und nicht § 121 Abs. 7, da die Frist nicht vom Tag der Hauptversammlung zurückberechnet wird). Hinsichtlich der sonstigen Formalitäten verweist das Gesetz auf die Aktionärsrechte-Richtlinie-Durchführungsverordnung (siehe § 129 Abs. 5 Sätze 2 ff. i. V. m. § 67a). 39 Die Gesellschaft muss dem Abstimmenden bestätigen, dass und wie seine Stimme gewertet worden ist (z. B. Ja, Nein, Enthaltung, Ungültig). 40 Unrichtige, unvollständige oder verspätete Bestätigungen der Gesellschaft stellen eine Ordnungswidrigkeit dar und (§ 405 Abs. 2a Nr. 7) und können bei Vorsatz mit Bußgeldern geahndet werden (§ 405 Abs. 4 und 5 AktG i. V. m. § 10 OWiG). Bei schuldhaften Pflichtverletzungen können auch Schadensersatzansprüche der Abstimmenden bestehen (§§ 280 Abs. 1, 249 ff. BGB). 5.

Verstöße im Zusammenhang mit dem Teilnehmerverzeichnis

41 Verstöße gegen die Pflicht zur Aufstellung und Führung des Teilnehmerverzeichnisses machen die Beschlüsse der Hauptversammlung anfechtbar (§ 243 Abs. 1).58) Eine Anfechtungsklage ist allerdings nur dann begründet, wenn der Beschluss (ausnahmsweise) auf dem fehlenden, unvollständigen oder falschen Teilnehmerverzeichnis beruht.59) 42 Bei schuldhaften Pflichtverletzungen können darüber hinaus auch Schadensersatzansprüche anderer Teilnehmer (nicht aber der Gesellschaft selbst) bestehen (§ 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 129 AktG). 43 Wer als Aktionär oder Aktionärsvertreter die in das Teilnehmerverzeichnis aufzunehmenden Angaben vorsätzlich nicht oder nicht richtig macht, begeht eine Ordnungswidrigkeit (§ 405 Abs. 2 AktG i. V. m. § 10 OWiG). Daraus können sich zudem Schadensersatzansprüche ergeben (§ 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 405 Abs. 2 AktG). _____________ 56) Hölters-Drinhausen, AktG, § 129 Rz. 31. 57) Art. 1 Nr. 17 des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2637, s. dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 19/9739, S. 97 f. 58) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 129 Rz. 16; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 129 Rz. 42 f.; Spindler/StilzWicke, AktG, § 129 Rz. 36. 59) S. dazu OLG Hamburg, Urt. v. 19.5.1989 – 11 U 62/89, AG 1990, 394, dazu EWiR 1990, 731 (Großfeld).

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Thomas Wachter

Geschäftsordnung; Verzeichnis der Teilnehmer; Nachweis der Stimmzählung IV.

Versammlungsleitung

1.

Allgemeines

§ 129

Der Ablauf der Hauptversammlung ist im AktG nur kursorisch geregelt (siehe §§ 118 ff.). In 44 der Satzung bzw. der Geschäftsordnung finden sich meist gleichfalls nur wenige Regelungen zur Durchführung der Hauptversammlung. In der Praxis haben sich über die Jahre verschiedene Grundsätze entwickelt, die heute allgemein anerkannt sind.60) Eine zentrale Bedeutung kommt dabei dem Versammlungsleiter zu. 2.

Versammlungsleiter

a)

Person des Versammlungsleiters

Das Aktienrecht geht zu Recht davon aus, dass jede61) Hauptversammlung einen Ver- 45 sammlungsleiter (siehe §§ 118 Abs. 4, 131 Abs. 2 Satz 2) bzw. einen Vorsitzenden (siehe § 130 Abs. 2 Satz 1) haben muss.62) Zur Person des Versammlungsleiters und dessen Befugnissen fehlt es allerdings an einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung (Ausnahme: § 122 Abs. 3 Satz 2, für den Fall der Einberufung der Hauptversammlung auf Verlangen einer Minderheit)63).64) In der Praxis enthält die Satzung meist eine Regelung, wonach der Vorsitzende des Auf- 46 sichtsrats65) die Hauptversammlung leitet.66) Findet sich in der Satzung ausnahmsweise keine solche Regelung, wird der Versammlungsleiter durch die Hauptversammlung gewählt.67) Dabei übernimmt in der Regel68) der älteste anwesende Aktionär (bzw. nach a. A. der Vorsitzende des Vorstands)69) den Vorsitz und führt die Wahl des Versammlungsleiters durch.70) Der beurkundende Notar kann in keinem Fall als Leiter der Hauptversammlung tätig werden (siehe auch § 3 Abs. 1 Nr. 1 BeurkG).71) Eine Abwahl des Versammlungsleiters

_____________ 60) Instruktiv dazu u. a. Butzke, Hauptversammlung der AG; Höreth/Linnerz, Geschäftsordnungsanträge in Hauptversammlungen, 5. Aufl. 2011; Schaaf, Die Praxis der Hauptversammlung, 4. Aufl. 2018; Reichert, ArbHdb. HV, 5. Aufl. 2021. 61) Zur Erforderlichkeit eines Versammlungsleiters bei der Einpersonen-AG s. Blasche, AG 2017, 16. 62) Umfassend Langenbach, Der Versammlungsleiter in der Aktiengesellschaft, 2018; Niemz, Der Versammlungsleiter im Aktienrecht, 2020; Sauerwald, Der Versammlungsleiter im Aktienrecht, 2018. 63) S. dazu OLG Köln, Urt. v. 16.6.2015 – 18 Wx 1/15, NZG 2015, 1118, dazu EWiR 2015, 599 (Schatz). Ausführlich dazu Schatz, AG 2015, 696; Theusinger/Schilha, NZG 2016, 56. 64) Zur Entscheidungskompetenz der Hauptversammlung in Fragen der Versammlungsleitung Ihrig in: FS Goette, S. 205 ff. 65) Ausführlich zur Versammlungsleitung durch den Vorsitzenden des Aufsichtsrats Drinhausen/MarschBarner, AG 2014, 757; Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281; zu unternehmensexternen Personen als Versammlungsleiter Vetter in: FS Bergmann, S. 799 ff. 66) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 129 Rz. 18; grundsätzlich kein Satzungsverstoß bei partieller Übertragung der Versammlungsleitung während eines Tagesordnungspunkts wegen der Gefahr der Interessenkollision – LG Frankfurt/M., Urt. v. 19.6.2008 – 3/5 O 158/07, NZG 2009, 149. – A. A. OLG Köln, Urt. v. 28.2.2008 – 18 U 3/08, ZIP 2008, 1767 – für eine Einpersonen-AG. Zu Recht kritisch dazu Terbrack, RNotZ 2012, 221. 67) Dabei kann der Vorstandsvorsitzende in der Regel nicht zum Versammlungsleiter gewählt werden, OLG Hamburg, Urt. v. 19.5.1989 – 11 U 62/89, AG 1990, 394, dazu EWiR 1990, 731 (Großfeld). – Zur Wahl des Versammlungsleiters durch die Hauptversammlung s. a. LG Frankfurt/M., Urt. v. 12.3.2013 – 3-05 O 114/12, ZIP 2013, 1425. Ausführlich dazu Weber, NZG 2013, 890. 68) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 129 Rz. 39. 69) Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 129 Rz. 38; Hölters-Drinhausen, AktG, Anh. § 129 Rz. 2. 70) Zur etwaigen Haftung des Versammlungsleiters s. v. d. Linden, NZG 2013, 208. 71) BGH, Urt. v. 21.10.2014 – II ZR 330/13, ZIP 2014, 2494, dazu EWiR 2015, 3 (Kiem/Reutershahn); KG Berlin, Urt. v. 6.12.2010 – 23 AktG 1/10, NZG 2011, 305.

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§ 129

Geschäftsordnung; Verzeichnis der Teilnehmer; Nachweis der Stimmzählung

kommt nur72) bei Vorliegen eines wichtigen Grundes73) (mit qualifizierter Kapitalmehrheit) in Betracht. b)

Befugnisse des Versammlungsleiters

47 Dem Versammlungsleiter stehen grundsätzlich alle Befugnisse zu, die zu einer sachgerechten Durchführung der Hauptversammlung erforderlich sind.74) Dazu gehören insbesondere sämtliche Leitungs- und Ordnungsbefugnisse.75) 48 Die Leitungsbefugnisse umfassen u. a. die Eröffnung,76) Schließung und Unterbrechung der Hauptversammlung, die sachgerechte Erledigung aller Punkte der Tagesordnung (und zwar grundsätzlich in der Reihenfolge, wie sie in der Einberufung aufgeführt sind, siehe § 121 Abs. 3 Satz 2),77) die Organisation der Aussprache (meist in der Form der Generaldebatte) einschließlich der Festlegung der Reihenfolge der Redner, der Erteilung und Entziehung des Wortes, der Bestimmung der Redezeit, die Durchführung einer ordnungsgemäßen Abstimmung und die Feststellung der Ergebnisse der Abstimmung über die einzelnen Beschlüsse. 49 Der Versammlungsleiter kann zudem alle Ordnungsmaßnahmen ergreifen, die im jeweiligen Einzelfall für die Durchführung der Hauptversammlung geboten sind. Die einzelnen Ordnungsmaßnahmen können sich dabei sowohl gegen alle Teilnehmer oder auch nur gezielt gegen einzelne (störende) Teilnehmer der Hauptversammlung richten. Allgemeine Ordnungsmaßnahmen sind bspw. die Bestimmung des Versammlungsraums,78) die Be-

_____________ 72) Generell gegen die Möglichkeit einer Abwahl (sofern die Satzung keine Öffnungsklausel enthält) v. d. Linden, DB 2017, 1371 m. w. N. 73) S. dazu OLG Köln, Urt. v. 9.3.2017 – 18 U 19/16 (Strabag), ZIP 2017, 1211, dazu EWiR 2017, 393 (Klaaßen-Kaiser/Bünten) (Az. d. BGH: II ZR 94/17) – Verpflichtung der Aktionärsmehrheit zur Abwahl aufgrund Treuepflicht gegenüber der Minderheit bei offenbaren und evidenten Leitungsfehlern des Versammlungsleiters, wie etwa Leitung der Hauptversammlung zu einem Tagesordnungspunkt, der die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen ihn selbst betrifft; OLG Stuttgart, Urt. v. 8.7.2015 – 20 U 2/14, DB 2015, 3007 = GWR 2015, 363 mit Anm. Reichard (Az. d. BGH: II ZR 241/15) – Vorliegen eines wichtigen Grundes verneint für ein mögliches Fehlverhalten außerhalb der Hauptversammlung, ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Marktmanipulation und behauptete charakterliche Defizite; OLG Stuttgart, Beschl. v. 2.12.2014 – 20 AktG 1/14, ZIP 2015, 1120 – Redezeitbeschränkung durch Versammlungsleiter ist kein wichtiger Grund für dessen Abberufung. Ausführlich zum Ganzen Hoppe, NZG 2017, 361 f.; v. d. Linden, DB 2017, 1371; Rieckers, DB 2017, 2720, 2724 f.; Schatz/Stein, NJW-Spezial 2016, 335; Wicke, NZG 2018, 161. 74) Grundlegend BGH, Urt. v. 11.11.1965 – II ZR 122/63, BGHZ 44, 245 = WM 1965, 1207; ausführlich dazu u. a. Heidel-Heidel, AktR, Vor §§ 129 – 132 AktG Rz. 16 ff.; Hölters-Drinhausen, AktG, Anh. § 129 Rz. 6 ff.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 129 Rz. 54 ff. – Zur Zulässigkeit der Hinzuziehung von Hilfspersonen s. Kocher/Feigen, NZG 2015, 620. 75) Zur Verantwortlichkeit des Versammlungsleiters für einen rechtlich geordneten Verfahrensablauf s. a. BGH, Urt. v. 21.10.2014 – II ZR 330/13, ZIP 2014, 2494, dazu EWiR 2015, 3 (Kiem/Reutershahn). 76) Einschließlich auch der Einlasskontrolle, so BGH, Urt. v. 30.6.2015 – II ZR 142/14, Rz. 34, ZIP 2015, 2069 mit Anm. Schüppen, dazu EWiR 2015, 661 (Bayer/Scholz). 77) Zur Entscheidung über die Reihenfolge der Abstimmung nach der Sachdienlichkeit – vorbehaltlich § 137 AktG – s. LG München I, Urt. v. 31.3.2016 – 5 HK O 14432/14, ZIP 2016, 973, dazu EWiR 2016, 463 (v. d. Linden); LG Frankfurt/M., Urt. v. 19.6.2008 – 3/5 O 158/07, NZG 2009, 149. 78) S. dazu BGH, Beschl. v. 8.12.2013 – II ZR 329/12, DB 2014, 827 = MittBayNot 2014, 546 mit Anm. Beck (keine Beeinträchtigung des Teilnahmerechts der Aktionäre wegen unzureichender Übertragung der Hauptversammlung in den Catering-Bereich); OLG Frankfurt/M., Urt. v. 16.12.2014 – 5 U 24/14 (Az. d. BGH: II ZR 21/15), ZIP 2015, 1020.

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§ 130

Niederschrift

schränkung der Redezeit, die Schließung der Rednerliste,79) die Anordnung eines Rauchverbots, das Verbot von Bild- und Tonaufnahmen oder Sicherheitsmaßnahmen im Versammlungssaal80). Gegen einzelne Aktionäre sind u. a. folgende Ordnungsmaßnahmen möglich: Beschränkung der Redezeit,81) Ordnungsruf, Wortentzug, Saalverweis,82) Hausverbot. Bei allen Ordnungsmaßnahmen ist stets der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Die jeweilige Ordnungsmaßnahme muss somit stets sachlich erforderlich sein, im konkreten Einzelfall das mildeste mögliche Mittel darstellen und auf der Grundlage einer umfassenden Güterabwägung verhältnismäßig sein. In der Praxis empfiehlt es sich Ordnungsmaßnahmen vorher stets deutlich anzudrohen. Dem Versammlungsleiter können bei der Durchführung der Hauptversammlung Fehler 50 unterlaufen. Schäden können sich daraus insbesondere dann ergeben, wenn Beschlüsse angefochten werden oder die Hauptversammlung wiederholt werden muss. Eine organschaftliche Haftung des Versammlungsleiters scheidet aus, da der Versammlungsleiter kein Organ der Gesellschaft ist (siehe §§ 93, 116 AktG).83) Dies gilt auch dann, wenn ein Mitglied des Aufsichtsrats die Versammlungsleitung übernommen hat. Eine Haftung des Versammlungsleiters kann sich nur aus allgemeinem Delikts- oder Schuldrecht ergeben. Eine schuldhafte Pflichtverletzung wird dabei aber nur selten vorliegen, da dem Versammlungsleiter ein weites Ermessen zusteht. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Versammlungsleiter seine Entscheidungen oft unter großem Zeitdruck und in angespannter Atmosphäre treffen muss. _____________ 79) Zur notwendigen Gleichbehandlung aller Aktionäre (§ 53a) in diesem Zusammenhang s. OLG Frankfurt/M., Urt. v. 12.11.2013 – 5 U 14/13, ZIP 2013, 2403, dazu EWiR 2014, 413 (Schilha/Wolf). 80) S. dazu OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 16.2.2007 – 5 W 43/06, ZIP 2007, 629 – Anfechtung sämtlicher Hauptversammlungsbeschlüsse wegen überzogener Sicherheitskontrollen – körperliche Durchsuchungen und Taschenkontrollen – im Zugangsbereich zum Versammlungssaal. 81) Grundlegend BGH, Urt. v. 8.2.2010 – II ZR 94/08 (Redezeitbeschränkung), ZIP 2010, 575, dazu EWiR 2010, 235 (Priester); ausführlich dazu u. a. Herrler, DNotZ 2010, 331; Jerczynski, NJW 2010, 1566; Kersting, NZG 2010, 446; Krause, BB 2010, 852; Nagel/Ziegenhahn, WM 2010, 1005; Wilsing/ v. d. Linden, DB 2010, 1277, und OLG Frankfurt/M., Urt. v. 16.12.2014 – 5 U 24/14, ZIP 2015, 1020 (Az. d. BGH: II ZR 21/15). 82) S. dazu etwa BGH, Urt. v. 11.11.1965 – II ZR 122/63, BGHZ 44, 245 = WM 1965, 1207; OLG Bremen, Beschl. v. 18.1.2007 – 2 U 113/06, AG 2007, 550. 83) LG Ravensburg, Urt. v. 8.5.2014 – 7 O 51/13 KfH 1, ZIP 2014, 1632, dazu EWiR 2014, 551 (v. d. Linden). Ausführlich zum Ganzen Poelzig, AG 2015, 476; Schürnbrand, NZG 2014, 1211; Theusinger/Schilha, BB 2015, 131.

§ 130 Niederschrift Thomas Wachter

(1) 1Jeder Beschluß der Hauptversammlung ist durch eine über die Verhandlung notariell aufgenommene Niederschrift zu beurkunden. 2Gleiches gilt für jedes Verlangen einer Minderheit nach § 120 Abs. 1 Satz 2, § 137. 3Bei nichtbörsennotierten Gesellschaften reicht eine vom Vorsitzenden des Aufsichtsrats zu unterzeichnende Niederschrift aus, soweit keine Beschlüsse gefaßt werden, für die das Gesetz eine Dreiviertel- oder größere Mehrheit bestimmt. (2) 1In der Niederschrift sind der Ort und der Tag der Verhandlung, der Name des Notars sowie die Art und das Ergebnis der Abstimmung und die Feststellung des Vorsitzenden über die Beschlußfassung anzugeben. 2Bei börsennotierten Gesellschaften umfasst die Feststellung über die Beschlussfassung für jeden Beschluss auch

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1. die Zahl der Aktien, für die gültige Stimmen abgegeben wurden, 2. den Anteil des durch die gültigen Stimmen vertretenen Grundkapitals am eingetragenen Grundkapital, 3. die Zahl der für einen Beschluss abgegebenen Stimmen, Gegenstimmen und gegebenenfalls die Zahl der Enthaltungen. 3

Abweichend von Satz 2 kann der Versammlungsleiter die Feststellung über die Beschlussfassung für jeden Beschluss darauf beschränken, dass die erforderliche Mehrheit erreicht wurde, falls kein Aktionär eine umfassende Feststellung gemäß Satz 2 verlangt. (3) Die Belege über die Einberufung der Versammlung sind der Niederschrift als Anlage beizufügen, wenn sie nicht unter Angabe ihres Inhalts in der Niederschrift aufgeführt sind.

(4) 1Die Niederschrift ist von dem Notar zu unterschreiben. 2Die Zuziehung von Zeugen ist nicht nötig. (5) Unverzüglich nach der Versammlung hat der Vorstand eine öffentlich beglaubigte, im Falle des Absatzes 1 Satz 3 eine vom Vorsitzenden des Aufsichtsrats unterzeichnete Abschrift der Niederschrift und ihrer Anlagen zum Handelsregister einzureichen. (6) Börsennotierte Gesellschaften müssen innerhalb von sieben Tagen nach der Versammlung die festgestellten Abstimmungsergebnisse einschließlich der Angaben nach Absatz 2 Satz 2 auf ihrer Internetseite veröffentlichen. Literatur: Angerer/Backhaus, Der Hauptversammlungsnotar als Zeuge im Beschlussmängelrecht, AG 2022, 16; Attenberger, § 378 Abs. 3 FamFG n. F. und § 15 Abs. 3 GBO n. F. – Notarielle Prüfung auf Eintragungsfähigkeit als Eintragungsvoraussetzung im Register- und Grundbuchverfahren und ausschließliche Einreichung über den Notar im Handelsregisterverfahren, MittBayNot 2017, 335; Bachmann, Die Hauptversammlung der KGaA, in: Festschrift für Reinhard MarschBarner, 2018, S. 13; Bayer/Hoffmann, Auf der Suche nach dem Hauptversammlungsprotokoll – Befunde zu § 130 Abs. 5 AktG, AG 2016, R 63; Blasche, Zur Erforderlichkeit eines Versammlungsleiters bei der Einpersonen-Aktiengesellschaft, AG 2017, 16; Bungert/Leyendeckert-Langner, Hauptversammlungen im Ausland, DB 2015, 268; Diehn/Rachlitz, Notarielle Prüfungspflichten im Grundbuch- und Registerverkehr, DNotZ 2017, 487; Drescher, Die Berichtigung des Hauptversammlungsprotokolls, in: Festschrift 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, 2018, S. 443; Drescher, Die schwebende Nichtigkeit, in: Festschrift für Alfred Bergmann, 2018, S. 169; Drinhausen/ Marsch-Barner, Zur Rechtsstellung des Aufsichtsratsvorsitzenden als Leiter der Hauptversammlung einer börsennotierten Gesellschaft, AG 2014, 757; Gotthardt/Krengel, Beurkundungspflicht des Squeeze-Out-Beschlusses?, NZG 2016, 1411; Grobecker, Beachtenswertes zur Hauptversammlungssaison, NZG 2010, 165; Habersack, Beschlussfeststellung oder Beurkundung der Niederschrift – Wann wird der Hauptversammlungsbeschluss wirksam?, ZIP Beilage Heft 22/ 2016, S. 23; Hauschild, Protokollierung im Rampenlicht, notar 2015, 271; Hauschild/Zetsche, Notar und virtuelle Hauptversammlung, AG 2020, 557; Heckschen/Kreußlein, Fehler und Berichtigungsmöglichkeiten der notariellen Niederschrift über die Hauptversammlung einer AG, NZG 2018, 401; Heinemann, Neue Vermerkpflichten für Notare?, ZNotP 2017, 166; Herrler, Berichtigungsmöglichkeiten bei fehlenden Pflichtangaben in der Hauptversammlungsniederschrift, NJW 2018, 585; Herrler, Anforderungen an den satzungsmäßigen Versammlungsort – Hauptversammlung im. Ausland?, ZGR 2015, 918; Hoffmann-Becking, Der Aufsichtsrat der AG und sein Vorsitzender in der Hauptversammlung, NZG 2017, 281; Hupka, Pflichtangaben in Hauptversammlungsniederschriften und deren Berichtigung, ZGR 2018, 688; Koch, Der Beurkundungsfehler als Nichtigkeitsgrund nach § 241 Nr. 2 AktG, in: Festschrift 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, 2018, S. 491; Leitzen, Die Protokollierung des Abstimmungsergebnisses in der Hauptversammlung der börsennotierten AG bei verkürzter Beschlussfeststellung, ZIP 2010, 1065; Leuering/Rubner, Beschlussfassungen mittels Additions- und Subtraktionsmethode, NJW-

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Spezial 2016, 591; Lieder, Virtuelle Hauptversammlungen, in: Festschrift für Eberhard Vetter, 2019, S. 419; Lubberich, Beschlussmängelrecht auf dem Prüfstand: Anforderungen an das Hauptversammlungsprotokoll und Berichtigung nach „Entäußerung“, DNotZ 2018, 324; Lübke, Die Nichtigkeitsklage des Insolvenzverwalters, die Zustellung der Klageschrift und die Liste der Aufsichtsratsmitglieder als Rechtsscheinträger, ZGR 2021, 156; Mielke/Riechmann, Niederschrift der Hauptversammlung einer nicht börsennotierten AG nach § 130 AktG, BB 2014, 387; Noack/ Zetzsche, Die virtuelle Hauptversammlung nach dem COVID-19-Pandemie-Gesetz 2020, AG 2020, 265; Ott, Die Hauptversammlung einer Einpersonen-Aktiengesellschaft, RNotZ 2014, 423; Polte/Haider-Giangreco, Die Vollversammlung der Aktiengesellschaft, AG 2014, 729; Reger/ Schilha, Neues zur Hauptversammlungsniederschrift – Protokollierung der Abstimmung und nachträgliche Protokollberichtigung, AG 2018, 65; Reul, Aktuelle Änderungen des Aktienrechts aus notarieller Sicht, Teil II, ZNotP 2010, 44; Riekers, Nachlese zur Hauptversammlungssaison 2021 und Ausblick auf 2022, DB 2022, 172; Schmidt, K., Heilung von Hauptversammlungsbeschlüssen durch Protokollberichtigung, in: Festschrift für Reinhard Marsch-Barner, 2018, S. 511; Selter, Angaben zu Art und Ergebnis der Abstimmung in der Hauptversammlungsniederschrift nach der Rechtsprechungsänderung des BGH, ZIP 2018, 1161; Unmuth, Anwesenheitspflicht der Organmitglieder in der Hauptversammlung, NZG 2020, 448; Weber, Von der Identitätskontrolle zur materiellen Richtigkeit die neuen notariellen Prüfpflichten im Grundbuch- und Registerverkehr, RNotZ 2017, 427; Wicke, Amtsbeendigung des Hauptversammlungsleiters, NZG 2018, 161; Wicke, Gemischte Protokollierung der Hauptversammlung einer nichtbörsennotierten AG, DB 2015, 1770; Wilm, Beobachtungen der Hauptversammlungssaison 2010, DB 2010, 1686; Zimmer, Neue Prüfungspflichten des Notars – oder alles beim Alten?, NJW 2017, 1909.

Übersicht I. Überblick ............................................ 1 II. Beurkundungspflicht (§ 130 Abs. 1) ............................................... 10 1. Umfang der Beurkundungspflicht .... 10 a) Beschlüsse der Hauptversammlung (§ 130 Abs. 1 Satz 1) ......................................... 10 b) Minderheitsverlangen (§ 130 Abs. 1 Satz 2) ............................. 11 c) Sonstige Beurkundungspflichten ............................................... 12 2. Urkundsperson ................................. 14 a) Notar ........................................... 14 b) Vorsitzender des Aufsichtsrats (§ 130 Abs. 1 Satz 3) .................. 25 3. Verstöße gegen die Beurkundungspflicht ................................................ 32 III. Inhalt der Niederschrift (§ 130 Abs. 2) ................................... 34 1. Aktienrechtlicher Mindestinhalt der Niederschrift (§ 130 Abs. 2) ..... 34 a) Ort und Tag der Verhandlung .... 34 I.

b) c) d) e)

Name des Notars ....................... Art der Abstimmung ................. Ergebnis der Abstimmung ........ Feststellung über die Beschlussfassung ........................ f) Unterschrift des Notars (§ 130 Abs. 4) ............................. 2. Beurkundungsrechtliche Angaben in der Niederschrift .......................... 3. Verstöße gegen die Beurkundungspflicht ................................................ IV. Anlagen zur Niederschrift (§ 130 Abs. 3) ................................... 1. Einberufungsbelege .......................... 2. Sonstige zwingende Anlagen ........... 3. Fakultative Anlagen ......................... V. Handelsregisterpublizität der Niederschrift (§ 130 Abs. 5) ........... VI. Veröffentlichung der Abstimmungsergebnisse im Internet (§ 130 Abs. 6) ...................................

39 41 45 52 58 61 65 66 66 72 73 74

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Überblick

Über jeden Beschluss der Hauptversammlung ist eine Niederschrift zu errichten und zum 1 Handelsregister einzureichen. Auf diese Weise soll die Willensbildung in der Hauptversammlung für jedermann rechtssicher dokumentiert werden und die Einhaltung der Thomas Wachter

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gesetzlichen Regelungen für die Durchführung von Hauptversammlungen gewährleistet werden.1) 2 Jeder Beschluss der Hauptversammlung ist durch eine über die Verhandlung notariell aufgenommene Niederschrift zu beurkunden (§ 130 Abs. 1 Satz 1). Gleiches gilt für bestimmte Verlangen einer Minderheit von Aktionären (§ 130 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 120 Abs. 1 Satz 2 und § 137). Das notarielle Hauptversammlungsprotokoll ist eine öffentliche Urkunde (§ 415 ZPO).2) Die Beurkundung dient der Vermeidung von späteren Streitigkeiten über die Beschlussfassung und schafft für alle Beteiligten Rechtssicherheit. Ergänzend zu der im Aktienrecht vorgesehenen Beurkundungspflicht gelten die allgemeinen Vorschriften des Beurkundungsrechts über die Errichtung notarieller Niederschriften (§§ 36 ff. i. V. m. § 59 BeurkG). 3 Bei nicht börsennotierten AGs (§ 3 Abs. 2) kann die Niederschrift über die Hauptversammlung an Stelle des Notars auch vom Vorsitzenden des Aufsichtsrats errichtet werden, soweit keine Beschlüsse gefasst werden, für die gesetzlich (zwingend oder fakultativ) mindestens eine Dreiviertel-Mehrheit erforderlich ist (§ 130 Abs. 1 Satz 3). Die vom Vorsitzenden des Aufsichtsrats errichtete Niederschrift ist keine öffentliche Urkunde (§ 286 ZPO, nicht § 416 ZPO, da es sich um keine Erklärungen des Aufsichtsratsvorsitzenden handelt).3) 4 Das Aktienrecht schreibt für die Niederschrift bestimmte Mindestangaben (wie insbesondere Ort und Tag der Verhandlung, Name des Notars, Art und Ergebnis der Abstimmung und Feststellung des Vorsitzenden über die Beschlussfassung) zwingend vor (§ 130 Abs. 2 Satz 1). Bei börsennotierten Gesellschaften sind bei der Feststellung über die Beschlussfassung ergänzende Regelungen zu berücksichtigen (§ 130 Abs. 2 Satz 2 und 3). Der Niederschrift sind die Belege über die Einberufung der Hauptversammlung als Anlage beizufügen, wenn sie nicht ohnehin in der Niederschrift selbst aufgeführt sind (§ 130 Abs. 3). Die Niederschrift ist (nur) vom Notar zu unterzeichnen (§ 130 Abs. 4). 5 Im Interesse der Publizität der Hauptversammlungsbeschlüsse hat der Vorstand unverzüglich nach der Versammlung eine vollständige Abschrift der Niederschrift und ihrer Anlagen zum Handelsregister einzureichen (§ 130 Abs. 5). Dort ist sie für jedermann einsehbar (§ 9 Abs. 1 HGB). 6 Börsennotierte Gesellschaften (§ 3 Abs. 2) müssen zusätzlich innerhalb von sieben Tagen nach der Hauptversammlung die festgestellten Abstimmungsergebnisse und bestimmte weitere Angaben auf ihrer Internetseite veröffentlichen (§ 130 Abs. 6).

_____________ 1)

2) 3)

Grundlegend BGH, Urt. v. 10.10.2017, II ZR 375/15, ZIP 2017, 2245, dazu EWiR 2018, 39 (Seibt), ausführlich dazu Drescher in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 443 ff.; Heckschen/Kreußlein, NZG 2018, 401; Herrler, NJW 2018, 585; Hupka, ZGR 2018, 688; Koch in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 491 ff.; Lubberich, DNotZ 2018, 324; Reger/Schilha, AG 2018, 65; K. Schmidt in: FS Marsch-Barner, S. 511 ff.; Selter, ZIP 2018, 1161. – Zuvor BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 185/07 (Kirch/Deutsche Bank), BGHZ 180, 9 = ZIP 2009, 460 mit Anm. Mutter, dazu EWiR 2009, 461 (Staake). Ferner BGH, Urt. v. 21.10.2014 – II ZR 330/13, ZIP 2014, 2494, dazu EWiR 2015, 3 (Kiem/ Reutershahn). Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 130 Rz. 1; Hölters-Drinhausen, AktG, § 130 Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 1; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 130 Rz. 3 ff.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 1 f.; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 130 Rz. 1; Spindler/ Stilz-Wicke, AktG, § 130 Rz. 1 und Rz. 4. Zur formellen Beweiswirkung der notariellen Niederschrift über die Hauptversammlung s. BGH, Urt. v. 8.11.1993 – II ZR 26/93, ZIP 1993, 1867, dazu EWiR 1994, 111 (Rittner). Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 1; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 130 Rz. 5.

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Die Vorschrift über die Hauptversammlungsniederschrift ist zwingend.4) Für Sonderbe- 7 schlüsse und Sonderversammlungen gelten die Regelungen entsprechend (§ 138 Satz 2). Von der gesetzlich vorgesehenen Niederschrift über die Hauptversammlung sind von der 8 Gesellschaft erstellte stenographische Protokolle sowie Bild- und Tonaufzeichnungen zu unterscheiden.5) Die Vorschrift wurde zuletzt durch das ARUG6) um bestimmte Sonderregelungen für 9 börsennotierte AGs ergänzt (§ 130 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 sowie § 130 Abs. 6). Im Rahmen der Aktienrechtsnovelle 20167) wurde eine redaktionelle Unklarheit der Neuregelung (§ 130 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2) behoben. II.

Beurkundungspflicht (§ 130 Abs. 1)

1.

Umfang der Beurkundungspflicht

a)

Beschlüsse der Hauptversammlung (§ 130 Abs. 1 Satz 1)

Die Beurkundungspflicht umfasst alle Beschlüsse der Hauptversammlung (§ 130 Abs. 1 10 Satz 1), und zwar unabhängig von Art, Inhalt und Ergebnis.8) Der Beurkundung bedürfen insbesondere auch Beschlüsse von Vollversammlungen9) und Einmann-AG.10) Eine notarielle Niederschrift ist nur dann nicht erforderlich, wenn in einer Hauptversammlung (ausnahmsweise) keinerlei Beschlüsse gefasst werden (und auch keine Minderheitsverlangen gestellt werden, § 130 Abs. 1 Satz 2). Allerdings empfiehlt sich schon aus Beweisgründen auch in diesen Fällen die Aufnahme einer (privatschriftlichen) Niederschrift. b)

Minderheitsverlangen (§ 130 Abs. 1 Satz 2)

Der Beurkundung bedürfen zudem auch die Minderheitsverlangen nach Einzelentlastung 11 von Mitgliedern des Vorstands oder des Aufsichtsrats (§§ 120 Abs. 1 Satz 2, 130 Abs. 1 Satz 2) sowie Anträge zur Wahl von Mitgliedern des Aufsichtsrats (§§ 137, 130 Abs. 1 Satz 2). Die Beurkundungspflicht besteht auch dann, wenn über das Minderheitsverlangen in der Hauptversammlung kein Beschluss gefasst wird. Andere Minderheitsverlangen (z. B. nach § 147 Abs. 1) müssen nicht (zwingend) beurkundet werden.11) c)

Sonstige Beurkundungspflichten

Neben Beschlüssen der Hauptversammlung und bestimmten Minderheitsverlangen müssen 12 auch bestimmte andere Erklärungen in die Niederschrift aufgenommen werden. Gesetzlich vorgesehen ist dies insbesondere für nicht beantwortete Fragen von Aktionären (§ 131 _____________ 4) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 130 Rz. 37 ff.; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 130 Rz. 86; Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 130 Rz. 1. 5) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 130 Rz. 88 ff. Zum Anspruch des Aktionärs auf auszugsweise Aushändigung einer Abschrift eines solchen stenografischen Wortprotokolls oder Tonbandmitschnitts s. BGH, Urt. v. 19.9.1994 – II ZR 248/92, BGHZ 127, 107 = ZIP 1994, 1597, dazu EWiR 1995, 13 (Hirte). 6) Art. 1 Nr. 19 des Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG), BGBl. I 2009, 2479. S. dazu BT-Drucks. 16/11642, S. 47 f. 7) Art. 1 Nr. 14 des Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2016), BGBl. I 2015, 2565. 8) Hölters-Drinhausen, AktG, § 130 Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 2; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 130 Rz. 109 ff.; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 130 Rz. 3 f.; Spindler/StilzWicke, AktG, § 130 Rz. 5. 9) Zur Vollversammlung s. Polte/Haider-Giangreco, AG 2014, 729. 10) Zur Hauptversammlung einer Einpersonen-AG s. Blasche, AG 2017, 16; Ott, RNotZ 2014, 423. 11) Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 130 Rz. 5.

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Abs. 5)12) und Widersprüchen von Aktionären13) (§ 245 Nr. 114) sowie u. a. §§ 50 Satz 1, 93 Abs. 4 Satz 3, 116, 302 Abs. 3 Satz 3, 309 Abs. 3 Satz 1, 317 Abs. 4, 318 Abs. 4, 323 Abs. 1 Satz 2 AktG; §§ 29 Abs. 1 Satz 1, 122i Abs. 1 Satz 1, 207 Abs. 1 UmwG15) oder § 318 Abs. 3 Satz 2 HGB). Dies gilt aufgrund des Normzwecks (siehe Rz. 1) grundsätzlich auch bei einer virtuellen Hauptversammlung (nach § 1 Abs. 2 COVGesMG); siehe dazu auch Rz. 38, § 131 Rz. 36 und die Nachweise bei § 131 Rz. 45 ff.16) 13 Der notariellen Beurkundung bedürfen darüber hinaus im Einzelfall auch bestimmte Zustimmungserklärungen (z. B. nach § 285 Abs. 2 und 3) oder Verzichtserklärungen (z. B. nach §§ 8 Abs. 3, 9 Abs. 3, 16 Abs. 3 Satz 2 UmwG). Dabei sind allerdings zwingend die Vorschriften für die Beurkundung von Willenserklärungen einzuhalten (§§ 6 ff. BeurkG), so dass regelmäßig eine gesonderte Urkunde (neben dem Hauptversammlungsprotokoll) zu errichten ist. Die Aufnahme der Willenserklärungen in die Niederschrift über die Hauptversammlung ist nicht ausreichend (sofern diese nicht ausnahmsweise nach den Vorschriften über die Beurkundung von Willenserklärungen errichtet wird). 2.

Urkundsperson

a)

Notar

14 Im Regelfall muss die Niederschrift von einem Notar aufgenommen werden (§ 130 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. §§ 36 ff. BeurkG). Dies gilt auch bei einer virtuellen Hauptversammlung (nach § 1 Abs. 2 COVGesMG); siehe dazu auch Rz. 38 und die Nachweise bei § 131 Rz. 45 ff.17) Der Notar wird grundsätzlich von der Gesellschaft, vertreten durch den Vorstand beauftragt (Ausnahme: Beauftragung durch Minderheitsaktionäre oder den Aufsichtsrat18) als Annexkompetenz). Die Kosten der Beurkundung sind von der Gesellschaft zu tragen (§§ 4, 22 ff. GNotKG und § 122 Abs. 4 AktG sowie §§ 105 ff. GNotKG). Die Hauptversammlung19) hat auf die Person des Notars keinerlei Einfluss und kann ihn insbesondere auch nicht abwählen.20)

_____________ 12) S. dazu OLG Stuttgart, Beschl. v. 3.12.2008 – 20 W 12/08, AG 2009, 204. 13) Ausführlich dazu Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 130 Rz. 228 ff. Zur formellen Beweiswirkung der notariellen Niederschrift in Bezug auf die Einlegung eines Widerspruchs gegen den Beschluss der Hauptversammlung s. BGH, Urt. v. 8.11.1993 – II ZR 26/93, ZIP 1993, 1867, dazu EWiR 1994, 111 (Rittner); OLG Jena, Urt. v. 30.7.2014 – 2 U 920/13, ZIP 2014, 2501. 14) S. LG München I, Urt. v. 19.12.2019 – 5 HK O 12082/18, ZIP 2020, 915, dazu EWiR 2020, 523 (Seulen/Krebs) – keine Notwendigkeit der Begründung eines Widerspruchs. 15) Zur Notwendigkeit eines Widerspruchs gegen einen Verschmelzungsbeschluss nach § 20 UmwG s. OLG München, Beschl. v. 3.2.2010 – 31 Wx 135/09, ZIP 2010, 326 = DNotZ 2011, 142 mit Anm. Priester, dazu EWiR 2010, 507 (Heckschen). 16) Zu den damit verbundenen Einzelfragen s. Hauschild/Zetzsche, AG 2020, 557. 17) Zur Rolle des Notars in der virtuellen Hauptversammlung ausführlich Hauschild/Zetzsche, AG 2020, 557. – Zum Hauptversammlungsnotar als Zeuge im Beschlussmängelstreit s. Angerer/Backhaus, AG 2022, 16. 18) S. LG Frankfurt/M., Beschl. v. 16.8.2013 – 3-05 O 178/13, NZG 2014, 1232 mit Anm. Rahlmeyer/Groh. 19) S. BGH, Urt. v. 21.4.2020 – II ZR 412/17, ZIP 2020, 1064, dazu EWiR 2020, 387 (Wilsing). – Ein Beschluss der Hauptversammlung über die Abberufung eines abwesenden Aufsichtsratsmitglieds kann diesem durch den die Versammlungsniederschrift beurkundenden Notar mitgeteilt werden, sofern der Notar hierzu von der Hauptversammlung ausdrücklich beauftragt worden ist, ausführlich dazu Lübke, ZGR 2021, 156. 20) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 7. – Zur Niederschlagung von Notarkosten wegen unrichtiger Beurkundung eines Hauptversammlungsbeschlusses LG Berlin, Beschl. v. 16.9.2013 – 82 OH 5/13, 82 OH 80/13, ZIP 2013, 2464.

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Bei Hauptversammlungen von großen börsennotierten AGs werden teilweise zwei Notare 15 mit der Beurkundung beauftragt.21) Das ist grundsätzlich zulässig.22) Jeder Notar errichtet dann eine eigene Urkunde. Die Zuständigkeit zwischen beiden Notaren muss allerdings im Vorfeld eindeutig voneinander abgegrenzt werden, um zu verhindern, dass über ein und dieselbe Hauptversammlung zwei sich möglicherweise widersprechende Niederschriften errichtet werden. Denkbar ist bspw., dass ein Notar die Beschlüsse beurkundet und ein zweiter Notar eine Niederschrift über etwaige nicht beantwortete Fragen und Widersprüche von Aktionären errichtet.23) Bei längeren Hauptversammlungen ist auch eine sukzessive Beurkundung durch mehrere Notare möglich. Für den Fall, dass der erste Notar die Niederschrift über die Hauptversammlung nicht fertigstellen kann (z. B. aus gesundheitlichen Gründen), kann (vorsorglich) auch ein zweiter Notar mit der Beurkundung der Hauptversammlung beauftragt werden. Die örtliche Zuständigkeit des Notars ergibt sich aus den Vorschriften der BNotO über 16 den Amtssitz und Amtsbezirk (§§ 10, 11 BNotO). Verstöße gegen diese Vorschriften werden ggf. berufsrechtlich sanktioniert, stehen der Wirksamkeit der Beurkundung aber nicht entgegen (§ 2 BeurkG). Hauptversammlungen im Inland24) können durch ausländische Notare nicht wirksam 17 beurkundet werden. Die Durchführung von Hauptversammlungen im Ausland ist grundsätzlich unzulässig. In der Satzung kann aber ein Hauptversammlungsort im Ausland bestimmt werden; das Teilnahmerecht der Aktionäre darf dadurch aber nicht unzumutbar beeinträchtigt werden.25) Im Einzelfall kann ein Notar aufgrund gesetzlicher Mitwirkungsverbote an der Beurkun- 18 dung einer Hauptversammlung gehindert sein (siehe § 3 BeurkG).26) Ein etwaiger Verstoß hat aber nicht die Unwirksamkeit der Beurkundung zur Folge. Die Pflichten des Notars bei Errichtung der Niederschrift richten sich nach den allge- 19 meinen Vorschriften des BeurkG (§§ 36 ff. BeurkG).27) Dabei handelt es sich um ein Tatsachenprotokoll. Die Vorschriften über die Beurkundung von Willenserklärungen (§§ 6 ff. BeurkG) finden somit keine Anwendung.28) Der Notar muss somit die Identität der Beteiligten, des Versammlungsleiters oder eines widersprechenden Aktionärs29) nicht prüfen (siehe § 10 BeurkG).30) Vollmachten und sonstige Vertretungsnachweise (siehe § 12 BeurkG) _____________ 21) Zur Zulässigkeit der Beurkundung einer Hauptversammlung durch einen Notar unter Mitwirkung eines Rechtsanwalts s. OLG Frankfurt/M., Urt. v. 16.12.2014 – 5 U 24/14 (Az. d. BGH: II ZR 21/15), ZIP 2015, 1020. 22) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 130 Rz. 64 ff.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 33 f.; Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 130 Rz. 23a. 23) S. dazu OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 6.4.2009 – 5 W 8/09, AG 2010, 39. 24) Anders für den Fall der Beurkundung im Ausland bei Gleichwertigkeit der ausländischen Urkundsperson BGH, Urt. v. 21.10.2014 – II ZR 330/13, ZIP 2014, 2494, dazu EWiR 2015, 3 (Kiem/Reutershahn). 25) BGH, Urt. v. 21.10.2014 – II ZR 330/13, ZIP 2014, 2494, dazu EWiR 2015, 3 (Kiem/Reutershahn). Ausführlich dazu u. a. Bungert/Leyendeckert-Langner, DB 2015, 268; Herrler, ZGR 2015, 918. 26) Dazu Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 9 f.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 39 ff.; Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 130 Rz. 19 f. 27) Ein praxisbezogener Leitfaden für die notarielle Betreuung einer Publikumshauptversammlung findet sich bei Hauschild, notar 2015, 271. 28) Zur Zulässigkeit der Beurkundung nach §§ 36 ff. BeurkG bei einer Einmanngesellschaft (hier einer GmbH) s. OLG Celle, Beschl. v. 13.2.2017 – 9 W 13/17, ZIP 2017, 1623. 29) Allerdings ist der Notar zur Feststellung der Identität befugt, s. OLG München, Beschl. v. 3.2.2010 – 31 Wx 135/09, ZIP 2010, 326 = DNotZ 2011, 142 mit Anm. Priester, dazu EWiR 2010, 507 (Heckschen). 30) Hölters-Drinhausen, AktG, § 130 Rz. 14. S. aber auch Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 130 Rz. 26; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 130 Rz. 34 – Pflicht zur Prüfung der Legitimation des Versammlungsleiters.

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Niederschrift

muss der Notar weder prüfen noch der Niederschrift beifügen.31) Der Notar muss die Niederschrift nicht vorlesen (siehe § 13 BeurkG). Die Niederschrift muss weder von den Beteiligten noch vom Versammlungsleiter genehmigt oder unterschrieben werden (siehe § 13 BeurkG), sondern nur vom Notar (§ 130 Abs. 4 Satz 1). 20 Die Niederschrift ist grundsätzlich in deutscher Sprache zu errichten (§ 5 Abs. 1 BeurkG). Die Beurkundung in einer fremden Sprache kommt nur dann in Betracht, wenn (neben dem Versammlungsleiter und den Aktionären32) auch der Notar dieser Sprache hinreichend kundig ist (§ 5 Abs. 2 BeurkG, § 15 Abs. 1 Satz 2 BNotO).33) Dem Handelsregister muss allerdings auch dann (zusätzlich) eine Übersetzung der Niederschrift in deutscher Sprache (siehe § 488 Abs. 3 Satz 1 FamFG, § 184 Satz 1 GVG und § 2 EGGVG) eingereicht werden (§ 130 Abs. 5), da andernfalls die Publizitätsfunktion des Handelsregisters beeinträchtigt wäre (siehe auch § 11 HGB).34) Feststellungen zur Sprachkundigkeit der Beteiligten (und des Versammlungsleiters) muss der Notar nicht in die Niederschrift aufnehmen (siehe § 16 Abs. 1 BeurkG). Der Notar muss auch keine Übersetzung vornehmen. Allerdings wird die Gesellschaft in derartigen Fällen schon deshalb einen Dolmetscher zur Hauptversammlung hinzuziehen, um eine sprachlich bedingte Einschränkung der Aktionärsrechte zu vermeiden. 21 Der Notar muss die Niederschrift in der Hauptversammlung aufnehmen (dort aber nicht unbedingt fertigstellen).35) Die Aufzeichnungen können handschriftlich (auch in Steno) oder mittels technischer Hilfsmittel (z. B. Notebook) erfolgen. Der Notar muss die Aufzeichnungen nicht selbst vornehmen, sondern kann sich dabei auch von Mitarbeitern unterstützen lassen. Nicht ausreichend sind dagegen bloße Bild- oder Tonaufnahmen (z. B. mittels Diktiergerät), da dies keine eigenen Aufzeichnungen des Notars sind.36) Zulässig und üblich ist es, dass der Notar die Niederschrift bereits vor der Hauptversammlung vorbereitet (insbesondere auf der Grundlage der Einladung sowie der Tagesordnung) und sie dann während der Hauptversammlung entsprechend dem tatsächlichen Geschehen ergänzt und abändert.37) Der Notar kann die Niederschrift am Ende der Hauptversammlung handschriftlich unterzeichnen (muss dies aber nicht tun). Regelmäßig wird der Notar die Niederschrift erst nach Rückkehr in sein Büro (einige Tage später) endgültig fertigstellen und unterzeichnen.38) Rechtlich maßgeblich ist stets nur die Niederschrift, die der Notar unterzeichnet und willentlich nach außen gegeben hat.39) Vorher handelt es sich lediglich _____________ 31) 32) 33) 34) 35)

36) 37) 38)

39)

Henssler/Strohn-Liebscher, GesR, § 130 AktG Rz. 8; Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 130 Rz. 16. Anders insoweit wohl K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 51. Hölters-Drinhausen, AktG, § 130 Rz. 14. Hölters-Drinhausen, AktG, § 130 Rz. 14. A. A. Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 130 Rz. 299; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 51. Grundlegend zum Ganzen BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 185/07 (Kirch/Deutsche Bank), BGHZ 180, 9 = ZIP 2009, 460 mit Anm. Mutter, dazu EWiR 2009, 461 (Staake), und OLG Frankfurt/M., Urt. v. 26.6.2012 – 5 U 144/09, BB 2012, 2327 mit Anm. Reger/Wolf. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 11; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 130 Rz. 16. Weitergehend K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 48 – Diktiergeräte als Gedächtnisstütze zulässig. Hölters-Drinhausen, AktG, § 130 Rz. 14; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 11 und 11a; Spindler/ Stilz-Wicke, AktG, § 130 Rz. 23. Zur Zulässigkeit dieses Vorgehens (im Zusammenhang mit der Hauptversammlung der Deutschen Bank für das Jahr 2018) s. zuletzt OLG Frankfurt/M., Urt. v. 29.12.2020 – 5 U 231/19 (Az. d. BGH: II ZR 6/21), ZIP 2021, 901, dazu EWiR 2021, 165 (Heidel). Zur Frage, ob der Beschluss schon mit seiner Feststellung oder erst mit der Beurkundung der Niederschrift wirksam wird s. Habersack, ZIP Beilage Heft 22/2016, S. 23; Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281, 289. Im Ergebnis muss die Beurkundung auf den Zeitpunkt der Beschlussfassung zurückwirken (Rechtsgedanke des § 184 Abs. 1 BGB); so auch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 11.

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Niederschrift

um einen internen Entwurf, den der Notar auch noch (ohne Bindung an § 44a BeurkG) ändern und ergänzen kann. Nach Fertigstellung der Niederschrift kann der Notar im Interesse der Richtigkeitsge- 22 währ noch offensichtliche Unrichtigkeiten40) (nach § 44a Abs. 2 BeurkG)41) und inhaltliche Fehler (nach § 44a Abs. 3 BeurkG) berichtigen.42) Eine Mitwirkung des Versammlungsleiters oder der Aktionäre ist für die Berichtigung nicht erforderlich. Eine zeitliche Grenze für die Berichtigung besteht nicht. Eine Berichtigung ist grundsätzlich auch dann noch möglich, wenn sich der Notar der Urkunde bereits entäußert hat. Das Interesse des Rechtsverkehrs an richtigen Urkunden überwiegt den Vertrauensschutz am Fortbestand von falschen Urkunden.43) Bei der Beurkundung einer Hauptversammlung obliegen dem Notar grundsätzlich keine 23 Prüfungs- und Belehrungspflichten (insbesondere § 17 BeurkG gilt nur bei der Beurkundung von Willenserklärungen nach §§ 6 ff. BeurkG und nicht für Niederschriften nach §§ 36 ff. BeurkG).44) Der Notar ist insbesondere auch nicht der Berater des Versammlungsleiters, einzelner Aktionäre oder der Gesellschaft (auch wenn er von dieser beauftragt worden ist). Als unabhängiger Träger eines öffentlichen Amtes (§ 1 BNotO) wird der Notar (i. R. seiner Möglichkeiten) allerdings darauf hinwirken, dass die Hauptversammlung ordnungsgemäß durchgeführt wird und rechtlich wirksame Beschlüsse gefasst werden. Entsprechende Hinweispflichten können insbesondere bei ganz offensichtlichen Rechtsverstößen bestehen.45) Dagegen ist der Notar grundsätzlich nicht verpflichtet, die Ordnungsmäßigkeit der Einberufung der Hauptversammlung, die Ermittlung der Abstimmungsergebnisse46) oder die Einhaltung von Stimmverboten zu überprüfen.47) _____________ 40) S. dazu LG Köln, Urt. v. 20.5.2016 – 82 O 123/15, RNotZ 2016, 612 – fehlende Angaben zur Art der Abstimmung sind keine offensichtliche Unrichtigkeit. 41) § 44a BeurkG wurde zuletzt geändert durch Art. 2 Nr. 8 des Gesetzes zur Neuordnung der Aufbewahrung von Notariatsunterlagen und Einrichtung des Elektronischen Urkundenarchivs bei der Bundesnotarkammer sowie zur Änderung weiterer Gesetze, BGBl. I 2017, 1396. 42) Grundlegend BGH, Urt. v. 10.10.2017 – II ZR 375/15, ZIP 2017, 2245, dazu EWiR 2018, 39 (Seibt), ausführlich dazu Drescher in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 443 ff.; Heckschen/Kreußlein, NZG 2018, 401; Herrler, NJW 2018, 585; Hupka, ZGR 2018, 688; Koch in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 491 ff.; Lubberich, DNotZ 2018, 324; Reger/Schilha, AG 2018, 65; K. Schmidt in: FS MarschBarner, S. 511 ff.; Selter, ZIP 2018, 1161. 43) BGH, Urt. v. 10.10.2017 – II ZR 375/15, ZIP 2017, 2245, dazu EWiR 2018, 39 (Seibt), ausführlich dazu Drescher in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 443 ff.; Heckschen/Kreußlein, NZG 2018, 401; Herrler, NJW 2018, 585; Hupka, ZGR 2018, 688; Koch in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 491 ff.; Lubberich, DNotZ 2018, 324; Reger/Schilha, AG 2018, 65; K. Schmidt in: FS Marsch-Barner, S. 511 ff.; Selter, ZIP 2018, 1161. 44) BGH, Urt. v. 21.10.2014 – II ZR 330/13, ZIP 2014, 2494, dazu EWiR 2015, 3 (Kiem/Reutershahn). 45) BGH, Urt. v. 21.10.2014 – II ZR 330/13, ZIP 2014, 2494, dazu EWiR 2015, 3 (Kiem/Reutershahn). – S. a. LG Berlin, Beschl. v. 16.9.2013 – 82 OH 5/13 u. a., ZIP 2013, 2464 – zumindest summarische Rechtmäßigkeitskontrolle der Beschlüsse: fehlerhafte Beurkundung bei einem bedingten Kapital im Nennbetrag über der Hälfte des Grundkapitals. 46) S. BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 185/07 (Kirch/Deutsche Bank), BGHZ 180, 9 = ZIP 2009, 460 mit Anm. Mutter, dazu EWiR 2009, 461 (Staake) – keine Verpflichtung des Notars zur Überwachung und Protokollierung der Stimmenauszählung; OLG Hamburg, Urt. v. 8.8.2003 – 11 U 45/03, ZIP 2003, 2076, dazu EWiR 2003, 1169 (Korsten) – keine Verpflichtung des Notars an der Stimmauszählung mitzuwirken und diese zu kontrollieren; OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.3.2003 – 16 U 79/02, ZIP 2003, 1147, dazu EWiR 2003, 737 (Sustmann) – keine Verpflichtung des Notars zur Überwachung der Stimmauszählung. 47) Weitergehend allerdings die h. M., mit Unterschieden im Detail Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 130 Rz. 26 f.; Heidel-Terbrack/Lohr, AktR, § 130 AktG Rz. 19 ff.; Henssler/Strohn-Liebscher, GesR, § 130 AktG Rz. 8; Hölters-Drinhausen, AktG, § 130 Rz. 15 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 12; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 130 Rz. 43 ff.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 45 ff.; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 130 Rz. 31 ff.; Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 130 Rz. 28 ff.

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Niederschrift

24 Der Notar darf die Beurkundung nur dann ablehnen, wenn mit dem Beschluss (bzw. seiner Durchführung) erkennbar unerlaubte oder unredliche Zwecke verfolgt werden (§ 4 BeurkG, § 14 Abs. 2 BNotO).48) In allen anderen Fällen ist der Notar grundsätzlich zur Beurkundung verpflichtet. Insbesondere kann der Notar die Beurkundung nicht deshalb ablehnen, weil der Beschluss (tatsächlich oder vermeintlich) nichtig bzw. anfechtbar ist (§§ 241 ff.). Etwaige Bedenken kann der Notar dem Versammlungsleiter aber mitteilen und ggf. auch in der Niederschrift vermerken (Rechtsgedanke von § 17 Abs. 2 Satz 2 BeurkG). b)

Vorsitzender des Aufsichtsrats (§ 130 Abs. 1 Satz 3)

25 Bei nicht börsennotierten AGs kann49) die Niederschrift an Stelle des Notars ausnahmsweise auch vom Vorsitzenden des Aufsichtsrats errichtet werden, soweit keine Beschlüsse gefasst werden, für die das Gesetz (zwingend oder satzungsdispositiv) eine Dreivierteloder größere Mehrheit vorsieht (§ 130 Abs. 1 Satz 3).50) 26 Die Vorschrift gilt nur für nicht börsennotierte AGs (§ 3 Abs. 2). Aufgrund zwingender europäischer Vorgaben sind damit auch nicht börsennotierte SE mit Sitz in Deutschland erfasst (Art. 10 und 53 SE-VO).51) 27 An die Stelle des beurkundenden Notars tritt der Vorsitzende des Aufsichtsrats, hilfsweise dessen Stellvertreter (§ 130 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 107 Abs. 1). Dies gilt – aufgrund des eindeutigen Gesetzeswortlauts (siehe einerseits § 130 Abs. 1 Satz 3, Abs. 5 und andererseits § 131 Abs. 2 Satz 2) – auch dann, wenn der Vorsitzende des Aufsichtsrats ausnahmsweise nicht Versammlungsleiter ist.52) 28 Die Zuständigkeit des Aufsichtsratsvorsitzenden setzt voraus, dass die Hauptversammlung keine Beschlüsse fasst, für die das Gesetz (nicht die Satzung) „eine Dreiviertel- oder größere Mehrheit bestimmt“ (§ 130 Abs. 1 Satz 3). Angesichts des offenen Gesetzeswortlauts ist umstritten, ob damit eine Dreiviertel-Kapitalmehrheit (z. B. §§ 52 Abs. 5, 129 Abs. 1 Satz 1, 179 Abs. 2 Satz 1, 179a Abs. 1, 182 Abs. 1 Satz 1, 186 Abs. 3 Satz 2, 193 Abs. 1 Satz 1, 202 Abs. 2 Satz 2, 207 Abs. 2, 221 Abs. 1 Satz 2, 222 Abs. 1 Satz 1, 229 Abs. 3, 237 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1, 262 Abs. 1 Nr. 2, 274 Abs. 1 Satz 2, 293 Abs. 1 Satz 2, 295 Abs. 1 Satz 2, 319 Abs. 2 Satz 2, 320 Abs. 1 Satz 3) oder eine Dreiviertel-Stimmenmehrheit (z. B. §§ 103 Abs. 1 Satz 2, 111 Abs. 4 Satz 4, 141 Abs. 3 Satz 2) gemeint ist. Die amtliche Gesetzesbegründung53) geht (allerdings ohne nähere Erörterung der Problematik) davon aus, dass es auf die „Dreiviertelmehrheit des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals“ ankommt.54) Dies kann jedoch nicht überzeugen.55) Nach dem Normzweck soll eine notarielle Beurkundung nur bei einfachen Routinebeschlüssen kleinerer AGs entfallen, da _____________ 48) BGH, Urt. v. 21.10.2014 – II ZR 330/13, ZIP 2014, 2494, dazu EWiR 2015, 3 (Kiem/Reutershahn). 49) Zur Verpflichtung des Notars, auf die Kosten der Beurkundung hinzuweisen, wenn die Beteiligten in einem Fall des § 130 Abs. 1 Satz 3 ausdrücklich die Beurkundung der Hauptversammlung wünschen, s. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 6.12.2001 – 10 W 108/01, RNotZ 2002, 60. 50) Ausführlich dazu Drinhausen/Marsch-Barner, AG 2014, 757; Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281. 51) Hölters-Drinhausen, AktG, § 130 Rz. 26; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 38. A. A. Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 130 Rz. 37. 52) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 36. A. A. die h. M., Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 130 Rz. 30, 34 und Rz. 49; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 14e; Kubis in: MünchKommAktG, § 130 Rz. 28. Offengelassen von OLG Köln, Urt. v. 28.2.2008 – 18 U 3/08, ZIP 2008, 1767. 53) Gesetzentwurf, BT-Drucks. 12/6721, S. 9. 54) So auch die h. M., OLG Karlsruhe, Urt. v. 9.10.2013 – 7 U 33/13, ZIP 2014, 376 sowie Bürgers/ Körber/Lieder-Reger, AktG, § 130 Rz. 32; Hölters-Drinhausen, AktG, § 130 Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 14b. 55) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 130 Rz. 144. Wohl auch Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 130 Rz. 38.

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§ 130

Niederschrift

dann eine rechtliche Betreuung durch den Notar entbehrlich erscheint. Dies passt aber nicht für die Fälle, in denen das Gesetz eine Dreiviertel-Stimmenmehrheit vorgesehen hat. Aus Gründen der Rechtssicherheit sollte die Niederschrift daher nur dann vom Vorsitzenden des Aufsichtsrats errichtet werden, wenn für die Beschlüsse weder eine Dreiviertel-Stimmenmehrheit noch eine Dreiviertel-Kapitalmehrheit erforderlich ist. Noch nicht abschließend geklärt ist bislang die Frage, ob bei Grundlagenbeschlüssen der 29 Hauptversammlung i. S. der Holzmüller/Gelatine-Rechtsprechung eine Beurkundung durch einen Notar zwingend erforderlich ist.56) Nachdem der BGH entschieden hat, dass für solche Beschlüsse eine Dreiviertel-Kapitalmehrheit erforderlich ist,57) muss eine Zuständigkeit des Aufsichtsratsvorsitzenden ausscheiden. Zudem handelt es sich bei den Holzmüller/Gelatine-Fällen typischerweise gerade um weitreichende (und meist auch streitanfällige) Umstrukturierungsmaßnahmen, so dass eine Beurkundung durch einen (unabhängigen) Notar (schon aus Gründen der Beweissicherung) sachlich geboten erscheint.58) Kontrovers diskutiert wird schließlich die Frage, ob die Niederschrift einer Hauptver- 30 sammlung, auf der sowohl beurkundungspflichtige als auch sonstige Beschlüsse gefasst werden, in ein notarielles und ein privatschriftliches Protokoll aufgespalten werden kann. Der BGH sieht eine solche Aufspaltung u. a. unter Hinweis auf den Gesetzeswortlaut (§ 130 Abs. 1 Satz 3: „soweit“) als zulässig an.59) Dies erscheint wenig sachgerecht. Der Normzweck – Transparenz der Beschlussfassungen in der Hauptversammlung – wird durch die Aufspaltung erheblich beeinträchtigt. Zudem besteht die Gefahr, dass sich die beiden Niederschriften in einzelnen Punkten inhaltlich widersprechen würden. Der Gedanke der Handelsregisterpublizität (siehe § 130 Abs. 5) gebietet gleichfalls die Errichtung einer einheitlichen Niederschrift. Richtigerweise kann somit nur eine einheitliche (notarielle) Niederschrift über alle Beschlüsse einer Hauptversammlung errichtet werden.60) Errichtet der Vorsitzende des Aufsichtsrats die Niederschrift über die Beschlüsse einer 31 Hauptversammlung obwohl er dafür nicht zuständig war, sind die Beschlüsse aufgrund eines Beurkundungsmangels nichtig (§ 130 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 241 Nr. 2). 3.

Verstöße gegen die Beurkundungspflicht

Verstöße gegen die gesetzliche Beurkundungspflicht von Beschlüssen der Hauptversamm- 32 lung haben grundsätzlich deren Nichtigkeit zur Folge (§ 130 Abs. 1 i. V. m. § 241 Nr. 2).61) Ausnahmen kommen allenfalls dann in Betracht, wenn das Abstimmungsergebnis zweifels-

_____________ 56) Zu Squeeze-out-Beschlüssen nach §§ 327a, 327e AktG s. Gotthardt/Krengel, NZG 2016, 1411, die eine Beurkundungspflicht mangels Vorliegen eines Grundlagenbeschlusses ablehnen. 57) BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 (Gelatine I), BGHZ 159, 30 = ZIP 2004, 993, dazu EWiR 2004, 573 (Just) sowie BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 (Gelatine II), ZIP 2004, 1001, dazu EWiR 2004, 1161 (Hirte). 58) Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 130 Rz. 32; Hölters-Drinhausen, AktG, § 130 Rz. 23; Noack/ Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 130 Rz. 146 f.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 35; Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 130 Rz. 39. A. A. Henssler/Strohn-Liebscher, GesR, § 130 AktG Rz. 11; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 14c; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 130 Rz. 25. 59) BGH, Urt. v. 19.5.2015 – II ZR 176/14, ZIP 2015, 1429, dazu EWiR 2015, 501 (Kiem/Rommelfanger). – Zustimmend u. a. Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 130 Rz. 33. 60) Kritisch u. a. auch Weiler, MittBayNot 2016, 256; Wettich, AG 2015, 681, 685 f.; Wicke, DB 2015, 1770. 61) Hölters-Drinhausen, AktG, § 130 Rz. 47. Zur Nichtigkeit eines Hauptversammlungsbeschlusses, wenn die privatschriftliche Niederschrift nicht vom Vorsitzenden des Aufsichtsrats, sondern von dem alleinigen Aktionär unterzeichnet worden ist, s. OLG Köln, Urt. v. 28.2.2008 – 18 U 3/08, ZIP 2008, 1767.

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Niederschrift

frei feststeht.62) Bei eintragungsbedürftigen Beschlüssen der Hauptversammlung ist eine Heilung durch die Eintragung im Handelsregister möglich (§ 242 Abs. 1). 33 Die Nichtigkeitsfolge gilt nur für Beschlüsse der Hauptversammlung (siehe § 241: „Beschluss der Hauptversammlung“), nicht dagegen auch für Minderheitsverlangen oder Widersprüche, die nicht oder nicht ordnungsgemäß beurkundet worden sind.63) Allerdings wird ihr Nachweis durch die fehlende Beurkundung erheblich erschwert. III.

Inhalt der Niederschrift (§ 130 Abs. 2)

1.

Aktienrechtlicher Mindestinhalt der Niederschrift (§ 130 Abs. 2)

a)

Ort und Tag der Verhandlung

34 In jeder Niederschrift ist stets der Ort und Tag der Verhandlung anzugeben (§ 130 Abs. 2 Satz 1; siehe auch § 37 Abs. 2 BeurkG). 35 Mit dem Ort ist die politische Gemeinde gemeint, in der die Hauptversammlung stattfindet. Die Angabe der vollständigen Postanschrift des Versammlungsorts ist in der Niederschrift nicht erforderlich, da diese bereits in der Einberufung enthalten ist (§ 121 Abs. 3 Satz 1).64) Allerdings kann die genaue Angabe des Veranstaltungsorts (unter Umständen einschließlich des Stockwerks, der Raumnummer, etc.) nützlich sein, um die Übereinstimmung zwischen der Einladung und der tatsächlichen Versammlung nachweisbar zu dokumentieren. 36 Der Tag der Hauptversammlung ist kalendermäßig anzugeben. Die ergänzende Angabe des Wochentages ist zulässig, aber nicht erforderlich. Die Uhrzeit der Hauptversammlung ist in der Niederschrift (anders als bei der Einberufung, § 121 Abs. 3 Satz 1) nicht zwingend anzugeben.65) Allerdings ist es weithin üblich, den tatsächlichen Beginn sowie das Ende der Hauptversammlung in die Niederschrift aufzunehmen.66) Dauert die Hauptversammlung ausnahmsweise mehrere Tage, ist dies in der Niederschrift anzugeben. In diesem Fall muss aus der Niederschrift auch ersichtlich sein, an welchem Tag ein Beschluss gefasst worden ist. 37 Nicht in der Niederschrift anzugeben ist dagegen der Ort und/oder Tag der Errichtung bzw. der Fertigstellung der Niederschrift.67) Dies ist auch nicht üblich. 38 Für die Niederschrift einer virtuellen Hauptversammlung nach § 1 Abs. 2 COVGesMG (siehe dazu die Nachweise bei § 131 Rz. 45 ff.) gelten insoweit keine Besonderheiten. Der Notar muss (zusammen mit dem Versammlungsleiter) am Versammlungsort physisch anwesend sein; eine bloße Online-Zuschaltung des Notars genügt nicht. In der Niederschrift ist (mangels Rechtsgrundlage) nicht zwingend anzugeben, dass es sich um eine virtuelle _____________ 62) So jetzt BGH, Urt. v. 10.10.2017 – II ZR 375/15, ZIP 2017, 2245, dazu EWiR 2018, 39 (Seibt), ausführlich dazu Drescher in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 443 ff.; Heckschen/Kreußlein, NZG 2018, 401; Herrler, NJW 2018, 585; Hupka, ZGR 2018, 688; Koch in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 491 ff.; Lubberich, DNotZ 2018, 324; Reger/Schilha, AG 2018, 65; K. Schmidt in: FS Marsch-Barner, S. 511 ff.; Selter, ZIP 2018, 1161. 63) Kubis in: MünchKomm-AktG, § 130 Rz. 77 ff. 64) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 15; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 130 Rz. 93. A. A. Hölters-Drinhausen, AktG, § 130 Rz. 27; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 1 f.; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 130 Rz. 41. 65) A. A. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 130 Rz. 42. 66) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 15. BGH, Urt. v. 30.6.2015 – II ZR 142/14, Rz. 34, ZIP 2015, 2069 mit Anm. Schüppen, dazu EWiR 2015, 661 (Bayer/Scholz) – wonach eine förmliche Eröffnung der Hauptversammlung nicht erforderlich ist. 67) BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 185/07 (Kirch/Deutsche Bank), BGHZ 180, 9 = ZIP 2009, 460 mit Anm. Mutter, dazu EWiR 2009, 461 (Staake).

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Hauptversammlung handelt.68) Der in der Niederschrift anzugebende Ort der Verhandlung (siehe § 121 Abs. 3 Satz 1) ist auch bei der virtuellen Hauptversammlung der reale Versammlungsort (und etwa ein virtueller Ort). b)

Name des Notars

Das Aktienrecht verlangt, dass in der Niederschrift der Name des Notars angegeben wird 39 (§ 130 Abs. 2 Satz 1). Dabei sind Vor- und Nachname anzugeben.69) Beurkundungsrechtlich ist zusätzlich die Bezeichnung des Notars erforderlich (§ 37 Abs. 1 Nr. 1 BeurkG). Neben dem Namen werden daher regelmäßig auch die Amtsbezeichnung (z. B. Notar oder Notarvertreter) und der Amtssitz angegeben. Bei privatschriftlichen Niederschriften ist an Stelle des Namens des Notars der Name des 40 Vorsitzenden des Aufsichtsrats anzugeben (§ 130 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 3). c)

Art der Abstimmung

In der Niederschrift ist die Art der Abstimmung anzugeben (§ 130 Abs. 2 Satz 1).70) Mit 41 der Art der Abstimmung ist die Beschreibung des Vorgangs gemeint, wie der Beschluss in der Versammlung zustande gekommen ist. Anzugeben ist, wie abgestimmt worden ist (z. B. mündlich, schriftlich, durch Handaufheben oder andere Betätigung). Die Angabe der Art der Abstimmung ist aus Gründen der Rechtssicherheit und Beweissicherung in allen Fällen zwingend. Die bloße Angabe, dass die Abstimmungen in der vom Versammlungsleiter bestimmten Form erfolgt sind, genügt nicht. In der Praxis wird die Art der Abstimmung meist vom Versammlungsleiter festgelegt, sofern die Satzung nicht ausnahmsweise entsprechende Vorgaben enthält. Zur Art der Abstimmung gehören i. d. R. auch Angaben darüber, wie die Stimmenauszäh- 42 lung konkret erfolgt ist (z. B. durch Stimmzähler oder mittels einer EDV-Anlage) und wie die Stimmenzahl der einzelnen Aktionäre ermittelt worden ist (z. B. durch Barcodes auf den Stimmabschnitten).71) Der Rechtsgrund für die gewählte Abstimmungsart muss dagegen in der Niederschrift nicht 43 angegeben werden.72) Der Inhalt der Niederschrift ist im Gesetz abschließend vorgegeben. Eine Erweiterung über den Wortlaut hinaus ist angesichts der einschneidenden Folgen von Beurkundungsmängeln unzulässig.

_____________ 68) Für eine solche Angabe aber die überwiegende Auffassung im Schrifttum s. u. a. Hauschild/Zetzsche, AG 2020, 557, 561; Herrler, DNotZ 2020, 468, 502; Wälzholz/Bayer, DNotZ 2020, 285, 287. 69) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 7. A. A. – Nachname ausreichend, wenn keine Verwechslungsgefahr besteht – Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 130 Rz. 13; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 16; Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 130 Rz. 44. 70) Grundlegend BGH, Urt. v. 10.10.2017 – II ZR 375/15, ZIP 2017, 2245, dazu EWiR 2018, 39 (Seibt), ausführlich dazu Drescher in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 443 ff.; Heckschen/Kreußlein, NZG 2018, 401; Herrler, NJW 2018, 585; Hupka, ZGR 2018, 688; Koch in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 491 ff.; Lubberich, DNotZ 2018, 324; Reger/Schilha, AG 2018, 65; K. Schmidt in: FS Marsch-Barner, S. 511 ff.; Selter, ZIP 2018, 1161. 71) Hölters-Drinhausen, AktG, § 130 Rz. 30 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 18; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 130 Rz. 156 ff.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 10; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 130 Rz. 46 ff. Einschränkend dagegen Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 130 Rz. 45 f. 72) BGH, Urt. v. 10.10.2017 – II ZR 375/15, ZIP 2017, 2245, dazu EWiR 2018, 39 (Seibt), ausführlich dazu Drescher in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 443 ff.; Heckschen/Kreußlein, NZG 2018, 401; Herrler, NJW 2018, 585; Hupka, ZGR 2018, 688; Koch in: Festschrift 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 491 ff.; Lubberich, DNotZ 2018, 324; Reger/Schilha, AG 2018, 65; K. Schmidt in: FS MarschBarner, S. 511 ff.; Selter, ZIP 2018, 1161.

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44 Nicht zwingend festzuhalten ist in der Niederschrift, ob und welche Maßnahmen ergriffen worden sind, um die Beachtung der Stimmverbote (z. B. nach § 136) sicherzustellen.73) In der Praxis ist dies aber vielfach üblich. d)

Ergebnis der Abstimmung

45 Zum zwingenden Inhalt der Niederschrift über die Hauptversammlung gehört das Ergebnis der Abstimmung (§ 130 Abs. 2 Satz 1). Dies umfasst alle Angaben, die für die nachprüfbare Ermittlung des Abstimmungsergebnisses erforderlich sind. Zahlreiche Einzelheiten waren lange Zeit umstritten.74) In einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 2017 hat der BGH nunmehr einige Streitfragen geklärt.75) 46 Danach gehört zum Abstimmungsergebnis zunächst das rechtliche Ergebnis der Abstimmung, d. h. die Annahme oder Ablehnung eines Beschlusses. 47 Darüber hinaus umfasst das Ergebnis der Abstimmung aber auch das zahlenmäßige Ergebnis der Abstimmung, d. h. die Anzahl der Ja- und Nein-Stimmen.76) Dies folgt aus dem Zweck der Beurkundung. Unklarheiten über das Ergebnis der Abstimmung lassen sich nur dann vermeiden, wenn in der Niederschrift auch die für und gegen einen Beschluss abgegebenen Stimmen festgehalten werden. Das zahlenmäßige Ergebnis der Abstimmung muss in allen Fällen in der Niederschrift angegeben werden. Dies gilt gleichermaßen für die Beurkundung von Beschlüssen der Hauptversammlung von börsennotierten und nicht börsennotierten AGs. Bei börsennotierten AGs kann der Versammlungsleiter zwar von der Feststellung des zahlenmäßigen Abstimmungsergebnisses absehen (§ 130 Abs. 2 Satz 3). Der Notar muss das zahlenmäßige Abstimmungsergebnis aber auch in solchen Fällen zwingend in die Niederschrift aufnehmen. 48 In der Niederschrift ist somit zunächst anzugeben, wie das Abstimmungsergebnis ermittelt worden ist (z. B. Subtraktions-77) oder Additionsverfahren).78) Sodann ist stets die Anzahl

_____________ 73) Hölters-Drinhausen, AktG, § 130 Rz. 30. A. A. die h. M., Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 18; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 10; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 130 Rz. 50; Spindler/ Stilz-Wicke, AktG, § 130 Rz. 46. 74) S. dazu im Einzelnen Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 130 Rz. 13; Hölters-Drinhausen, AktG, § 130 Rz. 31; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 19; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 130 Rz. 168 ff.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 12; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 130 Rz. 53 ff.; Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 130 Rz. 48 ff. 75) BGH, Urt. v. 10.10.2017 – II ZR 375/15, ZIP 2017, 2245, dazu EWiR 2018, 39 (Seibt), ausführlich dazu Drescher in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 443 ff.; Heckschen/Kreußlein, NZG 2018, 401; Herrler, NJW 2018, 585; Hupka, ZGR 2018, 688; Koch in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 491 ff.; Lubberich, DNotZ 2018, 324; Reger/Schilha, AG 2018, 65; K. Schmidt in: FS Marsch-Barner, S. 511 ff.; Selter, ZIP 2018, 1161. 76) BGH, Urt. v. 10.10.2017 – II ZR 375/15, ZIP 2017, 2245, dazu EWiR 2018, 39 (Seibt), ausführlich dazu Drescher in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 443 ff.; Heckschen/Kreußlein, NZG 2018, 401; Herrler, NJW 2018, 585; Hupka, ZGR 2018, 688; Koch in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 491 ff.; Lubberich, DNotZ 2018, 324; Reger/Schilha, AG 2018, 65; K. Schmidt in: FS Marsch-Barner, S. 511 ff.; Selter, ZIP 2018, 1161. 77) Zur Zulässigkeit der Wahl der Subtraktionsmethode durch den Versammlungsleiter s. LG München I, Urt. v. 31.3.2016 – 5 HK O 14432/15, ZIP 2016, 973, dazu EWiR 2016, 463 (v. d. Linden). – Zur Additions- und Subtraktionsmethode s. a. den Überblick bei Leuering/Rubner, NJW-Spezial 2016, 591. 78) Zur Nichtigkeit eines Hauptversammlungsbeschlusses mangels Angabe, ob die Stimmauszählung mittels Additions- oder Subtraktionsverfahren erfolgt ist, s. LG München I, Urt. v. 30.8.2012 – 5 HK O 1378/12, ZIP 2012, 2209, dazu EWiR 2013, 33 (Wolf). – Keine Verletzung des Teilnahmerechts des Aktionärs bei fehlender Übertragung der Hauptversammlung in Präsenzbereich BGH, Beschl. v. 8.10.2013 – II ZR 329/12, ZIP 2013, 2257 mit Anm. v. Falkenhausen, dazu EWiR 2014, 3 (Goslar).

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der Ja-Stimmen und der Nein-Stimmen anzugeben.79) Bei Anwendung des Subtraktionsverfahrens sind zusätzlich die Enthaltungen, die ungültigen und die gesperrten Stimmen sowie die aktuelle Präsenz anzugeben. Nicht ausreichend ist dagegen die prozentuale Angabe der Ja- und Nein-Stimmen (z. B. 49 90 % dafür und 10 % dagegen).80) Das Ergebnis der Abstimmung muss in der Niederschrift vielmehr stets in Zahlen angegeben werden. Bei Beschlüssen, bei denen neben der Stimmenmehrheit zusätzlich eine Kapitalmehrheit 50 erforderlich ist, ist neben der Anzahl der Stimmen zusätzlich (nicht anstelle) auch das durch sie vertretene Grundkapital aufzuführen (sofern das Stimmgewicht der Aktien nicht ohnehin proportional zum Kapitalanteil ist). Bei einer getrennten Abstimmung nach Aktiengattungen muss in der Niederschrift auch 51 das Ergebnis der einzelnen Abstimmungen getrennt voneinander angegeben werden.81) e)

Feststellung über die Beschlussfassung

Schließlich ist in jeder Niederschrift die Feststellung des Vorsitzenden über die Beschluss- 52 fassung anzugeben (§ 130 Abs. 2 Satz 1). Damit ist die ausdrückliche Feststellung gemeint, ob der dem Beschluss zugrunde liegende Antrag angenommen oder abgelehnt worden ist.82) Die Feststellung des Vorsitzenden ist für die Wirksamkeit der Beschlussfassung von konstitutiver Bedeutung.83) Dies bedeutet: Unterbleibt die Feststellung (bewusst oder versehentlich), ist der Beschluss auch dann nicht wirksam zustande gekommen, wenn an sich die erforderliche Mehrheit erreicht worden ist. Umgekehrt gilt der Beschluss aufgrund der förmlichen Feststellung auch dann als wirksam zustande gekommen, wenn er tatsächlich nicht (oder mit einem anderen Inhalt) gefasst worden ist.84) In der Niederschrift ist die Feststellung des Vorsitzenden (und nicht etwa die des Notars) 53 aufzunehmen (siehe Gesetzeswortlaut § 130 Abs. 2 Satz 1: „Feststellung des Vorsitzenden“).85) Eigene Feststellungen des Notars über die Beschlussfassung sind allenfalls dann zusätz_____________ 79) S. dazu BGH, Urt. v. 4.7.1994 – II ZR 114/93, ZIP 1994, 1171, dazu EWiR 1994, 1051 (Petzoldt) – Nichtigkeit einer Aufsichtsratswahl, wenn in der notariellen Niederschrift statt des Ergebnisses der Abstimmung nach Stimmen lediglich die Kapitalbeträge angegeben werden, die für und gegen einen bestimmten Wahlvorschlag gestimmt haben. 80) BGH, Urt. v. 10.10.2017 – II ZR 375/15, ZIP 2017, 2245, dazu EWiR 2018, 39 (Seibt), ausführlich dazu Drescher in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 443 ff.; Heckschen/Kreußlein, NZG 2018, 401; Herrler, NJW 2018, 585; Hupka, ZGR 2018, 688; Koch in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 491 ff.; Lubberich, DNotZ 2018, 324; Reger/Schilha, AG 2018, 65; K. Schmidt in: FS Marsch-Barner, S. 511 ff.; Selter, ZIP 2018, 1161. 81) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 12. A. A. Hölters-Drinhausen, AktG, § 130 Rz. 33; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 20. Differenzierend Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 130 Rz. 49. 82) Der Wortlaut des Beschlusses muss nicht zwingend in das Protokoll selbst aufgenommen werden; s. dazu OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 10.5.2010 – 20 W 115/10, MittBayNot 2011, 165 – zulässige Bezugnahme auf den Beleg über die Einberufung, Abs. 3 Halbs. 1; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 15.12.2008 – 6 W 24/08, ZIP 2009, 518 – zulässige Bezugnahme auf den in der Anlage beigefügten Beherrschungsund Gewinnabführungsvertrag. S. aber auch LG Frankfurt/M., Beschl. v. 26.8.2008 – 3/5 O 339/07, ZIP 2008, 1723, dazu EWiR 2009, 35 (Goslar) – Nichtigkeit eines Hauptversammlungsbeschlusses aufgrund nicht ausreichend konkreter Bezugnahme auf den Beschlussvorschlag. 83) Hölters-Drinhausen, AktG, § 130 Rz. 34; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 22 f.; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 130 Rz. 183 ff.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 14; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 130 Rz. 59; Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 130 Rz. 52. 84) Für die Beschlussfeststellung des Versammlungsleiters einer GmbH-Gesellschafterversammlung gilt § 130 AktG weder unmittelbar noch analog, s. dazu KG, Beschl. v. 12.10.2015 – 22 W 74/15, ZIP 2016, 422. 85) S. dazu OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.3.2003 – 16 U 79/02, ZIP 2003, 1147, dazu EWiR 2003, 737 (Sustmann) – keine Verpflichtung des Notars zu eigenen Feststellungen über das Abstimmungsergebnis; LG Frankfurt/M., Urt. v. 19.6.2008 – 3/5 O 158/07, NZG 2009, 149.

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lich in die Niederschrift aufzunehmen, wenn sie diejenigen des Vorsitzenden ergänzen (z. B. wenn der Versammlungsleiter auf die Feststellung der Zahl der Ja- und Nein-Stimmen verzichtet, § 130 Abs. 2 Satz 3) oder davon abweichen (z. B. weil der Notar die Feststellung des Vorsitzenden als unzutreffend ansieht, dieser aber trotz Hinweis daran festhält).86) 54 Bei börsennotierten AGs (§ 3 Abs. 2) muss die Feststellung des Vorsitzenden über die Beschlussfassung (aufgrund der wenig geglückten87) Änderung durch das ARUG) grundsätzlich auch folgende zusätzliche Angaben umfassen (§ 130 Abs. 2 Satz 2), die dementsprechend auch in die Niederschrift aufgenommen werden müssen: –

§ 130 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1: Die Zahl der Aktien, für die gültige Stimmen abgegeben wurden88) (nicht dagegen auch die Gesamtzahl der gültigen Stimmen).89)



§ 130 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2: Der Anteil des durch die gültigen Stimmen vertretenen Grundkapitals am eingetragenen Grundkapital. Durch die Aktienrechtsnovelle 201690) wurde klargestellt, dass es insoweit auf das gesamte Grundkapital gemäß der Satzung und nicht etwa auf das bei der Beschlussfassung vertretene Grundkapital ankommt.91) Dies entspricht auch den Vorgaben der Aktionärsrechterichtlinie.92)



§ 130 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3: Die Zahl der für einen Beschluss abgegebenen (gültigen) Stimmen (Ja-Stimmen), Gegenstimmen (Nein-Stimmen) und ggf. die Zahl der Enthaltungen (letzteres nur bei Anwendung des Subtraktionsverfahrens).93)

55 Nach dem Wortlaut der Aktionärsrechterichtlinie ist zusätzlich die Anzahl der abgegebenen gültigen Stimmen anzugeben. In der amtlichen Regierungsbegründung wird darauf hingewiesen, dass sich diese Zahl aus der Addition der Ja- und Nein-Stimmen ergibt.94) 56 Falls kein Aktionär eine detaillierte Feststellung über die Beschlussfassung verlangt, kann sich der Versammlungsleiter für jeden Beschluss auf die Feststellung beschränken, dass die erforderliche Mehrheit erreicht worden ist (§ 130 Abs. 2 Satz 3). Allerdings sind die Abstimmungsergebnisse auch dann vollständig (d. h. einschließlich der Angaben nach § 130 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 bis Nr. 3) auf der Internetseite zu veröffentlichen (§ 130 Abs. 6). Unberührt bleibt zudem die für alle Gesellschaften geltende Verpflichtung, das Abstim-

_____________ 86) Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 130 Rz. 16; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 130 Rz. 60; Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 130 Rz. 51. Weitergehend Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 21. 87) Ähnlich die Einschätzung von K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 16 – „misslungen“; Spindler/ Stilz-Wicke, AktG, § 130 Rz. 53 – „wenig sinnvollen“. 88) Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 130 Rz. 198 ff.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 17. 89) So Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 23a. 90) Art. 1 Nr. 14 des Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2016), BGBl. I 2015, 2565. 91) S. dazu u. a. Rieckers, DB 2016, 2526, 2527. 92) S. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rats v. 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften (Aktionärsrechterichtlinie), ABl. (EG) L 184/17 v. 14.7.2007 – „den Anteil des durch diese Stimmen vertretenen Grundkapitals“. 93) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 23a; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 130 Rz. 206 f.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 18. – S. dazu BGH, Urt. v. 10.10.2017 – II ZR 375/15, ZIP 2017, 2245, dazu EWiR 2018, 39 (Seibt), ausführlich dazu Drescher in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 443 ff.; Heckschen/Kreußlein, NZG 2018, 401; Herrler, NJW 2018, 585; Hupka, ZGR 2018, 688; Koch in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 491 ff.; Lubberich, DNotZ 2018, 324; Reger/ Schilha, AG 2018, 65; K. Schmidt in: FS Marsch-Barner, S. 511 ff.; Selter, ZIP 2018, 1161. 94) Begr. RegE z. ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 32.

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Niederschrift

mungsergebnis in die Niederschrift aufzunehmen (§ 130 Abs. 2 Satz 1).95) Dies setzt nicht voraus, dass das Abstimmungsergebnis vom Vorsitzenden in der Hauptversammlung auch tatsächlich mündlich verlautbart worden ist.96) Die vereinfachte Feststellungsform steht zudem unter dem Vorbehalt, dass kein Aktionär 57 eine umfassende Feststellung über die Beschlussfassung verlangt (§ 130 Abs. 2 Satz 3 a. E). Dabei ist ungeklärt, wie lange ein Aktionär ein solches Verlangen stellen kann. Um das vereinfachte Feststellungsverfahren nicht völlig leerlaufen zu lassen, muss der Aktionär eine umfassende Feststellung spätestens dann verlangen, wenn der Vorsitzende die Feststellung vornimmt.97) Nachdem es teilweise aber als zulässig angesehen wird, dass ein Aktionär auch noch nach erfolgter Feststellung durch den Versammlungsleiter ein solches Verlangen stellt,98) sollte in der Praxis von dem vereinfachten Feststellungsverfahren nur zurückhaltend Gebrauch gemacht werden. f)

Unterschrift des Notars (§ 130 Abs. 4)

Die Niederschrift ist vom Notar zu unterschreiben (§ 130 Abs. 4 Satz 1).99) Die Unter- 58 schrift muss eigenhändig erfolgen (§§ 37 Abs. 3, 13 Abs. 3 Satz 1 BeurkG). Die Unterschrift mit dem Nachnamen ist ausreichend (siehe § 1 Satz 2 DONot). Bei der Unterschrift ist auch die Amtsbezeichnung anzugeben (§§ 37 Abs. 3, 13 Abs. 3 Satz 2 BeurkG und § 1 Satz 2 DONot). Zeugen müssen nicht hinzugezogen werden (§ 130 Abs. 4 Satz 2). Die zusätzliche Unterzeichnung der Niederschrift durch den Versammlungsleiter ist nicht erforderlich, aber unüblich. Die Unterschrift kann erst nach Beendigung der Hauptversammlung erfolgen. Dann aber 59 sollte die Unterzeichnung – schon im Hinblick auf etwa eintretende Verhinderungsfälle (z. B. Unfalltod, Krankheit) – möglichst unverzüglich erfolgen. Dies schließt nicht aus, dass der Notar die Niederschrift (bzw. deren Entwurf) nach der Hauptversammlung im Büro nochmals ergänzt, diese Reinschrift dann unterschreibt und sodann als Niederschrift im Rechtssinn an die Beteiligten aushändigt.100) Wird die Niederschrift ausnahmsweise vom Vorsitzenden des Aufsichtsrats errichtet, ist 60 sie von ihm (und dem jeweiligen Versammlungsleiter) zu unterschreiben (§ 130 Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 3).101) Die Hinzuziehung von Zeugen ist auch in diesem Fall entbehrlich (§ 130 Abs. 4 Satz 2).

_____________ 95) BGH, Urt. v. 10.10.2017 – II ZR 375/15, ZIP 2017, 2245, dazu EWiR 2018, 39 (Seibt), ausführlich dazu Drescher in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 443 ff.; Heckschen/Kreußlein, NZG 2018, 401; Herrler, NJW 2018, 585; Hupka, ZGR 2018, 688; Koch in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 491 ff.; Lubberich, DNotZ 2018, 324; Reger/Schilha, AG 2018, 65; K. Schmidt in: FS Marsch-Barner, S. 511 ff.; Selter, ZIP 2018, 1161. 96) Nicht abschließend geklärt ist bislang, ob die bloße Projektion der ausführlichen Beschlussergebnisse ausreichend ist. Dafür wohl Leitzen, ZIP 2010, 1065; Wilm, DB 2010, 1686, 1691. 97) So wohl Reul, ZNotP 2010, 44, 47; Spindler/Stilz-Wicke, AktG, § 130 Rz. 54. Noch weiter einschränkend Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 130 Rz. 213 – nur bis zum Beginn der Stimmenzählung. 98) So wohl Grobecker, NZG 2010, 165, 169; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 21. 99) Das Fehlen der Unterschrift führt auch bei der Einmann-AG zur Nichtigkeit der Beschlüsse, so OLG Stuttgart, Beschl. v. 21.3.2014 – 20 U 8/13, ZIP 2015, 378. 100) S. dazu auch oben Rz. 19 ff. m. w. N.; zu beurkundungsrechtlichen Fragen ausführlich Winkler, BeurkG, § 37 Rz. 18 ff. und Rz. 32 ff. sowie § 44a Rz. 5 ff., 15 ff. und Rz. 36 ff., jeweils m. w. N. 101) Zur alleinigen Unterzeichnung der Niederschrift durch den Versammlungsleiter s. OLG Karlsruhe, Urt. v. 9.10.2013 – 7 U 33/13, ZIP 2014, 376. Ausführlich dazu Beck, AG 2014, 275.

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§ 130 2.

Niederschrift Beurkundungsrechtliche Angaben in der Niederschrift

61 Das Aktienrecht sieht vor, dass in der Niederschrift über die Hauptversammlung zwingend bestimmte Angaben enthalten sein müssen (§ 130 Abs. 2; siehe darüber hinaus auch oben Rz. 34 ff.). Eine Verpflichtung zur Aufnahme weiterer Angaben in die notarielle Niederschrift kann sich für den Notar insbesondere aus den Bestimmungen des Beurkundungsgesetzes ergeben (§§ 36 ff. BeurkG). Bei der Niederschrift muss es sich um einen Bericht des Notars über seine Wahrnehmungen in der Hauptversammlung handeln (§ 37 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BeurkG). Dabei sind allerdings keineswegs alle Wahrnehmungen in der Niederschrift aufzunehmen, sondern nur solche, die für die Beschlüsse der Hauptversammlung unmittelbar von Bedeutung sein können.102) Denn die Niederschrift über die Hauptversammlung ist kein Wortprotokoll, sondern ein Ergebnisprotokoll.103) Die Entscheidung darüber, welche Tatsachen in die Niederschrift aufgenommen werden, liegt im pflichtgemäßen Ermessen des beurkundenden Notars. Bei der Ermessensausübung wird sich der Notar in der Regel vor allem daran orientieren, ob und inwieweit das Hauptversammlungsprotokoll als öffentliche Urkunde (§ 415 ZPO) später für Zwecke der Beweissicherung von Bedeutung sein kann (z. B. im Hinblick auf spätere Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen). 62 In der Praxis werden bspw. folgende Tatsachen oftmals in Hauptversammlungsniederschriften aufgenommen:104) Person des Versammlungsleiters, Namen der anwesenden Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats (siehe § 130 Abs. 3 Satz 1),105) Uhrzeit des Beginns und Endes der Hauptversammlung (sowie etwaiger Unterbrechungen), allgemeine Hinweise des Versammlungsleiters zum Ablauf der Hauptversammlung, Hinweise auf die in der Hauptversammlung ausliegenden Unterlagen (wie Teilnehmerverzeichnis, Jahresabschluss, Berichte des Vorstands und des Aufsichtsrats etc.), Feststellungen des Versammlungsleiters zur ordnungsgemäßen Einberufung der Hauptversammlung, allgemeine oder individuelle Ordnungsmaßnahmen des Versammlungsleiters (wie etwa Beschränkung der Redezeit, Wortentzug, Saalverweis, Anordnung des Endes der Debatte), förmliche Anträge von einzelnen Aktionären samt darüber jeweils getroffener Entscheidung, Namen und Reihenfolge der einzelnen Redner, Schluss der Generaldebatte samt Hinweis darauf, dass keine offenen Fragen mehr bestehen, Hinweise zum Abstimmungsverfahren und zur Beachtung von Stimmrechtsverboten. 63 Bei einer virtuellen Hauptversammlung (nach § 1 Abs. 2 COVGesMG; siehe dazu die Nachweise bei § 131 Rz. 45 ff.) können auch weitere Angaben des Vorsitzenden (etwa zum technischen Ablauf der Versammlung, zur Bild- und Tonübertragung, zu den Rechten der Aktionäre) in die Niederschrift mit aufgenommen werden. Maßgebend ist dabei stets der Zweck der Niederschrift (siehe Rz. 1), einer rechtssicheren und zweifelsfreien Dokumentation der Hauptversammlung. Die Niederschrift ist aber auch bei einer virtuellen Hauptversammlung stets (nur) ein Ergebnisprotokoll (und kein vollständiges Wortprotokoll). Eine (online)-Aufzeichnung der Hauptversammlung ist gesetzlich nicht vorgesehen. Der Notar kann eine solche Aufzeichnung seiner Niederschrift auch nicht beifügen, da es sich dabei um ein Schriftstück handelt (vgl. §§ 9 Abs. 1 Satz 2, 37 Abs. 1 Satz 2 BeurkG).106) 64 Für privatschriftliche Hauptversammlungsniederschriften des Aufsichtsratsvorsitzenden gelten die Bestimmungen des Beurkundungsrechts naturgemäß nicht unmittelbar. Aufgrund _____________ 102) Ähnlich Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 5 m. w. N zum Streitstand. 103) BGH, Urt. v. 19.9.1994 – II ZR 248/92, BGHZ 127, 107 = ZIP 1994, 1597, dazu EWiR 1995, 13 (Hirte). 104) S. dazu Hölters-Drinhausen, AktG, § 130 Rz. 10; Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 130 Rz. 254 ff.; K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 27; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 130 Rz. 61; Spindler/ Stilz-Wicke, AktG, § 130 Rz. 13. 105) Zur Anwesenheitspflicht der Organmitglieder in der Hauptversammlung s. Unmuth, NZG 2020, 448. 106) Weitergehend u. a. Noack/Zetzsche, AG 2020, 265, 273.

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§ 130

Niederschrift

der mit der Niederschrift bezweckten Dokumentation und Transparenz ist eine sinngemäße Anwendung im Regelfall jedoch sachgerecht. 3.

Verstöße gegen die Beurkundungspflicht

Verstöße gegen den aktienrechtlich zwingend vorgesehenen Inhalt der Beschlussnieder- 65 schrift (§ 130 Abs. 2 Satz 1; nicht dagegen auch § 130 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3) haben grundsätzlich die Nichtigkeit der Beschlüsse zur Folge (§ 241 Nr. 2).107) Dagegen haben etwaige Verstöße gegen das Beurkundungsgesetz, die Bundesnotarordnung oder die Dienstordnung der Notare weder die Nichtigkeit (§ 241 Nr. 2 i. V. m. § 130 Abs. 2 Satz 1) noch die Anfechtbarkeit der Beschlüsse zur Folge (§ 243 Abs. 1). Bei schuldhaftem Verhalten kommen unter Umständen jedoch Amtshaftungsansprüche in Betracht (§ 19 BNotO). IV.

Anlagen zur Niederschrift (§ 130 Abs. 3)

1.

Einberufungsbelege

Der Niederschrift sind die Belege über die Einberufung der Versammlung als Anlage bei- 66 zufügen, sofern sie nicht bereits in der Niederschrift selbst unter Angabe ihres Inhalts aufgeführt worden sind (§ 130). Als Nachweis für die ordnungsgemäße Einberufung ist grundsätzlich ein Ausdruck aus 67 dem (elektronischen) Bundesanzeiger beizufügen (siehe § 121 Abs. 4 Satz 1 i. V. m. § 25). Sind die Aktionäre der Gesellschaft namentlich bekannt und erfolgt die Einberufung mit eingeschriebenem Brief, ist der Niederschrift das Einladungsschreiben samt Nachweis über den Versand per Einschreiben beizufügen (siehe § 121 Abs. 4 Satz 2). Lässt die Satzung eine Einberufung durch E-Mail oder Telefax zu (siehe § 121 Abs. 4 Satz 2 Halbs. 2), sind der Niederschrift die entsprechenden Sendeberichte etc. beizufügen. Die entsprechenden Einberufungsnachweise sind der Niederschrift als Anlage beizufügen 68 und mit dieser durch Schnur und Siegel zu verbinden (siehe §§ 37 Abs. 1 Satz 2, 44 BeurkG, § 30 Abs. 2 DONot).108) Das Beifügen von Originalen ist gesetzlich nicht vorgesehen109) und in vielen Fällen auch gar nicht möglich. Die Einberufungsbelege müssen der Niederschrift nicht beigefügt werden, wenn sie in der 69 Niederschrift selbst aufgeführt sind (§ 130 Abs. 3 Halbs. 2). Die Ordnungsmäßigkeit der Einberufung muss in diesem Fall anhand der Niederschrift feststellbar sein. Die wörtliche Wiedergabe der Einberufungsbelege ist dabei nicht zwingend, aber vielfach zweckmäßig. Im Falle einer Vollversammlung kann auf die Einberufung verzichtet werden (§ 121 70 Abs. 6), so dass der Niederschrift auch keine entsprechenden Nachweise beigefügt oder in ihr aufgeführt werden müssen. Eine Verletzung der Pflicht zur Beifügung der Einberufungsbelege führt nicht zur Nichtig- 71 keit der Hauptversammlungsbeschlüsse (§ 241 Nr. 2 erwähnt § 130 Abs. 3 gerade nicht). Die Beschlüsse werden dadurch auch nicht anfechtbar. Denn ein bereits gefasster Beschluss kann nicht auf einem zeitlich nachfolgenden Gesetzesverstoß beruhen (§ 243 Abs. 1). _____________ 107) S. dazu BGH, Urt. v. 10.10.2017 – II ZR 375/15, ZIP 2017, 2245, dazu EWiR 2018, 39 (Seibt), ausführlich dazu Drescher in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 443 ff.; Heckschen/Kreußlein, NZG 2018, 401; Herrler, NJW 2018, 585; Hupka, ZGR 2018, 688; Koch in: FS 25 Jahre Deutsches Notarinstitut, S. 491 ff.; Lubberich, DNotZ 2018, 324; Reger/Schilha, AG 2018, 65; K. Schmidt in: FS MarschBarner, S. 511 ff.; Selter, ZIP 2018, 1161. 108) Zur Zulässigkeit der Bezugnahme auf den Inhalt einer vorgeschlagenen Satzungsänderung (Abs. 3 Halbs. 1, § 124 Abs. 2 Satz 2) s. OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 10.5.2010 – 20 W 115/10, MittBayNot 2011, 165. 109) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 57. A. A. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 24.

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§ 130 2.

Niederschrift Sonstige zwingende Anlagen

72 In Einzelfällen sind der Niederschrift aufgrund besonderer gesetzlicher Vorgaben weitere Anlagen110) beizufügen. Beispiele dafür sind etwa: Nachgründungsverträge (§ 52 Abs. 2 Satz 7), Verträge über die Vermögensübertragung im Ganzen (§ 179a Abs. 2 Satz 6), Unternehmensverträge (§ 293g Abs. 2 Satz 2),111) Verträge über die Verschmelzung, Spaltung oder Vermögensübertragung nach dem Umwandlungsgesetz (§§ 13 Abs. 3 Satz 2, 125 Satz 1, 176 Abs. 1 UmwG).112) 3.

Fakultative Anlagen

73 Darüber hinaus können der Niederschrift freiwillig weitere Anlagen zu Beweiszwecken beigefügt werden, wie etwa das Teilnehmerverzeichnis, der Jahres- und Konzernabschluss nebst Lagebericht, Berichte des Aufsichtsrats und/oder des Vorstands,113) die Rede des Vorsitzenden des Vorstands auf der Hauptversammlung, Schriftstücke von Aktionären über (unbeantwortete) Fragen, u. A. m. V.

Handelsregisterpublizität der Niederschrift (§ 130 Abs. 5)

74 Unverzüglich (§ 121 Abs. 1 Satz 1 BGB)114) nach der Hauptversammlung ist eine vollständige Abschrift der Niederschrift samt aller Anlagen elektronisch zum Handelsregister einzureichen (§ 130 Abs. 5 i. V. m. § 12 Abs. 2 HGB115).116) Das Handelsregister kann die Erfüllung dieser Verpflichtung ggf. mittels Zwangsgeld durchsetzen (§ 14 HGB i. V. m. §§ 388 ff. FamFG).117) Die Pflicht zur Einreichung der Hauptversammlungsniederschrift besteht unabhängig von der Verpflichtung zur Anmeldung von etwaigen Satzungsänderungen, Kapitalmaßnahmen oder Umwandlungen.118) 75 Für die Einreichung der Niederschrift beim Handelsregister ist stets der Vorstand der Gesellschaft zuständig. In der Praxis wird der Vorstand der Gesellschaft mit der Einreichung allerdings regelmäßig den beurkundenden Notar beauftragen. Ein Prüfvermerk des Notars (§ 378 Abs. 3 FamFG)119) ist insoweit nicht erforderlich, da es sich bei der Einreichung der Niederschrift um keine „Anmeldung in Registersachen“ handelt. _____________ 110) Dabei handelt es sich nicht um Anlagen i. S. des BeurkG, s. dazu DNotI-Report 2016, 1 (im Zusammenhang mit § 293g Abs. 2 Satz 2 AktG). 111) S. dazu BGH, Beschl. v. 30.1.1992 – II ZB 15/91, ZIP 1992, 395, dazu EWiR 1992, 423 (Kort). 112) Zur Vollständigkeit der Anlagen (im Zusammenhang mit der Auslegung nach § 63 UmwG) s. BGH, Urt. v. 23.2.2021 – II ZR 65/19 (Metro), ZIP 2019, 738, dazu EWiR 2021, 323 (Heckschen). 113) Zur Berücksichtigung von beigefügten Vorstandsberichten bei der Auslegung von Hauptversammlungsbeschlüssen s. BGH, Beschl. v. 30.1.1995 – II ZR 132/93, ZIP 1995, 372, dazu EWiR 1995, 359 (Hirte). 114) Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 130 Rz. 49; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 27. A. A. K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 63 – im Hinblick auf die Anfechtungsfrist nach § 246 Abs. 1. 115) Grundlegend zur elektronischen Übermittlung an das Handelsregister BGH, Beschl. v. 15.6.2021 – II ZB 25/17, Rz. 14 ff., ZIP 2021, 1488 – die Anmeldung muss mit einem einfachen elektronischen Zeugnis eines Notars nach § 39a BeurkG eingereicht werden. Eine qualifizierte elektronische Signatur nach § 126a BGB genügt nicht. 116) Die Einreichungspflicht wird in der Praxis allerdings vielfach nicht beachtet, s. zu statistischen Daten Bayer/Hoffmann, AG 2016, R 63. 117) LG Frankfurt/M., Urt. v. 19.6.2008 – 3/5 O 158/07, NZG 2009, 149 – keine Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit der Beschlüsse bei Verstoß gegen Einreichungspflicht nach Absatz 5. 118) Zum Fortbestand der Einreichungspflicht bei einer ungeplant beschlusslosen Hauptversammlung s. Mielke/Riechmann, BB 2014, 387. 119) Die Änderung von § 378 Abs. 3 FamFG ist durch Art. 4 Nr. 5 lit. b des Gesetzes zur Neuordnung der Aufbewahrung von Notariatsunterlagen und zur Einrichtung des Elektronischen Urkundenarchivs bei der Bundesnotarkammer sowie zur Änderung weiterer Gesetze, BGBl. I 2017, 1396, erfolgt und am 9.6.2017 in Kraft getreten. Ausführlich dazu Attenberger, MittBayNot 2017, 335; Diehn/Rachlitz, DNotZ 2017, 487; Heinemann, ZNotP 2017, 166; Weber, RNotZ 2017, 427; Zimmer, NJW 2017, 1909.

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§ 130

Niederschrift

Die Form der einzureichenden Niederschrift richtet sich nach der Person des Protokoll- 76 führers. Im Falle der notariellen Beurkundung ist beim Handelsregister eine öffentlich beglaubigte Abschrift (§ 42 BeurkG) oder eine Ausfertigung der Niederschrift (§§ 47 ff. BeurkG) einzureichen. Der Beglaubigungs- bzw. Ausfertigungsvermerk ist vom Notar zu unterschreiben. Bei Erstellung eines privatschriftlichen Protokolls genügt dagegen die Einreichung einer einfachen Abschrift der Niederschrift. Der Aufsichtsratsvorsitzende muss die Abschrift (zusätzlich zum Original, siehe § 130 Abs. 4 Satz 1) unterzeichnen. Die Niederschrift wird beim Handelsregister (grundsätzlich ohne weitere Prüfung)120) in 77 den elektronischen Registerordner aufgenommen und kann dort von jedermann (auch ohne berechtigtes Interesse) eingesehen werden (§ 9 Abs. 1 HGB). Darüber hinaus können auch Ausdrucke oder Abschriften der Niederschrift verlangt werden (§ 9 Abs. 4 HGB). Die Gesellschaft ist dagegen nicht verpflichtet, den Aktionären Abschriften der Niederschrift zu erteilen (siehe § 810 BGB). Der beurkundende Notar darf grundsätzlich nur der Gesellschaft (nicht aber den Aktionären oder einzelnen Organmitgliedern) Abschriften der Niederschrift erteilen (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 BeurkG; zu Ausnahmen siehe §§ 111 Abs. 3 und 122 AktG). VI.

Veröffentlichung der Abstimmungsergebnisse im Internet (§ 130 Abs. 6)

Börsennotierte Gesellschaften (§ 3 Abs. 2) müssen zudem innerhalb von sieben Tagen 78 (§§ 187 ff. BGB) nach der Hauptversammlung die festgestellten Abstimmungsergebnisse auf ihrer Internetseite veröffentlichen (§ 130 Abs. 6). Die Regelung wurde erstmals durch das ARUG121) eingeführt und geht auf die europäische Aktionärsrechterichtlinie zurück (Art. 14 Abs. 2). Die Abstimmungsergebnisse sind auch dann auf der Internetseite der Gesellschaft zu veröffentlichen, wenn die vollständige Hauptversammlungsniederschrift (in der auch das Ergebnis der Abstimmung enthalten ist) bereits zum Handelsregister eingereicht und dort für jedermann einsehbar ist. Etwaige Verstöße gegen die Internetpublizität bleiben allerdings ohne jede Sanktion und machen die zuvor gefassten Beschlüsse auch nicht anfechtbar. Der Veröffentlichungspflicht unterliegen die festgestellten Abstimmungsergebnisse ein- 79 schließlich der detaillierten Angaben über die Beschlussfassung (nach § 130 Abs. 2 Satz 2). Diese Angaben sind auch dann auf der Internetseite zu veröffentlichen, wenn sich der Versammlungsleiter in der Hauptversammlung auf die Feststellung beschränkt hat, dass für jeden Beschluss die erforderliche Mehrheit erreicht worden ist (§ 130 Abs. 6 verlangt die Angaben nach § 130 Abs. 2 Satz 2, ohne für den Fall der vereinfachten Feststellung nach § 130 Abs. 2 Satz 3 eine Ausnahme vorzusehen).122) Die gesetzliche Veröffentlichungspflicht bezieht sich nur auf die festgestellten Abstim- 80 mungsergebnisse. Die Bereitstellung weiterer Informationen auf der Internetseite der Gesell schaft (wie etwa des Wortlauts der gefassten Beschlüsse, siehe § 125 Abs. 4,123) oder des Wortlauts der geänderten Satzung, siehe § 181 Abs. 1 Satz 2) ist möglich, aber nicht zwingend erforderlich.

_____________ 120) Henssler/Strohn-Liebscher, GesR, § 130 AktG Rz. 24; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 28. 121) Art. 1 Nr. 19 lit. b des Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG), BGBl. I 2009, 2479. S. dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 16/11642, S. 48. 122) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 130 Rz. 23b und Rz. 29a. 123) K. Schmidt/Lutter-Ziemons, AktG, § 130 Rz. 69.

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§ 131

Auskunftsrecht des Aktionärs

§ 131 Auskunftsrecht des Aktionärs Thomas Wachter

(1) 1Jedem Aktionär ist auf Verlangen in der Hauptversammlung vom Vorstand Auskunft über Angelegenheiten der Gesellschaft zu geben, soweit sie zur sachgemäßen Beurteilung des Gegenstands der Tagesordnung erforderlich ist. 2Die Auskunftspflicht erstreckt sich auch auf die rechtlichen und geschäftlichen Beziehungen der Gesellschaft zu einem verbundenen Unternehmen. 3Macht eine Gesellschaft von den Erleichterungen nach § 266 Abs. 1 Satz 3, § 276 oder § 288 des Handelsgesetzbuchs Gebrauch, so kann jeder Aktionär verlangen, dass ihm in der Hauptversammlung über den Jahresabschluss der Jahresabschluss in der Form vorgelegt wird, die er ohne diese Erleichterung hätte. 4Die Auskunftspflicht des Vorstands eines Mutterunternehmens (§ 290 Abs. 1, 2 des Handelsgesetzbuchs) in der Hauptversammlung, der der Konzernabschluss und der Konzernlagebericht vorgelegt werden, erstreckt sich auch auf die Lage des Konzerns und der in den Konzernabschluss einbezogenen Unternehmen. (2) 1Die Auskunft hat den Grundsätzen einer gewissenhaften und getreuen Rechenschaft zu entsprechen. 2Die Satzung oder die Geschäftsordnung gemäß § 129 kann den Versammlungsleiter ermächtigen, das Frage- und Rederecht des Aktionärs zeitlich angemessen zu beschränken, und Näheres dazu bestimmen. (3) 1Der Vorstand darf die Auskunft verweigern, 1. soweit die Erteilung der Auskunft nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung geeignet ist, der Gesellschaft oder einem verbundenen Unternehmen einen nicht unerheblichen Nachteil zuzufügen; 2. soweit sie sich auf steuerliche Wertansätze oder die Höhe einzelner Steuern bezieht; 3. über den Unterschied zwischen dem Wert, mit dem Gegenstände in der Jahresbilanz angesetzt worden sind, und einem höheren Wert dieser Gegenstände, es sei denn, daß die Hauptversammlung den Jahresabschluß feststellt; 4. über die Bilanzierungs- und Bewertungsmethoden, soweit die Angabe dieser Methoden im Anhang ausreicht, um ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft im Sinne des § 264 Abs. 2 des Handelsgesetzbuchs zu vermitteln; dies gilt nicht, wenn die Hauptversammlung den Jahresabschluß feststellt; 5. soweit sich der Vorstand durch die Erteilung der Auskunft strafbar machen würde; 6. soweit bei einem Kreditinstitut, einem Finanzdienstleistungsinstitut oder einem Wertpapierinstitut Angaben über angewandte Bilanzierungs- und Bewertungsmethoden sowie vorgenommene Verrechnungen im Jahresabschluß, Lagebericht, Konzernabschluß oder Konzernlagebericht nicht gemacht zu werden brauchen; 7. soweit die Auskunft auf der Internetseite der Gesellschaft über mindestens sieben Tage vor Beginn und in der Hauptversammlung durchgängig zugänglich ist. 2

Aus anderen Gründen darf die Auskunft nicht verweigert werden.

(4) 1Ist einem Aktionär wegen seiner Eigenschaft als Aktionär eine Auskunft außerhalb der Hauptversammlung gegeben worden, so ist sie jedem anderen Aktionär auf dessen Verlangen in der Hauptversammlung zu geben, auch wenn sie zur sachgemäßen Beurteilung des Gegenstands der Tagesordnung nicht erforderlich ist. 2Der Vorstand darf die Auskunft nicht nach Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 4 verweigern. 3Sätze 1 und 2 gelten nicht, wenn ein Tochterunternehmen (§ 290 Abs. 1, 2 des Handelsgesetzbuchs), 1066

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§ 131

Auskunftsrecht des Aktionärs

ein Gemeinschaftsunternehmen (§ 310 Abs. 1 des Handelsgesetzbuchs) oder ein assoziiertes Unternehmen (§ 311 Abs. 1 des Handelsgesetzbuchs) die Auskunft einem Mutterunternehmen (§ 290 Abs. 1, 2 des Handelsgesetzbuchs) zum Zwecke der Einbeziehung der Gesellschaft in den Konzernabschluß des Mutterunternehmens erteilt und die Auskunft für diesen Zweck benötigt wird. (5) Wird einem Aktionär eine Auskunft verweigert, so kann er verlangen, daß seine Frage und der Grund, aus dem die Auskunft verweigert worden ist, in die Niederschrift über die Verhandlung aufgenommen werden. Literatur: Angerer, Die Beschränkung des Rede- und Fragerechts des Aktionärs in der Hauptversammlung, ZGR 2011, 27; Arbeitskreis Recht des Aufsichtsrats, Eckpunkte für eine Reform des Aufsichtsratsrechts, NZG 2021, 477; Bredol, „Noch offene Fragen?“ – Zur Nachfrageobliegenheit des Aktionärs auf der Hauptversammlung, NZG 2012, 613; Decher, Aktionärsinformation, ZGR 2020, 238; Decher, Das Auskunftsrecht der Aktionäre zur Aufdeckung von Pflichtverletzungen der Verwaltung, in: Festschrift für Reinhard Marsch-Barner, 2018, S. 129; Decher, Die Information der Aktionäre über die Unternehmensbewertung bei Strukturmaßnahmen in der Hauptversammlungs- und Gerichtspraxis, in: Festschrift für Michael Hoffmann-Becking, 2013, S. 295; Dreher/Fritz, D&O-Fragen in der Hauptversammlung. Aktienrechtliche Auskunftsrechte und Auskunftsverweigerung, AG 2022, 3; Fleischer, Anforderungen an Anfechtungskläger im Aktienrecht: Widerspruchserfordernis – Verbot widersprüchlichen Verhaltens – Rügeobliegenheit?, in: Festschrift für Eberhard Stilz, 2014, S. 143; Haggeney/Hausmanns, Der Einfluss von Geheimhaltungsvereinbarungen auf die Informationsrechte des Aktionärs und des GmbH-Gesellschafters, NZG 2016, 814; Herz, Informationelle Gleichbehandlung und Informationsprivilegien im Aktienrecht, NZG 2020, 285; Hirt/Hopt/Mattheus, Dialog zwischen dem Aufsichtsrat und Investoren, AG 2016, 725; Hoffmann-Becking, Der Aufsichtsrat der AG und sein Vorsitzender in der Hauptversammlung, NZG 2017, 281; Holle, Kommunikation des Aufsichtsrats mit Marktteilnehmern, ZIP 2019, 1895; Hoppe, Sind noch Fragen offen? Blind Spots im Recht der Hauptversammlung der Aktiengesellschaft, NZG 2019, 1401; Kalss, Aktionärsinformation, ZGR 2020, 217; Kersting/Billerbeck, Auskunftsverweigerungsrecht und Auskunftsverweigerungspflicht, NZG 2019, 1326; Koch, Informationsweitergabe und Informationsasymmetrien im Gesellschaftsrecht, ZGR 2020, 183; Koch, Investorengespräche des Aufsichtsrats, AG 2017, 129; Kocher/Lönner, Erforderlichkeit, Nachfrageobliegenheiten und Gremienvertraulichkeit – Begrenzungen des Auskunftsrechts in der Hauptversammlung, AG 2014, 81; Kocher/Sambulski, Insiderinformation in der Hauptversammlung, DB 2018, 1905; Kubis, Auskunft ohne Grenzen? – Europarechtliche Einflüsse auf den Informationsanspruch nach § 131 AktG, ZGR 2014, 608; Leyen, System der Aktionärsinformation, ZGR 2019, 544; Lieder, Auskunftsrecht und Auskunftserzwingung, NZG 2014, 601; Moser, Verantwortlichkeit von Vorstandsmitgliedern bei Verletzung des Auskunftsrechts nach § 131 AktG, NZG 2017, 1419; Ott, Objektive und subjektive Grenzen des Auskunftsrechts nach § 131 Abs. 1 Satz 1 AktG, AG 2020, 377; Poelzig, Das Auskunftserzwingungsverfahren gem. § 132 AktG bei unrichtig erteilten Auskünften, DB 2022, 67; Pospiech/Schiller, Virtuelle Hauptversammlung auch in 2022, NJW-Spezial 2021, 719; Reger, Neues zum Auskunftsrecht in der Hauptversammlung, NZG 2013, 48; Schulteis, Das Aufbauhilfegesetz 2021 und seine wirtschaftsrechtlichen Auswirkungen insb. auf das Insolvenzrecht und auf das Gesellschaftsrecht, GWR 2021, 395; Stöber, Das Auskunftsrecht der Aktionäre und seine Beschränkungen im Lichte des Europarechts, DStR 2014, 1680; Teichmann, Fragerecht und Aktionärsrechterichtlinie, NZG 2014, 401; Vetter, J., Die Beantwortung von Fragen durch den Aufsichtsratsvorsitzenden in der Hauptversammlung, in: Festschrift für Eberhard Vetter, 2019, S. 833; Weber, Auskunftspflichten in der Hauptversammlung betreffend Beratungsverträge einer Großbank mit Tochterunternehmen von Aktionären, NZG 2020, 60; Werner, Kann der Auskunftsanspruch des Aktionärs nach § 131 I 1 AktG auch durch eine unwahre Auskunft erfüllt werden?, NZG 2022, 115; Zetsche, § 53a AktG als Informationsnorm?, AG 2019, 701.

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§ 131

Auskunftsrecht des Aktionärs Übersicht

I. Überblick ........................................... 1 II. Auskunftsanspruch (§ 131 Abs. 1 – 3) ................................ 5 1. Auskunftsberechtigter ....................... 5 2. Auskunftsverpflichteter .................... 6 3. Auskunftsverlangen ........................... 7 4. Gegenstand des Auskunftsanspruchs .......................................... 10 a) Angelegenheiten der Gesellschaft .......................................... 10 b) Erforderlichkeit ......................... 12 c) Rechtsmissbrauch ...................... 17 5. Auskunftserteilung .......................... 18 a) Mündliche Auskunftserteilung in der Hauptversammlung ........ 18 b) Schriftliche Vorlage eines Jahresabschlusses ....................... 21 6. Recht zur Auskunftsverweigerung (§ 131 Abs. 3) .................................. 22 I.

a) Allgemeines ................................ 22 b) Einzelne Auskunftsverweigerungsgründe ................. 23 III. Erweiterte Auskunftspflicht (§ 131 Abs. 4) ................................... 30 IV. Rechtsfolgen bei Auskunftsverweigerung ................................... 33 1. Aufnahme in die Niederschrift ........ 33 2. Auskunftserzwingungsverfahren ..... 37 3. Anfechtungsklage ............................. 38 4. Schadensersatzansprüche ................. 39 V. Satzungsregelung des Rede- und Fragerechts (§ 131 Abs. 2 Satz 2) ... 42 VI. Exkurs: Sonderregelungen aufgrund der COVID-19Pandemie .......................................... 45 1. Rechtslage im Jahr 2020 ................... 45 2. Rechtslage im Jahr 2021 und 2022 ............................................ 48

Überblick

1 Jeder Aktionär ist berechtigt, in der Hauptversammlung Auskunft über die Angelegenheiten der Gesellschaft zu verlangen.1) Der Auskunftsanspruch soll gewährleisten, dass jeder Aktionär die Informationen erhält, die er für eine sachgerechte Ausübung seiner Mitgliedschaftsrechte (wie etwa der Ausübung des Stimmrechts, der Erhebung einer Anfechtungsklage oder der Einleitung einer Sonderprüfung) benötigt.2) Das Auskunftsrecht ist ein (eigennütziges) Individualrecht jedes einzelnen Aktionärs, das nur in der Hauptversammlung (und nicht außerhalb) geltend gemacht werden kann.3) Der Vorstand erteilt die Auskunft dann aber nicht nur dem einzelnen Aktionär, sondern gleichermaßen allen Teilnehmern der Hauptversammlung (siehe § 131 Abs. 4 und § 53a). Das Auskunftsrecht ist Bestandteil des Mitgliedschaftsrechts und kann ohne die Aktie nicht übertragen werden. 2 Jedem Aktionär ist auf Verlangen in der Hauptversammlung vom Vorstand Auskunft über die Angelegenheiten der Gesellschaft zu geben, soweit sie zur sachgemäßen Beurteilung des Gegenstands der Tagesordnung erforderlich ist (§ 131 Abs. 1 Satz 1). Das Auskunftsrecht erstreckt sich auch auf die Beziehungen der Gesellschaft zu verbundenen Unternehmen (§ 131 Abs. 1 Sätze 2 bis 4). Der Vorstand hat die Auskunft nach den Grundsätzen einer gewissenhaften und getreuen Rechenschaft zu erteilen (§ 131 Abs. 2 Satz 1). In bestimmten Fällen, die im Gesetz abschließend geregelt sind, steht dem Vorstand ein Auskunftsverweigerungsrecht zu (§ 131 Abs. 3). Ein über die Tagesordnung der Hauptversammlung hinausgehender Aus_____________ 1)

2)

3)

Grundlegend BVerfG, Beschl. v. 20.9.1999 – 1 BvR 636/95 (Daimler Benz/Wenger), ZIP 1999, 1798, dazu EWiR 1999, 1033 (Luttermann). – Zum Auskunftsrecht und dessen Durchsetzung in der virtuellen Hauptversammlung s. LG München I, Beschl. v. 29.7.2021 – 5 HK O 7359/21 (Kuka AG), rkr., DB 2021, 2206 mit Anm. Bungert/Strothotte = DStR 2022, 275. Decher in: GroßKomm-AktG, § 131 Rz. 7 ff.; Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 131 Rz. 1; Hölters-Drinhausen, AktG, § 131 Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 131 Rz. 1; Kersting in: KölnKommAktG, § 131 Rz. 6 ff.; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 1; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 131 Rz. 1 ff.; Spindler/Stilz-Siems, AktG, § 131 Rz. 2. Tendenziell weitergehend Heidel-Heidel, AktR, § 131 AktG Rz. 1 ff. – der vor allem die Rechenschaftspflicht der Verwaltung gegenüber den Aktionären als Eigentümern der Gesellschaft betont. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 131 Rz. 2; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 4.

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§ 131

Auskunftsrecht des Aktionärs

kunftsanspruch besteht aus Gründen der Gleichbehandlung aller Aktionäre dann, wenn einem Aktionär außerhalb der Hauptversammlung eine bestimmte Auskunft erteilt worden ist (§ 131 Abs. 4). Ein Aktionär, dem eine Auskunft nicht oder nicht vollständig erteilt worden ist, kann verlangen, dass die Frage und der Grund der Auskunftsverweigerung in der Niederschrift über die Verhandlung aufgenommen werden (§ 131 Abs. 5 i. V. m. § 130 Abs. 1). Die Regelung über das Auskunftsrecht des einzelnen Aktionärs ist grundsätzlich zwin- 3 gend4) und abschließend.5) Die Satzung oder die Geschäftsordnung kann den Versammlungsleiter aber ermächtigen, das Frage und Rederecht des Aktionärs zeitlich angemessen zu beschränken (§ 131 Abs. 2 Satz 2).6) Unberührt bleiben die Auskunftsrechte von Aktionären in bestimmten Sondersituationen (z. B. nach §§ 293g Abs. 3, 295 Abs. 1 Satz 2, 319 Abs. 3 Satz 5, 320 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 4 Satz 3, 326; §§ 64 Abs. 2, 73 UmwG). Die Vorschrift wurde in den letzten Jahren mehrfach geändert, insbesondere durch das 4 UMAG7) (Einfügung von § 131 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 Nr. 7). Das ARUG8) hat unmittelbar zu keiner Änderung des gesetzlichen Auskunftsrechts geführt. Bei der Gesetzesauslegung ist allerdings zu berücksichtigen, dass nach der europäischen Aktionärsrechterichtlinie9) jedem Aktionär auf der Hauptversammlung zu Punkten der Tagesordnung ein Fragerecht zusteht.10) Im Rahmen der Aktienrechtsnovelle 201611) wurde ein Redaktionsversehen (unrichtige Verweisung in § 131 Abs. 1 Satz 3 auf § 266 Abs. 1 Satz 2 HGB) berichtigt.12) Zu den (zeitlich befristeten) Sonderregelungen aufgrund der COVID19-Pandemie siehe unten Rz. 45 ff. II.

Auskunftsanspruch (§ 131 Abs. 1 – 3)

1.

Auskunftsberechtigter

Das Auskunftsrecht steht jedem Aktionär zu (§ 131 Abs. 1 Satz 1).13) Auf die Höhe der 5 Beteiligung kommt es nicht an. Auskunftsberechtigt sind insbesondere auch Aktionäre, die nicht stimmberechtigt sind (z. B. nach §§ 134 Abs. 2, 136, 139 ff.). Das Auskunftsrecht ist nicht höchstpersönlich, sondern kann auch von einem (offenen oder verdeckten) Vertreter des Aktionärs oder einem Legitimationsaktionär (siehe § 129 Abs. 3) ausgeübt werden. Der Aktionär (oder sein Vertreter) muss allerdings an der Hauptversammlung (persönlich, online14) oder durch einen Vertreter) teilnehmen, da das Auskunftsrecht nur dort besteht. Dritten (z. B. Gästen der Hauptversammlung oder Vertretern der Medien) steht dagegen kein Auskunftsrecht zu. _____________ 4) Kersting in: KölnKomm-AktG, § 131 Rz. 57 ff. Für die Zulässigkeit einer Erweiterung dagegen Spindler/Stilz-Siems, AktG, § 131 Rz. 4 ff. – auch zu rechtspolitischen Erwägungen. 5) S. dazu Noack/Zetzsche in: KölnKomm-AktG, § 130 Rz. 24 ff.; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 8; Spindler/Stilz-Siems, AktG, § 131 Rz. 5 ff. 6) Eingeführt durch Art. 1 Nr. 9 des Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG), BGBl. I 2005, 2802. S. dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 17 f. 7) Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG), BGBl. I 2005, 2802. 8) Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG), BGBl. I 2009, 2479. 9) S. Art. 9 (Fragerecht) der Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rats v. 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften (Aktionärsrechterichtlinie), ABl. (EG) L 184/17 v. 14.7.2007. 10) Grundlegend dazu BGH, Beschl. v. 5.11.2013 – II ZB 28/12 (Deutsche Bank), ZIP 2013, 2554 mit Anm. Kersting, dazu EWiR 2014, 37 (E. Vetter). 11) Art. 1 Nr. 15 des Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2016), BGBl. I 2015, 2565. 12) Zu Reformvorschlägen umfassend Decher in: GroßKomm-AktG, § 131 Rz. 35 ff. und Rz. 42 ff. 13) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 13 ff. 14) Ausführlich dazu Kersting in: KölnKomm-AktG, § 131 Rz. 521 ff.; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 108 ff.

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§ 131 2.

Auskunftsrecht des Aktionärs Auskunftsverpflichteter

6 Die Auskunft ist von der Gesellschaft, vertreten durch den Vorstand zu erteilen (§ 131 Abs. 1 Satz 1).15) Der Vorstand entscheidet grundsätzlich einstimmig (§ 77 Abs. 1 Satz 1 und 2) über die Auskunftserteilung oder -verweigerung. Der Vorstand kann sich bei der Erteilung der Auskunft der Unterstützung Dritter (z. B. von Mitarbeitern, Rechtsanwälten, Mitgliedern des Aufsichtsrats16) oder des Abschlussprüfers, siehe dazu § 176 Abs. 2 Satz 3 AktG i. V. m. § 323 HGB) bedienen. Zur Auskunft verpflichtet ist aber stets nur die Gesellschaft und nicht etwa (auch) der Versammlungsleiter, die Mitglieder des Aufsichtsrats oder ein besonderer Vertreter (§ 147)17).18) 3. Auskunftsverlangen 7 Eine Verpflichtung der Gesellschaft zur Auskunftserteilung besteht nur dann, wenn ein Aktionär dies auf der Hauptversammlung (und nicht außerhalb) verlangt (§ 131 Abs. 1 Satz 1). Besondere Formerfordernisse für das Auskunftsverlangen bestehen nicht und können in der Satzung auch nicht vorgesehen werden.19) In der Regel wird die Auskunft auf der Hauptversammlung mündlich verlangt. Schriftliche Auskunftsverlangen müssen in der Hauptversammlung mündlich wiederholt werden.20) Denn die Information der anderen Teilnehmer der Hauptversammlung bliebe ohne die Kenntnis der Fragen zwangsläufig unvollständig. Zudem bestünde die Gefahr, dass der zeitliche Rahmen der Hauptversammlung durch die Übergabe von umfangreichen Auskunftsbegehren (die dann mündlich zu beantworten wären) gesprengt werden könnte. Der Grundsatz der Mündlichkeit ist auch bei online gestellten Fragen zu beachten. Die Auskunft muss stets ausdrücklich verlangt werden, um spätere Streitigkeiten über (tatsächliche oder angebliche) konkludente Auskunftsbegehren von vornherein auszuschließen.21) Kein Auskunftsverlangen sind insbesondere Zwischenrufe während der Generaldebatte oder bloß rhetorische Fragen. Das Auskunftsverlangen muss nicht begründet werden. Zeitlich muss das Auskunftsverlangen stets vor der Abstimmung über den jeweiligen Tagesordnungspunkt gestellt werden. 8 Der Aktionär muss sein Auskunftsverlangen in deutscher Sprache geltend machen. Ausführungen in einer fremden Sprache sind nur dann möglich, wenn neben dem Versammlungsleiter auch alle Aktionäre und der Protokollführer der fremden Sprache ausreichend mächtig sind. Im Einzelfall muss sich der fremdsprachige Aktionär selbst (und nicht etwa die Gesellschaft) um einen Dolmetscher bemühen. _____________ 15) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 16 ff. 16) Zu Auskünften durch den Aufsichtsratsvorsitzenden s. Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281, 285 f.; J. Vetter in: FS E. Vetter, S. 833 ff. – Rechtspolitisch auch Arbeitskreis Recht des Aufsichtsrats, NZG 2021, 477, 482. 17) LG München I, Beschl. v. 28.7.2008 – 5 HK O 12504/08, ZIP 2008, 1588, dazu EWiR 2009, 65 (Verhoeven); Kersting in: KölnKomm-AktG, § 131 Rz. 73. A. A. Heidel-Heidel, AktR, § 131 AktG Rz. 17a. 18) Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 131 Rz. 5; Hölters-Drinhausen, AktG, § 131 Rz. 6. 19) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 131 Rz. 3 und 9; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 24. 20) Zutreffend OLG München, Beschl. v. 10.4.2013 – 7 AktG 1/13 (Siemens/Osram), ZIP 2013, 931, dazu EWiR 2013, 563 (Ruppert) – nicht genügend ist die bloße Behauptung, die Erläuterungen zum Abspaltungs- und Übernahmevertrag seien auf den Toiletten wegen der dröhnenden Heißluft-Händetrockner nicht zu verstehen gewesen; OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 19.9.2006 – 20 W 55/05, AG 2007, 451 – Übergabe eines 24 Seiten umfassenden handschriftlichen Fragenkatalogs nicht ausreichend, wenn die Fragen nicht auch mündlich in der Hauptversammlung gestellt werden. Ebenso Bürgers/ Körber/Lieder-Reger, AktG, § 131 Rz. 6; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 131 Rz. 8; Kubis in: MünchKommAktG, § 131 Rz. 27. Einschränkend dagegen – grundsätzlich auch ausreichend, wenn die Fragen den anderen Aktionären auf andere Weise zugänglich gemacht werden K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 24; Spindler/Stilz-Siems, AktG, § 131 Rz. 19. 21) Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 131 Rz. 6; Hölters-Drinhausen, AktG, § 131 Rz. 13; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 131 Rz. 24. Großzügiger dagegen – auch konkludentes Auskunftsverlangen ausreichend – Heidel-Heidel, AktR, § 131 AktG Rz. 11; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 23. – Zur Nachfrageobliegenheit des Aktionärs BGH, Beschl. v. 5.11.2013 – II ZB 28/12 (Deutsche Bank), ZIP 2013, 2554 mit Anm. Kersting, dazu EWiR 2014, 37 (E. Vetter).

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§ 131

Auskunftsrecht des Aktionärs

Grundsätzlich ist es möglich, dass ein Aktionär, der von der Gesellschaft zunächst eine 9 bestimmte Auskunft verlangt hat, später darauf verzichtet. Ein ausdrücklicher Verzicht wird allerdings nur selten erfolgen. Ein konkludenter Verzicht (z. B. durch vorzeitiges Verlassen der Hauptversammlung, Schweigen auf die Frage des Versammlungsleiters nach unbeantworteten Fragen)22) ist möglich, sollte in der Praxis aber gleichwohl nur ausnahmsweise angenommen werden.23) 4.

Gegenstand des Auskunftsanspruchs

a) Angelegenheiten der Gesellschaft Das Auskunftsrecht betrifft (nur) die Angelegenheiten der Gesellschaft (§ 131 Abs. 1 10 Satz 1). Damit sind alle Angelegenheiten umfasst, die die Gesellschaft oder ihre Tätigkeit unmittelbar (z. B. ihre Vermögens-, Finanz- oder Ertragslage, die rechtlichen Verhältnisse, die Geschäftspolitik) oder mittelbar (z. B. Unternehmensbeteiligungen, Kunden- und Lieferantenbeziehungen, bestimmte persönliche Angelegenheiten von Organmitgliedern24) berühren.25) Nicht um Angelegenheiten der Gesellschaft geht es bspw. bei Fragen nach persönlichen Auffassungen von Mitgliedern des Aufsichtsrats oder Fragen nach der Struktur der Aktionäre der Gesellschaft. In der Praxis wird ein Auskunftsanspruch eines Aktionärs allerdings kaum jemals daran scheitern, dass er keine Angelegenheit der Gesellschaft betrifft.26) Die Auskunftspflicht erstreckt sich insbesondere auch auf die rechtlichen und geschäft- 11 lichen Beziehungen der Gesellschaft zu verbundenen Unternehmen (§ 131 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. §§ 15 ff.)27) sowie konsolidierten Konzernunternehmen (§ 131 Abs. 1 Satz 4).28) b)

Erforderlichkeit

Das Auskunftsrecht des Aktionärs besteht nur soweit, als es zur sachgemäßen Beurteilung 12 des Gegenstands der Tagesordnung erforderlich ist (§ 131 Abs. 1 Satz 1).29) Mit dieser Ein_____________ 22) S. dazu etwa OLG München, Beschl. v. 10.4.2013 – 7 AktG 1/13 (Siemens/Osram), ZIP 2013, 931, dazu EWiR 2013, 563 (Ruppert); OLG Köln, Urt. v. 28.7.2012 – 18 U 213/10, ZIP 2011, 2102, dazu EWiR 2011, 761 (Morell); dazu auch Bredol, NZG 2012, 613; OLG Stuttgart, Beschl. v. 3.12.2008 – 20 W 12/08, AG 2009, 204; LG Mainz, Beschl. v. 13.7.1987 – 10 HO 141/86, WM 1987, 1129, dazu EWiR 1988, 9 (Semler). – Ausführlich zu Schranken des Auskunftsrechts aufgrund rechtsmissbräuchlichen bzw. treuwidrigen Verhaltens des Aktionärs Decher in: GroßKomm-AktG, § 131 Rz. 434 ff. 23) Hölters-Drinhausen, AktG, § 131 Rz. 14; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 131 Rz. 9 und 40; K. Schmidt/ Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 27; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 131 Rz. 30 ff. Einschränkend zum konkludenten Verzicht auf das Auskunftsrecht Heidel-Heidel, AktR, § 131 AktG Rz. 16. 24) Zu Auskünften über die berufliche Qualifikation von Organmitgliedern in der Hauptversammlung s. OLG Düsseldorf, Urt. v. 22.11.2012 – I-6 U 18/12, AG 2013, 759. – Zu Fragen zur D&O in der Hauptversammlung bei Organhaftungsfällen s. Dreher/Fritz, AG 2022, 3. 25) S. dazu Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 131 Rz. 7 ff.; Kersting in: KölnKomm-AktG, § 131 Rz. 90 ff.; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 28; Spindler/Stilz-Siems, AktG, § 131 Rz. 23 ff. 26) Zutreffend Kersting in: KölnKomm-AktG, § 131 Rz. 94 – keine Abgrenzungskraft des Tatbestandsmerkmals. Ähnlich auch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 131 Rz. 12 ff. 27) Ausführlich zum Ganzen u. a. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 131 Rz. 15 ff.; Kersting in: KölnKomm-AktG, § 131 Rz. 249 ff.; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 37 ff. Zum umstrittenen Verhältnis des Auskunftsanspruchs zum Abhängigkeitsbericht nach §§ 312 ff. AktG s. einerseits OLG Stuttgart, Urt. v. 11.8.2004 – 20 U 3/04, AG 2005, 94 – Auskunftsanspruch wird durch Abhängigkeitsbericht nicht verdrängt-, und andererseits OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 6.1.2003 – 20 W 449/93, ZIP 2003, 761 – Inhalt des Abhängigkeitsberichts gehört nicht zu den Angelegenheiten einer abhängigen Gesellschaft. 28) Dazu u. a. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 131 Rz. 19 f.; Kersting in: KölnKomm-AktG, § 131 Rz. 254 ff.; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 42. 29) BGH, Urt. v. 23.2.2021, II ZR 65/19 (Metro), ZIP 2019, 738 = EWiR 2021, 323 (Heckschen); BGH, Beschl. v. 14.1.2014 – II ZB 5/12 (Porsche), ZIP 2014, 671, dazu EWiR 2014, 309 (Bungert/ de Raet); BGH, Beschl. v. 5.11.2013 – II ZB 28/12 (Deutsche Bank), ZIP 2013, 2554 mit Anm. Kersting, dazu EWiR 2014, 37 (E. Vetter); BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 185/07 (Kirch/Deutsche Bank), BGHZ 180, 9 = ZIP 2009, 460 mit Anm. Mutter, dazu EWiR 2009, 461 (Staake); BGH, Urt. v. 18.10.2004 – II ZR 250/02, BGHZ 160, 385 = ZIP 2004, 2428, dazu EWiR 2005, 241 (Wagner). – Ausführlich zum Ganzen u. a. Kocher/Lönner, AG 2014, 81; Kubis, ZGR 2014, 608, 609; Lieder, NZG 2014, 601; Stöber, DStR 2014, 1680; Teichmann, NZG 2014, 401.

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schränkung sollen insbesondere Missbräuche des Auskunftsrechts verhindert werden. Gleichzeitig soll eine ordnungsgemäße Durchführung der Hauptversammlung gewährleistet werden. Die Erforderlichkeit einer begehrten Auskunft muss stets im Zusammenhang mit dem konkreten Tagesordnungspunkt beurteilt werden.30) Maßgebend ist nicht die Auffassung des Aktionärs, der die Auskunft verlangt, sondern das Urteil eines objektiv denkenden Durchschnittsaktionärs.31) Die Rechtsprechung hat bspw. in folgenden Einzelfällen eine Auskunft für erforderlich gehalten:32) Zurückstellung der Rechtsverfolgung gegen frühere Vorstände trotz festgestelltem Fehlverhaltens,33) Buchwert von Anteilen an in- und ausländischen Kapitalgesellschaften,34) Verkaufspreis eines Grundstücks, wenn dieser im Verhältnis zum Grundkapital und Gewinn der Gesellschaft von bedeutendem Umfang ist,35) Gesamtumfang eines problembehafteten Immobilienengagements,36) Erwerb von Immobilien durch ein Wohnungsunternehmen trotz gerichtlich angeordneter Sonderprüfung,37) Maßnahmen der Gesellschaft nach Kenntniserlangung von dem Dieselskandal,38) Höhe der Gesamtvergütung von Führungskräften,39) und Mandate von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern in anderen Unternehmen.40) Als nicht erforderlich angesehen wurde demgegenüber etwa die Auskunft über die Einzelvergütung von Mitarbeitern, die Tagesordnung von Sitzungen des Aufsichtsrats oder Personalentscheidungen in Tochtergesellschaften.41) Nicht erforderlich ist die Auskunft insbesondere auch dann, wenn sich die entsprechenden Informationen bereits aus dem Jahresabschluss ergeben (siehe dazu insbesondere die _____________ 30) Zum Tagesordnungspunkt „Entlastung“ der Hauptversammlung der Deutschen Bank für das Jahr 2018 s. OLG Frankfurt/M., Urt. v. 29.12.2020 – 5 U 231/19 (Az. BGH II ZR 6/21), ZIP 2021, 901, dazu EWiR 2021, 165 (Heidel) – zur unzureichenden Beantwortung von Fragen zu einem Beratungsvertrag mit Konzernunternehmen eines Großaktionärs. – Vorinstanz: LG Frankfurt/M., Beschl. v. 24.10.2019 – 3-05 O 54/19, ZIP 2019, 2301, ausführlich dazu Weber, NZG 2020, 60. 31) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 26.6.2012 – 5 U 144/09, BB 2012, 2327 mit Anm. Reger/Wolf; BayObLG, Beschl. v. 30.11.1995 – 3Z BR 161/93, AG 1996, 180, dazu EWiR 1996, 673 (Hirte). 32) Weitere Nachweise zu den zahlreichen von der Rspr. entschiedenen Einzelfällen finden sich u. a. bei Decher in: GroßKomm-AktG, § 131 Rz. 154 ff. und Anhang nach Rz. 539 (Kasuistik); Bürgers/ Körber/Lieder-Reger, AktG, § 131 Rz. 13 f.; Heidel-Heidel, AktR, § 131 AktG Rz. 85 ff. (ABC); Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 131 Rz. 30 ff.; Kersting in: KölnKomm-AktG, § 131 Rz. 150 ff. und Rz. 186 ff.; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 44 ff.; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 131 Rz. 46 ff. und Rz. 163 ff. (ABC); Spindler/Stilz-Siems, AktG, § 131 Rz. 30 ff. 33) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.2.2015 – I-26 W 14/14 (IKB), ZIP 2015, 925, dazu EWiR 2015, 601 (Rahlmeyer/v. Eiff). 34) BayObLG, Beschl. v. 30.11.1995 – 3Z BR 161/93, AG 1996, 180, dazu EWiR 1996, 673 (Hirte). 35) BayObLG, Beschl. v. 20.3.1996 – 3Z BR 324/95, ZIP 1996, 1251 – Verkaufspreis i. H. v. ca. 20 Mio. DM bei einem Jahresüberschuss von ca. 2 Mio. DM und einem Grundkapital von ca. 30 Mio. DM. 36) Zur Verschmelzung Bayerische Hypotheken- und Wechselbank AG und Bayerische Vereinsbank AG BayObLG, Beschl. v. 21.3.2001 – 3Z BR 318/00, AG 2001, 424; OLG München, Urt. v. 4.7.2001 – 7 U 5285/00, AG 2002, 294, dazu EWiR 2002, 599 (Leuring). 37) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 8.6.2020 – 26 W 4720 (AktE), AG 2020, 796, dazu EWiR 2021, 171 (Pauschinger) = DB 2020, 1951 mit Anm. Seulen/Heinrichs. 38) Zur Hauptversammlung der Porsche SE s. OLG Stuttgart, Beschl. v. 7.10.2019 – 20 U 2/18, AG 2020, 307 – zur Frage der Erforderlichkeit von Fragen im Zusammenhang mit dem VW-Dieselskandal für die Entlastung der Mitglieder der Verwaltung. 39) Zur Gesamtvergütung von Mitgliedern eines Group Executive Committee der Deutschen Bank AG – nicht aber die Höhe der Vergütung von einzelnen Mitgliedern dieses Gremiums – s. OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 30.1.2006 – 20 W 52/05, ZIP 2006, 614, und OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 30.1.2006 – 20 W 56/05, ZIP 2006, 610; zum Gesamtbetrag der Vergütung des Vorstands aus Aufsichtsrats- und Beiratstätigkeiten in Konzernunternehmen s. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 5.11.1987 – 19 W 6/87, ZIP 1987, 1555, dazu EWiR 1987, 1153 (Meyer-Landrut). 40) BayObLG, Beschl. v. 30.11.1995 – 3Z BR 161/93, AG 1996, 180, dazu EWiR 1996, 673 (Hirte). 41) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13.7.2015 – I-26 W 16/14, ZIP 2015, 1779 – jedenfalls dann kein Auskunftsanspruch des Aktionärs der Muttergesellschaft, sofern keine begründeten Anhaltspunkte für einen schwerwiegenden und eindeutigen Gesetzesverstoß vorliegen.

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Auskunftsrecht des Aktionärs

Angaben im Lagebericht, § 289 HGB, und im Anhang zum Jahresabschluss nach § 285 HGB, z. B. zu den Bezügen gemäß §§ 285 Nr. 9, 289 Abs. 2 Nr. 5 HGB oder zu Beteiligungen nach §§ 285 Nr. 11, 289 Abs. 4 Nr. 3 HGB). c)

Rechtsmissbrauch

Für die Geltendmachung des Auskunftsrechts gelten die allgemeinen Schranken des Rechts- 17 missbrauchs (§§ 226, 242 BGB).42) Ein Rechtsmissbrauch kann bspw. vorliegen, wenn ein Aktionär durch eine Überzahl von Fragen versucht, die ordnungsgemäße Durchführung der Hauptversammlung zu gefährden.43) Kein Rechtsmissbrauch soll dagegen vorliegen, wenn ein Aktionär bereits vor der Auskunftserteilung fest zu einer bestimmten Stimmabgabe entschlossen ist. 5.

Auskunftserteilung

a)

Mündliche Auskunftserteilung in der Hauptversammlung

Die Auskunft muss in der Hauptversammlung mündlich erteilt werden (Ausnahmen: § 131 18 Abs. 1 Satz 3: Vorlage des Jahresabschlusses, und § 131 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7: Zugänglichmachen auf der Internetseite der Gesellschaft).44) Im Einzelfall kann die Auskunftserteilung aber auch durch die Vorlage von Dokumenten erfolgen, wenn dies dem Informationsbedürfnis des Aktionärs besser gerecht wird (z. B. bei umfangreichen Zahlen und Daten).45) Inhaltlich muss die Auskunft wahr, vollständig und richtig sein (§ 131 Abs. 2 Satz 1; siehe auch § 90 Abs. 4 Satz 1).46) Art und Umfang der erforderlichen Auskunftserteilung richten sich stets nach dem jeweiligen Verlangen des einzelnen Aktionärs. Allgemeine Fragen dürfen auch allgemein beantwortet werden. Ein Aktionär, der seine Frage nicht als ausreichend beantwortet ansieht, muss konkret nachfragen und mitteilen, in welchen Punkten er nähere Auskünfte wünscht.47) Vieles hängt dabei allerdings von den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab.48) Zeitlich muss die Auskunftserteilung nicht unmittelbar nach dem entsprechenden Verlangen 19 des Aktionärs erfolgen. Vielmehr ist es üblich und zulässig, mehrere Fragen zusammenzufassen und dann blockweise zu beantworten.49) _____________ 42) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 131 Rz. 66 ff.; Kersting in: KölnKomm-AktG, § 131 Rz. 379 ff.; K. Schmidt/ Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 91 ff. A. A. Heidel-Heidel, AktR, § 131 AktG Rz. 41 ff. – generell gegen die Möglichkeit eines Missbrauchs des Auskunftsrechts. 43) S. aber LG München I, Beschl. v. 28.5.2010 – 5 HK O 14307/07, ZIP 2010, 2148, dazu EWiR 2011, 103 (Kort) – kein Rechtsmissbrauch bei 54 Fragen, die vier Tage vor der Hauptversammlung übermittelt worden sind und sich konkret auf einen Unternehmensvertrag beziehen. 44) S. BGH, Urt. v. 30.3.1967 – II ZR 245/63, NJW 1967, 1462 – zum grundsätzlichen Anspruch eines Aktionärs auf Verlesung von Vertragsurkunden in der Hauptversammlung; OLG München, Urt. v. 11.6.2015 – 23 U 4375/14, ZIP 2015, 1680, dazu EWiR 2015, 731 (Ruppert) – ausnahmsweise Anspruch auf Verlesung eines Vertrages, wenn konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der mündlichen Auskünfte vorliegen. 45) Großzügiger Spindler/Stilz-Siems, AktG, § 131 Rz. 68 – Auskunft muss generell nicht notwendigerweise mündlich gegeben werden. 46) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 59 ff.; Kersting in: KölnKomm-AktG, § 131 Rz. 265 ff. Plakativ, aber zutreffend Heidel-Heidel, AktR, § 131 AktG Rz. 1 55 – kein Recht zur Lüge. – Zur Frage, ob der Anspruch durch eine unwahre Auskunft erfüllt werden kann s. BayObLG, Beschl. v. 20.9.2021 – 101 ZBR 134/20, ZIP 2021, 2328 = DB 2021, 2625 mit Anm. Theusinger/Dolff, DB 2021, 2686, dazu EWiR 2022, 71 (de Raet). Ausführlich dazu Poelzig, AG 2022, 67; Werner, NZG 2022, 115. 47) Grundlegend dazu BGH, Beschl. v. 5.11.2013 – II ZB 28/12 (Deutsche Bank), ZIP 2013, 2554 mit Anm. Kersting, dazu EWiR 2014, 37 (E. Vetter). Ausführlich zum Ganzen u. a. Kocher/Lönner, AG 2014, 81; Kubis, ZGR 2014, 609; Lieder, NZG 2014, 601; Stöber, DStR 2014, 1680; Teichmann, NZG 2014, 401. 48) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 131 Rz. 40, 68 und Rz. 69. 49) Allg. M., s. nur Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 131 Rz. 41. Kritisch dazu Heidel-Heidel, AktR, § 131 AktG Rz. 12.

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Auskunftsrecht des Aktionärs

20 Das Auskunftsrecht erstreckt sich nicht nur auf Fragen, die der Vorstand in der Hauptversammlung spontan aus eigenem Wissen beantworten kann. Der Vorstand ist vielmehr verpflichtet, sich sorgfältig und umfassend auf die Hauptversammlung vorzubereiten (siehe § 93 Abs. 1 Satz 1).50) Der Umfang der erforderlichen Vorbereitung orientiert sich an der konkreten Tagesordnung und den sonstigen Umständen der jeweiligen Hauptversammlung (z. B. Ankündigungen von einzelnen Aktionären, Berichten in der Presse, Erfahrungen aus früheren Hauptversammlungen). Der Vorstand hat durch entsprechende personelle und sachliche Vorkehrungen sicherzustellen, dass ihm in der Hauptversammlung möglichst kurzfristig alle zur Beantwortung von Fragen erforderlichen Informationen zur Verfügung stehen (Back Office).51) Dies gilt aber nicht für ungewöhnliche oder fernliegende Fragen. Falls eine Auskunftserteilung in der Hauptversammlung im Einzelfall nicht (abschließend) möglich ist, erlischt das Auskunftsrecht wegen Unmöglichkeit (§ 275 Abs. 1 BGB).52) In der Praxis ist es allerdings vielfach üblich, dass sich die Gesellschaft und der Aktionär in solchen Fällen auf eine schriftliche Beantwortung der Fragen nach der Hauptversammlung (aber möglichst rechtzeitig vor Ablauf der Zwei-Wochen-Frist nach § 132 Abs. 2 Satz 2) verständigen (zu den Folgen siehe § 131 Abs. 4). b)

Schriftliche Vorlage eines Jahresabschlusses

21 Jeder Aktionär kann verlangen, dass ihm ein vollständiger Jahresabschluss vorgelegt wird, wenn eine kleine oder mittelgroße Gesellschaft (§ 267 Abs. 1 und 2 HGB) einen verkürzten Jahresabschluss aufgestellt hat (§ 131 Abs. 1 Satz 3).53) Die Vorlage des Jahresabschlusses kann auch dann verlangt werden, wenn sie für die Beurteilung der Gegenstände der Tagesordnung nicht erforderlich ist. 6.

Recht zur Auskunftsverweigerung (§ 131 Abs. 3)

a)

Allgemeines

22 In bestimmten Fällen ist der Vorstand der Gesellschaft berechtigt – und im Hinblick auf seine gesetzliche Verpflichtung zur Verschwiegenheit, § 93 Abs. 1 Satz 3 auch verpflichtet – die Auskunft zu verweigern (§ 131 Abs. 3 Satz 1).54) Über die Verweigerung der Auskunft entscheidet der Vorstand grundsätzlich einstimmig (§ 77 Abs. 1 Sätze 1 und 2). Der Vorstand sollte seine Entscheidung, die Auskunft zu verweigern (kurz) begründen (siehe auch § 131 Abs. 5).55) Das Bestehen eines Auskunftsverweigerungsrechts unterliegt in vollem Umfang der gerichtlichen Nachprüfung. Dem Vorstand steht dabei kein Ermessen zu. Die Gründe, die zur Auskunftsverweigerung berechtigen, sind im Gesetz abschließend geregelt (§ 131 Abs. 3 Satz 2). Allgemeine Hinweise auf den Datenschutz, das Bankgeheimnis,56) das Persönlichkeitsrecht des Vorstands oder eine Interessenkollision begründen kein Recht zur Auskunftsverweigerung. _____________ 50) Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 131 Rz. 15; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 131 Rz. 9 ff.; K. Schmidt/ Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 64 f. Sehr weitgehend insoweit Heidel-Heidel, AktR, § 131 AktG Rz. 14. 51) Grundlegend BGH, Urt. v. 7.4.1960 – II ZR 143/58, BGHZ 32, 159 = NJW 1960, 1150. 52) Ebenso im Ergebnis Hölters-Drinhausen, AktG, § 131 Rz. 37; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 131 Rz. 11. A. A. Heidel-Heidel, AktR, § 131 AktG Rz. 20 – Auskunft ist nach der Hauptversammlung schriftlich nachzuholen. 53) Durch Art. 1 Nr. 15 der Aktienrechtsnovelle 2016, BGBl. I 2015, 2565, ist in § 131 Abs. 1 Satz 3 AktG klargestellt worden, dass sich der Verweis richtig u. a. auf § 266 Abs. 1 Satz 3 HGB bezieht. 54) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 70 ff. 55) S. dazu BGH, Beschl. v. 14.1.2014 – II ZB 5/12 (Porsche), ZIP 2014, 671, dazu EWiR 2014, 309 (Bungert/de Raet) – wonach die Gesellschaft die Umstände, die ein Auskunftsverweigerungsrecht begründen zwar nicht darlegen und beweisen, aber zumindest plausibel machen muss. 56) S. LG Frankfurt/M., Beschl. v. 24.1.2005 – 3/5 O 61/03 (Deutsche Bank/Kirch), ZIP 2005, 1275.

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Auskunftsrecht des Aktionärs b)

Einzelne Auskunftsverweigerungsgründe57)

§ 131 Abs. 3 Nr. 1 (Nachteilszufügung): Der Vorstand darf die Auskunft verweigern, soweit 23 die Erteilung der Auskunft nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung geeignet ist, der Gesellschaft oder einem verbundenen Unternehmen (§§ 15 ff.) einen nicht unerheblichen Nachteil zuzufügen.58) Nachteil meint nicht nur einen Schaden (§§ 249 ff. BGB), sondern auch jede gewichtige Beeinträchtigung von Interessen der Gesellschaft.59) Maßgebend ist stets eine Abwägung der mit der Auskunftserteilung verbundenen Vor- und Nachteile. Ein etwaiger Schaden aufgrund der Verletzung von vertraglich begründeten Geheimhaltungspflichten stellt grundsätzlich keinen relevanten Nachteil dar, da die Gesellschaft das Auskunftsrecht der Aktionäre sonst durch entsprechende Vereinbarungen aushöhlen könnte. § 131 Abs. 3 Nr. 2 (Steuern): Die Auskunft darf ferner verweigert werden, soweit sie sich auf 24 steuerliche Wertansätze oder die Höhe einzelner Steuern bezieht. Nach der amtlichen Gesetzesbegründung soll mit dieser Vorschrift dem Irrtum der Aktionäre vorgebeugt werden, dass der steuerliche Gewinn der Gesellschaft auch zur Ausschüttung zur Verfügung steht. Nicht bezweckt wird dagegen der Schutz des Steuergeheimnisses der Gesellschaft. § 131 Abs. 3 Nr. 3 (Stille Reserven): Der Vorstand muss grundsätzlich keine Auskünfte 25 in Bezug auf stille Reserven erteilen. Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn die aktuelle Hauptversammlung gerade über die Feststellung des Jahresabschlusses beschließt (siehe §§ 172 f. und 286 Abs. 1). Mit der Regelung soll verhindert werden, dass Aktionäre, Wettbewerber oder Vertragspartner Informationen über das Bestehen und den Umfang etwaiger stiller Reserven (oder auch stiller Lasten) erhalten. Die Regelung ist verfassungsgemäß. § 131 Abs. 3 Nr. 4 (Bilanzierungs- und Bewertungsmethoden): Über Bilanzierungs- und 26 Bewertungsmethoden muss keine Auskunft erteilt werden, soweit die Angaben im Anhang zum Jahresabschluss ausreichen, um den Aktionären ein sachgerechtes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage zu vermitteln (siehe §§ 264 Abs. 2, 284 Abs. 2 Nr. 1 HGB).60) Ziel der Regelung ist (ähnlich wie bei § 131 Abs. 3 Nr. 3) der Schutz von Informationen vor Wettbewerbern und Vertragspartnern. § 131 Abs. 3 Nr. 5 (Strafbarkeit): Der Vorstand kann die Auskunft auch dann verweigern, 27 wenn er sich dadurch (im In- oder Ausland)61) strafbar machen würde.62) Erfasst sind alle Straftaten, gleich welcher Art und Begehungsform, und über den Wortlaut hinaus auch Ordnungswidrigkeiten. Allerdings begründet eine mögliche Verletzung der Geheimnispflicht (nach § 404) kein Auskunftsverweigerungsrecht, da ansonsten § 131 Abs. 3 Nr. 1 (Vorliegen eines Nachteils für die Gesellschaft) umgangen werden könnte. Zudem bestünde die Gefahr, dass das Auskunftsrecht des Aktionärs aufgrund des weiten Schutzes _____________ 57) Tendenziell für eine einschränkende Auslegung der Auskunftsverweigerungsgründe – Heidel-Heidel, AktR, § 131 AktG Rz. 56 ff. 58) S. dazu u. a. BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 185/07 (Kirch/Deutsche Bank), BGHZ 180, 9 = ZIP 2009, 460 mit Anm. Mutter, dazu EWiR 2009, 461 (Staake); BGH, Urt. v. 29.11.1982 – II ZR 88/81, BGHZ 86, 1 = ZIP 1983, 163, dazu EWiR 1991, 633 (Hirte). 59) Zur Auskunftsverweigerung aus Gründen der Vertraulichkeit s. BGH, Beschl. v. 14.1.2014 – II ZB 5/12 (Porsche), ZIP 2014, 671, dazu EWiR 2014, 309 (Bungert/de Raet) – zur Zusammenarbeit zwischen Vorstand und Aufsichtsrat; BGH, Beschl. v. 5.11.2013 – II ZB 28/12 (Deutsche Bank), ZIP 2013, 2554 mit Anm. Kersting, dazu EWiR 2014, 37 (E. Vetter) – zu vertraulichen Sitzungen des Aufsichsrats und seiner Ausschüsse. 60) S. dazu BGH, Urt. v. 9.2.1987 – II ZR 119/86, BGHZ 101, 1 = ZIP 1987, 1239, dazu EWiR 1987, 1057 (Claussen) – zur Auskunftserteilung durch eine in der Rechtsform der AG geführten Bank. 61) Ähnlich Kersting in: KölnKomm-AktG, § 131 Rz. 355 – bei Vergleichbarkeit der ausländischen und deutschen Strafvorschriften. Anders aber die h. M., die in diesen Fällen regelmäßig Nr. 1 – Nachteil für die Gesellschaft wegen Strafverfolgung der Organe im Ausland – anwenden will, s. Kubis in: MünchKomm-AktG, § 131 Rz. 118. 62) S. dazu LG Hannover, Beschl. v. 19.8.2009 – 23 O 90/09, AG 2009, 914.

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von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen weitgehend leerlaufen könnte.63) Die kapitalmarktrechtlichen Straf- und Bußgeldvorschriften, die Verstöße gegen das Insiderrecht sanktionieren (siehe §§ 14 Abs. 1 Nr. 2, 15 Abs. 1, 38 Abs. 1 Nr. 2 und 39 Abs. 2 Nr. 3 WpHG), begründen im Ergebnis kein Auskunftsverweigerungsrecht.64) Insiderinformationen sind unverzüglich zu veröffentlichen (§ 15 Abs. 1 WpHG), ggf. rechtzeitig vor der Hauptversammlung. Nach Erfüllung der Ad-hoc Publizität sind auch in der Hauptversammlung entsprechende Auskünfte zu erteilen. 28 § 131 Abs. 3 Nr. 6 (Kreditinstitute): Der Vorstand eines Kredit- oder Finanzdienstleistungsinstituts (§§ 1, 2 KWG) muss keine Auskunft erteilen, soweit die Gesellschaft von gesetzlich vorgesehenen Bilanzierungserleichterungen tatsächlich Gebrauch gemacht hat (siehe §§ 340 – 340f HGB). Eine Interessenabwägung im Einzelfall ist nicht erforderlich. 29 § 131 Abs. 3 Nr. 7 (Internetseite): Seit Inkrafttreten des UMAG65) besteht zudem ein Auskunftsverweigerungsrecht für den Fall, dass die Auskunft auf der Internetseite der Gesellschaft über mindestens sieben Tage vor Beginn und in der Hauptversammlung durchgängig zugänglich ist. Zweck der Vorschrift ist es, die Hauptversammlung von typischen Standardfragen (FAQ = Frequently Asked Questions) sowie dem Vortrag von Zahlen und Daten zu entlasten und dadurch Zeit für eine inhaltliche Diskussion zu gewinnen.66) Der Vorstand kann (nicht muss) diese Möglichkeit auch in den Fällen nutzen, in denen Aktionäre ihre Fragen bereits vorab (mindestens sieben Tage vor der Hauptversammlung) bei der Gesellschaft einreichen. Zusätzliche und vertiefende Fragen, die an die auf der Internetseite bereit gestellten Informationen anknüpfen, sind allerdings unverändert zulässig. III.

Erweiterte Auskunftspflicht (§ 131 Abs. 4)

30 Aus Gründen der Gleichbehandlung aller Aktionäre (§ 53a)67) steht jedem Aktionär in der Hauptversammlung ein erweitertes Auskunftsrecht zu, wenn einem anderen Aktionär außerhalb der Hauptversammlung eine Auskunft erteilt worden ist (§ 131 Abs. 4 Satz 1).68) Die Erweiterung des Auskunftsrechts besteht darin, dass es in diesem Fall auf die Erforderlichkeit der Auskunft nicht ankommt und dem Vorstand verschiedene Rechte zur Auskunftsverweigerung von vornherein nicht zustehen (§ 131 Abs. 4 Satz 2). 31 Das erweiterte Auskunftsrecht setzt voraus, dass die Gesellschaft einem Aktionär, und zwar gerade wegen seiner Eigenschaft als Aktionär, außerhalb der Hauptversammlung eine Auskunft erteilt hat. Der Vorstand der Gesellschaft (nicht etwa der Aufsichtsrat69) oder ein Dritter) muss einem Aktionär bewusst und gezielt eine bestimmte Information erteilt _____________ 63) So die ganz h. M., s. nur Kersting in: KölnKomm-AktG, § 131 Rz. 352. 64) Kersting in: KölnKomm-AktG, § 131 Rz. 45 ff. und Rz. 353. Im Ergebnis ebenso Hölters-Drinhausen, AktG, § 131 Rz. 34; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 84; Spindler/Stilz-Siems, AktG, § 131 Rz. 50 – jeweils unter Hinweis darauf, dass die Auskunftserteilung in der Hauptversammlung nicht unbefugt sei. A. A. dagegen Henssler/Strohn-Liebscher, GesR, § 131 AktG Rz. 17; wohl auch Kubis in: MünchKomm-AktG, § 131 Rz. 117. 65) Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG), BGBl. I 2005, 2802. S. dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 17 f. 66) Skeptisch zur Effizienz der Regelung u. a. K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 88; Spindler/ Stilz-Siems, AktG, § 131 Rz. 54. 67) Ausführlich dazu Herz, NZG 2020, 285; Zetsche, AG 2019, 701. 68) Dazu Kersting in: KölnKomm-AktG, § 131 Rz. 426 ff.; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 95 ff.; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 131 Rz. 125 ff. 69) LG Frankfurt/M., Beschl. v. 16.2.2016 – 3-05 O 132/15, ZIP 2016, 1535, dazu EWiR 2016, 557 (Priester) – kein Nachinformationsanspruch der übrigen Aktionäre nach Teilnahme eines Aktionärs an Aufsichtsratssitzung. Allgemein zu der umstrittenen Frage, ob die erweiterte Auskunftspflicht auch bei Auskunftserteilung durch den Aufsichtsrat i. R. von Investorengesprächen besteht s. einerseits (bejahend) Koch, ZGR 2020, 183; Koch, AG 2017, 129, 138 f., und andererseits (verneinend) Hirt/Hopt/Mattheus, AG 2016, 725, 739.

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haben. Die Auskunftserteilung muss gerade deswegen erfolgt sein, weil der Empfänger Aktionär der Gesellschaft ist. Ist jemand nicht nur Aktionär, sondern steht auch in anderen Beziehungen zur Gesellschaft (z. B. als Rechts- oder Steuerberater, als Kreditinstitut, oder als Mitglied des Aufsichtsrats) kommt es darauf an, was der entscheidende Anlass für die Auskunftserteilung war.70) Bei Unternehmensverkäufen erfolgt die Informationserteilung in aller Regel nicht an den (gegenwärtigen oder künftigen) Aktionär, sondern i. R. eines gesonderten Transaktionsprozesses an den Verkäufer oder Käufer.71) In Konzernkonstellationen erfolgt die Informationsweitergabe an die Muttergesellschaft regelmäßig nicht aufgrund von deren Aktionärseigenschaft, sondern vielmehr aufgrund von deren Konzernleitungsfunktion (siehe auch § 131 Abs. 4 Satz 3). Der erweiterte Auskunftsanspruch besteht nur dann, wenn ein Aktionär diesen in (einer der 32 nächsten) Hauptversammlungen (ausdrücklich) geltend macht (siehe § 131 Abs. 4 Satz 1: „auf dessen Verlangen“). Der Vorstand ist somit nicht von sich aus verpflichtet, allen Aktionären die gleichen Auskünfte zukommen zu lassen. Verlangt ein Aktionär eine entsprechende Auskunft, muss diese in gleicher Weise wie sie auch außerhalb der Hauptversammlung erteilt worden ist, in der Hauptversammlung wiederholt werden. Die praktische Bedeutung solcher Aktionärsverlangen ist allerdings gering, weil bis zur nächsten Hauptversammlung viele Informationen ohnehin bekannt geworden sind bzw. vielfach auch ihre Relevanz verloren haben. IV.

Rechtsfolgen bei Auskunftsverweigerung

1.

Aufnahme in die Niederschrift

Wird einem Aktionär eine Auskunft verweigert, kann er verlangen, dass seine Frage und 33 der Grund der Auskunftsverweigerung72) in die Niederschrift über die Verhandlung aufgenommen werden (§ 131 Abs. 5 i. V. m. § 130 Abs. 1; siehe auch § 258 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 zur Protokollierung von Fragen im Zusammenhang mit einem unvollständigen Anhang zum Jahresabschluss).73) Die Regelung dient der Beweissicherung.74) Es soll vermieden werden, dass es nach der Hauptversammlung zu Streitigkeiten darüber kommt, ob und aus welchem Grund der Vorstand die Beantwortung einer Frage verweigert hat.75) Der Anspruch auf Protokollierung setzt voraus, dass der Aktionär in der Hauptversamm- 34 lung eine Auskunft verlangt hat (§ 131 Abs. 1 Satz 1), ihm diese aber verweigert wurde. In die Niederschrift ist dann die Frage des Aktionärs (nicht unbedingt auch die Antwort des Vorstands) und der Grund der Auskunftsverweigerung (sofern der Vorstand einen solchen mitgeteilt hat) aufzunehmen (§ 131 Abs. 5). Dabei ist der Notar im Allgemeinen weder in der Lage noch dazu verpflichtet, die Fragen wörtlich mitzuschreiben. Er muss sich diese von dem Aktionär auch nicht diktieren lassen. Vielmehr entscheidet der Notar nach pflichtgemäßem Ermessen über das im Einzelfall sachgerechte Verfahren. Im Interesse der Voll_____________ 70) Zum Vorrang von § 327b Abs. 1 Satz 2 (Squeeze-out) gegenüber § 131 Abs. 4 s. bspw. LG München I, Urt. v. 28.8.2008 – 5 HKO 12861/07, ZIP 2008, 2124, dazu EWiR 2009, 33 (Linnerz), LG München I, Beschl. v. 24.4.2008 – 5 HK O 23244/07, ZIP 2008, 1635. 71) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 131 Rz. 37. 72) Zur Nichtaufnahme der Gründe der Auskunftsverweigerung in der Niederschrift auf Verlangen des Vorstands s. BGH, Beschl. v. 14.1.2014 – II ZB 5/12 (Porsche), ZIP 2014, 671, dazu EWiR 2014, 309 (Bungert/de Raet). 73) Zur Pflicht des Notars, auf Verlangen eines Aktionärs die gestellte Frage und den Umstand der Auskunftsverweigerung in die Niederschrift aufzunehmen s. OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 8.11.2012 – 21 W 33/11, ZIP 2012, 2502, dazu EWiR 2013, 67 (Widder/Klabun), dazu Reger, NZG 2013, 48. 74) Kersting in: KölnKomm-AktG, § 131 Rz. 514; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 107. 75) S. dazu LG Hannover, Beschl. v. 19.8.2009 – 23 O 90/09, AG 2009, 914.

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ständigkeit und Richtigkeit der Niederschrift kann der Notar insbesondere auch verlangen, dass ihm der Aktionär die unbeantworteten Fragen in Schriftform übergibt.76) 35 Der Aktionär kann das Verlangen auf Aufnahme in die Niederschrift jederzeit bis zum Ende der Hauptversammlung stellen. 36 In einer virtuellen Hauptversammlung (nach § 1 Abs. 2 COVGesMG; siehe dazu die Nachweise bei Rz. 45 ff.) haben die Aktionäre nur ein eingeschränktes Fragerecht und kein umfassendes Auskunftsrecht. Bei unbeantworteten Fragen haben die Aktionäre insoweit auch einen Anspruch auf entsprechende Aufnahme in die Niederschrift. 2.

Auskunftserzwingungsverfahren

37 Ein Aktionär, der der Auffassung ist, dass ihm eine Auskunft zu Unrecht verweigert worden ist, kann beim zuständigen LG einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung über das Auskunftsrecht stellen (§ 132). Mit dem Auskunftserzwingungsverfahren soll der Aktionär seine Auskunft schnell und effektiv durchsetzen können. Eine auf Auskunft gerichtete Leistungsklage ist daneben ausgeschlossen. 3.

Anfechtungsklage

38 Ein Beschluss der Hauptversammlung kann wegen einer Auskunftsverweigerung angefochten werden (§ 243 Abs. 1 und Abs. 4).77) Bei der in der Praxis üblichen Gesamtaussprache sind regelmäßig alle Beschlüsse anfechtbar, und nicht nur der Beschluss, zu dem die Auskunft konkret verweigert worden ist. 4.

Schadensersatzansprüche

39 Bei einer schuldhaften Verletzung der Auskunftspflicht können Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegen den Vorstand in Betracht kommen (§ 93). 40 Unrichtige oder falsche Auskünfte in der Hauptversammlung können darüber hinaus strafbar sein (§ 400 Abs. 1 Nr. 1) und Schadensersatzansprüche von Aktionären begründen (§ 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG). Handelt der Vorstand nur fahrlässig (und nicht auch vorsätzlich) scheiden Schadensersatzansprüche der Aktionäre aus, da das Auskunftsrecht nur die Informationsinteressen der Aktionäre (und nicht auch deren Vermögensinteressen) schützt.78) 41 Schließlich können falsche oder unvollständige Auskünfte auch Anlass für eine Sonderprüfung sein (siehe §§ 142, 258, 315). V.

Satzungsregelung des Rede- und Fragerechts (§ 131 Abs. 2 Satz 2)

42 Die Satzung (oder seltener die Geschäftsordnung) kann den Versammlungsleiter ermächtigen, das Frage- und Rederecht des Aktionärs zeitlich angemessen zu beschränken, und Näheres dazu zu bestimmen (§ 131 Abs. 2 Satz 2).79) Die Regelung ist durch das UMAG in das Aktienrecht eingeführt worden, um die missbräuchliche Ausübung des Frage- und _____________ 76) Hölters-Drinhausen, AktG, § 131 Rz. 43. Wohl auch Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 131 Rz. 43; K. Schmidt/ Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 107. A. A. Heidel-Heidel, AktR, § 131 AktG Rz. 82; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 131 Rz. 148. 77) S. dazu BGH, Urt. v. 10.7.2012 – II ZR 48/11 (Fresenius), ZIP 2012, 1807; BGH, Urt. v. 18.10.2004 – II ZR 250/02, BGHZ 160, 385 = ZIP 2004, 2428, dazu EWiR 2005, 241 (Wagner). Allgemein Kersting in: KölnKomm-AktG, § 131 Rz. 541 ff.; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 116. 78) A. A. – § 131 AktG als Schutzgesetz von § 823 Abs. 2 BGB – insbesondere Heidel-Heidel, AktR, § 131 AktG Rz. 5b. 79) Kersting in: KölnKomm-AktG, § 131 Rz. 270 ff.; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 131 Rz. 66 ff.

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Auskunftsrecht des Aktionärs

Rederechts durch einzelne Aktionäre zu beschränken und die Hauptversammlung insgesamt wieder attraktiver zu machen.80) Von dieser Ermächtigung haben zwischenzeitlich alle größeren Publikumsgesellschaften (allerdings in stark unterschiedlichem Umfang)81) Gebrauch gemacht. Die Vorschrift ermächtigt nicht nur zu einer pauschalen Beschränkung des Frage- und Re- 43 derechts, sondern auch zu konkreten zeitlichen Vorgaben.82) Der BGH hat bspw. eine Satzungsregelung als zulässig angesehen, in der der Versammlungsleiter ermächtigt worden ist, die Rede- und Fragezeit eines Aktionärs je Wortmeldung grundsätzlich auf 15 Minuten zu beschränken. Zulässig sind darüber hinaus auch gewisse Vorgaben zur Gesamtdauer einer Hauptversammlung (siehe auch Ziff. 2.2.4 des DCGK, der für eine ordentliche Hauptversammlung im Normalfall von einer Gesamtdauer von vier bis sechs Stunden ausgeht83) und zum Schluss der Debatte um 22:30 Uhr. Allgemein anerkanntes Leitbild ist die eintägige Hauptversammlung. Ein Versammlungsleiter, der nach der Satzung zu entsprechenden Beschränkungen des 44 Frage- und Rederechts ermächtigt ist, muss davon im jeweiligen Einzelfall stets nach pflichtgemäßem Ermessen Gebrauch machen.84) Dabei muss er sich insbesondere an den Geboten der Sachdienlichkeit, der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung orientieren.85) VI.

Exkurs: Sonderregelungen aufgrund der COVID-19-Pandemie

Literatur: Andres/Kujovic, Anfechtungs- und Haftungsrisiken bei Hauptversammlungen nach dem COVID-19-Gesetz, GWR 2020, 213; Binder, BB-Rechtsprechungsreport zur Hauptversammlung 2019/2020, BB 2021, 259; Bücker/Kulenkamp/Schwarz/Seibt/v. Bonin, Praxisleitfaden zur virtuellen Hauptversammlung (COVID-19-Pandemie-AusBekG), DB 2020, 775; Bungert/Riekers, Die virtuelle Hauptversammlung in Permanenz – RefE zur Änderung des AktG vorgelegt, DB 2022, 581; Danwerth, Best Practice wird Gesetz: kurzfristige Änderungen bei der virtuellen Hauptversammlung, DB 2021, 159; Danwerth, Die erste Saison der virtuellen Hauptversammlung börsennotierter Unternehmen, AG 2020, 776; Danwerth, Das Teilnehmerverzeichnis der virtuellen Hauptversammlung, NZG 2020, 586; Danwerth, Modalitäten und Gestaltungsvarianten der virtuellen Hauptversammlung. Eine empirische Untersuchung aller im April 2020 veröffentlichten Einberufungen präsenzloser Versammlungen von börsennotierten Unternehmen, AG 2020, 418; Danwerth/Seibt, Referentenentwurf des Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen: Eine kritische Analyse, AG 2022, 177; Downar/ Bartkowiak, Empirische Evidenz zur Praxis der virtuellen Hauptversammlung in Deutschland, DB 2021, 349; Drinhausen/Keinath, Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung virtuel_____________ 80) Art. 1 Nr. 9 des Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) v. 21.9.2005, BGBl. I 2005, 2802. S. dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 17 f. 81) Im Schrifttum ist umstritten, ob und inwieweit detaillierte Satzungsregelungen zweckmäßig sind. Dafür u. a. Herrler, DNotZ 2010, 331; Jerczynski, NJW 2010, 1566; Krause, BB 2010, 849, 852; Nagel/ Ziegenhahn, WM 2010, 1005. – Dagegen u. a. Angerer, ZGR 2011, 27; Kersting, NZG 2010, 446; Wilsing/ v. d. Linden, DB 2010, 1277. 82) Grundlegend BGH, Urt. v. 8.2.2010 – II ZR 94/08 (Redezeitbeschränkung), BGHZ 184, 239 = ZIP 2010, 575, dazu EWiR 2010, 235 (Priester). Ausführlich dazu u. a. Herrler, DNotZ 2010, 331; Jerczynski, NJW 2010, 1566; Kersting, NZG 2010, 446; Krause, BB 2010, 852; Nagel/Ziegenhahn, WM 2010, 1005; Wilsing/v. d. Linden, DB 2010, 1277. S. ferner BGH, Beschl. v. 8.12.2013 – II ZR 329/12, ZIP 2013, 2257 = MittBayNot 2014, 546 mit Anm. Beck, dazu EWiR 2014, 5 (Goslar); OLG Frankfurt/M., Urt. v. 16.12.2014 – 5 U 24/14, ZIP 2015, 1020 (Az. d. BGH: II ZR 21/15). 83) Statistische Informationen zur tatsächlichen Dauer von Hauptversammlungen finden sich bei v. Werder/ Böhme, DB 2011, 1285, 1287 ff. 84) S. dazu OLG Frankfurt/M., Urt. v. 26.6.2012 – 5 U 144/09, BB 2012, 2327 mit Anm. Reger/Wolf. 85) Zur Schließung der Generaldebatte trotz Rüge der Nichtbeantwortung von Fragen durch Aktionäre siehe OLG Stuttgart, Beschl. v. 7.10.2019, 20 U 2/18, NZG 2020, 309.

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§ 131

Auskunftsrecht des Aktionärs

ler Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften, BB 2022, 451; Dubovitskaya, Das Krisengesetz als Ideengrube für die künftige virtuelle Hauptversammlung, NZG 2020, 647; Dürr/ Kuthe/Sickinger, Der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften, ZIP 2022, 363; Götze, Die Änderungen im Recht der virtuellen Hauptversammlung nach dem Gesetz zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens, NZG 2021, 213; Götze/Roßkopf, Die Hauptversammlung nach dem Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht, DB 2020, 768; Guntermann, Das Recht der Aktionäre zur Teilnahme an der Hauptversammlung. Eine Betrachtung aus Anlass der COVID-19-Pandemie, ZGR 2021, 436; Hauschild/Zetzsche, Notar und Virtuelle Hauptversammlung, AG 2020, 557; Heckschen/Hilser, Die virtuelle Gesellschafterversammlung – Bestandsaufnahme und aktuelle Entwicklungslinien, ZIP 2022, 461; Herb/Merkelbach, Die virtuelle Hauptversammlung 2020 – Vorbereitung, Durchführung und rechtliche Gestaltungsoptionen, DStR 2020, 811; Herrler, Die virtuelle Hauptversammlung nach dem COVID-19-Gesetz, DNotZ 2020, 468; Herrler, Praxisfragen rund um die virtuelle Hauptversammlung i. S. v. Art. 2 § 1 II COVID-19-Gesetz, GWR 2020, 191; Höreth, Virtuelle Hauptversammlung 2021 – Praxisfragen zu Gegenanträgen, GWR 2020, 411; Jaspers/Pehrsson, Die virtuelle Hauptversammlung im Praxistest, NZG 2021, 1244; Johannsen-Roth/Kießling/ Raapke, Rechtsentwicklungen im Aktienrecht 2020, DB Beilage Nr. 5 Heft 51 – 52/2020, S. 15; Klöhn, Passive Investoren, Aktivisten und die Reform des deutschen Hauptversammlungsrechts, ZHR 185 (2021) 182; Lieder, Virtuelle Hauptversammlungen im Jahre 2021 und danach, ZIP 2021, 161; Lieder, Unternehmensrechtliche Implikationen der Corona-Gesetzgebung, ZIP 2020, 837; Lieder, Virtuelle Versammlungen, in: Festschrift für Eberhard Vetter, 2019, S. 419; Mayer/Jenne, Hauptversammlungen in Zeiten von Epidemien und sonstigen Gefahrenlagen – zugleich Besprechung des COVID-19-Pandemie-Gesetzes, BB 2020, 835; Mayer/Jenne/Miller, Die virtuelle Hauptversammlung 2021 – 20 Praxisfragen zur Durchführung der Hauptversammlung nach den Änderungen des COVMG, BB 2021, 899; Mayer/Jenne/Miller, Die virtuelle Hauptversammlung – 40 Praxisfragen zu Grundlagen, Planung, Einberufung und Durchführung der Hauptversammlung nach dem COVID-19-GesR-G, BB 2020, 1282; Mutter, Gekommen um zu bleiben – der Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften, AG 2022, R 57; Mutter/Kruchen, Paukenschlag des Gesetzgebers: Virtuelle HV 4.0 ab dem 28.2.2021, AG 2021, 109; Noack, Virtuelle Hauptversammlung auch im Jahr 2022 – und was danach?, NZG 2021, 1233; Noack, Noch Fragen? Ja, auch in der virtuellen Hauptversammlung!, NZG 2021, 110; Noack/Zetzsche, (Virtuelle) Hauptversammlungen mit und nach Corona, AG 2020, 721; Noack/Zetzsche, Die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft in Zeiten der Corona-Krise, DB 2020, 658; Noack/ Zetzsche, Die virtuelle Hauptversammlung nach dem COVID-19-Pandemie-Gesetz 2020, AG 2020, 265; Quass, Gestaltungen für die Teilhabe der Aktionäre an der virtuellen Hauptversammlung, NZG 2021, 261; Rapp, Implikationen der COVID-19-Pandemie für Dividende, Besteuerung und Abschlussprüferbestellung: Ist die digitale Hauptversammlung unausweichlich?, DStR 2020, 806; Redenius-Hövermann, Der RefE zur virtuellen HV – eine verpasste Chance …, NZG 2022, 337; Redenius-Hövermann/Bannier, (Online) Hauptversammlungssaison 2020: Nachlese und Ausblick, ZIP 2020, 1885; Riekers, Nachlese zur Hauptversammlungssaison 2021 und Ausblick auf 2022, DB 2022, 172; Rieckers, Nachlese zur Hauptversammlungssaison 2020 und Ausblick auf 2021, DB 2021, 98; Schäfer, Die virtuelle Hauptversammlung nach dem CoronaGesetz. Aktionärsrechte und Anfechtungsmöglichkeiten, NZG 2020, 481; Schüppen, Coronavirus: Praxisfragen der C19-Hauptversammlung, Wpg 2021, 121; Seibt/Danwerth, Die Zukunft der virtuellen Hauptversammlung während und nach der COVID-19-Pandemie, NZG 2020, 1241; Simons/Hauser, „Corona-Hauptversammlung“, die Zweite. Zweifelsfragen bei der Durchführung virtueller Hauptversammlungen nach der Verlängerungs-VO, NZG 2020, 1406; Simons/ Hauser, Die virtuelle Hauptversammlung. Aktuelle Praxisfragen unter dem Regime der „Corona“Gesetzgebung, NZG 2020, 488; Stelmaszczyk, Die virtuelle Hauptversammlung nach dem COVID-19-Gesetz vor dem Start in die Hauptversammlungssaison 2022, DNotZ 2021, 930; Stelmaszczyk/Forschner, Hauptversammlungen und Gesellschafterbeschlüsse in Zeiten der COVID-

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Auskunftsrecht des Aktionärs

19-Pandemie, Der Konzern 2020, 221; Teichmann/Wicke, Die neue virtuelle Hauptversammlung: das Ende der Debatte?, DB 2022, 720; Teichmann/Krapp, Die virtuelle Hauptversammlung 2020: Umsetzungspraxis in DAX und MDAX, DB 2020, 2169; Teichmann/Wicke, Zukunftsmodell „Hybride Hauptversammlung“, ZGR 2021, 173; Tröger, Virtuelle Hauptversammlung 2020 und Aktionärsinteressen, BB 2020, 1091; Unmuth, Anwesenheitspflicht der Organmitglieder in der Hauptversammlung, NZG 2020, 448; Vetter, E., Dividende trotz Krisenzeiten?, AG 2020, 401; Vetter, E./Thielmann, Unternehmensrechtliche Gesetzesänderungen in Zeiten von Corona, NJW 2020, 1175; VGR (Vereinigung für Gesellschaftsrecht), Vorschläge zur Reform der Hauptversammlung börsennotierter Gesellschaften vom 26.4.2021, AG 2021, 380; Vossius, Hauptversammlung im Zeichen des Virus, notar 2020, 328; Wälzholz/Bayer, Auswirkungen des „CoronaGesetzes“ auf die notarielle Praxis, DNotZ 2020, 285; Wicke, Die virtuelle Hauptversammlung während der Corona-Pandemie – aktienrechtlicher Ausnahmezustand, DStR 2020, 885.

1.

Rechtslage im Jahr 2020

Der weltweite Ausbruch der Corona-Pandemie zum Jahresende 2019 bzw. Jahresanfang 2020 45 hat den deutschen Gesetzgeber in allen Lebensbereichen zu einer Vielzahl von Ausnahmeregelungen veranlasst. Im Bereich des Gesellschafts- und Aktienrechts war dies zunächst das COVAbmildG86) vom 27.3.2020. Nach Art. 2 § 1 Abs. 2 COVAbmildG war es demnach erstmals möglich, eine virtuelle Hauptversammlung abzuhalten.87) Die Vorschrift lautet auszugsweise wie folgt: „(2) 1Der Vorstand kann entscheiden, dass die Versammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigten als virtuelle Hauptversammlung abgehalten wird, sofern 1.

die Bild- und Tonübertragung der gesamten Versammlung erfolgt,

2.

die Stimmrechtsausübung der Aktionäre über elektronische Kommunikation (Briefwahl oder elektronische Teilnehme) sowie Vollmachtserteilung möglich ist,

3.

den Aktionären eine Fragemöglichkeit im Wege der elektronischen Kommunikation eingeräumt wird,

4.

den Aktionären, die ihr Stimmrecht nach Nummer 2 ausgeübt haben, in Abweichung von § 245 Nummer 1 des Aktiengesetzes unter Verzicht auf das Erfordernis des Erscheinens in der Hauptversammlung eine Möglichkeit zum Widerspruch gegen einen Beschluss der Hauptversammlung eingeräumt wird.

2 Der Vorstand entscheidet nach pflichtgemäßen, freien Ermessen, welche Fragen er wie beantwortet; er kann auch vorgeben, dass Fragen bis spätestens zwei Tage vor der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation einzureichen sind.“

Die Möglichkeit einer Anfechtung von Beschlüssen wurde weitgehend ausgeschlossen. Die 46 Vorschrift des Art. 2 § 1 Abs. 7 COVAbmildG sah Folgendes vor: „Die Anfechtung eines Beschlusses der Hauptversammlung kann unbeschadet der Regelung des § 243 Abs. 3 Nr. 1 des Aktiengesetzes (…) nicht auf eine Verletzung von Abs. 2 gestützt werden, es sei denn, der Gesellschaft ist Vorsatz nachzuweisen.“ _____________ 86) Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht (COVAbmildG) v. 27.3.2020, BGBl. I 2020, 569. 87) Ausführlich dazu u. a. Andres/Kujovic, GWR 2020, 213; Bücker/Kulenkamp/Schwarz/Seibt/v. Bonin, DB 2020, 775; Danwerth, AG 2020, 776; Danwerth, AG 2020, 418; Danwerth, NZG 2020, 586; Dubovitskaya, NZG 2020, 647; Götze/Roßkopf, DB 2020, 768; Hauschild/Zetzsche, AG 2020, 557; Herb/Merkelbach, DStR 2020, 811; Herrler, GWR 2020, 191; Herrler, DNotZ 2020, 468; Höreth, GWR 2020, 411; Jaspers/ Pehrsson, NZG 2021, 1244; Lieder, ZIP 2020, 837; Noack/Zetzsche, AG 2020, 721; Noack/Zetzsche, DB 2020, 658; Noack/Zetzsche, AG 2020, 265; Mayer/Jenne, BB 2020, 835; Mayer/Jenne/Miller, BB 2021, 899; Mayer/Jenne/Miller, BB 2020, 1282; Rapp, DStR 2020, 806; Redenius-Hövermann/Bannier, ZIP 2020, 1885; Riekers, DB 2022, 172; Rieckers, DB 2021, 98; Schäfer, NZG 2020, 481; Schüppen, Wpg 2021, 121; Seibt/Danwerth, NZG 2020, 1241; Simons/Hauser, NZG 2020, 1406; Simons/Hauser, NZG 2020, 488; Stelmaszczyk, DNotZ 2021, 930; Stelmaszczyk/Forschner, Der Konzern 2020, 221; Teichmann/ Krapp, DB 2020, 2169; Tröger, BB 2020, 1091.

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Auskunftsrecht des Aktionärs

47 Die gesetzliche Neuregelung ist am 28.3.2020 in Kraft getreten (Art. 6 Abs. 2 COVAbmildG) und galt zunächst nur für Hauptversammlungen, die im Jahr 2020 stattfanden (Art. 2 § 7 Abs. 1 COVAbmildG). Das BMJV wurde allerdings ermächtigt, die Geltung der Vorschriften bis zum 31.12.2021 zu verlängern, wenn dies aufgrund der Corona-Pandemie geboten erscheint (Art. 2 § 8 COVAbmildG). Von dieser Möglichkeit wurde mit der Verordnung zur Verlängerung der Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (GesRGenRCOVMVV)88) vom 20.10.2020 Gebrauch gemacht, d. h. die Maßnahmen wurden bis zum 31.12.2021 verlängert. 2.

Rechtslage im Jahr 2021 und 2022

48 Viele AGs haben in den Jahren 2020 und 2021 die neuen Möglichkeiten einer virtuellen Hauptversammlung genutzt. Die gesetzlichen Regelungen haben sich dabei (technisch und rechtlich)89) ganz überwiegend bewährt. Es hat sich allerdings gezeigt, dass die zeitliche Beschränkung auf das Jahr 2020 zu kurz war und die Eingriffe in das Fragerecht der Aktionäre zu weitgehend waren. 49 Mit dem Gesetz zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Anpassung pandemiebedingter Vorschriften im Gesellschaft-, Genossenschaft-, Vereinsund Stiftungsrecht sowie im Miet- und Pachtrecht90) vom 22.12.2020 wurde die maßgebliche Vorschrift (Art. 2 § 1 Abs. 2 COVAbmildG) daher wie folgt geändert (durch Art. 11 Nr. 1 des Gesetzes zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens):91) „(2) 1Der Vorstand kann entscheiden, dass die Versammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigten als virtuelle Hauptversammlung abgehalten wird, sofern 1.

die Bild- und Tonübertragung der gesamten Versammlung erfolgt,

2.

die Stimmrechtsausübung der Aktionäre über elektronische Kommunikation (Briefwahl oder elektronische Teilnehme) sowie Vollmachtserteilung möglich ist,

3.

den Aktionären ein Fragerecht im Wege der elektronischen Kommunikation eingeräumt wird,

4.

den Aktionären, die ihr Stimmrecht nach Nummer 2 ausgeübt haben, in Abweichung von § 245 Nr. 1 des Aktiengesetzes unter Verzicht auf das Erfordernis des Erscheinens in der Hauptversammlung eine Möglichkeit zum Widerspruch gegen einen Beschluss der Hauptversammlung eingeräumt wird.

_____________ 88) Verordnung zur Verlängerung der Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (GesRGenRCOVMVV) v. 20.10.2020, BGBl. I 2020, 2258. 89) S. dazu aus der Rspr. u. a. OLG München, Beschl. v. 28.7.2021 – 7 AktG 4/21, MDR 2021, 1205, dazu EWiR 2021, 713 (Schulteis) – Verfassungsmäßigkeit virtueller Hauptversammlung trotz fehlender Satzungsermächtigung; KG Berlin, Beschl. v. 25.2.2021 – 12 AktG 1/21, NJW-Spezial 2021, 336 – Einschränkung des Frage- und Auskunftsrechts der Aktionäre aufgrund der Corona-Pandemie ist verfassungsgemäß und europarechtskonform; LG Köln, Urt. v. 4.3.2021 – 91 O 12/20, AG 2021, 447 = NJW-Spezial 2021, 401 – Einberufung der Online-Hauptversammlung einer börsenfernen AG in der Corona-Krise und Relevanz des Nachweisstichtags; LG Köln, Beschl. v. 26.2.2021 – 82 O 53/20, ZIP 2021, 1219, dazu EWiR 2022, 555 (v. d. Linden) – Zulässigkeit virtueller Hauptversammlungen nach dem COVGesMG; LG Frankfurt/M., Urt. v. 23.2.2021 – 3-05 O 64/20 (Az. d. OLG Frankfurt/M. 5 U 49/21), ZIP 2021, 1009 = AG 2021, 441 mit Anm. Kuthe/Zimmer, AG 2021, R 164, dazu EWiR 2021, 265 (Seibt) – keine Beschlussanfechtung wegen virtuell durchgeführter Hauptversammlung; LG München I, Beschl. v. 26.5.2020 – 5 HK O 6378/20, ZIP 2020, 1241 = BB 2020, 1618 mit Anm. Kessler, dazu EWiR 2020, 429 (Linnerz) – zur Untersagung der Abhaltung der im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie virtuellen Hauptversammlung einer AG per einstweiliger Verfügung, ausführlich dazu Binder, BB 2021, 259. 90) Gesetz zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Anpassung pandemiebedingter Vorschriften im Gesellschaft-, Genossenschaft-, Vereins- und Stiftungsrecht sowie im Mietund Pachtrecht v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3328. 91) Ausführlich dazu u. a. Dannwerth, DB 2021, 159; Downar/Bartkowiak, DB 2021, 349; Götze, NZG 2021, 213; Lieder, ZIP 2021, 161; Mutter/Kruchen, AG 2021, 109; Noack, NZG 2021, 110; Quass, NZG 2021, 261.

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Thomas Wachter

§ 131

Auskunftsrecht des Aktionärs

2 Der Vorstand entscheidet nach pflichtgemäßen, freien Ermessen, wie er Fragen beantwortet; er kann auch vorgeben, dass Fragen bis spätestens einen Tage vor der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation einzureichen sind. (…).“

Im Ergebnis wurde somit die Fragemöglichkeit durch ein Fragerecht ersetzt, die Frist zur 50 Einreichung von Fragen um einen Tag verlängert und die Fiktionslösung für Anträge und Wahlvorschläge von Aktionären gesetzlich normiert. Diese Regelung ist am 28.2.2021 in Kraft getreten (Art. 14 Abs. 3 des Gesetzes zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens) und galt für Hauptversammlungen, die im Jahr 2021 stattfanden (Art. 2 § 7 Abs. 1 COVAbmildG). Die Möglichkeit einer virtuellen Hauptversammlung wäre somit an sich am 31.12.2021 ausgelaufen. Mit Beschluss des Deutschen Bundestages vom 7.9.2021 wurde die Regelung (kurz vor Ende der 19. Legislaturperiode) i. R. des Aufbauhilfegesetzes 202192) nochmals bis einschließlich 31.8.2022 verlängert (Art. 15 Nr. 1 AufbhG 2021).93) Die pandemiebedingte Möglichkeit einer virtuellen Hauptversammlung bei AGs endet am 51 31.8.2022. Aufgrund der grundsätzlich positiven Erfahrungen in den letzten beiden Jahren mit den virtuellen Hauptversammlungen („Best Practice“) will der deutsche Gesetzgeber die Möglichkeit der virtuellen Hauptversammlung künftig dauerhaft im AktG94) verankern. Im Februar 2022 hat das BMJV einen Entwurf für ein Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften vorgelegt.95) Der Gesetzgeber will im AktG künftig zwei gleichwertige Versammlungsmodelle zur 52 Verfügung stellen: Neben die bisherige „klassische“ Präsenzversammlung (mit physischer Präsenz der Aktionäre, siehe § 118 AktG) soll in Zukunft die „virtuelle“ Hauptversammlung (ohne physische Präsenz der Aktionäre) treten (siehe § 118a AktG-E). Eine Kombination beider Versammlungsformen (z. B. als hybride Hauptversammlung) ist dagegen nicht vorgesehen. Beide Formate sollen vollwertige Versammlungsformen sein, in denen ausnahmslos alle Beschlüsse gefasst werden können (z. B. auch Kapitalmaßnahmen oder Umwandlungen). Die „virtuelle“ Hauptversammlung ist insbesondere keine „Versammlung zweiter Klasse“96). Der Entwurf enthält nur Regelungen für die neue Form der virtuellen Hauptversammlung. 53 Die bestehenden Regelungen zur Präsenzhauptversammlung bleiben davon unberührt und werden nicht modernisiert. Beide Versammlungsformen stehen uneingeschränkt für alle AGs zur Verfügung. Es erfolgt keine Unterscheidung zwischen börsennotierten und nicht börsennotierten AkGs. Die Möglichkeit der virtuellen Hauptversammlung muss künftig in der Satzung der 54 Gesellschaft vorgesehen werden (entweder als unmittelbare Festlegung in der Satzung selbst oder in Form einer Ermächtigung des Vorstands). Dies dient der Transparenz des _____________ 92) Gesetz zur Errichtung eines Sondervermögens „Aufbauhilfe 2021“ und zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht wegen Starkregenfällen und Hochwassern im Juli 2021 sowie zur Änderung weiterer Gesetze (Aufbauhilfegesetz 2021 – AufbhG 2021) v. 10.9.2021, BGBl. I 2021, 4147. Ausführlich dazu Pospieck/Schiller, NJW-Spezial 2021, 179; Schulteis, GWR 2021, 395. 93) S. dazu Beschlussempfehlung und Bericht d. Haushaltsausschusses, BT-Drucks. 19/32275 v. 3.9.2021, S. 12 ff. und S. 30 ff. 94) Zur Diskussion im Vorfeld s. u. a. VGR, AG 2021, 380; Franzmann/Brouwer, AG 2020, 921; Guntermann, ZGR 2021, 436; Klöhn, ZHR 185 (2021) 182; Lieder, ZIP 2021, 161; Redenius-Hövermann/Bannier, ZIP 2020, 1885; Stelmaszczyk/Forschner, Der Konzern 2020, 221; Teich-mann/Wicke, ZGR 2021, 173. 95) Ausführlich dazu u. a. Bungert/Rieckers, DB 2022, 581; Drinhausen/Keinath, BB 2022, 451; Dürr/Kuthe/ Sickinger, ZIP 2022, 363; Heckschen/Hilser, ZIP 2022, 461; Mutter, AG 2022, R 57; Redenius-Hövermann, NZG 2022, 337; Danwerth/Seibt, AG 2022, 177; Teichmann/Wicke, DB 2022, 720. 96) So die Begr. RefE z. § 118a AktG-E, S. 21, abrufbar unter https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/Einfuehrung_virtueller_Hauptversammlungen_Aktiengesellschaften.html (Abrufdatum: 25.3.2022).

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§ 132

Gerichtliche Entscheidung über das Auskunftsrecht

Rechtsverkehrs und der Sicherung der Rechte der Aktionäre. Die Satzungsregelung muss dabei auf höchstens fünf Jahre ab Eintragung im Handelsregister befristet werden. 55 Die virtuelle Hauptversammlung findet ohne physische Anwesenheit der Aktionäre statt. Anwesend sein müssen dagegen die Mitglieder des Vorstands, des Aufsichtsrats und der Versammlungsleiter, ferner der Abschlussprüfer und der Notar. Der Stimmrechtsvertreter der Gesellschaft kann anwesend sein. Der Notar hat seine Wahrnehmungen über den Gang der Hauptversammlung unter persönlicher Anwesenheit am Ort der Hauptversammlung zu machen (§ 130a AktG-E). Dies gilt für in gleicher Weise für alle Hauptversammlungen. Änderungen des Beurkundungsrechts sind nicht vorgesehen. 56 Die Rechte der Aktionäre in der virtuellen Hauptversammlung werden neu (und teilweise abweichend von der klassischen Präsenzversammlung) geregelt. Dies entspricht der allgemeinen Zielsetzung des Entwurfs nach einer Vorverlagerung von Informations- und Entscheidungsprozessen sowie einer gewissen Entzerrung der Versammlung.97) Die genaue Ausgestaltung der Rechte der Aktionäre in der virtuellen Hauptversammlung wird im weiteren Gesetzgebungsverfahren sicherlich noch Anlass für kontroverse Diskussionen sein. Die Anfechtung von Hauptversammlungsbeschlüssen wegen technischer Störungen soll weitgehend ausgeschlossen werden (siehe § 241 AktG-E). 57 Übergangsregelungen: Für Hauptversammlungen, die bis zum 31.8.2023 einberufen werden, kann der Vorstand (mit Zustimmung des Aufsichtsrats entscheiden), dass die Versammlung als virtuelle Hauptversammlung (nach § 118a AktG-E) abgehalten wird. Dies gilt auch dann, wenn es noch an einer entsprechenden Satzungsregelung fehlt. Die Satzungsregelung kann dann in dieser Hauptversammlung beschlossen werden. Es bleibt abzuwarten, ob und wann das Gesetz in Kraft treten wird. _____________ 97) S. Begr. RefE, S. 15 ff., abrufbar unter https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/ Einfuehrung_virtueller_Hauptversammlungen_Aktiengesellschaften.html (Abrufdatum: 25.3.2022).

§ 132 Gerichtliche Entscheidung über das Auskunftsrecht Thomas Wachter

(1) Ob der Vorstand die Auskunft zu geben hat, entscheidet auf Antrag ausschließlich das Landgericht, in dessen Bezirk die Gesellschaft ihren Sitz hat. (2) 1Antragsberechtigt ist jeder Aktionär, dem die verlangte Auskunft nicht gegeben worden ist, und, wenn über den Gegenstand der Tagesordnung, auf den sich die Auskunft bezog, Beschluß gefaßt worden ist, jeder in der Hauptversammlung erschienene Aktionär, der in der Hauptversammlung Widerspruch zur Niederschrift erklärt hat. 2Der Antrag ist binnen zwei Wochen nach der Hauptversammlung zu stellen, in der die Auskunft abgelehnt worden ist. (3) 1§ 99 Abs. 1, 3 Satz 1, 2 und 4 bis 6 sowie Abs. 5 Satz 1 und 3 gilt entsprechend. 2Die Beschwerde findet nur statt, wenn das Landgericht sie in der Entscheidung für zulässig erklärt. 3§ 70 Abs. 2 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit ist entsprechend anzuwenden. (4) 1Wird dem Antrag stattgegeben, so ist die Auskunft auch außerhalb der Hauptversammlung zu geben. 2Aus der Entscheidung findet die Zwangsvollstreckung nach den Vorschriften der Zivilprozeßordnung statt. (5) Das mit dem Verfahren befaßte Gericht bestimmt nach billigem Ermessen, welchem Beteiligten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen sind. 1084

Thomas Wachter

Gerichtliche Entscheidung über das Auskunftsrecht

§ 132

Literatur: Harnos, Die gerichtliche Durchsetzung der Informationsrechte in der Aktiengesellschaft, in: Festschrift für Ulrich Seibert, 2019, S. 309; Poelzig, Das Auskunftserzwingungsverfahren gem. § 132 AktG bei unrichtig erteilten Auskünften, DB 2022, 67; Simons, Die Änderungen des Aktiengesetzes durch das 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz, AG 2014, 182; Werner, Kann der Auskunftsanspruch des Aktionärs nach § 131 I 1 AktG auch durch eine unwahre Auskunft erfüllt werden?, NZG 2022, 115; Werner, Vorläufiger Rechtsschutz zur Durchsetzung von gesellschafterlichen Informationsansprüchen gegen die GmbH, GmbHR 2016, 1252.

Übersicht I. Überblick ............................................ 1 II. Zuständigkeit ..................................... 5 III. Antrag ................................................ 6 1. Allgemeines zu Antragsstellung ........ 6 2. Antragsberechtigung .......................... 7 3. Antragsfrist ....................................... 10 I.

IV. Gerichtsverfahren ........................... 1. Verfahrensgrundsätze ...................... 2. Gerichtliche Entscheidung .............. 3. Folgen der gerichtlichen Entscheidung .......................................... 4. Verfahrenskosten .............................

11 11 12 14 16

Überblick

Für den Fall, dass ein Auskunftsverlangen eines Aktionärs in der Hauptversammlung 1 (§ 131) nicht erfüllt worden ist, kann dieser seinen Auskunftsanspruch gegen die Gesellschaft gerichtlich durchsetzen (§ 132). Das Auskunftserzwingungsverfahren richtet sich nach den Grundsätzen der freiwilligen Gerichtsbarkeit (§ 132 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 99 Abs. 1) und soll eine schnelle (§ 132 Abs. 2 Satz 2), kostengünstige (§ 132 Abs. 5) und sachgerechte Entscheidung ermöglichen. Die an sich statthafte Leistungsklage auf Auskunftserteilung wird durch das Klageerzwingungsverfahren verdrängt.1) Neben dem Auskunftserzwingungsverfahren steht dem Aktionär (unter den Vorausset- 2 zungen des § 243 Abs. 4) auch die Möglichkeit der Anfechtungsklage gegen die auf der Hauptversammlung gefassten Beschlüsse offen (§ 243 Abs. 1). Beide Rechtsmittel sind unabhängig voneinander, insbesondere muss der Aktionär vor Erhebung einer Anfechtungsklage nicht zunächst ein Auskunftserzwingungsverfahren einleiten.2) Der Entscheidung im Auskunftserzwingungsverfahren über das (Nicht)Bestehen eines Auskunftsanspruchs kommt keine Bindungswirkung für den Anfechtungsprozess zu (siehe auch § 132 Abs. 3 Satz 1, der gerade nicht auf § 99 Abs. 5 Satz 2 verweist).3) In der Praxis wird von den Aktionären regelmäßig Anfechtungsklage erhoben; demgegenüber hat das Auskunftserzwingungsverfahren nur eine vergleichsweise geringe Bedeutung erlangt.4) _____________ 1)

2)

3)

4)

Decher in: GroßKomm-AktG, § 132 Rz. 11 ff.; Hölters-Drinhausen, AktG, § 132 Rz. 1; Hüffer/KochKoch, AktG, § 132 Rz. 1; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 132 Rz. 1; Spindler/Stilz-Siems, AktG, § 132 Rz. 1 ff. – Zum Auskunftsrecht bei einer virtuellen Hauptversammlung nach COVAbmildG s. LG München I, Beschl. v. 29.7.2021 – 5 HK O 7359/21 (Kuka AG), rkr., DB 2021, 2206 mit Anm. Bungert/Strothotte = DStR 2022, 275. Grundlegend BGH, Urt. v. 29.11.1982 – II ZR 88/81, BGHZ 86, 1 = ZIP 1983, 163, dazu EWiR 1991, 633 (Hirte). Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 132 Rz. 1; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 132 Rz. 2; Kersting in: KölnKomm-AktG, § 132 Rz. 9 ff.; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 132 Rz. 43 ff.; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 132 Rz. 60 ff. BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 185/07 (Kirch/Deutsche Bank), BGHZ 180, 9 = ZIP 2009, 460 mit Anm. Mutter, dazu EWiR 2009, 461 (Staake). Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 132 Rz. 2; Kersting in: KölnKommAktG, § 132 Rz. 11 ff.; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 132 Rz. 45; Kubis in: MünchKommAktG, § 132 Rz. 61. A. A. Hölters-Drinhausen, AktG, § 132 Rz. 2 – unter Hinweis auf die Gefahr divergierender Entscheidungen. Anders die Einschätzung von Kersting in: KölnKomm-AktG, § 132 Rz. 1 – durchaus erhebliche praktische Bedeutung, die allerdings zurückgegangen ist; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 132 Rz. 2 – häufig genutzter Rechtsbehelf; Spindler/Stilz-Siems, AktG, § 132 Rz. 2 – rechtstatsächlich hohe Bedeutung.

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§ 132

Gerichtliche Entscheidung über das Auskunftsrecht

3 Für das Auskunftserzwingungsverfahren ist ausschließlich das LG zuständig, in dessen Bezirk die Gesellschaft ihren Sitz hat (§ 132 Abs. 1). Antragsberechtigt sind Aktionäre, denen in der Hauptversammlung eine Auskunft verweigert worden ist oder die gegen einen Beschluss der Hauptversammlung Widerspruch erklärt haben (§ 132 Abs. 2 Satz 2). Der Antrag ist binnen zwei Wochen nach der Hauptversammlung zu stellen (§ 132 Abs. 2 Satz 2). Das Verfahren richtet sich nach den Grundsätzen der freiwilligen Gerichtsbarkeit (§ 132 Abs. 3 i. V. m. § 99 Abs. 1). Das LG entscheidet über den Antrag durch Beschluss. Wird dem Antrag des Aktionärs stattgegeben, kann ihm die Auskunft auch außerhalb der Hauptversammlung erteilt werden (§ 132 Abs. 4 Satz 1). Der Anspruch auf Auskunftserteilung kann auch im Wege der Zwangsvollstreckung durchgesetzt werden (§ 132 Abs. 4 Satz 2). Falls der Antrag des Aktionärs abgelehnt wird, ist eine Beschwerde nur dann statthaft, wenn sie vom LG zugelassen worden ist. Die Kosten des Verfahrens richten sich nach den gesetzlichen Bestimmungen der Kostenordnung (§ 132 Abs. 5). 4 Die Vorschrift wurde zuletzt durch das Zweite Kostenrechtsmodernisierungsgesetz5) (Aufhebung von § 132 Abs. 5 Satz 1 bis 6) sowie das FGG-Reformgesetz6) geändert (u. a. § 132 Abs. 1, 3 und Abs. 5). Im GmbH-Recht gilt die Vorschrift weitgehend entsprechend (§ 51b GmbHG). II.

Zuständigkeit

5 Für das Auskunftserzwingungsverfahren ist ausschließlich das LG zuständig, in dessen Bezirk die Gesellschaft ihren Sitz hat (§ 132 Abs. 1 i. V. m. §§ 5, 14). Besteht bei dem LG eine Kammer für Handelssachen, ist diese funktionell zuständig (§§ 71 Abs. 2 Nr. 4 lit. b, 94, 95 Abs. 2 Nr. 2 GVG). Dies gilt allerdings nur, wenn deren Zuständigkeit auch beantragt wird (§§ 96 Abs. 1, 98, 101 Abs. 1 Satz 1 GVG).7) Örtlich zuständig ist das LG, in dessen Bezirk die Gesellschaft ihren Sitz hat (§§ 5, 14). Die Landesregierungen können die Zuständigkeit bei einem LG konzentrieren (§ 71 Abs. 4 GVG; in Bayern z. B. beim LG München I und beim LG Nürnberg-Fürth).8) III.

Antrag

1.

Allgemeines zu Antragsstellung

6 Das Gericht entscheidet nur auf Antrag (§ 132 Abs. 2 Satz 1). Der Antrag kann formlos gestellt werden (§ 132 Abs. 3 Satz 1, § 99 Abs. 1 und 3 AktG i. V. m. §§ 10, 25 FamFG). Es besteht kein Anwaltszwang. Antragsgegner ist die Gesellschaft, vertreten durch den Vorstand (§ 78 Abs. 1, und – anders als bei § 246 Abs. 2 Satz 2 – nicht auch durch den Aufsichtsrat).9) Aus dem Antrag muss inhaltlich hervorgehen, dass der Antragsteller eine gerichtliche Entscheidung über die verweigerte Auskunft wünscht (siehe § 23 Abs. 1 FamFG).10) Das Rechtsschutzbedürfnis für den Antrag entfällt, wenn die Gesellschaft dem Aktionär die gewünschte Auskunft vor der Beendigung des Verfahrens erteilt.11) Eine Rück_____________ 5) Art. 27 Nr. 2 des Zweiten Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts (2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz – 2. KostRMoG) v. 23.7.2013, BGBl. I 2013, 2586. S. dazu Simons, AG 2014, 182, 185, und § 1 Abs. 2 Nr. 1 GNotKG und Vorb. 1.3.5 Nr. 2a, KV Nr. 13500. 6) Art. 74 des Gesetzes zur Reform des Verfahrens in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG-RG) v. 17.12.2008, BGBl. I 2008, 2586. 7) Kersting in: KölnKomm-AktG, § 132 Rz. 23; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 132 Rz. 3. A. A. Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 132 Rz. 2. 8) S. die vollständige Übersicht bei Kersting in: KölnKomm-AktG, § 132 Rz. 21; K. Schmidt/LutterSpindler, AktG, § 132 Rz. 4; Spindler/Stilz-Siems, AktG, § 132 Rz. 5. 9) Spindler/Stilz-Siems, AktG, § 132 Rz. 14. 10) BayObLG, Beschl. v. 30.11.1995 – 3Z BR 161/93, AG 1996, 180, dazu EWiR 1996, 673 (Hirte). 11) LG München I, Beschl. v. 28.5.2010 – 5 HK O 14307/07, ZIP 2010, 2148, dazu EWiR 2011, 103 (Kort).

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Gerichtliche Entscheidung über das Auskunftsrecht

§ 132

nahme des Antrags ist bis zur gerichtlichen Entscheidung jederzeit möglich (§ 22 FamFG; § 269 ZPO findet insoweit keine Anwendung). 2. Antragsberechtigung Antragsberechtigt sind grundsätzlich nur Aktionäre, die auch an der Hauptversammlung 7 (persönlich, online12) oder durch einen Vertreter) teilgenommen haben (§ 132 Abs. 2 Satz 1).13) Der Antragsteller muss während des gesamten Verfahrens seit der Hauptversammlung Aktionär sein und bleiben.14) Vertreter des Aktionärs sind grundsätzlich nicht selbst antragsberechtigt.15) Der Aktionär kann den Vertreter aber zur Antragsstellung bevollmächtigen (siehe aber § 10 Abs. 2 FamFG). Legitimationsaktionäre (§ 129 Abs. 2) sind selbst antragsberechtigt, sofern dies inhaltlich von der Ermächtigung umfasst ist.16) Antragsberechtigt ist jeder Aktionär, dem eine verlangte Auskunft in der Hauptver- 8 sammlung nicht (oder nicht vollständig oder nicht richtig17) erteilt worden ist (§ 132 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1).18) Die Antragsberechtigung ist nicht davon abhängig, dass die Auskunftsverweigerung in der Niederschrift über die Hauptversammlung aufgenommen worden ist (§ 131 Abs. 5). Antragsberechtigt ist darüber hinaus jeder Aktionär, der in der Hauptversammlung Wi- 9 derspruch zur Niederschrift (§ 130 Abs. 1) erklärt hat, wenn über den Gegenstand der Tagesordnung, auf den sich die Auskunft bezog, ein Beschluss gefasst worden ist (§ 132 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2). Damit sind auch solche Aktionäre antragsberechtigt, die auf der Hauptversammlung selbst keine Auskunft verlangt haben. 3. Antragsfrist Der Antrag ist binnen zwei Wochen nach der Hauptversammlung zu stellen, in der die 10 Auskunft abgelehnt worden ist (§ 132 Abs. 2 Satz 2 AktG i. V. m. § 16 Abs. 2 FamFG). Verspätete Anträge sind unbegründet. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nicht möglich (§ 17 FamFG gilt hier nicht).19) IV. 1.

Gerichtsverfahren Verfahrensgrundsätze

Das Auskunftserzwingungsverfahren ist ein streitiges Verfahren, das sich weitgehend nach 11 den Grundsätzen der freiwilligen Gerichtsbarkeit richtet (§ 132 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 99 _____________ 12) Hölters-Drinhausen, AktG, § 132 Rz. 6; Kersting in: KölnKomm-AktG, § 132 Rz. 34. 13) S. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 17.1.2019 – 7 W 100/18, GmbHR 2019, 590 – keine isolierte Anfechtung eines Beschlusses nach § 51b GmbHG, mit dem die Bestellung eines Prozesspflegers abgelehnt worden ist. 14) S. LG München I, Beschl. v. 26.8.2010 – 5 HK O 19003/09 (Hypo Real Estate), AG 2011, 219 – Rechtsschutzbedürfnis entfällt, wenn Aktionär seine Rechtsstellung aufgrund Wirksamwerdens eines Squeeze-out-Beschlusses nach § 12 Abs. 4 Satz 1 FMStBG verliert. Allgemein Hölters-Drinhausen, AktG, § 132 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 132 Rz. 7. 15) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 132 Rz. 5; Kersting in: KölnKomm-AktG, § 132 Rz. 32; K. Schmidt/ Lutter-Spindler, AktG, § 132 Rz. 7. 16) Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 132 Rz. 3; Hölters-Drinhausen, AktG, § 132 Rz. 5; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 132 Rz. 10; Kersting in: KölnKomm-AktG, § 132 Rz. 31; K. Schmidt/ Lutter-Spindler, AktG, § 132 Rz. 7. Anders wohl Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 132 Rz. 5. 17) Wie hier dagegen LG München I, Beschl. v. 28.5.2010 – 5 HK O 14307/07, ZIP 2010, 2148, dazu EWiR 2011, 103 (Kort). Hölters-Drinhausen, AktG, § 132 Rz. 5; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 132 Rz. 4a; Kersting in: KölnKomm-AktG, § 132 Rz. 6 und Rz. 36; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 132 Rz. 9; Kubis in: MünchKomm-AktG, § 132 Rz. 15; Spindler/Stilz-Siems, AktG, § 132 Rz. 10. A. A. allerdings KG Berlin, Beschl. v. 16.7.2009 – 23 W 69/08, ZIP 2010, 698, dazu EWiR 2010, 237 (Theusinger). 18) BayObLG, Beschl. v. 30.11.1995 – 3Z BR 161/93, AG 1996, 180, dazu EWiR 1996, 673 (Hirte). 19) Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 132 Rz. 4; Hölters-Drinhausen, AktG, § 132 Rz. 7; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 132 Rz. 5; Spindler/Stilz-Siems, AktG, § 132 Rz. 11.

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§ 132

Gerichtliche Entscheidung über das Auskunftsrecht

Abs. 1). Es gilt der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 26 FamFG).20) Die Beteiligten sind allerdings zur Mitwirkung und Verfahrensförderung verpflichtet (§ 27 FamFG). Die Entscheidung des Vorstands über die Auskunftsverweigerung unterliegt in vollem Umfang der gerichtlichen Nachprüfung. Das Verfahren ist grundsätzlich nicht öffentlich (§ 170 Abs. 1 GVG).21) 2.

Gerichtliche Entscheidung

12 Das LG entscheidet über den Antrag22) durch einen mit Gründen versehenen Beschluss (§ 132 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 99 Abs. 3 Satz 1 AktG und § 38 FamFG). Die Entscheidung wird erst mit Rechtskraft wirksam (§ 132 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 99 Abs. 5 Satz 1 AktG und § 45 FamFG). Die Entscheidung muss nicht in den Gesellschaftsblättern veröffentlicht werden (siehe § 99 Abs. 4 Satz 2, auf den in § 132 Abs. 3 Satz 1 nicht verwiesen wird), aber aus Gründen der Publizität zum Handelsregister eingereicht werden (§ 132 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 99 Abs. 5 Satz 3 AktG und § 9 HGB). 13 Gegen den Beschluss des LG ist das Rechtsmittel der Beschwerde statthaft, sofern das LG diese zugelassen hat (§ 132 Abs. 2 i. V. m. § 99 Abs. 3 Satz 2 AktG und § 70 Abs. 2 FamFG).23) Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist nicht vorgesehen. Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats (§ 63 Abs. 1 FamFG) beim LG einzulegen (§ 64 Abs. 1 FamFG). Die Beschwerdeschrift muss von einem Rechtsanwalt unterzeichnet sein (§ 132 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 99 Abs. 3 Satz 4). Über die Beschwerde entscheidet das OLG (§ 119 Abs. 1 Nr. 2 GVG und § 132 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 99 Abs. 3 Satz 5 AktG: in Bayern z. B. zentral das OLG München). Gegen dessen Entscheidung besteht die Möglichkeit der Rechtsbeschwerde zum BGH (§§ 70 ff. FamFG und § 133 GVG).24) 3.

Folgen der gerichtlichen Entscheidung

14 Wird dem Antrag des Aktionärs stattgegeben, ist ihm die verlangte Auskunft zu geben (§ 132 Abs. 4 Satz 1). Dabei kann der Aktionär wählen, ob ihm die Gesellschaft die Auskunft unmittelbar nach Rechtskraft der Entscheidung außerhalb der Hauptversammlung (siehe § 132 Abs. 4 Satz 1; Folge: § 131 Abs. 4) oder erst in der nächsten Hauptversammlung erteilen soll.25) 15 Verweigert die Gesellschaft die Auskunftserteilung kann aus der gerichtlichen Entscheidung nach Eintritt der Rechtskraft die Zwangsvollstreckung betrieben werden (§ 132 Abs. 4 Satz 2 AktG i. V. m. §§ 794 Abs. 1 Nr. 3, 888 ZPO).26) Eine vorläufige Vollstreckung ist auch gegen Sicherheitsleistung nicht möglich. _____________ 20) Ausführlich dazu Kersting in: KölnKomm-AktG, § 132 Rz. 60 ff. 21) Henssler/Strohn-Liebscher, GesR, § 132 AktG Rz. 6; Spindler/Stilz-Siems, AktG, § 132 Rz. 18. A. A. Bürgers/Körber/Lieder-Reger, AktG, § 132 Rz. 6; Kersting in: KölnKomm-AktG, § 132 Rz. 55 f. – unter Hinweis auf Art. 6 Abs. 1 EMRK, und wohl auch K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 132 Rz. 1. 22) Zur erforderlichen inhaltlichen Identität des Auskunftsbegehrens Kersting in: KölnKomm-AktG, § 132 Rz. 39 ff. 23) Zur Möglichkeit der Berichtigung, wenn die Beschwerde versehentlich nicht zugelassen worden ist s. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 12.5.2014 – I-26 W 7/14, NZG 2015, 204. 24) Zur Rechtsbeschwerde s. BGH, Beschl. v. 14.1.2014 – II ZB 5/12 (Porsche), ZIP 2014, 671, dazu EWiR 2014, 309 (Bungert/de Raet). 25) S. dazu OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 1.12.2020 – 21 W 137/20, ZIP 2021, 249, dazu EWiR 2021, 329 (Thölke) – zur Unterstützung des Gesellschafters durch die Gesellschaft bei der Einsichtnahme gemäß § 51a GmbHG nach dem Gebot der Verhältnismäßigkeit. 26) Zur Vollstreckung eines (gegen die GmbH gerichteten) Auskunftstitels siehe BayObLG, Beschl. v. 22.4.2021 – 1 ZBR 74/20, GmbHR 2021, 707 und BayObLG, Beschl. v. 22.4.2021 – 101 ZBR 109/20, GmbHR 2021, 823 mit Anm. Haase; BayObLG, Beschl. v. 20.9.2021 – 101 ZBR 134/20, ZIP 2021, 2328 = DB 2021, 2625 mit Anm. Theusinger/Dolff, DB 2021, 2686, dazu EWiR 2022, 71 (de Raet). Ausführlich dazu Poelzig, AG 2022, 67; Werner, NZG 2022, 115.

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§ 133

Grundsatz der einfachen Stimmenmehrheit 4.

Verfahrenskosten

Über die Kosten des Verfahrens entscheidet das Gericht nach billigem Ermessen (§ 132 16 Abs. 5 und Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 99 Abs. 1 AktG und § 81 FamFG). Rechtsanwaltskosten sind dabei nicht zwingend zu erstatten (§ 80 Satz 2 FamFG i. V. m. § 91 Abs. 1 Satz 2 ZPO, nicht auch § 91 Abs. 2 ZPO).27) _____________ 27) Hölters-Drinhausen, AktG, § 132 Rz. 1; Kersting in: KölnKomm-AktG, § 132 Rz. 116.

Vierter Unterabschnitt Stimmrecht § 133 Grundsatz der einfachen Stimmenmehrheit Boris Dürr

(1) Die Beschlüsse der Hauptversammlung bedürfen der Mehrheit der abgegebenen Stimmen (einfache Stimmenmehrheit), soweit nicht Gesetz oder Satzung eine größere Mehrheit oder weitere Erfordernisse bestimmen. (2) Für Wahlen kann die Satzung andere Bestimmungen treffen. Literatur: Austmann/Rühle, Wahlverfahren bei mehreren für einen Aufsichtsratssitz vorgeschlagenen Kandidaten, AG 2011, 805; Bacher/v. Blumenthal, Die Stimmenthaltung bei Beschlüssen in Personen- und Kapitalgesellschaften, GmbHR 2019, 261; Bachmann, Die Einmann-AG, NZG 2001, 961; Fassbender, Die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft aus notarieller Sicht, RNotZ 2009, 425; Flume, Die Rechtsprechung des II. Senats des BGH zur Treuepflicht des GmbHGesellschafters und des Aktionärs, ZIP 1996, 651; Füchsel, Rechtsmissbräuchliche Gestaltung von Aufsichtsratswahlen, NZG 2018, 416; Fuhrmann, Die Blockabstimmung in der Hauptversammlung, ZIP 2004, 2081; Hartmann, Vollmachtlose Vertretung in der Hauptversammlung?, DNotZ 2002, 253; Hoffmann, Einzelentlastung, Gesamtentlastung und Stimmverbote im Aktienrecht, NZG 2010, 290; Leuering/Prüm, Das Quorum in der Hauptversammlung, NJW-Spezial 2017, 79 – 80; Max, Die Leitung der Hauptversammlung, AG 1991, 77; Noack, ARUG: das nächste Stück der Aktienrechtsreform in Permanenz, NZG 2008, 441; Ott, Die Hauptversammlung einer Einpersonen-Aktiengesellschaft, RNotZ 2014, 423; Ramm, Gegenantrag und Vorschlagsliste – Zur Gestaltung des aktienrechtlichen Verfahrens für die Wahlen zum Aufsichtsrat, NJW 1991, 2753; Semler/Asmus, Der stimmrechtslose Beschluss, NZG 2004, 881.

Übersicht I. Regelungsgegenstand und -zweck .... 1 II. Beschlüsse der Hauptversammlung ........................................... 2 1. Begriff und Rechtsnatur ..................... 2 2. Beschlussarten .................................... 4 3. Zustandekommen des Beschlusses ......................................... 7 a) Überblick und Beschlussfähigkeit ........................................ 7 b) Beschlussantrag, Antragsberechtigung und Abstimmungsvorgang .............................. 9

c) Stimmrechtsausübung, Stimmabgabe und Widerruf .................. d) Ermittlung des Abstimmungsergebnisses .................................. e) Beschlussfeststellung und Protokollierung .......................... III. Mehrheitserfordernisse nach Gesetz und Satzung ............... IV. Wahlen ..............................................

Boris Dürr

13 16 18 23 28

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§ 133 I.

Grundsatz der einfachen Stimmenmehrheit Regelungsgegenstand und -zweck

1 § 133 regelt das Zustandekommen von Hauptversammlungsbeschlüssen und findet immer Anwendung, wenn die Hauptversammlung Beschlüsse fasst. Regelungszweck ist die Festlegung des Mehrheitserfordernisses sowie der Grenzen abweichender Satzungsregelungen. Die Norm definiert für Hauptversammlungsbeschlüsse das Prinzip der einfachen Mehrheit, wobei die Mehrheit der abgegebenen Stimmen und nicht die Mehrheit der Aktionäre (so § 32 Abs. 1 Satz 3 BGB) oder die Mehrheit des Grundkapitals zählt. Die Satzung kann größere Mehrheiten oder weitere Erfordernisse vorschreiben, die einfache Stimmenmehrheit kann aber nicht unterschritten werden.1) Etwas anderes gilt gemäß § 133 Abs. 2 bei Wahlen, hier kann die Satzung auch niedrigere Mehrheitsanforderungen (z. B. relative Mehrheit) vorsehen. § 133 wird teilweise durch andere Vorschriften dahingehend modifiziert, dass entgegen § 133 Abs. 1 eine Verschärfung des Mehrheitserfordernisses nicht zulässig ist (siehe Rz. 25). II.

Beschlüsse der Hauptversammlung

1.

Begriff und Rechtsnatur

2 Ein Hauptversammlungsbeschluss dient der Bildung und Äußerung des Willens der Hauptversammlung. § 133 Abs. 1 spricht von Beschlüssen der Hauptversammlung, ohne den Begriff zu definieren. Die h. M. definiert den Beschluss als Rechtsgeschäft eigener Art, welches weder Vertrag, noch einseitiges Rechtsgeschäft ist.2) Ein Rechtsgeschäft liegt vor, weil Aktionäre ihre Rechtsverhältnisse und die der AG durch Beschluss regeln wollen. Um einen Vertrag handelt es sich nicht, da die Stimmabgaben nicht auf Konsensbildung durch korrespondierende Willenserklärungen, sondern auf die Entscheidung durch Feststellung des Mehrheitswillens gerichtet sind.3) Da der Beschluss Rechtsgeschäft ist, sind die für Rechtsgeschäfte geltenden Vorschriften in §§ 104 ff. BGB grundsätzlich anwendbar. Nicht anwendbar sind aber § 181 BGB sowie die Regelungen zur Anfechtung in §§ 119 ff., 142 f. BGB und zur Nichtigkeit in §§ 125, 134, 138 BGB, welche durch die Sonderregelungen in §§ 241 ff. verdrängt werden.4) Anwendung finden wiederum § 141 Abs. 1 BGB und § 139 BGB, da §§ 241 ff. hierzu keine Sonderregelungen enthalten.5) § 141 Abs. 2 BGB ist nicht anwendbar, weil keine Vertrag vorliegt. Auch die Vorschriften über den Zugang von Willenserklärungen in §§ 130 ff. BGB gelten nicht, da Beschlüsse nicht empfangsbedürftig sind, sondern mit Feststellung wirksam werden.6) 3 Für Hauptversammlungsbeschlüsse gilt wie für materielle Satzungsbestandteile das Prinzip der objektiven Auslegung, §§ 133, 157 BGB finden daher keine Anwendung. Allerdings können die zu § 157 BGB entwickelten Grundsätze über die Auslegung von im Verkehr gebräuchlichen Klauseln bei der Auslegung herangezogen werden.7) Maßgebend ist weder der wirkliche Wille des Abstimmenden noch der objektive Empfängerhorizont der an der Hauptversammlung teilnehmenden Aktionäre, sondern die objektive Verkehrsauf_____________ 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7)

K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 1; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 1. LG München, Urt. v. 4.10.2007 – 5 HK O 12615/07, ZIP 2007, 2024; im Ergebnis ähnlich BGH, Urt. v. 15.11.1993 – II ZR 235/92, ZIP 1993, 1862; K. Schmidt, GesR, § 15 I. 2a. Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 3; Hölters-Hirschmann, AktG, § 133 Rz. 3. Grundmann in: GroßKomm-AktG, § 133 Rz. 43; Arnold in: MünchKomm-AktG, § 133 Rz. 5. BGH, Urt. v. 25.1.1988 – II ZR 148/87, ZIP 1988, 432 = NJW 1988, 1214; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 4. Zöllner in: KölnKomm-AktG, § 133 Rz. 43, 47; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 4. LG München, Urt. v. 4.10.2007 – 5 HK O 12615/07, ZIP 2007, 2024; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 5.

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fassung.8) Vorbereitungshandlungen, z. B. Vorstandsberichte, und andere mit der Beschlussfassung zusammenhängende Umstände können bei der Auslegung berücksichtigt werden, sofern sie nach außen gelangt sind.9) Die Auslegung ist gerichtlich uneingeschränkt revisibel.10) 2.

Beschlussarten

Die h. M. unterscheidet positive und negative Beschlüsse. Ein positiver Beschluss liegt 4 vor, wenn der gestellte Antrag mit den erforderlichen Mehrheiten angenommen wird. Ein negativer Beschluss liegt vor, wenn die erforderliche Mehrheit nicht zustande kommt und der Antrag abgelehnt wird. Dies gilt auch, wenn der Antrag wegen gleicher Zahl von Jaund Nein-Stimmen scheitert (Patt-Situation). Auch den Antrag ablehnende Beschlüsse sind formelle Hauptversammlungsbeschlüsse. Auch bei Patt-Situation liegt ein formeller Beschluss vor, da das Mehrheitserfordernis nach § 133 Abs. 1 nur für positive Beschlüsse gilt.11) Bedeutung erlangt die Beschluss-Eigenschaft bei gescheiterten Anträgen, wegen der Geltung der §§ 241 ff., insbesondere hinsichtlich der Erfordernisse der Anfechtungsklage, um gegen den Beschluss vorzugehen. Während die Unterscheidung zwischen positivem und negativem Beschluss das formelle 5 Beschlussergebnis betrifft, lassen sich Beschlüsse auch hinsichtlich ihres positiven oder negativen materiellen Inhalts unterscheiden. Entscheidend ist die Formulierung des Antrags. Auch negativ formulierte Anträge, bei denen die Annahme des Beschlusses den Status Quo erhält – z. B. ein Antrag auf Nichtentlastung des Vorstands – sind zulässig.12) Allerdings führt die Ablehnung eines negativen Antrages nicht zu einem materiellen Beschluss mit positivem Inhalt; die Ablehnung der Nichtentlastung führt also nicht zur Entlastung. Ein materieller Beschluss setzt unabhängig davon, ob es sich um einen positiv oder negativ formulierten Antrag handelt, die Annahme des Antrags voraus.13) Enthalten sich alle Aktionäre der Stimme oder wird der Antrag nicht zugelassen oder auf sonstige Weise ohne Abstimmung übergangen, liegt weder ein formeller noch ein materieller Hauptversammlungsbeschluss vor. Es fehlt an einer Willensbildung der Hauptversammlung, weshalb auch nicht von einem negativen Beschluss gesprochen werden kann. Hauptversammlungsbeschlüsse i. S. von § 133 Abs. 1 sind nur Beschlüsse der Hauptver- 6 sammlung selbst. Sonderbeschlüsse bestimmter Aktionärsgruppen nach § 138 sind keine Hauptversammlungsbeschlüsse.14) Gleichwohl finden auf sie nach § 138 Satz 2 die für Hauptversammlungsbeschlüsse geltenden Regelungen und damit das Mehrheitserfordernis des § 133 Abs. 1 Anwendung. 3.

Zustandekommen des Beschlusses

a)

Überblick und Beschlussfähigkeit

Voraussetzung für einen fehlerfreien Hauptversammlungsbeschluss ist – neben der ord- 7 nungsgemäßen Einberufung (§§ 121 ff.) und der Beschlussfähigkeit der Versammlung – ein vom Versammlungsleiter zur Beschlussfassung gestellter Antrag, über den die in der Hauptversammlung anwesenden Aktionäre abstimmen sowie die Feststellung des Beschluss_____________ 8) 9) 10) 11) 12) 13) 14)

Grundmann in: GroßKomm-AktG, § 133 Rz. 50; Austmann in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 40 Rz. 2. BGH, Beschl. v. 30.1.1995 – II ZR 132/93, ZIP 1995, 648; Hölters-Hirschmann, AktG, § 133 Rz. 3. Grundmann in: GroßKomm-AktG, § 133 Rz. 50. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 133 Rz. 5; Arnold in: MünchKomm-AktG, § 133 Rz. 7. Austmann in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 40 Rz. 4; Arnold in: MünchKomm-AktG, § 133 Rz. 8. Arnold in: MünchKomm-AktG, § 133 Rz. 9; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 8. Hölters-Hirschmann, AktG, § 133 Rz. 5; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 5.

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ergebnisses durch den Versammlungsleiter und entsprechende Protokollierung durch den Notar oder Aufsichtsratsvorsitzenden gemäß § 130 Abs. 1. Bei Einmann-AG gelten Ausnahmen (siehe Rz. 9, 18 und Rz. 22).15) 8 Für die Beschlussfähigkeit der Hauptversammlung enthält das AktG keine besonderen Anforderungen. Die Teilnahme eines Aktionärs mit einer stimmberechtigten Aktie genügt.16) Eine Ausnahme bildet § 52 Abs. 5 Satz 2, der für Nachgründungsfälle die Teilnahme eines Viertels des Grundkapitals voraussetzt (siehe dort § 52 Rz. 41). Die Satzung kann eine totale oder quotale Mindestpräsenz als weiteres Erfordernis i. S. von § 133 Abs. 1 bestimmen, was unter Umständen bei personalistisch strukturierten AG, nicht aber bei Publikumsgesellschaften, zweckmäßig ist.17) Verlangt die Satzung eine Mindestpräsenz, zählen nur stimmberechtigte Aktien. Wenn die Mindestpräsenz höher als die Gesamtzahl der stimmberechtigten Aktien ist, genügt aber die Anwesenheit aller stimmberechtigten Aktien.18) Bei Bestehen einer Mindestpräsenz muss der Versammlungsleiter zu Beginn einer Versammlung die Beschlussfähigkeit prüfen, wobei die nicht stimmberechtigten Aktionäre und „beschlussunwilligen Gesellschafter“ herauszurechnen sind. Die Beschlussfähigkeit der Hauptversammlung muss – vorbehaltlich anderweitiger Anordnungen durch den Satzungsgeber – nicht nur zu Versammlungsbeginn, sondern auch während der Fortdauer der Versammlung und jeder einzelnen Beschlussfassung gegeben sein.19) b)

Beschlussantrag, Antragsberechtigung und Abstimmungsvorgang

9 Der Hauptversammlungsbeschluss setzt einen vom Versammlungsleiter zur Abstimmung gestellten Antrag voraus. Ohne Antrag geht die Beschlussfassung ins Leere. Der Antrag ist in der Hauptversammlung zu stellen.20) Über einen im Vorfeld angekündigten, aber in der Hauptversammlung nicht gestellten Antrag kann nicht abgestimmt werden. Entbehrlich ist ein formaler Antrag bei der Einmann-AG oder bei Anwesenheit nur eines stimmberechtigten Aktionärs.21) Der Antrag muss so formuliert sein, dass die Abstimmung durch „Ja“ oder „Nein“ möglich ist.22) Die Formulierung des Antrages entscheidet über den Inhalt des Beschlusses, der Beschluss selbst betrifft nur Annahme oder Ablehnung des Antrages. Anträge sind daher so zu formulieren, dass bei positiver Beschlussfassung kein Zweifel am Willen der Hauptversammlung aufkommen kann. Der Antrag ist keine Willenserklärung i. S. von § 116 BGB. Erklärungs- oder Willensmängel haben daher keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit des Beschlusses.23) 10 Über den Antrag darf nur abgestimmt werden, wenn der jeweilige Beschlussgegenstand gemäß § 124 Abs. 4 Satz 1 bekannt gemacht wurde. Der Beschluss ist anfechtbar, wenn der Antrag nicht durch den ordnungsgemäß bekannt gemachten Beschlussgegenstand gedeckt ist.24) Dadurch werden abwesende Aktionäre vor Beschlüssen geschützt, mit denen sie nicht rechnen mussten. _____________ 15) Bachmann, NZG 2001, 961 ff. 16) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 10 – mit Hinweis auf indirekte Mindestpräsenzen in § 52 Abs. 5 und § 319. 17) Marsch-Barner in: Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, § 34 Rz. 131. 18) Grundmann in: GroßKomm-AktG, § 133 Rz. 56; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 11. 19) Leuering/Prüm, Das Quorum in der Hauptversammlung, NJW-Spezial 2017, 79 – 80. 20) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 14. 21) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 12; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 133 Rz. 9. 22) Arnold in: MünchKomm-AktG, § 133 Rz. 16; Bürgers/Körber/Lieder-Holzborn, AktG, § 133 Rz. 4. 23) Austmann in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 40 Rz. 2; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 12. 24) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 11.

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Antragsberechtigt sind alle an der Hauptversammlung teilnehmenden Aktionäre und Ak- 11 tionärsvertreter sowie die Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat. Das Antragsrecht des Aktionärs ist Ausfluss seines Teilnahmerechts an der Hauptversammlung, so dass auch Aktionäre ohne Stimmrecht antragsberechtigt sind.25) Beschlussvorschläge können durch die Verwaltung (§ 124 Abs. 3), durch Aktionäre (§§ 122 Abs. 2, 126 Abs. 1) oder aus der Mitte der Hauptversammlung (§ 124 Abs. 4 Satz 2) unterbreitet werden. Bei mehreren Anträgen hat sich die Reihenfolge der Abstimmung – vorbehaltlich der Sat- 12 zung oder Geschäftsordnung der Hauptversammlung – nach Effizienz- und Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu richten. Daher ist über Verfahrensanträge regelmäßig vor den materiellen Anträgen abzustimmen. Bei mehreren Anträgen zu einem Beschlussgegenstand hat der Antrag Vorrang, für den eine Mehrheit zu erwarten ist. Die Entscheidung liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Versammlungsleiters.26) Blockabstimmung über mehrere zusammenhängende Sachfragen – z. B. Zustimmung zu mehreren Unternehmensverträgen – sind jedenfalls zulässig, wenn der Versammlungsleiter zuvor klarstellt, dass bei mehrheitlicher Ablehnung des Blockantrages eine Einzelabstimmung erfolgt und kein anwesender Aktionär dem Verfahren widerspricht.27) Widerspricht ein Aktionär, kann die Hauptversammlung die Blockwahl beschließen.28) Besonderheiten gelten beim Entlastungsbeschluss, da das Gesetz die Gesamtentlastung als Regelfall vorgibt (siehe § 120 Rz. 8). Der Versammlungsleiter kann aber nach freiem Ermessen Einzelentlastung einzelner oder aller Organmitglieder anordnen.29) Eine Verpflichtung zur Durchführung der Einzelentlastung besteht vorbehaltlich der Satzung oder Geschäftsordnung der Hauptversammlung gemäß § 120 Abs. 1 Satz 2 nur, wenn die Hauptversammlung oder ein Aktionärsquorum es verlangt. c)

Stimmrechtsausübung, Stimmabgabe und Widerruf

An der Beschlussfassung dürfen nur stimmberechtigte Aktionäre mitwirken. Nach § 12 13 Abs. 1 Satz 1 gewährt jede Aktie eine Stimme; einzige Ausnahme sind stimmrechtslose Vorzugsaktien nach § 139. Eine Abspaltung des Stimmrechts von der Aktie ist unzulässig, weshalb das Stimmrecht nicht isoliert übertragen werden kann (Abspaltungsverbot).30) Die Stimmrechtsausübung durch Dritte mittels Vollmacht ist zulässig (siehe § 134 Rz. 16 und § 135 Rz. 2). Die Stimmabgabe durch einen vollmachtlosen Vertreter ist nichtig und wird nicht durch eine nachträgliche Genehmigung geheilt.31) Stimmbindungsverträge oder andere Vereinbarungen, in denen der Aktionäre sich verpflichtet sein Stimmrecht in bestimmter Weise auszuüben, sind – mit Einschränkungen – zulässig (siehe § 136 Rz. 21 ff.). Das Stimmrecht kann gemäß § 20 Abs. 7, § 71b, § 134 Abs. 2, § 136 Abs. 1, § 328 sowie §§ 33 ff. WpHG oder §§ 35, 59 WpÜG ausgeschlossen sein. Daneben können auch nicht geregelte „bewegliche Schranken“ aus der Treuepflicht und dem Gleichbehandlungsge_____________ 25) Grundmann in: GroßKomm-AktG, § 133 Rz. 61; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 133 Rz. 9. 26) LG Hamburg, Urt. v. 8.6.1995 – 405 O 203/94, AG 1996, 233; Arnold in: MünchKomm-AktG, § 133 Rz. 19; LG München I, Urt. v. 31.3.2016 – 5 HK O 14432/15, ZIP 2016, 973, dazu EWiR 2016, 463 (v. d. Linden), hierzu auch Schulteis, GWR 2016, 398 (Urteilsanm.). 27) BGH, Urt. v. 21.7.2003 – II ZR 109/02, ZIP 2003, 1788, dazu EWiR 2003, 1113 (Radlmayr); LG München I, Urt. v. 15.4.2004 – 5 HK O 10813/03, ZIP 2004, 853; nach OLG München, Urt. v. 27.8.2008 – 7 U 5678/07, ZIP 2008, 1916 – ist der Hinweis des Versammlungsleiters entbehrlich. 28) LG München I, Urt. v. 15.4.2004 – 5 HK O 10813/03, ZIP 2004, 853. 29) BGH, Beschl. v. 7.12.2009 – II ZR 63/08, ZIP 2010, 879, dazu EWiR 2010, 441 (Kort); BGH, Urt. v. 21.9.2009 – II ZR 174/08, ZIP 2009, 2051, dazu EWiR 2010, 1 (Priester); Hoffmann, NZG 2010, 290, 291; Bungert in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 35 Rz. 27; einschränkend OLG München, Urt. v. 17.3.1995 – 23 U 5930/94, NJW-RR 1996, 159. 30) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 14; Hölters-Hirschmann, AktG, § 133 Rz. 15. 31) Semler/Asmus, NZG 2004, 881, 891; a. A. Hartmann, DNotZ 2002, 253 ff.; für Einmann-AG auch Bachmann, NZG 2001, 961, 969.

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bot eingreifen.32) Zwar sind Aktionäre bei der Entscheidung über ihre Stimmrechtsausübung grundsätzlich frei, aus der Treuepflicht kann sich aber ausnahmsweise eine Pflicht für ein bestimmtes Stimmverhalten – z. B. Zustimmung zu erforderlichen Kapital- oder Sanierungsmaßnahmen – ergeben.33) Unter Verstoß gegen einen Stimmrechtsausschluss oder gegen bewegliche Schranken abgegebene Stimmen sind nichtig34) (siehe § 136 Rz. 20). 14 Das Stimmrecht kann für jede Aktie separat ausgeübt werden; Aktionäre mit mehreren Aktien können daher teils mit Ja, teils mit Nein stimmen.35) Zulässig ist insbesondere die unterschiedliche Ausübung der Stimmrechte für mehrere Vollmachtgeber durch einen gemeinsamen Bevollmächtigten. Die uneinheitliche Stimmabgabe bei mehreren Stimmen aus einer Aktie (Mehrstimmrechte) ist unzulässig.36) 15 Die Ausübung des Stimmrechts erfolgt durch Stimmabgabe in der Hauptversammlung (zur Form der Stimmabgabe: siehe § 134 Rz. 27 ff.). Der Aktionär kann für den Antrag (Ja-Stimme) oder dagegen (Nein-Stimme) stimmen oder sich der Stimme enthalten. Eine Stimmenthaltung gilt nicht als Stimmabgabe.37) Die Stimmabgabe ist eine Willenserklärung, §§ 104 ff. daher anwendbar, wobei die Anwendbarkeit der §§ 119 ff. BGB nicht abschließend geklärt ist.38) Die Stimmabgabe wird nach § 130 Abs. 1 BGB mit Zugang beim Versammlungsleiter bzw. nach § 164 Abs. 3 BGB beim Abstimmungshelfer als dessen Vertreter wirksam.39) Bei Online-Teilnahme oder Briefwahl wird die Stimmabgabe mit Zugang bei der Gesellschaft wirksam.40) Mit dem Zugang ist der Aktionär an seine Stimmabgabe gebunden und ein Widerruf gemäß § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB ist ausgeschlossen. Der Auffassung, ein Widerruf aus wichtigem Grund sei auch nach Zugang möglich,41) ist nicht zu folgen, da eine Begründung für die Abweichung vom Wortlaut des § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht existiert.42) d)

Ermittlung des Abstimmungsergebnisses

16 Nach erfolgter Abstimmung ist das Abstimmungsergebnis zu ermitteln. Die Ermittlung des Abstimmungsergebnisses ist Aufgabe des Versammlungsleiters, der Hilfspersonen und technische Hilfsmittel einsetzen darf. Bei der Ermittlung des Abstimmungsergebnisses sind nur gültige Stimmen zu berücksichtigen. Wegen Stimmrechtsauschluss bzw. treuwidriger Stimmabgabe (siehe Rz. 13) oder wegen allgemeiner Willensmängel nichtige sowie wegen fehlender Eindeutigkeit oder formaler Fehler bei der Stimmabgabe (z. B. handschriftlicher Stimmzettel statt vorgesehener Stimmkarte) ungültige Stimmen, sind nicht zu berücksichtigen.43) Der Versammlungsleiter ist berechtigt, die Gültigkeit der Stimme zu prüfen und ungültige Stimmen zurückzuweisen. Eine Pflicht zur Zurückweisung be_____________ 32) LG Berlin, Urt. v. 9.9.2011 – 100 O 35/11, ZIP 2012, 1034 = BeckRS 2012, 11054; Zöllner in: KölnKomm-AktG, § 133 Rz. 233 ff.; K. Schmidt, GesR, § 21 II. 3. 33) BGH, Urt. v. 20.3.1995 – II ZR 205/94, ZIP 1995, 819; dazu Flume, ZIP 1996, 661. 34) Semler/Asmus, NZG 2004, 881. 35) Zöllner in: KölnKomm-AktG, § 133 Rz. 100 ff.; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 19. 36) Arnold in: MünchKomm-AktG, § 133 Rz. 27; Hölters-Hirschmann, AktG, § 133 Rz. 21. 37) BGH, Urt. v. 20.3.1995 – II ZR 205/94, ZIP 1995, 819; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 15. 38) Kritisch Heidel-Müller, AktR, § 133 AktG Rz. 7; ausführlich Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 21. 39) Heidel-Müller, AktR, § 133 AktG Rz. 7; Austmann in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 40 Rz. 28. 40) Ausführlich dazu Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 20; Noack, NZG 2008, 441, 445. 41) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 18. 42) Arnold in MünchKomm-AktG, § 133 Rz. 26 (anders noch Volhard in der 3. Aufl.); Austmann in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 40 Rz. 28; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 21; Heidel-Müller, AktR, § 133 AktG Rz. 7; Hölters-Hirschmann, AktG, § 133 Rz. 20; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 133 Rz. 19. 43) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 29; Arnold in: MünchKomm-AktG, § 133 Rz. 28.

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§ 133

steht nur bei offensichtlicher Nichtigkeit oder Ungültigkeit.44) Werden nichtige oder ungültige Stimmen zu Unrecht mitgezählt und waren sie für das Beschlussergebnis entscheidend, ist der Beschuss anfechtbar. Wäre er auch ohne fehlerhafte Stimmen zustande gekommen, ist er uneingeschränkt wirksam. Auch ein „stimmloser“ Beschluss, bei dem alle Stimmen nichtig oder ungültig waren, ist nur anfechtbar und wird mit Ablauf der Anfechtungsfrist endgültig rechtskräftig.45) Für die Stimmauszählung stehen zwei Methoden zur Verfügung. Bei der Additionsme- 17 thode werden Ja-Stimmen und Nein-Stimmen ausgezählt. Bei der Subtraktionsmethode regelmäßig nur Nein-Stimmen und Enthaltungen. Die Ja-Stimmen werden dann durch Abzug der Nein-Stimmen und der Enthaltungen von der Präsenz ermittelt. Dadurch gelten nicht abgegebene Stimmen als Ja-Stimmen, worauf der Versammlungsleiter ausdrücklich hinweisen muss.46) Die Subtraktionsmethode ist gesetzeskonform und bedeutet keine Verletzung des Sachlichkeitsgebots durch den Versammlungsleiter.47) Voraussetzung für ein korrektes Ergebnis ist bei der Subtraktionsmethode, dass die Präsenz vor jeder Beschlussfassung exakt festgestellt wird.48) Der Festlegung des Präsenzbereichs und der Einund Ausgangskontrolle kommt daher gesteigerte Bedeutung zu. Dabei kann nach überzeugender, aber umstrittener Auffassung auch der außerhalb des eigentlichen Versammlungssaal liegende Bereich (Buffet, Waschräume etc.) als Präsenzbereich definiert werden.49) Welcher Zeitpunkt für die Präsenzfeststellung maßgeblich ist – die besseren Argumente sprechen dafür, auf das Ende des Abstimmungsvorgangs abzustellen – ist nicht abschließend geklärt.50) Während der Abstimmung hinzukommende Aktionäre sollten in die Präsenzliste aufgenommen und ihre Stimmen berücksichtigt werden. Sofern Aktionäre den Präsenzbereich während der Abstimmung verlassen, ohne zuvor eine Stimme abgegeben oder einen Dritten bevollmächtigt zu haben, sind sie aus der Präsenzliste zu streichen. Der Versammlungsleiter bzw. die Auslasskontrolle sollte die Aktionäre auf diese Handhabung hinweisen. Aus Vorsichtsgründen sollten Präsenzveränderungen während des Abstimmungsvorgangs aber vermieden werden. Da die Subtraktionsmethode wegen der erforderlichen Präsenzfeststellung fehleranfälliger ist, empfiehlt sich bei kritischen Hauptversammlungen die Additionsmethode. Zumal das Problem der langen Auszähldauer durch elektronische Abstimmgeräte an Bedeutung verloren hat. Unabhängig von praktischen Gesichtspunkten sind sowohl Additionsmethode als auch Subtraktionsmethode zulässig.51)

_____________ 44) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 27; Marsch-Barner in: Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, § 34 Rz. 108. 45) BGH, Urt. v. 24.4.2006 – II ZR 30/05, ZIP 2006, 1134, dazu EWiR 2006, 449 (Wilsing/Goslar); OLG Dresden, Urt. v. 11.1.2005 – 2 U 1728/04, ZIP 2005, 573, dazu EWiR 2005, 369 (Theusinger/Klein); LG Berlin, Urt. v. 9.9.2011 – 100 O 35/11, ZIP 2012, 1034 = BeckRS 2012, 11054; Spindler/StilzRieckers, AktG, § 133 Rz. 50; a. A. Semler/Asmus, NZG 2004, 881. 46) Grundmann in: GroßKomm-AktG, § 133 Rz. 130; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 24. 47) LG München I, Urt. v. 31.3.2016 – 5 HK O 14432/15, ZIP 2016, 973, dazu EWiR 2016, 463 (v. d. Linden), hierzu auch Schulteis, GWR 2016, 398 (Urteilsanm.). 48) OLG Hamm, Urt. v. 27.5.2003 – 27 U 106/02, NZG 2003, 924, OLG Frankfurt/M., Urt. v. 21.3.2006 – 10 U 17/05, ZIP 2007, 232; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 24. 49) Bejahend Hölters-Hirschmann, AktG, § 133 Rz. 28, und Max, AG 1991, 77 ff.; zurückhaltend Arnold in: MünchKomm-AktG, § 133 Rz. 32; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 24. 50) Vgl. Gutachten des DNotI, DNotI-Report 2002, 169 ff.; Gehling/Pickert in: Reichert, ArbHdb. HV, § 9 Rz. 80. 51) BGH, Beschl. v. 19.9.2002 – V ZB 37/02, ZIP 2003, 437, 438 ff., dazu EWiR 2003, 39 (Eckardt); OLG Hamm, Urt. v. 27.5.2003 – 27 U 106/02, NZG 2003, 924; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 21.3.2006 – 10 U 17/05, ZIP 2007, 232; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 133 Rz. 24; Bürgers/Körber/Lieder-Holzborn, AktG, § 133 Rz. 10.

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§ 133

Grundsatz der einfachen Stimmenmehrheit

Die Auswahl obliegt – vorbehaltlich von Satzung, Geschäftsordnung der Hauptversammlung oder eines Hauptversammlungsbeschlusses – dem Versammlungsleiter.52) e)

Beschlussfeststellung und Protokollierung

18 Nachdem das Abstimmungsergebnis ermittelt wurde, muss der Versammlungsleiter den gefassten Beschluss feststellen. Die Feststellung hat konstitutive Wirkung, der Beschluss gilt erst mit seiner Feststellung als gefasst. Dies gilt grundsätzlich auch bei einer Vollversammlung i. S. des § 121 Abs. 6. Eine formale Feststellung ist entbehrlich, wenn nur ein einziger Aktionär an der Hauptversammlung teilnimmt, also insbesondere bei der Einmann-AG.53) Damit der Versammlungsleiter den Beschluss feststellen kann, muss er die für den Beschlussgegenstand nach Gesetz und Satzung erforderliche Mehrheit ermitteln54) und vergleichen, ob die erforderliche Mehrheit für den Beschlussantrag gestimmt hat (siehe dazu Rz. 22 ff.). 19 Die Beschlussfeststellung erfolgt, indem der Versammlungsleiter das Beschlussergebnis gegenüber der Hauptversammlung verkündet. Eine Feststellung ist auch erforderlich, wenn der Beschluss abgelehnt und daher kein materieller Beschluss (siehe Rz. 5) gefasst wurde.55) Zur Feststellung muss der Versammlungsleiter das Ergebnis der Beschlussfassung verkünden. Er muss mitteilen, ob die erforderliche Mehrheit erreicht bzw. der Beschlussantrag angenommen oder die Mehrheit nicht erreicht bzw. der Beschlussantrag abgelehnt wurde. Teilweise werden auch Angaben über die Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen sowie der Ja- und Nein-Stimmen für erforderlich erachtet.56) Nachdem § 130 Abs. 2 Satz 2 nunmehr für börsennotierte Gesellschaften ausdrücklich die Angabe konkreter Abstimmungsergebnisse verlangt (siehe § 130 Rz. 54 ff.), gilt im Umkehrschluss, dass bei nicht börsennotierten Gesellschaften die konkreten Abstimmungsergebnisse nicht verkündet werden müssen.57) Die freiwillige Verkündung konkreter Ergebnisse ist aber zulässig. Bei börsennotierten Gesellschaften sind konkrete Angaben nach § 130 Abs. 2 Satz 3 entbehrlich, wenn kein Aktionär eine umfassende Feststellung verlangt. 20 Sofern der Beschluss angenommen wird, muss die Feststellung hinsichtlich des materiellen Inhalts des Beschlusses eindeutig sein. Es genügt wenn auf den bekannt gemachten Beschlussvorschlag Bezug genommen wird, die Verlesung des vollständigen Wortlauts ist nicht erforderlich.58) Zusätzliche Angaben über die materiellen Folgen des Beschlusses oder sonstige erläuternde Angaben sind zulässig, aber nicht erforderlich. 21 Mit Feststellung des Beschlusses durch den Versammlungsleiter gilt der Beschluss als mit dem verkündeten Inhalt gefasst. Da die Feststellung konstitutiv wirkt, gilt dies auch wenn die Feststellung des Versammlungsleiters vom tatsächlichen Beschluss abweicht.59) Ein fälschlicherweise festgestellter Beschluss ist – sofern kein Nichtigkeitsgrund vorliegt – _____________ 52) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 22; Grundmann in: GroßKomm-AktG, § 133 Rz. 128; abw. Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 24, der Vorgaben durch Geschäftsordnung oder Hauptversammlungsbeschluss für unzulässig erachtet. 53) Grundmann in: GroßKomm-AktG, § 133 Rz. 132; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 48; Ott, RNotZ 2014, 423, 426 f. 54) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 50; Arnold in: MünchKomm-AktG, § 133 Rz. 75. 55) Heidel-Müller, AktR, § 133 AktG Rz. 3. 56) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 38 – mit Hinweis auf BGH, Urt. v. 4.7.1994 – II ZR 114/93, ZIP 1994, 1171, die Entscheidung behandelt jedoch die erforderlichen Angaben in der notariellen Niederschrift und nicht die Angaben bei der Feststellung durch den Versammlungsleiter. 57) So auch Fassbender, RNotZ 2009, 425, 444; Happ-Zimmermann, AktienR, Nr. 10.17 Rz. 38.2 m. w. N. 58) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 49. 59) Arnold in: MünchKomm-AktG, § 133 Rz. 73; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 50.

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§ 133

wirksam und kann nur durch eine Anfechtungsklage beseitigt werden. Sofern der Versammlungsleiter zu Unrecht die Ablehnung des Beschlusses festgestellt hat, kann das tatsächliche Beschlussergebnis durch Anfechtungs- und Beschlussfeststellungsklage hergestellt werden, ohne dass es eines neuen Hauptversammlungsbeschlusses bedarf.60) Jeder festgestellte Beschluss muss in einer Niederschrift über die Hauptversammlung pro- 22 tokolliert werden. Bei börsennotierten Gesellschaften muss die Protokollierung durch einen Notar erfolgen, bei nicht börsennotierten Gesellschaften genügt gemäß § 130 Abs. 1 Satz 3 unter Umständen eine Protokollierung durch den Versammlungsleiter (siehe § 130 Rz. 25 ff.). Zweck der Protokollierung ist die Dokumentation der Willensbildung der Aktionäre.61) Die Protokollierung ist konstitutiver Teil der Beschlussfeststellung. Der Beschluss wird erst durch Unterzeichnung der Niederschrift durch die zuständige Person wirksam.62) Der Inhalt der Niederschrift und die beizufügenden Anlagen müssen den Anforderungen des § 130 Abs. 2 und 3 genügen. Bei einer Einmann-AG gelten reduzierte Anforderungen.63) III.

Mehrheitserfordernisse nach Gesetz und Satzung

Voraussetzung für das Zustandekommen eines materiellen Hauptversammlungsbeschlus- 23 ses ist, dass der Beschlussantrag mit erforderlicher Mehrheit angenommen wird. Nach § 133 Abs. 1 ist – abgesehen von Wahlbeschlüssen (siehe Rz. 27) – stets mindestens die Mehrheit der abgegebenen Stimmen (einfache Mehrheit) erforderlich. Die Satzung kann nach § 133 Abs. 1 höhere Anforderungen festlegen, ein Unterschreiten der einfachen Mehrheit ist nicht zulässig. Grundsätzlich genügt einfache Mehrheit, wenn weder Gesetz noch Satzung zusätzliche Erfordernisse aufstellen. Nur bei „Holzmüller-Beschlüssen“ verlangt die Rechtsprechung zusätzlich eine Kapitalmehrheit (siehe § 119 Rz. 36). Bei den meisten Beschlussgegenständen lässt das Gesetz die einfache Mehrheit ausreichen.64) Die einfache Mehrheit ist erreicht, wenn die Zahl der gültigen Ja-Stimmen die Zahl der 24 gültigen Nein-Stimmen um wenigstens eine Stimme übersteigt. Bei Gleichstand zwischen Ja- und Nein-Stimmen (Patt) gilt der Antrag als abgelehnt. Stimmenthaltungen gelten nicht als abgegebene Stimmen und sind daher bei der Feststellung der Mehrheit nicht zu berücksichtigen und gelten insbesondere nicht als Nein-Stimmen.65) Ebenso sind nichtige oder ungültige Stimmen unbeachtlich (siehe Rz. 12). Das Gesetz oder die Satzung können zusätzliche Erfordernisse vorsehen, die bei einzel- 25 nen Beschlussgegenständen zur stets erforderlichen einfachen Mehrheit hinzutreten. Das Gesetz kennt qualifizierte Stimmenmehrheit (§ 103 Abs. 1 Satz 2), Einstimmigkeit (z. B. § 233 Abs. 1 UmwG), einfache oder qualifizierte Kapitalmehrheit (§ 179 Abs. 2), Zustimmung einzelner oder aller Aktionäre (§ 180), Zustimmung bestimmter Aktionärsgruppen durch Sonderbeschluss (§ 141) sowie das Unterbleiben eines Widerspruchs durch ein bestimmtes Quorum (§ 93 Abs. 4 Satz 3). Das häufigste zusätzliche Erfordernis ist die zusätzliche Kapitalmehrheit.66) Bei Kapitalmehrheit stellt das Gesetz nicht auf eingetragenes oder in der Hauptversammlung vertretenes Grundkapital, sondern auf „in der Beschlussfassung“ vertretenes Grundkapital ab. In der Beschlussfassung vertreten sind Aktien, für _____________ 60) 61) 62) 63) 64) 65) 66)

BGH, Urt. v. 13.3.1980 – II ZR 54/78, NJW 1980, 1465, 1467 f.; K. Schmidt, GesR, § 28 IV. e) bb). Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 51; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 41 Rz. 1. BGH, Urt. v. 4.7.1994 – II ZR 114/93, ZIP 1994, 1171; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 48. K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 44; Austmann in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 40 Rz. 52. Vgl. Übersicht bei Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 32. BGH, Urt. v. 20.3.1995 – II ZR 205/94, ZIP 1995, 819; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 133 Rz. 12. Vgl. Übersicht bei Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 37.

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die bei der Beschlussfassung eine gültige Stimme abgegeben wird.67) Enthaltungen, nicht abgegebene, nichtige oder ungültige Stimmen zählen nicht. Sind stimmrechtslose Vorzugsaktien stimmberechtigt (siehe § 140 Rz. 8 ff.) und wird das Stimmrecht ausgeübt, gelten sie als in der Beschlussfassung vertreten. 26 Die Satzung kann grundsätzlich beliebig zusätzliche Erfordernisse schaffen, diese erweitern und ergänzen. Insbesondere kann die Satzung die erforderliche Mehrheit bis zur Einstimmigkeit anheben. Die Erhöhung der Mehrheitserfordernisse ist aber ausgeschlossen, soweit das Gesetz ausdrücklich die einfache Mehrheit vorgibt (§§ 103 Abs. 2 Satz 2, 113 Abs. 1 Satz 4, 142 Abs. 1 Satz 1, 147 Abs. 1).68) Neben höheren Mehrheitserfordernissen oder zusätzlicher Kapitalmehrheiten kann die Satzung auch ein Zustimmungserfordernis aller Aktionäre vorsehen; nicht aber Zustimmungsvorbehalte zugunsten einzelner Aktionäre, anderer Organe oder Dritter.69) Auch zusätzliche materielle Anforderungen, z. B. Erfordernis sachlicher Rechtfertigung oder das Aushebeln des Mehrheitsprinzips durch Los- oder Stichentscheid bei Pattsituation, sind unzulässig.70) Die Satzung kann aber Mindestteilnehmerquoten für die Hauptversammlung oder die Beschlussfassung festlegen (siehe Rz. 8). 27 Auch die Reduzierung gesetzlich geregelter zusätzlicher Erfordernisse durch die Satzung ist teilweise möglich, z. B. bei § 179 Abs. 2 Satz 1 oder § 182 Abs. 1 Satz 2. Die allgemeine Klausel, wonach Hauptversammlungsbeschlüsse „soweit zulässig mit einfacher Mehrheit gefasst werden“ reicht dafür aber nach h. M. nicht; sofern eine Satzungsklausel nicht eindeutig ist, gilt im Zweifel die gesetzliche Regelung.71) IV.

Wahlen

28 Für Wahlbeschlüsse gelten gleiche Vorgaben wie für sonstige Hauptversammlungsbeschlüsse, insbesondere auch das Prinzip der einfachen Stimmenmehrheit (§ 133 Abs. 1). Gemäß § 133 Abs. 2 kann die Satzung aber für Wahlen andere Bestimmungen treffen, insbesondere auch eine geringere Mehrheit als einfache Stimmenmehrheit genügen lassen. Wahlentscheidungen i. S. von § 133 Abs. 2 sind grundsätzlich alle Personalentscheidungen durch die Hauptversammlung. § 133 Abs. 2 gilt also für die Aufsichtsratswahl (§ 101 Abs. 1), die Wahl des Abschlussprüfers (§ 318 HGB) und die Wahl des Abwicklers (§ 265 Abs. 2).72) Auch die Wahl zum Sonderprüfer (§ 142 Abs. 1) und zum besonderen Vertreter (§ 147 Abs. 1) sind Personalentscheidungen, da aber das Gesetz in diesen Fällen ausdrücklich das Erfordernis der einfachen Stimmenmehrheit regelt, kann die Satzung weder höhere (siehe Rz. 25) noch niedrigere Mehrheiten anordnen. Da nach h. M. die ausdrückliche Anordnung der einfachen Stimmenmehrheit in einer Spezialregelung der allgemeinen Erlaubnis zur statutarischen Festlegung höherer Mehrheitserfordernisse in § 133 Abs. 1 vorgeht, muss dies auch für die allgemeine Erlaubnis zur statutarischen Festlegung niedrigerer Mehrheitserfordernisse bei Wahlen in § 133 Abs. 2 gelten.

_____________ 67) Grundmann in: GroßKomm-AktG, § 133 Rz. 108; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 30. 68) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 44; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 133 Rz. 15; Arnold in: MünchKomm-AktG, § 133 Rz. 60. 69) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 36; Grundmann in: GroßKomm-AktG, § 133 Rz. 123; Arnold in: MünchKomm-AktG, § 133 Rz. 64. 70) Arnold in: MünchKomm-AktG, § 133 Rz. 65; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 46. 71) BGH, Urt. v. 29.6.1987 – II ZR 242/86, ZIP 1987, 1176 = NJW 1988, 260; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 45. 72) Hölters-Hirschmann, AktG, § 133 Rz. 44.

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§ 133

Der weite Rahmen des § 133 Abs. 2 erlaubt grundsätzlich Satzungsregelungen, die vom 29 Einstimmigkeitserfordernis bis zur relativen Mehrheit reichen.73) Bei Wahl durch relative Mehrheit ist der Kandidat gewählt, für den die meisten Stimmen abgegeben wurden, auch wenn absolut betrachtet, die Mehrheit gegen ihn gestimmt hat.74) Die Satzung kann bei Stimmengleichheit einen Losentscheid vorsehen.75) Die Zulässigkeit der Einführung eines Stichentscheids durch einzelne Personen ist umstritten.76) Die h. M. hält jedenfalls den Stichentscheid durch außenstehende Dritte für unzulässig, da die Wahl anderenfalls fremdbestimmt wäre.77) Außerdem steht solchen Klauseln der Grundsatz „kein Stimmrecht ohne Aktie“ (siehe § 12 Rz. 3) entgegen. Ob die Satzung ein Stichentscheidungsrecht eines Aktionärs vorsehen kann, ist strittig. Ein satzungsmäßiges Stichentscheidungsrecht zugunsten eines bestimmten Aktionärs ist nach richtiger Auffassung unzulässig, da das Verbot der Mehrstimmrechte (§ 12 Abs. 2) unterlaufen würde.78) Teilweise wird ein Stichentscheid durch den Versammlungsleiter für zulässig erachtet, sofern dieser Aktionär ist.79) Alternativ wird die Wahl des zum Stichentscheid befugten Aktionärs durch die Hauptversammlung vorgeschlagen.80) Im Ergebnis erscheint die Einführung eines Losentscheids – ggf. mit vorgeschaltetem zweitem Wahlgang81) – als sinnvollster Weg zur Lösung von PattSituationen. Nach h. M. ist auch die Verhältniswahl, bei der in einem Wahlgang gleichzeitig mehrere Personen in der Reihenfolge der für sie abgegebenen Stimmen gewählt werden, zulässig.82) Dadurch wird die Chance erhöht, dass auch Vertreter von Minderheitsaktionären gewählt werden. Verbreitet und auch zulässig (siehe Rz. 11) ist die sog. Listenwahl bzw. Blockwahl.83) 30 Die Zulässigkeit kann durch Satzung bestätigt werden.84) Bei der Listenwahl wird mit einer Abstimmung über die Besetzung aller vakanter Posten entschieden; die Wahl kann nur einheitlich für alle Kandidaten angenommen oder abgelehnt werden. Findet ein Listenwahlantrag keine Mehrheit, muss über den Kandidaten per Einzelwahl abgestimmt werden.85) Ein Aktionär hat keinen Anspruch auf Einzelwahl; er kann nur gegen den Listenwahlantrag stimmen und durch mehrheitliche Ablehnung des Listenwahlantrages die Einzelwahl herbeiführen. Ein entsprechender Hinweis des Versammlungsleiters ist nicht _____________ 73) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 50; Arnold in: MünchKomm-AktG, § 133 Rz. 91; Austmann in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 40 Rz. 81. 74) Zöllner in: KölnKomm-AktG, § 133 Rz. 173. 75) BGH, Urt. v. 14.11.1988 –II ZR 82/88, ZIP 1989, 163 = NJW 1989, 904; Zöllner in: KölnKommAktG, § 133 Rz. 172; a. A. nur Heidel-Müller, AktR, § 133 AktG Rz. 14 – ohne nähere Begründung. 76) Kritisch dazu Füchsel, NZG 2018, 416 ff. 77) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 55; Arnold in: MünchKomm-AktG, § 133 Rz. 92; HöltersHirschmann, AktG, § 133 Rz. 46; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 133 Rz. 32; Heidel-Müller, AktR, § 133 AktG Rz. 14; a. A. Austmann in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 40 Rz. 90. 78) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 55; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 51; a. A. Zöllner in: KölnKomm-AktG, § 133 Rz. 172; differenzierend Arnold in: MünchKomm-AktG, § 133 Rz. 92. 79) Grundmann in: GroßKomm-AktG, § 133 Rz. 126; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 51. 80) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 51. 81) So der Vorschlag von K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 52. 82) Zöllner in: KölnKomm-AktG, § 133 Rz. 174 ff.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 133 Rz. 33; K. Schmidt/ Lutter-Spindler, AktG, § 133 Rz. 54; Heidel-Müller, AktR, § 133 AktG Rz. 15; a. A. Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 40 Rz. 91; a. A. Mertens in: KölnKomm-AktG, § 101 Rz. 23. 83) BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 185/07, ZIP 2009, 460, 465 mit Anm. Mutter, dazu EWiR 2010, 343 (Herchen); Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 57; Fuhrmann, ZIP 2004, 2081, 2085; vgl. auch BGH, Urt. v. 21.7.2003 – II ZR 109/02, ZIP 2003, 1788 – Zulässigkeit von Blockabstimmungen; a. A. Ramm, NJW 1991, 2753, 2754. 84) BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 185/07, ZIP 2009, 460, 465 mit Anm. Mutter. 85) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 57.

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§ 134

Stimmrecht

erforderlich, sollte aber aus Vorsichtsgründen erfolgen.86) Für börsennotierte Gesellschaften enthält C.15 DCGK die Empfehlung Aufsichtsratswahlen per Einzelwahl durchzuführen. 31 Werden bei der Wahl für den Aufsichtsrat mehrere Kandidaten für eine freie Position vorgeschlagen, entscheidet der Versammlungsleiter über das Wahlverfahren nach pflichtgemäßem Ermessen. Dabei ist insbesondere der aktienrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz zu beachten, der verlangt, dass bei Abstimmungen grundsätzlich jede Stimme die gleichen Erfolgschancen hat. Ein Verstoß führt zur Anfechtbarkeit des Wahlbeschlusses. Der Versammlungsleiter kann als Erstes denjenigen Vorschlag zur Abstimmung stellen, dem er die größten Erfolgsaussichten einräumt.87) 32 Insbesondere beim Sukzessivwahlverfahren besteht eine immanente Gefahr der Ungleichbehandlung, da die Abstimmungsreihenfolge das Wahlergebnis beeinflussen kann. Das Alternativwahlverfahren verstößt nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, jedoch besteht dabei ein erhöhtes Risiko, dass keine der zur Abstimmung gestellten Kandidaten die erforderliche Mehrheit der abgegebenen Stimmen (in der Regel einfache Mehrheit) erhält. Die Simultanwahl stellt daher das rechtssicherste und in der Regel auch zweckmäßigste Abstimmungsverfahren dar.88) 33 Bei der Simultanwahl handelt es sich um eine Einzelwahl, die in einem Abstimmungsvorgang zusammengefasst wird, ohne dass dies etwas am Charakter der Einzelwahl ändert. Die Simultanwahl verletzt nicht C.15 DCGK und führt nicht zur Anfechtbarkeit des Wahlbeschlusses, auch wenn Einzelwahl angekündigt war.89) _____________ 86) BGH, Urt. v. 16.2.2009 – II ZR 185/07, ZIP 2009, 460, 465 mit Anm. Mutter; OLG München, Urt. v. 27.8.2008 – 7 U 5678/07, ZIP 2008, 1916; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 133 Rz. 58; Fuhrmann, ZIP 2004, 2081; a. A. LG München, Urt. v. 15.4.2004 – 5 HK O 10813/03, ZIP 2004, 853; offenlassend BGH, Urt. v. 21.7.2003 – II ZR 109/02, ZIP 2003, 1788. 87) LG München I, Urt. v. 31.3.2016 – 5 HK O 14432/15, ZIP 2016, 973, dazu EWiR 2016, 463 (v. d. Linden), hierzu auch Schulteis, GWR 2016, 398 (Urteilsanm.). 88) Austmann/Rühle, AG 2011, 805. 89) LG München I, Urt. v. 31.3.2016 – 5 HK O 14432/15, ZIP 2016, 973, dazu EWiR 2016, 463 (v. d. Linden), hierzu auch Schulteis, GWR 2016, 398 (Urteilsanm.).

§ 134 Stimmrecht Boris Dürr

(1) 1Das Stimmrecht wird nach Aktiennennbeträgen, bei Stückaktien nach deren Zahl ausgeübt. 2Für den Fall, daß einem Aktionär mehrere Aktien gehören, kann bei einer nichtbörsennotierten Gesellschaft die Satzung das Stimmrecht durch Festsetzung eines Höchstbetrags oder von Abstufungen beschränken. 3Die Satzung kann außerdem bestimmen, daß zu den Aktien, die dem Aktionär gehören, auch die Aktien rechnen, die einem anderen für seine Rechnung gehören. 4Für den Fall, daß der Aktionär ein Unternehmen ist, kann sie ferner bestimmen, daß zu den Aktien, die ihm gehören, auch die Aktien rechnen, die einem von ihm abhängigen oder ihn beherrschenden oder einem mit ihm konzernverbundenen Unternehmen oder für Rechnung solcher Unternehmen einem Dritten gehören. 5Die Beschränkungen können nicht für einzelne Aktionäre angeordnet werden. 6Bei der Berechnung einer nach Gesetz oder Satzung erforderlichen Kapitalmehrheit bleiben die Beschränkungen außer Betracht. (2) 1Das Stimmrecht beginnt mit der vollständigen Leistung der Einlage. 2Entspricht der Wert einer verdeckten Sacheinlage nicht dem in § 36a Abs. 2 Satz 3 genannten Wert, so steht dies dem Beginn des Stimmrechts nicht entgegen; das gilt nicht, wenn der 1100

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§ 134

Stimmrecht

Wertunterschied offensichtlich ist. 3Die Satzung kann bestimmen, daß das Stimmrecht beginnt, wenn auf die Aktie die gesetzliche oder höhere satzungsmäßige Mindesteinlage geleistet ist. 4In diesem Fall gewährt die Leistung der Mindesteinlage eine Stimme; bei höheren Einlagen richtet sich das Stimmenverhältnis nach der Höhe der geleisteten Einlagen. 5Bestimmt die Satzung nicht, daß das Stimmrecht vor der vollständigen Leistung der Einlage beginnt, und ist noch auf keine Aktie die Einlage vollständig geleistet, so richtet sich das Stimmenverhältnis nach der Höhe der geleisteten Einlagen; dabei gewährt die Leistung der Mindesteinlage eine Stimme. 6Bruchteile von Stimmen werden in diesen Fällen nur berücksichtigt, soweit sie für den stimmberechtigten Aktionär volle Stimmen ergeben. 7Die Satzung kann Bestimmungen nach diesem Absatz nicht für einzelne Aktionäre oder für einzelne Aktiengattungen treffen. (3) 1Das Stimmrecht kann durch einen Bevollmächtigten ausgeübt werden. 2Bevollmächtigt der Aktionär mehr als eine Person, so kann die Gesellschaft eine oder mehrere von diesen zurückweisen. 3Die Erteilung der Vollmacht, ihr Widerruf und der Nachweis der Bevollmächtigung gegenüber der Gesellschaft bedürfen der Textform, wenn in der Satzung oder in der Einberufung auf Grund einer Ermächtigung durch die Satzung nichts Abweichendes und bei börsennotierten Gesellschaften nicht eine Erleichterung bestimmt wird. 4Die börsennotierte Gesellschaft hat zumindest einen Weg elektronischer Kommunikation für die Übermittlung des Nachweises anzubieten. 5Werden von der Gesellschaft benannte Stimmrechtsvertreter bevollmächtigt, so ist die Vollmachtserklärung von der Gesellschaft drei Jahre nachprüfbar festzuhalten; § 135 Abs. 5 gilt entsprechend. (4) Die Form der Ausübung des Stimmrechts richtet sich nach der Satzung. Literatur: Bayer/Scholz, Der Legitimationsaktionär – Aktuelle Fragen aus der gerichtlichen Praxis, NZG 2013, 721; Bunke, Fragen der Vollmachtserteilung nach §§ 134, 135 AktG, AG 2002, 57; Götze, Erteilung von Stimmrechtsvollmachten nach dem ARUG, NZG 2010, 93; Grundmann/Winkler, Das Aktionärsstimmrecht in Europa und der Kommissionsvorschlag zur Stimmrechtsausübung in börsennotierten Gesellschaften, ZIP 2006, 1421; Habersack, Aktienrecht und Internet, ZHR 165 (2001) 172; Heckschen, Formwechsel und Stimmrechtsvollmachten, NZG 2017, 721; Heckschen/Kreußlein, Fehler und Berichtigungsmöglichkeiten der notariellen Niederschrift über die Hauptversammlung einer AG, NZG 2018, 401; Hoffmann, Einzelentlastung, Gesamtentlastung und Stimmverbote im Aktienrecht, NZG 2010, 290; v. Holten/ Bauerfeind, Die Online-Hauptversammlung in Deutschland und Europa; Horn, Änderungen bei der Vorbereitung und Durchführung der Hauptversammlung nach dem Referentenentwurf zum ARUG, ZIP 2008, 1558; Kiefner/Friebel, Stimmrechtsausübung in der Hauptversammlung durch den Vollmachtgeber trotz fortbestehender Bevollmächtigung eines Vertreters?, NZG 2011, 887; Kindler, Der Aktionär in der Informationsgesellschaft, NJW 2001, 1678; v. d. Linden, Wer entscheidet über die Form der Stimmrechtsausübung in der Hauptversammlung, NZG 2012, 930; Martens, Stimmrechtsbeschränkung und Stimmbindungsvertrag im Aktienrecht, AG 1993, 495; Max, Die Leitung der Hauptversammlung, AG 1991, 77; v. Nussbaum, Neue Wege zur Online-Hauptversammlung durch das ARUG, GWR 2009, 215; Otto, Die Verteilung der Kontrollprämie bei Übernahme von Aktiengesellschaften und die Funktion des Höchststimmrechts, AG 1994, 167; Schockenhoff, Proxy Fights, NZG 2015, 657; Simons, Die Online-Abstimmung in der Hauptversammlung, NZG 2017, 567; Stüber, Der Einfluss von „Proxies“ in der Hauptversammlung, WM 2020 Heft 5, 211; Wettich, Aktuelle Entwicklungen in der Hauptversammlungssaison 2011 und Ausblick auf 2012, NZG 2011, 721; Zetzschke, Know your Shareholder, der intermediärsgestützte Aktionärsbegriff und das Hauptversammlungsverfahren, ZGR 2019, 1.

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§ 134

Stimmrecht Übersicht

I. Regelungsgegenstand und -zweck ................................................ 1 II. Stimmkraft ........................................ 3 1. Grundsatz ........................................... 3 2. Höchststimmrechte ........................... 4 a) Überblick ..................................... 4 b) Einführung durch die Satzung ......................................... 5 c) Ausgestaltung .............................. 8 d) Zurechnung .................................. 9 III. Entstehung des Stimmrechts ........ 12 1. Grundsatz ......................................... 12 2. Abweichende Satzungsregelung ............................................ 13 3. Auffangregelung .............................. 14 I.

IV. Ausübung des Stimmrechts durch Dritte ..................................... 15 1. Stimmrechtsinhaber ......................... 15 2. Stimmrechtsvollmacht, Abspaltungsverbot ....................................... 16 a) Person des Bevollmächtigten, Proxy-Voting .............................. 18 b) Erteilung, Erlöschen und Widerruf ...................................... 20 c) Form und Nachweis ................... 22 d) Ermächtigung zur Ausübung des Stimmrechts, Legitimationszession ................................... 26 V. Form der Stimmrechtsausübung .... 27

Regelungsgegenstand und -zweck

1 § 134 regelt die Stimmrechtsausübung. Das Bestehen des Stimmrechts als unverzichtbares und unentziehbares Recht jedes Inhabers stimmberechtigter Aktien ergibt sich aus § 12 Abs. 1 (siehe § 12 Rz. 2). § 134 enthält ergänzende Regelungen zur Stimmkraft, Entstehung des Stimmrechts, Stimmrechtsausübung durch Dritte und zur Form der Stimmabgabe. 2 Die Vorschrift ist zwingender Natur, so dass sie, mit Ausnahme der ausdrücklich geregelten Gestaltungsfreiheit bei formellen Anforderungen an Stimmvollmachten (§ 134 Abs. 3 Satz 3) und der Form der Stimmabgabe (§ 134 Abs. 4), durch die Satzung weder ergänzt noch modifiziert werden kann.1) Insbesondere kann die Satzung keine zusätzlichen Stimmverbote, z. B. bei Verstoß gegen Satzungspflichten, einführen.2) Greift ein Stimmverbot oder Stimmrechtsausschluss (siehe § 133 Rz. 13 und § 136 Rz. 4 ff.), ist § 134 suspendiert. Auf stimmrechtslose Vorzugsaktien (§ 139 Abs. 1) findet § 134 keine Anwendung.3) II.

Stimmkraft

1.

Grundsatz

3 § 134 Abs. 1 regelt die Stimmkraft der Aktien, wobei das Gesetz den Begriff der Stimmkraft nicht kennt. Die h. M. definiert „Stimmkraft“ als das Gewicht der einzelnen Aktie bei Abstimmungen in der Hauptversammlung.4) § 134 Abs. 1 Satz 1 bestimmt als Grundsatz, dass sich das Stimmrecht bei Nennbetragsaktien (§ 8 Abs. 2) nach den Aktiennennbeträgen und bei Stückaktien (§ 8 Abs. 3) nach der Zahl der Aktien bemisst. Die Stimmkraft aus stimmberechtigten Aktien richtet sich daher proportional nach dem Umfang der kapitalmäßigen Beteiligung (Proportionalitätsgrundsatz; zu Ausnahmen siehe Rz. 4 und Rz. 12 ff.).5) Bei Stückaktien, die gemäß § 8 Abs. 3 Satz 2 zwingend einen gleichen Anteil am Grundkapital repräsentieren, gilt der Grundsatz „one share, one vote“. Bei Nennbetragsaktien gilt dies, wenn alle Aktien auf den gleichen Nennbetrag lauten. Existieren Aktien mit unter_____________ 1) 2) 3) 4) 5)

K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 3; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 1. Heidel-Müller, AktR, § 134 AktG Rz. 6; vgl. dazu auch ÖstOGH, Urt. v. 30.8.2000 – 6 Ob 167/00b, NZG 2001, 322. Heidel-Müller, AktR, § 134 AktG Rz. 1. K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 6; Bürgers/Körber/Lieder-Holzborn, AktG, § 134 Rz. 3. Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 6; Arnold in: MünchKomm-AktG, § 134 Rz. 4.

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schiedlichen Nennbeträgen (siehe § 8 Rz. 7) entfällt auf jede Aktie mit dem niedrigsten Nennbetrag eine Stimme und auf Aktien mit höheren Nennbeträgen jeweils das entsprechende Vielfache.6) Lassen sich höhere Nennbeträge nicht durch den niedrigsten Nennbetrag teilen, gewährt der größte gemeinsame Divisor eine Stimme. Der Proportionalitätsgrundsatz gilt nicht bei stimmrechtslosen Vorzugsaktien (§ 139 Abs. 1), bei Aktien mit Mehrstimmrecht sowie bei satzungsmäßigen Höchststimmrechten (§ 134 Abs. 1 Satz 2). 2.

Höchststimmrechte

a)

Überblick

§ 134 Abs. 1 Satz 2 gestattet nicht börsennotierten Gesellschaften die Einführung von 4 Höchststimmrechten. Bei börsennotierten Gesellschaften (§ 3 Abs. 2) sind Höchststimmrechte nicht zulässig. Sofern Aktien nur im Freiverkehr (§ 48 BörsG) gehandelt werden, sind Höchststimmrechte zulässig, da die Gesellschaft nicht als börsennotiert gilt (siehe § 3 Rz. 7). Die Existenz von Höchststimmrechten, aber auch die Beschränkung auf nicht börsennotierte Gesellschaften, sind rechtspolitisch umstritten.7) Werden Höchststimmrechte missachtet, ist die Stimmabgabe insoweit unwirksam und der Beschluss anfechtbar.8) Nach § 134 Abs. 1 Satz 6 gelten Höchststimmrechte nicht bei Kapitalmehrheiten. b)

Einführung durch die Satzung

Höchststimmrechte können gemäß § 134 Abs. 2 Satz 1 nur durch Satzung begründet wer- 5 den. Eine diesbezügliche Ermächtigung von Vorstand oder Aufsichtsrat ist unzulässig; Gleiches gilt, wenn die Hauptversammlung die Einführung von Höchststimmrechten beschließt, dem Vorstand aber die Entscheidung über die Anmeldung zum Handelsregister überlässt.9) Höchststimmrechte können durch die Gründungssatzung oder Satzungsänderung eingeführt werden, wobei Letzteres nach h. M. auch dann keiner Zustimmung einzelner Aktionäre bedarf, wenn deren Beteiligung bereits den zukünftigen Höchstbetrag übersteigt.10) Die Einführung bedarf auch keiner sachlichen Rechtfertigung.11) Wenn das Höchststimmrecht nur für bestimmte Aktiengattung eingeführt wird (siehe 6 Rz. 8), bedarf es gemäß § 179 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 eines zustimmenden Sonderbeschlusses dieser Gattung, der mit einfacher Stimmenmehrheit und 3/4-Mehrheit des vertretenen Grundkapitals (der jeweiligen Gattung) zustande kommt.12) Höchststimmrechte können durch Satzungsänderung aufgehoben werden. Der Beschluss 7 bedarf der qualifizierten Mehrheit nach § 179 Abs. 2, weitere Erfordernisse bestehen vorbehaltlich abweichender Satzungsregelung nicht.13) Soll nur für eine bestimmte Gattung das

_____________ 6) Arnold in: MünchKomm-AktG, § 134 Rz. 5 mit Bsp.; Hölters-Hirschmann, AktG, § 134 Rz. 8. 7) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 8 f.; Grundmann/Winkler, ZIP 2006, 1421; Otto, AG 1994, 167. 8) Hölters-Hirschmann, AktG, § 134 Rz. 22; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 17a. 9) LG Frankfurt/M., Urt. v. 29.1.1990 – 3/1 O 109/89, ZIP 1990, 1406 = AG 1990, 169; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 39 Rz. 18. 10) BGH, Urt. v. 19.12.1977 – II ZR 136/76, NJW 1978, 540; OLG Düsseldorf, Urt. v. 21.6.1976 – 6 U 276/75, AG 1976, 215; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 12; a. A. Zöllner in: KölnKommAktG, § 134 Rz. 48; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 21 – aber nur bei Ungleichbehandlung der Aktionäre. 11) Hölters-Hirschmann, AktG, § 134 Rz. 19; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 13. 12) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 27; Arnold in: MünchKomm-AktG, § 134 Rz. 23. 13) Grundmann in: GroßKomm-AktG, § 134 Rz. 64; Bürgers/Körber/Lieder-Holzborn, AktG, § 134 Rz. 7.

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geltende Höchststimmrecht aufgehoben werden, bedarf es gemäß § 179 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 eines zustimmenden Sonderbeschlusses jeder bislang begünstigten Gattung.14) c)

Ausgestaltung

8 Höchststimmrechte können für alle oder nur für bestimmte Beschlussgegenstände gelten.15) Als Obergrenze können bei Nennbetragsaktien ein bestimmter Gesamtnennbetrag oder bei Stückaktien eine bestimmte Gesamtzahl an Aktien festgelegt werden. Alternativ kann auch auf den Anteil am Grundkapital abgestellt werden. Anknüpfungspunkt muss aber stets die Beteiligungshöhe des Aktionärs an der Gesellschaft sein.16) Ein Anknüpfungspunkt, der nicht die Beteiligung betrifft (z. B. Umsatz) ist unzulässig. Beim Betrag der Obergrenze gelten keine Beschränkungen. Sogar die Beschränkung jedes Aktionärs auf eine Stimme ist zulässig („one man, one vote“). Möglich ist auch ein stufenweises Entfallen der Stimmrechte.17) Unzulässig sind allerdings Abstufungen, bei denen sich das Stimmrecht ab einer gewissen Schwelle wieder erhöht.18) Die Beschränkung durch Höchststimmrechte betrifft den Aktionär und nicht die Aktien. Werden die Aktien übertragen, müssen die Voraussetzungen also beim Erwerber neu geprüft werden.19) Ein Höchststimmrecht, welches nur bestimmte Aktionäre erfasst, ist gemäß § 134 Abs. 1 Satz 5 unzulässig; zulässig sind aber nach h. M. Höchststimmrechte nur für bestimmte Aktiengattungen.20) d)

Zurechnung

9 § 134 Abs. 1 Satz 3 und Satz 4 ermächtigen den Satzungsgeber durch die Gründungssatzung oder durch Satzungsänderung die Zurechnung der Aktien Dritter vorzusehen, um die Umgehung von Höchststimmrechten zu verhindern. Das Gesetz sieht keine Zurechnung vor. Durch Aufspaltung des Aktienbesitzes auf mehrere Personen kann daher das Höchststimmrecht umgangen werden. Die Zurechnung aufgrund allgemeiner Grundsätze scheidet nach h. M. ebenso aus wie die analoge Anwendung des § 134 Abs. 1 Satz 3 und Satz 4.21) Die Satzung kann nur die in § 134 Abs. 1 genannten und keine anderen Zurechnungstatbestände begründen. 10 § 134 Abs. 1 Satz 3 erlaubt die Zurechnung von Aktien, die ein Dritter für Rechnung des Aktionärs hält. Entscheidend ist, dass nicht der Dritte, sondern der Aktionär das wirtschaftliche Risiko aus den Aktien trägt.22) Da es auf das wirtschaftliches Risiko ankommt, führen Stimmbindungsverträge nur ausnahmsweise zur Zurechnung.23) § 134 Abs. 1 Satz 4 gestattet das einem unternehmerischen Aktionär Aktien zugerechnet werden, die einem von ihm abhängigen, ihn beherrschenden oder mit ihm konzernverbundenen Unternehmen oder für Rechnung solcher Unternehmen einem Dritten gehören. § 134 Abs. 1 Satz 4 ist eng auszulegen.24) Die Zurechnung kann nur bei Abhängigkeit gemäß § 17 bzw. Beherr_____________ 14) Arnold in: MünchKomm-AktG, § 134 Rz. 23; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 14. 15) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 19; Hölters-Hirschmann, AktG, § 134 Rz. 12; Heidel-Müller, AktR, § 134 AktG Rz. 14. 16) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 15; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 6. 17) Arnold in MünchKomm-AktG, § 134 Rz. 10, Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 16 – jeweils mit Bsp. 18) Zöllner in: KölnKomm-AktG, § 134 Rz. 87 ff.; Bürgers/Körber/Lieder-Holzborn, AktG, § 134 Rz. 5. 19) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 13. 20) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 14; Arnold in MünchKomm-AktG, Rz. 12; a. A. Zöllner in: KölnKomm-AktG, § 134 Rz. 115 ff. 21) Arnold in: MünchKomm-AktG, § 134 Rz. 16; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 28; a. A. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 12. 22) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 25; Martens, AG 1993, 495, 500. 23) Arnold in: MünchKomm-AktG, § 134 Rz. 18; Martens, AG 1993, 495, 499. 24) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 39 Rz. 17; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 11.

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schung gemäß § 18 greifen. Eine Mehrheitsbeteiligung alleine genügt nicht, aber die Vermutung des § 17 Abs. 2 gilt unabhängig davon, ob Satzung darauf verweist.25) Folge der Zurechnung ist die Addition der Stimmen aus den zugerechneten Aktien. Die 11 Stimmrechte der betroffenen Aktionäre werden dann gekürzt bis insgesamt die Obergrenze des Höchststimmrechts gewahrt ist. Die Kürzung erfolgt proportional, sofern sich die Betroffenen nicht vor Feststellung des Abstimmungsergebnisses auf eine andere Kürzung einigen.26) III.

Entstehung des Stimmrechts

1.

Grundsatz

Gemäß § 134 Abs. 2 Satz 1 entsteht das Stimmrecht mit vollständiger Leistung der Ein- 12 lage. Die Vorschrift gilt bei Bar- und Sacheinlagen. Damit das Stimmrecht entsteht, muss der gesamte Ausgabebetrag einschließlich des Aufgeldes (§ 9 Abs. 2) geleistet sein; die Leistung nur des eingeforderten Betrages gemäß § 36 AktG genügt vorbehaltlich abweichender Satzungsregelung gemäß § 134 Abs. 2 Satz 3 nicht.27) Die Einlageleistung muss den Vorgaben aus § 54 Abs. 2 und 3 entsprechen und zur freien Verfügung des Vorstandes (siehe § 36 Rz. 15 ff.) stehen. In welcher Höhe die Einlage aufgrund Gesetz, Satzung, Kapitalerhöhungsbeschluss oder Einforderung durch den Vorstand fällig war, spielt keine Rolle, ausschlaggebend ist der tatsächlich eingezahlte Betrag.28) Nach § 134 Abs. 2 Satz 2 gelten verdeckte Sacheinlagen auch bei fehlender Werthaltigkeit als geleistet. Nur wenn eine Überbewertung offensichtlich, also ohne zusätzliche Nachforschungen und ohne jeden Zweifel feststellbar ist, entsteht das Stimmrecht nicht.29) 2.

Abweichende Satzungsregelung

Die Satzung kann festlegen, dass das Stimmrecht bereits mit Leistung der gesetzlichen 13 Mindesteinlage gemäß § 36a Abs. 1 oder höherer satzungsmäßiger Mindesteinlage entsteht. Die Satzungsregelung gilt dann zwingend für alle Aktionäre. Sonderregeln sind gemäß § 134 Abs. 2 Satz 7 weder für einzelne Aktionäre noch für Aktionärsgattungen zulässig. Die Satzungsregelung muss an die gesetzliche oder satzungsmäßige Mindesteinlage anknüpfen – andere Beträge können nicht als Maßstab dienen.30) Macht die Satzung davon Gebrauch, richtet sich die Stimmkraft nach der geleisteten Einlage, wobei es nicht auf die Fälligkeit der Einlage ankommt (siehe Rz. 2). Nach § 134 Abs. 2 Satz 4 gewährt dann der Mindesteinlagebetrag eine Stimme und über die Mindesteinlage hinausgehende Einlagen gewähren wiederum je tatsächlich eingezahltem Mindesteinlagebetrag eine weitere Stimme.31) § 134 Abs. 2 Satz 4 ist zwingend und kann nicht durch die Satzung modifiziert werden. Stimmbruchteile verfallen nach § 134 Abs. 2 Satz 6, soweit sich nicht mehrere Bruchteile bei einem Aktionär zu einer weiteren Stimme aufaddieren lassen.32) _____________ 25) 26) 27) 28) 29) 30)

31) 32)

Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 23; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 26. K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 27; Hölters-Hirschmann, AktG, § 134 Rz. 17. Hölters-Hirschmann, AktG, § 134 Rz. 23; Arnold in: MünchKomm-AktG, § 134 Rz. 3. Arnold in: MünchKomm-AktG, § 134 Rz. 3; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 5; a. A. Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 16. Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 31; Hölters-Hirschmann, AktG, § 134 Rz. 25. Zöllner in: KölnKomm-AktG, § 134 Rz. 144 ff.; Bürgers/Körber/Lieder-Holzborn, AktG, § 134 Rz. 14; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 19; a. A. K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 36; HoffmannBecking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 39 Rz. 8. Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 19. K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 34; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 34.

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§ 134 3.

Stimmrecht Auffangregelung

14 Hat kein Aktionär seine Einlage voll geleistet und regelt die Satzung kein vorzeitiges Entstehen des Stimmrechts, greift die Auffangregelung des § 134 Abs. 2 Satz 5. Um Beschlussunfähigkeit zu vermeiden, gilt dann das Stimmrecht nach der Höhe der geleisteten Einlage. Die Mindesteinlage gewährt jeweils eine Stimme, darüber hinausgehende Einlagen gewähren wiederum je Mindesteinlagebetrag weitere Stimmen. Sobald ein Aktionär seine Einlage voll leistet, tritt die Auffangregelung außer Kraft und teileingezahlte Aktien verlieren ihr Stimmrecht. IV.

Ausübung des Stimmrechts durch Dritte

1.

Stimmrechtsinhaber

15 Stimmrechtsinhaber ist grundsätzlich der Inhaber der Aktie, auch wenn Aktien nur treuhänderisch oder mittels Aktienleihe übertragen wurden.33) Bei Verpfändung verbleibt das Stimmrecht beim Aktionär; ebenso beim Nießbrauch (streitig).34) Halten mehrere Personen gemeinschaftlich Aktien, kann das Stimmrecht nur durch einen gemeinschaftlichen Vertreter ausgeübt werden (§ 69 Abs. 1). Betroffen sind Bruchteils-, Erben- und eheliche Gütergemeinschaften, nicht aber Personengesellschaften und juristische Personen, bei denen Stimmrecht durch organschaftliche Vertreter ausgeübt wird. Organschaftliche Vertretung ist keine Stimmrechtsausübung durch Bevollmächtigten i. S. von § 134 Abs. 3.35) Gesetzliche Vertreter, z. B. Eltern, Vormund, Pfleger. Insolvenzverwalter und andere Amtswalter, üben das Stimmrecht im eigenen Namen aus.36) 2.

Stimmrechtsvollmacht, Abspaltungsverbot

16 Das Stimmrecht ist kein höchstpersönliches Recht, so dass § 134 Abs. 3 daher Stimmrechtsvollmachten uneingeschränkt zulässt. Die Einschaltung eines Stimmboten ist aber unzulässig,37) ebenso die Vertretung ohne Vertretungsmacht (siehe § 133 Rz. 13). Durch Satzung kann die Möglichkeit zur Bevollmächtigung eines Vertreters weder ausgeschlossen noch eine Bevollmächtigung vorgeschrieben werden.38) Eine Beschränkung ergibt sich aus dem Abspaltungsverbot (siehe § 133 Rz. 13), weshalb unwiderrufliche Stimmrechtsvollmachten unzulässig sind.39) Dies gilt auch bei Treuhandverhältnissen (streitig).40) Die Stimmrechtsausübung durch Vertreter wirkt gemäß § 164 Abs. 1 Satz 1 BGB für und gegen den Vertretenen. Verstößt die Ausübung des Stimmrechts gegen gesellschaftsrechtliche Treuepflichten, muss sich der Aktionär dies zurechnen lassen.41) 17 Der Umfang der Vollmacht ist durch Auslegung zu ermitteln. Sofern die Vollmacht keine Beschränkung enthält, ist der Bevollmächtigte in der Hauptversammlung zu allen Rechts_____________ 33) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 7. 34) OLG Koblenz, Urt. v. 16.1.1992 – 6 U 963/91, ZIP 1992, 844 = NJW 1992, 2163; Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 39 Rz. 3; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 41; K. Schmidt/LutterSpindler, AktG, § 134 Rz. 8. 35) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 44 – auch zum Teilnahmerecht und Legitimationsnachweis. 36) Hölters-Hirschmann, AktG, § 134 Rz. 60; Bürgers/Körber/Lieder-Holzborn, AktG, § 134 Rz. 24. 37) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 70; Hölters-Hirschmann, AktG, § 134 Rz. 62. 38) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 58; Arnold in: MünchKomm-AktG, § 134 Rz. 45; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 21. 39) Rieckers in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 17 Rz. 10; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 49. 40) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 49; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 40; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 21. 41) Hoffmann-Becking in: MünchHdb. GesR, Bd. 4, § 37 Rz. 20; Arnold in: MünchKomm-AktG, § 134 Rz. 66.

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handlungen berechtigt, zu denen der Aktionär berechtigt wäre. Die Vollmacht kann aber beschränkt werden, z. B. auf bestimmte Beschlussgegenstände.42) Der Aktionär kann dem Vertreter konkrete Weisungen zur Stimmrechtsausübung, aber auch zur Stellung von Anträgen, etc., erteilen. Weisungen bedürfen nicht der für Vollmachten geltenden Formerfordernisse. a)

Person des Bevollmächtigten, Proxy-Voting

Das Gesetz enthält keine Vorgaben zur Person des Bevollmächtigten; jede natürliche oder 18 juristische Person kann bevollmächtigt werden. Eine Satzungsbestimmung, die die Bevollmächtigung von weiteren Voraussetzungen abhängig macht, widerspricht § 23 Abs. 5 und verletzt damit zwingendes Recht.43) Der Bevollmächtigte muss nicht, kann aber Mitaktionär sein. Die AG selbst oder ihre Organe können nicht bevollmächtigt werden (siehe § 136 Rz. 26); wohl aber einzelne Organmitglieder.44) Mehrfachvertretung ist zulässig; der Vertreter muss nicht von § 181 BGB befreit sein, da dieser bei Beschlussfassungen nicht greift (siehe § 133 Rz. 2). Nach überzeugender Auffassung kann die Satzung die Auswahlfreiheit bei der Person des Bevollmächtigten nicht einschränken; insbesondere eine Beschränkung auf Mitaktionäre ist unzulässig.45) Der Aktionär unterliegt aber bei der Auswahl der Treuepflicht; die Bevollmächtigung einer unzumutbaren Person, z. B. eines direkten Wettbewerbers, kann ausnahmsweise unzulässig sein.46) Die Bevollmächtigung mehrerer Vertreter ist zulässig,47) die Gesellschaft kann aber nach § 134 Abs. 3 Satz 2 einen oder mehrere zurückweisen, solange sie zumindest einen Vertreter zulässt. § 134 Abs. 3 Satz 2 stellt dabei auf den Aktionär und nicht auf die Aktie ab, so dass auch ein Aktionär mit mehreren Aktien nur Anspruch auf Zulassung eines Vertreters hat.48) Dies gilt auch für gesamtvertretungsbefugte Bevollmächtigte; wird nur einer von ihnen zugelassen, müssen die anderen ihm Untervollmacht erteilen. Die Satzung kann Regelungen zur Behandlung mehrerer Bevollmächtigter enthalten oder sogar die Bevollmächtigung mehrerer Personen vollständig ausschließen.49) Bei gesetzlicher oder organschaftlicher Gesamtvertretungsbefugnis gilt das Recht zur Zurückweisung nach § 134 Abs. 3 Satz 2 nicht – die Gesellschaft muss mindestens die zur Vertretung erforderliche Zahl zulassen.50) Dies gilt nicht, wenn die Satzung ausdrücklich Abweichendes bestimmt.51) Nach § 134 Abs. 3 Satz 5 kann auch ein von der Gesellschaft benannter Stimmrechtsver- 19 treter bevollmächtigt werden (Proxy-Voting). Nach Ziff. 1.3 DCGK a. F. sollen börsennotierte Gesellschaften einen Stimmrechtsvertreter benennen. Die Frage, ob die Verwaltung aktiv Vollmachten einwerben darf, ist noch nicht abschließend geklärt.52) Die AG _____________ 42) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 66. 43) OLG Braunschweig, Beschl. v. 27.8.2013 – 2 W 142/12, BeckRS 2014, 20216; LG München I, Urt. v. 20.2.2020 – 5HK O 7924/19, ZIP 2020, 2341. 44) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 50; weitergehend Grundmann in: GroßKomm-AktG, § 134 Rz. 91, der auch Bevollmächtigung eines Organs für zulässig erachtet. 45) OLG Stuttgart, Urt. v. 28.5.1990 – 8 W 203/90, AG 1991, 69, 70; OLG Braunschweig, Beschl. v. 27.8.2013 – 2 W 142/12, BeckRS 2014, 20216; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 58; Spindler/ Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 51; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 25. 46) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 57. 47) Für Einzelheiten vgl. K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 59 ff. 48) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 64; a. A. K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 60. 49) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 64b m. w. N.; a. A. Grundmann in: GroßKomm-AktG, § 134 Rz. 106. 50) Hölters-Hirschmann, AktG, § 134 Rz. 59; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 30. 51) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 65. 52) Schockenhoff, NZG 2015, 657.

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kann einen oder mehrere Stimmrechtsvertreter benennen. Die Benennung muss für die konkrete Hauptversammlung erfolgen. Mitarbeiter der Gesellschaft können als Stimmrechtsvertreter benannt werden,53) Organmitgliedern nach zutreffender h. M. wegen § 136 Abs. 2 nicht.54) Umstritten ist, ob die Bevollmächtigung des Stimmrechtsvertreters mit der Weisung zur Stimmrechtsausübung verbunden sein muss. Sofern ein Arbeitnehmer der AG zum Stimmrechtsvertreter benannt wird, ist im Hinblick auf § 136 Abs. 2 die Weisungserteilung zwingend.55) Bei einem unabhängigen Stimmrechtsvertreter ist Weisung möglich, aber nicht erforderlich.56) Die Weisung kann als Einzelweisung für den jeweiligen Beschlussgegenstand oder als generelle Weisung, z. B. Abstimmung gemäß Verwaltungsvorschlägen, erfolgen. Aktives Einwerben von Vollmachten für Stimmrechtsvertreter durch die AG ist unzulässig – die Übersendung von Vollmachtsvordrucken aber gestattet.57) Die Ausübung der Vollmacht durch Stimmvertreter richtet sich nach § 135 Abs. 5 Sätze 1 – 3, so dass auch verdeckte Stimmrechtsausübung (siehe § 135 Rz. 22) zulässig ist.58) Wenn die Vollmacht nichts anderes bestimmt, wird das Stimmrecht gemäß § 134 Abs. 3 Satz 5 i. V. m. § 135 Abs. 5 Satz 2 durch den Stimmrechtsvertreter der AG im Namen dessen, den es angeht, ausgeübt. Die Vollmacht muss von der Gesellschaft nach § 134 Abs. 3 Satz 5 drei Jahre nachprüfbar festgehalten werden; eine elektronische Speicherung genügt.59) Die Frist berechnet sich nach §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. BGB und beginnt am Tag der Hauptversammlung.60) b)

Erteilung, Erlöschen und Widerruf

20 Die Vollmacht kann als Innenvollmacht (§ 167 Abs. 1 Alt. 1 BGB) gegenüber dem Vertreter oder als Außenvollmacht (§ 167 Abs. 1 Alt. 2 BGB) gegenüber der AG erteilt werden. Die Vollmacht kann jederzeit vor und auch noch während der Hauptversammlung erteilt werden.61) Die Vollmacht kann für eine oder mehrere Hauptversammlungen erteilt werden, jedoch muss feststellbar sein, dass die Vertretung in der jeweiligen Hauptversammlung erfasst ist. Auch die unbefristete Vollmacht ist zulässig, solange der Widerruf nicht ausgeschlossen wird (siehe Rz. 21). Eine gültige Vollmacht hindert den Aktionär nicht daran, an Stelle des Bevollmächtigten selbst an der Hauptversammlung teilzunehmen.62) Eine gesonderte Anmeldung des Bevollmächtigten ist nicht erforderlich, die Anmeldung des Aktionärs gilt auch für den Bevollmächtigten und umgekehrt.63) Eine Generalvollmacht deckt regelmäßig die Vertretung in Hauptversammlungen ab.64) Gleiches gilt für die Prokura, wenn die Aktien nicht ausnahmsweise eindeutig dem Privatvermögen des Kaufmanns _____________ 53) Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 26b; Bürgers/Körber/Lieder-Holzborn, AktG, § 134 Rz. 22; a. A. Kindler, NJW 2001, 1678. 54) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 63 f.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 26b; a. A. Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 54. 55) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 63; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 26b; Bunke, AG 2002, 57; a. A. Bürgers/Körber/Lieder-Holzborn, AktG, § 134 Rz. 22; differenzierend Spindler/StilzRieckers, AktG, § 134 Rz. 54 ff.; auch die Begr. RegE ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 32 geht vom Weisungserfordernis aus. 56) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 56; a. A. Habersack, ZHR 165 (2001) 172, 188. 57) Grundmann in: GroßKomm-AktG, § 134 Rz. 124; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 65. 58) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 66; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 61; Hüffer/ Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 26c. 59) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 66; Bunke, AG 2002, 57, 67. 60) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 60; Bürgers/Körber/Lieder-Holzborn, AktG, § 134 Rz. 22. 61) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 15.6.2010 – 5 U 144/09, ZIP 2010, 1390. 62) Kiefner/Friebel, NZG 2011, 887. 63) BGH, Urt. v. 19.7.2011 – II ZR 124/10, ZIP 2011, 1813, dazu EWiR 2011, 689 (Linnerz). 64) Arnold in: MünchKomm-AktG, § 134 Rz. 64; Zöllner in: KölnerKomm-AktG, § 134 Rz. 173 ff.

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zuzuordnen sind.65) Sofern die Stimmrechtsausübung zu den im Handelsgewerbe gewöhnlichen Geschäften gehört, ist auch eine Generalhandlungsvollmacht ausreichend (§ 54 Abs. 1 Alt. 1 HGB).66) Das Erlöschen der Vollmacht bestimmt sich nach dem zugrunde liegenden Rechtsver- 21 hältnis (§ 168 Satz 1 BGB). Je nach den Umständen erlischt die Vollmacht durch Zweckerreichung, Zeitablauf oder Bedingungseintritt. Die Vollmacht kann jederzeit nach §§ 168 ff. BGB widerrufen werden (Formerfordernisse: siehe Rz. 22 ff.), da unwiderrufliche Vollmachten nicht zulässig sind.67) Vollmachtsurkunden entfalten nach § 172 Abs. 2 BGB Außenwirkung, sofern der Widerruf nicht bekannt war oder bekannt sein musste. c)

Form und Nachweis

Die Erteilung der Vollmacht sowie der Widerruf und Nachweis bedürfen nach § 134 22 Abs. 3 Satz 3 grundsätzlich der Textform. Textform bedeutet, dass die Vollmacht in einer Urkunde oder in einer anderen zur dauerhaften Widergabe in Schriftzeichen geeigneten Form erteilt werden muss (§ 126b BGB). Dies umfasst alle in Papier oder auf elektronischen Speichermedien verkörperte Erklärungen, insbesondere Telefax, E-Mail, SMS, USB-Stick, CD/DVD und Bildschirmformulare.68) Für Prokuristen gilt das Textformerfordernis nicht, wenn die Prokura im Handelsregister eingetragen ist (§ 15 Abs. 2 HGB). Die Satzung kann gemäß § 134 Abs. 3 Satz 3 vom Textformerfordernis abweichen oder eine Ermächtigung enthalten, dass in der Einberufung Abweichendes festgesetzt werden kann. Die Satzung darf die Festlegung nicht vollständig ins Ermessen des Einberufenden stellen, sondern muss einen Rahmen für abweichende Regelungen vorgeben.69) Bei börsennotierten Gesellschaften (siehe § 3 Rz. 7) sind gemäß § 134 Abs. 3 Satz 3 nur Formerleichterungen zulässig, bei nicht börsennotierten AG auch Formerschwerungen (Schriftform, Vorgabe von Vollmachtsformularen).70) Die Zulassung mündlicher Vollmachten ist aus europarechtlicher Sicht sowie aus Gründen der Beweissicherheit fraglich.71) In Übernahmesituationen müssen mögliche Erleichterungen gewährt werden (§ 16 Abs. 4 Satz 4 WpÜG). Die Einhaltung der Form ist Voraussetzung für die Wirksamkeit der Vollmacht.72) Die Wahrung einer strengeren Form genügt immer.73) Die Nichtbeachtung der erforderlichen Form führt zur Unwirksamkeit der Stimmabgabe. Der betroffene Beschluss ist anfechtbar, wenn unwirksame Stimmen für das Beschlussergebnis ausschlaggebend waren (siehe § 133 Rz. 13). Sieht die Satzung keine entsprechende Formerleichterung vor, kann aufgrund des Textformerfordernisses im Erscheinen des Aktionärs in der Hauptversammlung nicht der konkludente Widerruf der einem Stimmrechtsvertreter erteilten Vollmacht gesehen werden. Vielmehr müssen die gesetzlichen und satzungsmäßigen Formvorschriften eingehalten werden.74) _____________ 65) 66) 67) 68) 69) 70) 71) 72) 73) 74)

Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 67; Hölters-Hirschmann, AktG, § 134 Rz. 42. Grundmann in: GroßKomm-AktG, § 134 Rz. 108; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 22. Ausführlich Kiefner/Friebel, NZG 2011, 887 ff. Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 70; Horn, ZIP 2008, 1558, 1565; Götze, NZG 2010, 93, 94. Bürgers/Körber/Lieder-Holzborn, AktG, § 134 Rz. 18a; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 73; Bunke, AG 2002, 58, 63. K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 45; Götze, NZG 2010, 93, 95; v. Nussbaum, GWR 2009, 215. K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 45; Götze, NZG 2010, 93, 95. OLG Hamm, Urt. v. 2.11.2000 – 27 U 1/00, ZIP 2000, 2302, dazu EWiR 2001, 979 (Priester); Bürgers/ Körber/Lieder-Holzborn, AktG, § 134 Rz. 18. Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 69; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 23. Ausführlich Kiefner/Friebel, NZG 2011, 887, 890.

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23 Die Gesellschaft kann verlangen, dass der Vertreter seine Vollmacht nachweist.75) Bei Untervollmacht kann ein Nachweis für Vollmacht und Untervollmacht verlangt werden. Zuständig für die Überprüfung ist in der Hauptversammlung der Versammlungsleiter und außerhalb derselben, der Vorstand.76) Die Satzung kann vorgeben, wie der Nachweis zu erbringen ist.77) Trifft die Satzung keine Regelung, greift § 174 BGB (analog), so dass der Nachweis bei Vollmachten in Textform durch Vorlage der verkörperten Erklärung (siehe Rz. 22), z. B. durch Vorzeigen der E-Mail oder SMS per Mobiltelefon, und bei satzungsmäßigem Schriftformerfordernis durch Vorlage der Vollmachtsurkunde erfolgt.78) Verlangt werden kann nur die Vorlage, nicht die Übergabe zum Verbleib. Dies gilt auch für die in der Hauptversammlung erteilten Vollmachten.79) Die Satzung kann regeln, dass die Vollmacht übergeben werden muss.80) Nach § 134 Abs. 3 Satz 4 müssen börsennotierte Gesellschaften zumindest einen elektronischen Kommunikationsweg zur Nachweisübermittlung anbieten (z. B. E-Mail; Fax genügt nicht).81) Bei gesetzlichen Vertretern und Prokuristen erfolgt der Nachweis der Legitimation durch beglaubigten Handelsregisterauszug.82) Bei der Bevollmächtigung von Kreditinstituten i. S. von § 135 ist kein Nachweis erforderlich. 24 Nicht abschließend geklärt ist, welche Kommunikationskanäle die Gesellschaft anbieten muss; problematisch ist insofern, ob anderenfalls eine Vollmachtserteilung bzw. ein Vollmachtsnachweis per E-Mail oder SMS an eine beliebige E-Mail-Adresse oder Mobiltelefonnummer der AG ausreicht.83) Rein vorsorglich sollte die AG daher für gängige Kommunikationsmittel jeweils einen Kommunikationskanal vorgeben. Nach überzeugender Auffassung kann in der Einberufung die Nutzung der Kommunikationskanäle ab einem Zeitpunkt während oder kurz vor der Hauptversammlung ausgeschlossen werden.84) 25 Erbringt der Vertreter nicht den geforderten Nachweis, kann er von der Teilnahme an der Hauptversammlung ausgeschlossen werden, muss es aber nicht. Der Versammlungsleiter kann einen nicht hinreichend legitimierten Vertreter nach h. M. zur Hauptversammlung zulassen und nachträgliche Legitimierung verlangen.85) Wird der Vertreter mangels Nachweis zurückgewiesen, ist ein nachträglicher Nachweis nicht mehr möglich.86) Erschwert die AG die Vollmachtserteilung oder deren Nachweis ohne ausreichende Grundlage in der Satzung, führt dies in der Regel zu Anfechtbarkeit.

_____________ 75) LG München, Urt. v. 30.7.2009 – 5 HKO 16915/08, AG 2010, 47; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 24. 76) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 55; Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 76. 77) Begr. RegE, BT-Drucks. 14/4051, S. 15 rechte Sp.; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 24; Bürgers/ Körber/Lieder-Holzborn, AktG, § 134 Rz. 20. 78) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 75; Hölters-Hirschmann, AktG, § 134 Rz. 44; Götze, NZG 2010, 93, 95. 79) OLG Köln, Urt. v. 6.6.2012 – 18 U 240/11, ZIP 2012, 1458, 1459, dazu EWiR 2012, 773 (Goslar); LG Köln, Urt. v. 7.9.2011 – 91 O 162/09, BeckRS 2013, 09069. 80) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 75; a. A. Grundmann in: GroßKomm-AktG, § 134 Rz. 112. 81) Begr. RegE ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 32 – was aber nicht überzeugt. 82) Arnold in: MünchKomm-AktG, § 134 Rz. 64. 83) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 44; Götze, NZG 2010, 93, 94. 84) Wettich, NZG 2011, 721, 723. 85) OLG Hamm, Urt. v. 2.11.2000 – 27 U 1/00, ZIP 2000, 2302; OLG Düsseldorf, Urt. v. 11.7.1991 – 6 U 59/91, AG 2001, 444; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 55; Bürgers/Körber/Lieder-Holzborn, AktG, § 134 Rz. 20. 86) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 1.9.2009 – 5 U 6/09; K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 55.

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Ermächtigung zur Ausübung des Stimmrechts, Legitimationszession

Eine weitere Möglichkeit zur Ausübung des Stimmrechts durch Dritte ist die Legitima- 26 tionszession. Diese begründet keine Vertretungsmacht, sondern – ähnlich wie § 185 Abs. 1 BGB – die Befugnis, das Stimmrecht aus fremden Aktien im eigenen Namen auszuüben. § 134 Abs. 3 gilt daher nicht. Die Legitimationszession ist nicht gesetzlich geregelt, aber durch § 129 Abs. 3 anerkannt. Sie stellt eine Ausnahme vom Abspaltungsverbot dar. Sie kann (jedenfalls bei nicht börsennotierten Gesellschaften) durch Satzungsregelung ausgeschlossen werden.87) Zur Erteilung der Ermächtigung wird der Besitz an den Aktien übertragen, während das Eigentum beim Aktionär verbleibt. Der Ermächtigte wird Fremdbesitzer, gilt gegenüber der Gesellschaft als Vollrechtsinhaber und wird bei Namensaktien als Fremdbesitzer im Aktienregister eingetragen.88) Der Ermächtigte muss die Stellung als Legitimationsaktionär offenlegen (§ 129 Abs. 3). Angaben zum Aktionär sind nicht erforderlich, auch nicht der Nachweis der Ermächtigung durch den Aktionär, da ansonsten der Sinn der Legitimationsübertragung, die Anonymität des Aktionärs, verloren ginge.89) Kreditinstitute dürfen bei Inhaberaktien nicht als Legitimationsaktionäre fungieren (§ 135 Abs. 1). Gleiches gilt in der Regel für den Stimmrechtsvertreter der Gesellschaft, sofern es sich um einen Dritten handelt.90) V.

Form der Stimmrechtsausübung

Die Form der Stimmabgabe ist nicht gesetzlich geregelt, sondern richtet sich gemäß § 134 27 Abs. 4 nach der Satzung. Die Satzung kann die Form der Stimmabgabe selber konkret festlegen oder anordnen, wer für die Festlegung zuständig sein soll. Typischerweise ermächtigt die Satzung den Versammlungsleiter. Die Entscheidung des Versammlungsleiters kann dann nicht von der Hauptversammlung geändert werden.91) Enthält die Satzung keine Vorgaben, kann die Festlegung durch die Geschäftsordnung der Hauptversammlung erfolgen. Existiert keine Regelung ist der Versammlungsleiter für die Festlegung zuständig.92) In diesem Fall kann aber die Hauptversammlung eine andere Form der Stimmabgabe beschließen.93) Der Versammlungsleiter ist ohne entsprechendes Verlangen nicht verpflichtet, eine Entscheidung der Hauptversammlung herbeizuführen.94) Ein Anspruch eines Aktionärs auf eine bestimmte Form besteht nicht. Für die Form der Stimmabgabe kommt jedes Verfahren in Betracht, das eine zuverlässige 28 und zweifelsfreie Ermittlung des Abstimmungsergebnisses sicherstellt.95) Die Entscheidung liegt im pflichtgemäßen Ermessen der zuständigen Stelle. Dabei ist neben der Zuverlässigkeit der Ergebnisermittlung vor allem auch der erforderliche Zeitaufwand zu berücksichtigen.96) Durch das ARUG97) sind, neben der Stimmabgabe in der physischen Haupt_____________ 87) Zöllner in: KölnKomm-AktG, § 134 Rz. 237; Zulässigkeit des Ausschlusses bei börsennotierten Gesellschaften str. vgl. Hüffer, AktG, § 134 Rz. 32. 88) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 46; Pöschke/Vogel in: Reichert, ArbHdb. HV, § 11 Rz. 91; zur Stellung des Legitimationsaktionärs im Anfechtungsprozess vgl. Bayer/Scholz, NZG 2013, 721. 89) Zöllner in: KölnKomm-AktG, § 134 Rz. 235. 90) OLG Hamm, Urt. v. 8.10.2012 – I-8 U 217/11, ZIP 2013, 1024; LG Dortmund, Urt. v. 15.9.2011 – 18 O 33/10, BeckRS 2012, 00096. 91) Arnold in: MünchKomm-AktG, § 134 Rz. 86; Heidel-Müller, AktR, § 134 AktG Rz. 37. 92) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 80; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 34. 93) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 72; Arnold in: MünchKomm-AktG, § 134 Rz. 87; Max, AG 1991, 77, 87; a. A. v. d. Linden, NZG 2012, 930. 94) Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 80; Bürgers/Körber/Lieder-Holzborn, AktG, § 134 Rz. 27. 95) Arnold in: MünchKomm-AktG, § 134 Rz. 88. 96) K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 73; Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 35. 97) Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG) v. 30.7.2009, BGBl. I 2009, 2479.

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Begriffsbestimmungen; Anwendungsbereich

versammlung gemäß § 118 Abs. 2, mit der Online-Stimmabgabe und der Briefwahl weitere Möglichkeiten der Stimmabgabe hinzugekommen (siehe § 118 Rz. 13 ff.). 29 Sowohl offene (Handzeichen, Zuruf) wie auch verdeckte (Stimmkarten, Televoter) Abstimmungen sind zulässig. Die Entscheidung liegt im Ermessen des Versammlungsleiters. Bei offener Abstimmung sehen andere Teilnehmer der Hauptversammlung wie die Aktionäre abstimmen, bei verdeckter Abstimmung nicht. Von der verdeckten Abstimmung ist die geheime Abstimmung zu unterscheiden. Während bei verdeckter Abstimmung zumindest die AG sieht, wie die Aktionäre abgestimmt haben, ist dies bei geheimer Abstimmung nicht der Fall. Die Zulässigkeit der geheimen Abstimmung ist streitig.98) Jedenfalls besteht kein Anspruch der Aktionäre auf eine geheime Abstimmung.99) _____________ 98) Für Zulässigkeit: Hüffer/Koch-Koch, AktG, § 134 Rz. 35; tendenziell auch Spindler/Stilz-Rieckers, AktG, § 134 Rz. 82; kritisch K. Schmidt/Lutter-Spindler, AktG, § 134 Rz. 75 f.; Arnold in: MünchKommAktG, § 134 Rz. 92. 99) Zöllner in: KölnKomm-AktG, § 134 Rz. 247; Hölters-Hirschmann, AktG, § 134 Rz. 65; Hüffer/KochKoch, AktG, § 134 Rz. 35.

§ 134a Begriffsbestimmungen; Anwendungsbereich Sascha Stiegler

(1) Im Sinne der §§ 134b bis 135 ist 1. institutioneller Anleger: a) ein Unternehmen mit Erlaubnis zum Betrieb der Lebensversicherung im Sinne des § 8 Absatz 1 in Verbindung mit Anlage 1 Nummer 19 bis 24 des Versicherungsaufsichtsgesetzes, b) ein Unternehmen mit Erlaubnis zum Betrieb der Rückversicherung im Sinne des § 8 Absatz 1 und 4 des Versicherungsaufsichtsgesetzes, sofern sich diese Tätigkeiten auf Lebensversicherungsverpflichtungen beziehen, c) eine Einrichtung der betrieblichen Altersversorgung gemäß den §§ 232 bis 244d des Versicherungsaufsichtsgesetzes; 2. Vermögensverwalter: a) ein Finanzdienstleistungsinstitut mit Erlaubnis zur Erbringung der Finanzportfolioverwaltung im Sinne des § 1 Absatz 1a Satz 2 Nummer 3 des Kreditwesengesetzes, b) ein Wertpapierinstitut mit Erlaubnis zur Erbringung der Finanzportfolioverwaltung im Sinne des § 2 Absatz 2 Nummer 9 des Wertpapierinstitutsgesetzes, c) eine Kapitalverwaltungsgesellschaft mit Erlaubnis gemäß § 20 Absatz 1 des Kapitalanlagegesetzbuchs; 3. Stimmrechtsberater: ein Unternehmen, das gewerbsmäßig und entgeltlich Offenlegungen und andere Informationen von börsennotierten Gesellschaften analysiert, um Anleger zu Zwecken der Stimmausübung durch Recherchen, Beratungen oder Stimmempfehlungen zu informieren. (2) Für institutionelle Anleger, Vermögensverwalter und Stimmrechtsberater sind die §§ 134b bis 135 nur anwendbar, soweit sie den folgenden Bestimmungen der Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über die

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Begriffsbestimmungen; Anwendungsbereich

§ 134a

Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften (ABl. L 184 vom 14.7.2007, S. 17), die zuletzt durch die Richtlinie (EU) 2017/828 (ABl. L 132 vom 20.5.2017, S. 1) geändert worden ist, unterfallen: 1. für institutionelle Anleger: Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe a und Absatz 6 Buchstabe a, 2. für Vermögensverwalter: Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe a und Absatz 6 Buchstabe b, und 3. für Stimmrechtsberater: Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe b und Absatz 6 Buchstabe c sowie Artikel 3j Absatz 4. Literatur: Balp, Regulating Proxy Advisors through transparency: Pros and Cons of the EU Approach, ECFR 2017, 1; Baums, Institutionelle Investoren im Aktienrecht – Zur Umsetzung der ARUG II-Richtlinie, ZHR 183 (2019) 605; Bayer/Schmidt J., BB-Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsreport Europäisches Unternehmensrecht 2016/17, BB 2017, 2114; Bebchuk/ Cohen/Hirst, The Agency Problems of Institutional Investors, Journal of Economic Perspectives (J. Econ. Persp.),Vol. 31 (2017) 89; Birkmose, Forcing Shareholder Engagement: Theoretical Underpinning and Political Ambitions, EBLR (2018) 613; Brellochs, Institutionelle Investoren (ETF-Fonds, Versicherungen, Pensionskassen) im Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht, ZHR 185 (2021) 319; Bürkle, Die aktienrechtlichen Offenlegungspflichten für Lebensversicherungsunternehmen nach ARUG II, VersR 2021, 1; Córcoles, Proxy Advisors in the Voting Process: Some considerations for future regulations in Europe, ECFR 2016, 106; Dahmen, Pflichten von Vermögensverwaltern und institutionellen Anlegern nach dem Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie, GWR 2019, 117; Ekkenga, Investmentfonds als neue Kontrollagenten einer „nachhaltigen“ Realwirtschaft: Sinnvolle Instrumentalisierung oder schrittweise Demontage der Kapitalmärkte in Europa?, WM 2020, 1664; Enriques/Romano, Bewiring Corporate Law for an Interconnected World, ECGI Working Paper 572/2021, S. 2; Fleischer, Zukunftsfragen der Corporate Governance in Deutschland und Europa: Aufsichtsräte, institutionelle Investoren, Proxy Advisors und Whistleblowers, ZGR 2011, 155; Freitag, Neue Publizitätspflichten für institutionelle Anleger?, Kritische Anmerkungen zum Vorschlag der Kommission für eine Neufassung der Aktionärsrechterichtlinie, AG 2014, 647; Hell, Stimmrechtsberater in der modernen Corporate Governance, ZGR 2021, 50; Hopt, Europäisches Übernahmerecht oder nur mehr Aktionärsschutz? Ein Plädoyer für mehr Mut bei der externen Corporate Governance, EuZW 2014, 401; Hössl/Torggler, Stimmrechtsberater, institutionelle Investoren und die Änderung der Aktionärsrechte-Richtlinie, GesRZ 2016, 185; Jesch/Benedikt/ Weiser, Regulierung von institutionellen Investoren – die Praxis in den USA und in Deutschland, RdF 2018, 197; Kalss, Stimmrechtsberater ans Licht oder an die Kandare?, EuZW 2014, 441; Katelouzou/Sergakis, When Harmonization is Not Enough: Shareholder Stewardship in the European Union, EBOR 22 (2021) 203; Klöhn, Passive Investoren, Aktivisten und die Reform des deutschen Hauptversammlungsrechts, ZHR 185 (2021) 182; Koch, Der Kapitalanleger als Corporate Governance-Akteur im Rahmen der neuen §§ 134a ff. AktG, BKR 2020, 1; Kuthe/Zipperle, Die neuen ISS Proxy Voting Guidelines im Vergleich zu den Proxy Paper Guidelines 2021 von Glass Lewis, AG 2021, R 22; Leyens, Der UK Stewardship Code 2020 – Hintergründe, Konzeption und Berichtspflichten im Vergleich zu §§ 134a bis 134c AktG, in: Festschrift Klaus J. Hopt, 2020, S. 709; Link, Shareholder and Investor Activism – Rechtsfragen der aktuellen Praxis, ZGR 2021, 904; Mülbert, Die neue kapitalmarktrechtliche Dimension des AktG aufgrund der Richtlinie (EU) 2017/828 (Aktionärsrechte-Richtlinie II) betreffend Intermediäre, AG 2021, 53; Neuman/Schmidt, Corporate Governance von Wertpapierinstituten, BKR 2021, 535; Paschos/Goslar, Der Referentenentwurf des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) aus Sicht der Praxis, AG 2018, 857; Poelzig, Stimmrechtsberater – ihre Rolle und ihr rechtlicher Rahmen, ZHR 185 (2021) 373; Ringe, Stewardship and Shareholder Engagement in Germany, ECGI Law Working Paper 501/2020; Schmidt J., Die Umsetzung der Aktionärsrechte-Richtlinie 2017: der Referentenentwurf für das ARUG II, NZG 2018, 1201; Schneider, Praxis und Regulierung von Stimmrechtsberatern. Eine nicht be-

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§ 134a

Begriffsbestimmungen; Anwendungsbereich

wältigte systemische Herausforderung, in: VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2019, 2020, S. 27; Schockenhoff, Proxy Fights – bald auch in Deutschland?, NZG 2015, 657; Schockenhoff/ Nußbaum, Die neuen Transparenzvorschriften für Stimmrechtsberater, ZGR 2019, 163; Schwennicke, Die künftige Beaufsichtigung der Wertpapierfirmen in Deutschland, BKR 2021, 150; Seibt, Richtlinienvorschlag zur Weiterentwicklung des europäischen Corporate Governance-Rahmens, DB 2014, 1910; Stöber, Neuerungen im Aktienrecht durch das ARUG II, DStR 2020, 391; Stüber, Der Einfluss von „Proxies“ in der Hauptversammlung, WM 2020, 211 Tröger, Die Regelungen zur institutionellen Investoren, Vermögensverwaltern und Stimmrechtsberatern im Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II), ZGR 2019, 126; Van der Elst, Shareholder engagement duties: the European move beyond stewardship, in: Birkmose/Sergakis, Enforcing shareholders’ duties, 2019, S. 60; Velte, Regulierung von Stimmrechtsberatern nach ARUG II – Neue Transparenzpflichten gem. § 134d AktG als „zahnloser Papiertiger“?, AG 2019, 893; Zetzsche, Pflichten von Asset Managern und Asset Ownern