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German Pages [296] Year 2009
Michael Hochedlinger Aktenkunde
Historische Hilfswissenschaften Herausgegeben von A. Scharer, G. Scheibelreiter und A. Schwarcz in Verbindung mit dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung
ÜG
Böhlau Verlag Wien Oldenbourg Verlag München
Michael Hochedlinger
Aktenkunde Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit
Böhlau Verlag Wien Oldenbourg Verlag München
Gedruckt mit Unterstützung durch:
В M.W_Fa Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78296-4 (Bühlau Verlag) ISBN 978-3-486-58933-7 (Oldenbourg) Das Werk ist urheberrechdich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2009 by Bühlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln • Weimar http://www.boehlau.at http://www.boehlau.de Lektorat: Mediendesign, 1020 Wien Umschlaggestaltung: Judith Mullan Umschlagabbildung: Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv: Ausschnitt aus einem Offizierspatent Maria Theresias (1777) Umschlaggestaltung: Judith Mullan Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck: Prime Rate Kft., 1047 Budapest
Inhalt VORBEMERKUNG
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I. EINLEITUNG
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II. W I S S E N S C H A F T S G E S C H I C H T E
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1. DEUTSCHLAND
16
2. ÖSTERREICH
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III. BEGRIFFSBESTIMMUNG
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1. QUELLEN UND A R C H I V G U T
a) Quellen b) Schriftgut — Registraturgut — Archivgut 2 . ARCHIVALIENTYPEN
21
21 21 23
a) Urkunden 24 Definition 25 „Beurkundungsstellen" 27 Sonderstellung der Urkunde 27 Differenz in der Form: „offene" und „geschlossene" Urkunden 28 Differenz durch Inhalt: Diplom (Privileg) und Mandat 29 Vom Mandat zu den litterae clausae 30 Abgrenzungsschwierigkeiten 31 Aufbau einer Urkunde 32 Urkunden als Verkehrsschriftstücke — „Auszüge" 32 Empfängerausfertigung 33 Urkundensprache 33 b) Amtsbücher — Geschäftsbücher — Geschäftstagebücher 33 Mittelalterliches Kanzleiwesen 34 Veränderungen der Neuzeit 35 c) Akten - Akten(schrift)stück — Akt(e) 37 „Akten" als unspezifische Gattungsbezeichnung für Behördenschriftgut . . 38 Verdichtung des Geschichtsbildes im Aktenzeitalter 40 Drucksachen in Akten 40 Aktenschriftstücke und Urkunden 41 Akt(e) und Vorgang 41 „Aktengattungen" 42 5
Inhalt
Aktenkollektive und Aktenaufbewahrung d) Briefe e) Kümmerformen: Billet und Visit(en)karte 3.
43 45 46
ÜBERLIEFERUNGSFORMEN
47
a) Original b) Abschrift Beglaubigte Abschrift Vidimus und Transsumpt Chirograph c) Duplikat
47 47 48 48 49 49
IV. GENETISCHE AKTENKUNDE
50
1. B E H Ö R D E N , Ä M T E R UND BEAMTE
51
2.
P R I N Z I P I E N DER VERWALTUNGS- UND B E H Ö R D E N O R G A N I S A T I O N
a) b) c) d)
Kollegialsystem Monokratische Behördenorganisation Regierung aus dem Kabinett Konstitutionalismus
. . 53
53 56 58 59
3.
D I E KANZLEI
60
4.
D I E REGISTRATUR
61
5.
HILFSÄMTER: EINREICHUNGSPROTOKOLL -
EXPEDIT
REGISTRATUR 6.
63
„GESCHÄFTSGANG" UND AKTENLAUF
64
a) b) c) d)
64 65 65 65 65 66 67 67 69 69 70 70 71 72 72
Regelwerke Verkehrsschriftgut und Memorialschreibwerk Auf Antrag und von Amts wegen Einlaufphase Präsentierung Rubrizierung Dechiffrierung Verbuchung („Protokollierung") e) Innenlauf Geschäftsgangssteuerung Zuweisung Priorierung Einsichtsvorschreibungen und Einsichtsvermerke „Ad acta" Dringlichkeitsvermerke 6
-
Inhalt
f)
g) h)
i) 7.
8.
Geheimhaltung Beschlussfassung im Rat (vor 1848) Angabe Beurkundungsbefehl und Auftragsvermerk Konzept Revision und Approbation Reinschrift Die Schreibmaschinenrevolution Kollationierung Vollziehung Taxierung Registrierung und Ablage Archiwermerke Auslaufphase Ausfertigung Übermittlung Sonderform: Telegramm Stempel und Bögen Auflösung und Zuordnung der Kanzleivermerke Empfohlene Vorgangsweise Hilfsmittel Das urschrifiliche Verfahren
SPEZIELLE ENTSTEHUNGSPROZESSE
96
a) Der Gesetzgebungsprozess in „parlamentarischer" Umgebung Frühneuzeitliche Landtagsverhandlungen Heiliges Römisches Reich b) Staatsverträge
96 96 97 98
SCHRIFTGUTORGANISATION
IN DER A B L A G E
a) Sachakten b) Serienakten (Reihenakten) Gliederung von Serienakten Ansatzweise Sachaktenbildung im Geschäftsgang Geschäftstagebücher statt Archivrepertorien 9.
73 73 74 75 77 79 81 82 83 83 85 87 88 88 88 88 90 90 92 92 93 94
D I E BÜROREFORM
a) b) c) d) e) f)
Aktenpläne Dezimalklassifikation Geschäftszeichen Stehordner Das System Kielmansegg in Österreich Das neue System in den Wiener Ministerien Kanzleiordnung 1923 Kanzleiordnung 1974 Ausblick: Der „elektronische Akt"
99
100 100 101 102 104 106
108 108 110 111 111 114 115 115 116 7
Inhalt
V. ANALYTISCHE AKTENKUNDE 1.
ÄUSSERE MERKMALE
a) Beschreibstoffe Papier Pergament b) Seiteneinteilung c) Schreibstoffe und Schreibgeräte d) Schrift e) Schreibmaschine f ) Siegel g) Formulare und Briefköpfe 2 . INNERE M E R K M A L E
a) b) c) d)
Stilform (grammatikalische Konstruktion) Invocatio Intitulatio Adresse und „Adressierung" Außenadresse Innenadresse Anrede Duzen - Ihrzen - Erzen — Siezen e) Gruß f ) Arenga g) Publicatio (promulgatio) h) Narratio i) Dispositio j ) Befehlseinschärfung (sanctio) k) Gnadenversicherung l) Courtoisie (Schlusskurialien) m) Corroboratio n) Datierung (Orts- und Tagesangabe) o) Unterschrift Die Herrscherunterschrift Korporative Firma Behördenfirma Kollektive Unterschriften Beglaubigte Unterschrift Gegenzeichnung Alternat p) Postscriptum q) Sprache r) Vom Kanzleistil zum .^Amtsdeutsch"
8
118 118
118 118 122 122 125 126 126 127 131 133
133 134 135 137 137 138 138 148 150 150 151 152 152 152 153 153 155 156 159 159 162 162 163 163 163 165 166 166 167
Inhalt
VI. SYSTEMATISCHE (KLASSIFIZIERENDE) AKTENKUNDE 171 1.
D I E FÜRSTLICHE STANDESKORRESPONDENZ
a) Kanzleischreiben b) Handschreiben 2 . SCHRIFTSTÜCKE DER Ü B E R O R D N U N G
173
173 175 177
a) Der Herrscher im Wir-Stil 177 Der Herrscher als Gnadenspender: Das Diplom 177 Gesetzgebung und Regierung: Edikt - Patent 177 Staatspolitische Verlautbarungen: Manifeste und Proklamationen 183 „Verwaltungsverordnungen" des Herrschers 184 Beauftragende und begünstigende Verwaltungsakte („offene Befehle") . . 186 Geschlossene Verwaltungsbefehle: Das Reskript 188 b) Der Herrscher im Ich-Stil: Kabinettsordre — Handschreiben —„Erlass" . . . . 189 c) Der Herrscher im objektiven Stil: Das Hofdekret 192 d) Nicht-selbstständige herrscherliche Anordnungen: Resolution („Entschließung") 195 e) Der Herrscher als summus judex 198 f ) Behörden im Namen des Landesherrn 199 g) Behörden im eigenen Namen 200 Behördenverlautbarungen 200 Weisungen im Wir-Stil (modo rescripti) 201 Weisungen im Ich-Stil 201 Weisungen im objektiven Stil (modo decreti) 201 h) Nicht-selbstständige behördliche Anordnungen 203 i) Nach dem Stilbruch: Behördenverordnung, -Verfügung und -erlass 204 3 . SCHRIFTSTÜCKE DER U N T E R O R D N U N G
a) b) c) d)
4.
Berichte Vorträge (Immediatberichte) Privatdienstschreiben Bittschrifien — Denkschriften — Beschwerdeschriften Majestätsgesuche Petitionen Gravamina Form und Stil der Bittschriften Denkschriften „Staatsschriften"
SCHRIFTSTÜCKE DER G L E I C H O R D N U N G
a) Innerstaatlich Insinuate Noten Botschaft und Adresse b) Zwischenstaatlich
205
206 208 210 211 212 213 213 213 214 214 215
215 216 216 217 218 9
Inhalt
Noten Verträge 5.
INTERNES SCHREIBWERK
a) Protokolle Protokolle oberster Beratungsgremien Ministerratsprotokolle Gestionsprotokolle Bei Gericht Protokollauszüge b) Aktenvermerk c) Rechnungen d) Zahlen - Daten — Fakten: Tabellen, Listen, Formblätter e) Amts- und Geschäftsbücher f ) Öffentliche Bücher Kirchenbücher und Zivilstandsregister Grundbücher Kataster
218 219 221
222 223 225 225 226 227 228 228 229 230 232 233 233 234
ANHANG
Kriterienkatalog zur Bestimmung von Aktenschriftstücken
236
Auswahlbibliographie
237
Abbildungsnachweis
256
Liste der Übungsbeispiele (CD-ROM)
257
Register
272
10
Vorbemerkung Nur derjenige Forscher, der sich mit den aktenkundlichen Problemen seines Stoffes vertraut macht, wird die Quellen richtig interpretieren. H. O. Meisner (1890-1976), Begründer der .Aktenkunde"
Der vorliegende Band soll Historiker und angehende Archivare in eine Disziplin einfuhren, die wesentliche Voraussetzung für die sach- und fachgerechte Bestimmung und Erschließung von Archivgut, aber auch unentbehrliches Instrument der Quellenkritik ist. Ihrer Doppelmission entsprechend, rechnen wir die „Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit", der Einfachheit halber oft verknappend ,Aktenkunde" genannt, sowohl zur Archivwissenschaft als auch zu den Historischen Hilfswissenschaften. Aktenkundliche Aussagen sind viel weniger generalisierbar als die Grundzüge der Heraldik, Sphragistik, Chronologie oder der Paläographie. Wie die mediävistische Privaturkundenlehre kann auch eine ,Aktenkunde" solide Erkenntnisse und Klassifizierungsschablonen im Grunde nur auf der Basis eines territorial beschränkten Kanzleigebrauchs erarbeiten und illustrieren. Unsere ,Aktenkunde" muss sich damit bescheiden, ein Rahmenkoordinatensystem zu entwerfen, mit dessen Hilfe der Archivar und Historiker im Meer der schriftlichen Überlieferung einigermaßen navigieren kann. Sie spricht also in erster Linie von grundsätzlichen oder jedenfalls verbreitet anzutreffenden Erscheinungen, weiß aber von den ungezählten Ausnahmen, Abweichungen und nationalen, regionalen oder gar kanzleispezifischen Besonderheiten. Im Folgenden dient primär die Schriftgutüberlieferung der Habsburgermonarchie und der Republik Osterreich sowie der obersten Organe des Heiligen Römischen Reichs als Untersuchungsgegenstand und Illustrationsmaterial. Unsere Einfuhrung stellt den bisher aus wissenschaftsgeschichtlichen Gründen überwiegend am preußischen Beispiel gewonnenen Erkenntnissen bewusst eine etwas andere Perspektive gegenüber, deren Wichtigkeit für weite Teile des deutschen Sprachraums schon früher unterstrichen worden ist. Böhmische und ungarische Überlieferung konnte leider nicht in befriedigendem Ausmaß berücksichtigt werden. Auf französische Entwicklungen wird wegen ihrer Vorbildwirkung immer wieder einzugehen sein, die Produktion der päpstlichen Kanzlei darf weitgehend dem Fach „Papsturkunde" überlassen werden. Zeitlich decken wir die klassische ,Aktenzeit" vom Beginn der Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert ab, als die traditionellen Formen - nach einem ersten tiefen Einschnitt an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert - endgültig verschwanden und das Behördenschriftgut zu jener äußerlich wenig attraktiven „grauen Masse" wurde, als die man ,Akten", immerhin die Grundlage der modernen verschriftlich ten Alltagsbürokratie, heute allzu oft gering schätzt. Lediglich als mysteriöse „Geheimakten", brisante „Personalakten" oder polizeiliche „(Spitzel-)Dossiers", also als Verkörperung von zwielichtigem „Herrschaftswissen", bewegen .Akten" mitunter auch eine breitere Öffentlichkeit.
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Vorbemerkung
Das in der österreichischen Bundesverwaltung bereits angebrochene Zeitalter von „E-Government" und „elektronischem Akt" (ELAK) können wir nur streifen; eine speziellere Behandlung dieser rezenten und übrigens sehr erfolgreichen Entwicklung muss im Rahmen einer gründlicheren Beschäftigung mit elektronischen Medien erfolgen. Wie moderne Computersoftware das Aktenkoffer- und Aktenordnersymbol als icon oder auch Begriffe wie „file" о. Ä. verwendet, so übernimmt der „elektronische Akt" wesentliche Kennzeichen aus der Welt der Papier-basierten „klassischen" Aktenwirtschaft und transponiert sie in eine zeitgemäße elektronische Umgebung.
Viele haben bei der Entstehung des vorliegenden Bandes wertvolle Hilfe geleistet. Alle Abteilungen des Osterreichischen Staatsarchivs gewährten bereitwillig Zugang zu ihren Beständen. Mag. Irmgard Pangerl (Haus-, Hof- und Staatsarchiv) gebührt in diesem Zusammenhang spezieller Dank. Für aufschlussreiche Diskussionen über Ablagesysteme des 20. Jahrhunderts ist insbesondere Amtsdirektor Dieter Lautner und Dr. Rudolf Jeräbek (Archiv der Republik) zu danken. M R Mag. Dieter Kandlhofer (Bundeskanzleramt) stellte Hintergrundinformationen über Konzeption und Handhabung des „elektronischen Akts" in der Bundesverwaltung zur Verfugung. Bei meinen Bemühungen, ein wenig über den Tellerrand des Wiener Zentralarchivwesens hinauszublicken, haben mich insbesondere unterstützt: Dr. Christoph Sonnlechner und Dr. Heinrich Berg (Wiener Stadt- und Landesarchiv), Dr. Gernot P. Obersteiner und Dr. Peter Wiesflecker (Steiermärkisches Landesarchiv Graz), DDr. Martin Schennach (Tiroler Landesarchiv Innsbruck) sowie w H R Dr. Willibald Rosner und Mag. Günter Marian (Niederösterreichisches Landesarchiv St. Pölten). Freunde und Kollegen opferten ihre kostbare Zeit und lasen das Manuskript mit kritischen Augen: Dr. Rainer Murauer (Österreichisches Historisches Institut Rom) und - mit ganz besonderem Engagement und zeitintensivem Einsatz - Dr. Gustav Pfeifer (Südtiroler Landesarchiv Bozen), der zahllose Fehler und Unschärfen bloßlegte und konstruktiv verbesserte. Dr. Ursula Huber (Oldenbourg, dann Böhlau Wien) vermittelte und beruhigte wiederholt mit viel Geduld. Amtsdirektorin Michaela Follner (Stabsabteilung des Osterreichischen Staatsarchivs) gab in bewährt selbstloser Weise unentbehrliche technische Hilfestellung bei der Vorund Aufbereitung des Illustrationsmaterials und ermöglichte so erst eine attraktive Bebilderung. H R Dr. Michael Göbl sprang in letzter Minute als Fotograph ein. Die Dankesschuld an Dr. Bettina Krenn (Wien) schließlich ist nicht in Worte zu fassen. Wien, im Februar 2 0 0 8
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I. Einleitung „Aktenkunde ist moderne Urkundenlehre", sagt Heinrich Otto Meisner. Sie beschäftigt sich mit der Entstehung sowie den inneren und äußeren Merkmalen jenes schriftlichen Niederschlags, der aus der Verwaltungstätigkeit von Behörden, Dienststellen, Körperschaften und sonstigen Institutionen des öffentlichen Lebens erwächst. Sie ist traditionell durch die Konzentration auf Schriftgut der (allgemeinen) Verwaltung, also des „arbeitenden Staates", und des Sonderbereichs der Diplomatie primär eine „amtliche" oder auch „staatliche" Aktenkunde. In einer forschungspraktisch nur wenig entwickelten Spezialisierung — man spricht von „Sonderaktenkunden" - befasst sich Aktenkunde auch mit jenem Schriftgut, das bei Wirtschaftsbetrieben oder Einzelpersonen aus ihrer geordneten Geschäftstätigkeit anfällt. Denn auch hier erwachsen natürlich Registraturen im eigentlichen Sinne, die wieder Aktenschriftstücke enthalten. Formalkriterien und die Notwendigkeit dauernder geordneter Aufbewahrung sind dabei deutlich reduziert. „Der Hauptzweck der Aktenkunde ist es, die Beurteilungsgrundlagen für die inhaltliche Bedeutung der Schriftstücke, fur die Anteilnahme der an der Entstehung der Schriftstücke beteiligten Personen, für die Vorgeschichte eines Ereignisses, einer Entscheidung zu liefern und so die Gestaltung des Geschichtsbildes wesentlich zu beeinflussen." (L. Bittner) Angewandte Aktenkunde erschließt aus mitunter scheinbar marginalen Merkmalen sehr wesentliche Kontextinformationen zu Schriftstücken, ohne die deren Inhalt nicht oder nicht vollständig entschlüsselt werden könnte. Gerade Historiker benötigen die entsprechenden Kenntnisse, wenn sie Verwaltungsunterlagen korrekt „lesen" wollen, denn der Entstehungshintergrund eines Schriftstücks entscheidet auch über seinen dokumentarischen Wert. Da die Aktenkunde als Lehre von der Form und Entstehung von Geschäftsschriftgut natürlich urkundliches wie nicht-urkundliches Material berücksichtigen muss, lautet die korrekte Bezeichnung unseres Faches „Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit". Die französische Lehre gebraucht den Begriff diplomatique moderne, die sich fast ausschließlich fur vom König und seiner Verwaltung ausgehende Schriftstücke interessiert. Sie hat sich aus einem eher schüchternen Annex zur mittelalterlichen Urkundenlehre herausgebildet. Handbücher nach deutschem Muster sind hier bisher nicht entstanden. Im deutschsprachigen Raum verwenden den Begriff „neuzeitliche Diplomatik" nur jene, die sich überwiegend mit französischem Verwaltungsschriftgut beschäftigen. Der in aller Regel weniger formalisierte rein private Schriftverkehr ist nicht Gegenstand der Aktenkunde, doch können ihre Erkenntnisse natürlich auch hier einen wertvollen Beitrag zur richtigen Einordnung und Interpretation leisten. Gerade in der Frühen Neuzeit und hier besonders in der fürstlichen Standeskorrespondenz (S. 173) ist die Grenzlinie zwischen amtlich-dienstlich und privat vielfach schwer oder gar nicht zu ziehen. Man wird daher den Untersuchungsradius einer Aktenkunde besser großzügig bestimmen. Aktenkunde operiert nach der klassischen Lehre Heinrich Otto Meisners (S. 17) in der Hauptsache auf drei Ebenen: 13
Einleitung
- Sie beleuchtet durch Rekonstruktion des durchschnittlichen Geschäftsgangs eines Aktenbildners und anhand der entsprechenden Vermerke die Entstehungsstufen eines Aktenschriftstücks (allenfalls auch einer Urkunde oder eines Geschäftsbuches) vom Konzept zur Ausfertigung (genetische Aktenkunde). - Sie untersucht mit dem adaptierten Instrumentarium der Diplomatik die inneren (Sprache und Stilisierung) und äußeren Merkmale wie den Beschreibstoff, die Schrift, die Beglaubigungsmittel und das „Layout" der einzelnen Schriftstücke (inalytische Aktenkunde). - Aktenkunde versucht eine Systematisierung des (amtlichen) Schriftverkehrs (systematische oder klassifizierende Aktenkunde), indem sie insbesondere nach dem (Rang-)Verhältnis zwischen Aussteller und Empfänger, dem Schreibzweck und den sich daraus ergebenden Folgen fur Stil und Aufbau fragt. Zu diesen drei klassischen Zugängen treten in unserem Lehrbuch noch Bemerkungen über Aktenaufbewahrungsmethoden und „Organisationsformen von Schriftgut", deren detaillierte Behandlung aber Sache der Ordnungslehre innerhalb der Archivwissenschaft im engeren Sinne ist. Wieder greifen wir nur einige typische Ausprägungen aus unserem Raum heraus und sind uns einmal mehr der vielen - fast wäre man versucht zu sagen: kulturellen - Besonderheiten bewusst, die nicht nur die Kanzlei- und Registratursysteme zweier Länder deutlich voneinander scheiden, sondern sogar die Traditionen der Schriftgutverwaltung bei Behörden ein und desselben Staates erheblich divergieren lassen. Aktenkunde arbeitet durch Abstraktion idealtypische Formen und Abläufe heraus, sie darf sich durch die Vielfalt von Kanzleitraditionen und regionalen Besonderheiten nicht beirren lassen, sich aber auch nicht durch scheinbare Gewissheiten und übertriebene Schematisierung in Sicherheit wiegen. Hier den Mittelweg zu finden, ist angesichts der überreichen und vielgestaltigen Überlieferung wesentlich schwerer als in der mittelalterlichen Diplomatik, die aus einigermaßen überschaubarem Material doch so etwas wie „Kanzleimäßigkeit", also die stimmige „Gleichförmigkeit in Fassung und Ausstattung", ableiten kann. Die Aktenkunde mit ihrer ausgeprägten Scharnierfunktion zu anderen Fächern wie insbesondere der Quellenkunde oder der Verwaltungs- und Behördengeschichte ist eine relativ junge Disziplin, die sich erst ab den 1930er Jahren aus den praktischen Bedürfnissen des Archivdienstes durch Fortschreibung der mittelalterlichen Diplomatik konkretisiert hat und daher auch nur an Ausbildungsstätten fur Archivare wirklich heimisch wurde.
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II. Wissenschaftsgeschichte Diplomatik (Urkundenlehre) und Paläographie (Schriftenkunde) sind nicht als Historische Hilfswissenschaften entstanden, sondern waren ursprünglich Werkzeuge der juristischen Praxis. Dieser ging es darum zu ermitteln, ob eine Urkunde echt oder unecht war, und zwar nicht bloß anhand inhaldich-historischer Kriterien, sondern auch anhand innerer und äußerer (formaler) Merkmale wie Schrift oder „Diktat", also der sprachlich-stilistischen Gesamtgestaltung einer Urkunde. Hinzu tritt als weiteres Kriterium fur das Spätmittelalter angesichts ausgeweiteter Schriftlichkeit die Kanzleimäßigkeit. Dass echte Urkunden falsche Aussagen treffen, gefälschte Urkunden aber die Wahrheit sagen können, verweist nicht zuletzt auch auf den grundsätzlich anderen Zugang des Mittelalters zu (Ver-) Fälschungen, mit denen man nicht selten einen bestehenden Rechtszustand nachträglich dokumentieren wollte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Diplomatik und Paläographie zu Kernfächern unter den Historischen Hilfs- oder Grundwissenschaften. Beide beschränkten sich ganz überwiegend auf das früh- und hochmittelalterliche Urkundenmaterial und machten spätestens an der Schwelle zur Neuzeit halt, ließen also das quantitativ ungleich bedeutendere Schriftgut aus der Zeit nach 1500 unbearbeitet. Auch der „aktenverliebte" Quellenpositivismus des 19. Jahrhunderts hat daran zunächst nichts geändert. .Akten" als Massenware, als angeblich regelloser, äußerlich meist wenig attraktiver schriftlicher Niederschlag der neuzeitlichen Verwaltung, bedurften, so sehr sie mit der Öffnung der Archive von Historikern als Quellenstoff geschätzt und ausgebeutet wurden, in den Augen vieler keiner kunstgerechten hilfswissenschaftlichen Analyse; Stil und äußere Merkmale des durchschnittlichen Schriftguts aus fürstlichen Kanzleien lagen dem Historiker in der Phase der Verwissenschaftlichung unseres Faches zeitlich noch zu nahe. Der praktische Verstand und das Rüstzeug aus den mediävistischen Hilfswissenschaften mussten als Basis ausreichen, um sich dem angeblich weniger komplexen Material der Neuzeit zu nähern. Kanzleilehrbücher wie jene von Johann Jakob Moser (1750), Johann Stephan Pütter (1753), Christian August von Beck (1754), Joseph von Sonnenfels (1784), die üppig sprießenden Titulaturkunden und „Briefsteller" oder die fast unüberblickbare Zahl an Ratgebern fur guten Kanzlei- und Geschäftsstil wurden fur die Praxis ihrer Zeit geschrieben, als Hilfsmittel für eine Neuzeitdiplomatik hat man sie erst sehr spät erkannt. Es nimmt daher nicht wunder, dass sich Akten- und Schriftenkunde der Neuzeit als eigenständige Disziplinen erst durchsetzen konnten, als die radikale Modernisierung des Kanzleiwesens nach dem Ersten Weltkrieg und schließlich auch die Abschaffung der deutschen Schreibschrift zu Beginn der 1940er Jahre für jüngere Historikergenerationen allmählich auch die Lektüre und Interpretation von Aktenschriftstücken des 16. bis 19. Jahrhunderts zu einer echten Herausforderung machten.
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Wissenschaftsgeschichte 1.
DEUTSCHLAND
Wichtige Vorarbeiten für die Etablierung einer neuzeitlichen Aktenkunde waren bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts geleistet worden, und zwar im Rahmen großer Editionsunternehmen oder im Zusammenhang mit Ordnungs- und Verzeichnungsarbeiten nach wissenschaftlichen Kriterien in den großen staatlichen Archiven. Behördengeschichte ist zu einem erheblichen Teil auch Kanzleigeschichte, und die Analyse des Geschäftsgangs einer Behörde zwingt zu eingehender Formalanalyse ihres Schriftguts. Anfänge Zu den Pionieren zählen vor allem Martin Hass (1883-1910), Mitarbeiter der Acta Borussica, der wohl den Terminus Aktenkunde in dem uns heute geläufigen Sinne prägte, aber auch der Editor der politischen Korrespondenz des Landgrafen Philipp von Hessen, Friedrich Küch (1863-1935), später Direktor des Staatsarchivs Marburg, der in der Einleitung zum ersten Band der Edition ausfuhrlich von den Aktenformen der hessischen Kanzlei handelte. Etwa zur gleichen Zeit plädierten auch die Herausgeber des 1908 gegründeten ,Archivs fur Urkundenforschung" im Geleitwort zu Band 1 der Zeitschrift fur eine Ausweitung des zeitlichen Horizonts der Disziplin in die Frühe Neuzeit. An den Universitäten begann man dem frühneuzeitlichen Geschäftsschriftgut Ende des 19. Jahrhunderts erste Aufmerksamkeit zuzuwenden. Albert Naude (1856— 1896), ebenfalls Mitarbeiter bei den Acta Borussica, las an der Berliner Universität „Grundzüge der mittelalterlichen Urkunden und des modernen Aktenwesens". Niemand Geringerer als Friedrich Meinecke (1862—1954), selbst ursprünglich Archivar, führte ab 1897 seine Berliner Hörer in das Archivwesen und die Benutzung von Archivalien zur neueren Geschichte ein. Im Rahmen der noch rudimentären preußischen Archivarsausbildung an der „1. Marburger Archivschule" (gegründet 1894, ab 1904 in Berlin) spielte Aktenkunde noch keine spezielle Rolle. DasIfA 1917 erfolgte die für das deutsche Ausbildungsmodell bis heute typische Umgestaltung der Archivschule zu einem de facto verwaltungsinternen „PostgraduateLehrgang". Im Rahmen der nun deutlicher profilierten Ausbildung am Preußischen Geheimen Staatsarchiv unterrichtete schon seit 1922 Heinrich Otto Meisner (1890-1976), ein Schüler Otto Hintzes (1861-1940), preußische Behördengeschichte und „moderne Urkundenlehre" (Aktenkunde). Meisner war zunächst Archivar am Geheimen Staatsarchiv gewesen, leitete dann bis 1928 das brandenburgisch-preußische Hausarchiv in Berlin-Charlottenburg und übernahm ab 1935 wichtige Funktionen am Reichsarchiv Potsdam. Eine spürbare Qualitätssteigerung in der wissenschaftlichen Aus- und Fortbildung der preußischen Archivare brachte 1930 die Gründung des Instituts für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung (IfA) im Rahmen und in den neuen Räumen des Preußischen Geheimen Staatsarchivs in Berlin-Dahlem. Adolf Brenneke (1875—1946) entwickelte hier seine noch heute Heinrich Otto Meisner wertvolle ,Archivkunde", Meisner lehrte Behördengeschichte, (1890-1976) 16
Deutschland
„Grundbegriffe der Archivwissenschaft" und natürlich „Aktenkunde", die er anfänglich noch als „behördliche Quellenkunde" bezeichnete. Das Institut sorgte fur eine beachtliche Professionalisierung, die gediegene Ausbildung sensibilisierte für die Probleme des Archivarsberufs und die Untiefen der damals noch reichlich ungefestigten Fachterminologie. Die Masse des Aktenmaterials und die von Land zu Land, von Ort zu Ort, ja von Heinrich Otto Behörde zu Behörde unterschiedlichen Kanzleigebräuche wirkten lange Zeit auf jeden Meisner Versuch abschreckend, eine Systematik zu wagen. 1935 erschien als Frucht der einschlägigen Lehrtätigkeit Meisners die erste Auflage seiner .Aktenkunde" als „Handbuch für Archivbenutzer mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens". Meisner setzte seine Karriere nach dem Zusammenbruch NaziDeutschlands in der sowjetischen Besatzungszone, der nachmaligen Aktenkunde D D R , fort. 1950 wurde er hauptamtlicher Dozent am neu gegrünEin Handbnch für Archivbenutter deten Institut für Archivwissenschaft in Potsdam, wo er die angenail be«onderrr Berttckeebtignnf stammten Fächer Archivwissenschaft, Verwaltungs- und BehördenBrandenbnrg-Prce&eni> geschichte sowie Urkunden- und Aktenlehre vertrat. Von 1953 bis 1960 wirkte Meisner als Professor an der Humboldt-Universität in Heinrich Otto M f i e n « · Berlin, auch hier las er neuzeitliche Urkunden- und Aktenlehre. 1950 konnte er eine Neubearbeitung seiner Aktenkunde vorlegen, die er nun angemessener „Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit" benannte. Die seinerzeit schon im Titel deutlich gemachte Einschränkung auf das brandenburgisch-preußische Beispiel entfiel, auch wenn Meisner weiterhin die Substanz seiner Belege ganz И И aus diesem Raum bezog und der Aktenkunde so, wenigstens in ihrer durch Publikationen verbreiteten Form, einen zutiefst preußischen Stempel aufdrückte. Bis heute konnte dem „preußischen Paradigma" keine gleichwertige Untersuchung aus anderen Kanzleitraditionen zur Seite gestellt werden. Nach Meisners Pensionierung ging die Kohärenz der archivwissenschaftlichen Lehre in der D D R verloren. Auch die Aktenkunde zerfiel jetzt als Lehrfach in eine ,Aktenkunde des Staates", auf die sich Meisner im Wesentlichen beschränkt hatte und die nun Gerhard Schmid (* 1928), Direktor des Goethe- und Schillerarchivs Weimar, übernahm, und in eine .Aktenkunde der Wirtschaft", die Erich Neuß (1899—1982) begründet und vorgetragen hatte, ehe sie Botho Brachmann (* 1930), Professor für Archivwissenschaft, weiterführte. Der Anstoß zu einer städtischen „Sonderaktenkunde", den etwa gleichzeitig in Westdeutschland Ernst Pitz (* 1928) mit seiner Dissertation über das Schrift- und Aktenwesen der spätmittelalterlichen Stadtverwaltungen gab, wurde in weiterer Folge nicht nachhaltig aufgegriffen. Immerhin hat Pitz die auf das Spätmittelalter konzentrierte ,Amtsbuchforschung" belebt, die heute gerne von der das Registerwesen meist nur am Rande behandelnden Aktenkunde getrennt betrieben wird und eher zur mediävistischen Kanzleiforschung gehört. Meisners Schüler und Nachfolger konnten in der D D R kein größeres Handbuch mehr vorlegen; die häufig zitierten, aber lediglich als Manuskript gedruckten „Lehrbriefe" für das Potsdamer Fachschulfernstudium aus den 1950er und 1960er Jahren vermochten naturgemäß kein breiteres Publikum zu erreichen. Erst 1994 konnte
Ж
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Wissenschaftsgeschichte Gerhard Schmid im Rahmen eines seitdem vielfach neu aufgelegten Sammelbandes zu den archivalischen Quellen seine „Aktenkunde" einem breiteren Publikum vorstellen. Meisner hingegen war es vergönnt, seine Urkunden- und Aktenlehre noch 1969 in einer dritten, stark überarbeiteten Neuausgabe herauszubringen. Unter dem Titel „Archivalienkunde" bietet dieses am stärksten verbreitete Spätwerk in einem ersten Teil, in dem Meisner seine an verstreuten Orten erschienenen Äußerungen zum Thema zusammenfasst, eingehende Ausführungen zu den terminologischen und definitorischen Grundlagen der Archivwissenschaft bzw. der Archivgutkunde. Im zweiten Abschnitt wird eine „Urkunden- und Aktenlehre der monarchischen Zeit" ( 1 5 0 0 - 1 9 1 8 ) entwickelt. Marburg In Westdeutschland spielte die Aktenkunde keine derart prominente Rolle. An der 1949 am Hessischen Staatsarchiv in Marburg gegründeten Archivschule stand wohl die Archivwissenschaft im Stile Gerhard Papritz' ( 1 8 9 8 - 1 9 9 2 ) im Vordergrund. Kurt Dülfer (1908-1973), der das Fach Aktenkunde an der Archivschule Marburg vertrat, war zwar Absolvent des IfA, stellte sich aber wiederholt gegen die Meisner'sche Lehre und entwarf eine alternative Systematik, die sich mehr in der Marburger Lehre als in Publikationen niederschlug. Die Dülfer-Schule setzte in Marburg Hans-Enno Korn ( 1 9 3 4 - 1 9 8 5 ) fort. Dass in der Bundesrepublik kein eigenes Handbuch vorgelegt wurde, mag auch damit zusammenhängen, dass Meisners rein sachliche Publikationen auch fiir eine westdeutsche Leserschaft sehr gut verdaulich und im Übrigen schwer zu übertreffen waren. Der Bedarf an Lehrbüchern blieb insgesamt gering, da die Archivarsausbildung sowohl an der Marburger Archivschule wie an der seit 1821 bestehenden, der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns angeschlossenen Archivschule in München fiir den höheren und gehobenen Dienst eine ausschließlich verwaltungsinterne mit beschränkter Teilnehmerzahl war und ist. An den Universitäten wurde lange Zeit nur wenig Einschlägiges geboten. A m Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin bemüht sich der Direktor des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz Jürgen Kloosterhuis (* 1950) um „archivische Quellenkunde", die (amtliche) Aktenkunde und spätmittelalterliche Amtsbuchlehre mit Grundfragen des Archivwesens verbindet. Kloosterhuis hat 1999 ein straffes, scharf gegliedertes Kompendium zur „amtlichen Aktenkunde" vorgelegt, das die Meisner'sche und die Dülfer'sche Lehre verbindet.
2.
ÖSTERREICH
Der österreichische Anteil an der Entwicklung des Faches Aktenkunde ist ähnlich dürftig wie jener an der archivwissenschaftlichen Diskussion im Allgemeinen. Den verbissenen Terminologie- und Grundsatzdiskussionen deutscher Archivare begegneten die österreichischen Kollegen oft genug mit unberechtigter Nonchalance. Das war nicht immer so: Ludwig Bittner (1877-1945), Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, dann des Reichsarchivs Wien, und sein Vizedirektor Lothar Groß (1887-1944), beide Absolventen des Instituts für Osterreichische Geschichts18
Österreich
forschung und schon früh an der Wiener Universität habilitiert, zählten im deutschsprachigen Raum seit den 1930er Jahren zu den führenden Fachleuten in allen archivwissenschaftlichen Fragen. Sie standen auch mit Meisner in Kontakt und rezensierten - selbstverständlich lobreich - seine 1935 erschienene Aktenkunde. Bittner selbst war schon 1924 mit einer viel beachteten „Lehre von den völkerrechtlichen Vertragsurkunden" hervorgetreten, in der er das traditionelle Instrumentarium der Diplomatik auf (spät) neuzeitliche Quellen anwandte. Lothar Groß, Schüler des Altmeisters der Privaturkundenlehre Oswald Redlich (1858-1944) und zunächst vor allem als Mediävist bekannt, las seit 1923 an der Wiener Universität unter wechselnden Bezeichnungen Aktenkunde. In den Lehrplan der österreichischen .Archivschule", des Instituts für Osterreichische GeschiehtsLothar Groß(1887-1944) forschung (IÖG), fand die Aktenkunde sehr spät Einlass, obwohl schon zu Beginn der 1920er Jahre die gewerkschaftlichen Interessenvertreter der Archivbeamten vehement fur eine stärkere Berücksichtigung der praktischen Erfordernisse des Archivdienstes eingetreten waren, im Konkreten für eine Lehrveranstaltung über Aktenkunde verbunden mit Schriftenkunde der NeuErst 1929 änderte sich die missliche Lage. Lothar Groß erhielt einen Lehrauftrag für „archivalische Hilfswissenschaften" (Archivkunde, „archivalische Aktenkunde" und „kleine Hilfswissenschaften") und übernahm auch die Privaturkunde. Die mit Archivkunde zu einem Gegenstand zusammengezogene, von praktischen Übungen begleitete Aktenkunde wurde 1930 Staatsprüfungsfach. Weitere Fortschritte in der Ausgestaltung des neuzeitlichen und archivspezifischen Lehrangebots brachte nach dem „Anschluß" 1938 die Abwehrreaktion der „Wiener Schule" gegen Versuche der Reichsbehörden, die Archivarsausbildung reichsweit am IfA in Berlin zu konzentrieren und die beiden anderen Archivschulen in München und Wien zu bloßen „Vorschulen" zu degradieren. Bei Kriegsende hieß das Wiener Institut „Institut für Geschichtsforschung und Archivwissenschaft", 1945 kehrte man zum alten Namen und zum traditionellen Mittelalterschwerpunkt zurück. Bis 1955 trug Walter Goldinger (1910-1990), ein Schüler von Lothar Groß und Dozent für Hilfswissenschaften (mit besonderer Berücksichtigung der Archivwissenschaft) und Österreichische Geschichte, Archiv- und Aktenkunde vor. Von 1955 bis 1965 löste ihn Friedrich Walter (1896-1968) ab, ehemals Archivar am Hofkammerarchiv, Vollender der Publikationsreihe „Österreichische Zentralverwaltung" und Dozent für Historische Hilfswissenschaften mit besonderer Berücksichtigung der Archiv- und Aktenkunde sowie für österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. Bis 1977 vertrat wieder Walter Goldinger, der seine Karriere als Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs beendete, das Doppelfach, in dem die Aktenkunde im engeren Sinne gegen die Archivkunde wohl regelmäßig den Kürzeren zog. Walter Goldinger 19
(1910-1990)
Wissenschaftsgeschichte
Ab den späten 1960er Jahren mehrte sich von Archivarsseite die Kritik am mittelalterlastigen Ausbildungsprogramm des Instituts, das dem Anforderungsprofil des Archivarsberufs immer weniger entsprach. Ab 1977 trat ein neues Curriculum in Kraft, das unter anderem die erst nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführte Schriftenkunde der Neuzeit deutlich aufwertete, Archiv- und Aktenkunde in zwei eigenständige Lehrveranstaltungen teilte und, was die Lehrenden betraf, einen Generationswechsel vollzog. Ein Lehrbuch hat bedauerlicherweise keiner der österreichischen Fachvertreter vorgelegt. Die Grundzüge der preußischen Tradition wurden daher auch in Wien gelehrt.
8 kartieren,
20
III. Begriffsbestimmung 1. Q U E L L E N U N D
ARCHIVGUT
a) Quellen
Quellen (Geschichtsquellen) sind Zeugnisse der Vergangenheit, also Texte, Gegenstände (Realien) oder sonstige „Tatsachen", aus denen wir Kenntnis über Vergangenes schöpfen. Uns beschäftigen im Folgenden bloß Texte, also die schriftlichen Quellen, deren Quellenwert die vor allem mit dem Instrumentarium der Historischen Hilfswissenschaften operierende Quellenkritik bestimmt. Wir unterscheiden weiters nach dem Grad der Nähe zum bezeugten Ereignis Primär- und Sekundärquellen sowie nach dem Erkenntniswert, und dies interessiert im vorliegenden Zusammenhang mehr: - „Überreste", also „unabsichtliche" (unwillkürliche) Quellen, deren Ziel nicht die historische Erinnerung ist, die vielmehr einen rechtlichen, geschäftlichen oder bloß privaten Hintergrund haben, und - „Traditionsquellen", willentliche, also „absichtliche" (willkürliche), von Menschen gestaltete und daher verfremdete Überlieferung von Geschehen zum Zwecke der Erinnerung, Belehrung oder Beeinflussung etwa in Form von Chroniken, historischen Darstellungen oder subjektiven Zeitzeugnissen (Autobiographie, Memoiren etc.). Zu den unabsichtlichen Schriftquellen zählt natürlich auch und gerade, was etwa bei Behörden, sonstigen Institutionen des öffendichen oder privaten Rechts sowie bei Einzelpersonen im Rahmen ihrer Geschäfts- und Verwaltungstätigkeit anfällt. Aber auch Schriftgut des außergeschäftlichen Bereichs (wie der Privatbrief) gehört hierher. Einseitige Einflussnahme des Schreibers auf den Historiker ist bei den „Überresten" nicht gegeben, da die Tendenz der in historischer Sicht „unabsichtlichen" Schriftquelle rein auf ihre jeweilige Gegenwart bezogen ist. Gerade die unabsichtliche Quelle kann, vor allem wenn in Massen auftretend, ohne Berücksichtigung des eigentlichen Entstehungszwecks „gegengelesen" und gleichsam statistisch ausgewertet werden, während die Traditionsquelle den Leser und den Historiker weitgehend auf den Berichterstattungszweck fixiert.
b) Schriftgut — Registraturgut
— Archivgut
Unabsichtliche Schriftquellen konzentrieren sich in unseren Breiten in öffentlichen, kirchlichen und privaten Archiven, dominieren also unser Archivgut. Die das Archivgut bildenden Einzelkomponenten heißen Archivalien (Singular: das Archivale), wobei dieser Begriff nichts über Form oder Inhalt aussagt. Ein Archiv ist eine Institution, die Schriftgut übernimmt und es als Archivgut erfasst, erschließt, erhält und zugänglich macht (A. Menne-Haritz). Der Archivbegriff ist durch inflationäre Verwendung mittlerweile derart unscharf geworden, dass wir 21
Begriffsbestimmung
ihn heute nicht selten pauschal fur Institutionen (oder auch Lokalitäten) gebrauchen, die Altes, nicht mehr laufend Benötigtes, aber doch nicht gänzlich Wertloses aufbewahren. Nach strenger Lehre bedarf ein Archiv, das diesen Namen verdient, allerdings der Zuständigkeitsbindung an einen oder mehrere Registraturbildner, also an eine Behörde, Dienststelle, Anstalt oder sonstige juristische oder natürliche Person, bei der im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeit (Geschäfts-) Schriftgut sowie komplementäre Dokumentationsformen (ζ. B. Bild- und Tongut) erwachsen bzw. anfallen, eingehende Schreiben ebenso wie der in Reaktion darauf ausgehende Schriftverkehr. Alles zusammen nennen wir „Registraturgut". Als Registratur (vgl. ausfuhrlich S. 61) bezeichnet man, vereinfacht gesagt, jene Abteilung oder jenen Ort einer Behörde usw., an dem das im Geschäftsgang erwachsene Schriftgut in einem bestimmten Ordnungszusammenhang verwaltet und abgelegt wird, um fur die laufenden Geschäfte benützbar zu bleiben. Diese kurrente, weiter wachsende Ablage spiegelt daher entweder die Geschäftseinteilung des Registraturbildners wider und/oder folgt einem eigenen Aktenplan. Registratur umschreibt zugleich auch das bei ein und demselben Registraturbildner erwachsene und angefallene Registraturgut selbst. Dieses wird dadurch gekennzeichnet, dass es aufgrund seiner geschäftlichen Entstehung in einen bestimmten Registraturzusammenhang gehört bzw. gehören sollte („Registraturpflichtigkeit" bzw. „Registraturfähigkeit"). Lebende Archive weisen besonders enge Bindung an ihren „Archivträger" auf; die Registraturbildner werden so zu Archivbildnern. Größere staatliche Archive sind meist „Vielheitsarchive", sie verwalten also Schriftgut verschiedener Behörden. Registraturgut übernimmt das zuständige Archiv nach gesetzlich geregelten Fristen (also bei ,Archivreife") zur dauernden Aufbewahrung, sofern es im Prozess der sogenannten „Bewertung" für „archivwürdig" befunden, ihm also wegen seiner politischen, kulturellen, wirtschaftlichen, rechtlichen usw. Bedeutung Dauerwert für Zwecke der Verwaltung, Rechtssicherung oder Wissenschaft zuerkannt wird. Archivwürdiges Verwaltungsschriftgut bzw. Registraturgut wird mit seiner Archivierung zu Archivgut, das unter konservatorisch möglichst optimalen Bedingungen abgelegt wird und den Speicher - anders als Museumsgut - nur zu kurzfristiger wissenschaftlicher oder amtlicher Benützung verlässt. Zum Registraturgut rechnen neben dem schriftlichen Tätigkeitsniederschlag im engeren Sinne auch die intern zur Erschließung angelegten Kanzlei- und Registraturhilfsmittel (Amts- oder Geschäftsbücher) und sämtliche Beilagen, ohne die das Schriftgut selbst weitgehend unverständlich bliebe - wie etwa Drucksachen, Karten, Pläne, Risse, Skizzen, Zeichnungen, Fotographien etc., ja sogar dingliche Beilagen, corpora delicti in Prozessen, Stoffproben und Muster aller Art im geschäftlichen Bereich. Solche Beilagen werden allerdings — nicht zuletzt aus konservatorischen Gründen - gerne entnommen und etwa zu Karten- und Bildersammlungen (eigentlich: Selekte) vereinigt, sind dann aber im Grunde nicht Sammlungsgut, sondern bloß „abgesondertes" oder verlagertes Registraturgut, sofern es nicht durch Vermengung mit späteren Ankäufen verwässert wird. ,Archivgut" ist auch die Generalbezeichnung für die Gesamtheit des in einem Archiv verwahrten Materials, also unter Einschluss von eigentlichem Sammlungsgut. 22
Archivalientypen
In den 1950er Jahren wollte man den Archivgutbegriff sogar zum „Geschichtsgut" erweitern, d. h. gleichsam auf Quellen aller Art erstrecken. Registraturgut - und damit „Archivgut" - umfasst durch den technischen Fortschritt vor allem der letzten 100 Jahre mehr als nur Schriftliches, insbesondere Bild- und Tongut, wobei selbst das Schriftgut zunehmend die angestammte Papierform verlässt und auch bzw. nur mehr in elektronischer Form auftritt. Wir beschränken uns hier zunächst auf das Schriftgut, im Aktenkundedeutsch auch „Schreibwerk" genannt. Archive waren als Verlängerungen der Behördenregistraturen zunächst nicht Stätten der Forschung, sondern Arkanbereiche ohne Zutrittsrecht fur Historiker, Wissens- und Beweisarsenale fur die laufende Behördentätigkeit und als Verwahrer von staatlich-dynastischen Rechtstiteln auch „Waffenkammem" im Falle internationaler Konflikte. Dies gilt sowohl für die Behördenarchive als auch fur die Auslesearchive der Herrscherhäuser. Archive sind daher in ihrer Entstehung gegenüber der Geschichtswissenschaft im Grunde „absichtslos" (Adolf Brenneke). Dies hat auch schweren Schaden an der Überlieferung angerichtet, weil ganze Registraturen, als fiir die Verwaltung wertlos, in ihrem historischen Wert und ihrer Archivwürdigkeit verkannt, in Kellern vermoderten, skelettiert oder überhaupt als Makulatur dem Altpapierhändler oder der Papierstampfe als letzter ,Akteninstanz" zugeführt wurden. Zu einer Öffnung der Archive für die historische Forschung ist es stufenweise im Laufe des 19. Jahrhunderts gekommen.
2.
ARCHIVALIENTYPEN
Versuche einer Untergliederung von archiviertem Schriftgut stoßen rasch auf grundsätzliche Auffassungsunterschiede. Heinrich Otto Meisner teilte in drei Gruppen (Archivalientypen oder „Grundarchivalien"), nämlich in Urkunden, Aktenschriftstücke und Briefe (worunter er in DDR-Tradition die „echten" Briefe, also Privatmitteilungen verstand). Andere scheiden Archivalien der Schriftform in Urkunden, Akten (einschließlich der Briefe) und Amtsbücher, wobei Letztere ihrerseits von einigen lediglich als buchfbrmige Akten oder in bestimmten Fällen („öffentliche Bücher", S. 36) als Urkunden klassifiziert werden. Meisner und andere nahmen entschieden gegen die Trennung in eine Urkundenlehre des Mittelalters und eine Aktenkunde der Neuzeit Stellung und plädierten für die Zusammenfassung der beiden Schwesterdisziplinen zu einer „Urkunden- und Aktenlehre des Mittelalters und der Neuzeit", die man nur aus arbeitstechnischen Erwägungen zeitlich teilen dürfe. Der Begriff Akten sei ebenso wenig auf die neuere Zeit beschränkt wie die Urkunde auf die ältere. Innere und äußere Form von Urkunden und Aktenschriftstücken können sich zudem nahezu decken. ,Akten" kannte bereits die Römerzeit, dann erst wieder das Spätmittelalter, als das Aufkommen eines billigeren Beschreibstoffes, des Papiers, ihnen endgültig zu Durchbruch und massenhaftem Auftreten verhalf. Die Anfänge des modernen Aktenwesens liegen im 13. Jahrhundert. Spricht man das Mittelalter mit seiner „partiellen Schriftlichkeit" als „Urkundenzeitalter" an, die Neuzeit aber als ,Aktenzeitalter", so bringt man tendenziell 23
Begriffsbestimmung
zweifellos Richtiges zum Ausdruck. Zwar sind auch für das Spätmittelalter Akten überliefert - Konzepte, Rollen, Blätter, Zettel, die sich neben den beiden Hauptausprägungen mittelalterlicher Verwaltungsschriftlichkeit, den Urkunden und Büchern (Auslaufregister und Einlaufdokumentation), zu stapeln begannen; quantitativ fallen diese frühen ,Akten" aber noch nicht wirklich ins Gewicht, während in der Frühen Neuzeit das Aktenmaterial das urkundliche Element stricto sensu bei Weitem überwiegt. Dies hängt in erster Linie mit dem höheren Grad allgemeiner Schriftlichkeit als Voraussetzung „moderner" Verwaltungstätigkeit zusammen, die ihr Handeln über die bloße Beurkundung des Rechtserheblichen hinaus verschriftlichen musste. Eine weitgehend mündliche Geschäftsführung war jetzt eben nicht mehr möglich. a) Urkunden Beginnen wir unsere terminologischen Bemühungen mit den Urkunden, die sich leichter fassen lassen. Die hilfswissenschaftliche Definition einer Urkunde unterscheidet sich dabei vom juristischen Urkundenbegriff. Im juristischen Verständnis ist beinahe jede Willenserklärung rechtlichen Inhalts eine Urkunde. Gerhard Papritz versuchte akribisch nachzuweisen, dass Termini wie Urkunden, Briefe oder Akten wegen ihrer Schwammigkeit zur Klassifizierung und Beschreibung nicht geeignet seien. Seine Alternativterminologie konnte sich zwar nicht durchsetzen, doch die Betonung der Inkongruenz von Form und Inhalt, auf die noch wiederholt einzugehen sein wird, ist sehr bedenkenswert. Wir übergehen die weitere Interpretation von Urkunde als Gegenstand, der einen GeKönigsurkunde 1002 danken, eine Aussage verkörpert (ζ. B. auch Grenzsteine, Plomben usw.) - auch die Historiker kennen solch allgemeine Definitionen, wenn sie etwa davon sprechen, dass etwas erstmals „urkundlich" nachweisbar ist —, und konzentrieren uns auf die Urkunde als Schriftstück suigeneris, also als „Schriftträger mit Text". Urkunden spielen bis heute im Rechts- und Alltagsleben eine große Rolle. Das beginnt mit der Geburtsurkunde, reicht über Schulzeugnisse, „Personaldokumente", allfällige universitäre Diplome und sonstige Berechtigungen, Atteste, Zertifikate oder Bescheinigungen bis zum Totenschein und schließt schriftliche Fassungen von Verträgen ein. Rechtsgeschäfte konnten ursprünglich natürlich auch mündlich oder durch symbolische Handlungen im Beisein von Zeugen (Übergabe eines Rings bei der Belehnung, Handschlag als Begründung vertraglicher Haftung usw.) geschlossen werden. 24
Archivalientypen
Urkunden treten dann zu Beweiszwecken auf, wenn Lese-, Schreib- und Abstraktionsfähigkeit eine gewisse Verbreitung gefunden haben. Definition Urkunden (von althochdeutsch urchundi = Zeugnis) nennen wir Schriftstücke zum Zwecke der Rechtssicherung oder Rechtssetzung, die unter Beachtung bestimmter, wenngleich wechselnder innerer und äußerer Formen abgefasst und beglaubigt sind und/oder an öffentlicher Stelle aufbewahrt werden. Sie geben über rechtserhebliche Tatsachen (Rechtshandlungen, Rechtsgeschäfte oder rechtlich relevante Sachverhalte) rechtswirksames - in der Tendenz öffentliches - Zeugnis. Sie beweisen Recht, schaffen Recht oder verkörpern Recht. Wesentliches Element der Rechtskraft ist die Beglaubigung, meist durch Siegel und/oder Unterschrift. Da Urkunden stets „absichtlich" entstehen, gelten sie manchen aus quellenkundlicher Sicht nicht als „Uberreste", sondern als bewusste Zeugnisse oder „Schriftdenkmäler". Ein vielleicht wesentlicheres Merkmal als die trügerische äußere Form der Urkunde, deren definitorische Relevanz von einigen auch bestritten wird, ist neben dem Rechtswillen ihre Eigenständigkeit. „Sie ist der typische Einzelgänger im Unterschied zu dem geselligen Geschlecht der Akten." (H. O. Meisner) Eine Urkunde, denken wir etwa an einen Vertragstext, muss aus sich und fiir sich verständlich und aussagekräftig sein und bedarf für ihre korrekte Interpretation nicht notwendigerweise - wie das einzelne Aktenschriftstück - des ganzen Geschäftszusammenhangs. Wir unterscheiden in juristischer Sicht öffentliche Urkunden (actes authentiques, instrumenta publica) und Privaturkunden. Öffentliche Urkunden werden von einem Gericht, einer Behörde oder einer sogenannten Urkundsperson, einer mit öffentlichem Glauben (fides publica) ausgestatteten Person (Notar, Standesbeamter), in Ausübung ihres Amtes und innerhalb ihres Geschäftskreises unter Einhaltung der Formvorschriften errichtet. Öffentliche Urkunden haben die Vermutung der Echtheit fur sich und liefern den vollen Beweis des darin beurkundeten Vorgangs. Sie können sich auf privates wie öffentliches Recht beziehen. Privaturkunden sind von Privatpersonen ausgestellt und begründen — sofern eigenhändig unterschrieben oder gerichtlich bzw. notariell beglaubigt - nur dafür vollen Beweis, dass die darin enthaltenen Erklärungen vom Aussteller abgegeben wurden. Sie gelten ein-, zwei- oder mehrseitigen Privatrechtsgeschäften (Kaufvertrag, Schenkungsurkunde usw.), sind also Geschäfte unter Lebenden oder Verfügungen von Todes wegen (Testament). Im Gegensatz zum juristischen Urkundenbegriff rechnet die Urkundenlehre als Historische Hilfswissenschaft zu den öffentlichen Urkunden des Mittelalters nur die unscheltbare, ursprünglich zeugenlose Kaiser- und Königsurkunde und die Papsturkunde. Alle übrigen Urkunden gelten als „Privaturkunden", also ζ. B. auch Bischofsurkunden und Urkunden von nicht souveränen Territorialherren oder StadtVerwaltungen. Erst in der Neuzeit engt sich der Begriff des Privaten auf die noch heute gängige Definition im Sinne des Nicht-Öffentlichen ein. Die Fürstenurkunden aus der 25
Autarkie der Urkunde
Öffentliche Urkunden und Privaturkunden in juristischem Sinne
Kaiser-, Papstund Privaturkunden in hilfswissenschaftlichem Sinne
Begriffsbestimmung
hilfswissenschaftlichen Privaturkundenlehre auszusondern ist eine jüngere Entwicklung. Beweisurkunde Zu unterscheiden sind weiters: und Verfugungsurkunde - die Beweisurkunde (notitia, juristisch: deklaratorische, deklarative oder enuntiative Urkunde) und - die dispositive oder Geschäftsurkunde (carta, Verfügungsurkunde, auch konstitutive oder wirkende Urkunde). Die Anfertigung einer „Notiz" über einen bereits vollzogenen Rechtsakt ist der einfachste Schritt der Beurkundung. Sie benötigte zunächst die Nennung der Zeugen, um rechtlich relevant zu sein. Eine Urkunde, die gleichsam als Protokoll rechtskräftig beweist, was zuvor in einer mündlichen oder rechtssymbolischen Handlung bereits vollzogen wurde, kennt schon die römische Antike. Entfällt der Schritt der mündlichen oder symbolischen Rechtshandlung überhaupt und liegt der Rechtsakt in der Urkunde selbst bzw. in deren Ubergabe, schafft diese also erst Recht bzw. eine subjektive Berechtigung, dann liegt eine dispositive Urkunde (carta) vor. Auch sie tritt bereits bei den Römern auf. Der Unterschied zwischen den beiden Urkundentypen ist auch in Bezug auf ihren Quellenwert bzw. ihre Aussagefähigkeit beträchtlich: Eine Beweisurkunde bekräftigt einen bestehenden Rechtszustand, eine dispositive Urkunde will einen Rechtszustand herstellen. Ob ihr dies gelingt, steht buchstäblich auf einem anderen Blatt. Mit dem Rückgang der Schriftlichkeit im germanischen Europa wurde die Urkunde, deren Rechtskraft in der Römerzeit in der Handschrift bzw. Unterschrift gelegen war, im frühen Mittelalter als Beweismittel zunehmend von Rechtssymbolik und Zeugenbeweis zurückgedrängt. Selbst bei Königsurkunden setzte sich anstelle der zum Monogramm veränderten eigenhändigen Unterschrift, die noch fur die Merowingerkönige typisch war, ein der reduzierten Schriftlichkeit besser entsprechendes Beglaubigungsmittel durch: das Siegel. Im Bereich der Privaturkunde hielt sich zunächst bestenfalls die Traditionsnotiz, in der geschenkte Güter unter Nennung der im Ernstfall befragbaren Zeugen und unter Wegfall urkundlicher Formen aufgezählt wurden. Diese Notizen, die nur der Erleichterung des Zeugenbeweises dienten, wurden gerne (oft später und abschriftlich) zu Traditionsbüchern zusammengefasst, die gerade im österreichisch-bayerischen Raum große Bedeutung hatten. Ab dem 11. Jahrhundert bildete sich mit der Verbreitung der Siegelurkunde neuerlich ein Urkundenwesen auf breiterer Basis aus. Die Siegelurkunde war zunächst wieder nur Beweisurkunde, als deren wichtigste Komponente die Zeugennennung galt. Mit Verzögerung wurde der Sprung zur Recht schaffenden dispositiven Urkunde getan und der Zeugenbeweis verdrängt. Die dispositiven Verben der Urkunde traten vom Perfekt der Notiz in das Präsens (donamus, tradimus, volumus) und gebrauchten gerne die Formel per praesentes [litteras]. Öffentlicher Glaube kam allerdings zunächst nur einem sigillum authenticum zu, das in jedem Fall Fürsten, Päpste, höhere Prälaten, Domkapitel und Konvente führten. Große Bedeutung behielten Zeugen, ihre Unterschriften und Siegel auch in der 00c Neuzeit bei der streng geregelten Abfassung von Testamenten. 26
Archivalientypen
„Beurkundungsstellen" Die (Mit-)Besiegelung (und Beglaubigung) in fremder Sache durch einen erweiterten Kreis von Siegelfuhrern ersetzte nördlich der Alpen bis zu einem gewissen Grad das hier sehr spät Fuß fassende Notariat (manus publica), wobei der Mitsiegler keine Bürgschaft oder Haftung für die Rechtsfolgen übernahm. Beliebte „Beurkundungsstellen" waren in unserem Raum Klöster, bischöfliche Offizialate oder städtische Organe, in deren Amtsbücher (ab dem 14./15. Jahrhundert regelrechte registra authenticä) man Akte der freiwilligen Gerichtsbarkeit, speziell Liegenschaftssachen, eintragen lassen konnte oder die entsprechende Siegelurkunden („Richter-, Schöffen- und Ratsurkunden") im Rang öffentlicher Urkunden ausstellten; auf dem Land übernahmen die Kanzleien der Grundherrschaften, in Deutschtirol Gerichtsschreiber diese Funktionen. In Ungarn finden wir bis 1874 neben den Komitaten und den Städten als Beurkundungsstellen auch die Institution der loci credibiles, meist waren dies vom König privilegierte Prälaten, Domkapitel und Konvente. Zu den Hoheitsrechten der Reichsstände rechnete man in der Theorie das aus dem römischen Recht entlehnte ius archivi der Frühen Neuzeit, das Recht, Archive einzurichten (aktives Archivrecht) und den dort verwahrten Urkunden so - ohne weiteren Beweis - vollen (öffentlichen) Glauben und Beweiskraft zu verschaffen (passives Archivrecht). Von Papst oder Kaiser ernannte Notare verbreiteten sich im deutschen Sprachraum erst im 14. Jahrhundert. Es waren bis an die Schwelle der Neuzeit meist Kleriker, ihre Tätigkeit konzentrierte sich stark auf das Gebiet des geistlichen Rechts. Bis weit in die Neuzeit blieb außerhalb der bischöflichen Offizialate die Bedeutung des Notariats in unseren Breiten, Südtirol ausgenommen, sehr gering. Erst die Notariatsordnung von 1850 setzte fiir eine Reihe von Rechtsgeschäften in Osterreich Notariatspflicht fest; in Süddeutschland verhalf der französische Einfluss in napoleonischer Zeit dem Notariat zum Durchbruch. Mittelalterliches Notarssignet In Italien hatten Notariatsinstrumente dagegen schon im 12. (Freihandzeichnung) Jahrhundert so viel Gewicht wie eine Kaiserurkunde. In Frankreich befand sich in der Frühen Neuzeit beinahe die gesamte freiwillige Gerichtsbarkeit in den Händen der Notare (Notariatszwang), namentlich das Nachlassverfahren, das in der Habsburgermonarchie obrigkeitlich, also vor der jeweils zuständigen (Zivil-)Gerichtsinstanz bis hinunter zur grundherrschaftlichen Amtskanzlei abgeführt wurde. Ihre im 20. Jahrhundert in öffentliche Hand gekommenen Archive (minutiers) sind daher unschätzbare Quellen der historischen Forschung. Sonderstellung der Urkunde Die Sonderstellung der Urkunde gründet sich auf mehrere Spezifika, die sie aus dem übrigen Schriftgut hervorheben, namentlich die besondere Rechtserheblichkeit und die oft, aber nicht notwendigerweise feierlichere äußere Form, zumindest aber relativ strenge Formal- oder Beglaubigungsvorschriften. Hinzu kommt ein rein prakti27
Begriffsbestimmung
scher Gesichtspunkt: die traditionell gesonderte Aufbewahrung in eigenen Urkunden„sammlungen", die vielfach mit einer Zerstörung der Provenienzen einherging. Die konsequente Sonderlegung ist in modernen Archiven bedingt durch konservatorische Rücksichten, also durch das Format und die Besiegelung (mit Hängesiegeln), trägt aber auch einem archivgeschichtlichen fait accompli Rechnung: Aufgrund ihrer großen rechtlichen Bedeutung wurden die empfangenen Urkunden nicht zusammen mit dem übrigen Kanzleimaterial verwahrt, sondern - zu regelrechten Urkundendepots zusammengezogen — gemeinsam mit dem Schatz an „geheiligten" oder besonders sicheren Orten (Klöster, Sakristeien, Burgen, Festungs- oder Stadttürme etc.). Man spricht folgerichtig von Schatzarchiven, die fur mittelalterliche Empfängerarchive typisch sind. Die im Urkundenzeitalter verständliche „Uberschätzung" der nicht zuletzt auch durch einen kostbareren Beschreibstoff ausgezeichneten Urkunde hat sich übrigens bis in die Frühzeit des (halb)wissenschaftlichen Archivwesens zu Beginn des 19. Jahrhunderts fortgepflanzt. Man betrachtete die Urkundensammlungen nicht nur als den wertvollsten Kern eines Archivs, sondern erklärte sie mitunter auch für ausschließlich archivwürdig. Urkundenmaterial wurde daher aus den Verwaltungsakten aussortiert, allerdings zum Teil recht inkonsequent. Staatsverträge als „Eliteurkunden" hat man aus den Verhandlungspapieren fast immer ausgeschieden, aber auch Testamente aus den Verlassenschaftsabhandlungen entfernt und gesondert abgelegt. Differenz in der Form: „offene" und „geschlossene" Urkunden Das mittelalterliche Latein bezeichnet die Urkunde als „littera" oder besser „litterae", ins Deutsche fand diese Bezeichnung zunächst korrekterweise als „Brief' Eingang, ehe sich „Urkunde" verbreitete, ursprünglich allerdings nur im Sinne von Zeugnis in der corroboratio verwendet („[in, zu] Urkund dessen", „urkundlich" fur in cuius rei testimonium). In Redewendungen („mit Brief und Siegel", „verbriefen" im Sinne von urkundlich feststellen bzw. bekräftigen) und unzähligen Komposita (Adelsbrief, Meisterbrief, Pfandbrief, Frachtbrief, Steckbrief, Geleitbrief, Kreditbrief usw.) hat sich die alte Bezeichnung bis heute erhalten. In neuerer Zeit wird „Brief' gerne durch „Schein" im Sinne von Lizenz (Führerschein, Gewerbeschein, Trauschein, Passierschein) oder auch durch „Zeugnis" (Leumundszeugnis, Führungszeugnis usw.) ersetzt. „Briefschaften" meinte noch in der Frühen Neuzeit meist wichtige „Papiere", also Urkunden. Herrscherliche Privilegien und Satzungen (Ordnungen) fur Städte und Stände hat man frühneuzeitlich auch gerne als „Handfesten" (Georgenberger Handfeste, 1186) bezeichnet. Offen Eine Urkunde mit Publikations- und Publizitätswillen wie etwa ein Privileg mit einer entsprechenden inscriptio bzw. publicatio („tun kund jedermänniglich") wird immer als litterae patentes (offener Brief, litterae apertae) ausgefertigt. Die deutsche Bezeichnung ist wegen ihres Doppelsinns (vgl. S. 46) viel weniger üblich als lettres patentes oder letters patent. Verbreiteter scheint die Kurzform Patent, die später so viel wie schriftliche Verlautbarung oder auch Bestallungs- oder Ernennungsurkunde meinen kann (S. 177), heute aber hauptsächlich mit dem rechtlichen Schutz einer (technischen) Erfindung assoziiert wird. 28
Archivalientypen
Auch eine Ernennungsurkunde ist in der Regel „offen" und feierlich, da sie den derart Begünstigten, an den sie eigentlich gerichtet ist, gegenüber Dritten oder der „Öffentlichkeit" als zu einem bestimmten Rang oder einer bestimmten Funktion berechtigt ausweisen soll („an alle fur einen"). Ahnliches gilt fur temporäre Legitimationspapiere wie Pässe oder „offene Ordres" („Vorzeiger dieses ..."). Schließlich wird im Buchdruckzeitalter die auf das rein Äußerliche, eben die offene Form, abstellende Bezeichnung „Patent" für alle möglichen landesfiirstlichen Bekanntmachungen verwendet. Den litteraepatentes stehen die litterae clausae gegenüber, die durch den Verschluss Geschlossen mittels Siegel einerseits authentifiziert, andererseits auch den Augen der Nicht-Adressaten entzogen sind. Sie dienen in der Regel nur der Anweisung oder Mitteilung, ihre Aufmachung ist reduziert. Sie wenden sich seit ihrem Aufkommen im Spätmittelalter in aller Regel an eine Einzelperson, nicht aber an die Allgemeinheit oder an Personengruppen. Differenz durch Inhalt: Diplom (Privileg) und Mandat Schon das Mittelalter unterscheidet zwei große Urkundengruppen, die sich über die Erheblichkeit ihres Rechtscharakters definieren und den inhaltlichen Niveauunterschied schließlich auch in der äußeren Form zum Ausdruck bringen. Auf der einen Seite steht das meist großformatige, oft kunstvoll ausgeführte Diplom Diplom (Privileg), das etwa als Kaiser- oder Königsurkunde Rechtshandlungen von grundsätzlicher, meist begnadender Bedeutung, mit generalisierender Adresse und ewiger, über die Lebensdauer des Ausstellers hinausreichender Geltung (omnibus Christi fidelibuspraesentibus acfitturis; ä touspresents et ä venir; „Bekennen für uns, unsere Erben und Nachkommen") dokumentiert (Schenkungen, Belehnungen, Standeserhöhungen usw.). Als bewusst feierliche Willenskundgebung tritt es in der Vollform der mittelalterlichen Urkunde mit anhängendem Majestätssiegel auf. Die römisch-klassische Bezeichnung diploma (Urkunde aus zwei zusammengelegten Blättern) ist im Mittelalter nicht verbreitet - man spricht vom Privilegium — und wird erst im Humanismus und schließlich von der Diplomatik wiederbelebt. Heute ist Diplom alltagssprachlich eine Urkunde über eine Auszeichnung oder eine bestandene Abschlussprüfung. Dem feierlichen Privileg steht das schlichte, kleinformatige, ebenfalls als litteraepatenMandat tes versandte Mandat gegenüber, mit dem zunächst nur die Vorbereitung oder Durchführung eines Rechts- oder Verwaltungsgeschäftes angeordnet oder auch ein rechdicher Sachverhalt mitgeteilt wird. Es ist daher im Grunde ein (Verwaltungs-)Schreiben oder eine Verlautbarung und keine Urkunde im eigendichen Sinne. Aus dem Formenapparat des Diploms weist es auch nur mehr einzelne Teile auf und trägt im Spätmittelalter das rückseitig aufgedrückte Siegel unter einem aufgelegten Papierplättchen (Papiertektur), hat daher keinen Bug (plica) für die Einhängung des Siegels. Ab dem 15. Jahrhundert findet sich das aufgedrückte Siegel mehr und mehr auf der Vorderseite unter dem Text. 29
Begriffsbestimmung
Seine Bezeichnung hat das Mandat von dem charakteristischen dispositiven Verbum „mandamus" (wir tragen auf, befehlen). Es ist also ein Befehlsschreiben eines hierarchisch Höhergestellten an einen Untergebenen. In der Römerzeit war das Mandat eine interne Dienstanweisung an Beamte gewesen. Die antiken mandataprincipis gehörten neben den edicta, decreta und rescripta zu den constitutiones, zu den herrscherlichen Willensäußerungen. In der österreichischen Herzogskanzlei wurde das Mandat ab ca. 1400 nur mehr 04-5a auf Papier ausgefertigt. Schon damals sind die auch späterhin typischen Adress- und Grußformeln („entbieten"), die bis in die Neuzeit charakteristischen Befehlseinschärfungen („das ist ernstlich unser mainung") und die vereinfachte Datierung unter Auslassung des Jahrhunderts anzutreffen. Die corrobomtio fehlt, dafür wenden sich Mandate anders als die generalisierenden Diplome stets an konkrete Adressaten oder besser: an bestimmte Adressatenkreise, ζ. B. die Stände eines Landes, bestimmte Amtsinhaber usw. Ergeht das Mandat an eine Vielzahl von Personen und will es eine ganze Geschäftsgruppe gleichsam legistisch regeln, wird es als offenes „Generalmandat" (auch: „Generale" oder „General") bald auch im Druck publiziert. Papsturkunden Feierliche Privilegien (die bis zum 14. Jahrhundert hin aussterben) und einfachere litterae (cum filo serico fur Gratialsachen/c«»? filo canapis für Anfragebeantwortungen, Rechtsentscheidungen oder Verwaltungsbefehle, daher auch mandata) sind auch die beiden Hauptformen der mittelalterlichen Papsturkunde. Eine Mischung aus Privilegien und litterae stellen die Bullen (litterae apostolicae subplumbo) dar, die sich ab dem 13. Jahrhundert allmählich verbreiten, und zwar fur Urkunden mit besonderer Bedeutung und längerer Rechtswirkung. Auch noch im 20. Jahrhundert den wichtigsten Rechtsakten des Heiligen Stuhles vorbehalten, sind sie leicht an der typischen Verewigungsformel (ad perpetuamlfuturam rei memoriam) und - in der Neuzeit bis 1878 - an der charakteristischen Manierierschrift, der „Bollatica", zu erkennen. Die Bleibulle ist kein Unterscheidungskriterium, da auch die Privilegien und die beiden Haupttypen der litterae das Bleisiegel erhielten. Wichtige Bullen, die man nach den ersten Worten der Arenga zitiert (Unam Sanctam 1302), wurden in „Bullarien" gesammelt. Vom Mandat zu den litterae clausae ^ 04-6a In der deutschen Königskanzlei wurden konkrete Anweisungen an individuelle Adressaten - man könnte sie auch Spezialmandate nennen — seit der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert, in der österreichischen Herzogskanzlei ab den 1360er Jahren zunehmend in geschlossener Form versiegelt verschickt. Eine teilweise Veränderung des Formulars ist die Folge: Die litterae clausae (zeitgenössisch auch „Missive" oder „Sendbriefe") sind grußlos, fuhren aber eine direkte Anrede (ohne Namensnennung) und im Gegensatz zu den Mandaten eine Außenadresse ; die zunehmend verknappte intitulatio (ohne „Wir") steht abgesetzt und zentriert über dem Textblock, die Datierung ist stark gekürzt. Im 15. Jahrhundert kamen neben dem üblichen Querformat auch schon hochformatige Ausfertigungen vor, die sich bis Mitte des 16. Jahrhunderts fur Verwaltungsanweisungen vollständig durchsetzten. 30
Archivalientypen
Vertraulichkeit, ja Geheimhaltungswünsche oder verfahrensrechtliche Erwägungen bedingten also die Ausfertigung als litterae clausae, aus denen die mediävistische Urkundenlehre gerne eine dritte Gruppe neben Diplom und Mandat bildet. Eigentlich handelt es sich hier wieder bloß um Verwaltungsschreiben und nicht um Urkunden in strenger Auslegung. Die Papstkanzlei versandte ihre litterae cum fib canapis auch verschlossen. Ab etwa 1400 treten die bald dominanten Breven auf. Ihre Einordnung ist unter anderem durch die mittige intitulatio (etwa P A U L U S ρ [ Α ] Ρ [ A ] I I I ) , das querrechteckige Format und die Siegelankündigung sub an(n)ulo piscatoris (Fischerringsiegel) problemlos. Das Wachssiegel dient dem Verschluss, die Schrift ist im Unterschied zu den Bullen eine humanistische Kanzleischrift (cancellaresca).
Päpstlicher Fischerring (15. Jahrhundert)
Abgrenzungsschwierigkeiten Die Abgrenzung von Urkunden und Aktenschriftstücken ist durchaus nicht so einfach, wie schematische und populäre Definitionsversuche vielfach glauben machen wollen. Wir sahen bereits, dass die mittelalterliche Diplomatik vieles als Urkunde betrachtet, was /»iiif ©«Iben in Wahrheit bloßes Verwaltungsschreiben ist. Manche haben das Mandat als Befehlsschreiben zur Vorberei> i T«^.m»rüiW3 ich Jfunf JPtlfani tame.' tung bzw. Verlautbarung von Rechtsgeschäften überhaupt als eine Art Mittelstufe zwischen Urkunden und „Briefen" bzw. Akten Ciarrtl C*Se eingeordnet, andere wollten die neuzeitlichen Edikte und Patente Пm mm I. neben den Urkunden als eigene Gattung abgrenzen. Kurt Dülfer UntftfatlfJrtl. hat „offene Briefe" mit Urkunden, „geschlossene Briefe" als Befehle Jvprnular. а oder Mitteilungen mit Schreiben und damit umgangssprachlich mit,Akten" gleichgesetzt. Zahlungsanweisung 1849 Die Beobachtung äußerer und innerer Formvorschriften muss bei Urkunden nicht notwendigerweise zu formaler Feierlichkeit führen, doch ist klar, dass Konzepte und bloße Abschriften von Urkunden selbst keine Urkunden sind. Heute haben die meisten Urkunden die klassische Vollform längst abgelegt oder Formlosigwerden als solche überhaupt nicht mehr wahrgenommen, wie Rechnungen, Quit- keit moderner tungen, Aktien, Wertpapiere, Polizzen, Wechsel, Schecks, Stimmzettel usw. Diese „Urkunden" Entwicklung hat schon am Beginn der Neuzeit eingesetzt. Ihren „urkundlichen Rang" verleugnen nach außen insbesondere die ein „Recht" bescheinigenden „Verkehrsurkunden" (ζ. B. Eintritts- und Fahrkarten), in weitestem Verständnis temporäre Legitimationspapiere, die nach Erfüllung ihres Zwecks in rechtlicher wie archivischer Sicht wertlos werden. Ihren zeremoniell-feierlichen Charakter und ein besonders starres Formular haben neuzeitliche Urkunden bis heute am ehesten im Bereich der Gesetzes- und Staatsvertragsurkunden bewahrt, teilweise auch die Kreditive der Diplomaten als Legitimationsurkunden (S. 174). Ähnliches gilt von der schriftlichen Fixierung von Akten der freiwilligen Gerichtsbarkeit. t i i m w Uta» fc.r fc. k. Stmt -Сгл Ш » шггЪгп kit 2-nfm unjtr fitWiuitigrr jj BjiiK'-inijabr rieft a rum CaCd^nui/ifaag Sbrt £4р°ил(*Ь begrenzt: „Zu schreiben aus dem Einlauf/Geschäftsstück von < bis >." Im Zeitalter des Telefons kommt auch die Kanzleiweisung „Fernspruch" vor, was bedeutete, dass die telefonische Übermittlung einer Erledigung minderer Wichtigkeit der Kanzlei überlassen wurde. In Konzept und Ausfertigung werden die Beilagen, im 16. Jahrhundert noch „Einschlüsse" genannt, bis ins Schreibmaschinenzeitalter durch „./.", den Anlagestrich (auch Allegatstrich, von allegata Beilagen), ausgewiesen („ausgeworfen") und, gibt es deren mehrere, zusätzlich litteriert, also mit Buchstaben gekennzeichnet, oder nummeriert. Im Verband des Rubrums auf der letzten Seite kann die Buchstaben- oder Ziffernfolge dann mit Aufzählung der Beilagen aufgelöst werden. Weniger präzise, aber recht verbreitet ist der Brauch, die Nummer der Beilage durch eine entsprechende Zahl von Anlagestrichen auszudrücken (//// = Anlage 4). In Büros des 20. Jahrhunderts rückte die Spezifizierung der Beilagen („BeiAnlagestriche lagen: 3 Stück", „2 Beilagen") entweder Richtung Briefkopf zu „Betreff" (Gegen-
£infcf|csiben
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Geschäftsgang" und Aktenlauf
stand) und „Bezug" (also „zum Erlass Zahl... vom ...") oder aber an das untere Ende des Schreibens. Auf dem Konzept wird vielfach auch vermerkt, was mit dem ganzen Vorgang nach Abschluss zu geschehen hat, also entweder seine Einverleibung in den Registraturverband (z. d. A. = zu den Akten, [reponatur] ad aetata, a., „zur Registratur", „hinterlegen", „einlegen", „beilegen", „Ablage!", .Aufzubehalten", „zur Sammlung"). Der z. d. A.-Vermerk war ursprünglich ein Vorrecht des Behördenchefs, vergleichbar dem Praesentatum. Weglegesachen (S. 43) werden gar nicht zu den Akten genommen (Vermerk: „Weglegen", Wgl.), sondern nur fur eine kurze Frist aufbewahrt und sodann entsorgt. Das „Zu-den-Akten-Bringen" hatte in der preußisch-deutschen Tradition durch die Einheftung der Aktenstücke in den Aktenband mittels Heftfaden etwas Endgültiges. „Zum Vorgang" bedeutet, dass der entsprechende Vorgang als Teil einer Sachakte abgeschlossen ist, die Akte selbst jedoch nicht. „Zur Sammlung" heißt, dass etwa das Eintreffen von Rückäußerungen abgewartet werden soll und die Sache dann wieder aufgenommen wird. Sollte die Sache im Geschäftsgang bleiben, waren Verfahrensschritte oder Rückmeidungen anderer Dienststellen abzuwarten, so setzte man statt der Weisung zur Ablage eine Vormerkung zur „Wiedervorlage" (Fristvermerk, „Befristung") an den Sachbearbeiter (Wv., wvl. für „wiedervorlegen am ...", oder lat. reproducetur, auch notetur terminus) zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die „auf Wiedervorlage" gelegten Stücke wurden in der Registratur meistens in eigenen Mappen gesammelt (Wiedervorlagemappen), oder aber man führte Fristkarteien, „Fristfächer", „Fristkästen", Fristkalender oder Fristzettel (wenn das Stück urschriftlich abgefertigt wurde). In der Habsburgermonarchie des 19. Jahrhunderts sprach man von „Skontro", ein der Handelssprache entlehnter Begriff, wenn man die Rückäußerung einer anderen Abteilung, Behörde oder von allerhöchster Stelle usw. abwartete und dabei eine Frist setzte („Skontro bis ...", „zu betreiben bis ...", auf Referatsbögen des 20. Jahrhunderts vielfach: „Frist") und bei Ausbleiben periodisch urgierte. Dafür wurden (neben einem entsprechenden Vermerk im Exhibitenprotokoll) eigene Skontrobücher geführt; bei Gericht hießen sie auch „Betreibungsbücher". Revision und Approbation Die Revision des Konzepts durch den Referenten oder mehrfach gestuft durch hierarchisch Höherstehende (im 15. und 16. Jahrhundert in besonders wichtigen Angelegenheiten noch vermittels ,Abhörung" durch das Ratskollegium bzw. einen Ausschuss desselben) macht auch das formloseste Konzept zu einem vollwertigen Behördenschriftstück, sofern die Behörde die üblichen Richtlinien beachtet. Grundsätzlich gilt: Je wichtiger ein Schriftstück, desto komplizierter und eingehender in der Regel die Überarbeitung durch höhere und höchste Beamte. Im к. u. k. Ministerium des Äußern herrschte dagegen bis zum Zusammenbruch 1918 bei Konzipierung, Revision und Fertigung ein ganz erstaunliches Laisser-faire. In der Metternichzeit wurde in der politischen Abteilung der Staatskanzlei nicht einmal ein Exhibitenprotokoll geführt. 79
SchlussVerfügungen
Wiedervorlage und Skontro
Genetische Aktenkunde
Die maximilianeische Hofordnung von 1498 sah zunächst vor, dass die Sekretäre für die Expeditionen auf Basis ihrer Notizen aus den Ratssitzungen „copeyen" erstellten, die der Kanzler durchsah und bei Genehmigung abzeichnete. Der Kanzler nahm sodann die von Kanzleischreibern ingrossierten Erledigungen in die nächste Ratssitzung mit und verlas sie dort. Wurden sie als der Willensmeinung des Rates entsprechend befunden, konnten sie sogleich gesiegelt werden. Ansonsten gingen die Stücke zur Neuausfertigung zurück. Die Revision in der Ratsversammlung scheint bis Mitte des 16. Jahrhunderts großteils, aber nicht durchgehend abgekommen zu sein. Länger hielt sich eine letztinstanzliche Kontrolle durch den Geheimen Rat. Besonders wichtige und schließlich strittige Sachen waren vom Kanzler oder von einem der obersten Hofwürdenträger auch noch dem Kaiser in eigenen Audienzen oder „öffentlich in völligem geheimben rath" vorzutragen. Im Übergang von der kollegialen zur monokratischen Behördenverfassung übernahm der Referent oder Sachbearbeiter selbst mehr und mehr die Erstellung des Konzepts, das vom Vorgesetzten (Abteilungsleiter oder Behördenchef) revidiert wurde. Der Geschäftsgang war also deutlich abgekürzt. Kompliziert wird es im 16. und 17. Jahrhundert dann, wenn Konzepte zur Revision und Finalgenehmigung zusätzlich einem (externen) Ratsgremium vorgelegt werden mussten, wie in der Habsburgermonarchie dem Geheimen Rat bzw. der Geheimen Konferenz, wohin auch die Vorstände und ausgewählte Räte der Zentralbehörden bestellt werden konnten. Noch die Konferenzordnung von 1721 sieht vor, dass der Hofkanzler die Konzepte wichtiger diplomatischer Expeditionen in der Geheimen Konferenz vorzutragen hatte. RevisionsDer Korrektur- und Genehmigungsprozess muss auf dem Schriftstück dokumenvermerke tiert werden (Revisionsvermerke). In sehr strenger Auslegung sind eigentlich nur entsprechend paraphierte Schriftstücke (revidierte) Konzepte, alles andere wäre im Grunde bloß als Entwurf zu bezeichnen. Entwurf wurde aber in neuerer Zeit zunehmend auch das Konzept genannt. Zeitlich am ältesten sind neben einfachen Revisionsstrichen Vermerke im unpersönlichen Stil wie legit Dominus [ ] (solche Vermerke mussten nicht vom Uberprüfenden, sondern konnten auch vom Überprüften stammen: vidit dominus vicecancellarius) oder visum et ledum per [ ] et sic jussit expediri, tectum et approbatum in consilio, „abgehört und passirt im gehaimen rath". Dann setzte sich die meist eigenhändige Revision mit Namen oder Namenszeichen/Paraphe und dem Wort vidi oder revidi, mitunter gekürzt zu „V.", oder legii durch, im 19. Jahrhundert auch л/* „Nach Durchsicht genehmigt", nur „gesehen" oder die bloße Paraphe. Mit einem vidi versehen nennt man daher „vidieren". Norddeutsch spricht man auch von „abchiffern" (von Chiffre für Paraphe), in Osterreich von „abzeichnen". Eine Korrevision durch den Korreferenten und eine Superrevision durch den Behördenleiter war möglich, manchmal sogar vorgeschrieben. Anfang des 19. Jahrhunderts machten sich Kritiker der österreichischen Bürokratie darüber lustig, dass hoch bezahlte Behördenchefs ihre Tage mit der Revidierung von Konzepten und der Verbesserung von Schreib- und Sprachfehlern zubrachten. 80
„ Geschäftsgang" und Aktenlauf
Bei preußischen Kollegialbehörden stehen die Revisionsvermerke - ebenso wie die kollegialisierten Unterschriften auf der Reinschrift — nebeneinander, dem Rang nach von links (Dienstältester) nach rechts (Dienstjüngster). In der Habsburgermonarchie ist eher der Aufbau einer regelrechten „Revisionssäule" auf der linken Blatthälfte des „halbbrüchig" beschriebenen Konzeptbogens charakteristisch. Hierarchisch aufsteigend zeichneten Referent und Räte bis hinauf zum Behördenchef das Konzept ab. Noch die österreichische Kanzleiordnung für die Bundesministerien von 1974 kannte diese aufsteigenden Revisionssäulen auf den vorgedruckten Referatsbögen. Das Datum des abschließenden Revisionsvermerks (= Genehmigung) wird vielfach als Datum der nach außen gehenden Erledigung verwendet. Das revidierte Konzept ist nach Inhalt und Wortwahl festgelegt und darf nicht Zentralität des mehr verändert werden (ne varietur). Abgesehen von der schlechteren Lesbarkeit Konzept (aufgrund der flüchtigeren Konzepthand oder durch die meist sehr zahlreichen, erst in der Reinschrift aufzulösenden Kürzungen) und der üblichen Weglassung aller „Kurialien", also der intitulatio, der Höflichkeitsfloskeln wie Gruß, Diensterbietung usw., unterscheidet sich der verwaltungsrelevante Haupttext nicht mehr von der Ausfertigung, die dem Adressaten zugestellt wird. Für Meisner ist das revidierte Konzept sogar die eigentliche Urschrift, „das wahrhafte und beweiskräftigste Original". In der Tat erfährt man aus dem Konzept ungleich mehr über Urheberschaft und Entstehung als aus der vergleichsweise kahlen Reinschrift. Im Konzept liegt also der eigentliche schöpferische Akt. Wurde ein Konzept durch massive Korrekturen für den Reinschreiber zu unüber- Reinkonzept sichtlich, stellte man in der Regel ein alle Änderungswünsche berücksichtigendes Reinkonzept als Vorlage für die Reinschrift her. Reinschrift Nach der Genehmigung des Konzepts können die Kanzleischreiber - trotz wiederholter Verbote immer wieder auch Privatschreiber, „Tagschreiber", „Diurnisten", auch „Hausskribenten" genannt, und andere unbeeidigte Personen mit oft schlechter Handschrift — zur Reinschrift schreiten. Besonders vertrauliche oder wichtige Dinge schrieben immer wieder auch die Sekretäre oder Räte selbst ins Reine. Ins Reine schreiben heißt kanzleideutsch auch „mundieren", „originalisieren", expedieren. Expedieren kann bekanntlich auch so viel wie konzipieren bedeuten. Noch mittelalterlich getönt ist „ingrossieren", also mit größeren Buchstaben schreiben (grossa die Ausfertigung bzw. Reinschrift), in Notariatsinstrumenten heißt es in publicam formam redigere·, hier erzeugte schon das traditionell fest00b stehende Formular (u. a. invocatio, Spezialdatierung, Beurkundungsbitte) die Vermutung der Echtheit. Die Reinschrift geschieht nach Beendigung der Revision auf besondere Anweisung (meist durch den ranghöchsten Revidierenden). Wir nennen diese seit dem Mittelalter auch den Fertigungsbefehl (ausgedrückt ζ. B. durch expediatur, ingrossetur, scribatur, im 17. Jahrhundert teilweise auch placet), dem bisweilen der Name eines konkreten Expediatur (mit Datum) 81
Genetische Aktenkunde
Schreibers beigesetzt wird. In späterer Zeit löst der letztinstanzliche Revisionsvermerk als finale Genehmigung die weiteren Schritte automatisch aus. Für die Austeilung der zu mundierenden Konzepte an die Kanzlisten und ihre Überwachung war in größeren BehörMundierungsbestätigung den anfangs der Taxator, dann der Registrator, später oft ein eigener „Expeditor" verantwortlich, der auch die Kollationierung übernehmen konnte. Expedit heißt in Behörden des 19. Jahrhunderts daher vielfach die mit der Mundierung und Expedierung der Stücke befasste Hilfsdienststelle (S. 63). Die Übernahme des Stücks und schließlich den Fertigungsbefehl beantwortet der Reinschreiber (Kanzlist) oder der Vorstand der Kanzlei, manchmal auch beide, mit einem Übernahmevermerk und schließlich mit dem Fertigungsvermerk expeditum oder expedivi(t), natürlich in verschiedenen Abkürzungsvarianten (E., ex., exp. usw.) — mit und ohne Namensnennung. Möglich sind auch mundatum, mundiert, scripsi, später: gefertigt. Stark vereinfacht ist im Bereich der Wirtschaft nicht nur die Herstellung der Reinschrift in möglichst zeitsparender Direktschrift, sondern auch das System der Vermerke. Hier beschränkt man sich meist auf einen Diktatvermerk, der entweder selbstständig oder in Verbindung mit dem Datum den Diktierenden und die reinschreiExpeditum bende Schreibkraft (Stenotypistin) angibt. Die Schreibmaschinenrevolution Durch den Siegeszug der Schreibmaschine im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde es zunehmend üblich, die Reinschrift in Direktschrift herzustellen, eventuell im Diktat oder nach einem nicht aufzubewahrenden Stenogramm („vereinfachte Erledigung"). Die mit Durchschlagpapier hergestellte Durchschrift (auch in mehreren Exemplaren) kommt als Beleg des deckungsgleichen Ausgangs zu den Akten (gegebenenfalls mit den entsprechenden Bearbeitungsvermerken und dem missverständlichen Stempel „Entwurf), es fehlen lediglich der Briefkopf und die Unterschrift. In späterer Zeit wird dann das Durchschlagverfahren seinerseits von der Hektographie und schließlich von der Fotokopie abgelöst, die ein völlig identisches Exemplar der Reinschrift darstellt. Presskopien auf Seidenpapier kommen schon Ende des 18. Jahrhunderts vor, allerdings wohl nur in Privatregistraturen. Im 19. Jahrhundert ist die Lithographie eine zunehmend beliebte, aber immer noch umständliche Form der Vervielfältigung für wichtige Normtexte. Durchschriften und Kopien übernehmen jedenfalls die Rolle der informativen Abschrift für Dritte. Bei Behörden blieb anders als im kaufmännischen Bereich trotz des technischen Fortschritts im Sinne der Nachvollziehbarkeit von Entstehung und Verantwortlichkeit die Herstellung eines Konzepts vielfach weiterhin üblich. Der Sachbearbeiter verfertigte ein anfangs handschriftliches, dann nicht selten gleichfalls maschin82
Geschäftsgang" und Aktenlauf
schriftliches Konzept, das genehmigt und in der Kanzlei reingeschrieben wurde. Eine Durchschrift wurde dann nicht oder nur fallweise zu den Akten genommen. Kollationierung Das auf der Grundlage des (Rein-) Konzepts hergestellte Mundum ist auf seine Übereinstimmung mit dem Konzept und allfällige (auch inhaltliche) Fehler zu kontrollieren. Dieses Korrekturlesen, in der Regel durch zwei Kanzlisten oder Konzipienten und Kanzlisten, nennt man „kollationieren". Auf dem Konzept wird dies mit Abkürzungen des Wortes collationata/collationatum (coll., coli" oder c.) vermerkt; später findet man auch „gelesen" oder „verglichen", begleitet von den Paraphen zweier Kanzlisten (Vorleser und Zuhörer). Eine „Superkollationierung" durch höhere Beamte war bei besonders wichtigen Schriftstücken möglich. Kollationierungsbestätigungen finden sich durchaus auch auf den Ausfertigungen im rechten unteren Eck oder auf der letzten beschriebenen Seite, bei Kanzleiurkunden der Reichskanzlei im 16. Jahrhundert vielfach bei voll aufgefalteter Plica ganz unten rechts oder im Zusammenhang mit dem Registrierungsvermerk des Registrators (registrata, in Verbindung mit collationata), „aussen zuruck", also auf der Außenseite.
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8BW »itioait ; 3«пи ^votoioü Лиг töcgiftratur Expeditionsvermerk (Vordruck)
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Expeditionsvermerk (handschriftlich)
Vollziehung Die Reinschrift ist zunächst nur eine formschöne Abschrift des Konzepts. Erst nach der Unterschrift durch den nach Geschäftsordnung Zeichnungsberechtigten oder mit einer sonst vorgesehenen Form der Beglaubigung liegt ein vollgültiges, versendbares Schriftstück vor: die vollzogene Reinschrift, der alleine die gewünschte behördliche (rechtliche) Wirkung nach außen zukommt. Wer die Unterschrift leisten soll, kann abweichend von der Geschäftsroutine durch einen Zeichnungsvorbehalt („Vollziehungsvermerk") auf Einlaufübersichten, Eingangsstücken oder dem Konzept bestimmt werden (vgl. oben S. 69). Bei kollegial verfassten Behörden zeichnen entweder alle oder mehrere Mitglieder des Kollegiums (wie in Preußen) oder aber, in der Habsburgermonarchie, nur der „Chef (Präsident, Kanzler etc.) selbst, allenfalls auch der Vizekanzler oder der Zweite Kanzler. Der verantwortliche Referent konnte gegenzeichnen. Um 1900 galt vielfach die Bestimmung, dass jener unterfertigte, der das expediatur erteilte. Im 18. Jahrhundert herrschte noch weitgehende Unterschriftspflicht durch den Behördenchef (mit entsprechenden Gegenzeichnungen); es war dies wohl ein Gegenschlag gegen das missbräuchliche Überhandnehmen der Zeichnung sub firma consilii (S. 162) bei Dekreten und Intimationen durch Räte oder Sekretäre, die am Behördenleiter oder dem Ratskollegium vorbeiagierten. 83
Genetische Aktenkunde
Unter Maria Theresia war diese Art der Unterschrift nur mehr bei Mitteilungen an andere Behörden zulässig; im Übrigen wollte man streng daraufhalten, dass der Präsident die Stücke selbst präsentierte und kein Konzept reingeschrieben wurde, auf das er nicht sein expediatur gesetzt hatte. Wichtige Reskripte und natürlich die Patente fiir hohe Funktionen und Ränge hat der Landesfürst selbst unterfertigt. Auch dies wurde bald zu viel: So sind etwa die Weisungen der obersten Zivilverwaltungsbehörde, der Böhmisch-Österreichischen Hofkanzlei, an die Länder ab den 1760er Jahren nicht mehr von der Landesfurstin selbst unterschrieben worden; Gleiches gilt von den Instruktionen der Staatskanzlei an die к. k. Diplomaten. Vertretungsweise Auch im Präsidialsystem kann der Behördenleiter natürlich nicht alles kontrollieUnterschrift ren. In großen Ministerialbehörden sieht die Geschäftsordnung grundsätzlich schon seit dem 19. Jahrhundert eine immer weitergehende Dezentralisierung der Geschäfte nach sachlicher Zuständigkeit vor, und zwar nicht nur für Routinebehandlungen. Nur wichtige Angelegenheiten (Personalia, Budgetsachen oder grundsätzliche Fragen) behielt sich die Spitze weiterhin vor. Zur geschäftsmäßigen Erledigung ist dabei in besonders enger Zusammenarbeit mit dem Minister die Präsidialsektion berufen, die sich auch registraturmäßig oft von den übrigen Organisationseinheiten abhebt (vgl. S. 73). Der Großteil der Geschäftsfälle verbleibt den Sektions-, gegebenenfalls auch den Abteilungsleitern zur eigenverantwortlichen Erledigung innerhalb ihrer Organisationseinheit. Sie genehmigen und zeichnen dabei „Für den Minister" (Fertigungsoder Unterzeichnungsklausel) anstelle von „Der Minister". „Für den Minister" bedeutet, dass der Unterschreibende, durch die Geschäftsordnung gedeckt, auch das Konzept genehmigt hat. „Für den ..." kennzeichnet also eine dauernde organisationsgemäße Vertretung in der Unterschriftsleistung, „in Vertretung" (i. V.) oder „im Auftrag" (i. A.) nur eine temporäre oder ausnahmsweise durch den tatsächlichen Stellvertreter, etwa bei Erkrankung oder Abwesenheit. Regelungsbedarf besteht auch bei Mitregentschaften usw., so etwa als Joseph II. nach 1765 als Corregens zeichnen durfte. Er selbst beauftragte 1781 Staatskanzler Kaunitz mit seiner Stellvertretung und sah dafür auch eine spezielle Fertigungsformel vor: „In Abwesenheit Sr. к. к. apostolischen Majestät auf allerhöchsteigens erlassenen Befehl." Kaiser Franz II./I. hat als Stellvertreter im Falle temporärer Abwesenheit wieder Mitglieder des kaiserlichen Hauses eingesetzt, doch blieb der Anteil der dem Kaiser vorbehaltenen Entscheidungen und damit der nachzusendenden Stücke gewaltig. Für den schwachen Ferdinand I. (1835-1848) zeichnete wiederholt Erzherzog Ludwig gleichsam als Regent „Auf allerhöchsten Befehl Seiner Majestät". Dem Erzherzog-Regenten stand die aus ihm selbst, Erzherzog Franz Karl, Fürst Metternich und Graf Franz Kolowrat zusammengesetzte „Staatskonferenz" als Regentschaftsrat zur Seite. Unter Kaiser Franz Joseph zeichneten Stellvertreter (stets Erzherzöge, zuletzt der Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand) bei Abwesenheit oder zur Entlastung von minderwichtigen Geschäften mit der traditionellen Klausel „Auf allerhöchsten Befehl Seiner к. k. Apostolischen Majestät"; geringere Verwaltungssachen wurden gegen Ende der francisco-josephinischen Epoche auch einzelnen Regierungsmitgliedern ad personam überlassen (unter der Formel „Auf Grund allerhöchster Ermächtigung").
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Geschäftsgang" und Aktenlauf
Aus der Fertigungsklausel sind noch heute wichtige Hinweise auf die Art des Verwaltungshandelns zu entnehmen. Die Ämter der Landesregierung zeichnen „Für den Landeshauptmann" in Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung, „Für die Landesregierung" in Angelegenheiten der Landesverwaltung. Eine bis heute übliche Form der Unterschriftsleistung bei größeren Behörden ist Beglaubigte die „beglaubigte Unterschrift" anstelle der persönlichen Unterfertigung durch den Unterschrift Leiter oder seinen Bevollmächtigten. In Preußen ist sie 1907 gleichzeitig mit einer Regelung für Unterschriftsstempel bei massenhaften Ausfertigungen gestattet worden, in Osterreich hat man sie 1923 fur die allgemeine Verwaltung eingeführt, für den Bereich der Justiz schon früher. In diesem Fall zeichnet (genehmigt) der Betreffende bloß das Konzept abschließend, die Reinschrift trägt aber nur den maschinschriftlichen Namen (oft mit vorgeschaltetem „gez.") und eine paraphierte Beglaubigungsklausel des berechtigten Kanzleibediensteten („Für die Richtigkeit der Ausfertigung" links unter dem Text). Beglaubigt wird dabei die Übereinstimmung der Ausfertigung mit dem Konzept. Sachlich wichtig ist die Endzeichnung (Genehmigung) des Konzepts, nicht die Unterschrift als bloße Repräsentation nach außen. Diese Form der „Beglaubigung" ist nur für bestimmte Erledigungskategorien zulässig, keinesfalls fur Ausfertigungen urkundlichen Charakters oder gegenüber obersten Organen. Wurde abweichend vom Gebrauch die Vorlage zur eigenhändigen Unterschrift gewünscht, so war an den Schluss des Erledigungsentwurfs „e. h." (für eigenhändig) zu setzen, oder auch „Zur Unterschrift" (Z U). Unterschriftsstempel waren in österreichischen Ämtern um 1900 im Schriftverkehr nach außen nicht statthaft. Taxierung Kanzleitaxen sind Geldbeträge, die Parteien in der Frühen Neuzeit an obrigkeitliche Amter und Dienststellen für in ihrem Interesse oder auf ihren Antrag vorgenommene Amtshandlungen und Ausfertigungen entrichten mussten. Sie entsprechen den Stempelmarken bzw. Verwaltungsgebühren unserer Tage. Sie setzten sich in der frühneuzeitlichen Habsburgermonarchie jedenfalls aus der eigentlichen Taxe und den „Kanzleijura" (Kanzleisporteln, Extragebühren usw.) zusammen. Auf Konzept und Ausfertigung wurden bei taxpflichtigen Ausfertigungen entweder der fällige Betrag oder aber die Taxfreiheit (Gratisausfertigung, „herrschaftliche Sache", ex officio, pauper usw.) von einem eigenen Taxator im Zusammenwirken mit dem ihm zur Seite gestellten Taxgegenschreiber („Gegenhandler") vermerkt. In Lehenssachen waren neben den Lehenstaxen (für die Lehensbehörde) auch „Laudemialgelder" (für den Lehensherrn) fällig. Die Taxierung erfolgte meist vor der Besiegelung. Die Taxsumme musste nach den frühmodernen Kanzleiordnungen oft auf der Rückseite der ausgehenden Stücke in Buchstaben und nicht in Ziffern ausgedrückt werden. Vielfach war auch die Plica Tummelplatz für Taxvermerke. Die Höhe der Taxen war in eigenen Taxordnungen festgelegt und vor allem bei Verleihung höherer Chargen, Würden und Adelsränge sehr beträchtlich. Noch in der Endphase des monarchischen Europa um 1900 fielen die Stempel- und Diplomgebühren der Heroldsämter und vergleichbarer Institutionen für Adelstitel (Adels85
Genetische Aktenkunde
taxen) horrend aus. Die „Nachsicht aller Taxen" war daher ein besonders gesuchter (materieller) Gnadenerweis. Die Erlegung der geschuldeten Summe durch die Parteien erfolgte bei Abholung der Urkunde. Nicht wenige Antragsteller verzichteten schließlich überhaupt auf die Behebung der Schriftstücke, sodass die Jahresrechnungen der Taxämter nicht selten mit einem Defizit schlossen. Dies war umso bedenklicher, als die Beamtenschaft bis hinunter zum Kanzleidiener, Heizer und Türhüter wesentlich aus den Geldeingängen des Taxamtes entlohnt und die Kanzleiaufwendungen für Beschreibstoffe, Tinte, Wachs, Beleuchtung usw. daraus bestritten wurden. Schon im 16. Jahrhundert reichten die Taxeinnahmen längst nicht mehr hin, und die Kanzleien mussten aus den landesfürstlichen Kammern subventioniert werden. Zur Fixbesoldung der Bediensteten kamen je nach hierarchischer Position unterschiedliche und schwer auseinanderzuhaltende Anteile an den Kanzleijura oder Kanzleigebühren, also an den regalia (fur die höheren Beamten, insbesondere die Sekretäre, auch jura subscriptionis) oder den bibalia (Siegelgeld, Konzipiergeld, Kollationiergeld, Vidimationsgeld, Schreibgeld usw. fur die Kanzleibediensteten). Die Taxen belasteten hauptsächlich die Pergamentausfertigungen, schließlich aber auch kleinere Privilegien wie Schutz- und Geleitbriefe. Besonders prunkvolle Ausfertigungs- und Besiegelungsformen führten zu entsprechend saftigen Aufpreisen. Zahlen musste auch, wer wollte, dass seine Ernennung, Erhebung in den Adelsstand usw. bekannt gemacht (intimiert) wurde („Intimationsgeld"). Taxamt, Kanzleidiener und sogar der Kanzleiheizer (etwa in der Reichskanzlei) forderten zusätzlich oft Schnur-, Kapsel- und Libellgeld fur ihren Anteil am Besiegelungsverfahren oder bei der Ausstellung einer Urkunde in Buchform. Der Ertrag der Kanzleigebühren übertraf die Fixbesoldung um ein Vielfaches. Hinzu kamen bei besonders wichtigen Ausfertigungen zusätzliche „Verehrungen" (discretiones ad libitum) seitens der Impetranten, speziell an die höheren Beamten, wogegen Joseph II. mit Schärfe vorzugehen suchte. Die Materialkosten für Kapsel, Samteinbände bei Libellen (S. 122), Siegelschnüre usw. wurden gesondert verrechnet. Die Behörden gingen im Angesicht der schlechten Zahlungsmoral dazu über, schon vor Ausstellung der entsprechenden Urkunden den Erlag wenigstens der halben Taxsumme vorzuschreiben, und stellten schließlich Taxierung und Bezahlung in Gratialsachen überhaupt an den Anfang des Geschäftsgangs. Taxator und Gegenschreiber hatten über die Einnahmen und Ausgaben genau Buch - Taxbücher und Gegenregister - zu fuhren, die jeweils beim Gegenüber aufbewahrt wurden. Bei sonstigem Überlieferungsverlust sind dies wichtige ergänzende Quellen. Hier wurden auch die Kanzleiausgaben dokumentiert. Für die Besiegelung mit dem Majestäts- und Sekretsiegel war in der Wiener Reichskanzlei der Taxator (bzw. ein subalterner Bediensteter des Taxamts) zuständig, der ab dem 17. Jahrhundert anstelle des Reichsvizekanzlers die Stempel verwahrte. Über Sekretstempel verfugten aber auch — schon im 16. Jahrhundert - die Sekretäre. In der Osterreichischen Hofkanzlei führte noch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts der Hofkanzler selbst die Stempel fiir das große und mittlere Siegel und siegelte gemeinsam mit dem Taxator. Für Urkunden, die mit dem großen oder mittleren anhängenden Siegel beglaubigt wurden, legte der Taxator zudem eigene Siegelregister an, in die er ein Summarium des Urkundeninhalts einzutragen hatte. 86
„ Geschäftsgang" und Aktenlauf
Schließlich oblag dem Taxator in früher Zeit auch die Überwachung der Expedierung der Schriftstücke durch Amtsdiener, livrierte, mit Botenschild ausgezeichnete Boten oder durch die Post, wofür wiederum Post- oder Botenregister zu fuhren waren. Je nach Kanzleivorschrift konnte auch der Registrator oder ein eigener Expeditor zuständig sein. Hof- und Amtskorrespondenzen („ex o f f o " ) waren portofrei, der entsprechende Portofreiheit Vermerk fand sich daher bei Ausfertigungen auf dem Umschlag bzw. der Außenseite. Wegen grober Missbräuche hat Maria Theresia die Portofreiheit 1751 auf wenige Zentralbehörden und Funktionsträger eingeschränkt. Registrierung und Ablage In der Frühzeit lag die Aufgabe des Registrierens mitunter noch beim Taxator, mit dem erhöhten Geschäftsanfall bildete sich noch im 16. Jahrhundert überall das Amt des Registrators aus, ja diesem mussten bald Adjunkten und „Registranten" beigegeben werden. Erfolgte die Registrierung des Auslaufs noch nicht automatisch bzw. wurden verschiedene Spezialregister verwendet, konnte auf den Konzepten die Anweisung registranda oder registretur [ad registrum ...] stehen, gegebenenfalls mit einer Spezifizierung des konkreten Registers. Nach dem 16. Jahrhundert hört dies meist auf. Man findet dafür auf den Stücken häufig in dorso: „aufzuhöben unnd fleissig zu registrieren" ο. A. Die Registraturbücher waren mit „ziffer und aiphabet" auszustatten, hatten also Foliierung und einen Index zu erhalten. Registrierung und Ablage in der Registratur wurden von einem Registraturbediensteten bzw. dem Registrator selbst auf der ersten Seite des Konzepts mit reg(istratum) oder r(egis)t(rat)a und gegebenenfalls einer Registratursignatur quittiert, woraus sich der Hinterlegungsvermerk auf dem modernen Referatsbogen entwickelte. Auch die Buchung in den Exhibitenprotokollen musste entsprechend vorgenommen werden (,Austrag" unter Angabe der Hinterlegung, vgl. S. 105). Gleichermaßen hat die Registratur natürlich auf den Wiedervorlage-Auftrag des Sachbearbeiters zu reagieren (etwa durch flactum] oder die ausführlichere Bemerkung „wiedervorgelegt den ..."). Bei Diplomen mit Hängesiegel setzte der Registrator in der Wiener Reichskanzlei nach Überprüfung der Übereinstimmung von Ausfertigung und Konzept eigenhändig sein Registraturzeichen, ein registrata bzw. gekürzte Versionen (bisweilen verbunden mit collationata), gefolgt von seinem Namen, auch auf die ausgehenden Urkunden: in forma patente (S. 120) auf der Rückseite, manchmal auf der Plica, bei Libellen auf der letzten oder vorletzten (unbeschriebenen) Seite, bei Papierausfertigungen (selten) unter dem Kanzleivermerk bzw. unter den Gegenzeichnungen.
(mit
Vormerk-Auftrag Ausftihrungsbestätigung)
О
Registrata
Registrata et collationata
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Genetische Aktenkunde
Archiwermerke . 4 4 J? ± II
*
Ablagevermerk
f )
Wurden Aktenstücke im Archiv nicht in ihrer ursprünglichen Ordnung abgelegt, so kamen auf jedes Stück auch noch die entsprechenden Neu-Signaturen. Sie sind meist so kräftig und von späterer Hand gesetzt, dass sie kaum verwirren können. Archiwermerke sind etwa auch die Indorsierungen auf Originalurkunden, die anlässlich erster Inventarisierungen der Urkundendepots ab dem 14./15. Jahrhundert angebracht wurden.
Auslaujphase
Ausfertigung Verlässt die unterschriebene Reinschrift die Kanzlei der Behörde, so wird aus der „vollzogenen Reinschrift" eine .Ausfertigung". Der Begriff „Ausfertigung" wäre daher grundsätzlich scharf von der Reinschrift zu trennen, was in der Praxis oft nicht geschieht, sodass Ausfertigung und Reinschrift vielfach als Synor nyme, besonders zur Abgrenzung gegenüber dem Konzept, geτ 1 г-ч Zahl l i - J . braucht werden. E s wird gebeten, in der Antwort Freilich kann auch die („vollzogene") Reinschrift noch in der diese Zahl anzuführen. Gleichzeitig w i r d ersucht, Zuschriften und Amt·Ausstellerkanzlei zurückgehalten werden, etwa weil man weitere ängelegenheiten nicht an einzelne F u n k t i o n ä r e d e s Amtes, sondern d i r e k t an d a s Amt selbst zu adresKorrekturen fur nötig befand oder sich die Geschäftssache erledigt sieren. hatte und die Absendung daher unnötig wurde (Abbruch des Geschäftsgangs: „findet nicht statt" oder cessat). Darüber kann nur ein „ Unsere Zahl" höherer Beamter, meist der Sachbearbeiter, entscheiden. Mit der Zeit setzte man auch auf die Ausfertigung die Exhibitenzahl bzw. Tagebuchnummer und verhielt Korrespondenzpartner dazu, diese Kennziffer bei Antwort möglichst anzugeben (und zwar zunehmend am Kopf des Schreibens und nicht mehr im Kontext wie ζ. B. „In Befolgung des Auftrages vom ... ZI. ..."), um so die Priorierung zu erleichtern. Übermittlung Erst mit der Aushändigung der Urkunde war im Mittelalter das Beurkundungsgeschäft abgeschlossen. Nicht anders verhielt es sich im Aktenzeitalter. Die tatsächlich abgesandte Ausfertigung findet sich daher logischerweise nicht im Registraturgut des Ausstellers, sondern beim Empfänger. Bedingung dafür ist natürlich, dass ihn das Schriftstück erreicht. Dieses kann aber auf dem Postweg verloren gehen oder abgefangen („interzipiert"), der Kurier überfallen und seiner Briefschaften beraubt werden (weswegen schon relativ bald die jahrweise Nummerierung der Diplomatenberichte als Kontroll- und Sicherheitsmaßnahme eingeführt wurde) bzw. der Adressat die Annahme verweigern. Das Stück kam dann eventuell an den Aussteller zurück („unbehändigte Ausfertigung"). Erst wenn das Schriftstück wirklich sein Ziel erreicht hat und sich somit in den Händen des Empfängers befindet, haben wir eine „behändigte Ausfertigung" vor
„ Geschäftsgang" und Aktenlauf
uns. Diese wird in der Kanzlei des Adressaten ihrerseits zum Eingangsstück und löst als solches bei Bedarf einen neuerlichen Geschäftsvorgang aus. Die Zustellung konnte auf alle technisch möglichen Arten erfolgen, durch Boten Zustellarten im Nahbereich, durch Kurier im diplomatischen Dienst, durch die Post, aber auch durch Abholung in der Kanzleistelle, etwa wenn Kanzleitaxen zu entrichten waren, ζ. B. für Diplome („Extradition" oder „Auslösung"), worüber bisweilen eigene „Extradenten" wachten. Vermerke (Abgangs- oder Absendevermerke) über die erfolgte Absendung/Zustel- Vermerke lung und die Zustellungsart (ζ. B. perpostam, per expressum, „mittels Kurier", „durch sichere/besondere Gelegenheit", also durch verlässliche Privatpersonen, z. St. = zur Telegraphenstation) finden sich meist auf dem Konzept des Schriftstücks, also als Anweisung durch den Konzipienten bzw. als paraphierte und datierte Vollzugsfeststellung durch den Kanzlisten oder Kanzleivorstand (expeditum, extraditum, insinuatum, intimatum, „expediert", „abgegangen", „abgesendet", auf österreichischen Referatsbögen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerne „bestellt"). Zu Zwecken der Dokumentation wird die Zustellungsart mitunter natürlich auch auf den Eingängen von der Hand des Empfängers im Praesentatum vermerkt (z. В. щи le ... par le courrier xy). Meist auf der Adresse der Ausfertigung stehen Vermerke, die sicherstellen, dass nur der Adressat die Sendung öffnet („zu eigenen Händen", „persönlich", aux mains propres, „zur eigenhändigen Eröffnung durch ..." usw.). Unmittelbare Zustellung durch Kanzleiboten oder den Türhüter und Abholung (vor allem bei „Parteisachen") bezeichnet man auch als Insinuation. In wichtigen Fällen musste darüber natürlich ein eigenes documentum insinuatum (Behändigungsschein) ausgefertigt werden. Aushändigung an den Adressaten bzw. einen Bevollmächtigten ist auch heute noch in vielen Fällen möglich. Die „richtige Übernahme" wird durch die Unterschrift des Empfängers bestätigt. Moderne Zustellnachweise, die in der Verwaltung nicht zuletzt wegen der in förmlichen Verfahren zentralen Frage des Fristenlaufs eine wichtige Rolle spielen, sind die Abrisse (Rückscheine) der RSa- und RSb-Schreiben, die als Belege zu den Akten genommen werden. Ansonsten bleiben auch einfache Postkuverts zum Nachweis in den Akten. Der rechtliche Rahmen ist durch das Zustellungsgesetz definiert. Nur als innerdienstlicher Beleg dienen die Postbücher, in denen das Postamt die Übernahme von Dienstpaketen bescheinigt. Bei Telegrammen wurden traditionell die Recepissen in den Akt eingeklebt. Statt einer Ausfertigung auf dem üblichen Wege kann auf Konzepten etwa auch die Verbreitung durch den Druck angeordnet werden: „Diser Patente seindt ohne ainichen Verzug eilförtig 290 Exemplaria zu trukhen und durch Botten in die Lantviertl zu schicken."
Durai Eilboten
89
Genetische Aktenkunde
Sonderform Telegramm 00g Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts verbreiten sich Telegramme. Sie tun der Sprache durch ungrammatikalische Verkürzung Gewalt an, um die Kosten möglichst zu reduzieren („Telegrammstil"). Auch äußere Formvorgaben können nicht beobachtet werden. Eine „behändigte Ausfertigung" gibt es nicht, sondern der dem Empfänger übergebene Text wird vom Telegraphenamt hergestellt, zunächst handschriftlich, später durch maschinell gefertigte Streifenausdrucke. Trotz der Formaldefizite kamen Telegramme schon unter Kaiser Franz Joseph, der sie oft auch selbst entwarf, sehr häufig zum Einsatz, insbesondere im Kontakt zwischen Staatsoberhäuptern fur Kondolenzen, Glückwünsche usw. Zu familiären Anlässen wie Trauerfällen, Geburten usw. wurde offiziell nur Monarchen kondoliert bzw. gratuliert, nicht republikanischen Staatsoberhäuptern. Die Anzahl der Sätze bestimmte den Grad der Höflichkeit, und bei Antworten trachtete man ebenso viele Sätze zu verwenden, wie das empfangene Telegramm enthielt. Die frühen Telegramme — beispielsweise Siegesmeldungen nach gewonnenen Schlachten des 19. Jahrhunderts - bedienen sich noch keines ausgeprägten Telegrammstils. In wirtschaftlichen Krisenzeiten, wie etwa nach dem Ersten Weltkrieg, wurde der teure Telegrammverkehr möglichst beschränkt und jede „ungeschickte Textierung" untersagt, weitschweifigen Beamten drohte man sogar mit Regressforderungen.
g) Stempel und Bögen @01
Referatsbogen
Der übersichtlichen Bündelung der Verfahrensschritte, besonders der kanzleiinternen (Herstellung der Reinschrift, Kollationierung, Abgangsvermerk), und ihrer protokollarischen Nachweisung dienen in der neueren Aktentechnik entweder ein Stempel („Kanzleistempel") oder der Referatsbogen (Vortragsbogen), der nichts weiter ist als ein formularmäßig bedruckter/lithographierter Mantelbogen. Er hält bei umfänglicheren Erledigungen zugleich die Einzelbestandteile zusammen. Im Falle loser Aktenlagerung wurde bei erledigenden Konzepten traditionell der erste Bogen als eine Art Hülle verwendet, in der die weiteren Bögen oft ohne Rücksicht auf die Textfolge, aber auch der veranlassende Eingang und sonstiges Zubehör liegen. Diese verwirrenden Schachtelungen, nach denen in Archiven dann oft auch blind foliiert wurde, müssen entsprechend umgelegt werden, um den fortlaufenden Text wiederherzustellen. Nur umfangreichere Ausgänge wurden mit Bindfäden zusammengenäht bzw. -geheftet; (rostende) Heftnägel oder -klammern kamen glücklicherweise erst spät auf. Die Kielmansegg'sche Reform (S. 111) betrieb das Ende der Schachtelung und die logische Aneinanderreihung selbstständiger gehefteter Blätter, sodass der „Akt" wie ein Buch gelesen werden konnte. Eigene Umschlagbögen mit reichlich Platz fur Betreff und Kanzleivermerke, in denen die zu einem Geschäftsfall gehörenden Stücke gesammelt liegen, sind in den Kanzleien der Wiener Zentralstellen schon seit dem 16. Jahrhundert nachweisbar. Die den Länderverwaltungen in maria-theresianischer Zeit vorgeschriebene rigorose Materientrennung führte dazu, dass diese ihre Berichte bereits in mit Betreff und Sachgebiet beschriftete Mantelbögen eingeheftet nach Wien sandten.
90
„ Geschäftsgang" und Aktenlauf Ihren eigentlichen Ursprung und Namen haben die modernen Referatsbögen aber in den Vorträgen der Räte vor dem Gremium ihrer Behörde. Ab dem späten 18. Jahrhundert war die Behandlung der Routinesachen weitgehend automatisiert. Die Einlaufstücke wurden von eigenen Beamten fur die Ratssitzungen „extrahiert", also kurz zusammengefasst. Auf diesen bereits „Referatsbögen" genannten Extrakten hielt der zuständige Rat sein Votum bzw. den Beschluss des Kollegiums fest und ließ auf dieser Basis die Veranlassung ergehen. Ministerial-Departement f.t btt (. f. a l l q f m t i n i n φ o f l a m m « . ,
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Geschäftsgang" und Aktenlauf
Auf dem Konzept werden ζ. B. festgehalten: Beschleunigungs- und Geheimhaltungsvermerke, alle Revisionsvermerke, der Fertigungsbefehl, Kanzleiweisungen aller Art, Bestätigung der erfolgten Mundierung, Kollationierungsvermerke, Taxvorschreibungen, Abgangsvermerke. Hilfsmittel Unentbehrliches Werkzeug für die Identifizierung von Behördenmitarbeitern und Kanzleipersonal sind die ab dem 18. Jahrhundert auch in unseren Breiten nach französischem Vorbild gedruckten Staatshandbücher, Staats-, Adress- oder Behördenkalender, die Vorläufer unserer heutigen Amtskalender. Für die Zeit davor mögen allenfalls die ungedruckten Hofstaatsverzeichnisse notdürftig Ersatz schaffen, die für die Habsburgermonarchie bis ins frühe 18. Jahrhundert auch die Kanzleibeamten der Zentralbehörden auffuhren. In Frankreich erschien der ,Almanach Royal" seit 1684, in Brandenburg-Preußen ein Adresskalender für Berlin ab 1706. Ein regelrechtes preußisches Staatshandbuch wurde erstmals 1794 in Druck gelegt. In Wien erschien der „Staats- und Standeskalender" (später „Hof- und Staatsschematismus", dann „Hof- und Staatshandbuch") ab 1702; bis weit ins 19. Jahrhundert gab er auch die Wohnadressen der Würdenträger und Beamten an. Die к. k. Armee verfügte für die Truppenkörper und die Militärbürokratie ab 1790 über einen eigenen, bis Anfang des 19. Jahrhunderts nur offiziösen „Militäralmanach" (später: „Militärschematismus"), der schließlich alle Generäle, Offiziere, Militärbeamte usw. anführte und somit zu einer Art Rangliste aufstieg.
SCHEMATISMUS
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Militärschematismus
1805
Amtskalender 1928
93
Genetische Aktenkunde „KANZLEIVERMERKE" (Geschäftsgangs- oder Bearbeitungsvermerke und Kanzleiweisungen)
• Eingangsvermerke {praesentatum, exhibitum, recepta, receptum, regu, erhalten, eingelangt)
exhibiert, productum,
eingekommen,
• Zuschreibungsvermerke (Auszeichnung auf einen bestimmten Referenten zur Bearbeitung bzw. zur bloßen Kenntnisnahme, Einleitung in den Umlauf) • Einsichtsvorschreibungen und -vermerke {videat antea N., vor Hinterlegung, vor Genehmigung; Zeichnungsvorbehalte)
• Konzipierungsbefehl (expediatur) • Konzipierungsvermerk (expedivi) • Beschleunigungsanweisungen {cito, citissime, eilig, dringend, statim) • Geheimhaltungs- oder Verschlussanweisungen (vertraulich, geheim, streng geheim, Chefsache, nur N., zur allerhöchsten EröfFnung/Erbrechung, Verschluss) • Kanzleiweisungen (individuelle Abwandlung des Basistextes, Vorschreibung der Zahl der Ausfertigungen, Chiffrierungsanordnung)
• Revisionsvermerke {legi, vidi, gesehen) • Fertigungsbefehl (expediatur, ingrossetur, scribatur) • Mundierungsvermerk {expedivi, mundatum, ingrossiert) • Kollationierungs- oder Vergleichsvermerk {coll[ationata], • Taxvermerke • (Vermerk zum Abbruch des Geschäftsgangs: cessat)
D Abgangsvermerke {expeditum, insinuation,
intimatum,
gelesen, verglichen)
bestellt)
• Registraturweisungen {ad acta, Wiedervorlage)
D Registrierungsanweisungen (registranda, registretur in ...) • Registratorenvermerk (reg[istratum, -istrata])
i) Das urschrifiliche
Verfahren
Im sogenannten „urschriftlichen" Verfahren wird ein Schriftstück im Original, nicht in Abschrift, gegebenenfalls mit einer eigenen kurzen Äußerung auf dem Stück selbst und tunlichst ohne vorhergehende Konzipierung, zur Erledigung an die eigentlich zuständige Stelle oder bloß zur Stellung- bzw. Kenntnisnahme (Einsichtsverkehr) weitergereicht. Dem entspricht der Verfahrensvermerk (mginaliter) brevi manu oder im kurzen Wege (ikW), vgl. auch S. 203 (Dekretation). Dies erspart ein gesondertes Begleitschreiben oder eine selbstständige Ausfertigung, die bei Behörden noch bis ins 19. Jahrhundert, bei Gerichten noch länger sogar im internen Verkehr üblich gewesen war. An der Wende zum 20. Jahrhundert ist der Videndenverkehr derart ausgeufert, dass man mündliche oder fernmündliche Klärung in Routinesachen vorschrieb. Besondere Vermerke regeln das Schicksal des weitergeleiteten Originalschriftstücks: U u R = „urschriftlich unter Rückerbittung" oder nur U R („unter Rückgabe", oder g. R. - „gegen Rückgabe"), wenn man das Schriftstück später zurückerstattet haben wollte. Gegenüber Ranghöheren setzte man früher sub petito (sub voto) remissionis als Bitte, gegenüber Ranggleichen cum insinuatione remissionis als Ersuchen, an Rang94
Geschäftsgang" und Aktenlauf
GESCHÄFTSGANG
UND AKTENLAUF
EINLAUFPHASE
(SCHEMATISCH)
WER?
AKTION Öffnung
Behördenleiter, später Einlaufstelle
Präsentierung
Behördenleiter, später Einlaufstelle
Verbuchung („Protokollierung")
Einlaufstelle (Exhibitenprotokoll)
Rubrizierung
Einlaufstelle, eventuell Sachbearbeiter (später durch den „Betreff" ersetzt)
INNENLAUF
AKTION
WER?
Geschäftsgangsteuerung (Zeichnungsvorbehalte)
Behördenleiter und/oder Sachbearbeiter
Zuweisung
Behördenleiter (bei Automatismus: Einlaufstelle)
Priorierung
Registratur
Einsichtsvorschreibungen
Behördenleiter und/oder Sachbearbeiter
Dringlichkeitsfeststellung
Behördenleiter und/oder Sachbearbeiter
Geheimhaltungsanweisungen
Behördenleiter und/oder Sachbearbeiter
I. keine inhaltliche Erledigung —> Ablage in der Registratur/„Nichts zu veranlassen" (Behördenleiter oder Sachbearbeiter) II. inhaldiche Erledigung erforderlich a) Entscheidungsfindung in monokratisch organisierten Strukturen b) Entscheidungsfindung im kollegialen System (Vortrag des Sachbearbeiters, gegebenenfalls eines Korreferenten vor der Ratsbehörde, Abstimmung im Rat oder Zirkulation, schriftliche Fixierung des Beschlusses als Grundlage des Konzepts —> Protokoll oder ,»Angabe") Angabe (Erledigungsanweisung)
Monarch, Behördenleiter, Sachbearbeiter fiir Sekretär
schriftlich oder Erledigung nach Formular)
Sekretär, Konzipist, eventuell auch höherrangige Beamte (nach Wichtigkeit)
Kanzleiweisung (Art der Ausfertigung, Chiffrie-
Sachbearbeiter/Konzipist fiir Kanzlist/Rein-
rung, Anschluss von Beilagen usw.)
schreiber
Schlussverfiigungen (zu den Akten, Skontro,
Sachbearbeiter und Zwischenvorgesetzte
Anfertigung eines Konzepts (sofern nicht ur-
Wiedervorlage) Revision des Konzepts
Sachbearbeiter und weiter hierarchisch aufsteigend (auch externe Prüfung möglich)
Approbation (expediatur)
Zwischenvorgesetzte und Behördenchef
Anfertigung der Reinschrift
Kanzlist
Kollationierung
Kanzlist
Vollziehung
Zeichnungsberechtigter (Gegenzeichnung und
Taxierung (bei taxpflichtigen Stücken)
Taxator und Gegenschreiber
Registrierung des Ausgangs bzw. Hinterlegung
Registratur
Beglaubigung)
der zurückbleibenden Geschäftsstücke in der Registratur, Ausbuchung im Geschäftstagebuch AUSLAUF
AKTION
WER?
Ausfertigung
Expedit
Zustellung
Bote, Kurier, Post, Abholung
95
Genetische Aktenkunde
niedrigere sub lege remissionis als Anweisung. Manche Behörden führten fur den urschriftlichen Verkehr ein eigenes Brevi-manu-]o\imal oder Remissorialprotokolle. Der Einbringer kann bzw. soll über die Abtretung der Sache („zuständigkeitshalber") an die eigentlich zuständige Dienststelle benachrichtigt werden. Man nennt die entsprechende Mitteilung eine ,Abgabenachricht". Dies wird auch gegenüber jener Stelle vermerkt, an die das Schriftstück abgegeben wurde (.Abgabenachricht wurde erteilt."). Bei „Irrläufern", also falsch zugestellten Stücken, unterbleibt eine Abgabenachricht besser. Im Formularzeitalter verbreiten sich anstelle der direkten Vermerke beizulegende Kurzerledigungsvordrucke, auf denen das jeweils Zutreffende angekreuzt werden kann (zur Kenntnis, zur Erledigung usw.). Für die eigenen Akten kann neben einer entsprechenden Protokolleintragung ein sogenannter Aktenretent (Auszug) zurückbleiben, der den wesentlichen Inhalt zusammenfasst.
7 . SPEZIELLE
ENTSTEHUNGSPROZESSE
a) Der Gesetzgebungsprozess
in „parlamentarischer"
Umgebung
Die Gesetze bzw. Verordnungen absoluter Monarchen entstanden in der Regel nur aufgrund von Vorlagen der zuständigen (Fach-) Ressorts, die allenfalls noch durch ein oberstes Ratsgremium überprüft bzw. abgesegnet wurden. Die Landtage in den einzelnen Ländern der Habsburgermonarchie waren in „Gesetzgebungssachen" nur mehr in sehr beschränktem Maße zur Mitwirkung aufgerufen. Erst der 1761 gegründete Staatsrat hat sich in die vorbereitenden Arbeiten stark, ja bestimmend eingebracht. Die größeren Kodifikationsarbeiten (Kompilationen) waren eigenen Hofkommissionen übertragen. Frühneuzeitliche Landtagsverhandlungen Stärker blieb die Rolle der Landstände gegenüber den Forderungen des Landesherrn nach Steuermitteln oder Rekruten, die den Ständen jährlich vorgelegt werden mussten (Landtagspropositionen). Beide fertigte die jeweils zuständige Hofkanzlei aus. Abschlüsse über einen längeren Zeitraum, die die Budgetierung natürlich erleichterten, setzten sich erst im 18. Jahrhundert durch. Auf die landesfürstliche Proposition reagierten die Stände meist mit Gegenforderungen und jedenfalls mit dem Wunsch nach Mäßigung der Steuer- und Rekrutenpostulate (Replik). Die schriftlich-mündliche Wechselrede konnte länger hin und her laufen (Triplik, Quadruplik usw.). Am Ende stand der Landtagsschluss. Dass die ständische Zustimmung zu den landesherrlichen Forderungen künftige Verhandlungen nicht präjudizierte, bestätigte der Fürst - teilweise bis Mitte des 18. Jahrhunderts - in eigenen „Schadlosbriefen" oder „Reversen" (litterae reversales). Reverse nennt man auch Privaturkunden (rechtsverbindliche Erklärungen), in denen sich der Aussteller zu einem Verhalten, zu einer Leistung oder zum Verzicht auf bestimmte Rechte verpflichtet. 96
Spezielle
Entstehungsprozesse
Heiliges Römisches Reich Noch komplizierter verhielt es sich aus verständlichen Gründen im Heiligen Römischen Reich, wobei wir auf die verschlungene Entscheidungsfindung innerhalb der Reichsversammlung selbst gar nicht eingehen wollen. Bis zur Einrichtung des Immerwährenden Reichstages zu Regensburg 1663 wurden die zu den Vorlagen (Propositionen) des Kaisers abgegebenen Stellungnahmen der zusammengerufenen Reichsstände (Reichsgutachten, consulta imperii) durch kaiserliche Ratifikation zu Reichsschlüssen (conclusa imperii) erhoben und bei der Entlassung des Reichstages gebündelt als „Reichsabschied" oder recessus imperii veröffentlicht, seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wie auch einfache Reichsgesetze im privilegierten Druck. So umfasste das Gesetzgebungswerk des Wormser Reichstages 1495 den Ewigen Landfrieden, die Handhabung Friedens und Rechts, die Reichskammergerichtsordnung, die Ordnung des gemeinen Pfennigs usw. „Abschied" — heute nur noch in der Wendung „ein Gesetz verabschieden" geläufig — ist kein auf die Arbeit des Reichstages beschränkter Terminus. Er meint so viel wie Vergleich; auch Landtagsbeschlüsse am Ende der Sitzungsperiode wurden daher bis ins 19. Jahrhundert als „Abschiede" bezeichnet, ebenso Gerichtsurteile. Etwas anderes bedeutet „Abschied" im Sinne von Dienstentlassung bei Beamten und Militärs und die entsprechende Bescheinigung darüber. Ein Vergleich ist auch der „Rezess", das schriftlich niedergelegte Ergebnis von Verhandlungen. Der recessus imperii oder Reichsabschied stellt also einen „Vergleich" zwischen Kaiser und Reich dar. Rezesse („interne Staatsverträge") schloss auch Maria Theresia ab 1748 mit den Landständen der einzelnen Erbländer, die sich gegen verschiedene Zugeständnisse bereitfanden, ein bestimmtes Steuerquantum nicht mehr jährlich, sondern ohne weitere Verhandlungen über einen Zeitraum von zehn Jahren an das Arar abzuführen („Dezennalrezesse"). Einzelne Reichsgesetze hatten zunächst die Form einer einseitigen Königsurkunde im Mandatsstil („entbieten"). Der Landfriede von 1495 weist immerhin auf die Anwesenheit der Reichsstände bzw. ihrer Gesandten hin. Gesiegelt wurde er aber nur mit dem anhängenden kaiserlichen Insiegel. Die „Handhabung" hingegen ist von 22 Reichsfursten gesiegelt und weist nach der kaiserlichen corroboratio eine entsprechend umfangreiche reichsständische auf. Bei der „Ordnung des gemeinen Pfennigs" rücken die Kurfürsten und Fürsten sogar in die intitulatio vor. Die Pergamenturkunde trägt 23 Siegel. Handhabung und Pfennig-Ordnung führen den Diplomstil („bekennen"). Mit dem „bekennen" sind - unter kaiserlicher intitulatio - auch die Reichsabschiede des 16. und 17. Jahrhunderts ausgeführt, meist wenig attraktive, einbandlose Pergamentlibelle; die Mehrzahl wurde zumindest vom Reichsoberhaupt unterschrieben, vom Erzkanzler und/oder vom Reichsvizekanzler gegengezeichnet, manche auch mit dem ad mandatum-Vcrmei\i versehen. Zwei Kurfürsten, je ein Vertreter der geistlichen und weltlichen Fürsten und je ein Repräsentant der Prälaten, Grafen und Städte hängten nach gesonderter corroboratio ihre Siegel daran. Seit der Reichstag in Regensburg permanent tagte, musste sich das Procedere der Reichsgesetzgebung ändern. Kaiser, Kurfürsten, Fürsten, Grafen und Städte waren nicht mehr persönlich anwesend, sondern gestalteten den Reichstag zu einem Ge97
Genetische Aktenkunde
sandtenkongress um. Als „Reichstagsbüro" fungierte das kurerzkanzlerische (also mainzische) Reichsdirektorium. Den Kaiser vertrat in Regensburg der Prinzipalkommissar, der die kaiserlichen „Gesetzesinitiativen" (Propositionen) und sonstige Willenskundgebungen dem Reichstag in Form von „Kommissionsdekreten" vorlegte und beim Mainzer Reichstagsdirektorium zur „Diktatur" brachte. Die kaiserlichen Dekrete wurden wegen ihrer Bedeutung in der Regel in der kaiserlichen Reichs- und Hofbuchdruckerei gedruckt und auch über die Presse vervielfältigt. Das darauf nach Abstimmung in den Kollegien ergehende „Reichsgutachten" der Reichsstände war als von der Kanzlei des Mainzer Reichstagsdirektors ausgefertigtes Dekret an den Prinzipalkommissar stilisiert. Die Ratifizierung durch den Kaiser erfolgte wiederum in einem Ratifikations(kommissions)dekret. Erst damit war ein förmlicher „Reichsschluss", ein Reichsgesetz, zustande gekommen. Kundmachung und Umsetzung der Reichsschlüsse hatten in den einzelnen Territorien zu erfolgen. Gesetzessammlungen waren auf Reichsebene reine Privatarbeiten. Die aktenkundlichen Details des Gesetzgebungsprozesses im konstitutionellen Staat ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts behandeln wir im Rahmen der Systematik (S. 181).
b)
Staatsverträge
Die simple Form einer gemeinsamen Willenserklärung in einem gemeinsamen Schriftstück (unter doppelter intitulatio usw.) ist bei zwischenstaatlichen Abkommen anders als bei Privatverträgen in der Frühen Neuzeit eher selten. Es kann bei persönlichen Herrschertreffen aber noch längere Zeit vorkommen. Das mehrheitlich übliche Verfahren ist das „zusammengesetzte". Verhandelt und abgeschlossen wird durch beiderseitige Bevollmächtigte, oft an einem dritten, neutralen Ort, die getroffene Vereinbarung dann von den Monarchen (Staatsoberhäuptern) ratifiziert. Die Ratifikation kann auch verweigert werden. Dem abgestuften Prozess entsprechen drei wesentliche Urkundentypen: - die Vollmacht (Gewaltbrief, Pienipotenz, plein pouvoit) für die Verhandler und gegebenenfalls einen Vermittler, die dem Gegenüber vorzuzeigen ist und von diesem geprüft wird - das einfach ausgestattete Unterhändlerinstrument, in dem der Vertragstext verbindlich festgehalten, von den Verhandlern unterschrieben und meist mit dem Privatsiegel auf Lack gesiegelt wird - die Ratifikationsurkunde des Herrschers/des Staatsoberhauptes, in die man den Text der Unterhändlerurkunden inseriert, also einfügt, und die man dem Vertragspartner im Tausch für das Gegenexemplar übergibt. In parlamentarischen Systemen kommen - staatsrechtlich mehr als völkerrechtlich relevant — die Ermächtigung fur den Vertragsabschluss durch die Volksvertretung oder auch deren nachträgliche Zustimmung hinzu. 98
Schriftgutorganisation in der Ablage
Das Vertragsdatum ist stets jenes der Unterhändlerurkunde, weil diese als das eigentliche „Textoriginal" gilt. Verbindlichkeit erlangt der Vertrag jedoch erst mit seiner Ratifizierung. Der Unterzeichnung der Unterhändlerurkunde kann die „Paraphierung" des ausverhandelten Textes durch die Verhandlet vorausgehen, fur den erst die Vorgenehmigung der jeweiligen Regierung einzuholen ist. Das Unterhändlerinstrument wird im objektiven Stil abgefasst und dient gleichsam als Bericht der verhandelnden Diplomaten an ihren jeweiligen Auftraggeber. Hier kommt man einleitend nochmals auf die Prüfung der Vollmachten zurück. Im Unterhändlerinstrument, dessen Formular sehr stabil ist, hält sich die invocatio lange Zeit. Man schließt mit Hinweisen auf die vorzunehmende Ratifikation und den Austausch der Ratifikationsurkunden. Letztere sind Urkunden der feierlichsten Form, gegengezeichnet und in der Regel besonders prunkvoll ausgeführt, meist als Pergamentlibell in Samt gebunden, mit einem anhängenden Siegel in Metallkapsel und Prunkbeschlägen, gelegentlich illuminiert. Oft wurden die Ratifikationsurkunden zusätzlich noch in kunsthandwerklich schönen Schachteln und Kistchen — mit Aussparungen fur die großen Hängesiegel - geliefert. Über den in der Regel feierlichen Austausch und die Prüfung der Ratifikationen wurde ab dem 18. Jahrhundert ein Protokoll (proces-verbat) aufgesetzt. Das Generalsekretariat des Völkerbundes führte in der Zwischenkriegszeit ein Register der internationalen Verträge und stellte über die Eintragung ein Zertifikat aus, das die Parteien jeweils bei ihren Vertragsurkunden aufbewahrten. Abkommen zwischen mehreren Staaten können theoretisch in entsprechender Zahl ausgefertigt werden; häufig ist jedoch die Herstellung nur eines authentischen „Originals", das mit den Ratifikationsurkunden an einem bestimmten Ort hinterlegt wird. Für die Vertragsparteien stellt man beglaubigte Abschriften aus. Den österreichischen Staatsvertrag von 1955 etwa hat man in Moskau deponiert, den Friedensvertrag von Saint-Germain 1919 in Paris. Die „Schlussakte" des Wiener Kongresses von 1815 (Normalexemplar) hingegen wurde samt den Kongressakten am Kongressort, also bei der Präsidialmacht, aufbewahrt. Heute müssen internationale Verträge meist in die innerstaatliche Rechtsordnung integriert werden („Transformation"). Sie sind — ebenso wie Vertragskündigungen — in authentischer Sprache in den entsprechenden Verlautbarungsorganen zugänglich zu machen.
8. SCHRIFTGUTORGANISATION
IN D E R A B L A G E
Wir haben vorstehend Urkunden und Aktenschriftstücke in ihrem Entstehungsprozess betrachtet. Ein Blick auf die unterschiedlichen Formen der organisierten Ablage ist nötig, weil in der Tradition des „Registraturprinzips" das Behördenschriftgut dem Historiker archivisch weitgehend unbearbeitet entgegentritt.
99
Genetische Aktenkunde
α) Sachakten Unter dem Oberbegriff „Sachakt" verbergen sich verschiedene Kompositionsformen, deren Einsatz sich nach der vorwiegenden Natur der Verwaltungstätigkeit in einer Dienststelle richten wird. Ein Einzelfallakt (Einzelsachakt, österr. auch „Verhandlung") nimmt idealerweise den kompletten Vorgang zu einem einzigen konkreten Geschäftsfall auf (ζ. B. Instandsetzung des Kanzleigebäudes XY 1767), ein Betreffakt (auch Sammelsachakt) mehrere unterschiedliche Vorgänge zu einem bestimmten Betreff (Person, Sache, Ort) oder einer Reihe von Einzelfällen, die bei der Besorgung einer meist mittel- oder längerfristigen Sachaufgabe größerer Breite entstehen. Der Aktentitel ist daher entsprechend weit gefasst, z. В.: Kanzleigebäude 1765-1797. Einzelfallakten werden dort gebildet, wo sich eine entsprechende Untergliederung von Betreffseinheiten des Aktenplans (vgl. S. 108) aufdrängt, weil eine Vorausplanung der zu erwartenden (gleichwertigen) Einzelfälle nicht möglich ist. Von Einzelfallakten spalten sich eventuell Teilfallakten ab, so ζ. B. aus dem Einzelfallakt „Instandsetzung des Kanzleigebäudes 1767" der Teilfallakt „Baukostenverrechnung der Instandsetzungsarbeiten 1767 mit der Kammer". Personalakten nehmen als Betreffakten alle Schriftstücke auf, die einen Bediensteten oder Angestellten während seiner gesamten beruflichen Laufbahn „betreffen". „Einzelfälle" daraus wären beispielsweise der Einstellungs- oder der Pensionierungsvorgang. Prozessakten von Gerichten sind Einzelfallakten, die etwa nach dem Namen des Angeklagten erliegen können. Die Parteisachen (Prozesssachen und Gratialia) des Reichshofrates ζ. B. wurden nach dem Namen der Kläger bzw. Gesuchsteller abgelegt. Gerichtsakten mussten im Sinne der Rechtssicherheit stets besonders sorgsam geführt und in ein jedem Akt als Inhaltsübersicht vorgeschaltetes Aktenverzeichnis (Designation, Rotulus, Renner, series actorum) eingetragen („inrotuliert") werden. Von Parallelakten spricht man bei gleichförmigen „Massenakten" zu Einzelfällen in schematischen Verwaltungsverfahren nach dem Antrag-Bescheid-Muster, die nicht weiter systematisiert werden können und daher bloß nach Namen, Nummern usw. erliegen (Steuerakten, KFZ-Zulassungen usw.). b) Serienakten
(Reihenakten)
Serienakten prägen die alt-österreichischen Registratursysteme bis ins 18. Jahrhundert. „Serien sind in Herkunftsgemeinschaft erwachsene Archivabteilungen, in deren Gliederung aber die bestehenden Sachgemeinschaften entweder nicht zum Ausdruck kommen konnten (Sachhäufung im einzelnen Schriftstück) oder tatsächlich nicht zum Ausdruck gekommen sind, sondern unter einer Einteilung nach Korrespondenzpartnern, Geschäftskreisen, formalen Gesichtspunkten u. Ä. (gegliederte Serien) oder unter bloßer zeitlicher Folge (ungegliederte Serien) völlig verborgen bleiben" (A. Brenneke). 100
Schriftgutorganisation in der Ablage
Bei reinen Reihenakten wie etwa diplomatischen Korrespondenzen werden nicht einmal die Schriftwechselpaare (also Eingang und Antwort darauf) zusammengefugt. Aufeinander bezogene Schriftstücke sind so nach Ein- und Auslauf (Weisungen und Berichte) getrennt. Gliederung von Serienakten Als Ordnungskriterium bleibt für Serienakten oft nur die chronologische Reihe. Eine übergeordnete Gliederung kann bei „Korrespondentenakten", ζ. B. bei diplomatischen Berichten, allenfalls durch geographische Differenzierung nach den Missionssitzen oder den Gastländern erfolgen („Hispanica", „Gallica" o. Ä.), bei „Betreffserien" nach sehr weiten Sachgruppen („Ecclesiastica", „Militaria" usw.). Auch hierarchische Gliederung ist möglich, wie etwa in Tirol in Einlauf „von oben" und Einlauf „von unten". Unter diesen „Zwischendecken" liegen die Stücke dann rein chronologisch. Bei der obersten Militärbehörde der Habsburgermonarchie, dem Hofkriegsrat, sind die monatsweise nummerierten Akten und die Geschäftsbücher entsprechend einem reinen (unilateralen) Serienprinzip bis 1752 nach „Expedit" (Einlauf!) und „Registratur" (Auslauf!) getrennt abgelegt bzw. geführt. Die Registratur der Stadt Wien bestand bis 1783 gar aus drei separaten Serien (Ein-, Innen- und Auslauf). Die Hinterlegung der einzelnen Aktenstücke in den Registraturen geschah bis ins 18. Jahrhundert meist monatsweise in „Monatsbuschen", ab der zweiten Hälfte durch Anpassung an die Exhibitenprotokolle zunehmend jahrweise. Klassische Serienakten kommen, weil keine Vorgangsbildung vorliegt, in der Organisationsform des Akts/der Akte nicht vor. Physische Zusammenfassung zu Konvoluten oder Faszikeln ist hier nicht inhaltlich, sondern nur chronologisch oder rein ablagetechnisch bedingt. Erst die Bildung größerer, inhaltlich definierter Sachgruppen, ihre weitere Untergliederung etwa nach territorialen Gesichtspunkten durch den Registrator drängt zur systematischen Vereinigung von Zusammengehörigem. Konsequente Ablage nach Sachgruppen, die in Kloster- und Hochstifts- bzw. Herrschaftsarchiven wegen ihres leichter vorhersehbaren und daher besser systematisierbaren Geschäftsanfalls viel früher begegnet, treffen wir bei den Zentralbehörden der Habsburgermonarchie ab dem 18. Jahrhundert an. Für die Zivilverwaltung ist die in Buchstaben-Zahlen-Kombinationen gegossene Materienordnung in der Registratur seit wenigstens 1750 belegt (ζ. B. Registraturhauptabteilung С = Kirchensachen, Unterabteilung 7 = Pfarr- und Kirchenbauten). Darunter begegnet weiterhin eine Ablage nach Chronologie oder nach einer beim Eingang vergebenen Protokollnummer. Voraussetzung ist die konsequente Einhaltung der Materientrennung für alle Berichte und Eingaben, der der Registrator notfalls durch Abschriften und Verweise auf die Sprünge helfen muss. Auch die Akten des Hofkriegsrates legte man ab 1753 nicht mehr getrennt nach Ein- und Auslauf ab, sondern jeweils den ganzen Geschäftsvorgang zusammen nach mehr als 100 „Rubriken" (Sachgruppen). In den österreichischen Ministerien des 19. und 20. Jahrhunderts nannte man solche weit gefassten, oft erstaunlich stabilen Sachgruppen in der Registratur auch „Faszikulaturen", „Signaturen" oder „Fächer". Mit der Entstehung von Aktenplänen, 101
@ 17b
Frühe Sachgruppenbildung in der Ablage
Genetische
Aktenkunde
deren Aufbaulogik schon durch die Geschäftszahlen selbst ausgedrückt wird (S. 108), kommen diese traditionellen „Zwischendecken" ab. Ungegliederte Zahlenregistraturen waren immer äußerst selten und nur für kleine Behörden oder leicht überschaubare Teile von Behörden vernünftig. Ein strukturgeschichtlicher Zugang wird durch eine materienweise Ablage erleichtert, sofern man nicht vergisst, dass die erhaltenen Akten einer Sachgruppe in der Regel nur einen Bruchteil des einst tatsächlich vorhandenen Materials darstellen. Ansatzweise Sachaktenbildung im Geschäftsgang Sachakten gelten als Arbeitsinstrumente einer intensiveren, aktiven Verwaltung. Der Massenverwaltung des 20. Jahrhunderts war das aufwendige preußische Sachaktensystem aber nicht mehr gewachsen. Bei Serienakten steht die Reaktion auf einen Anstoß von außen stark im Vordergrund, die Verwaltung gilt hier als eher „reaktiv". Der rasche Überblick über Zusammenhänge fehlt bzw. kann nur durch umständliche Vor- und Nachzahlenzusammenstellung gewährleistet werden. Der „Vermassung" der öffentlichen Verwaltung gegenüber erweist sich die weniger komplizierte Serienaktenregistratur aber viel eher als immun. Vollausgebildete Sachakten sind in der österreichischen Registraturtradition höherer Behörden bis ins 20. Jahrhundert sehr selten. Auch in neuester Zeit führte etwa die Verwendung des „Referatsbogens" für einen Vorgang grundsätzlich zu Einzelfallakten. Für den Überblick über sachlich Zusammengehöriges bedurfte man daher weiterhin zumindest des Verweises auf Vor- und Nachzahlen. Der ministerielle Referatsbogen des 20. Jahrhunderts weist ein entsprechendes Feld auf, doch vereinigt dann die Registraturpraxis im Grundzahlensystem wie auch in der „Verhandlungsregistratur" das Zugehörige der Einfachheit halber auch physisch (S. 103). Bestimmte Behördentypen kamen niemals um die Bildung von Einzelfallakten herum, insbesondere Gerichte oder Verwaltungsbehörden, die mit Genehmigungs- und Zulassungsverfahren befasst sind. Während die Ablage der Akten nach Sachgruppen sich in den Registraturen schon ab der Mitte des 18. Jahrhunderts durchsetzte, gab im Geschäftsgang selbst weiterhin nur die Protokollnummer aus dem Geschäftstagebuch den Ausschlag. Die Zusammenstellung von Betreffakten über längere Zeiträume ist in unseren Breiten auch noch im späteren 19. und im 20. Jahrhundert eine zunächst bloß temporäre Zusammenfuhrung von Serienakten, etwa fiir einen Referenten („Sachbearbeiterselekte") oder aus besonderem Anlass. Das Zusammensuchen von Vorakten, das „Priorieren", war eine zentrale Aufgabe der Registratur, die dann ebenso wie der Sachbearbeiter selbst diese praktischen „Handapparate" ungern wieder getrennt nach ihren Geschäftszahlen ablegen wollte, wenn ein Wiederaufleben des Geschäftsfalls zu erwarten war. Mitunter bildeten sich so bei Referenten regelrechte Nebenregistraturen aus. Im Archiv endeten diese schwer einzubauenden „Sammelakten" dann mitunter in einer „Sonderreihe" oder bei den Varia, sofern sie nicht bereits in der Registratur neben der Hauptaktenreihe zu einer Betreffaktengruppe (Sonder- oder Separatfaszikel) vereint worden sind. Schon fur die Frühe Neuzeit blieben solche „Sammelakten" immer wieder erhalten. 102
Schriftgutorganisation
in der Ablage
Spätestens an der Wende vom 19. zum Die Akten sind beisammen zu lassen. 20. Jahrhundert traten sie regelmäßiger auf und erhielten eigene Aktendeckel Registrator des Ministeriums des Innern. (Aufdruck: „Die Akten sind beisammen Betreff: zu lassen!"); diese vermerken den Aktentitel und auch die einzelnen Geschäftszahlen, unter denen die Vorgänge verbucht Anmerkung У und daher in den Geschäftstagebüchern Nuaim.r Jahr Nummer Jabr Anmerkung Jabr zu finden sind. Denn eine eigene Reperw 3tt f f torisierung nach Aktentitel erfolgte hier I i w anders als in der ausgebildeten Sachakten> Ш/ /г registratur nicht. y w Die Konkordanz zwischen der tatsächSachaktenbiUung aus der Serie lichen Hinterlegung und den Geschäftszahlen (Protokollnummern) stellen in solchen Fällen bei altösterreichischen Zentralbehörden „Elenche" (Registraturelenche) her, wenn die Exhibitenprotokolle selbst keine Spalte über die Ablage mehr enthalten oder diese nicht ausgefüllt wird. Am Platz der andernorts gesammelten Vorgänge sollten in der Zahlenreihe jeweils Verweisblätter auf den endgültigen Hinterlegungsort leiten. Die gezielte Suche kann aber nur über die Geschäftsbücher - Index und Protokoll — erfolgen. Verbreitet ist in österreichischen Zivilregistraturen des 19. und frühen 20. Jahrhun- Verhandlungsderts, insbesondere in nur durch sachliche Zwischendecken (Signatur, Faszikulatur) registratur gegliederten Zahlenregistraturen, die Bildung von „Verhandlungen" bei mittelfristigen Geschäftsvorgängen. Eine „Verhandlungsregistratur" liegt vor, wenn alle getrennt in einem Exhibitenprotokoll journalisierten Schriftstücke zu einem konkreten Geschäftsfall beim letzten Vorgang in der Sache hinterlegt werden. Die beim Eingang vergebene Protokollzahl spielt daher auch in der Ablage eine Rolle. Ein anderes System gibt Eingängen und Veranlassungen in derselben Sache eben- S t a m m n u m falls ihren je eigenen numerus currens aus dem Einlaufprotokoll, legt sie dann aber mernsystem unter der Geschäftszahl des ersten Vorgangs („Grundzahl", „Stammzahl") ab. Dieses sich schon im 19. Jahrhundert in der Habsburgermonarchie bei den Behörden der inneren Verwaltung verbreitende „Stammnummernsystem" (J. Papritz) scheint praktischer, weil es die unübersichtlichere ,Aktenwanderung" nach hinten verhindert. Vorteilhaft ist es in diesem Fall, wenn man bei mittel- oder längerfristigen Vorgängen nicht jahrweise hinterlegt und damit Zusammengehöriges am Ende wieder chronologisch zerreißen oder jedes Jahr umbuchen muss, sondern die Grundzahl für längere Zeitabschnitte vergibt (ζ. B. fünf oder zehn Jahre) und die Ablage unter der Grundzahl des ersten Jahres der Registraturperiode erfolgt. Bei österreichischen Zentralbehörden nach 1945 wanderten die meist jahrweise vergebenen Grundzahlen allerdings jeweils zur neuen Grundzahl des Folgejahres und kamen erst bei der Grundzahl des letzten Jahres zur Ruhe, in dem die Sache behandelt wurde. Insbesondere bei den Militärbehörden der Habsburgermonarchie herrschte seit Rubrikensystem dem späten 18. Jahrhundert ein anderes Hinterlegungssystem vor. Die meist in 103
Genetische Aktenkunde
Zahlen ausgedrückten Sachrubriken wurden hier durch „Verhandlungszahlen" oder „Subzahlen" untergliedert, die einen bestimmten Gegenstand dieses Sachbereichs kennzeichneten und fur alle weiteren Stücke in der Sache gleich blieben; Letztere wurden der Verhandlungszahl durch zusätzliche Ordnungs- oder Strichzahlen „adnumeriert". Zum Beispiel: Kasernenbauten = Rubrik 20; Kaserne in Krems = 2 0 - 3 , alle weiteren Vorgänge zu dieser Kaserne = 20 - 3/1, 2, 3, 4 usw. Die beim Eingang vergebenen Protokollzahlen hatten mit der Signierung der Ablage also überhaupt nichts mehr zu tun. Die Hinterlegung ist in diesem System im Exhibitenprotokoll, oft auch im Index sowie in eigenen „Streichbüchem" vermerkt, die ähnlich den Elenchen Exhibitenzahl und Ablagesignatur gegenüberstellen. Wie stark in habsburgischer Tradition die Ablehnung des deutschen Sachaktenmodells war, zeigt sich in Landesteilen, die kurzfristig unter Fremdverwaltung gerieten, wie etwa im Tirol der napoleonischen Zeit. Hier führten die bayerischen Behörden sofort geheftete Sachakten ein. Mit der Rückkehr Tirols unter habsburgisches Szepter 1814 endete schlagartig auch die kurze Periode der Sachakten. Ähnliches wiederholte sich österreichweit während der NS-Zeit: 1945 kehrten die neuen österreichischen Behörden zu ihren traditionellen Registratursystemen zurück. Geschäftstagebücher statt Archivrepertorien Der österreichische Archivar bekennt sich zum „strengen Registraturprinzip", da andernfalls die einzigen Schlüssel zur Auffindung einzelner Schriftstücke, nämlich die Geschäftsbücher der Behörde, unbrauchbar würden. Die bescheidene Entwicklung der Archivwissenschaft, insbesondere der Ordnungslehre, ist eine Folge dieser durchaus begründbaren Arbeitsökonomie, die geringe archivische Erschließungstiefe ebenfalls. Bei großen Registraturen reicht sie selten tiefer als auf Band- und Faszikel- bzw. Kartonebene; bestenfalls die aus Sachbearbeiterselekten oder Schreibtischnachlässen entstandenen Sonder- oder Variareihen werden konvolutweise und damit meist nach ihrem Sachinhalt verzeichnet. Ansonsten dominiert die Arbeit mit den vorarchivischen Behördengeschäftsbüchern (Indices, Exhibitenprotokolle, Elenche usw.) nach Kanzlisten- bzw. Registratorenart, die als äußerst benützerunfreundlich empfunden wird und in der Tat hohe Anforderungen stellt. Indices Zunächst wird das Schlagwort bzw. der Orts- oder Personenname im Index aufgesucht. Geduld verlangt schon der relativ komplexe Aufbau der Indices, deren Schlagwörter im 18. und 19. Jahrhundert nicht nur phonetisch angelegt sind (B = P, С = К, D = Τ, F = Ph, Hü bei Hi, Hä bei He usw.), sondern, etwa in der Militärverwaltung, gerne auf den Anfangsbuchstaben und den ersten Vokal (unter Auslassung zwischenliegender Konsonanten) alphabetisiert wurden (Graz unter G-a usw.). Zeitgebundene Schreibungen (Hungarn usw.) müssen mitgedacht werden. Je nach Kanzleigebrauch können die Indexbände innerhalb des Alphabets weiter tiefengegliedert sein („systematisierte Indices"). Schlagwörter Die Qualität alter Indices weicht von heutigen Erwartungen zum Teil erheblich ab, Sachschlagwörter sind bis ins 18. Jahrhundert unterentwickelt, ehe sie in besonders komplexer Weise vergeben werden. Eine Normung der Beschlagwortung setzte sich im 19. Jahrhundert durch; damit sollte die willkürliche Eröffnung neuer Schlagwörter verhindert werden. Ein eigenes 104
Schriftgutorganisation in der Ablage
„Schlagwörterbuch" listete die zulässigen Hauptbegriffe (Material- und Nominalschlagwörter) auf, abweichende wurden durch Verweise auf die Norm umgeleitet („Weisungen"). Das Schlagwörterbuch konnte auch in den Materienindex jeweils zu Beginn der einzelnen Buchstaben integriert sein. Hinter das Schlagwort trat im Index der sogenannte „Registersatz" oder Extrakt, ein kurzer beschreibender Inhaltsauszug des indizierten Stücks. Die Einträge der Indices verweisen im 17. und 18. Jahrhundert auf Seite oder Folio des Protokolls, erst hier ist in der Regel die Hinterlegung angegeben. Ab dem 19. Jahrhundert wird die Ablage oft schon im Index vermerkt. Die Geschäftsbücher veränderten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihr Gesicht grundlegend. Das in Spalten gegliederte, meist auf Bögen vorgedruckte Exhibitenprotokoll (Einlaufjournal), das sich bei den Zentralstellen der Habsburgermonarchie im Zuge der Haugwitz'schen Reform ab der Jahrhundertmitte, bei den Länderstellen zu Beginn der 1780er Jahre durchsetzte, vermerkt jeweils auf einer zusammengehörigen Doppelseite links die laufende Nummer des Einlaufstücks, den Einsender, den wesentlichen Inhalt, rechts die inhaltliche Behandlung durch die Behörde, Datum und Art der Erledigung und schließlich in der letzten Spalte auch die Hinterlegung in der Registratur (Austragung).
Exhibitenprotokolle
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II
Vorgedruckte Spaltenköpfe eines Exhibitenprotokolls (Ende 18. Jahrhundert) — DoppelbUtt: oben = linke Seite Eingangsverbuchung, unten - rechte Seite Ausgangsverbuchung
Die klassischen Exhibitenprotokolle vereinigen also die früher getrennt geführten Ein- und Auslaufbücher, sie verklammern damit aber auch den Einlauf und die darauf ergangene Entscheidung, mithin das Schriftwechselpaar, das nun durch dieselbe Protokollzahl zusammengefasst ist. Die Exhibitenzahl (Tagebuch- oder Journalnummer) des Einlaufs bleibt also auch der darauf ergehenden Erledigung erhalten, erst bei der Ablage in der Registratur kommen andere Kriterien hinzu (Sachgruppen, Rubriken usw.). Die Spaltenvielfalt der Bücher wurde bei den meisten Behörden im Laufe des ® 19. Jahrhunderts deutlich reduziert. Im Bereich der Justizverwaltung etwa von sieben
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17d
Genetische
Aktenkunde
Rubriken (1785) auf vier (1848), 1853 schließlich auf drei (fortlaufende Protokollzahl, Name der Partei oder Behörde, Tag der Erledigung). Statt einer Doppelseite benötigte man nur mehr eine Seite. Bei größeren Zentralstellen wurden die Exhibitenprotokolle bald nicht mehr für die gesamte Behörde gefuhrt, sondern abteilungsweise, was automatisch eine gewisse Sachgemeinschaft des Registrierten verbürgte und die Nachsuche nach thematischen Gesichtspunkten erleichterte. Bei politischen Behörden mit lebhaftem Parteienverkehr hatte sich ein allgemeines Exhibitenprotokoll ohnedies nie bewähren können. Die niederösterreichischen Kreisämter des 18. Jahrhunderts legten daher für die wichtigsten Materien ihres Geschäftskreises jeweils eigene Protokolle oder Vormerkbücher an bzw. unterteilten das Protokoll in entsprechende Hefte. Der fortlaufend präsentierte und durchgehend nummerierte Eingang wurde dann springend dort eingetragen, wo er sachlich hingehörte: Nr. 1 in Heft 3, Nr. 2 in Heft 4, Nr. 3 in Heft 1 usw. Gliederte man Ende des 18. Jahrhunderts noch in neun Hefte, so waren es 1833 schon 25. 3MHtfdK0 ® ©ejel