Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur: (Post-)Koloniale Potentiale materieller Kultur 9783839470336

Westlich-europäische prokolonialistische Dinge waren schon früh Teil einer Modellierung durch deutschsprachige Literatur

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German Pages 280 Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
0 Einleitung
I Kolonialkritische Dingmodellierungen
1 Obelisk und Tempel: Eine Zäsur namens Herder?
2 Das afrikanische Ding im Kontext des kritischen Realismus
3 Das afrikanische Ding der literarischen Moderne
4 Das anti-kolonialrevisionistische Ding der Zwischenkriegszeit
5 Das Dritte Reich: Das afrikanische Ding on speed
6 Nachkriegsliteratur: »Und wie hältst du’s mit dem afrikanischen Ding?«
7 Zwischenbilanz: subversive Dinge in der Verwandlung der Welt
II Postkoloniale Dingmodellierungen
8 Postkoloniale Schreibhaltungen
9 Der Kopfschädel und andere museale Dinge
10 Kilimandscharo und andere Naturdinge
11 Blutdiamanten und andere Rohstoff-Dinge
12 Zwischenbilanz: Alexa, sprich über das afrikanische Ding!
13 Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
Ding- und Namensregister
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Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur: (Post-)Koloniale Potentiale materieller Kultur
 9783839470336

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Constant Kpao Sarè Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

Postcolonial Writings Band 2

Constant Kpao Sarè, geb. 1974, ist Associate Professor für interkulturelle Germanistik an der Université d’Abomey-Calavi in Benin. Seine Forschungsschwerpunkte sind deutschsprachige Afrikaliteratur, Postkolonialismus und Erinnerungskultur, die Stimme Afrikas und der Afrikaner*innen sowie Literatur und materielle Kultur.

Constant Kpao Sarè

Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur (Post-)Koloniale Potentiale materieller Kultur

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung, Bonn.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: »The antique temple of the black pharaohs«. Von lkpro / Adobe Stock Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839470336 Print-ISBN: 978-3-8376-7033-2 PDF-ISBN: 978-3-8394-7033-6 Buchreihen-ISSN: 2941-069X Buchreihen-eISSN: 2941-0703 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

In memoriam Klehou Wilhelm Ethann

Inhalt

Vorwort ..................................................................................13 0 0.1 0.2 0.3 0.4

Einleitung ........................................................................... 15 Fragestellung ........................................................................ 15 Eine definitorische Vorüberlegung .................................................... 19 Forschungsbericht .................................................................. 26 Textauswahl, methodologische Überlegung und Struktur der Arbeit ................... 29

I Kolonialkritische Dingmodellierungen 1

Obelisk und Tempel: Eine Zäsur namens Herder? ................................. 37

2 2.1 2.2 2.3 2.4

Das afrikanische Ding im Kontext des kritischen Realismus ...................... 43 Wilhelm Raabe: Fetisch, Kaffee … präsent und evident ............................... 45 Gottfried Keller: Säbel, Burnus … ›fremde Dinge‹...................................... 51 Adalbert Stifter: Afrikanische Technik wirkt kolonialistisch .......................... 54 Zusammenfassung .................................................................. 58

3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Das afrikanische Ding der literarischen Moderne .................................. 61 Exkurs: Claire Golls Kritik an der Faszination für afrikanische Dinge .................. 64 Peter Altenberg: Vogelflinte und Holzschemel, die Aschanti-Dinge .................... 67 Hans Paasche: Pombe, das Bier-Ding ................................................ 72 Franz Jung: Morengas ›primitive‹ Kriegsdinge ....................................... 78 Zusammenfassung ................................................................... 81

4 4.1 4.2 4.3

Das anti-kolonialrevisionistische Ding der Zwischenkriegszeit .................. 83 Exkurs: Sarotti-Mohr und Kaba: Zwei kolonialrevisionistische Dinge................... 84 Balder Olden: Kiboko oder Nilpferdpeitsche .......................................... 86 Richard Huelsenbeck: Jazz, ein Dada-Ding ........................................... 92

4.4 Julius Lips: »Fetisch«............................................................... 97 4.5 Zusammenfassung ..................................................................104 5 5.1 5.2 5.3 5.4

Das Dritte Reich: Das afrikanische Ding on speed .................................107 Exkurs: Afri-Cola, ein prokoloniales Ding .............................................108 Klaus Mann: Fez, Fes … Zauberkräutlein der Exilkritik ................................ 110 Ernst Jünger: Opium … Nur Dinge, die in der Hölle….................................. 116 Zusammenfassung: Dinge im Dienst des kalkulierten Abenteuers ....................120

6 Nachkriegsliteratur: »Und wie hältst du’s mit dem afrikanischen Ding?«........ 123 6.1 Georg Britting: Naturdinge als globale Kolonialkritik in der BRD ...................... 123 6.2 Maximilian Scheer: Pyramide versus Damm, Kapitalismuskritik der DDR ............. 139 7

Zwischenbilanz: subversive Dinge in der Verwandlung der Welt ..................145

II Postkoloniale Dingmodellierungen 8 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5

Postkoloniale Schreibhaltungen ...................................................149 Afrika-Ding-Roman des Postkolonialismus? .......................................... 151 Uwe Timm: Das afrikanische Ding im Kontext der Einfühlungskritik...................152 Hans Christoph Buch: Das afrikanische Ding als Einfühlungsexperiment ..............155 Thomas Stangl: »Es gibt kein afrikanisches Ding« ...................................162 Zusammenfassung .................................................................165

9 9.1 9.2 9.3

Der Kopfschädel und andere museale Dinge ......................................167 Die postkoloniale Diskussion: ›Sensible Dinge‹ zurück oder behalten? ................167 Schädel-Ding ....................................................................... 171 Zusammenfassende Bemerkung .................................................... 183

10 10.1 10.2 10.3 10.4

Kilimandscharo und andere Naturdinge .......................................... 185 Das postkoloniale Projekt: ›Postkolonie‹ noch Heimat?...............................185 Kilimandscharo/Usambara/Orange River ............................................ 188 Nilquelle-Ding.......................................................................194 Zusammenfassung ..................................................................198

11 11.1 11.2 11.3

Blutdiamanten und andere Rohstoff-Dinge ........................................199 Die postkoloniale Kritik..............................................................199 Elfenbein-Ding ......................................................................201 »Nashorn« als Ding-Symbol für Schuld ............................................. 204

11.4 Blutdiamanten ..................................................................... 208 11.5 Zusammenfassung .................................................................. 211 12

Zwischenbilanz: Alexa, sprich über das afrikanische Ding! .......................213

13 Schlussbemerkung ................................................................215 13.1 Zusammenfassung: Dinge zwischen Interkulturalität und Postkolonialität ............215 13.2 Ausblick: afrikanische Perspektive ..................................................218 Literaturverzeichnis ................................................................... 225 Primärliteratur .......................................................................... 225 Sekundärliteratur ....................................................................... 230 Internetquellen.......................................................................... 270 Ding- und Namensregister ............................................................. 273

»Der Negerkünstler bedient sich vor allem […] der dinglichsten Eigenschaften« (Léopold Sédar Senghor: Der Beitrag des Schwarzen, 1939)

Vorwort

Der afrikanische Vordenker des Antikolonialismus, Léopold Sédar Senghor (1906–2001), sah einst die Gegenwärtigkeit des Afrikaners bei der Gestaltung der neuen Welt insbesondere in seinen besonderen Kunstwerken, da diese die »dinglichsten Eigenschaften« ausdrücken.1 Ihm wurde von späteren afrikanischen postkolonialen Kritikern, regelrechten Tempelwächtern über die Qualität der Stimme des ›Subalternen‹, der Vorwurf gemacht, er würde zur »afrikanistischen« Erfindung des Kontinents beitragen. Zugegeben: Es ist gewagt über das ›afrikanische Ding‹ zu sprechen. Kategorien, die diesen Begriff umfassen, reichen von lokalen, über transkulturelle bis hin zu globalen und interkulturellen Dingen. So, wie man aber von der afrikanischen Kultur sprechen kann, – in Analogie zur europäischen Kultur – wird hier der Versuch unternommen, gleichermaßen vom afrikanischen Ding zu sprechen. Das Interesse der folgenden Überlegungen liegt nicht in dem »realen« Ding selbst, sondern in der literarischen Gestaltung dessen, was die untersuchten Schriftsteller*innen als afrikanisches Ding postulieren. Vor diesem Hintergrund werden deshalb die ›literarischen Dinge‹ auf ihr (post-)koloniales Potential hin untersucht. Danken möchte ich vor allem der Alexander von Humboldt-Stiftung (Bonn), die meinen Aufenthalt an der Universität Bayreuth mit der Verleihung des GeorgForster-Stipendiums für erfahrene Forscher großzügig gefördert hat. Meiner Gastgeberin Prof. Dr. Gesine Lenore SCHIEWER und den Mitarbeitern des Lehrstuhls für Interkulturelle Germanistik (Bayreuth) sowie meinen Gutachter*innen Prof. Dr. Bea LUNDT und Professor Michel GRUNEWALD bleibe ich in Dankbarkeit verbunden. Für die kritischen Hinweise und das umsichtige Lektorat bedanke ich mich bei Freunden und Kollegen: Prof. Dr. Manfred WESPEL, Victor KPOKPOYA und Kangnikoé ADAMA. Bayreuth, im Januar 2022

1

Senghor, Léopold Sédar: Der Beitrag des Schwarzen (1939). In: Ders.: Négritude und Humanismus. Hg. und übertragen von Janheinz Jahn. München u.a.: Diederichs, 1967, S. 9–28, hier S. 24.

0 Einleitung

0.1 Fragestellung Selbst ein kursorischer Blick über den neueren Sachbuchmarkt zeigt ganz ausdrucksvoll, dass sich das »Ding« die zentrale Herausforderung perfekt meistern kann, welche das vermeintliche »Verschwinden des Subjekts«1 hat stellen mögen.2 Unüberschaubar ist tatsächlich die Liste der Aufklärer-Bücher über Dinge: Von guten, schönen, großen, kleinen, stillsten, verlorenen, unsagbaren, ungesagten, schlimmsten, durchsichtigen, zerbrechlichen oder typisch deutschen Dingen, über die Verwandlung, Herrschaft oder Weltgeschichte der Dinge, bis hin zu Dingen des Lebens, der Meere, des Computers. Mittlerweile sollen sich das »Theater der Dinge«,3 das »Internet der Dinge«4 sowie der »Journalismus der Dinge«5 etabliert haben. Der inflationäre Gebrauch vom Wort »Ding« wird in den Titeln der Lexika fortgeführt, die von ganz seriösen Verlagen wie Fischer oder Rowohlt veröffentlicht werden: Lexikon der überflüssigen, der überschätzten, der verschwundenen Dinge usw.6

1 2 3 4 5 6

Bürger, Peter: Verschwinden des Subjekts. Eine Geschichte der Subjektivität von Montaigne bis Barthes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1998. Vgl. Hahn, Hans Peter u. Neumann, Friedemann (Hg.): Dinge als Herausforderung. Kontexte, Umgangsweisen und Umwertungen von Objekten. Bielefeld: transcript, 2018. Joss, Markus u. Lehmann, Jörg (Hg.): Theater der Dinge: Puppen-, Figuren- und Objekttheater. Berlin: Theater der Zeit, 2016. Sprenger, Florian u. Engemann, Christoph (Hg.): Internet der Dinge. Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt. Bielefeld: transcript, 2015. Vicari, Jakob: Journalismus der Dinge. Strategien für den Journalismus 4.0. Köln: Herbert von Halem, 2019. Schönburg, Alexander von: Lexikon der überflüssigen Dinge. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2006; Trotha, Hans von: Lexikon der überschätzten Dinge. Frankfurt a.M.: Fischer, 2012; Skuppin, Robert u. Wieprecht, Volker: Das Lexikon der verschwundenen Dinge. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2009.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

Landet man im »brunnen-tiefen Grund«,7 in der Temporalität8 oder im Atemkreis9 der Dinge, ist man bereits nicht mehr bei aufklärenden Sachbüchern, sondern in der Philosophie, einer Disziplin, in der der konjunkturelle Gebrauch des Begriffes »Ding« nicht neu ist. Schenkt man dem online Philosophie-Lexikon der Argumente10 Glauben, müsste man mindestens dreizehn (13) Philosophen aufzählen, die sich mit dem »Ding« auseinandergesetzt haben: In der alphabetischen Reihenfolge von Aristoteles bis Ludwig Wittgenstein, über Jean Baudrillard, Roderick Chrisholm, David Hume, Immanuel Kant, David K. Lewis, John Stuart Mill, Willard van Orman Quine, Peter F. Strawson und John Archibald Wheeler. Dabei bilden die Denker, die sich mit dem Konzept von »Ding an sich« befasst haben, eine gesonderte Kategorie, zu der Kant, Friedrich Nietzsche, Richard Rorty, Arthur Schopenhauer, John R. Searle, Hans Vaihinger gehören. Die Überlegungen der Philosophen und der Kulturklassiker über das »Dingliche« im materiellen Sinne11 haben gemeinsam, dass sie die Verhältnisse des Menschen zur Materialität (oder umgekehrt) erkunden. Bisweilen parallel zum Tier- Umwelt oder Naturverständnis, bisweilen unabhängig davon wird sowohl in der Philosophie als auch in der kulturwissenschaftlichen Forschung eine Parteinahme für die Dinge12 erkennbar, wobei versucht wird, das Subjekt-ObjektVerhältnis in den Hintergrund zu stellen. Postuliert wird – beschränkt man sich auf eine der neuesten Argumentationsmuster –, dass die gegenwärtige »engmaschige Digital-Material-Medium-Mensch-Beziehung«13 sich einer eindeutigen Zuordnung zu Menschlichem und ›Dinglichem‹ entziehe und stattdessen eine Grenzüberschreitung erfolge. Die Erforschung dieser Dingwelt bestehend aus Objekten, materieller Kultur, Artefakten usw. war einst Reservat der Kulturwissenschaft. Mit ihrem neueren 7 8 9 10 11

12

13

Greiner, Antonius: »Im brunnen-tiefen Grund der Dinge«. Welt und Bildung bei Eugen Fink. (= Pädagogik und Philosophie 2). Freiburg, München: Karl Alber, 2008. Stabrey, Undine: Archäologische Untersuchungen. Über die Temporalität und Dinge. Bielefeld: transcript, 2017. Knodt, Reinhard: Der Atemkreis der Dinge. Einführung in die Philosophie der Korrespondenz. Freiburg, München: Karl Alber, 2018. https://www.philosophie-wissenschaft-kontroversen.de/gesamtlist.php?thema=Dinge [Stand vom 04.09.2019]. Das ›Dingliche‹ als Eigenschaft der in der Realität vorhandenen Sachen. Zur »Dinglichkeit« im immateriellen Sinne, insbesondere in Jura, vgl. hierzu Schöneich, Anja: Der Begriff der Dinglichkeit im Immaterialgüterrecht. Baden-Baden: Nomos, 2017. Vgl. Ponge, Francis: Im Namen der Dinge. (1942) Mit einem Nachwort von Jean-Paul Sartre. Zweisprachige Ausgabe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1973. Vgl. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie (1991). Übersetzt von Gustav Roßler. Berlin, Boston: de Gruyter, 2018. Kolnberger, Thomas: »Zwischen Mensch und Ding«, in: Hahn, Hans Peter u. Neumann, Friedemann (Hg.): Dinge als Herausforderung, a.a.O., S. 327–348, hier S. 328.

0 Einleitung

Jagdrevier, in dem die Verdinglichung des Menschen und die Vermenschlichung des Dings zwei Seiten derselben Medaille bilden, bietet die Dingwelt der Literaturwissenschaft im Kontext der anthropologischen Wende14 die Möglichkeit, einen beeindruckenden konjunkturellen »Aufschwung«15 zu erleben. Dieses Interesse entstand offensichtlich durch die Blicke der Kulturklassiker auf die Materialität um das Buch. Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Björn Weyand erklärt, dass Roland Barthes (1915–1980) beispielsweise unvermutete Assoziationen zwischen den Werken der kanonisierten Kultur und den als profan geltenden Dingen des Alltags hergestellt habe. Er schreibt: Die immense Gegenstanderweiterung, die heute unter dem Vorzeichen kulturwissenschaftlich orientierter Literaturwissenschaft vielfach als selbstverständlich erscheint, vermag in Barthes’ Schriften immer aufs Neue zu überraschen und erlebt in ihnen zweifellos einen ihrer glänzendsten Höhepunkte.16 Umgekehrt erklärt sich das Interesse der Literaturwissenschaft für Frage der Materialität durch das Anliegen der Literaturwissenschaftler, den Fokus ihrer Methodenansätze nicht nur auf »Dinge im Umfeld der Literatur«17 , sondern auch auf »literarische Materialien und imaginierte Dinge«18 zu legen Die beginnende Beachtung des afrikanischen Dings durch die Literaturwissenschaft kann nicht ohne die seit geraumer Zeit anschwellende Welle der ethnographischen Erforschung von der materiellen Kultur in Afrika19 und das Interesse der kulturwissenschaftlichen Studien für die Präsenz der ›fremden Dinge‹ in Europa20 verstanden werden. Eingeleitet wurde dieses Interesse durch die scheinbar provozierend gewollte Studie des Literatur- und Kulturwissenschaftlers Hartmut Böhme

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20

Vgl. Bachmann-Medick, Doris (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Tübingen u.a.: Francke, 2004. Ausdruck bei Kimmich, Dorothee: »Literaturwissenschaft«, a.a.O., S. 305. Weyand, Björn: »KulturKlassiker. Roland Barthes (1915–1980), Mythologie (1957)«, in: KuturPoetik Band 12, 2. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012, S. 258–271, hier S. 259. Wernli, Martina u. Kling, Alexander: »Von erzählten und erzählenden Dingen. Zur Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Das Verhältnis von res und verba: Zu den Narrativen der Dinge. Freiburg i.Br. u.a.: Rombach, 2018, S. 7–31, hier S. 22. Scholz, Susanne u. Vedder, Ulrike (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Berlin, Boston: de Gruyter, 2018, S. 1. Vgl. auch Eming, Jutta: Things and Thingness in European Literature and Visual Art, 700–1600. Berlin: Walter de Gruyter, 2021. Vgl. insbesondere die Arbeiten von Hahn, Hans Peter: Die materielle Kultur der Bassar (NordTogo). (Steiner, 1991); Die materielle Kultur der Konkomba, Kabyé und Lamba in Nord-Togo: Ein regionaler Kulturvergleich. (Rüdiger Köppe, 1996). Vgl. Neumann, Brigit (Hg.): Präsenz und Evidenz fremder Dinge im Europa des 18. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein, 2015.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

Fetischismus und Kultur von 2006. Provokation deswegen, weil sie sich als eine »andere Theorie der Moderne«21 versteht, und den Fetischismus als einen »Terminus der Selbstbeschreibung eher der europäischen Gesellschaften denn der außereuropäischen Kulturen«22 neubewertet. Böhme argumentiert nämlich, dass die westlichen Intellektuellen der Moderne mit einem falschen Überlegenheitsgefühl operieren, wobei sie aber nicht besser als afrikanische Fetischpriester seien, deren Dingwelt »dunkel und verschwommen«23 sei. Böhmes Verwestlichung des Begriffs »Fetisch« wurde für Studien über die europäischen Dinge quasi zum unverzichtbaren Argumentationsmuster, zumindest im deutschsprachigen Kontext.24 In der postkolonialen Theologie hat man die Verbreitung der Bibel durch Missionare als »Fetischisierungsprozeß«25 bezeichnet. In der Dingforschung über die Aufklärung sprach man vom Fetischismus der Brief-Dinge26 und in der Konsumforschung gelten die Dinge als »Fetische« der Konsumgesellschaft.27 Aus literaturwissenschaftlicher Sicht stellt Doerte Bischoff fest: »schon im 17.und 18. Jahrhundert gab es nahezu keine europäische Reisebeschreibung über Afrika ohne Hinweis auf das dortige Vorhandensein von Fetischen«.28 Die geistesgeschichtliche Entwicklung im europäischen intellektuellen Milieu, die Bischoff beschreibt,29 lässt mutmaßen dass andere afrikanische Dinge vergleichbare literarische Modellierungen erfahren haben. 21 22 23 24

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Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2006. Ebd., S. 32. Ebd., S. 227. Die mehr als tausend Seiten umfangreiche zweiteilige Studie des Londoner Forschers Frank Trentmann über Empire of Things (2016) hat kein einziges Mal auf Böhmes Buch hingewiesen, obwohl der Fetischismus im abendländischen Kontext mehrmals referiert wird. Vgl. Trentmann, Frank: Herrschaft der Dinge, a.a.O. Lan, Kwok Pui: »Farbcodierung für Jesus. Ein Interview mit Kwok Pui Lan«, in: Nehring, Andreas u. Tielesch, Simon (Hg.): Postkoloniale Theologien: Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge. Stuttgart: Kohlhammer, 2013, S. 112–122, hier S. 114. Zur Dingforschung in der Theologie im Allgemeinen, siehe Roth, Ursulla u. Gilly, Anne (Hg.): Die religiöse Positionierung der Dinge: Zur Materialität und Performativität religiöser Praxis. Stuttgart: Kohlhammer, 2021. Kammer, Stephan: »Materialität der Kommunikation – Materialität der Dinge: Einleitung«, in: Berndt, Frauke u. Daniel Fulda (Hg.): Die Sachen der Aufklärung. Beiträge zur DGEJ-Jahrestagung 2010 in Halle a.d. Saale. Hamburg: Felix Meiner, 2012, S. 265–271, hier S. 209. Trentmann, Frank: Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt u. Stephan Gebauer-Lippert. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2017, S. 155, 310 u. 356. Bischoff, Doerte: »Fetisch«, in: Samida, Stefanie u.a. (Hg.): Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2014, S. 206–209, hier S. 206. Ähnliche Begründung in Weber, Christine: Erschriebene Dinge. Fetisch, Amulett, Talisman um 1800. Freiburg i.Br. u.a.: Rombach, 2007.

0 Einleitung

Den augenfälligsten Aspekt der Mobilisierung von afrikanischen Dingen für das imperialistische Kolonialprojekt muss allerdings vorerst ausgeklammert werden. Benedikt Stuchtey, der Spezialist für vergleichende Imperialismus-Forschung, der über die Kolonialismuskritik vom 18. in das 20. Jahrhundert habilitierte,30 hat sich diese Frage in seinem laufenden Forschungsprojekt vorbehalten. »Die europäische Expansion und ihre Objekte. Materielle Kultur in der Geschichte des Kolonialismus«, so lautet der Titel seines Forschungsvorhabens, das die materielle Kultur der europäischen Expansion zwischen 1750 und den 1960er Jahren erkunden möchte, um aus ihr Fragen der Geschichte der europäischen und nicht-europäischen Imperialismen zu erschließen.31 Falls Stuchtey nicht auf die Funktion der afrikanischen Dinge in prokolonialistischen literarischen Inszenierungen eingehen sollte, da diese Perspektive vom historischen Blick losgelöst sein kann, verdient sie eine eigene Untersuchung, die in dieser Studie dennoch weiterhin nur als Desiderat formuliert werden kann. Zur Not werden diese kolonialaffirmierenden literarischen Gestaltungen der afrikanischen Dinge lediglich in Exkursen behandelt. Die vorliegende Studie richtet ihren Fokus gezielt auf (post-)koloniale literarische Dinge, wobei die Schreibweise in Klammern hier anstreichen soll, dass diese Kolonialismuskritik angefangen hatte, längst bevor der Begriff »postkolonial« geprägt wurde. Die (post-)koloniale Literatur meint hier also jede fiktive Inszenierung der Kolonialgeschichte, die gegen die kolonialen Bestrebungen gerichtet ist. Die Hypothese ist, dass die Modellierung von afrikanischen Dingen durch jene Texte andere Perspektiven anbieten als Texte, deren Herrschaftsansprüchen deutlich sind. Die Deutung dieser Kategorie von Texten kann meines Erachtens dabei helfen, den interkulturellen bzw. postkolonialen Blick der jeweiligen Autor*innen aufzuzeigen. Bevor aber auf dieses Spektrum eingegangen wird, kann man an einer definitorischen Überlegung nicht vorbeikommen.

0.2 Eine definitorische Vorüberlegung Wenn man die Forschungsliteratur am Ende der vorliegenden Studie überfliegt, könnte man den Eindruck gewinnen, es wurde alle Aspekte des »unbestimmbaren«32 Konzepts von »Ding« herausgearbeitet. In der Tat wurden seine begrifflichen Unterscheidungen zu Nachbarkonzepten wie Objekt, Sache, Gegenstand, Artefakt 30 31

32

Vgl. Stuchtey, Benedikt: Die europäische Expansion und ihre Feinde. Kolonialismuskritik vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg, 2010. Stuchtey, Benedikt: »Die europäische Expansion und ihre Objekte. Materielle Kultur in der Geschichte des Kolonialismus«. Eine Zusammenfassung des Projektes ist abrufbar unter htt ps://www.forschungskolleg-humanwissenschaften.de [Stand vom 26. 07. 2019]. Ausdruck bei Lang, Heinwig: Die Individualität der Dinge. Kultur-, wissenschafts- und technikphilosophische Perspektiven auf die Bestimmung eines Unbestimmbaren. Bielefeld: transcript, 2008.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

usw. von Platon bis Bruno Latour breit theorisiert.33 Die philosophischen Methoden um den »Zusammenhang der Dinge«34 wurden auch diskutiert. Ferner stellt man fest, dass die Dingliteratur in allen klassischen Feldern des literaturwissenschaftlichen Arbeitens aufgeschichtet ist: Die ›dingliche‹ Qualität einzelner literarischen Strömungen,35 (Unter-)Gattungen,36 Autor*innen,37 Werke,38 Raum- und Ortkonstellationen39 wurde gemessen. Literarische Gestaltung spezieller Berufsdinge,40 altersspezifischer Ausprägung der Dingwelten vom Kinderzimmer bis zum Altersheim41 etc. wurden gedeutet. Dinge wurden nicht mehr nur als Erzählte, sondern 33

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Dazu Kling, Alexander: »Aus dem Rahmen fallen. Dingtheorie, Narratologie und das Komische (Platon, Vischer, Loriot)«, in: Wernli, Martina u. Ders. (Hg.): Das Verhältnis von res und verba, a.a.O., S. 309–332. Vgl. Kling, Alexander: »Der Zusammenhang der Dinge«, in: Lubkoll, Hararld Neumeyer (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Handbuch. Epoche – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2015, S. 140–143; vgl. auch Därmann, Iris u. Ladewig, Rebekka (Hg.): Kraft der Dinge. Phänomenologische Skizzen. München: Wilhelm Fink, 2014. Vgl. Spohn, Verena: »(K)ein wirkmächtiges Ding? Mittelalterliche Vorstellungen von sakralen Dingen und ihrer Handlungsmacht am Beispiel der vera icon in der religiösen Dichtung Christi Hort«, in: Wernli, Martina u. Kling, Alexander (Hg.): Das Verhältnis von res und verba, a.a.O., S. 101–120; Vgl. Kimmich, Dorothee: Lebendige Dinge in der Moderne. Konstanz: Konstanz University Press, 2011. Zur Untergattung der Kriminalliteratur siehe Abschnitt »Material Studies«, in: Düwell, Susanne; Bartl, Andrea; Hamann, Christof u. Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur: Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2018, S. 52f. Vgl. Kimmich, Dorothee u. Grunert, Frank (Hg.): Denken durch die Dinge: Siegfried Kracauer im Kontext. München: Wilhelm Fink, 2010; Vgl. Vedder, Ulrike: »Dinge als Zeitkapseln. Realismus und Unverfügbarkeit der Dinge in Theodor Storms Novellen«, in: Stowick, Elisabeth. u. dies. (Hg.): Wirklichkeit und Wahrnehmung. Neue Perspektiven auf Theodor Storm. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 2013, S. 73–90; Vgl. Vedder, Ulrike: »Verknüpfung und Zerstörung. Kleists Dinge zwischen Diachronie und Synchronie«, in: Kleist-Jahrbuch 2015. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2015, S. 47–59; Vgl. Bidmon, Agnes u. Niehaus, Michael (Hg.): Kafkas Dinge. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2019; Vgl. Bartl, Andrea u. Bergmann, Franziska (Hg.): Dinge im Werk Thomas Manns. München: Wilhelm Fink, 2019; Vgl. Maas, Julia: Dinge. Sachen. Gegenstände. Spuren der materiellen Kultur im Werk Robert Walsers. München: Wilhelm Fink, 2019. Vgl. Struwe-Rohr, Carolin: »Faust und die Dinge. Zur Fragmentierung und Verdinglichung in der Historia von D. Johann Fausten (1587)«, in: Wernli, Martina u. Kling, Alexander (Hg.): Das Verhältnis von res und verba, a.a.O., S. 143–163. Vgl. Reblin, Eva: Die Straße, die Dinge und die Zeichen. Zur Semiotik des materiellen Stadtraums. Bielefeld: transcript, 2012. Beispiel: Kling, Alexander: »Kafkas Arbeits- und Wohndinge«, in: Bidmon, Agnes u. Niehaus, Michael (Hg.): Kafkas Dinge, a.a.O., S. 23–50. Vgl. Fuhs, Burkhard: »Der Zauber der Dinge in der Kindheit. Materielle Kinderkultur im Kontext von Sach- und Erinnerungsforschung«, in: Schmachter, Christina (Hg.): Kinder und Dinge. Dingwelten zwischen Kinderzimmer und FabLabs. Bielefeld: transcript, 2014, S. 63–88. Vgl. Depner, Anamaria: Dinge in Bewegung. Zum Rollenwandel materieller Objekte. Eine ethnographische Studie über den Umzug ins Altenheim. Bielefeld: transcript, 2015.

0 Einleitung

auch als Erzähler42 und sogar als anthropomorphe Wesen43 thematisiert. Speziellen literarischen Themen wie Gender,44 Grenzüberschreitung45 , Ding-Mensch-Beziehungen,46 Mensch-Automaten-Beziehung,47 Interkulturalität,48 Narratologie,49 oder romantische Dingpoesie50 wurden breiten Raum gegeben. In all diesen Überlegungen liest man beständig u.a. über literarische, fremde/exotische, dreckige, wandernde, inter-transkulturelle, postkoloniale, realistische, alltägliche, geliebte, geringe, lebendige oder tote Dinge. Und diese Liste wird durch die vorliegende Studie mit einem diskussionsbedürftigen Begriff wie »das afrikanische Ding« erweitert. Bei genauerem Zusehen der scheinbaren Einhelligkeit im Titel vieler Aufsätze und Monografien fällt allerdings schnell auf, dass der Begriff »Ding« epistemologisch nicht immer dasselbe bedeutet. Mal erscheint er im Kontext der materiellen, mal im Rahmen der immateriellen Kultur. Selbst als materiell-kultureller Begriff ist ein »Ding« mit anderen Nachbarkonzepten wie Objekt, Sache, Gegenstand, Artefakt usw. nicht leicht unterscheidbar; was offensichtlich in der Natur der Dinge liegt. So bedauert das Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie, dass interdisziplinäre Erträge weiterhin versuchen, zwischen Typen der Dingbeziehung zu differenzieren,

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Beispiel: Wernli, Martina u. Kling, Alexander: »Von erzählten und erzählenden Dingen. Zur Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Das Verhältnis von res und verba, a.a.O., S. 7–31. Jana Scholz illustriert diese Figurationen anthropomorpher Artefakte durch E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann (1816). Vgl. Scholz, Jana: Die Präsenz der Dinge. Anthropomorphe Artefakte in Kunst, Mode und Literatur. Bielefeld: transcript, 2019, S. 144–182. Vedder, Ulrike: »Gendered objects. Literarische Ding- und Geschlechtercodierungen«, in: Schmidt, Sarah (Hg.): Sprachen des Sammelns. Literatur als Medium und Reflexionsform des Sammelns. München: Wilhelm Fink, 2016, S. 43–58. Abel, Stefan: »Grenzüberschreitung und Widerständigkeit der Dinge im Lai du cort mantel und seiner mittelhochdeutschen Bearbeitung«, in: Wernli, Martina u. Kling, Alexander (Hg.): Das Verhältnis von res und verba, a.a.O., S. 79–100. Vgl. Kimmich, Dorothee: Lebendige Dinge in der Moderne, a.a.O.; Vgl. Knipp, Raphaela: »Narrative der Dinge. Literarische Modellierungen von Mensch-Ding-Beziehungen«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 42, 2012, S. 46–61. Vgl. Brunner, José (Hg.): Erzählte Dinge. Mensch-Objekt-Beziehungen in der deutschen Literatur. Göttingen: Wallstein, 2015. Vgl. Schiewer, Gesine Lenore: Poetische Gestaltkonzepte und Automatentheorie: Arno Holz, Robert Musil, Oswald Wiener. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004; Vgl. Dies.: »Oswald Wieners experimentelle Kunst als Kritik formaler Kommunikationstheorien«, in: Hess-Lüttich, Ernest W.B. (Hg.): Autoren, Automaten, Audiovisionen: Neue Ansätze der Medienästhetik und Tele-Semiotik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001, S. 57–74. Vgl. Niehaus, Michael: »Interkulturelle Dinge«, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 1, Heft 1, 2010, S. 33–48. Vgl. Christ, Valentin: Bausteine zu einer Narratologie der Dinge. Der ›Eneasroman‹ Heinrichs von Veldeke, der ›Roman d’Eneas‹ und Vergils ›Aeneis‹ im Vergleich. Berlin, Boston: de Gruyter, 2015. Holm, Christiane u. Oesterle, Günter (Hg.): Schläft ein Lied in allen Dingen? Romantische Dingpoetik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

etwa zwischen Trophäe, Reliquie, Fetisch, Gabe, Ware, Andenken, Übergangsobjekt, Sammelstück, Kuriosität, Relikt, Abfall.51 Dabei sei es – so argumentiert Christiane Holm bezugnehmend auf Böhme- »gerade die konsequente Hinwendung zum vermeintlich selbstverständlichen Ding mit den ihm angetragenen Beziehungsmustern, die zu kulturtheoretischen Konzeptualisierungen führen«52 könne. Die im Rahmen der vorliegenden Studie anzustellenden Überlegungen werden auch kaum epistemologische Reflexionen über das »Ding« einschließen können, verweisen dennoch auf eine Kennerin des Fachs, die Literaturwissenschaftlerin Ulrike Vedder, die sich mit der literarischen Epistemologie von Dingen auseinandersetzt und festgestellt hat, dass die Frage »was ist das?« schwer zu beantworten sei, denn das Spezifische einer solchen Studie sei eine »Perspektive, die in der Literatur Dinge aufsucht, um eine Vielfalt von Fragen an sie zu knüpfen«.53 Nun wird deutlich, dass die Frage, was ein »Ding« ist, wohl nicht umstritten ist, was allerdings nicht bedeutet, dass die drei Konzepte, welche wir seit dem Anfang gebrauchen und weiterhin benutzen werden, leicht nachvollzierbar sind: Literarische Dinge, (post-)koloniale Dinge, afrikanische Dinge. Zunächst sei die Problematik des letzten Begriffs näher betrachtet. Dass der Gebrauch des Begriffs ›afrikanisches Ding‹ freilich als ungenau und wohl riskant erscheinen kann, hat der afrikanische Vordenker des Antikolonialismus, Léopold Sédar Senghor (1906–2001), zu spüren bekommen mögen, als er begründete, die verborgene Kraft Afrikas sei »unter der Oberfläche der Dinge zu entdecken«.54 Ihm wurde von späteren afrikanischen postkolonialen Kritikern, regelrechten Tempelwächtern über die Qualität der Stimme des ›Subalternen‹, der Vorwurf gemacht, er würde zur ›afrikanistischen‹ Erfindung des Kontinents beitragen. Valentin Mudimbe streicht an, dass die Vorstellung eines homogenen Kontinents auf den von Leo Frobenius (1873–1938) propagierten kolonialgeprägten Blick zurückgehe.55 Die Kritik ist jedenfalls nicht unbegründet; doch bietet sie die Möglichkeit, vorab die Frage nach dem Gehalt des Afrikanischen im Spannungsfeld zwischen Lokalität und Transkulturalität zu diskutieren. Nicht nur die oft zu Recht erwähnte Nichthomogenität der kulturellen Gepflogenheiten und materiellen Kulturen in Afrika,

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Holm, Christiane: »Dingkultur«, in: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart: Metzler, 2008, S. 132–133, hier S. 133 Ebd., a.a.O. Vedder, Ulrike: »Das Rätsel der Objekte: Zur literarischen Epistemologie von Dingen. Eine Einführung«, in: Ders. (Hg.): Literarische Dinge. Zeitschrift für Germanistik XXII, Heft 1., 2012, S. 7–16, hier S. 8. Zitiert nach Simo, David: »Negritude«, in: Göttsche, Dirk; Dunker, Axel u. Dürbeck, Gabriele: Handbuch Postkolonialismus und Literatur, a.a.O., S. 191–194, hier S. 192. Mudimbe, Valentin Y.: The Invention of Africa. Gnosis, Philosophy, and the Order of Knowledge. Bloomington: Indiana University Press, 1988.

0 Einleitung

sondern auch die transkulturellen Bezüge der Dinge lassen den Begriff ›afrikanisches Ding‹ als nicht haltbar erscheinen. Kategorien, die den Begriff umfassen, reichen von lokalen, über transkulturelle bis hin zu globalen und interkulturellen Dingen. Einerseits kann aus postkolonialer Sicht der Begriff als ›suspect category‹, als Abgrenzung zur westlichen Kultur im Sinne des von Toni Morrison fruchtbar gemachten »Afrikanismus«56 eingestuft werden. Andererseits dürfen einige untersuchte Dinge als »globale Dinge«57 oder gar in ihnen Elemente der westlichen materiellen Kultur gesehen werden. All jene Erwägungen, die die Geschichte der materiellen Kultur Afrikas erst mit der Ankunft der europäischen Kolonisten zu datieren versuchen, sind nicht neu. Die transkulturellen Verflechtungen der Dingsymbole sind eben nicht eindimensional58 und ändern nichts an den kolonialkritischen Literarisierungen der Dinge. Denn, wie der Germanist und Kulturwissenschaftler Thomas Keller in seiner Studie über das ›transkulturelle Dritte‹ als materielle Kultur bei deutschfranzösischer Wissensübertragung schreibt, gilt selbst für die transkulturellen Dinge, das was Dinge schlechthin auszeichnet: Sie bedeuten an sich nichts. […] für viele transkulturelle Dinge [ist] eine Grundvoraussetzung entscheidend: Sie verkörpern und tragen und/oder sind transportabel. Sie bewegen sich im Raum und schaffen Verhältnisse der Benachbarung; sie sind metonymischer Ordnung. Als solche sind sie Semiophoren (Zeichenträger). Bewegbare Fetische […] gehören dazu.59 Man kann sicherlich die möglichen Vorbehalte gegen den Gebrauch des Begriffes ›afrikanisches Ding‹ immerfort aufzählen. Es muss aber dabeibleiben: das Interesse der vorliegenden Auseinandersetzung mit dem Konzept von »Ding« liegt nicht in dem »realen« Ding selbst, sondern in der literarischen Modellierung dessen, was die Schriftsteller*innen als afrikanisches Ding postulieren. So, wie man von der afrikanischen Kultur – in Analogie zur europäischen Kultur – sprechen kann, wird hier der Versuch unternommen, gleichermaßen vom afrikanischen Ding zu sprechen. 56 57 58

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Morrison, Toni: Playing in the dark: Whiteness and the literary imagination. Cambridge u.a., Harvard University Press, 1992, S. 6. Vgl. Habermas, Rebekka u. Burghartz, Susanna: »Editorial: Globale Dinge – und was wir von ihnen lernen können«, in: Historische Anthropologie, Band 25/3, 2017, S. 302–307. Hanna Katharina Göbel u. Sophia Prinz schreiben dazu: »Die moderne westliche Formensprache der Architektur, der Malerei, des Designs oder des Tanzes hat sich immer schon an nicht-westlichen Ästhetiken, wie etwa der indischen, japanischen oder der (nord-)afrikanischen, geschult und in der Folge von Kolonisierung und ökonomischer Globalisierung ihrerseits Spuren auf der ganzen Welt hinterlassen«, Göbel, Hanna Katharina u. Prinz, Sophia: »Die Sinnlichkeit des Sozialen. Eine Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur. Bielefeld: transcript, 2015, S. 9–52, hier S. 12. Keller, Thomas: Verkörperungen des Dritten im Deutsch-Französischen Verhältnis. Die Stelle der Übertragung. München: Wilhelm Fink, 2018, S. 768.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

So delikat wie der Begriff ›afrikanisches Ding‹ ist auch jener des ›kolonialen Dings‹. Über die Frage, ob der koloniale Gehalt eines Dings in seiner Zugehörigkeit zur »exotischen« Dingwelt des Kolonisierten oder zu jener des vermeintlich »zivilisierten« Kolonisators liegt, besteht ein wissenschaftlicher Diskussionsbedarf. Wenn die Deutsche Kolonialgesellschaft (DKG) beispielsweise durch Werbeaktionen die »Verbreitung und Aufklärung über koloniale Dinge«60 veranstaltet, werden nicht nur Dinge des Kolonialherrn, sondern auch Kolonialwaren ausgestellt. Folgerichtig findet man in der Forschungsliteratur die Bezeichnung »koloniale Dinge« für beide Kulturräume. Dabei bleibt die Frage umstritten, ob die »Kolonialität« des Dings in der kolonialaffirmativen und propagandistischen Beziehung zum Kolonialismus oder eher in seiner kolonialsubversiven und kritischen Perspektive liegt. Julian Osthues spricht von kolonialem Ding als Repräsentanten »einer symbolischen Machtordnung [und] Dingsymbol kolonialer Macht«,61 während Doerte Bischoff für die kolonialen Güter ihre exotische und fremde »Warenästhetik«62 postuliert. Man sieht, dass derselbe Begriff der »kolonialen Dinge« gebraucht wird, beileibe wird aber nicht dasselbe damit gemeint. In der vorliegenden Arbeit wird das afrikanische Ding in dem letzten Sinne verstanden, und zwar das koloniale Ding als »fremdes« Ding, das in den herangezogenen Texten mit einem symbolischen subversiven Potential versehen wird. Damit wären wir schon beim dritten Begriff gelandet, nämlich das Konzept des literarischen Dings. Wenn strittig bleibt, ob die Verkörperung kolonialer Herrschaft fortan als Merkmal »kolonialer Dinge« gelten kann, ist der Gebrauch des Begriffs »literarisches Ding« Konsens, wobei er bis 2012 noch vorsichtig verwendet wurde.63 Der Begriff wurde dann im Titel des Spezialbands zum gleichnamigen Schwerpunktthema in der Zeitschrift für Germanistik (2012)64 eingeführt und florierend durch zwei Handbücher verbreitet: In dem vom Ethnologe Hans Peter Hahn 2014 mitherausgegebenen Handbuch Materielle Kultur wird die Disziplin »Literaturwissenschaft«

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Zitiert nach Brenner, Carena: Die Ethnologie und die Politik des Raums: Bedeutungsproduktion im ethnographischen Film. Bielefeld: transcript, 2014, S. 81. Osthues, Julian: »Nilpferdpeitsche und Botanisiertrommel. (Post-)Koloniale Dinge in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur«, in: Beck, Laura u. Osthues, Julian (Hg.): Postkolonialismus und (Inter-)Medialität. Perspektiven der Grenzüberschreitung im Spannungsfeld von Literatur, Musik, Fotografie, Theater und Film. Bielefeld: transcript, 2016, S. 281–305, hier S. 288. Bischoff, Doerte: Poetischer Fetischismus. Der Kult der Dinge im 19. Jahrhundert. München: Wilhelm Fink, 2013, S. 477. So entscheiden sich die Herausgeber der Beiträge zur DGEJ-Jahrestagung 2010 für den Begriff »die Sachen der Aufklärung«, vgl. Berndt, Frauke u. Daniel Fulda (Hg.): Die Sachen der Aufklärung, a.a.O. Vedder, Ulrike (Hg.): Literarische Dinge. Zeitschrift für Germanistik XXII, Heft 1., 2012.

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entscheidend analysiert.65 Dabei wird auf Roland Barthes Feststellung, es gebe »zahlreiche literarische Behandlungen des Objekts«66 argumentativ verwiesen,67 sowie auf »literarische ›Bilder‹ – etwa bei Walter Benjamin, Robert Walser und Alfred Polgar –, die in der Moderne seit 1900 häufiger verwendet werden«.68 Die Bezeichnung »literarisches Ding« erscheint deutlich in dem Handbuch Literatur & Materielle Kultur von 2018,69 in dem die literarischen Dinge unüberschaubar sind. Dinge werden dort im Kontext der ökonomischen Materialität von Literatur70 oder der literarischen Warenhäuser71 auf unterschiedliche Art und Weise eruiert. Man spricht von Anna Seghers Roman Transit (1944) als literarischem »Flaschenpost«.72 Man findet den literarischen ›dinglichen Eigensinn‹ vom Bier im Märchen.73 Allein in Bezug auf Afrika geht die Liste der Dinge bereits vom unverzichtbaren »Fetisch« aus, über Kellers Beschreibung der afrikanischen Dinge als »hundertjährigen guten Stahlwaffen, Hellebarden und Flambergen, die unverkennbar einst im Abendland geschmiedet worden [sind]«,74 bis hin zum Automobil, das »längst ein selbstverständlicher Bestandteil afrikanischer Lebenswelten geworden ist«.75 Wie man leicht feststellen kann, wird der transkulturelle Gehalt der literarischen Dinge nicht gegen ihren afrikanischen Gehalt ausgespielt. Doerte Bischoff, die bedeutendste neuere

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Vgl. Kimmich, Dorothee: »Literaturwissenschaft«, in: Samida, Stefanie u.a. (Hg.): Handbuch Materielle Kultur, a.a.O., S. 305–309. Barthes, Roland: Semantik des Objekts. In: Ders.: Das Semiologische Abenteuer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1988, S. 187–198, hier S. 188. Vedder, Ulrike: »Sprache der Dinge«, in: Samida, Stefanie u.a. (Hg.): Handbuch Materielle Kultur, a.a.O., S. 39–46, hier S. 44. Kimmich, Dorothee: »Literaturwissenschaft«, a.a.O., S. 305f. Scholz, Susanne u. Vedder, Ulrike (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Berlin, Boston: de Gruyter, 2018. Griem, Julika: »Ökonomische Materialität von Literatur«, in: Scholz, Susanne u. Vedder, Ulrike (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Berlin, Boston: de Gruyter, 2018, S. 153–160, hier S. 155. Schlößler, Franziska: »Rausch der Dinge. Literarische Warenhäuser«, in: Scholz, Susanne u. Vedder, Ulrike (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, a.a.O., S. 281–288. Komfort-Hein, Susanne: »Buch im Exil: Gefährdete Bibliothek und portatives Vaterland«, in: Scholz, Susanne u. Vedder, Ulrike (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, a.a.O., S. 281–288, hier S. 309. Körte, Mona: »Volks- und Kunstmärchen«, in: Scholz, Susanne u. Vedder, Ulrike (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, a.a.O., S. 214–221, hier, S. 220. Keller, Gottfried: Don Correa (1881). In: Ders.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Band 6. Hg. von Dominik Müller. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1991, S. 304. Für eine Analyse dieser literarischen Modellierung, vgl. Bischoff, Doerte: »Dinge und Migration«, in: Scholz, Susanne u. Vedder, Ulrike (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, a.a.O., S. 72–82, hier S. 74. Schulze-Engler, Frank: »Automobilität in der afrikanischen Literatur«, in: Scholz, Susanne u. Vedder, Ulrike (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, a.a.O., S. 313–323, hier S. 318.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

Forscherin des poetischen Fetischismus, hat diese literarische Inszenierung, in denen Dinge und Bedeutungen zirkulieren, gänzlich analysiert und schreibt dazu: Offenbar sind die Dinge im kolonialen Kontext keineswegs so einfach zu kontrollieren, wie die Vorstellung von der kulturellen Überlegenheit der Europäer glauben macht. Der implizite Verweis [in Kellers Don Correa] auf vorausgehende Kontakte zwischen Europäern und Afrikanern markiert einen Raum, in dem Dinge und Bedeutungen zirkulieren, ohne von einem Akteur letztlich in Besitz genommen werden zu können.76 Vor dieser Folie sollen hierbei als afrikanische literarische Dinge alle Artefakte, Objekte, Stoffe, Sachen etc. betrachtet werden, die in der Forschungsliteratur durch Eigenschaftswörter wie fremd, kolonial, exotisch u.a. bezeichnet oder trotz offensichtlicher transkultureller Bezüge als ›afrikanisch‹ postuliert werden. Ihre ›Afrikanität‹, wenn man so von Dingen sprechen darf, muss nicht unbedingt heißen, dass sie sich ausschließlich in Afrika befinden, sondern, dass die ästhetische Schöpfung von Dingen ihre physische Präsenz in Afrika nicht ad absurdum führt. Schließlich soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass die gebräuchliche von Hegel inspirierte Unterscheidung zwischen Nordafrika und Afrika südlich der Sahara77 hierbei keine Rolle spielen wird. Denn bezüglich des kolonialkritischen Potentials haben beide Kulturräume eigentlich dieselbe Funktion in deutschsprachigen Texten, nämlich die der Fantasiereiche.78 Der Auswahl der Handlungsorte durch die deutschsprachigen Autor*innen wird oft nicht durch gemeinsame koloniale Schwerpunkthemen weder mit dem Deutschen Reich noch mit der Habsburger Monarchie noch mit der Schweiz bestimmt.

0.3 Forschungsbericht Trotz scheinbar fruchtbarer Impulse der literarischen Dingforschung wird man bei näherem Hinsehen, beispielsweise im Vergleich zur Forschung über die lite-

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Bischoff, Doerte: »Dinge und Migration«, a.a.O., S. 74. Hegels Modell versucht, Nordafrika der »asiatischen und europäischen Welt« zuzuordnen, während der Rest von Afrika als »geschichtslos« dargestellt wird. Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke Band 11. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986, S. 129. Zu Fantasiereichen siehe van Laak, Dirk: »Die deutsche Kolonialgeschichte als Fantasiegeschichte«, in: Bechhaus-Gerst, Marianne u. Zeller, Joachim (Hg.): Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit. Berlin: Metropol, 2018, S. 123–142.

0 Einleitung

rarischen Subjekte,79 leicht feststellen können, dass viele Forschungsdesiderata formuliert werden können. Wenn man nach fundierten Informationen sucht, sieht man allein im Kolonialkontext,80 dass Untersuchungsbedarf bei folgenden Thematiken besteht: das Verhältnis von Ding und Alterität, Ding und Erinnerungskultur, Ding und Nicht-Wissen, Dinge und Repräsentativität des ›Subalternen‹ sowie des Weißseins, Stimmgebende Funktion der literarischen afrikanischen Dinge, ›afrikanistische‹ Dinge, rebellische literarische Dinge usw. Genug interessant und ziemlich kurios zugleich ist die Tatsache, dass »der Status von Dingen im Forschungsfeld postkolonialer Studien bislang nicht explizit diskutiert«81 wurde, obwohl literarische Dinge in etlichen interdisziplinären Überlegungen thematisch berührt werden. Eine weitere defizitäre Seite der postkolonialen literaturwissenschaftlichen Dingforschung ist die Tatsache, dass sie sich lediglich für Objekte des ehemaligen Kolonisators interessiert: Briefe und Postkarten82 , Gesellschaftsspiele,83 Kinderspielzeuge,84 sowie verschiedene Vermessungsinstrumente (Theodolit, Barometer, Hydrometer, Thermometer, Fernrohr, Kompass, Uhr, Ballon oder Botanisiertrommel etc.)85 Ein Kultobjekt, dessen kolonialistische Funktion viel diskutiert wurde, ist die sogenannte deutsche Kolonial-Uhr. Die literarischen Gestaltungen der afrikanischen Dingobjekte sind bisher weitgehend unerforscht geblieben. Dabei kann der Eindruck entstehen, den der Theoretiker des Postkolonialismus Edward W. Said (1935–2003) als Zeichen der hegemonialen Machtansprüche westlicher berichtender Kolonialmacht anprangert, nämlich die Asymmetrie der Diskursproduktion.86

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Vgl. Zima, Peter A.: Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne. Tübingen u.a.: Francke, 2001. Zur literarischen Konstruktion des afrikanischen Subjekts siehe Bechhaus-Gerst, Marianne u. Gieseke, Sunna (Hg.): Koloniale und postkoloniale Konstruktionen von Afrika und Menschen afrikanischer Herkunft in der deutschen Alltagskultur. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 2006. Osthues, Julian: »Nilpferdpeitsche und Botanisiertrommel«, a.a.O., S. 286. Axster, Felix: Koloniales Spektakel in 9X14. Bildpostkarken im Deutschen Kaiserreich. Bielefeld: transcript, 2014. Badenberg, Nana: »Spiel um Kamerun. Weihnachten 1885: Kolonialismus in Brett- und Gesellschaftsspielen«, in: Honold, Alexander u. Scherpe, Klaus R. (Hg.): Mit Deutschland um die Welt. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2004, S. 86–94. Bowersox, Jeff: Raising Germans in the Age of Empire: Youth and Colonial Culture, 1871–1914. Oxford: Oxford University Press, 2013. Osthues hat diese Dinge-Symbole der Vermessung (von Aneroid bis Theodolit) untersucht. Vgl. Osthues, Julian: »Nilpferdpeitsche und Botanisiertrommel«, a.a.O., S. 288ff. Said, Edward W.: Orientalismus (1978). Aus dem Englischen von Hans Günter Holl. 4. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer, 2004, S. 16. Zur Diskussion über die Tragweite des Begriffs siehe Schnepel, Burkhard; Brands, Gunnar u. Schönig, Hanne (Hg.): Orient – Orientalistik – Orientalismus: Geschichte und Aktualität einer Debatte. Bielefeld: transcript, 2015.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

In diesem Zusammenhang erscheint Julian Osthues Studie über die Nilpferdpeitsche und die Botanisiertrommel in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (2016) als richtungsweisend.87 Er zeigt die ganze literaturgeschichtliche Tradition, die dazu geführt hat, dass zeitgenössische interkulturell und postkolonial geschulte Autor*innen in ihren Fiktionen die afrikanischen Dinge mit subversivem Potential beladen und kritisch darstellen. Die Nilpferdpeitsche und die Botanisiertrommel sind allerdings zwei Dinge, die im (post-)kolonialen Kontext als »Repräsentanten einer symbolischen [kolonialen] Machtordnung«88 und »Herrschaftszeichen«89 fungieren. Fokus der vorliegenden Beschäftigung mit dem kolonialen Ding liegt nicht in der Tatsache, dass die Objekte an der Hervorbringung oder Stabilisierung der kolonialen Ordnung beteiligt sind, sondern vielmehr, darin, dass die analysierten Texte diese Dinge mit einem symbolischen subversiven Potential beladen. Subversion soll hier im postkolonialen Sinne verstanden werden, und zwar – mit Homi K. Bhabha gesprochen – als eine Regung, die die koloniale Machtordnung und Dichotomien irritiert und dekonstruiert.90 Zwar sieht Bhabha die subversiven Eigenschaften des Kolonisierten in der Mimikry und der Hybridität, und seine Kategorien betreffen im Kern genommen die Identität des kolonisierten Menschen. Doch in der kulturanthropologischen Forschungsliteratur, da man davon ausgeht, dass Dinge »an der Konstitution von Identität des einzelnen Menschen wie des Kollektivs beteiligt«91 sind, wird die subversive Wirkungsfähigkeit auch in Dingen herausgearbeitet. Für Johannes Fabian besteht die kritische Aufgabe des Anthropologen heute darin, die subversiven Formen und Wissen des Kolonisierten ins Spiel zu bringen, die in den Metropolen oft ignoriert werden.92 Während die anthropologischen Bemühungen die subversiven Regungen der Menschen und Dinge vor Ort (in den ehemaligen Kolonien) beobachten, kann die 87 88 89

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Vgl. Osthues, Julian: »Nilpferdpeitsche und Botanisiertrommel«, a.a.O., S. 281–305. Ebd., S. 288. Dunker, Axel: »Durch die Wüste undsoweiter«. Orient, Orientalismus und der deutsche Kolonialismus der Phantasie«, in: Gutjahr, Ortrud u. Hermes, Stefan (Hg.): Maskeraden des (Post-)Kolonialismus. Verschattete Repräsentationen ›der Anderen‹ in der deutschsprachigen Literatur und im Film. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011, S. 173–195, hier S. 177. Vgl. Bhabha, Homi K.: »Von Mimikry und Menschen. Die Ambivalenz des kolonialen Diskurses«, in: Ders.: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg, 2007, S. 125–136. Bosch, Aida: »Identität und Dinge«, in: Samida, Stefanie u.a. (Hg.): Handbuch Materielle Kultur, a.a.O., S. 70–77, hier S. 70. Er zitiert Mary Louise Pratt zustimmend, die schreibt: »Ziel der Bemühungen müssen unter anderem sein, dass […] die Kritik am Kolonialreich, fortwährend vor Ort codiert, in Zeremonie, Tanz, Parodie, Philosophie, Gegenwissen und Gegengeschichte, in Texten, die unbegrenzt, unterdrückt, verloren oder einfach von Wiederholung und Unwirklichkeit überlagert sind.« Mary Louise Pratt (1992), zitiert nach Fabian, Johannes: Im Tropenfieber. Wissenschaft und Wann in der Erforschung Zentralafrikas. München: Beck, 2001, S. 21.

0 Einleitung

postkoloniale Literaturwissenschaft sie in kolonialismuskritischen Text herausarbeiten. In literaturwissenschaftlichen Studien, wie die Herausgeber des Handbuchs Literatur & Materielle Kultur (2018) es schreiben, erscheint die Dingforschung bisher als eine Auseinandersetzung mit einem »imposanten Spektrum literarischer Dingvariationen«,93 das aus Objektrepräsentationen und Dingkonstellationen der »westlichen Tradition«94 besteht. Sie argumentieren wie folgt: »Eine literarische Dinggeschichte nicht-westlicher Kulturen fußte auf epistemologischen, historischen und ökonomischen Grundlagen, die zu erschließen jenseits unserer Kompetenzen liegt«.95 Der Standpunkt, wonach es unmöglich sei, Dingrepräsentationen nicht-westlicher Kulturen in »Texten aus der westlichen Tradition«96 zu hinterfragen, kann allerdings nicht einfach übernommen werden, ohne weitere Erkenntnisse zu liefern. Obwohl die vorliegende Studie vorrangig deutschsprachige Texte analysiert (die afrikanische Literatur wird nur zum Vergleich im Ausblick herangezogen), wird sie versuchen, das obige unterschwellig formulierte Forschungsdesiderat der literarischen Beschäftigung mit nicht-westlichen Kulturen annäherungsweise zu erfüllen. Denn allein der notwendige Blick auf die Kehrseite der Medaille kann meines Erachtens dazu beitragen, dass afrikanische Dinge nicht durch die Dingforschung an die Ecke zurückgedrängt werden. In diesen Forschungsaspekt fügen sich die hier anzustellenden Überlegungen, indem sie sich für die literarische Gestaltung der afrikanischen Dinge durch kolonialkritische und postkolonial geschulte deutschsprachige Autor*innen interessiert. Ziel ist es, die afrikanischen Dinge (Sachen, Artefakte, Stoffe, Waren, Objekte usw.) zu untersuchen, welche in deutschsprachigen Texten nicht als Nick-Dinge (in Anlehnung an Nick-Neger) erscheinen, sondern deren postkoloniales Potential in den jeweiligen Texten entfaltet.

0.4 Textauswahl, methodologische Überlegung und Struktur der Arbeit Fiktive Gestaltungen der Dinge lassen sich in besonderem Masse in vielen den kulturellen Kontakt begleitenden literarischen Texten untersuchen. Im Spannungsfeld von Literatur und deutschem Kolonialismus haben die literarischen Dinge ein ambivalentes Merkmal, indem sie zwischen Affirmation und Subversion oszillieren können.97 Wie aus dem Forschungsbericht hervorgeht, liegt unser Forschungsin-

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Scholz, Susanne u. Vedder, Ulrike: »Einleitung«, in: Dies.: Handbuch Literatur & Materielle Kultur, a.a.O., S. 1–15, hier S. 13. Ebd., S. 14. Ebd., a.a.O. Ebd., a.a.O. Vgl. Osthues, Julian: »Nilpferdpeitsche und Botanisiertrommel«, a.a.O., S. 287ff.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

teresse allerdings nicht bei den kolonialaffirmierenden Texten, sondern lediglich in der systematischen Analyse kolonialkritischer Texte. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht muss man allerdings bescheidener Weise erkennen, dass eine solche Studie eine Herkulesarbeit sein kann. Man braucht nur die Fülle an Texten und Schriftsteller*innen zu betrachten, die seit dem Zeitalter des Imperialismus bis heute ihre kolonialkritische Perspektive auf etliche Schwerpunktthemen in Afrika gerichtet haben. Allein eine Studie über die intertextuellen Bezugsnahmen zu Joseph Conrads kolonialkritischem Pamphlet Herz der Finsternis (1899)98 ergibt folgende Liste namhafter Autor*innen: Eduard von Keyserling, Robert Müller, Franz Kafka, Thomas Mann, Jakob Wassermann, Annemarie Schwarzenbach, Balder Olden, Ernst Jünger, Ilse Aichinger, Peter Weiss, Christoph Meckel, Brigitte Kronauer, Christa Wolf, Heiner Müller, Volker Braun, Bodo Kirchhoff, Urs Widmer, W. G. Sebald, Alex Capus, Stephan Wackwitz, Christian Kracht, Hans Christoph Buch, Lukas Bärfuss und Max Blaeulich.99 Wenn man bedenkt, dass die geographischen Räume der deutschen Kolonialgeschichte (Togo, Kamerun, Deutschostafrika und Deutschsüdwestafrika) in dieser Liste noch nicht berührt werden – ein Grund, weshalb der Klassiker Uwe Timm hier fehlt-, erscheint eine Stoffbegrenzung als notwendig. Diese bietet meines Erachtens lediglich eine Alternative: Entweder man begrenzt sich auf ein spezielles Schwerpunkthema (Wettlauf um Afrika, Völkerschau, Kolonialkrieg, Genozid usw.) oder man begrenzt das Material. In der vorliegenden Studie wurde die letztere Herangehensweise bevorzugt, indem jede literarische Strömung durch ausgewählte Texte illustriert wird. Die Analyse der ausgewählten Texte nach ihren kolonialkritischen Modellierungen der afrikanischen Dingsymbole bezieht ihre Glaubwürdigkeit aus dem Anspruch, postkoloniale Perspektiven in der deutschsprachigen Literatur (oft avant la lettre) zu beobachten. Um einer solchen Analyse des literarischen Textes gerecht zu werden, ist im Kontext des repräsentationskritischen Postkolonialismus quasi unabdingbare Norm geworden, die ästhetische Inszenierung des vermeintlichen ›subalternen‹ Anderen durch den Text zu beobachten.100 Im Gegensatz zum kolonisierten Subjekt scheint es schwierig, sich mit der stimmgebenden Funktion des Conrad, Joseph: Das Herz der Finsternis. (1899) Übersetzt von Ernst Wolfgang Freißler. Göttingen: LIWI, 2018. 99 Lorenz, Matthias N.: Distant Kinship – Entfernte Verwandtschaft. Joseph Conrads »Heart of Darkness« in der deutschen Literatur von Kafka bis Kracht. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2018, S. 8. 100 Zur Debatte durch deutschsprachige Literaturwissenschaftler und Autoren siehe Cornils, Ingo & Wilke, Sabine: »Editorial. Die Stimme des Anderen. Zur Imagination des Fremden in der literarischen Repräsentation des deutschen Kolonialismus«, in: Literatur für Leser 33 (4/2010), 2011. 98

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Textes an die kolonialen Dinge zufriedenzustellen. Denn Dinge gelten selten als sprachmächtig. Wernli u. Kling, die neulich die erzählenden Dinge bei Tieck und Trojanow analysieren, kommen zu folgender nüchterner Schlussfolgerung: »Bei Trojanow folgt nun kein Sprechen einer literarischen Figur als Ding, auch nicht – wie bei Tieck – als erträumter Gegenstand, vielmehr wird das »Objekt« in seiner Menschlichkeit dargestellt, die sich aber immer dinghaften Zuschreibungen stellen muss […]«101 Folgerichtig bleibt die allgemeine methodische Debatte auf das Verhältnis vom deutschsprachigen Schriftsteller*innen zu Dingen kristallisiert. Zwei Tendenzen lassen sich in der Dingforschung beobachten: Geläufig ist die Annahme, dass literarische Dinge den Zeichenstatus mit den literarischen Subjekten teilen, weil »es im Medium des Fiktionalen ohnehin keine ontische Differenz zwischen Menschen und Dingen geben kann«.102 Es gibt aber auch folgende Annahme: Das gelockerte Band zwischen den Eigenschaften und Bedeutungen der Dinge gibt dem Dichter große Gestaltungsfreiheit. Literarische Dinge können auf eine bestimmte allegorische Bedeutung hin angelegt sein oder die Relation zu einem in der Tradition festgelegten significatum in eine Vielzahl von Bedeutungsmöglichkeiten aufsplittern.103 Diese letzte Beobachtung scheint für die afrikanischen Dinge im postkolonialen Kontext realitätsnäher, denn während die imagologischen Forschungen die Imagination des Kolonisierten mit Begriffen wie rassistische Diskriminierung, Abwertung und Entmenschlichung beschreibt, betont die Dingforschung die »Warenästhetik«.104 Während das kolonisierte Subjekt mit Verleumdungen degradiert wird,105 wird das koloniale Ding vor allem vom Dingsammler libidinös, mit Obsession begehrt und mit einem »ästhetischen, affektiven und imaginären Zauber«106 101 102 103

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Beispiel: Wernli, Martina u. Kling, Alexander: »Von erzählten und erzählenden Dingen. Zur Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Das Verhältnis von res und verba, a.a.O., S. 7–31, hier S. 11. Scholz, Susanne u. Vedder, Ulrike: »Einleitung«, in: Dies.: Handbuch Literatur & Materielle Kultur, a.a.O., S. 1–15, hier S. 10. Kaske, Romana: »Kreaturen und Artefakte in mittelhochdeutscher Literatur. Zum Verhältnis von Bedeutungskunde und Dingforschung«, in: Wernli, Martina u. Kling, Alexander (Hg.): Das Verhältnis von res und verba, a.a.O., S. 53–72, hier S. 62. Bischoff, Doerte: Poetischer Fetischismus, a.a.O., S. 477. Eine Kritik, die von antikolonialen Vordenkern wie Frantz Fanon oder Chinua Achebe zutage gebracht wurde und heute von einem postkolonialen Theoretiker wie Achille Mbembe prägnant formuliert wird. Vgl. Mbembe, Achille: Kritik der schwarzen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2014. Blätter, Christine u. Schmieder, Falko: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.): In Gegenwart des Fetischs. Dingkonjunktur und Fetischbegriff in der Diskussion. Wien, Berlin: Turia + Kant, 2014, S. 7–28, hier S. 8.

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erfüllt. Parallel zu den Völkerschauen, die koloniale Subjekte als fremdartige Kuriositäten verdinglichten, durften die kolonialen Dinge wegen ihrer ästhetischen Reize »fürstliche Residenzen und Kaufmannspalais [schmücken]«.107 Selbst der »Körper des Kolonialherrn«108 wurde in der Moderne als einen bedrohten, »von Krankheiten und unhygienischen Bedingungen heimgesuchten Raum«109 wahrgenommen, während die afrikanischen Kunstobjekte solcher Assoziation unverdächtig blieben. Stefan Eisenhofer findet beispielsweise in der westlichen Konstruktion der afrikanischen ›Fetische‹ keine Manifestationen der Wildheit, sondern eine »fetischisierende Wertsetzung von Dingen«.110 In diesem positiv gewerteten »Kult« der Dinge ist leicht nachvollzierbar, dass afrikanische Dinge in fiktiven Texten selten mit Verleumdung wahrgenommen werden. Für die Untersuchung des kolonialkritischen Potentials der afrikanischen Dinge bedeutet dies, dass weniger der politische Horizont, die stimmgebende Funktion oder die imagologische Abwertung der Texte, als vielmehr das ästhetische »postkoloniale Potential« untersucht werden kann. Damit meint Herbert Uerlings eine ästhetische Perspektive, die sich »als differentielles Spiel mit dem kolonialen Imaginären und seinen Dichotomien [entfaltet], und die umgekehrt ihr postkoloniales Potential zur Erweiterung der poetischen Möglichkeiten«111 benutzt. Dieses postkoloniale Potential lasse sich durch die Beobachtung vom subversiven Charakter des Textes untersuchen, d.h. durch die Kritik an den »Faszinationen, Aporien und Paradoxien des kolonialen Begehrens«.112 In Bezug auf die (post-)kolonialen Dinge in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur schlägt Julian Osthues die Analyse der »Inversion« vor. Gemeint sind die ästhetischen Strategien, die »zur Irritation und Destabilisierung, ja gar zur Umkehrung und De-Platzierung, Entstellung und Verrückung kolonialer Ordnungen und ihrer Dichotomien führen«.113 In der Vorliegenden Studie soll es auch um die Herausarbeitung dieses postkolonialen Potentials gehen, wobei die herangezogenen Texte quasi die ganze deutschsprachige Literatur107 Wendt, Reinhard: Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Europa und die Welt seit 1500. 2. Aufl., Paderborn: Schöningh, 2016, S. 91. 108 Pesek, Michael: »Der koloniale Körper in der Krise: Koloniale Repräsentationen, Ordnung und Gewalt während des Ersten Weltkrieges in Ostafrika 1914–1919«, in: Baberowski, Jörg; Feest, David u. Lehmann, Maike (Hg.): Dem Anderen begegnen. Eigene und fremde Repräsentationen in sozialen Gemeinschaften. Frankfurt a.M. u.a.: Campus, 2008, S. 59–82, hier S. 59. 109 Ebd. S. 61. 110 Eisenhofer, Stefan: »Manifestationen der Wildheit oder »Meisterwerke der Weltkunst«? »Fetische« aus Afrika und der westliche Blick«, in: Blätter, Christine u. Schmieder, Falko (Hg.): In Gegenwart des Fetischs, a.a.O., S. 151–163, hier S. 163. 111 Uerlings, Herbert: »Postkolonialismus und Kanon. Beobachtungen und Thesen«, in: Ders.u. Patrut, Iulia-Karin (Hg.): Postkolonialismus und Kanon. Bielefeld: Aisthesis, 2012, S. 39–66, hier S. 53. 112 Ebd., a.a.O. 113 Vgl. Osthues, Julian: »Nilpferdpeitsche und Botanisiertrommel«, a.a.O., S. 285, Fußnote 8.

0 Einleitung

geschichte decken. Axel Dunker hat bereits herausgearbeitet, wie sehr (kanonisierte) deutschsprachige Schriftsteller*innen seit dem 18. Jahrhundert sklavereikritische und kolonialkritische Perspektiven in ihren Texten aufgebaut haben.114 Es wird auch zu zeigen sein, dass die deutschsprachige Literatur dabei nicht nur Subjekte, sondern auch afrikanische Dinge kritisch modelliert hat. Mit der Frage nach dem postkolonialen Potential literarischer Dingmodellierungen wird methodologisch die Frage aufgeworfen, wie die Dinglektüre ästhetisch unter dem Aspekt des Verhältnisses von Autor, Text (Figuren, Erzähler, Motive …) und Leser performativ zu strukturieren ist. Valentin Christ, der sich mit der Narratologie der Dinge am Beispiel der mittelalterlichen Literatur beschäftigte, kommt zu folgender Schlussfolgerung: »Jedenfalls zeigt sich an dieser Stelle deutlich das Spannungsfeld zwischen der Verhandlung von Dingen innerhalb der erzählten Welt und der Funktionalisierung von Dingen für die Sinnbildungsangebote, die sich dem Rezipienten gegenüber eröffnen«.115 Um die Funktionalisierung der afrikanischen Dinge aus (post-)kolonialer Sicht zu beobachten, kann es sich als gewinnbringend erweisen, kontextualisierende Ansätze mitzuberücksichtigen. Eine Überlegung über die Zugänge zum ›Fremden‹, die Auseinandersetzungen mit fremden Dingen und ihre Bedeutung für die gesamte europäische Geistesgeschichte kann dabei helfen, die historisch-kulturellen Kontexte der Funktionalsierungen der Dinge zu erhellen.116 Vor diesem Hintergrund wird im ersten Teil dieser Studie eine Literaturgeschichte der kolonialkritischen Dingdarstellung angestrebt, wobei das 1. Kapitel herauszufinden versucht, seit wann afrikanische Dinge mit kolonialkritischen Zügen durch die Philosophie- bzw. Kulturklassiker versehen werden. Dieses Eingangssignal lässt sich am Beispiel von Johann Gottfried von Herder (1744–1803) geprüft werden, allerdings stellvertretend für viele andere kolonialkritische Kulturphilosophen. Die darauffolgenden fünf (5) Kapiteln werden dann in einer literaturgeschichtlich-chronologischen Reihenfolge versuchen, die Texte ausgewählter Autor*innen nach ihrer kolonialkritischen Gestaltung der afrikanischen Dinge zu untersuchen. So wird konkret im 2. Kapitel die kolonialkritische Funktion des afrikanischen Dings im Kontext des kritischen Realismus anhand drei Schriftsteller analysiert: der Deutsche Wilhelm Raabe, der Schweizer Gottfried Keller und der Österreicher Adalbert Stifter. Im 3. Kapitel wird die literarische Moderne in ihrer Verbindung zum Exotismus im Expressionismus sowie in Bezug auf das Interesse der deutschen literarischen

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Dunker, Axel: Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts. München: Wilhelm Fink, 2008, S. 171. Christ, Valentin: Bausteine zu einer Narratologie der Dinge, a.a.O., S. 163. Vgl. Fink-Eitel, Hinrich: Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte. Hamburg: Junius, 1994.

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Avantgarde für afrikanische Dinge näher beobachtet. Exemplarisch werden Dingmodellierungen durch Peter Altenberg, Hans Paasche und Franz Jung analysiert. In der Zwischenkriegszeit entfaltet sich der subversive Charakter der Kolonialkritik am meisten, denn es handelt sich dort für Schriftsteller wie Balder Olden, Richard Huelsenbeck und Julius Lips darum, die prominente Idee des Kolonialrevisionismus durch die kolonialkritische Gestaltung der afrikanischen Dinge ad absurdum zu führen Das fünfte Kapitel erfasst literarische Gestaltungen der afrikanischen Dingsymbole im Dritten Reich sowohl durch einen Exilautor wie Klaus Mann als auch durch einen »inneren Emigranten« wie Ernst Jünger. Im 6. Kapitel wird versucht, durch jeweils einen Autor (Georg Britting und Maximilian Scheer) die kolonialkritische Funktion des afrikanischen Dings im Kontext des literarischen und publizistischen Kalten Krieges zwischen der ehemaligen Bundesrepublik Deutschlands (BRD) und der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) auszuloten. Nach einer Zwischenbilanz dieser Literaturgeschichte kolonialkritischer Reflexionen mit dem afrikanischen Ding wird im 2. Teil der Arbeit sodann das postkoloniale Potential in ausgewählten zeitgenössischen Texten analysiert. Kulturell eingeleitet wurde diese interkulturell geprägte Literatur durch die Auseinandersetzung der Studentenprotestbewegung der 1970er Jahre mit dem Kolonialismus, wobei Uwe Timms dichterische Gestaltung des Völkermords in Namibia in seinem Roman Morenga (1978) in der Forschungsliteratur als Zäsur dargestellt wird.117 Es wird in diesem Kapitel darum gehen, ausgewählte Kernthemen der gegenwärtigen Modellbildungen der afrikanischen Dingwelt nach ihrer Erprobung postkolonialer Kulturtheorien zu besichtigen: Heilkunst, Gift und Gegengift, Gelbguss-Plastik, Goldgewicht, Kopfschädel und sonstige Knochen-Dinge, Kilimandscharo u.a. Naturdinge, Blutdiamanten u.a. Rohstoff-Dinge usw. Dabei wird unterschieden zwischen Schriftsteller*innen der Einfühlungsästhetik und jenen der Einfühlungskritik.

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Siehe den Abschnitt »Afrika aus deutscher post-kolonialer Perspektive. Uwe Timms Morenga«, in: Hofmann, Michael: Interkulturelle Literaturwissenschaft. a.a.O., S. 170ff. Siehe auch Cornils, Ingo: »Denkmalsturz. The German Student Movement and German Colonialism«, in: Perraudin, Michael u. Zimmerer, Jürgen (Hg.): German Colonialism and National Identity. New York, London: Routledge, 2011, S. 197–212.

I Kolonialkritische Dingmodellierungen

1 Obelisk und Tempel: Eine Zäsur namens Herder?

Die Tragweite der literarischen Gestaltung der untersuchten Dinge zu bestimmen, bedarf einer ideengeschichtlichen Vorüberlegung, die das Herausfinden der genauen Epoche von der Entfaltung des afrikanischen Dings in den deutschsprachigen Texten aus einer kolonialkritischen Perspektive ermöglichen soll. Die Dingforschung hat bereits zutage gebracht, dass die ›fremden‹ und ›exotischen‹ Dinge bis ins 18. Jahrhundert hinein ausnahmslos unkritisch als eine Evidenz in Europa empfunden wurden. Die Literaturwissenschaftlerin Birgit Neumann schreibt insofern dazu Folgendes: Sammlungen von Naturforschern, Wunderkammern und Kuriositätenkabinette fungierten, trotz unterschiedlicher Ausstellungslogiken, als Räume, in denen die fremde Welt anhand repräsentativer Dinge zur Schau gestellt wurde. In diesen Räumen der visuellen Zurschaustellung semantisierte sich der Wunsch nach Evidenz, […]1 Wurde Kritik am Konsum exotischer Dinge Mitte des 18. Jahrhundert geübt, so erklärt Brigit Neumann weiter, dann war dies aus gesellschaftskritischen Vorbehalten, insbesondere aus Angst vor angeblichen »Dekadenz, Luxussucht und Verweiblichung«2 des europäischen Wesens. In diesem Kontext entwickelten sich in der europäischen Aufklärung Wechselwirkungen zwischen der sogenannten kulturpessimistischen Kritik und der Kolonialismuskritik. Benedikt Stuchtey beobachtet diese Vermischung von Kritiken bei Rousseau, Diderot, Montesquieu, Samuel Johnson und Kant.3 Dementsprechend dürfte in Deutschland die ideengeschichtliche Gestaltung der afrikanischen Dinge mit kolonialkritischem Potential vermutlich frühestens gegen Ende des 18. Jahrhunderts datiert werden, in der Zeit, als im europäischen intellektuellen Milieu hinterfragende und ablehnende Stimmen gegen das europäische Kolonialprojekt und die visuelle Zurschaustellung kolonialer Dinge hör1 2 3

Neumann, Brigit: »Zur Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Präsenz und Evidenz fremder Dinge im Europa des 18. Jahrhunderts, a.a.O., S. 9–38, hier S. 15. Ebd., S. 29. Vgl. Stuchtey, Benedikt: Die europäische Expansion und ihre Feinde, a.a.O., S. 70ff.

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bar wurden. Geschichtsphilosophische Kolonialismuskritik dieser Zeit war plural; man sprach beispielsweise von Wielands »sexual akzentuierte[r] Kolonialismuskritik«.4 In Bezug auf die kolonialkritische Perspektive der Dingwelt dürfte der Universalgelehrte Johann Gottfried von Herder (1744–1803) zu den von alten Vorstellungen ablösenden Stimmen gezählt werden. Die Annahme, Herder gehöre zu den kolonialismuskritischen Gelehrten, ließe sich zu vielen jüngeren Studien in Beziehung setzen, die drauf hinweisen, dass man seine Afrika-Wahrnehmung jenseits ihrer rassistischen Züge und Überlegenheitsvorstellungen eine relative Objektivität bescheinigen sollte, jedenfalls im Vergleich zu vielen anderen Philosophen seiner Zeit.5 Obwohl das Afrika-Kapitel seines geschichtsphilosophischen Hauptwerks Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) zu Recht als rassistisch gedeutet werden kann6 , soll dieser Rassismus weniger zentral bewertet werden, als von seinen strengsten Kritikern behauptet wird. Stattdessen sollte in den Vordergrund gestellt werden, dass Herder dazu beigetragen habe, dass Afrika eine neue Chance erhielt, »ins europäische Wissen eingehen zu können«.7 Als Kulturtheoretiker steht Herders holistischer Kulturbegriff heute in Opposition zu aktuellen interkulturellen und postkolonialen Theoriemodellen (etwa zu Wolfgang Welschs ›Transkulturalität‹ oder Homi Bhabhas ›DissemiNation‹8 ), welche die zusammenfließenden Kulturen postulieren.9 Sein Verständnis der »Kulturnation«, die im Übrigen in der deutschen Literaturgeschichte ununterbrochen durch Schriftsteller (Lessing, Schiller, Thomas Mann, Günter Grass u.a.) weiterentwickelt und

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Holdenried, Michaela: »Mexikanische Geschichten und ägyptische Palmblätter-Konfessionen. Wielands Beiträge als Umrissskizze einer frühen ethnopsychologischen Allegorie«, in: Hermes, Stefan u. Kaufmann, Sebastian (Hg.): Der ganze Mensch – die ganze Menschheit: Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800. Berlin, Boston: de Gruyter, 2014, S. 57–73, hier S. 72. Vgl. Smidt, Wolbert: Afrika im Schatten der Aufklärung. Das Afrikabild bei Immanuel Kant und Johann Gottfried Herder. Bonn: Holos, 1999; Vgl. Sonderegger, Arno: Jenseits der rassistischen Grenze. Die Wahrnehmung Afrikas bei Johann Gottfried Herder im Spiegel seiner Philosophie der Geschichte. (und der Geschichten anderer Philosophen). Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 2002. Sadji, Uta: Negermythos am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Eine Analyse der Rezeption von Reiseliteratur über Schwarzafrika. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 1979, S. 195ff. Ketelsen, Uwe-K.: »Der koloniale Diskurs und die Öffnung des europäischen Ostens im deutschen Roman«, in: Dabag, Mihran; Gründer, Horst u. Ketelsen, Uwe-K. (Hg.): Kolonialismus. Kolonialdiskurs und Genozid. München: Wilhelm Fink, 2004, S. 67–94, hier S. 68. Vgl. Welsch, Wolfgang: »Transkulturalität: Zwischen Globalisierung und Partikularisierung«, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 26, (2000), S. 327–351. Bhabha, Homi K.: »DissemiNation. Zeit, Narrative und die Ränder der modernen Nation«, in: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg, 2007, S. 207–257. Vgl. Kimmich, Dorothee u. Schahadat, Schamma (Hg.): Kulturen in Bewegung: Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität. Bielefeld: transcript, 2014.

1 Obelisk und Tempel: Eine Zäsur namens Herder?

verteidigt wurde,10 enthält auch »die einem Kollektiv eigene Sachkultur«,11 welche die Stufe der Kultur der Nation und die soziale Geschlossenheit des Volkes zu widerspiegeln hat. In einem Brief mit Betreff »zum ewigen Frieden« behauptet er, jeder Kontakt zwischen Nationen oder Völkern sei unabdingbar mit Betrug und Streitigkeit verbunden: »Am besten wäre es, wenn, wie bei jenem Handel im Innern Afrika, die Nationen einander selbst gar nicht sehen dürften. Sie legen die Waren hin und entfernen sich, bieten und tauschen. Einander erblickend, ist Betrug und Zank unvermeidlich«.12 Wegen dieser Idee des nationalen Abwehrkampfs kann man Herders Kolonialismus-Kritik als eine innereuropäisch orientierte Anprangerung der Präsentation von Dingen aus dem Außereuropa verstehen. Man hat zu Recht seine Neger-Idyllen von 1797 unter dem Vorzeichen einer »drastischen Kolonialismus-Kritik und Einbettung in einen umfangreichen philosophischen pädagogischen Entwurf«13 gedeutet. Insofern kann es nicht anachronisch sein, Herders Ansicht von Afrika als friedvolles Vorbild für vernünftiges Handeln14 aus heutiger Sicht als ein »interkulturelles Übersetzen«15 zu bewerten. In seinem geschichtsphilosophischen Werk Briefe zu Beförderung der Humanität (1793–94) illustriert der »Kolonialismus-Kritiker Herder«16 seine Ansicht der friedvollen Vorbildlichkeit des afrikanischen ›Wesens‹ durch zwei afrikanische Dinge, nämlich den Obelisken und den Tempel. Während diese nordafrikanischen Bauwerke seit der Antike einfach friedlich und idyllisch da stehen, wird durch den Kon10

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Vgl. Braun, Michael: »Günter Grass’ Rückkehr zu Herders ›Kulturnation‹ im Kontrast zu Martin Walser und Günter de Bruyn. Essays und Reden zur Einheit«, in: Wehdeking, Volker (Hg.): Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (1990–2000). Berlin: Erich Schmidt, 2000, S. 97–110. Saalmann, Gernot: Fremdes Verstehen: das Problem des Fremdverstehens vom Standpunkt einer »metadisziplinären« Kulturanthropologie. Aachen: Shaker, 2005, S. 38. Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität: Hg. Von Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1991, S. 714–717, hier S. 717. Mix, York-Gothart: »›Der Neger malt den Teufel weiß‹. J.G. Herders Neger Idyllen im Kontext antiker Traditionsgebundenheit und zeitgenössischer Kolonialismuskritik«, in: Lüsebrink, Hans-Jürgen (Hg.): Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt. Göttingen: Wallstein, 2006, S. 193–207, hier S. 193. Dazu Robert T. Clark, Jr.: »The noble Savage and the Idea of tolerance in Herder’s Briefe zu Beförderung der Humanität«, in: The journal of English and Germanic Philosophy, vol. 33, 1, 1934, S. 46–56. Mehr dazu Poltermann, Andreas: »Interkulturelles Übersetzen. Das Beispiel J. G. Herder vor dem Hintergrund des post-kolonialen Diskurses«, in: Heydebrand, Renate von (Hg.): Kanon – Macht – Kultur. Germanistische Symposien Berichtsbände. Stuttgart, Weimar: Metzler, 1998, S. 271–296. Ausdruck bei Hofmann, Michael: »Humanitäts-Diskurs und Orient-Diskurs um 1780: Herder, Lessing, Wieland«, in: Goer, Charis u. Ders. (Hg.): Der Deutschen Morgenland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850. München: Wilhelm Fink, 2008, S. 37–56, hier S. 47.

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takt mit dem europäischen Kolonisator plötzlich aus ihnen »Freistätten des Handels, die Mutter von Gesetzgebungen und Kolonien«.17 Zu bemerken ist, dass diese beiden afrikanischen Dinge nicht als Objekte des Fetischismus dargestellt werden, wie frühere europäische Grundlagentexte seit den Arbeiten des französischen Reiseschriftstellers Charles de Brosses (1709–1777) die nordafrikanischen Objekte verstanden hatten.18 Diese Tradition der kolonialistischen Konstruktion befindet sich bei dem deutschen Archäologen Johann Joachim Winkelmann (1717–1768), der als Experte für ägyptische Kunst galt und Ägypten »als Volk auf der untersten Entwicklungsstufe«19 abwertete. Wie Catharina Oerke ausführlich aufzeigt, hatte Herder diese ungleiche Bewertung der ägyptischen gegenüber der griechischen Kultur widerlegt.20 Herders frühzeitige Modellierung der afrikanischen Dinge lässt sich insofern zu Argumenten in Beziehung setzen, die drauf hinweisen, dass der Philosoph der Weimarer Klassik die Theorie einer Minderwertigkeit der afrikanischen Kultur per se zurückweist.21 Obwohl Herder die Ägyptenschwärmerei seiner Zeit zugleich kritisierte,22 bleibt die postkoloniale Kritik an der dadurch entstandenen Vereinnahmung der afrikanischen Stimme gewichtig. Deutlich erscheint nämlich die Verdrängung der Stimme des kolonisierten Subjekts durch den Kolonialdiskurs, eine kolonialhegemoniale Ordnung, die Edward W. Said in seinem Schlüsselwerk Kultur und Imperialismus kritisiert. Am Beispiel der Figur Michel in André Gides (1869–1951) Roman Der Immoralist von 190223 zeigt Edward Said, wie sehr die Afrikaner »einfach da stehen […] Wäre es nicht um des europäischen Beobachters willen, der ihre Existenz bezeugt, fielen sie nicht ins Gewicht«.24 Dennoch musste selbst Edward Said Herders Kulturphilosophie, in der er eine Einfühlung sieht, von der Schusslinie seiner Postkolonialkritik ausschließen.25 Vor dieser Folie kann das kolonialkritische Potential in Herders literarischer Gestaltung der afrikanischen Dinge im Zusammenhang mit

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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität, a.a.O., S. 717. Dazu Brosses, Charles de: »Über den Dienst der Fetischengötter oder Vergleichung der alten Religionen Ägyptens mit der heutigen Religionen Nigritiens«, in: Endres, Johannes (Hg.): Fetischismus. Grundlagentexte vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2017, S. 40–50. Oerke, Catharina: Gattungsexperiment und Ägyptenkonstruktion: Benedikte Nauberts »Alme oder Ägyptische Märchen« (1793 – 1797). Göttingen: Universitätsverlag Göttingen, 2006, S. 42. Vgl. Ebd., S. 43. Dazu Löchte, Anne: Johann Gottfried Herder: Kulturtheorie und Humanitätsidee der Ideen, Humanitätsbriefe und Adrastea. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005, S. 120. Vgl. Oerke, Catharina: Gattungsexperiment und Ägyptenkonstruktion, a.a.O., S. 43. Gide, André: Der Immoralist. Roman. (1902) Minden: J.C. Bruns, 1905. Said, Edward W.: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Aus dem Amerikanischen von Hans-Horst Henschen. Frankfurt a.M.: Fischer, 1994, S. 267. Said, Edward W.: Orientalismus, a.a.O., S. 102.

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seiner Einfühlungsästhetik bringen.26 In Herders literarischer Gestaltung der beiden afrikanischen Dinge ist ein Einfühlungspotential ohne weiteres evident: Eine »Freistätte« bezeichnet nämlich einen Zufluchtsort, an dem der europäische Kolonisator frei von aller Strafe handeln konnte. In Analogie an die biblische Szene der Tempelreinigung, in der Jesus die Kritik formuliert, sein Vaterhaus solle in keinen Handlungsort verwandelt werden (Matthäus 21: 12), kann Herders Denunzieren der De-sakralisierung dieser Denkmäler durch die koloniale Geste als eine Einfühlung mit dem ›Fremden‹ betrachtet werden. Offensichtlich hat man hier mit einer Zivilisationskritik zu tun, die gleichzeitig als Kritik des kulturellen Kolonialismus erscheint. Damit nicht der Eindruck entsteht, Herder sei der einzige kolonialkritische Kulturphilosoph, soll noch erwähnt werden, dass seine Einstellung hierbei stellvertretend für weitere kolonialismuskritische Werke der Aufklärung analysiert wurde.27 Eine Studie über diese ganze Werktradition würde den Rahmen der vorliegenden Studie sprengen, denn, wie Benedikt Stuchtey treffend feststellt: »Kolonialismuskritik […] zu studieren, bedeutet, die bruchlose Kontinuität imperialistischer Geschichtsphilosophien zu hinterfragen, ohne sie aber vollständig auflösen zu können«.28 An der Stelle einer systematischen Untersuchung der kolonialkritischen Kulturphilosophie soll nun dennoch auf Herders Einfluss auf Joseph Conrad verwiesen werden, der als Vorreiter in der literarischen kritischen Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus in Afrika gelten kann. Über Herders Wirkung auf Joseph Conrads Kritik am Kolonialismus schreibt Winfried Speitkamp: »Herder zeichnete den Menschen als ambivalent, nämlich gleichzeitig Gott nah und doch gefährdet, sich schlimmer als ein Tier zu verhalten. […] Beispielhaft findet sich das in Joseph Conrads Roman ›Heart of Darkness‹ […] in der Auseinandersetzung mit Afrika, dem Kolonialismus und den ›Grauen‹, das der Anti-Held Kurtz beschwört«.29

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In seiner Analyse des von Theodor Lipps geprägten Begriffs der »Einfühlungsästhetik« zählt Norbert Vetter Herder zu den Vorbereitern der Einfühlungsästhetik auf. Vetter, Norbert R.: Emotion zwischen Affekt und Kognition: zur emotionalen Dimension in der Kunstpädagogik. Köln: Kölner Wissenschaftsverlag, 2010, S. 107, Fußnote 137. Siehe Osterhammel, Jürgen: »Welten des Kolonialismus im Zeitalter der Aufklärung«, in: Lüsebrink, Hans-Jürgen (Hg.): Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt, a.a.O., S. 19–38. Zu Christoph Martin Wielands (1733–1813) Kolonialismuskritik siehe Onana, Marie Biloa: »Kolonialismuskritik in der Aufklärung. Wielands zweiteilige Erzählung ›Die Reise des Priesters Abulfauaris ins Innere Afrika‹ und ›Bekenntnisse des Abulfauaris‹«, in: Wirkendes Wort 58, Heft 3, 2008, S. 325–334. Stuchtey, Benedikt: Die europäische Expansion und ihre Feinde, a.a.O., S. 376f. Speitkamp, Winfried: »Herder, das Bauhaus und die Erinnerungskultur«. Vortrag gehalten am 26. August 2019 in der Weimarer Herderkirche, hier S. 11. Abrufbar unter https://www.ki rchenkreis-weimar.de [Stand vom 22.09.2019].

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Roland Schmiedel hat ausführlich herausgearbeitet, durch welche Erzählstruktur Joseph Conrads Herz der Finsternis (1899) eine Imperialismuskritik formulieren konnte. Durch die Doppelstruktur des Textes (erlebte Realität und diegetische Realität) habe der Autor »den moralischen Anspruch seiner Zeit überwinden und ebenso imperialismuskritisch schreiben [können], ohne sich an die in kritischen Studien notwendigen Fakten halten zu müssen«.30 Diese Erzählstruktur bildet gleichzeitig die Schwachpunkte des Textes, welche postkoloniale Kritiker wie Chinua Achebe oder Edward Said erwähnen. Insbesondere wurde die daraus entstandene Absenz der afrikanischen Stimme angeprangert.31 Wenn man davon ausgehen kann, dass Dinge solcher identitätsraubenden Assoziation nicht verdächtigt werden, kann man sich ohne Bedenken für Joseph Conrads kritische Gestaltung der afrikanischen Dinge interessieren, beispielsweise für das Verhältnis des europäischen Elfenbeinhändlers Kurtz zum afrikanischen Ding. Dem hat die Wildnis »Dinge über ihn selbst zugeflüstert, die er nicht wusste, Dinge, von denen er keinen Begriff hatte […]«.32 Das Evozieren der un-benennbaren Dinge33 hat zugleich einen Intertextbezug zu Immanuel Kants Epistemologie der Dinge, wo es heißt, ein »leerer Gegenstand ohne Begriff« sei ein »Unding« (nihil negativum).34 Die Undinge bleiben in Conrads Text zwar ominös, doch helfen sie dem europäischen Leser zu verstehen, dass die dortigen Geschehnisse, die kolonialen Machenschaften,35 jeglicher Rationalität entbehren. Schließlich bleibt es hervorzuheben, dass weder Herders Geschichtsphilosophie noch Joseph Conrads Roman frei von nationalkulturellen Wahrnehmungsmustern sind; was nicht heißt, dass die von ihnen formulierte Kolonialismuskritik zwecklos gewesen war. Zumindest haben sie es bewirkt, anhand der afrikanischen Dinge eine kolonialkritische Perspektive zu formulieren. In den nächsten Abschnitten soll dieser Aufmerksamkeit für die Dinge in der deutschsprachigen Literatur nachgegangen werden.

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Schmiedel, Roland: Schreiben über Afrika: Koloniale Konstruktionen. Eine kritische Untersuchung ausgewählter zeitgenössischer Afrikaliteratur. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 2015, S. 96. Vgl. Achebe, Chinua: Ein Bild von Afrika: Rassismus in Conrads Herz der Finsternis. Deutsch von Thomas Brückner und Wulf Teichmann. Berlin: Alexander, 2002; Vgl. Said, Edward W.: Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 65ff. Conrad, Joseph: Herz der Finsternis, a.a.O., S. 60. Über den Zusammenhang von »benennbaren Dingen« und der Kritik an mechanistischen Vorstellungen siehe Schiewer, Gesine Lenore: Poetische Gestaltkonzepte und Automatentheorie, a.a.O., S. 37ff. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Hg. von Raymond Schmidt. Hamburg: Meiner, 1990, S. 292. Über die Machenschaften des Herrenmenschen in Afrika siehe Molitor, Andreas: »›Heute schon einen Neger geschossen?‹ Selbsternannte Herrenmenschen regieren in Afrika mit brutaler Gewalt«, in: ZEIT Geschichte 4/19, 2019, S. 34–40.

2 Das afrikanische Ding im Kontext des kritischen Realismus

In Bezug auf Afrika war die deutsche Kritik an den kolonialen Machenschaften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen subtil, denn sie geschah in der vorgeschichtlichen Zeit des verspäteten Kolonialismus1 mit seiner vermeintlichen »humanen Behandlung der indigenen Bevölkerungen«.2 Sie geschah in Zeichen des Unvermögens, die außereuropäischen »Gesellschaften und Kulturen zu Objekten eines nationalstaatlichen Handelns zu machen«,3 wie Leo Kreutzer treffend schreibt. Denn es handelte sich immer noch um einen Antikolonialismus4 »ohne Kolonien«, und das Verhältnis der deutschsprachigen kolonialkritischen Autor*innen zu (Nord-)Afrika konnte nur »imaginär«5 sein. Vor dieser Folie war es folgerichtig, dass in der Janusköpfigkeit des Kolonialprojektes6 deutsche Befürworter und Kritiker des Kolonialismus aus afrikanischen Dingen nur freie Objekte des Denkens machen konnten.

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Vgl. Krobb, Florian: Vorkoloniale Afrika-Penetrationen. Diskursive Vorstöße ins ›Herz des großen Continents‹ in der deutschen Reiseliteratur (ca. 1850–1890). Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 2017. Scherpe, Klaus R.: »Szenarien des Kolonialismus in den Medien des deutschen Kaiserreichs«, in: Leonhard, Jörn u. Renner, Rolf G.: Koloniale Vergangenheiten – (post-)imperiale Gegenwart. Berlin: BWV, 2011, S. 165–184, hier S. 166. Scherpe übersetzt hier die These des Germanisten Berman. Vgl. Berman, Russel A.: Enlightenment or Empire. Colonial Discourses in German Culture. Lincoln and London: University of Nebraska Press, 1998. Kreutzer, Leo: »Johann Gottfried Herders ›Geschichtspantheismus‹ als Denkmodell für einen anderen Orientalismus«, in: Goer, Charis u. Hofmann, Michael (Hg.): Der Deutschen Morgenland, a.a.O., S. 57–65, hier S. 57. Vgl. van der Heyden, Ulrich: »Antikolonialismus und Kolonialismuskritik in Deutschland«, in: Bechhaus-Gerst, Marianne u. Zeller, Joachim (Hg.): Deutschland postkolonial? a.a.O., S. 143–158. Said, Edward W.: Orientalismus, a.a.O., S. 19. Vgl. Delgado, Mariano: »Kolonialismusbegründung und Kolonialismuskritik. Der Januskopf Europas gegenüber der außereuropäischen Welt«, in: Ders.u. Lutz-Bachmann, Matthias (Hg.): Herausforderung Europa. Wege zu einer europäischen Identität. München: Beck, 1995, S. 153–170.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

Mit seiner Tendenz, »die eigenen theoretischen Normen zu unterminieren und sie gleichsam literarisch zu überbieten«,7 bildete der Realismus die ideale geistige und literarische Strömung, um diese kolonialkritische Perspektive überraschenderweise zurück auf die deutsche Gesellschaft zu wenden. Folgerichtig hat sich die wissenschaftliche Dingliteratur über das 19. Jahrhundert vorrangig mit der Selbstkritik des Realismus oder dem kritischen Exotismus beschäftigt. Prominente Schriftsteller*innen haben in der Tat ihre Texte im Rahmen der »Kritik der eigenen Kultur im imaginären oder erfahrenen Spiegel außereuropäischer Welten«8 produziert. Adalbert Stifter, Gottfried Keller und Wilhelm Raabe, von denen Jürgen Osterhammel meint, sie seien »Pflegefälle der Germanistik geworden«,9 verdienen in diesem Zusammenhang auch die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Dingliteratur.10 Diese drei kanonischen Schriftsteller, die Modellbildungen über Fremdheitserfahrungen und Wissen über Afrika präsentieren,11 sollen in folgenden Abschnitten nach ihrer jeweiligen kolonialkritischen Gestaltung der afrikanischen Dinge untersucht werden.

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Schneider, Sabine: »Einleitung«, in: Dies.u. Hunfeld, Barbara (Hg.): Die Dinge und die Zeichen: Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008, S. 11–24, hier S. 11. Göttsche, Dirk: »Postkolonialismus als Herausforderung und Chance germanistischer Literaturwissenschaft«, in: Erhart, Walter (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart, Weimar: Metzler, 2004, S. 558–576, hier S. 570. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: Beck, 2009, S. 30. Anhand dieser Autoren widmet Barbara Hunfeld dem realistischen Ding ein semiologisches Interesse. Vgl. Hunfeld, Barbara: »Zeichen als Dinge bei Stifter, Keller und Raabe. Ironisierung von Repräsentation als Selbstkritik des Realismus«, in: Schneider, Sabine u. dies. (Hg.): Die Dinge und die Zeichen, a.a.O., 2008, S. 123–141. Siehe dazu Daniela Gretz’ laufendes Forschungsprojekt »Das »I/innere Afrika« des Realismus. Literatur und Wissen über Afrika in der (Zeitschriften-)Kultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts«. Eine Zusammenfassung des Projektes ist abrufbar unter https://www.exc16.uni-k onstanz.de/2929.html [Stand vom 07. 08. 2019]. Gretz hat die mediengeschichtliche Entstehungsgeschichte kanonischer realistischer Texte und deren Produktion von Wissen über außereuropäische Welten herausgearbeitet. Vgl. Gretz, Daniela: »Das Wissen der Literatur. Der deutsche literarische Realismus und die Zeitschriftenkultur des 19. Jahrhunderts«, in: Dies. (Hg.): Medialer Realismus. Freiburg i.Br. u.a.: Rombach, 2011, S. 99–126; »›Quer durch Afrika, was soll das heißen?‹ Afrika als Wissens-, Imaginations- und Reflexionsraum bei Wilhelm Raabe und Theodor Fontane«, in: Berbig Roland u. Göttsche, Dirk (Hg.): Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus. Berlin, Boston: de Gruyter, 2013, S. 165–192.

2 Das afrikanische Ding im Kontext des kritischen Realismus

2.1 Wilhelm Raabe: Fetisch, Kaffee … präsent und evident Ohne Zweifel gilt Wilhelm Raabe (1831–1910) als einer der nennenswerten Kolonialkritiker des deutschsprachigen Realismus.12 Zwar führte ihn seine »obligatorische Bildungsreise«13 nicht nach Afrika, sondern nach Dresden, Prag, Wien und Süddeutschland; dennoch ist die Afrika-Kulisse in seinem Werk oft allgegenwärtig. In Bezug auf die literarische Gestaltung der Dingwelt wurde seine Schreibhaltung durch die Raabe-Forschung im Spannungsfeld von kolonialem Raum und deutscher Provinz gedeutet.14 Dieser Auslegung muss man zustimmen, wenn man beobachtet, mit welcher Schlichtheit Raabes Texte die afrikanische und die europäische Dingwelten verknüpfen. In seinem Roman Stopfkuchen von 1890, der zu Recht zum postkolonialen Deutungskanon aufgezählt wird,15 liest man beispielsweise: Also Stopfkuchen wirklich auf der Roten Schanze! Und wenn sich Afrika und Europa dir morgen in den Weg stellt: du schiebst sie zur Seite und bist morgen so früh als möglich auf dem Wege nach der Roten Schanze und zu deinem dicksten Freunde Stopfkuchen. Also Stopfkuchen wirklich und wahrhaftig auf der Roten Schanze!16 Barbara Hunfeld interpretiert dieses Verknüpfen Europa-Afrika im Kontext des von Doerte Bischof postulierten poetischen Fetischismus17 als »ein vielfältiges Panorama fetischistischer Mensch-Ding-Bezüge und -Vertauschungen«.18 Sowie die afrikanische Perspektive (durch die Sicht der aus Südafrika heimkehrenden Kolonisten Eduard) hier in der Bedeutungsgewinnung eines europäischen Gegenstands (die Rote Schanze) miteinbezogen wird, werden mit derselben Leichtigkeit afrikanische

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Vgl. Göttsche, Dirk: »Kolonialismus und Globalisierung«, in: Baßler, Moritz u. Winkels, Hubert (Hg.): Raabe und heute. Wie Wissenschaft und Literatur Wilhelm Raabe neu entdecken. Göttingen: Wallstein, 2019, S. 101–121. Ausdruck bei Liebel, Helmut: »Raabe, Wilhelm«, in: Lutz, Bernd (Hg.): Metzler Autoren Lexikon: Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 4. Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2010, S. 618–620, hier S. 618. Göttsche, Dirk: »Der koloniale ›Zusammenhang der Dinge‹ in der deutschen Provinz. Wilhelm Raabe in postkolonialer Sicht«. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2005, S. 53–73. Durbeck, Gabriele: »›Der Folterer klopfte mit dem Hammer an die Daumschrauben‹. Wilhelm Raabes Stopfkuchen als Beispiel eines postkolonialen Deutungskanons«, in: Uerlings, Herbert u. Patrut, Iulia-Karin (Hg.): Postkolonialismus und Kanon, a.a.O., S. 207–235. Raabe, Wilhelm: Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte. (1890) In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. Von Karl Hoppe. Band 18. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1963, S. 11. Vgl. Bischoff, Doerte: Poetischer Fetischismus. Der Kult der Dinge im 19. Jahrhundert. München: Wilhelm Fink, 2013. Hunfeld, Barbara: »Zeichen als Dinge bei Stifter, Keller und Raabe«, a.a.O., S. 137.

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Dinge in anderen Texten von Wilhelm Raabe durch die Mitwirkung einer europäischen Figur inszeniert. Die ›dinglichen‹ Details werden dann nicht mehr nur in den Dienst des nationalkulturellen Gedächtnisses gestellt; sie vermitteln auch aufmerksamkeitssteuernde Impulse über den Kolonialismus und die Machenschaften des Kolonisators. In seinem Erfolgsroman Abu Telfan (1867) geht es darum, wie der Germanist David Simo schreibt, »dem deutschen Philistertum den Kopf auf afrikanische Art zu waschen«.19 Hierfür wurden auch afrikanische Dinge dichterisch bearbeitet. Der fetischistische Ding-Gebrauch wird beispielsweise nicht an den Rändern der Kultur angesiedelt, sondern regelrecht als Gesellschafts- und Kolonialismuskritik gesetzt. Über seinen Aufenthalt in Ägypten berichtet der Student Hagebucher Folgendes: Meine Ausrüstung bestand in einer guten Doppelbüchse, nebst der dazugehörenden Munition, und einem Kasten voll Nürnberger Hampelmänner, welche letztere auf einem österreichischen Lloyddampfer in Alexandria gelandet waren. Ich muss leider gestehen, dass ich in einem Jahre mehr Fetische in der Gegend zwischen dem Bahr el-Abiad und dem Bahr el-Asrek verbreitete, als die deutschen und englischen Missionare in zehn Jahren abschaffen werden. Trotzdem aber, dass man mit uns Handel und Wandel trieb und gegen Kuhglocken, Glasperlen, Rasierspiegel und dergleichen Kostbarkeiten selbst das hergab, was der zivilisierte und sentimentalere Mensch sein »Liebstes« nennt […]20 Zwei Kategorien von Dingen werden in diesem Textauszug erwähnt. Auf der einen Seite sind Dinge darin zu finden, die geographisch gesehen in Europa (Nürnberg, Österreich) geortet sind, und die als Teil der kolonialen Herrschaftspraxis gelten. Es handelt sich um Macht-Dinge (Doppelbüchse, Munition, Lloyddampfer) sowie um die seit dem atlantischen Sklavenhandel (1450–1850) bekannten billigen Tauschwaren (Nürnberger Tand, Kuhglocken, Glasperlen, Rasierspiegel usw.) Wie Julian Osthues anhand Hans Meyers (1858–1929) Reisebericht Ostafrikanische Gletscherfahrten (1890)21 überzeugend aufgezeigt hat, hatte diese bekannte Reiseausstattung Vorrang »sogar noch vor der Wahl des Reisepersonals«.22

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Dazu Simo, David: »›… dem deutschen Philistertum den Kopf auf afrikanische Art zu waschen‹. Anmerkungen zu Wilhelm Raabes Roman Abu Telfan«, in: Kreutzer, Leo und Ders. (Hg.): Weltengarten. Deutsch-Afrikanisches Jahrbuch für interkulturelles Denken. Hannover: Revonnah, 2005, S. 95–112. Raabe, Wilhelm: Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge. (1867). In: Ders.: Sämtliche Werke Band 7. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1969, S. 35f. Meyer, Hans: Ostafrikanische Gletscherfahrten. Forschungsreisen im Kilimandscharo-Gebiet. Leipzig, 1890. Osthues, Julian: »Nilpferdpeitsche und Botanisiertrommel«, a.a.O., S. 284.

2 Das afrikanische Ding im Kontext des kritischen Realismus

Auf der anderen Seite hat man im Textauszug mit Dingen zu tun, die in Afrika (Ägypten) verortet und vermeintlich als Kennzeichnen des afrikanischen Kulturraums postuliert werden, nämlich die fetischistischen Objekte. Wie oben darauf hingewiesen wurde, hatte sich Herder bereits von diesem Verständnis der ägyptischen Dinge als Objekte des Fetischismus Abstand genommen. Auch Raabe distanziert sich offen von diesem Klischee der früheren europäischen Grundlagentexte und repräsentiert die afrikanischen Dinge im Zeichen der Selbstkritik. Der in der Dingwelt aus der beschriebenen Konstellation zu entstehende Kulturkampf wird von der Erzählinstanz absichtlich abgeschaltet. Denn die »Einheimischen« stellen sich den Eroberern nicht mit der Macht ihrer »Fetische« entgegen, sondern mit Handel. In Okonkwo oder Das Alte stürzt (1958),23 einem der Hauptromane der postkolonialen Kritik, lässt der Nigerianische Autor Chinua Achebe das einheimische Ibo-Volk der christlichen Mission mit folgender bösen Absicht begegnen: »Geben wir ihnen also ein richtiges Schlachtfeld, auf dem sie ihre Überlegenheit unter Beweis stellen können«.24 Aus der germanischen Mythologie kennt man auch ein ähnliches Anspitzen des Kulturkontaktes, als die Germanen den angelsächsischen Missionar Bonifatius bei Geismar die Dornarseiche fällen lassen, mit der Hoffnung auf eine Rache durch die Gottheit des Donners.25 Sowohl bei Achebe als auch bei den Germanen wurden die Einheimischen von ihren eigenen Göttern im Stich gelassen. Offensichtlich will Raabe die Desillusion des einheimischen Volkes vermeiden, denn er lässt die Konfrontation zwischen den Fetisch-Dingen und den westlichen Dingen nicht stattfinden. Die Geste der vermeintlichen »Wilden«, die darin besteht, für wertlose Dinge auf die Macht ihrer Fetische freiwillig zu verzichten, wird als erstrebenswert dargestellt. Diesem humanistischen Geist wird die Fehdelüsternheit der westlichen Dinge gegenübergestellt, wobei die Deutschen wiederum als »wild« und unmenschlich erscheinen: [.] so war unser Ruf doch nicht der beste. Wir waren nach unseren Verdiensten bekannt von der Straße Bab el-Mandeb bis weit übers Sultanat Wadai hinaus, und kein germanischer Steckbrief konnte uns schwärzer anstreichen, als wir bereits im Gedächtnis der Leute vom Nildelta bis zum Mondgebirge angeschrieben standen.26

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Achebe, Chinua: Okonkwo oder Das Alte stürzt. [Things Fall Apart, 1958] Hg. von Dagmer Heusler. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983. Ebd., S. 166. Löwe, Heinz: Deutschland im fränkischen Reich. 9. Aufl., Band 2. München: dtv, 1987, S. 116. Raabe, Wilhelm: Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge, a.a.O., S. 36.

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Der im Textausschnitt evozierte germanistische Steckbrief kann auf viele Germanenmythen seit Tacitus Germania27 verweisen. Offensichtlich spielt Raabe auf die alte rohe Wildheit der Germanenkönige, welche später vom »Verführer der Deutschen«,28 Houston Stewart Chamberlain (1855–1927), gelobt wurde, als er in seinem Bestseller Die Grundlagen des 19. Jahrhundert (1899) schrieb: »Dieser Wilde [der Germane], der plötzlich aus Wäldern und Sümpfen auftaucht […]. Ohne ihn ging der Tag des Indoeuropäers zu Ende. Meuchelmörderisch hatte sich der asiatische und afrikanische Knecht bis zum Thron des römischen Imperiums hinaufgeschlichen«.29 Bekanntlich wurde dieses Bild in der frühen kolonialen Propaganda und in der Kolonialliteratur in Fülle gebraucht.30 Durch die Gegenüberstellung des afrikanischen Dings, des Fetischs, mit den europäischen Dingen (Kuhglocken, Glasperlen, Rasierspiegel) stellt Raabe diese angeblich typisch-deutsche »Wildheit« in den Vordergrund, wodurch der kolonialistisch geprägte Topos des »wilden« Afrikaners subvertiert wird. Durch diese Erzählstrategie vermischt der Text Kritik am Kolonialismus und Kritik am deutschen Spießbürgertum. Nach seiner afrikanischen Erfahrung kehrt Hagebucher in die Heimat Bumsdorf zurück und vergleicht seine Erlebnisse in Ägypten mit dem Leben in der Heimat, wobei der oben erwähnte Vergleich zwischen afrikanischen und europäischen Dingen auffallend wird. Der Erzähler bemerkt nämlich: Gestern waren es Abu Telfan, die schwarzen Freunde mit der Peitsche aus der Haut des Rhinozeros, Moskitos, Riesenschlangen, Kopfabhacken, Bauchaufschneiden, Sumpffieber, Affen- und Gallaneger-Braten. Heute hieß es Bumsdorf, Elternhaus, deutsches Kaffeebrennen, deutscher Westwind – Spatzen, Schlafrock und Pantoffeln, das war der Unterschied!31 Dieser provozierende Vergleich zwischen der heimatlichen Bewegungslosigkeit und der afrikanischen vermeintlichen »wilden« Ferne samt ihrer Entwicklungslosigkeit wurde in der Raabe-Forschung oft als »kulturpessimistischer Fatalismus«32 gedeu27 28

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Tacitus, P. Cornelius: Germania. (98 n. Chr.) Studienausgabe Lateinisch – Deutsch. Berlin: Akademie, 2011. Ausdruck bei Münkler, Herfried: »Houston Stewart Chamberlain. Verführer der Deutschen«, in: Zeit Nr. 38/2015, https://www.zeit.de/2015/38/herfried-muenkler-houston-stewart-cham berlain [Stand vom 21.09.2019]. Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts. München: Bruckmann, 1899, S. 550. Siehe Abschnitt »The teutons on African Outposts«, in: Warmbold, Joachim: Germania in Africa. Germany’s Colonial Literature. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 1989, S. 165ff. Raabe, Wilhelm: Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge, a.a.O., S. 26. Winkels, Hubert: »Vorwort«, in: Baßler, Moritz u. Ders. (Hg.): Raabe und heute, a.a.O., S. 9–19, hier S. 9.

2 Das afrikanische Ding im Kontext des kritischen Realismus

tet. In diesem Appell an die Gesellschaft liege dennoch, so Helmut Liebel, der eigentliche realistische Kern des Textes begründet, denn »die Außenseiter sind keineswegs einfach die humorvoll geschilderten kauzigen Sonderlinge, als die sie oft gesehen werden«.33 In Bezug auf die Dingmodellierung wird im oben zitierten Textauszug deutlich, dass die Dingwelt aus den afrikanischen Dingen und den europäischen Objekten besteht. Beide Dingsorten werden allerdings als gleichwertig beschrieben, weil der Erzähler dadurch eine Zeitkritik formulieren möchte. Die Erzählerintention wird der Tradition des Kritischen Exotismus gerecht, welche der Germanist Dirk Göttsche in vielen Texten von Raabe beschrieben hat, nämlich den zeitkritischen Antikolonialismus als Zeichen der Globalisierung.34 Man wird nämlich gemerkt haben, dass mindestens ein Ding absichtlich zum falschen Kulturraum eingeordnet wurde, nämlich die Ware »Kaffee«. Denkt man nur an die Zwangsarbeit in Plantagen, stellt man fest, dass »Kaffee« und »Peitsche« eigentlich zusammengehören. Die Feststellung, dass der Kaffee bzw. das Kaffeebrennen hier zu den deutschen Dingen mutiert ist, will die Tatsache kritisieren, dass diese Ware bereits europäisiert wurde. Durch seine subversive Kraft operiert der Text, wie man sieht, mit einer getarnten Distanz zu den allgemeinen Kenntnissen über Afrika. Denn während das TitelDing, das berühmte Mondgebirge, als Synonym für »Schwarze Gesichter im deutschen Mondschein«35 und also die »Barbaren in der Fremde«36 zu illustrieren hat, muss der Leser zugleich feststellen, dass einige Dinge aus dieser Fremde (Kaffee) in der deutsch-europäischen Kultur bereits übernommen wurden. Wie Johannes D. Kaminski aufzeigt, hatten unterschiedliche europäische Denker in Frankreich, England und Deutschland (respektive François Quesnay, Adam Smith und Herder) in ihren ökonomischen Theorien die negativen Folgen des Kaffeekonsums für den europäischen Staat hervorgehoben.37 Kaminski betrachtet insofern den Kaffeekonsum als ein kolonialkritisches ›epistemisches Ding‹ und schreibt dazu Folgendes: »Kolonien entsprechen innerhalb dieser Abwandlung der Zirkulationsmetaphorik unverlässlichen Teilbereichen«.38 In diesem Sinne kann man Raabes kritische Perspekti-

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Liebel, Helmut: »Raabe, Wilhelm«, a.a.O., S. 668. Göttsche, Dirk: »Kolonialismus und Globalisierung«, in: Baßler, Moritz u. Winkels, Hubert (Hg.): Raabe und heute, a.a.O., S. 101–121. Hamann, Christof: »Schwarze Gesichter im deutschen Mondschein. Zum Konzept des Barbarischen in Wilhelm Raabes Abu Telfan«, in: Hofmann, Michael u. Morrien, Rita (Hg.): Deutschafrikanische Diskurse in Geschichte und Gegenwart, a.a.O., S. 53–71. Ebd., S. 67. Kaminski, Johannes D.: »Fremdkörper Kaffee. Das Importprodukt als ökonomischer und diätetischer Störfaktor natürlicher Zirkulation«, in: Neumann, Brigit (Hg.): Präsenz und Evidenz fremder Dinge im Europa des 18. Jahrhunderts, a.a.O., S. 116–132, hier 123ff. Ebd., S. 125.

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ve als einen »Schrecken durch das Staunen«39 der eindeutigen Präsenz des KaffeeDings verstehen, und mit der Idee des Philosophen Martin Seel voranstellen, dass dieses Schrecken ihn daran erinnert, dass »nicht alles, was es gibt, in unserer oder sonst einer Ordnung ist«.40 Diese Kritik am europäischen Kolonialprojekt ließe sich durch die kritische geistes- und literaturgeschichtliche Stoffentwicklung des Kaffees in Deutschland bestätigen. Man denke an Herrn Schlendrian aus Johann Sebastians Bachs (1685–1750) Kaffeekantate, der das Kaffeetrinken verabscheut.41 Offensichtlich durch Bachs humoristische Kritik des Kaffeekonsums geschult, hatte man sich in Gleims scherzhaftem Lied Kaffee und Thee (1780) vor dem Kaffeetrinken geschämt.42 Galt der Kaffee in Heines Harzreise (1824) noch als fremdartiges »arabisches«43 Ding, so erfährt der Leser in Theodor Fontanes L’Adultera (1882), wie sehr dieses »Ding« die deutsche kulinarische Tradition bereits verändert hat. Fontane betitelt ein Kapitel seines Romans als »Löbbekes Kaffeehaus«, einen Ort, wo die Herrschaften sich treffen, um das Berliner Sommeressen zu bestellen.44 In Gustav Freytags Soll und Haben (1855) wird am anschaulichsten beschrieben, wie der Kaffee es bis zur Ersatz-Weihnachtsbescherung geschafft hatte: »An jedem Weihnachtsfest wurde durch die Post eine Kiste in das Haus des Kalkulators befördert, worin ein Hut des feinsten Zuckers und ein großes Paket Kaffee standen«45 In der Tat war es spätestens Ende des 19. Jahrhunderts Zeichen der Modernität für die wohlhabenden bürgerlichen Haushalte in Deutschland sich einen Kaffeebrenner zu leisten.46 Dass ein Kaffee als Arminius-Kaffee dem Konsumenten angeboten wurde,47 durfte in der deutschen Imagination mit dem berühmten Lied Kaffee-Kanon des Musikpädagogen Carl Gottlieb Hering (1766–1853)48 konkurrieren, in 39 40 41 42 43 44 45 46

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Seel, Martin: Paradoxien der Erfüllung: philosophische Essays. Frankfurt a.M.: Fischer, 2006, S. 189. Ebd., a.a.O. Vgl. Schulze, Hans-Joachim: Ey! wie schmeckt der Coffee süße – Johann Sebastian Bachs KaffeeKantate in ihrer Zeit. Leipzig: Verlag für die Frau, 1985. Vgl. Gleim, Johann Ludwig: Kaffee und Thee. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Band 2, Teil 5. Karlsruhe: Schmieder, 1780, S. 158–168. Heine, Heinrich: Die Harzreise. (1824). In: Ders.: Werke. Band 1. Hg. von Stuart Atkins. München: Beck, 1973, S. 333. Fontane, Theodor: L’Adultera. Novelle. (1882). Hg. Von Gabriele Radecke. Berlin: Aufbau Verlag, 1998, S. 56–64. Freytag, Gustav: Soll und Haben. Roman in sechs Büchern. (1855) München: Hanser, 1977, S. 12. Dazu Babenberg, Nana: »Usambara-Kaffee und Kamerun-Kakao im Kolonialwarenhandel Frühjahr 1887: Stollwerk führt den Automatenverkauf ein«, in: Alexander, Honold u. Scherpe, Klaus R. (Hg.): Mit Deutschland um die Welt, a.a.O., S. 94–105, hier S. 96. Vgl. Trentmann, Frank: Herrschaft der Dinge, a.a.O., S. 234. Vgl. Lorenz, Rainer: Musikpädagogik in den ersten 30 Jahren des 19. Jahrhunderts am Beispiel Carl Gottlieb Herings. Mainz: Schott, 1988.

2 Das afrikanische Ding im Kontext des kritischen Realismus

dem der Kaffee als ein gefährliches orientalisches Getränk inszeniert wird. Eine gesellschaftliche Entwicklung, die die Autor*innen des kritischen Realismus bemerkten. Sie prangern an, dass ein augenscheinlich exotisches Ding als europäische Ware verkauft wird. Man kann ihre subversive Neuinterpretation des Kaffee-Stoffes als eine Kritik an der »Verwandlung der Welt«49 betrachten. Bei Raabe ist diese »Skepsis gegenüber den überseeischen Phänomenen des beschleunigten gesellschaftlichen Wandels«50 zugleich eine »Füllung der Welt«51 , wie Florian Krobb schreibt. Seine Beobachtungen gelten gleichzeitig als eine Kritik am europäischen Kolonialprojekt seiner Zeit. Die wachsende »Bedeutung der kolonialen Verflechtung«52 und die Verstrickung des Westens in die koloniale Konsumgesellschaft wurde ebenfalls durch Schweizer Autor*innen denunziert.53 Gottfried Keller (1819–1890) gehört zu den Schriftstellern des deutschsprachigen Realismus, die die Beteiligung der Schweiz am Kolonialismus ästhetisch formulierten, wobei afrikanische Dinge wie der Säbel, der Burnus usw. eine (post-)koloniale Bedeutung finden.54

2.2 Gottfried Keller: Säbel, Burnus … ›fremde Dinge‹ Im Gegensatz zu Raabe, der ausschließlich von seiner Schriftstellerei lebte, erhielt Gottfried Keller 1844 von der Zürcher Regierung ein Stipendium, das ihm ermöglichen sollte, durch eine Orientreise bedeutende Eindrücke zu gewinnen. Keller blieb allerdings in Heidelberg (1848/49), dann in Berlin (1850–1855) und hat die Grenzen des deutschen Sprachgebiets nie überschritten.55 In seinem Aufsatz über das exotische Ägypten stellt Martin Kaiser unter Beweis, dass Kellers Interesse für die afrikanischen Dinge an seine Besuche des Berliner Ägyptischen Museums zurückzufüh49 50 51 52

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Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt, a.a.O. Krobb, Florian: Erkundungen im Überseeischen. Wilhelm Raabe und die Füllung der Welt. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009, S. 227. Ebd., S. 9ff. Göttsche, Dirk: »›Tom Jensen war in Indien‹. Die Verknüpfung europäischer und außereuropäischer Welten in der Literatur des Realismus«, in: Berbig Roland u. Ders. (Hg.): Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus. Berlin, Boston: de Gruyter, 2013, S. 17–52, hier S. 25. Vgl. Purtschert, Patricia; Lüthi, Barbara u. Falk, Francesca (Hg.): Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien. Bielefeld: transcript, 2012. Über die Partizipation von Dingen im Allgemeinen in Kellers Generierung vom Wissen wird es offensichtlich auch in Pierstorffs vor dem Erscheinen stehendem Buch gehen. Vgl. Pierstorff, Cornelia: Gottfried Kellers Wissen. Dinge – Diskurse – Praktiken. Berlin, Boston, de Gruyter, 2023. Zu Kellers Biografie siehe Bollenbeck, Georg: »Keller, Gottfried«, Lutz, Bernd (Hg.): Metzler Autoren Lexikon, a.a.O., S. 408–410.

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ren ist.56 Im Gegensatz zum Autor hat der Protagonist Pankraz aus der gleichnamigen Erzählung mit Untertitel der Schmoller (1855)57 eine Orientreise hinter sich. Kellers kontrafaktische Schreibweise besteht darin, die »Afrikaner« nach Europa zurückkommen zu lassen, um kolonialistisch zu wirken. Pankraz, der demobilisierte französischen Soldat aus Afrika, bekommt bei seiner Familie kein Gehör, als er die von ihm erlebten Geschichten über die Untaten des Kolonialmenschen in Afrika erzählte. Das Verhalten seiner Familie symbolisiert die Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft, die der Kritik am Kolonialismus nicht zuhören wollte. Axel Dunker hat diesen Indifferentismus gegenüber der Kolonialismuskritik als »emblematische Wertigkeit für die gesamte deutschsprachige Literatur des 19. Jahrhunderts«58 bezeichnet. Pankraz erklärt seine Reise vom Orient nach Afrika nicht durch den interkulturellen Weltensammler-Topos, den man beispielsweise in Ilija Trojanows Gestaltung der Expedition des Briten Sir Richard Francis Burton nach Ostafrika in seinem Roman Der Weltensammler (2006) findet.59 Stattdessen erscheint seine Afrikareise als Machtstrategie; seine Absicht war nämlich, die Kolonialmacht Frankreich zu verkörpern, um dann die koloniale Machtordnung zu irritieren. Seiner Familie sagt er: Wenn ihr nicht geschlafen hättet, so würdet ihr gehört haben, […] wie ich dann betrogen wurde und als ein neugestählter Schmoller aus Indien nach Afrika ging zu den Franzosen, um dort den Burnusträgern die lächerlichen turmartigen Strohhüte herunterzuschlagen und ihnen die Köpfe zu zerbläuen, was ich mit so grimmigem Eifer tat, dass ich auch bei den Franzosen avancierte und Oberst ward, was ich geblieben bin bis jetzt.60 Die Zerstörung der im Textauszug erwähnten afrikanischen Dinge (Burnus, Strohhüte) erscheint als rohe koloniale Gewalt, als kolonialistische Machtzeichen des französischen Bataillons in Algerien. Die Tatsache, dass der Protagonist, Taugenichts im westlichen Sinne, durch seine Geste, diese Zerstörung der afrikanischen Dinge, von der Französischen Kolonialverwaltung eine Beförderung bekommt, zeigt die kolonialismuskritische Perspektive des Textes. Denn Pankraz’ afrikanische Erfahrungen fungierten als Lehrjahre, deren Ergebnisse in der europäischen

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Dazu Kaiser, Martin: »Das exotische Ägypten (Ferdinand Freiligrath, Victor Hugo, Gottfried Keller)«, in: Zeitschrift für Ägyptische Sprache und Altertumskunde, Band 97, Heft 1, 2016, S. 78–94, hier S. 93. Keller, Gottfried: Pankraz, der Schmoller (1855). Sämtliche Werke in sieben Bänden. Hg. von Thomas Böning. Band 4: Die Leute von Seldwyla. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1989, S. 15–68. Dunker, Axel: Kontrapunktische Lektüren, a.a.O., S. 171. Trojanow, Ilija: Der Weltensammler. Roman. München: Hanser, 2006. Keller, Gottfried: Pankraz, der Schmoller, a.a.O., S. 84.

2 Das afrikanische Ding im Kontext des kritischen Realismus

Heimat nachgerechnet werden sollen. Sie zeigen, wie die Germanistin Eva Eßlinger treffend schreibt, dass die koloniale Gewalttat »dorthin zurückfließt, wo sie ihren Ursprung hat: in den von materieller Not, mangelnder Zukunftsperspektive und Ereignisarmut geprägten Raum Seldwila«.61 Keller rekurriert auf diese Kolonialkritik, um die eigene Welt und Gesellschaft zu hinterfragen. Die Rückkehr der Titelfigur in die schweizerische Stadt Seldwila wird wie folgt beschrieben: Auch war er in einen Burnus gehüllt, alles dies, wie es französische Militärs aus Afrika mitzubringen pflegen, und die Füße stemmte er gegen eine kolossale Löwenhaut, welche auf dem Boden des Wagens lag; auf dem Rücksitze vor ihm lag ein Säbel und eine halblange arabische Pfeife neben andern fremdartigen Gegenständen.62 Abgesehen von dem ironischen Zug, der sich aus dem Kontrast von den ›fremden Dingen‹63 und dem französisch-europäischen militärischen Machtapparat ergibt, sieht man, dass die literarische Gestaltung der Dingwelt die schwerwiegende Verantwortung aufnimmt, die Selbstverständlichkeit der afrikanischen Dinge in Europa herauszustreichen. Denn, während das bürgerliche Europa der Kolonialismuskritik gegenüber stumm und taub bleibt, wird man wohl gemerkt haben, dass die afrikanischen Dinge (Löwenhaut, Pfeife, Säbel) in Europa bereits vorhanden sind. Wie aus dem zitierten Textauszug hervorgeht, wurden diese Dinge durch die französischen Soldaten in Europa eingeführt. Illustriert wird, wie sehr die afrikanischen Dinge trotz des kolonialen Projekts dem Zerstörungswillen der vermeintlichen »Zivilisierten« entgehen und in Europa Eingang finden. Karl-Heinz Kohl erwähnt beispielsweise die Obelisken, die durch Napoleons Ägyptenfeldzug in Europa weithin bekannt geworden waren und in die »westliche Sepulkral-Kunst Eingang«64 fanden. Die Tatsache, dass Keller die Fremderfahrungen dieser afrikanischen Dinge in Europa thematisiert, ist eine Kritik am Kult der Dinge. Diese Kritik gilt offensichtlich als eins der Merkmale der literarischen Produktion bei Keller. Doerte Bischoff, die seine Erzählung Don Correa (1881) analysiert, kommt zum selben Ergebnis. Sie schreibt nämlich: Der implizierte Verweis auf vorausgehende Kontakte zwischen Europäern und Afrikanern markiert einen Raum, in dem Dinge und Bedeutungen zirkulieren,

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Eßlinger, Eva: »Anabasis. Anmerkungen zu Gottfried Kellers Legionärsnovelle Pankraz der Schmoller«, in: Neumann, Michael u.a. (Hg.): Modernisierung und Reserve. Zur Aktualität des 19. Jahrhunderts. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2017, S. 118–137, hier S. 133. Keller, Gottfried: Pankraz, der Schmoller, a.a.O., S. 22f. Zur Alterität der Dinge siehe Frank, Michael C. u.a. (Hg.): Fremde Dinge. Zeitschrift für Kulturwissenschaften Heft 1, 2007. Kohl, Karl-Heinz: Die Macht der Dinge, a.a.O., S. 108.

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ohne von einem Akteur letztendlich in Besitz genommen werden zu können. Dies wird bei Keller auch durch das Prinzip der Inszenierung in der Begegnung mit dem anderen deutlich, das vorführt, wie Dinge zur Selbstdarstellung in Dienst genommen werden.65 Nach dem Deutschen Raabe und dem Schweizer Keller soll nun in nächsten Abschnitt auf die kolonialkritische Modellierung des afrikanischen Dings durch den österreichischen Schriftsteller Stifter eingegangen werden.

2.3 Adalbert Stifter: Afrikanische Technik wirkt kolonialistisch Der österreichische Schriftsteller Adalbert Stifter (1805–1868) gilt in der postkolonialen Forschung als einer der Autoren, die eine kontrafaktische Schreibhaltung in Bezug auf den Kolonialismus präsentieren. Axel Dunker hat am Beispiel seiner Erzählung Abdias (1842)66 ausführlich erklärt, wie sehr Stifter »eine Verkehrung der Kolonialisierungsbewegung [zeigt]: Nicht von Europa nach Afrika, sondern aus der Wüste nach Österreich. Diese Inversion der historischen Bewegungsrichtung findet zahlreiche Entsprechungen auf der Strukturebene der Erzählung«.67 Auf der ding-ästhetischen Ebene wurde Stifter einen exzessiven Gebraucht des Wortes »Ding« bescheinigt,68 wobei der Autor bei den beschriebenen Dingen die Grenze zwischen Naturhaftigkeit und Status als Artefakt oft subvertiert.69 Dorothee Kimmich schreibt über diese Dingkonjunktur bei Stifter Folgendes: So wie in der Romantik die Dinge vor allem die Grenze zwischen »lebendig« und »leblos« zu subvertieren scheinen, ist es im Realismus des 19. Jahrhunderts insbesondere die Trennung in »Natur« und »Kultur«, der sich die literarischen Dinge widersetzen. In Texten von Adalbert Stifter […] oszillieren die Dinge häufig zwischen ihrer Naturhaftigkeit und ihrem Status als Artefakt hin und her.70

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Bischoff, Doerte: »Dinge und Migration«, in: Scholz, Susanne u. Vedder, Ulrike (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, a.a.O., S. 72–82, hier S. 74. Stifter, Adalbert: Abdias (1842) In: Ders.: Studien Band 2. Leipzig: Gustav Heckenast, 1867, S. 185–271. Dunker, Axel: Kontrapunktische Lektüren, a.a.O., S. 92. Begemann, Christian: »Realismus und Wahrnehmung der Dinge: Adalbert Stifter«, in: Scholz, Susanne u. Vedder, Ulrike (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, a.a.O., S. 257–264, hier S. 258. Vgl. Macho, Thomas: »Stifters Dinge«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. 59. Jahrgang, Heft 676, Stuttgart: Klett-Cotta, 2005, S. 735–741. Kimmich, Dorothee: »Dinge in Texten«, in: Scholz, Susanne u. Vedder, Ulrike (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, a.a.O., S. 21–29, hier S. 25.

2 Das afrikanische Ding im Kontext des kritischen Realismus

In Stifters Ding-Poetik ist sowohl bei den Naturdingen als auch bei den Artefakten die kolonialkritische Perspektive immer zugegen. In der Erzählung Abdias werden alle afrikanischen Dinge in das Projekt des Hereinholens Afrikas in die Heimat sehr gut eingebaut. Der afrikanische Jude Abdias wird durch seine ›Subalternität‹ und die narrativ evozierte Verdinglichung seiner Person porträtiert: »Abdias [war] ein Ding, das der blödeste Türke mit dem Fuße stoßen zu dürfen glaubte, und stieß«.71 Als er nach Europa zurückkehrte, gelang ihm dennoch ein Tal im Böhmerwald zu kolonisieren und dort ein Haus zu errichten, das man mit den heutigen Erkenntnissen als einen interkulturellen »Dritten Raum« bezeichnen könnte. Damit meint der postkoloniale Theoretiker Homi Bhabha einen hybriden Ort, der als Kontaktzone unterschiedlicher Kulturen fungiert.72 Übertragen auf die Dingwelt bedeutet dies, dass unterschiedliche Dinge aus verschiedenen Kulturen in einem gemeinsamen Raum zusammengesetzt werden. Ein solcher Zwischenraum ist, wie Doris Bachmann-Medick schreibt, mit »Deplatzierung und Dekontextualisierung […] von Gegenständen«73 verbunden. Um die ›dingliche‹ Symbolik von Abdias’ Haus und dessen kolonialkritisches Potential zu erfassen, kann an einem ausführlichen Zitat nicht vorbeigegangen werden: Abdias ging nun daran, da das Mauerwerk fertig und nach dem Rate seines Bauherrn vollständig ausgetrocknet war, das Innere des Hauses einzurichten. […] Dann kamen Geräte, wie sie in Europa gebräuchlich waren, und darunter mischte er Einrichtungen, wie er sie in Afrika gehabt hatte; er legte nämlich überall Teppiche nicht bloß auf den Boden, sondern auch auf solche Geräte, die für keine verfertigt waren, er machte aus Teppichen und weichen Fellen, die er kaufte, Betten zum Ruhen, und dass man darauf in der Kühle der Zimmer sitzen könne. Um diese Kühle zu erzeugen, ließ er, wie er es ebenfalls in Afrika gelernt hatte, Gemächer mit sehr dicken Mauern verfertigen, in den Gemächern hatte er nur in großen Zwischenräumen ein paar kleine Fenster, die doppelte gegliederte Fensterbalken der Art hatten, dass ihre Dachelchen über einander gelegt oder zur Hereinlassung von mehrerem Lichte waagrecht gestellt werden konnten. Er hatte diese Balken in Europa kennen gelernt und wendete sie statt der Myrten an, welche in der Wüstenstadt sein oben gelegenes Fenster umrankt und überwuchert hatten, dass die brennenden Strahlen der dortigen Sonne nicht eindringen konnten. Die kleinen Fenster der Gemächer aber gingen nicht unmittelbar in die freie Luft, sondern in einen andern Raum, der ebenfalls eine Art Gemach oder Vorhaus bildete, und durch dicke Türen und ebenfalls durch gegliederte

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Stifter, Adalbert: Abdias, a.a.O., S. 193. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S. 55f. Bachmann-Medick, Doris: »Dritter Raum. Annäherungen an ein Medium kultureller Übersetzung und Kartierung«, in: Breger, Claudia. u. Döring, Tobias (Hg.): Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume. Amsterdam: Rodopi, 1998, S. 19–36, hier S. 22.

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Fensterbalken zu schließen war, damit die Strahlen der Sonne und der Durchzug der äußern heißen Luft abgehalten würden.74 Insgesamt betrachtet postuliert dieser Textauszug ein Denormalisieren der kolonialen Ordnung. Die koloniale Ordnung wird dadurch irritiert, dass das bekannte Muster des kolonialen Raumverhaltens, wo Europäer und Einheimische voneinander getrennt lebten, in der Musterentwertung des Innenraums nicht respektiert wird. Was Doerte Bischoff über die realistischen Kontaktzonen zwischen Kolonien und Europa festgestellt hatte, bewahrheitet sich hier, nämlich: »Offenbar sind die Dinge im kolonialen Kontext keineswegs so einfach zu kontrollieren, wie die Vorstellung von der kulturellen Überlegenheit der Europäer glauben macht«.75 Denn für seine Kommoditäten bringt Abdias die afrikanische und die europäische Baugestaltung in Einklang, indem er sich ihrer jeweiligen Vorteile bedient: Das afrikanische technologische Knowhow gegen hohe Temperaturen (Gemächer mit sehr dicken Mauern) wird mit modernen europäischen Geräten vermischt. In einer Zeit, in der Europa als »zivilisiert« und Afrika als »wild« im westlichen Bewusstsein galt, war Stifters Modellbildung eine subversive Selbstentfaltung des Kolonialdiskurses. Mit seiner Zusammenfügung der europäischen und der afrikanischen Architekturen hat Abdias’ Haus nun eine kolonialismuskritische Funktion. Dem kolonialistischen Argument der »Zivilisierung« Afrikas wird eine Perspektive entgegengesetzt, die man aus heutiger Sicht als Umweltfreundlichkeit oder nachhaltigen Ressourcengebrauch bezeichnen könnte. Im Text heisst es: Lauter Anstalten, die er in Europa nicht nötig hatte. Was ihn schier am meisten freute, war ein Brunnen, den ihm ein Meister an einem stets schattigen Teile seines eigenen Hofes gemacht hatte, wo man nur an einem Metallknopfe hin und her zu ziehen brauchte, dass kristallhelles, eiskaltes Wasser in das steinerne Becken heraus floss. Anfangs wollte er das häufige Ziehen nicht zulassen und den großen Verbrauch des Wassers hindern, dass es nicht vielleicht zu schnell zu Ende gehe, aber da das Wasser durch zwei Jahre unvermindert und gleich frisch dem Zuge des Metallknopfes folgte, erkannte er, dass hier ein Schatz sei, den man nicht leeren, den sie hier nicht schätzen können, und den man in der Wüstenstadt für das höchste Gut gehalten hätte. Überhaupt waren er und Uram in der ersten Zeit ihres Wanderns in Europa über die prächtigen Quellen, die es hat, entzückt, wunderten sich, wie die Leute, die da leben, sich nichts daraus machten, und tranken oft, vorzüglich wenn sie im Gebirge waren und ein recht glasklarer Strahl aus Steinen

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Stifter, Adalbert: Abdias, a.a.O., S. 240f. Bischoff, Doerte: »Dinge und Migration«, in: Scholz, Susanne u. Vedder, Ulrike (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, a.a.O., S. 72–82, hier S. 74.

2 Das afrikanische Ding im Kontext des kritischen Realismus

hervor schoss, mit Lust und dem Wasser zu Ehren, selbst wenn sie nicht durstig waren.76 Erkennbar wird die Intention des Er-Erzählers, die darin besteht, die Vergeudung der Ressource Wasser in Europa durch die wassersparenden Brunnen-Techniken des Sahels zu bekämpfen. Im Textauszug wird das notwendige eiskalte Wasser der Brunnen in der afrikanischen Wüsste als naturanalog, als ein Schatz dargestellt. Im Gegensatz dazu erscheint der 1821 vom deutschen Dichter Wilhelm Müller propagierte Topos des »Wanderns als des Müllers Lust«, das man – dem bekannten Volkslied zufolge – angeblich vom Wasser gelernt hat77 , als eine reine Ressourcenvergeudung und Wohlstandsbequemlichkeit. Unerwähnt darf nicht das bleiben, was Alexander Honold über diese Analogie zwischen das Wandern und der Strömungsenergie des Wassers aufzeigt, nämlich, dass sie letztendlich den Müllerburschen nicht zu Lust, sondern ökonomisch zu einer puren Notwendigkeit und einer Suche nach Brot führt.78 Schenk man Colin Campbell Glauben, muss man diese ökonomische romantische Ethik als vernünftiger als den modernen Geist des Konsumismus bewerten, denn letzterer beruhe lediglich auf dem Erwerb immer neuerer Güter, wobei der Wunsch immer wieder für kurze Zeit gestillt werden kann.79 Man sieht hier, dass Stifter mehr als diese romantische Ethik zu erreichen versucht. Die romantische Suche nach der besseren Existenz findet er nicht genug umweltfreundlich. Denn die Erzählinstanz in Abdias streicht eher die Tatsache an, dass das Motiv der Lust beim Wandern aus dem Brunnen etwas Unnatürliches macht. Die Titelfigur prangert die Tatsache an, dass die Wanderer den Wasserbrunnen nicht als eine Notwendigkeit (wie in Afrika) betrachten, sondern lediglich als ein Teil der Wandertradition. Die Suche nach Ursprünglichkeit und Originalzustand der Dinge wird durch diese Abkehr vom romantischen Motiv des Wanderns deutlich. Gleichzeitig stellt sie die kolonialistische Wertordnung auf den Kopf. Der koloniale Zusammenhang der Dinge in der deutschen Provinz, den Göttsche bei Raabe aufgezeigt hat,80 wird hier in einer österreichischen Provinz evident. Dass Keller seiner Zeit voraus gewesen war, zeigt Bruno Latours in der Thematik der nachhaltigen Entwicklung neulich formuliertes

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Stifter, Adalbert: Abdias, a.a.O., S. 241f. Vgl. Müller, Wilhelm: Wanderschaft. In: Anthologie aus den Gedichten von Wilhelm Müller. H.J. Meyer, 1870, S. 59. Honold, Alexander: »Lied-Wandel. Zu Franz Schuberts Liederzyklen Die schöne Müllerin und Winterreise«, in: Gellhaus, Axel; Moser, Christian u. Schneider, Helmut J. (Hg.): Kopflandschaften – Landschaftsgänge. Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs. Köln u.a.: Böhlau, 2007, S. 161–184, hier S. 168f. Campbell, Colin: The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism. Neuaufl. London: Alcuin Academics, 2005. Göttsche, Dirk: »Der koloniale ›Zusammenhang der Dinge‹ in der deutschen Provinz«, a.a.O., S. 53–73.

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Plädoyer für das umweltfreundliche Narrativ, in dem es prägnant heißt: »zwischen Modernisierung und Ökologisierung müssen wir uns entscheiden«.81 Schließlich muss erwähnt werden, dass Stifters Modell der Dingwelt auf keine interkulturelle Völkerverständigung abzielte. Es ist nicht so, dass er die Einführung der exotischen Dinge in Europa per se befürworten würde. Er versucht nur, durch eine kritische Umkehrung des kolonialistischen Diskurses das europäische Kolonialprojekt insgesamt anzuprangern. Man wundere sich, dass der Autor keine interkulturelle Kommunikation zwischen Abdias und seinen Nachbarn entstehen lässt. Es fällt auf, dass die Dingwelt, von der die Rede ist, nur die Innenausstattung des Hauses betrifft, wobei die Nachbarn ihn nicht besuchen dürfen, er aber auch nie aus seiner Welt herauskommt, um den anderen zu begegnen. In der Logik des Textes sind die europäischen Nachbarn nicht die Adressaten des von Abdias errichteten Zwischenraums. Umgekehrt betrachteten die »Anderen« sein Haus nur als ein Ding ohne besondere Funktion. Das Haus wird von ihnen lediglich wahrgenommen als: Ein Ding, das einmal so sei, insbesondere da der Besitzer nie zu ihnen hinauskam und mit ihnen redete, sie also auch nichts von ihm zu reden hatten – und sie sahen die Dinge so an wie die Steine, die hie und da aus dem Grase hervorstanden, oder wie die Gegenstände, die zufällig an dem Wege lagen.82 Obwohl man es nicht mit einem interkulturellen Raum zu tun hat, bleibt Abdias’ Haus dennoch eine subversive Innovation. Der umstürzlerische Impetus des Textes liegt nicht in den Handlungen und den erzählten Dingen, sondern in der Schreibhaltung des Autors selbst. Die Bedeutung des Hauses wird im handlungsverlauf so narrativ funktionalisiert, dass der Leser dazu aufgefordert wird, die Bedeutung für sich auszulegen. Anders formuliert: Der intendierte Adressat der Kolonialismuskritik ist weder Abdias’ Nachbar noch irgendein Österreicher im Text, sondern jeder zeitgenössische deutschsprachige Leser von Stifters Erzählung.

2.4 Zusammenfassung Die kolonialkritische Perspektive des literarischen Realismus wurde im Kontext eines Antikolonialismus ohne Kolonien formuliert. In Bezug auf die westliche Konstruktion von (Nord-)Afrika versuchten die Schriftsteller dennoch, sich von vorherrschenden Vorstellungen zu distanzieren. Anders als der Dichter Goethe (genauer gesagt, der Divan-Dichter), der beispielsweise an außereuropäischen »Sitten,

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Latour, Bruno: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2014, S. 40. Stifter, Adalbert: Abdias, a.a.O., S. 240.

2 Das afrikanische Ding im Kontext des kritischen Realismus

Gebräuchen, an Gegenständen«83 Freude haben und gleichzeitig die Einfühlung mit dem Außereuropa ablehnen kann,84 praktizierten Schriftsteller wie Raabe, Keller und Stifter die »innere Besitzergreifung«85 mit einem von Herders Theorie der Einfühlung geschulten Bezug. Ihre Kolonisierung »von innen« (mit Edward Said86 ) hilft diesen Schriftstellern des kritischen Realismus dabei, die Beobachtung der »Gesellschafts- Geselligkeits- und Mentalitätsgeschichte«87 mit einem kolonialkritischen Potential zu versehen. Aus der Perspektive der Anprangerung der eigenen Gesellschaftsordnung, plädieren sie zugleich für eine Bewusstwerdung über die kolonialen Machenschaften. Raabes Blick auf die Präsenz der afrikanischen Dinge in Europa dient dazu, koloniale Klischees zu entlarven und gleichzeitig das deutsche Spießerbürgertum zu kritisieren. Der ›Fetisch‹, der hier erscheint, entspricht nicht dem Klischee der früheren europäischen Grundlagentexte und hilft dem Autor gleichzeitig dabei, die vermeintliche »rohe Wildheit« der alten Germanen negativ zu konnotieren – im Gegensatz zu den populären mythenbildenden Texten über das »Deutschtum«. Genauso zielt die Inszenierung der damaligen Existenz des afrikanischen Kaffees in seinem Heimatsdorf Bumsdorf nicht nur darauf, die koloniale Ausbeutung, sondern auch die Transformation der heimatlichen materiellen Kultur anzuprangern. Keller verfolgt durch seinen Text Pankraz die gleichen Ziele wie Raabe, in dem Sinne, dass er Kolonialkritik und Gesellschaftskritik verbindet. Man findet in der Tat die Kritik an der Selbstverständlichkeit der afrikanischen Gegenstände wie Pfeife, Säbel, Burnus, Strohhüte in Europa. Mit derselben Erzählerintention werden die afrikanischen Dinge in Stifters Erzählung Abdias modelliert. Stifter geht in der Inszenierung so weit, dass er seinen Rückkehrer das afrikanische Architektenwissen für hohe Temperaturen (Gemächer mit sehr dicken Mauern) mit »modernen« europäischen Geräten vermischen sowie die wassersparenden Brunnen-Techniken des Sahels implementieren lässt. Der Sinn dieser dichterischen Gestaltungen der afrikanischen Dingwelt durch die realistischen Schriftsteller ist offensichtlich, dem zeitgenössischen Leser den (heute würde man sagen interkulturellen) Raum zu präsentieren, in dem afrikanische und europäische Dinge zirkulieren. Dies erklärt auch die Tatsache, warum der Deutsche Raabe, der Schweizer Keller und der Österreicher Stifter sich für 83 84

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Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 11–12: Westöstlicher Divan. (1816) Hg. von Karl Richter. Hanser, 1998, S. 428. Zur Diskussion über Goethes Einfühlung mit Außereuropa siehe Soltani, Zakariae: Orientalische Spiegelungen: Alteritätskonstruktionen in der deutschsprachigen Literatur am Beispiel des Orients vom Spätmittelalter bis zur Klassischen Moderne. Münster u.a.: LIT, 2004, 2016, S. 261ff. Ausdrücke bei Weber, Mirjam: Der »wahre Poesie-Orient«: eine Untersuchung zur OrientalismusTheorie Edward Saids am Beispiel von Goethes »West-östlichem Divan« und der Lyrik Heines. Wiesbaden: Harrassiwitz Verlag, 2001, S. 48. Said, Edward W.: Orientalismus, a.a.O., S. 102. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt, a.a.O., S. 48.

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die kontrafaktische Schreibweise entschieden haben. Im Gegensatz zu späteren Autorinnen der Kolonialliteratur wie Frieda von Bülow, die Begründerin des deutschen Kolonialromans88 oder Margarethe von Eckenbrecher, deren Reiseberichte angeblich die Kolonialarchitektur (Veranda) in die deutsche Imagination nachhaltig durchsteckte,89 sind die Schauplätze der Autor*innen des kritischen Realismus nicht in irgendeiner deutschen Kolonie in Afrika geortet, sondern in Europa. Da ihre Rückkehrer-Figuren damit beauftragen werden, in Europa kolonialistisch zu wirken, trägt ihr kolonialkritischer Blick dazu bei, den kolonialen herabsetzenden Diskurs zu relativieren. Barbara Hunfeld hat Recht, wenn sie die Aussagefähigkeit der Dinge in realistischen Texten durch ihre Fähigkeit, die Wirklichkeit zu bezeugen, erklärt; sie schreibt: In vielen Texten des Realismus treten Dinge als Zeugen einer »Wirklichkeit« auf, die für sich sprechen soll, weil Subjekte offenbar nicht für sie sprechen. Es ist das »Zeug«, die profanen Alltagsgegenstände, die, da sie unbedeutend sind, die Authentizität einer von den Deutungen der Subjekte nicht kontaminierten Welt bezeugen.90 Man kann die Schriftsteller des kritischen Realismus in diesem Kontext als Pioniere der kolonialkritischen und subversiven Modellierungen der afrikanischen Dinge betrachten, eine Schreibhaltung, die wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein wird, auch die deutschsprachige Literatur der Moderne wie ein roter Faden durchzieht.

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Die Schriftstellerin Frieda Freiin von Bülow (1857–1909) schrieb u.a. Der Konsul (1891), Im Lande der Verheißung (1899), Tropenkoller (1896), Reiseskizzen und Tagebuchblätter aus Deutsch-Ostafrika (1889). Sie gilt als die Begründerin des deutschen Kolonialromans. Vgl. »Die Begründerin des deutschen Kolonialromans. Zum 75. Geburtstage von Frieda Freiin von Bülow«, in: Deutsche Kolonialzeitung, Jg. 44, 1932, S. 272. Vgl. Osayimwese, Itohan: Colonialism and Modern Architecture in Germany. University of Pittsburgh Press, 2017, S. 165. Margarethe von Eckenbrecher (1875–1955) schrieb u.a. den Reisebericht Was Afrika mir gab und nahm. Erlebnisse einer deutschen Ansiedlerfrau in Südwestafrika. Berlin: Mittler und Sohn, 1911. Hunfeld, Barbara: »Zeichen als Dinge bei Stifter, Keller und Raabe«, a.a.O., S. 124.

3 Das afrikanische Ding der literarischen Moderne

Die ersten prominenten kolonialkritischen Stimmen wurden Ende des 19. Jahrhunderts nicht in Form einer fundamentalen Ablehnung des Kolonialismus per se formuliert, sondern im Kontext der Kritik an kolonialpolitischen Skandalen. Es handelte sich nicht darum, den kolonialen Gedanken zu verurteilen, sondern die von der Kolonialverwaltung angewandten inhumanen Methoden anzuprangern. Wie der Fall Carl Peters zeigte,1 wurde die Kritik an kolonialen Skandalen sowohl von Kritikern, die im Übrigen keinen monolithischen Block bildeten,2 als auch von Verteidigern des Kolonialismus geübt. Benedikt Stuchtey schreibt dazu: »Kapitalismuskritik und in dieser Funktion Kritik der kapitalistischen Kolonialmethoden bedeutete freilich nicht den Verzicht auf das Dogma von der Höherwertigkeit der eigenen Kultur. Hiervon machten auch die Sozialisten keine Ausnahme«.3 In diesem Gedankenzusammenhang darf man das kolonialkritische Potential der Schriftsteller*innen jener Zeit nicht in ihren jeweiligen prokolonialistischen oder kolonialablehnenden Biografien suchen, sondern in den ästhetischen Zügen ihrer Werke. Denn die Literatur dieser Zeit beschäftigt sich, wie der Literaturwissenschaftler Günter Häntzschel zeigt, im Allgemeinen mit Dingen als sinngebenden »Realen«.4 Anfang des 20. Jahrhunderts war die Kolonialismuskritik eine der fundamentalsten in der Geschichte des deutschen Reiches, da sie in die innerpolitische Debatte eingebracht wurde. Im Dezember 1906 lehnte eine kolonialfreundliche Mehrheit das Nachtragsbudget ab und ebnete den Weg zu den sogenannten Hottentot-

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Siehe Kpao Sarè, Constant: »Abuses of German Colonial History: The Character of Carl Peters as Weapon for Völkisch and National Socialist Discourses: Anglophobia, Anti-Semitism and Aryanism«, in: Perraudin, Michael u. Zimmerer, Jürgen (Hg.): German Colonialism and National Identity, a.a.O., S. 160–172, hier S. 161. Dazu siehe Schwarz, Maria-Theresia: Je weniger Afrika, desto besser: die deutsche Kolonialkritik am Ende des 19. Jahrhunderts: Eine Untersuchung zur kolonialen Haltung von Linksliberalismus und Sozialdemokratie. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 1999. Stuchtey, Benedikt: Die europäische Expansion und ihre Feinde, a.a.O., S. 266. Häntzschel, Günter: Samme(l)ei(denschaft). Literarisches Sammeln im 19. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2014.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

tenwahlen von 1907.5 Der Historiker Benedikt Stuchtey sieht die Relevanz der Kritik am Kolonialismus dieser Zeit darin, dass sie im Wahlkampf zum ersten Mal »mit antinationaler Gesinnung« gleichgesetzt wurde.6 Wurden die Avantgardisten vor dem Großen Krieg als »Hottentotten im Oberhemd«7 verunglimpft, so war es die Avantgarde, die nach dem Krieg, trotz ihrer eigenen nationalgeprägten Signaturen, die hurra-patriotische Vaterlandsidee als nationalistischen Wahnsinn der Großelterngeneration verhöhnen durften.8 Mit Avantgarde wird eine größere Epoche der Literaturgeschichte gemeint, zu der auch der Expressionismus zweifelsohne gehört.9 In ihrer Verbindung zum Kolonialismus orientierte sich die Avantgarde in Richtung des Exotismus im Expressionismus. Oliver Simons hat gezeigt, dass die Nähe zwischen dem Exotismus und dem Expressionismus darin begründet ist, dass beide kunst- und ästhetischen Ausprägungen Motive und Schreibweisen privilegierten, welche die Ursprünglichkeit betonen.10 In ihrer Parteinahme für die Dinge markiert die literarische Moderne einen Bruch mit der Literatur seit dem Mittelalter. Wie Christoph Eykman am Beispiel der alltäglichen Dinge ausführlich zeigt, hat die Literatur der vergangenen Jahrhunderte eine geringe Betrachtung der Dinge gezeigt.11 Im Allgemeinen entstand das Interesse der Schriftsteller*innen für die Dinge in der Moderne, so Eykman, in Form einer selbstreflexiven Schreibhaltung. Das Ding fungiere nun als Wegweiser für den Menschen in der modernen rationalen Lebenswelt. Insbesondere in Bezug auf koloniale Dinge schien der Besitz von außergewöhnlichen (exotischen) Dingen, das Ansehen und das Selbstbewusstsein zu steigern. Insofern entwerfen die Ding-

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Vgl. van der Heyden, Ulrich: »Die Hottentottenwahlen von 1907«, in: Zimmerer, Jürgen u. Zeller, Joachim (Hg.): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen. Berlin: Christoph Links, 2004, S. 97–102. Vgl. Becker, Frank: »Die Hottentotten-Wahlen (1907)«, in: Zimmerer, Jürgen (Hg.): Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Frankfurt a.M. u.a.: Campus, 2013, S. 177–189. Stuchtey, Benedikt: Die europäische Expansion und ihre Feinde, a.a.O., S. 286. Fähnders, Walter: Avantgarde und Moderne. 1890–1933. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2010, S. 141. Vgl. van den Berg, Hubert u. Fähnders, Walter: »Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert. Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Metzler Lexikon. Avantgarde, a.a.O., S. 1–19, hier S. 17f. Zur Differenzierung zwischen Expressionismus und Avantgarde siehe Bogner, Ralf Georg: Einführung in die Literatur des Expressionismus. 2. Aufl. Stuttgart, WBG, 2013, S. 29f. Simons, Oliver: »Moderne«, in: Göttsche, Dirk; Dunker, Axel u. Dürbeck, Gabriele: Handbuch Postkolonialismus und Literatur, a.a.O., S. 268–274, hier S. 270. Eykman, Christoph: »Alltägliche Dinge im philosophischen und literarischen Schrifttum der Moderne«, in: Neophilologus 91, 2007, S. 673–685. Vgl. auch Ders.: Die geringen Dinge. Alltägliche Gegenstände in der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Aachen: Shaker, 1999.

3 Das afrikanische Ding der literarischen Moderne

texte der Moderne eine »moderne Kulturtheorie des Fremden«,12 wobei die Kritik der Kulturkonzepte, narrativ repräsentiert, sich in vielen Texten wiederfindet. In Bezug auf das Interesse der deutschsprachigen Autor*innen der Moderne für das afrikanische Ding muss ein weiteres Konzept eingeführt werden, nämlich der ›Primitivismus‹.13 Gemeint ist eine um 1900 vorherrschende ästhetische Vorstellung des Künstlers, der sich einbildet, dem ›primitiven‹ Anderen mit seinem angeblich »freieren, gesunderen, harmonischeren Leben«14 am nächsten zu stehen. Die Obsession für die Konstruktion des Konzeptes von Authentizität der afrikanischen Kultur hatte als Folge eine fruchtbare Editionsgeschichte über afrikanische Märchen, Plastiken, Legenden usw.15 Diese Begeisterung für afrikanische Dinge kann doktrinär nicht ohne die Theorien zur Krise und zum Untergang der europäischen Kultur verstanden werden.16 Die deutschsprachige Literaturgeschichte wurde nämlich durch den Begriff der sogenannten »Verfallszeit« geprägt,17 und insofern sie einen Bezug zu Afrika hatte, verbreitete sie konsequenterweise etliche »Visionen eines schwarzafrikanischen Zeitalters«.18 Bevor auf die in diesem Kontext entstandene kolonialkritische literarische Gestaltung der afrikanischen Dinge eingegangen wird, soll zunächst auf einen Sonderfall aufmerksam gemacht werden, nämlich auf Claire Golls Kritik an der ›primitivistischen‹ Welle.

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Kimmich, Dorothee: »Der Fremde und seine Dinge. Bemerkungen zur Funktion fremder Dinge in der Literatur der Moderne«, in. Brunner, José (Hg.): Erzählte Dinge, a.a.O., S. 177–190, hier S. 184. Vgl. Uerlings, Herbert: »Verkehrte Welten. Primitivismus in Literatur und Kunst der Klassischen Moderne«, in: Kienlin, Tobias L. (Hg.): Fremdheit – Perspektiven auf das Andere. Bonn: Rudolf Habelt, 2015, S. 9–24. Schutz, Joachim: Wild, Irre und Rein. Wörterbuch zum Primitivismus der literarischen Avantgarden in Deutschland und Frankreich zwischen 1900–1940. Gießen: Anabas, 1995, S. 150. Mehr dazu siehe N’guessan, Bechie Paul: Primitivismus und Afrikanismus. Kunst und Kultur Afrikas in der deutschen Avantgarde. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 2001. Vgl. Einstein, Carl: Afrikanische Märchen und Legenden. Berlin: Rowohlt, 1925; Negerplastik. (Leipzig: Verlag der Weißen Bücher, 1915), 2. Auf. Berlin: Kurt Wolff, 1920. Der prominenteste unter den Untergangstheoretikern formulierte zwischen 1918 und 1922 in seinem zweibändigen geschichtsmorphologischen Werk einen Abgesang auf die westliche Welt. Vgl. Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. (1918–1922) München: Beck, 1990. Vgl. Beßlich, Barbara: Faszination des Verfalls. Thomas Mann und Oswald Spengler. Berlin: Akademie, 2002. Vgl. Sadji, Uta: »Visionen eines schwarzafrikanischen Zeitalters. Der Untergang des Abendlandes in der deutschsprachigen Literatur zwischen den Weltkriegen«, in: Etudes GermanoAfricaines 1, 1983, S. 72–92.

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3.1 Exkurs: Claire Golls Kritik an der Faszination für afrikanische Dinge Wie kaum ein anderer Expressionist hat Claire Goll (1891–1977) eine regelrechte Kritik an der übertrieben positiven Umwertung des Primitivismus formuliert. Claire Goll war nicht nur die »bayerische Amazone«, die sich nach dem Tod ihres Ehemanns, des Schriftstellers Yvan Goll (1891–1950), in der Nachkriegszeit als »Femme fatale« profilierte.19 Mit Emmy Henning (1885–1948) und Else LaskerSchüler (1869–1945) prägte sie die »geringe tatsächliche Präsenz von Autorinnen innerhalb der expressionistischen Bewegung«.20 Gleichzeitig profilierte sie sich in den 1920er Jahren als Promoterin der schwarzafrikanischen Literatur in Deutschland. So übersetzte sie 1922 René Marans (1887–1960) antikolonialistischen Roman Batouala, der 1921 den renommierten Prix Goncourt bekam, ins Deutsche.21 Im Gegensatz zu ihrem Mann, der ständig bemüht war, die französische koloniale Wirtschaft in die Öffentlichkeit zu bringen,22 verstand Claire Goll ihr Engagement vielmehr als eine »Suche nach dem schwarzen Geheimnis«,23 um die Verhältnisse im Deutschland der ›schwarzen Schmach‹ zu bearbeiten. Dass der Ethnologe Carl Einstein (1885–1940) seinen Essay über die afrikanische Plastik mitten im ersten Weltkrieg schrieb, und ihn kurz nach dem Krieg beim expressionistischen Verlag Kurt Wolff24 erschienen ließ, betrachtete sie als eine unheimliche Abwendung von der abendländischen Mythologie durch die moderne Gesellschaft.25 Infolgedessen versuchte sie in ihrem Roman Der Neger Jupiter raubt Europa (1926)26 eine stoffgeschichtliche Neuinterpretation des antiken Europa-Mythos Ovids27 wobei ihre intertextuelle Bezugnahme auf eine abwertende Materialisierung der Afrikaner als

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Vgl. Karl, Michaela: »Claire Goll: Die Femme fatale«, in: Dies.: Bayerische Amazonen. 12 Porträts. Regensburg: Pustet, 2004, S. 116–131. Bogner, Ralf Georg: Einführung in die Literatur des Expressionismus, a.a.O., S. 68. Maran, René: Batuala. Ein echter Negerroman. Basel: Rheinverlag, 1922. Er übersetzte Albert Londres antikoloniales Buch Terre d’ébène. La traite des noirs (Paris, 1929). Vgl. Londres, Albert: Schwarz und Weiß. Die Wahrheit über Afrika. Berlin: Agis, 1929. Ausdruck bei Struck, Wolfgang: »Auf der Suche nach dem schwarzen Geheimnis. Claire Golls Der Neger Jupiter raubt Europa und ein deutsch-französischer Dialog«, in: Albers, Irene u.a. (Hg.): Blicke auf Afrika nach 1900. Französische Moderne im Zeitalter des Kolonialismus. Tübingen: Stauffenburg, 2002, S. 61–86. Dazu Göbel, Wolfram: Der Kurt Wolff Verlag, 1913–1930: Expressionismus als verlegerische Aufgabe. Frankfurt a.M.: Buchhändler-Vereinigung, 1977. In ihrer Autobiografie Goll, Claire: Ich verzeihe keinem. Eine literarische Chronique scandaleuse unserer Zeit. München: Scherz, 1978, S. 70. Goll, Claire: Der Neger Jupiter raubt Europa. Roman. (1926). Mit einem Nachwort von Rita Mielke. Berlin: Argon, 1987. Vgl. Renger, Almut-Barbara: Mythos Europa. Texte von Ovid bis Heiner Müller. Stuttgart: Reclam, 2003, S. 158–160.

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die »Anderen« verweist.28 Entgegen der bisweilen wohlwollenden und bisweilen heuchlerischen Schwärmerei für die afrikanischen Dinge, präsentiert sie ihre literarische Gestaltung als eine Subversion dieses avantgardistischen Trends. Allein diese Provokation für die allgemeine literarische Faszination für Afrika könnte als einer der Gründe dafür gelten, warum ihr Baseler Rhein-Verlag die Veröffentlichung ihres Romans in den ersten Nachkriegsjahren zunächst ablehnte.29 Provokativ schien in der Tat diese Veröffentlichung zu sein, weil ihr Mann mindestens bis zum tatsächlichen Erscheinungsjahr ihres Romans noch einen »vor vitalistischer Begeisterung überschäumenden Text«30 mit dem Titel »Die Neger erobern Europa«31 noch veröffentlichte. In Der Neger Jupiter raubt Europa inszeniert Claire Goll auf eine kritische Art und Weise die von der avantgardistischen Rhetorik als ›primitiv‹ postulierten afrikanischen Dinge. Der aus Französisch-Guinea stammende und in Paris lebende Jupiter Djilbuti, Kabinettschef im Kolonialministerium, kann einen schwarzen Frack mit tadelloser Krawatte tragen und dabei »wie ein großer Fetisch«32 aussehen. Auf der anderen Seite ist sein Bildungswissen »eine Turbine im Kopf«33 und er ist »kein echter Afrikaner mehr«.34 In Bezug auf die afrikanische materielle Kultur kommt er in Berührung mit dem ganzen Repertoire von Dingen ohne Abgrenzung des geographischen Raums. Es tritt auf: Die »Mumie« seines Vaters mit »Goldstaub auf Augen und Mund«,35 obwohl dieser Vater König von Timbo in Guinea gewesen war, und kein Pharao im alten Ägypten. Ebenso treten auf: das N’kissi-Fetisch, die Löwenknochen, die afrikanische Heilkunst, ein Splitter vom Totenschädel, die Trommel, das kriegerische Tam-Tam, die Klöppeln aus Elfenbein, die getrockneten Knochen, die böse Holzmaske, der Schild mit den Skulpturen aus Messing, ein vergifteter Dolch, eine Jazz-Band usw.36 Diese ganze materielle Kultur gehört selbstverständlich zu Jupiters Königreich, das sich über Bamako, Sokoto, Dakar, Niger und Amerika erstreckt und Völker wie die Fulbe, Bantus, Wolofs, Bambara etc. mit einschließt.37 28

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Vgl. Köhler, Sigrid G.: »Schwarz, weiß oder rot? Materialisierung des Anderen in Claire Golls Roman Der Neger Jupiter raubt Europa«, in: Dirk Göttsche und M. Moustapha Diallo (Hg.): Interkulturelle Texturen. Afrika und Deutschland im Reflexionsmedium der Literatur. Bielefeld: Aisthesis, 2003, S. 77–99. Vgl. Mielke, Rita: »Nachwort«, in: Goll, Claire: Der Neger Jupiter raubt Europa, a.a.O., S. 147–152, hier S. 149. Nagl, Tobias: Die unheimliche Maschine. Rasse und Repräsentation im Weimarer Kino. München: Edition Text + Kritik, 2009, S. 636. Goll, Yvan: »Die Neger erobern Europa«, in: Die literarische Welt 2, vom 15. Januar 1926, S. 3f. Goll, Claire: Der Neger Jupiter raubt Europa, a.a.O., S. 8. Ebd., S. 38. Ebd., S. 17. Ebd., S. 24. Ebd., S. 14ff. Ebd., S. 15.

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Durch diese Anhäufung der vielgestaltigen ›primitiv‹-afrikanischen Dingwelt auf den Kopf eines einzigen Protagonisten gewinnt der Leser den Eindruck, er werde von der Erzählinstanz absichtlich verprügelt. Anstatt diese Erzählweise über die afrikanische materielle Kultur als unglaubwürdig zu betrachten, müsste man allerdings verstehen, dass sie eine besondere Funktion hat. Man müsste wohl gemerkt haben, dass die Wörter »Amerika« und »Jazz«, die hier überraschend wie ein Haar in der Suppe auftauchen, keine funktionslosen Konzepte sind. Das Begriffspaar erscheint im Text mit seiner avantgardistischen Konnotation, die darauf hinweist, dass die Geschichte jener Musik mit der Ankunft der afrikanischen Sklaven in Amerika im Zusammenhang stünde.38 Die kritische Haltung in Claire Golls Text ist darin sichtbar, dass diese Idee wiederum von der Erzählinstanz mit einem subversiven Potential versehen wird, indem das ›Exotische‹ in den Vordergrund gestellt wird. War Amerika in der Zwischenkriegszeit schwer als ›exotisch‹ zu bezeichnen, so lässt sie Jupiter den Jazz tanzen und evoziert dabei das Tam-Tam der Bambara. Die Folge ist, dass sich der Europäer Olaf dem Jazz nicht hingegeben fühlt, dem Rhythmus einer Volksgruppe, die er »in allen Punkten als minderwertig betrachtete«.39 Die Erzählerintention ist erkennbar: Der intendierte europäische Leser soll darin lesen, dass der angebliche ›Primitivismus‹ nicht als modern, sondern als »wild« und »archaisch« zu betrachten ist. Die Ästhetik des unzuverlässigen Erzählens hat, wie aus der Begründung ersichtlich wird, eine kritisch-diskursive Funktion. Auf der einen Seite versucht der Text, durch das Porträt des Titelhelden die Idee des »authentischen Afrikaners« ad absurdum zu führen, etwa wie Frantz Fanons antikolonial geschulte Sprache später den Hominiden »schwarze Haut, weiße Maske«40 beschrieb. Um die weiße Frau zu verführen, muss Jupiter beispielsweise alle Dinge, die in der Avantgarde als Symbole der Modernität galten41 (die Negerplastiken, den Fetisch und die Statuette, die »zwar ein hochwertiges Kunstwerk«42 sind) von seiner Bibliothek entfernen und seinem Arbeitsraum das verführerische Luxusparfüm »Schwarzer Narziss« verleihen. Auf der anderen Seite prangert die Erzählinstanz die rousseauistisch-geprägte, bisweilen rassistische »absolute Negerei«43 an. Sie zeigt, wie sehr die ›primitivistische‹

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Vgl. Schultz, Joachim: »Jazz«, in: van den Berg, Hubert u. Fähnders, Walter (Hg.): Metzler Lexikon. Avantgarde. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2009, S. 161. Goll, Claire: Der Neger Jupiter raubt Europa, a.a.O., S. 17. Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken. (1952) Übersetzt von Eva Moldenhauer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985. Mehr zu dieser avantgardistischen Konnotation der Dinge siehe Eintrag »Fetisch, Fetischismus«, in: Schutz, Joachim: Wild, Irre und Rein, a.a.O., S. 61–68. Goll, Claire: Der Neger Jupiter raubt Europa, a.a.O., S. 22. Dazu Gerstner, Jan: Die absolute Negerei. Kolonialdiskurse und Rassismus in der Avantgarde. Marburg: Tectum, 2007.

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Faszination für Afrika ein Mosaik von Dingen fälschlicherweise als kulturell homogen zu postulieren versuchte. Insgesamt kann man feststellen, dass Claire Golls Kritik nicht an den Afrikaner im Allgemeinen, sondern an die primitivistische Vereinnahmung Afrikas gerichtet ist. Jan Gerstner hat Recht, wenn er in Der Neger Jupiter raubt Europa eine subversive kulturelle Identitätskonstruktion sieht.44 Wenn man vom rassistischen Charakter des Textes absehen will,45 kann man Claire Golls Schreibhaltung in der Tat als eine Dekonstruktion der ›primitivistischen‹ Rhetorik verstehen. In diesem Gedankenzusammenhang erscheinen ihre eigene primitivistische Gestaltung der afrikanischen Dinge – mit Spivaks Definition der Dekonstruktion – als »a persistent critique of what one cannot not want«.46 Nur in diesem Sinne kann man Claire Golls Roman in ihrer allgemeinen Lebensgrundhaltung einschreiben, welche, wie Rita Mielke im Nachwort schreibt, für einen »unverdorbenen Humanismus«47 plädiert. Nun ist es so, wie der oben erwähnte Kolonialismus-Kritiker Frantz Fanon (1925–1961) schreibt, dass jede Generation »in einer relativen Finsternis ihre Mission entdecken und sie entweder erfüllen oder verraten«48 muss. Offensichtlich war der Kampf der »Unterdrückten« dieser Zeit eher die Antikolonialkritik, wozu Der Neger Jupiter raubt Europa nicht beiträgt. Einer der Schriftsteller der Literatur der Moderne, die im Kontext des selbstreflexiven Schreibens eine kolonialablehnende Schreibhaltung gezeigt haben, ist der Wiener Schriftsteller Peter Altenberg (1859–1919).49

3.2 Peter Altenberg: Vogelflinte und Holzschemel, die Aschanti-Dinge Dass die österreich-ungarische Monarchie eigentlich keine Kolonialmacht war und dementsprechend nur einen dünnen Bezug zum Paradigma des Postkolonialismus

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Ebd., S. 102ff. Dazu Simo, David: »Liebe, Rasse und Macht: Intertextuelle Diskurse in Claire Golls Roman Der Neger Jupiter raubt Europa«, in: Ders. (Hg.): Die Erfahrungen des Imperiums kehren zurück: Inszenierungen des Fremden in der deutschen Literatur. (= Comparativ 12, Heft 2) Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2002, S. 26–44. Spivak, Gayatri Chakravorty: »Bonding in Difference. Interview with Alfred Artega«, in: Landry, Donna & MacLean, Gerald (Hg.): The Spivak Reader. New York, London: Routledge, 1996, S. 15–28, hier S. 28. Mielke, Rita: »Nachwort«, a.a.O., S. 149. Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. (1961) Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1966, S. 158. Vgl. Besser, Stephan: »Schauspiele der Scham. Juli 1896, Peter Altenberg gesellt sich im Wiener Tiergarten zu den Aschanti«, in: Alexander, Honold u. Scherpe, Klaus R. (Hg.): Mit Deutschland um die Welt, a.a.O., S. 200–208.

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finden kann, wird in der Forschungsliteratur kontrovers diskutiert.50 Abgesehen von dieser Polemik haben wir andernorts herausgearbeitet, wie sehr die österreichischen Schriftsteller*innen der Gegenwart sich auf metafiktionale Weise mit dem Anteil der Habsburger Monarchie an der europäischen Kolonialgeschichte beschäftigen.51 Offensichtlich hat Peter Altenberg diese postkoloniale Konstellation viel früher erkannt. In der Kritik an den kolonialen anthropologischen Spektakeln des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts kann er als Klassiker gelten. Wie Oliver Simons schreibt, wurden die Zeichen des Kolonialismus in seinen Texten nicht nur erwähnt, sondern sind »Teil einer kritischen Reflexion«.52 In seinen Prosaskizze Ashantee (1897)53 stellte er sich gegen die Entmenschlichung der Afrikaner durch den Spektakel der »Ausstellungsneger«, der 1896 im Wiener Tiergarten vorgeführt wurde. Kritisiert wird dabei die rassistische Arroganz der Wiener Gesellschaft anlässlich dieser sogenannten Aschanti-Ausstellungen,54 wobei das kritische Potential in Ashantee durch neuere Studien relativiert wird, weil es verdächtigt wird, Essentialismus und Infantilisierung des Afrikaners zu verbreiten.55 Jener Kritik an Altenbergs Text muss man aus heutiger Sicht zustimmen, wenn man bedenkt, dass der Protagonist Peter A. eine erotische Beziehung mit einem Aschanti-Mädchen hatte. Offensichtlich handelte es sich bei diesem Vorurteil über das vermeintliche sexuelle Anderssein der »Schwarzen« um eine »Epidemie« innerhalb der österreichischen Li-

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Bei dieser Diskussion hat Markus Reisenleitner in der Zeitschrift Species of Identity dem Projekt Kakanien revisited vorgeworfen, es würde das postkoloniale Projekt auf die historischen Gebiete der Habsburger Monarchie ausdehnen und somit Österreich-Ungarn als eine Kolonialmacht betrachten. Vgl. Reisenleitner, Markus: »Slashing Postcolonial Studies, or: Why this Debate still Bothers Me. A Response to Clemens Ruthner’s K.u.K. Kolonialismus als Befund, Befindlichkeit und Metapher« in Spaces of Identity 3/4 Dezember 2003, https://www.spacesofi dentity.net [Stand vom 31.07.2019]. Vgl. Kpao Sarè, Constant: Postkoloniale Erinnerungskultur in der zeitgenössischen deutschsprachigen Afrika-Literatur. Hamburg: Verlag Dr. Kovac, 2012, S. 50ff. Simons, Oliver: »Moderne«, a.a.O., S. 273ff. Zitiert wird aus folgender Auflage: Altenberg, Peter: Ashantee. Afrika und Wien um 1900. Hg. Von Kristin Kopp u. Werner Michael Schwarz. Wien: Löcker, 2008. Mehr dazu Kpao Sarè, Constant: »Das postkoloniale Potential der Literarisierung von Völkerschauen in der deutschsprachigen Literatur. Von »Ausstellungsnegern« zu Akteuren der interkulturellen Völkerverständigung«, in: Recherches Germaniques N° 45, Presses Universitaires de Strasbourg, 2015, S. 143–154. Vgl. Hammerstein, Katharina von: »›Neger sind Kinder‹. Wohlwollende Essentialisierung des Anderen in Peter Altenbergs Ashantee (1897)«, in: Valentin, Jean-Marie (Hg.): Divergente Kulturräume in der Literatur Band 9: Kulturkonflikte in der Reiseliteratur. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 2007, S. 145–151. Vgl. auch Besser, Stephan: »Schauspiele der Scham. Juli 1896, Peter Altenberg gesellt sich im Wiener Tiergarten zu den Aschanti«, in: Alexander, Honold u. Scherpe, Klaus R. (Hg.): Mit Deutschland um die Welt, a.a.O., S. 200–208.

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teratur der Moderne, wie der US-amerikanische Germanist Sander Gilman am Beispiel von Karl Kraus (1874–1936) einräumte.56 In Bezug auf die literarische Gestaltung der afrikanischen Dingwelt verdient allerdings eine andere Episode der Ashantee-Skizzen die Aufmerksamkeit des Rezipienten, nämlich das Kapitel mit dem Titel »Palawer (Rath der Männer)«.57 Es handelt sich ums Abschiednehmen von Wien. Die afrikanischen Männer (Nôthéi, Adû, Kwakû und Bôdjé) beraten sich und denken sich ein ganz besonderes Geschenk für den Direktor des Gartens aus. Die Tatsache, dass der Direktor namenlos bleibt und alle Afrikaner beim Namen erwähnt werden, stellt bereits einen Bruch mit den bekannten Schreibhaltungen dar. Diese Repräsentation der »Ausstellungsneger« kann aus postkolonialer Sicht zu Argumenten in Beziehung gesetzt werden, welche die Interessenlage der angeblich passiven »gezähmten Wilden«58 immer mehr in den Vordergrund stellen.59 Denn Repräsentation bedeutet im postkolonialen Sinne auch literarische Stimmgebung an die im Kolonialdiskurs kaum vernehmbaren ›Subalternen‹ der Peripherie.60 In diesem Sinne darf man auch die Geste der Afrikaner – das Mädchen als Geschenk – nicht im Kontext der oben erwähnten erotisierenden Essentialisierung des ›Anderen‹ verstehen, sondern vielmehr als eine Form diskursiver Subversion. Die freundliche Geste der Afrikaner darf nicht als reines Geschenk betrachtet werden; sie ist das trojanische Pferd der Subversion, definiert als jenes »›vermeintliche Geschenk‹ [das] an bestehende Diskurse [anknüpft], diese aber ›gegen den Strich‹ [bürstet]«.61 Im vorliegenden Fall artikuliert das Geschenk der Afrikaner (ohne Anführungszeichen) eine Antwort auf das oben denunzierte Verhalten des Hauptprotagonisten Peter A.; denn, nicht dem erotisch-interessierten Peter A. wurde das Mädchen angeboten, sondern dem Tiergarten-Direktor für die erfolgte Dienstleistung. Auf die Besorgnisse des Mädchens Tioko, die wissen wollte, ob Peter A. davon weiß, antworten die Männer: »Was kümmert es Diesen?! Der Palaver hat 56

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Gilman, Sander L.: »Black Sexuality and Modern Consciousness«, in: Grimm, Reinhold u. Hermand, Jost (Hg.): Blacks and German Culture. Essays. Madison: University of Wisconsin Press, 1987, S. 35–53, hier S. 45. Altenberg, Peter: Ashantee, a.a.O., S. 63ff. Ausdruck bei Dreesbach, Anne: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung »exotischer« Menschen in Deutschland; 1870 -1940. Frankfurt a.M. u.a.: Campus, 2005. Die Historikerin Rea Brändle zeigt am Beispiel der Figur Nayo Bruce aus Togo, dass er »von Anfang an wusste, worauf er sich einlassen würde«, Brändle, Rea: Nayo Bruce. Geschichte einer afrikanischen Familie in Europa. Zürich: Chronos, 2007, S. 11. Zu dieser Argumentationsrichtung, vgl. auch Lewerenz, Susann: Geteilte Welten. Exotisierte Unterhaltung und Artist*innen of Color in Deutschland 1920–1960. Köln u.a.: Böhlau, 2017. Vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S. 224. Trabert, Florian: »Strategien der Subversion in Wolfgang Koepsens Roman Der Tod in Rom«, in: Sepp, Arvi u. Martens, Gunther: Gegen den Strich: das Subversive in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Münster u.a.: LIT, 2017, S. 39–52, hier S. 39.

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beschlossen. Go!«.62 Spätestens zu dieser Zeit sollte dem Rezipienten klar werden, dass die vermeintlichen Exponate sich gegen den geringschätzenden Blick wehren wollen. Sie tun dies, indem sie das, was sie als Eigenarten der Deutschen vernehmen, ins Lächerliche ziehen. Wenn man diese subversive Form ins Spiel bringt, wird die Funktion der afrikanischen Dinge deutlich. Denn nachdem der Direktor des Gartens das Angebot abgelehnt hatte, wurden ihm zwei Objekte angeboten: Eine Vogel-Flinte und ein kleiner afrikanischer Holzschemel. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass der europäische Geschäftspartner und diskursive Kontrahent diesem Angebot mit der bekannten herabsetzenden Perspektive zu begegnen versucht. Er bringt folgenden klischeehaften Exotismus-Gedanken ein: Der inhumane Schwarze würde die Frau durch eine Flinte ersetzen wollen, wohingegen er selber dem diskursiven Topos gerecht wird, den Spivak folgendermaßen formuliert: »Weiße Männer retten braune Frauen vor braunen Männern«.63 Abgesehen von dieser Selbstbestätigung des westlich-imperialistischen Stereotyps übersieht der westliche Beobachter hier die diskursive Strategie, die die Afrikaner verwenden. Ihm kann man mit demselben impliziten Verweis konfrontieren, mit dem sich Homi Bhabha Franz Fanons Schwarze Haut, weiße Masken64 entgegenstellte, nämlich, dass er die subversive Perspektive des Kolonisierten übersieht.65 Denn dem westlich-europäischen Zoo-Direktor wird die zersetzende Strategie der Afrikaner immer noch nicht suspekt, und er übersieht den dem Ding (der Flinte) innewohnenden subversiven Hintergrund. In der Folge der Geschichte wird das subversive Potential der materiellen Kultur der Afrikaner auffallend. Im Text werden die jeweiligen Dinge nämlich als eigensinnige Akteure erläutert, die den kolonisierten Subjekten, den Ausstellungsexponaten, mit ihren eigenen Konnotationen gegenübertreten. Die Ding-Wörter sind weniger Motive als Metaphern mit ihrem jeweiligen verborgenen Sinn. Zum Beispiel die Vogelflinte: Der »Ausstellungsneger« Bôdjé hatte mit der Vogelflinte den Reiher-Milán getötet. Die Flinte gilt in der europäischen Jagdkultur als Symbol der menschlichen Macht über die Natur (durch den Milan versinnbildlicht), wobei das Loswerden derselben eine Befreiung, ein Leben in der Freiheit, bedeutet. Einer Anekdote zufolge soll Goethe (1749–1832) auf einer Jagd abgelehnt haben, dem Herzog Carl August (1757–1828) beim Tragen seiner Flinte zu helfen, als Letzterer vorgab, er sei müde gewesen. Kurz danach soll er dem Herzog seine eigene Flinte in die Hand

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Altenberg, Peter: Ashantee, a.a.O., S. 66. Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien, Berlin: Turia + Kant, 2008, S. 78. Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken, a.a.O. Vgl. Bhabha, Homi K.: »Von Mimikry und Menschen. Die Ambivalenz des kolonialen Diskurses«, in: Ders.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S. 125–136, hier S. 130.

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gedrückt haben, »verschwand im Gebüsch und ließ sich nicht mehr blicken«.66 Dieses Verhalten Goethes illustriert, dass das Leben ohne diese Jagdflinte ein Leben in der Freiheit bedeutet. Und überhaupt ist das Besitzen der Jagdflinte eine große Ehre. Goethes Figur Wilhelm Meister bekommt ein solches Jagdgewehr von seinem Vater als Erbe und gab es seinem Enkel (dem Sohn seiner Schwester) weiter, damit »aus seiner Jagdtasche schon wieder Hühner herausfallen«.67 Dass Bôdjé, ein afrikanisches Exponat der Völkerschau, ein solches Jagdgewehr besitzt, spricht dafür, dass er in Altenbergs Schreibhaltung keineswegs als ein »Alibi-Ausstellungsneger« gilt. Bôdjé hat nicht nur das europäische Ding besitzen dürfen; sondern er hat auch den Reiher-Milán damit getötet. Eine Parallele zu der oben erwähnten Anekdote über Goethe und den Herzog zeigt, dass das Geschenk, das der Afrikaner Bôdjé macht, eigentlich ein Loswerden der europäischen Eigenart bedeutet. Satt einer Nachahmung der Jagdstrategie entpuppt sich der Besitz des europäischen Dings als Mimikry, d.h. mit Homi Bhabha als scheinbare Nachahmung, wodurch der Kolonisierte die hegemoniale Kultur des Kolonialherrn subversiv unterwandert.68 Was das zweite Geschenk, nämlich den afrikanischen Holzschemel angeht, wird es dem Tiergarten-Direktor nicht durch die Männer überreicht, sondern durch die empfindsamen Frauen. Tiokos Mutter erklärt ihre Geste wie folgt: »Wir geben Dir als Dash (Geschenk) diesen kleinen afrikanischen Holzschemel, auf welchem unsere Tochter Tioko zu sitzen liebte und zu weinen. Wir schenken es dir in Erinnerung daran, dass du unsere Tochter einst geliebt hast«.69 Man versteht, dass das afrikanische Ding die Tränen der Frau aufzunehmen und zu symbolisieren hat. In einer ähnlichen emotionsbeladenen Episode sagt der reiche Baron Eduard in Goethes Roman Wahlverwandtschaften (1809) über weinende Männer: »Tränenreiche Männer sind gut«.70 In Ashantee schickt Mama of Tioko, so heißt sie im Text, nicht nur die Botschaft »tränenreiche Frauen sind gut«; sie hebt die Emotionalität der afrikanischen Frau hervor. In den narrativ evozierten Emotionen erscheint der Holzschemel als Zeuge der Gefühle ihrer Tochter. Die weibliche Seele symbolisiert, wie die Literaturwissenschaftlerin Urte Helduser zeigt, in Altenbergs Ashantee die Moderne »im Sinne des Kommenden, Zukünftigen«.71 Während das erste Geschenk, die ge66 67 68 69 70 71

Dazu Ebersbach, Volker u. Siekmann, Andreas: Anekdoten über Goethe und Schiller. Weimar, Weimarer Taschenbuch Verlag, 2005, S. 32. Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. (1795/96) Roman. Frankfurt a.M.: Fischer, 1999, S. 433. Vgl. Bhabha, Homi K.: »Von Mimikry und Menschen. Die Ambivalenz des kolonialen Diskurses«, in: Ders.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S. 125–136. Altenberg, Peter: Ashantee, a.a.O., S. 68. Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften (1809), München: dtv, 1963, S. 121. Helduser, Urte: Geschlechterprogramme. Konzepte der literarischen Moderne um 1900. Köln u.a.: Böhlau, 2005, S. 319.

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nuin europäische Flinte, als Ding der Lieblosigkeit erscheint, als ein Objekt, von dem man sich befreit, um zur Freiheit zu gelangen, erscheint das zweite Geschenk, der afrikanische Holzschemel, als Ding der Liebe, von dem man sich trennt, um seine Liebe zu zeigen. Somit bekommt das afrikanische Ding eine stimmgebende Funktion. Es hilft dem ›Subalternen‹ dabei, zu sprechen und vom europäischen »Anderen« gehört zu werden (um mit Spivak zu sprechen72 ). Die postkolonialsymbolische Funktion des afrikanischen Dings wird ohne weiteres evident. Neben Altenberg kann im Zusammenhang mit dem postkolonialen selbstreflexiven Schreiben in der Literatur der Moderne der deutsche Marineoffizier und Schriftsteller Hans Paasche (1881–1920) auch erwähnt werden. Im nächsten Abschnitt soll seine kolonialkritische Gestaltung der afrikanischen Dingwelt untersucht werden.

3.3 Hans Paasche: Pombe, das Bier-Ding Der Antimilitarist und Pazifist Kurt Tucholsky (1890–1935) schreibt in einem Totengedicht, dass Hans Paasche73 den preußischen Geist aus dem Heer und aus den Kolonien gekannt habe, davon aber nichts mehr wissen wollte.74 Paasche gilt als der Wortführer der bürgerlichen Lebensreformbewegung des 20. Jahrhunderts, der »unterm Tropenhimmel frei werden«75 wollte. In seinem Reisebericht Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins Innerste Deutschland76 prangert er das westliche Fortschrittskonzept an. Dabei handelt es sich um neun (9) fiktiv verfasste Briefe, die zuerst 1912/13 in der gesellschaftskritischen Zeitschrift Der

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In ihrem Kult-Essay »Can the subaltern speak?« thematisiert Spivak die Unmöglichkeit für die vom dominanten westlichen Diskurs ausgeschlossene »subalterne« Frau, sich selbst zu repräsentieren. Vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern speak? (1985). In: Morris, Rosalind C. (Hg.): Can the subaltern speak? Reflections on the history of an idea. New York: Columbia University Press, 2010, S. 21ff. Zu seinem Leben und Werk, vgl. Lange, Werner: Hans Paasches Forschungsreise ins Innerste Deutschland. Eine Biographie. Mit einem Geleitwort von Helga Paasche. Bremen: Donat, 1995, S. 257ff. Tucholski, Kurt: Paasche, in: Die Weltbühne 23 vom 3. Juni 1920, S. 659. Zitiert nach Greis, Friedhelm u. King, Ilan: Der Antimilitarist und Pazifist Tucholsky. St. Ingbert, Röhrig, 2008, S. 113. Baer, Martin u. Schröter, Olaf: Eine Kopfjagd. Deutsche in Ostafrika. Spuren kolonialer Herrschaft. Berlin: Links, 2001, S. 141–144. Zitiert wird aus folgender Auflage: Paasche, Hans: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins Innerste Deutschland. (1912/1913) Hg. von Franziskus Hähnel. Augsburg: Goldmann, 1989. Dieses Buch wird am meisten analysiert, aber Hans Paasches hat viele andere Afrikabücher geschrieben: Im Morgenlicht (1907); Das verlorene Afrika (1919); Was ich als Abstinent in den afrikanischen Kolonien erlebte (1911).

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Vortrupp erschienen sind. Offensichtlich erfreuen sich die Briefe einer rezeptionsgeschichtlichen Dauerdynamik, was editionsgeschichtlich auch bis heute eine quasi ununterbrochene Produktion als Folge hat.77 Dementsprechend wurde das Buch auch in der interkulturellen und postkolonialen Forschungsliteratur durch allerlei Themenschwerpunkte analysiert, nämlich als interkulturelles Werk,78 Dekonstruktion des Exotismus79 , Plädoyer für einen Perspektivwechsel in den europäischen Kulturkontakten mit überseeischen Territorien80 etc. In Bezug auf die postkoloniale Ästhetik der Stimmgebung, d.h. – mit Homi K. Bhabha gesprochen – der Möglichkeit des literarischen Textes, den marginalen Stimmen eine »narrative Autorität«81 zu geben, kann der Text als ein gutes Vorbild fungieren. Denn der Sprecher ist kein europäischer Referent, sondern ein beobachtender »Exot«, der Afrikaner Lukanga Mukara, der in Deutschland eine Forschungsreise unternimmt und sich über die wilhelminische Gesellschaftsform, Sitten und Unsitten mokiert. So entfernt sich die Erzählung antizipatorisch von der in postkolonialen Studien viel kritisierten Struktur der Einstellung und Referenz, die, wie Edward Said schreibt, das europäische auktoriale Subjekt ermächtigt, den ehemaligen kolonisierten Territorien »Autonomie oder Unabhängigkeit zu verweigern«.82 Diese kolonialkritische Perspektive wird in Paasches Text durch seine differenzierte Modellierung der afrikanischen und europäischen materiellen Kultur sichtbar. Diese soll hier ausführlich zitiert werden, weil sie in den kolonialkritischen Zügen der afrikanischen Dinge mehr Licht bringen: Ich erinnere Dich an das Gespräch, das Du mit dem Sungu hattest, der Dich besuchte. Der Sungu schrieb in sein Buch und sagte: »Hier stehen also zehn Hütten.« Du sagtest ganz erschrocken: »Zehn? Nein, Herr, einige; vielleicht viele.« Da ging

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Selbst ein flüchtiger Augenschein in den Bibliothekskatalogen zeigt hierzu viele Editionen in Buchform und Hörbücher. Neuverlegt wurde das Buch in folgenden Verlagsorten: HamburgBergedorf (1927); Berlin: Hartmann (1955); Münster (1979); Berlin: Jakobsohn (1980); Osnabrück (1982); Bremen: Donat (1984, 1993, 1995, 1998, 2010) usw. Dazu kommt das Hörbuch Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins Innerste Deutschland. 2 Audio CD1, Komplett-Media (2006). Nengui, Pierre Kodjio: »Interkulturalität, Modernisierung und Nachhaltigkeit: Eine postkoloniale Lektüre von Hans Paasches Werk«, in: Monatshefte Vol. 103, Nr. 1, University of Wisconsin Press, 2011, S. 36–59. Dazu Mayer, Michael: »Tropen gibt es nicht«. Dekonstruktion des Exotismus. Bielefeld: Aisthesis, 2010, S. 244ff. Vgl. Puschner, Uwe: »Perspektivwechsel. Hans Paasches Forschungsreise … ins Innerste Deutschland«, in: Noack, Stefan; Gemeaux, Christine de u. Puschner, Uwe (Hg.): Deutschostafrika. Dynamiken europäischer Erfahrungshorizonte und Kulturkontakte im kolonialen Raum. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 2019, S. 145–160. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S. 224. Said, Edward W.: Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 267.

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der Sungu hinaus und zeigte mit dem Finger auf jede Hütte und sagte laut: »Eins, zwei, drei …« […] Erschrocken sagte er zu Dir: »Sind es denn nicht zehn?« Du […] sagtest: »Herr, eine Hütte ist zum Wohnen da; weiß man von außen, ob sie leer steht? Oder, wenn Menschen darin wohnen, ob mit ihnen das Glück dort wohnt? Auch ist es eigentlich keine Hütte; denn die Wahutu haben Stangen aus dem Kabegewald geholt und trockenes Gras von den Bergen, wo keine Rinder weiden, und das nennst Du, wenn es dort steht, eine Hütte. Aber es kann abbrennen, und dann ist es nicht mehr da oder der Bewohner wird auf dem Berge beim Hüten der Rinder verwundet und kann nicht heim, dann ist es für ihn keine Hütte. Deshalb ist es ein Irrtum, wenn Du die Hütten zählst […]« Da sagte der Sungu, indem er hochmütig lächelte: »Ihr seid eben ungebildet und abergläubisch; ich werde euch mal Missionare schicken, die euch den rechten Glauben und das Zählen beibringen, damit Ihr ein nützliches Kulturvolk werdet und euch am Weltmarkt beteiligt […]«83 Im Gegensatz zum Verleger der Bielefelder Auflage, der hierbei eine lustige Kritik an der Mentalität der »Zahlenkarle«84 sieht, hat Sylvie Nantcha ausführlich aufzeigt, dass Paasche eher vorführt, wie sehr sich die afrikanische »logozentrische« materielle Kultur »nach Äußerem« richte, während die deutsch-europäische »semiotische« Kultur sich »nach den bedeutungstragenden Einheiten« orientiere.85 Im Gegensatz zu dieser Argumentationslinie soll im Folgenden auf ein ganz besonderes Ding eingegangen werden, nämlich das Bier. Bei dieser literarischen Modellbildung des afrikanischen Dings, soll gezeigt werden, dass Paasche das Bezeichnende (signifiant) aus einer afrikanischen Sprache übernimmt, um das europäische Bezeichnete (signifié) zu beschreiben. Das deutsche Bier heißt nämlich Pombe. Wer sich übrigens fragt, ob man sich mit dem »Bier« noch im Feld der Dingforschung befindet, dürfte erstmals einen Blick in die neueren Studien über die ›Dingmärchen‹ werfen. Dort hat die Märchenforscherin Mona Körte neulich auf eine beachtenswerte Art und Weise herausgearbeitet, wie sehr eine unheimliche Häuslichkeit wie das Bier einen ›dinglichen Eigensinn‹ bekommt. Sie erwähnt das treffende Beispiel der Figuren Läuschen und Flöhchen, aus dem gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm, welche Bier in einer Eierschale brauen.86 Ihr muss man aus gutem Grund zustimmen, wenn man Forschungen aus der Mediävistik im Kopf behält, welche

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Paasche, Hans: Die Forschungsreise, a.a.O., S. 68. Paasche, Hans: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins Innerste Deutschland. Hg. von Franziskus Hähnel. 4. Aufl. Werther bei Bielefeld: Fackelreiter, 1923, S. 55. Vgl. Nantcha, Sylvie: Interdisziplinarität – Kulturtransfer – Literatur: Afrika-Wahrnehmungen in ausgewählten deutschsprachigen Reisewerken von de Kolonialzeit bis zur Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009, S. 144. Körte, Mona: »Volks- und Kunstmärchen«, in: Scholz, Susanne u. Vedder, Ulrike (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, a.a.O., S. 214–221, hier, S. 220.

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aufzeigen, dass das Bier typisches Beispiel vom Kult der Dinge im Mittelalter gewesen sei.87 Über die Funktion des Biers in der Mentalität der wilhelminischen »Übergangsmenschen«88 äußert Paasches Romanheld Lukanga im siebten Brief die folgenden Ansichten, die es verdienen, ausführlich zitiert zu werden, weil sie bei genauerem Hinsehen die kolonialkritische Perspektive des Textes gleichsam veranschaulichen: Was sie [die Deutschen] trinken ist Pombe, ein Rauschgetränk von verschiedener Farbe. Es ist nicht erlaubt, Saft zu trinken, der frei ist von Rauschgeist, ja es ist Pflicht eines jeden, möglichst viel Rauschgift zu trinken, und wer an diesem Tage seines Verstandes mächtig bleibt, gilt als einer, der treulos dem Könige die Achtung versagt, die ihm gebührt. So sehr missverstehen sie ihren König, dass sie ihn, der Enthaltung vom Rauschgift fordert, durch Hineingießen ehren wollen. Das Getränk ist so wichtig, dass an diesem Tage von nichts anderem gesprochen werden darf, als von der Art, Farbe, Menge, Wärme des Getränkes, von der Art, wie man es hineingießt, und wie man es wieder von sich gibt. Nur einmal darf vom Könige gesprochen werden […]89 Die Interpretation, die Körte von den oben erwähnten Dingmärchen macht, kann für diesen Textauszug geltend gemacht werden. Sowie das Grimms Märchen mit einer tödlichen Katastrophe aller Beteiligten endet, genauso werden in der beschriebenen Bier-Szene alle Deutschen ausnahmslos zum Saufen verdammt, denn es sei Pflicht, möglichst viel Rauschgift zu trinken. Erkennbar wird die Kritik an der verderbten, vermeintlich »zivilisierten« Gesellschaft. Der Brief trägt den vielsagenden Titel »Wie die Deutschen ihren König feiern«90 und handelt, wie Paasche im Fußnotentext präzisiert, von einer Kaisergeburtstagsfeier.91 Die Tatsache, dass der Kaiser nicht mit Ruhm bedeckt wird und sein Name nur einmal erwähnt wird, lenkt die Aufmerksamkeit des intendierten deutschsprachigen Lesers auf die Vergöttlichung des Biers zu Ungunsten des Kaisers. Dies wiederum steht im Kontrast zu der implizit signalisierten Vergötterung des afrikanischen Königs Ruomo, des Briefempfängers. Letzterer soll beobachten, wie sehr die Materialität in Deutschland Vorrang besitzt, während bei ihm in Afrika der Respekt vor dem König noch als eine positive Sitte gilt. Gleichzeitig wird rezeptionsästhetisch dem deutschen Leser vor Augen geführt, dass diese »dekadente« Lebensform nicht als Vorbild für die kolonisierten

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Mehr dazu siehe Trentmann, Frank: Herrschaft der Dinge, a.a.O., S. 38. So bezeichnet Doerry im Allgemeinen die von Paasche hier kritisierte Mentalität der Wilhelminer. Vgl. Doerry, Martin: Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs. München u. Weinheim, Juventa, 1986. Paasche, Hans: Die Forschungsreise, a.a.O., S. 77f. Ebd., S. 75. Ebd., S. 75.

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Afrikaner gelten könne. Die Merkmale des Biers werden nämlich in folgender Reihenfolge aufgezählt: Die Art, die Farbe, die Menge und Wärme. Diese Merkmale, die mehrmals im Brief in der gleichen Reihenfolge wiederholt werden, wirken quasi wie eine Klimax mit einer Steigerung, deren bedeutsamste Stufe die Wärme ist. In der Logik des Textes führt diese Suche nach Wärme nicht zum Vorbild Afrika, sondern mündet in eine sittenlose Konsumgesellschaft. Interessant für unsere Argumentationslinie sind allerdings nicht die Sittenschilderungen und die Kritik an der Konsumgesellschaft, sondern vielmehr die erwähnte Materialität des Biers und ihr postkoloniales Potential. Denn der Text findet eine zusätzliche problematische Dimension darin, dass das Ding »Bier« eine subversive Perspektive vorweist. Das Ding heißt nicht von ungefähr »Pombe«. Während der Autor andernorts Bezeichnungen für afrikanische Dinge in Fußnoten erläutert,92 geht er davon aus, dass der Leser das Wort »Pombe« kennt. Wenn man im Hinterkopf behält, dass das ostafrikanische Lokalbier »Pombe« in etlichen Reiseberichten von verschiedenen Forschungsreisenden Erwähnung fand,93 ist die Vermutung zutreffend, dass der eigentliche Adressat des Textes der zeitgenössische Kolonialkreis war. In der Tat weiß man, dass der deutsche Reichskommissar in Deutsch-Ostafrika Hermann von Wissmann (1853–1905) eine wichtige Rolle bei der Entdeckung dieses Lokalbiers durch die deutsche naturwissenschaftliche Forschung gespielt hatte. Wissmann hat das Interesse seiner Schutztruppe für das Lokalbier bemerkt und beauftragte infolgedessen 1890 Dr. Oscar Saare – bekannt für sein Buch Die Fabrikation der Kartoffelstärke (1879)94  – mit der Erforschung des Alkoholgehalts vom genannten Bier.95 Stellt man sich Fragen nach den Gründen

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Etwa »Matama« für »Negerhirse«, Paasche, Hans: Die Forschungsreise, a.a.O., S. 67. Vgl. Frobenius, Leo: Dichten und Denken im Sudan. München u.a.: Diederichs, 1925, S. 344; Tessmann, Günther: Die Baja, ein Negerstamm im mittleren Sudan: Materielle und seelische Kultur (1914). Neuauflage. Stuttgart: Strecker und Schröder, 1937, S. 61; Krapf, Johann Ludwig: Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837–1855: Zur Beförderung der afrikanischen Erd- und Missionskunde. Teil 2. Selbstverlag, 1858, S. 127. Vgl. Saare, Oscar: Die Fabrikation der Kartoffelstärke. Berlin: Julius Springer, 1879. Dr. Oscar Saare schreibt: »Auf Veranlassung des Reichskommissars, Herrn Major von Wissmann, war eine Probe eines Bieres, wie solches die deutschostafrikanischen Neger aus Hirse herstellen und mit ›Pombe‹ versehen, untersucht worden«, in: Vierteljahresschrift über die Fortschritte auf dem Gebiet der Chemie der Nahrungs- und Genussmittel, der Gebrauchsgegenstande sowie der hierher gehörenden Industriezweige. Band 5. Hg. von Albert Hilger. Berlin: Julius Springer, 1891, S. 330. Vgl. auch Bericht von Oscar Saare, in: Wochenschrift für Brauerei, Nr. 7, 1890, S. 534f. Für die weitere naturwissenschaftliche Forschungsgeschichte des Nährstoffes siehe König, Joseph: Die menschlichen Nahrungs- und Genussmittel, ihre Herstellung, Zusammensetzung und Beschaffenheit, nebst einem Abriss über die Ernährungslehre. Band 2: Von der Chemie der menschlichen Nahrungs- und Genussmittel. Wiesbaden: Springer, 2013, S. 1174. Vgl. auch Lindner, Paul: »Schizosaccharomyces Pombe nova species, ein neuer Gärungserreger«, in: Wochenschrift für Brauerei, Nr. 10, 1893, S. 1298–1300.

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dieser wissenschaftlichen Untersuchung, so kann man an die vormalig sozialdarwinistische Vermessung Afrikas denken, welche darauf abzielte, vor dem Konsum des Lokalbiers zu warnen. Eine andere Hypothese hierfür wäre auch das wirtschaftliche Interesse des deutschen Marktes am Bier im Allgemeinen: In den 1880er Jahren soll man in Deutschland überraschenderweise siebenmal so viel Bier wie Kaffee getrunken haben.96 Vorstellbar wäre die Annahme, dass Wissmann an einem Export des Lokalbiers nach Europa interessiert war. Was auch der Beweggrund des Reichskommissars immer gewesen sein mag, kann wohl davon ausgegangen werden, dass Paasche diesen Sachverhalt kritisieren wollte. Man kann sich leicht vorstellen, dass sein Diskurs über die Veredelung der Lebensführung eigentlich vorrangig an diesen Kolonialkreis gerichtet war. Denn in diesem Kontext dürfte das Wort »Pombe« als eine Selbstverständlichkeit gehalten werden und bräuchte in Paratexten nicht weiter erklärt zu werden. Im Sinne der Dingforschung kann es nicht ausbleiben, dass es sich im vorliegenden Text eigentlich nicht um das exotische ostafrikanische Bier handelt, sondern um das echte deutsche Bier mit seinem stolzen Reinheitsgebot. Die semantisch und funktional herbeigeführte Entfremdung des Bieres kann zwar komisch klingen, aber sie illustriert zugleich die Kontrollverlust über das Ding. Wer jetzt denkt, der Briefschreiber versuche, durch diese komische Bezeichnung »Pombe« dem König Ruomo in der Sprache zu sprechen, die er versteht, hat die rezeptionsästhetische Seite des Textes außer Acht gelassen. Denn der Adressat des Textes, der wahre intendierte Leser, war nicht irgendein König im heutigen Uganda, sondern der deutschsprachige Leser des wilhelminischen Kaiserreiches. Die Präferenz des Autors für diese afrikanische Bezeichnung trägt eine stimmgebende Funktion. Demgemäß lässt sich die Benennung des deutschen Biers unmittelbar zur oben erwähnten Macht des Sprechers im literarischen Text in Beziehung setzen. Klarer: Wäre der Sprecher Europäer, wäre dem Leser diese Bezeichnung »Pombe« sicherlich erspart geblieben. Welcher Deutsche käme auf die Idee, selbst in der fiktiven Welt, irgendeine deutsche Biersorte mit einem ähnlichen abwertenden Namen eines exotischen Biers zu bezeichnen? Zwar kann man aus heutiger Sicht und mit den heutigen Erkenntnissen das Exotische im Wort »Pombe« in Abrede stellen, wenn man seine interessante Entwicklung in der Mikrobiologie kennt, die es zu einem Nobelpreis 2001 gebracht hat.97 Diese Entwicklungsgeschichte vom »Pombe« konnte Paasche aber schwer ahnen. Insofern muss es dabeibleiben: Mit Paasches Bezeichnung des deutschen Biers als »Pombe« entfaltet sich der subversive Impetus. Denn diese kulturbe-

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Vgl. Trentmann, Frank: Herrschaft der Dinge, a.a.O., S. 225. Der britische Biochemiker Paul Nurse erhielt 2001 den »Nobelpreis für Physiologie oder Medizin« für seine »Arbeiten mit S. Pombe«, eine Entwicklung der Spalthefe »Schizosaccharomyces Pombe« aus dem ostafrikanischen Bier »Pombe«. Dazu Knippers, Rolf: Eine kurze Geschichte der Genetik. Wiesbaden: Springer, 2012, S. 170.

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wusste Ausdrucksfähigkeit, die eine Dingverfremdung (Bier als ein Ding aus einer anderen Welt) beinhaltet, relativiert zumindest sprachlich die europäische diskursive Hegemonie. Ein dritter deutschsprachiger Schriftsteller, der im Zusammenhang mit dem postkolonialen selbstreflexiven Schreiben in der Literatur der Moderne erwähnt werden kann, ist der engagierte Autor Franz Jung (1888–1963), der der deutschen Avantgarde nahestand. Auch bei ihm lässt sich eine kolonialkritische Modellierung der afrikanischen Dinge herausarbeiten.

3.4 Franz Jung: Morengas ›primitive‹ Kriegsdinge In seiner Analyse der sakralen Objekte in Afrika argumentiert der Ethnologe KarlHeinz Kohl wie folgt: Die bronzenen Gedenkköpfe aus dem Königreich Benin […] hatten damals unter den europäischen Kunstexperten deshalb so großes Aufsehen erregt, weil sie in der Vollkommenheit ihrer Ausführung den Vergleich mit antiken Kunstwerken nicht zu scheuen brauchten und hinsichtlich ihres Realismus als kongeniale Schöpfungen galten.98 Hat diese Kongenialität der Dinge ihre Gestaltung durch die deutschsprachigen Expressionisten erleichtert? Ralf Georg Bogner, ein Kenner dieser literarischen Strömung, sieht in dem vor allem im frankophonen Raum hervortretenden Surrealismus und seiner Tendenz zur Aufhebung der Differenz von Kunst und Leben eine Fortführung der Ideen des Expressionismus. »Die deutschsprachige Literatur dieser Epoche ist somit als ein wichtiges Moment einer internationalen kulturellen Erneuerungsbewegung zu begreifen«,99 schreibt er. Dass afrikanische Dinge zu Elementarteilchen der deutschsprachigen literarischen Moderne geworden sind, kann sich schwer ohne die kolonialkritische Perspektive der Avantgarde erklären lassen.100 Neulich wurde sogar einen Zusammenhang zwischen der avantgardistischen Kritik der Moderne und Edward Saids Postkolonialkritik.101 Angesichts ihrer kritischen Der kritischen Hinterfragung des Eurozentrismus durch die Avantgardisten ist zu verdanken, dass beispielsweise der Vernichtungskrieg gegen die

Kohl, Karl-Heinz: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte. München: Beck, 2003, S. 26. 99 Bogner, Ralf Georg: Einführung in die Literatur des Expressionismus, a.a.O., S. 19. 100 Dazu N’guessan, Bechie Paul: Primitivismus und Afrikanismus, a.a.O. 101 Vgl. Sweet, David LeHardy: »Edward Said and the Avant-Garde«, in: Gbazoul, Ferial J.: Edward Said and Critical Decolonization. Cairo: American University in Cairo Press, 2007, S. 149–176. 98

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Herero und die Nama (1904–1908)102 bereits im Deutschen Reich denunziert wurde. Einer dieser Autor*innen, die der deutschen Avantgarde nahestand, war Franz Jung (1888–1963), der auch als der »vielleicht wichtigste Autor engagierter Prosa des Expressionismus«103 gilt. Der Börsenjournalist, revolutionärer Aktivist, Mitherausgeber der für die literarische Avantgarde wichtigen Zeitschrift Freie Straße und expressionistischer Roman- und Theaterautor meldete sich 1914 freiwillig als Soldat im Ersten Weltkrieg, desertiert allerdings im gleichen Jahr vermutlich aus kultur- und gesellschaftskritischer Überzeugung.104 Else Lasker-Schüler (1869–1945) widmete Franz Jung ihr Gedicht Zebaoth (1916) und schreibt ihm wortwörtlich: »Nur Sie könnten noch auf Erden zwei große Flügel tragen und Städte schützen und gut sein«.105 Eigentlich widmen sich Lasker-Schülers Texte dem kulturellen Zentrum des Orients; dennoch verbindet beide offensichtlich nicht nur die Jugendfreundschaft, sondern auch die Suche nach dem Exotismus im Expressionismus. In Franz Jungs knapp dreieinhalb Seiten umfassender Erzählung Morenga von 1913106 entfaltet sich jener subversiv gemeinte Exotismus, wie hier zu zeigen sein wird, durch seine Modellierung der afrikanischen Dinge. Zum behandelten Stoff muss noch erwähnt werden, dass Uwe Timm offensichtlich nicht von Franz Jungs Erzählung wusste, als er seinen Roman Morenga (1981) schrieb;107 was nicht gesagt haben will, dass es keine intertextuellen Bezugnahmen zwischen den beiden Texten gibt.108 Stefan Hermes hat ausführlich herausgearbeitet, dass Franz Jungs Text zu der deutschen Avantgarde gehörte, und Gun-

102 Zum Genozid in Namibia siehe Kuß, Susanne: »›In Strömen von Blut‹ Der deutsche Krieg gegen die Herero und Nama endet in einem Völkermord«, in: ZEIT Geschichte 4/19, 2019, S. 70–75. 103 Knapp, Gerhard P.: Die Literatur des deutschen Expressionismus. Einführung – Bestandsaufnahme – Kritik. München: München: Beck, 1979, S. 100. 104 Vgl. Rector, Martin: »Jung, Franz«, in: Lutz, Bernd (Hg.): Metzler Autoren Lexikon, a.a.O., S. 387–388. Vgl. auch Fähnders, Walter u. Hansen, Andreas (Hg.): Vom »Trottelbuch« zum »Torpedokäfer«. Franz Jung in der Literaturkritik 1912–1963. Bielefeld: transcript, 2003. 105 Zitiert nach Brandt, Marion: »Chaos, Kosmos und Konzert. Zum Erlösungsmotiv im Werk Else Lasker-Schülers«, in: Siebenpfeiffer, Hania u. Wölfel, Ute (Hg.): Krieg und Nachkrieg: Konfigurationen der deutschsprachigen Literatur (1940–1965). Berlin: Erich Schmidt, 2004, S. 183–198, hier S. 192. 106 Jung, Franz: Morenga. (1913) In: Raabe, Paul (Hg.) Ich schneide die Zeit aus. Expressionismus und Politik in Franz Pfemferts »Aktion«, 1911 – 1918. München: dtv, 1964, S. 154–157. 107 Bemerkung bei Packendorf, Gunther: »Der erste Morenga«, in: Annas, Rolf (Hg.): Deutsch Als Herausforderung. Fremdsprachenunterricht und Literatur in Forschung und Lehre: Festschrift für Rainer Kussler. Stellenbosch: SUN Press, 2004, S. 175–185, hier S. 175. 108 Hermes, Stefan: »Bewältigungsversuche. Die wilhelminische Herrschaft über Südwestafrika in der deutschsprachigen ›postkolonialen Literatur‹«, in: Hofmann, Michael u. Morrien, Rita (Hg.): Deutsch-afrikanische Diskurse in Geschichte und Gegenwart: Literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Amsterdam u.a., Rodopi, 2012, S. 125–150, hier S. 133.

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ther Packendorf hat die inhaltliche und stilistische Nähe des Textes zum Expressionismus aufgezeigt.109 Untersucht man diesen Text nach ›Dinglichkeiten‹, kann man leicht feststellen, dass die afrikanischen Objekte eine besondere Funktion haben. Farmers und Hereros stehen als Kontrahenten im Text, wobei die Konfrontation durch die eingesetzte materielle Kultur durchschaubar wird. Kaiser Wilhelm II. schickte seine »Soldaten über das Meer«110 mit »Maschinengewehren, Kanonen«,111 »Säbel«112 , »Haubitzen«113 und »Wagenburgen«.114 Die europäischen Farmer setzten ihr »Geld«115 ein. Die Kolonialmacht will die Herero für einen »Bahnbau«116 ausnutzen. Die Kritik an wilhelminischem Militarismus und kolonialen Größenwahn wird durch die Ablehnung dieser europäischen Dinge durch die einheimische Bevölkerung sichtbar. Die subversive Verweigerung der Subordination wird lakonisch formuliert: Die Hereros »wollen aber keine Bahn«.117 Um die Kolonialmacht zu bekämpfen setzten sie das ein, was sie laut dem Text besser können, nämlich Tierzucht und Jagd. Die hierzu erwähnten Dingsymbole sind: Hyänenfalle,118 Felsblock,119 Geröll,120 einen »giftiggelben Schleier«,121 »Steinwurf«,122 ein »Keil«123 etc. Die Tatsache, dass die Primitivität dieser afrikanischen Dinge in den Vordergrund gestellt wird, widerspiegelt weniger die exotischen Züge als die Funktion der Resistenz gegen die europäische materielle Kultur. Denn ihre ›Primitivität‹ ändert nichts an ihrer Fähigkeit, die kolonialen Machtapparate schädlich zu machen. Im Text heißt es: »Die Hereros sind nicht geboren, unter dem weißen Sklavenvolk zu arbeiten. […] Der Farmer Schnabel wird abgewürgt. Der Farmer Herde wird abgewürgt. Der Missionar Schmidt wird angeschossen«.124 Aus heutiger Sicht kann der Leser unmöglich nicht an die Intifada denken, nämlich an das in Medien geläufige Bild 109 Hermes, Stefan: »Fahrten nach Südwest«: die Kolonialkriege gegen die Herero und Nama in der deutschen Literatur (1904–2004). Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009, S. 87–95. Packendorf, Gunther: »Der erste Morenga«, a.a.O., S. 175–185. 110 Jung, Franz: Morenga, a.a.O., S. 154. 111 Ebd., S. 154. 112 Ebd., S. 154. 113 Ebd., S. 155. 114 Ebd., S. 155. 115 Ebd., S. 154. 116 Ebd., S. 154. 117 Ebd., S. 154. 118 Ebd., S. 154. 119 Ebd., S. 155. 120 Ebd., S. 155. 121 Ebd., S. 155. 122 Ebd., S. 155. 123 Ebd., S. 155. 124 Ebd., S. 154.

3 Das afrikanische Ding der literarischen Moderne

der Palästinenser, welche Steinwürfe gegen die Panzer der israelischen Militärherrschaft einsetzten.125 Die kolonialkritischen Züge in Jungs Erzählung werden ohne weiteres erkennbar. Am Ende des Textes entdeckt der aufmerksame Leser sogar eine antizipatorische postkoloniale Perspektive, denn die Erzählinstanz bemüht sich darum, den kritischen Horizont auf die Rezeption der erzählten Geschichte in Europa zu erweitern: Später war einmal ein Reisender in den Gegenden, in denen die zersprengten Reste des Hererostammes als Arbeiter angesiedelt worden waren. Der schrieb dann in die Tagesblätter: Die Männer sind überall faul und nehmen jede Arbeit nur mürrisch und gedankenlos an, und die Weiber sind so stupide, dass sie das Lächeln eines Weißen nicht einmal erwidern […]126 Gunther Packendorf identifiziert in diesem Textauszug die Herrenvolkmentalität als die Autorintention.127 Man muss darin auch die distanzierte metanarrative Dimension der Erzählung wahrnehmen, die die Realität der westlichen Berichterstattung bloßstellt und sich ästhetisch als eine Relektüre der Kolonialgeschichte präsentiert. In diesem Zusammenhang erscheint Jungs Schreibhaltung als eine Kritik an den sprachlichen Zuschreibungen des afrikanischen Subjekts (und Objekts) durch den westlichen Hegemoniediskurs. Eine ähnliche Kritik wurde vom postkolonialen Theoretiker Achille Mbembe in seinem Werk Postkolonie formuliert.128

3.5 Zusammenfassung Man kann die kolonialismuskritischen Züge der afrikanischen Dinge in der deutschsprachigen Moderne als literarisch inszenierte Wahrnehmungen sehen, deren Autorenintention sich die Aufmerksamkeitssteuerung über die Unmenschlichkeit des kolonialen Blicks zum Ziel setzt. Altenberg und Paasche aber auch Jung schlagen antikoloniale Reflexionen vor und betrachten ihre Schreibhaltung als eine »subjektive Wahrnehmung der Dingwelt«.129 Altenbergs Vogelflinte und

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Vgl. Schreiber, Friedrich: Aufstand der Palästinenser. Die Intifada. Fakten und Hintergründe. Opladen: Leske & Budrich,1990. Jung, Franz: Morenga, a.a.O., S. 157. Packendorf, Gunther: »Der erste Morenga«, a.a.O., S. 181. Vgl. Mbembe, Achille: Postkolonie. Zur politischen Vorstellungskraft im zeitgenössischen Afrika. Aus dem Französischen De la Postcolonie (2000) von Brita Pohl. Wien, Berlin: Turia + Kant, 2016.  Wilke, Tobias: »Wahrnehmungen«, in: Scholz, Susanne u. Vedder, Ulrike (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, a.a.O., S. 56–63, hier S. 60.

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Paasches Pombe-Bier entkommen ihrem Status als Dinge der deutschen Tradition und avancieren als Dinge, die sich für literarische Reflexionen der Moderne eignen. Die Gemeinsamkeit dieser Inszenierungen mit Franz Jungs Gestaltung von afrikanischen ›primitiven‹ Kriegsdingen ist ihre »provokatorische Absicht«,130 die auch dazu dient, antikoloniale Kritik zu üben. Ihre literarische Gestaltung der subjektiven Dinge relativiert den europäischen kolonialen Anspruch und die zivilisatorische Urheberechte auf die Moderne, mit der das Kolonialprojekt in der Öffentlichkeit vermarktet wurde. Die »Referenzverdichtung«,131 die spätestens seit dem 19. Jahrhundert asymmetrisch war, wird hier zumindest in der Fiktion mit einem subversiven Potential versehen.

130 Hofmann, Michael: »Avantgarde, kulturelle Differenz und europäischer Blick. Carl Einsteins Analyse der afrikanischen Kunst und Döblins Romanpoetik«, Eggert, Hartmut u. Preuß, Gabriele: Internationales Alfred Döblin-Kolloquium Berlin 2001. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 2003, S. 63–76, S. 65. 131 Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt, a.a.O., S. 1294.

4 Das anti-kolonialrevisionistische Ding der Zwischenkriegszeit

Die Eroberung der Fantasie durch den kolonialen Gedanken der Weimarer Republik wurde in politischen Diskursen1 sowie in Literatur und Film2 durch den Kolonialrevisionismus geprägt. Es handelt sich um die Vorstellung, dass der deutsche Kolonialismus besser und menschlicher als andere europäische koloniale Besetzungen gewesen sei. Der ehemalige Gouverneur in Deutschostafrika Heinrich Schnee (1871–1949) formulierte diese Doktrin in seinem Dauerseller Die Koloniale Schuldlüge (1924).3 Der Sinn jener Propaganda war indes nicht die Bewusstwerdung über die Unmenschlichkeit des Kolonialismus. Vielmehr wird versucht, den in Versailles gegen das Deutsche Reich erhobenen Vorwurf der kolonialen Unfähigkeit ad absurdum zu führen.4 Diese Doktrin war sehr populär, denn das Ohr der Weimarer Republik, das öffentliche Bewusstsein und die Gunst der Verleger gehörten den Kolonialrevisionisten mit prominenten Schriftstellern wie Hans Grimm (1875–1959), LettowVorbeck (1870–1964)5 usw. Ihnen war es quasi ausschließlich vorbehalten, »über die

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Vgl. Kämper, Heidrun: »Sprache in postkolonialen Kontexten I. Kolonialrevisionnistische Diskurse in der Weimarer Republik«, in: Stolz, Thomas u.a. (Hg.): Sprache und Kolonialismus. Eine interdisziplinäre Einführung zu Sprache und Kommunikation in kolonialen Kontexten. Berlin, Boston: de Gruyter, 2016, S. 193–212. Vgl. Struck, Wolfgang: Die Eroberung der Phantasie. Kolonialismus, Literatur und Film zwischen Deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik. Göttingen: V&R Unipress, 2010. Vgl. Ders.: »Die Geburt des Abenteuers aus dem Geist des Kolonialismus. Exotistische Filme in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg«, Kundrus, Birthe (Hg.): Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus. Frankfurt a.M. u.a.: Campus, 2003, S. 263-281. Schnee, Heinrich: Die koloniale Schuldlüge. (1924), 12. Aufl., München: Knorr & Hirth, 1940. Dazu siehe das Kapitel »Wie schön war die Zeit. ›Kolonialschuldlüge‹ und Kolonialnostalgie in der Weimarer Republik«, in: Baer, Martin u. Schröter, Olaf: Eine Kopfjagd, a.a.O., S. 145–155. Vgl. auch Bechhaus-Gerst, Marianne: »›Nie liebt eine Mutter ihr Kind mehr, als wenn es krank ist‹. Der Kolonialrevisionismus (1919- 1943)«, in: Dies.u. Zeller, Joachim (Hg.): Deutschland postkolonial? a.a.O., S. 101–122. Grimm, Hans: Volk ohne Raum. München: Albert Langen, 1926; Lettow-Vorbeck, General Paul von: Heia Safari!. Deutschlands Kampf in Ostafrika. Leipzig: Köhler u. Amelang, 1920.

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Weite Afrikas zu phantasieren«.6 Gegen diese prominent erscheinende Stimme reagierte, wie die Historikerin Susanne Heyn am Beispiel von linken und linksliberalen Kritikern zeigt, eine heterogen zusammengesetzte Friedensbewegung mit kolonialkritischen Stellungnahmen: Reformerische Pazifisten einer kulturmissionarischen Denkweise auf der einen Seite und Antikolonialkritiker auf der anderen Seite.7 Zwar hat sich Mitte der 1920er Jahre durch die Aktivitäten der »Liga gegen koloniale Unterdrückung«8 sowie durch die angebliche »Globalisierung des kolonialen Widerstands«9 ein antikolonialer Widerstand in der Weimarer Republik gebildet. Dessen ungeachtet blieben kolonialkritische Stimmen eher Ausnahmen als Regel. Folgerichtig hat sich die Dingforschung über die Weimarer Literatur wenig für die kolonialkritischen Texte interessiert. Bevor auf die textuelle Analyse der kolonialkritischen Modellierungen von ›afrikanischen Dingen‹ eingegangen wird, soll zunächst ein Überblick auf die Funktion der Dinge in der kolonialrevisionistischen Propaganda geworfen werden.

4.1 Exkurs: Sarotti-Mohr und Kaba: Zwei kolonialrevisionistische Dinge Die kolonialen Dinge haben bei der kolonialpolitischen Forderung der Zwischenkriegszeit eine Rolle gespielt. Prokolonialistische Massenkundgebungen und intensive Werbekampagne gegen die sogenannte ›koloniale Schuldlüge‹ wurden organisiert, wobei die Schokoladenmarke Sarotti-Mohr (1918)10 und das Getränkepulver

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Mass, Sandra: Weiße Helden, schwarze Krieger. Zur Geschichte kolonialer Männlichkeit in Deutschland 1918–1964. Köln u.a.: Böhlau, 2006, S. 126. Heyn, Susanne: »Der kolonialkritische Diskurs der Weimarer Friedensbewegung zwischen Antikolonialismus und Kulturmission«, in: Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien Nr. 9, 5. Jg., 2005, S. 37–65. Vgl. Martin, Peter: »Die Liga gegen koloniale Unterdrückung«, in: van der Heyden, Ulrich u. Zeller, Joachim (Hg.): »… Macht und Anteil an der Weltherrschaft«. Berlin und der deutsche Kolonialismus. Münster: Unrast, 2005, S. 261–269. Vgl. Dinkel, Jürgen: »Globalisierung des Widerstands: Antikoloniale Konferenzen und die ›Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit‹ 1927–1937«, in: Kunkel, Sönke u. Meyer, Christoph (Hg.): Aufbruch ins postkoloniale Zeitalter. Globalisierung und die außereuropäische Welt in den 1920er und 1930er Jahren. Frankfurt a.M.: Campus, 2012, S. 209–230. Vgl. Piecha, Oliver M.: »Wie der Antiimperialismus unter die deutsche Jugend kam. Der Plan für einen Weltbund der Jugend in der Weimarer Republik«, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, Heft 2/2005, S. 29–147. Ciarlo, David M.: »Rasse konsumieren. Von der exotischen zur kolonialen Imagination in der Bildreklame des Wilhelminischen Kaiserreichs«, in: Kundrus, Birthe (Hg.): Phantasiereiche, a.a.O., S. 135–179, hier S. 148f. Vgl. Langbehn, Volker: »Der Sarotti-Mohr«, in: Zimmerer, Jürgen (Hg.): Kein Platz an der Sonne, a.a.O., S. 119–133.

4 Das anti-kolonialrevisionistische Ding der Zwischenkriegszeit

Kaba (1929)11 in diesem Kontext vermarktet wurden. All diese Dinge wurden im deutschen Bewusstsein durch die Werbung instrumentalisiert. Klassisches Beispiel der Wirkung auf die öffentliche Meinung ist die Vereinnahmung der ›fremden Dinge‹ zu kolonialrevisionistischem Propagandazweck. So durften beispielsweise die deutschen Konsumenten eine Abbildung des Rheins mit Palmen auf den Kaffeepackungen sehen.12 Damit hat man den von dieser Kaffeereklame suggerierte Appel an die Käufer vor Augen, welche ihren Beitrag zur Bekämpfung der sogenannten »schwarzen Schande am Rhein« zu leisten haben.13 Über die Wirkung dieser Propaganda schreibt die Kulturwissenschaftlerin Denise Toussaint: Ohne eine aktive Agitation des Volkes zu benötigen, sondern allein durch die Verbreitung und Etablierung bereits bekannter Repräsentationsmuster, gelingt es mit der Kampagne um die »Schwarze Schmach am Rhein« einen Großteil kolonialen Gedankenguts in die nach-koloniale Zeit der Weimarer Republik zu holen. Obwohl die konkrete Idee von Kolonien hier nicht implizit ist, wird doch die Basis der kolonialen Ideologie im Alltag der zwanziger Jahre vertreten.14 Genug interessant und ziemlich kurios zugleich ist die Tatsache, dass man den fremden Körper zu rassistischen Zurschaustellungen darbot, während die daraus entstandenen Claim-Konzepte zum Werbungszweck verwendet wurden. Anne Dreesbach erwähnt beispielsweise die »Sara-Kaba«, die 1930 als sogenannte »Lippennegerinnen« zeigte.15 Gleichzeitig wurde das gleichnamige Getränkepulver »Kaba« (1929) auf den Markt gebracht, sodass man die Vermutung als zulässig erklären kann, dass es zumindest in der Zwischenkriegszeit (vielleicht dank der Amerikanisierung des Alltagslebens durch die sogenannte Populärkultur) ein unerwarteter Trend der Einfühlung mit dem ›Schwarzsein‹ existierte. Der Germanist und völkisch-nationalsozialistischer Autor Hans Günther (1891–1968) konnte beobachten, wie sehr das Ersetzen der gewöhnlichen Verdinglichung des »schwarzen Menschen« durch eine »Vernegerung der Dinge« fortgeschritten sei. »Wir sind ihrer satt, alldieser Dinge, die ich weiß nicht wer, einmal so treffend ›Glasperlen 11 12 13

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Vgl. Baer, Martin u. Schröter, Olaf: Eine Kopfjagd, a.a.O., S. 152. Trentmann, Frank: Herrschaft der Dinge, a.a.O., S. 233. Anfang der 20er Jahre wurde nämlich unter dem Motto »Schwarze Schmach« eine rassistische Kampagne gegen den Ansatz aus afrikanischen Kolonien stammender französischer Kolonialtruppen am Rhein während des Ersten Weltkrieges im Rahmen der Alliierten Rheinlandbesetzung gestartet. Vgl. Koller, Christian: »Die Schwarze Schmach. Afrikanische Besatzungssoldaten und Rassismus in den zwanziger Jahren«, in: Bechhaus-Gerst, Marianne u. KleinArendt, Reinhard (Hg.): AfrikanerInnen in Deutschland und Schwarze Deutsche. Münster u.a.: LIT, 2004, S. 155–170. Toussaint, Denise: Dem kolonialen Blick begegnen. Identität, Alterität und Postkolonialität in den Fotomontagen von Hannah Höch. Bielefeld: transcript, 2015, S. 81. Dreesbach, Anne: Gezähmte Wilde, a.a.O., S. 53.

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für geistige Neger‹ genannt hat«,16 schrieb er in seinem damals viel gelesenen Buch Ritter, Tod und Teufel (1920). Offensichtlich handelte es sich hierbei um einen allgemeinen Trend der deutschen Literatur der Zwanziger gegen die Marktdynamik und die Konsumgesellschaft. In seiner Studie Der deutsche Pop-Roman hat Moritz Bassler diesen Wiederstand gegen diese Pop-Kultur herausgearbeitet.17 Als Musterbeispiel der allgemeinen Haltung der Schriftsteller dieser Zeit, die diesen Namen wirklich verdienten, führt er den 1921 erschienenen Roman der Lyrik an, indem der Dichter Franz Richard Behrens (1895–1977) »in gnadenloser Emphase die Aktienkurse realer Firmen mit dem Schicksal von Lyrikern aller Zeiten und Völker konfrontiert«.18 In Bezug auf den Sarotti-Mohr heißt es nämlich in Behrens’ Roman: »Mörike muss seine Frau für sich arbeiten lassen. Sarotti«.19 Moritz Bassler sieht in der offensichtlichen Ablehnung der kontextgerechten Verwendung von Werbung- und Markennamen einen ästhetischen Widerstand. Die in der vorliegenden Studie herangezogenen kolonialkritischen Texte verstehen sich auch als Gegenkonstruktionen gegen die durch prominente Kolonialautor*innen übermittelte Vereinnahmung des afrikanischen Dings. Eine der kolonialkritischen Stimme jener Zeit war der Linksintellektuelle, Journalist und Schriftsteller Balder Olden (alias Olaf Balder: 1882–1949)

4.2 Balder Olden: Kiboko oder Nilpferdpeitsche Balder Oldens afrikanische Erfahrungen lassen sich bis vor dem Ersten Weltkrieg zurückverfolgen. Als der Krieg ausbrach, befand er sich als Reporter der Kölnischen Zeitung in Deutsch-Ostafrika, von wo aus er sich freiwillig zu den Kolonialtruppen meldete.20 Nach dem Krieg berichtete er von Deutschland aus über seine ostafrikanischen Erlebnisse in relativ populären kolonialkritischen Texten. 1927 erschien

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Günther, Hans Friedrich Karl: Ritter, Tod und Teufel. Der heldische Gedanke. München: Lehmann, 1920, S. 81. Vgl. Bassler, Moritz: Der Deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München: Beck, 2002, S. 162. Bassler, Moritz: Der Deutsche Pop-Roman, a.a.O., S. 162. Behrens, Franz Richard: Roman der Lyrik. In: Ders.: Blüte. Die gesammelten Gedichte. Hg. von Gerhard Rühm. München: Text Kritik, 1979, S. 107–125, hier S. 124. Zur Biografie von Balder Olden siehe Diecks, Thomas: »Olden, Balder«, in: Neue Deutsche Biographie Band 19. Berlin: Duncker & Humblot, 1999, S. 505.

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sein Roman Ich bin ich21 und 1928 sein Jugendroman Madumas Vater.22 Über Balder Oldens Leben kann nicht unerwähnt bleiben, dass er wegen der Veröffentlichung seines Carl-Peters-Romans von einem Berliner Disziplinargericht mit der Erkenntnis, »es sei nicht Sache des Gerichts, über Charakter historisch gewordener Menschen zu urteilen«23 verurteilt wurde. 1933 floh er ins Exil, um sein Leben zu retten, nachdem seine Bücher von den Nationalsozialisten verbrannt wurden. Er beging 1949 Selbstmord in Uruguay. Für die Qualität seiner Romane wurde Balder Olden von seinen Zeitgenossen wie Thomas Mann24 oder dem deutsch-israelischen Schriftsteller Manfred Sturmann (1903–1989) als der deutsche Jack London oder der deutsche Michel hoch gelobt.25 Stoffgeschichtlich gesehen führen seine Lieblingsintertexte oft zu Joseph Conrads Pamphlet Herz der Finsternis (1899) gegen die europäische Kolonialgeschichte.26 In seinem Roman Paradiese des Teufels (1933) prangert der Exilautor Balder Olden die menschenunwürdige Zwangsarbeit und skrupellose Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung im Kongo-Freistaat an.27 In seinem Roman Kilimandscharo (1922),28 der hier ausführlich untersucht wird, geht es auch um eine Kritik an den Untaten der Kolonialtruppen in Afrika. Erzählt wird die Geschichte der kulturpessimistischen Figur Friedrich Hartlieb (alias Fritzchen). Im Text wird Fritzchen wie folgt beschrieben: »Er [war] kein Weißer, freilich auch kein Schwarzer, sondern ein Einzelner, das Herz voll Afrika und voll Hass gegen Staat, Europa und Gesellschaft«.29 Die intertextuelle Bezugnahme führt nicht nur zu 21

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Olden, Balder: Ich bin ich. Der Roman Carl Peters. Berlin: Wegweiser, 1927. Die Veröffentlichung des Romans gilt als ein Skandal in der Weimarer Kolonialliteratur. Olden kritisiert darin die Machenschaften des Kolonial- und Herrenmenschen Carl Peters (1856–1918). Es handelt sich hier um die »umstrittene Figur« des deutschen Kolonialismus, die in der deutschen Öffentlichkeit als »Hänge-Peters« einging. In seinem Amt als »Kaiserlicher Kommissar zur Verfügung des Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika« ließ er seinen Diener Mabruk und dessen Geliebte Jagodja aus Eifersucht hinrichten. Vgl. Kpao Sarè, Constant: Carl Peters et l’Afrique: Un mythe dans l’opinion publique, la littérature et la propagande politique en Allemagne. Hamburg: Verlag Dr. Kovac, 2006. Olden, Balder: Madumas Vater. Eine Knabenerzählung aus Afrika. Berlin: Universitas, 1928. Der Roman thematisiert die Möglichkeit der Völkerfreundschaft und -versöhnung zwischen Afrika und Europa. Zitiert nach Olden, Balder: Ich bin ich, a.a.O., S. 307. Thea Peters, die Witwe von Carl Peters, ließ 1929 die Klage gegen den Autor vor dem Berliner Disziplinargericht einreichen. Dazu Wieben, Uwe: Carl Peters. Das Leben eines deutschen Kolonialisten. Rostock: Neuer Hochschulschriftenverlag, 2000, S. 80. Vgl. Olden, Balder: Ich bin ich. Der Roman Carl Peters. Berlin: Wegweiser, 1927, Klappentexten. Conrad, Joseph: Das Herz der Finsternis. (1899) Übersetzt von Ernst Wolfgang Freissler. Göttingen: LIWI, 2018. Vgl. Olden, Balder: Paradiese des Teufels. Das Leben Sir Roger Casements. Berlin: Universitas, 1933. Olden, Balder: Kilimandscharo. Ein Roman aus Deutsch-Ost. Berlin: Universitas, 1922. Olden, Balder: Kilimandscharo, a.a.O., S. 83.

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Wilhelm Raabes Hagebucher, sondern auch zum Abgesang auf Europa, den der prominenteste Untergangstheoretiker Oswald Spengler (1880–1936) zwischen 1918 und 1922 in seinem zweibändigen geschichtsmorphologischen Werk Untergang des Abendlandes formulierte.30 Paul Michael Lützeler hat ausführlich herausgearbeitet, wie sehr die Zeitromane des ersten Drittels vom 20. Jahrhundert von Zerfall, Ende und Tod der europäischen Kultur besessen waren.31 Realgeschichtlich sei diese Untergangsstimmung durch die europäischen Konflikte des 19. Jahrhunderts und durch den Ersten Weltkrieg eingeführt gewesen sowie geistesgeschichtlich durch Nietzsches Dekadenzthesen. Im Spannungsfeld von Imperialismus und literarischer Dekadenztheorie findet Lützeler den Bezug zur Kritik am Kolonialismus in Afrika darin begründet, dass beispielsweise Hermann Broch in seiner Romantrilogie Die Schlafwandler 32 seine Figur Eduard von Bertrand Selbstmord begehen lässt. In 1888. Pasenow oder die Romantik (1930), dem ersten Band der Trilogie, sei Bertrand eine Verkörperung der europäischen Wirtschaftsüberlegenheit, die zugleich »von der kulturellen Dekadenz ihres Kontinents überzeugt«33 sei. In diesem Sinne fungiere sein Freitod als Prophezeiung des Siegs der »unterworfenen Afrikaner über Europa«34 . Brochs alternativgeschichtliche Darstellung Europas als »künftiges Kolonialland Afrikas«35 und Balder Oldens Beschreibung des Kulturpessimismus haben etwas gemeinsam: Sie sind nicht apokalyptisch gemeint. Im Gegensatz zu völkischen Autor*innen, die am liebsten das Kind mit dem Bade ausschütten und die Teutonen nach Afrika zwecks der Errichtung einer neuen germanischen Gemeinschaft schicken würden,36 findet Fritzchen in Afrika neue Lebenskräfte, um die Dekadenz Europas zu überwinden. Die »Angst des weißen Mannes«37 vor dem kulturellen Niedergang Europas, diese »schmutzige Angst«38 , wie es im Text heißt, wird so extravertiert dargestellt, dass Fritzchen keine Berührungsängste in Afrika kennt. Man tut dem Text zwar keine Gewalt an, wenn man diese kulturelle 30 31 32 33 34 35 36

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Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. (1918–1922) München: Beck, 1990. Lützeler, Paul Michael: Hermann Broch und die Moderne. Roman, Menschenrecht, Biographie. München: Wilhelm Fink, 2011, S. 77ff. Broch, Hermann: Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie. (1930–32). Kommentierte Werkausgabe. Herausgegeben von Paul Michael Lützeler. Band 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2007. Lützeler, Paul Michael: Hermann Broch und die Moderne, a.a.O., S. 81. Ebd., a.a.O. Ebd., a.a.O. Über das völkische Engagement in Afrika siehe das Buchkapitel »The teutons on African Outposts«, in: Warmbold, Joachim: Germania in Africa. Germany’s Colonial Literature. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 1989, S. 165ff. Titel von Scholl-Latours Reisebericht. Vgl. Scholl-Latour, Peter: Die Angst des weißen Mannes. Ein Abgesang, 4. Aufl. Berlin: Propyläen, 2009. Olden, Balder: Kilimandscharo, a.a.O., S. 83.

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Grenzüberschreitung als ein Appell an die daheimgebliebenen Deutschen versteht, denen gezeigt wird, wie sehr das Leben in Afrika viel wertvoller als ihr OrientTraum war.39 Diese Fantasie darf nicht als die Autorintention verstanden werden, denn der dezidiert kolonialismuskritische Autor Olden ironisiert offensichtlich die Afrikaromantik seiner Zeit, die beispielsweise durch Paul von Lettow-Vorbecks populäres Jugendbuch Heia Safari (1920) verbreitet war.40 Die zynische Ironie wird beispielsweise in der Modellierung der Nilpferdpeitsche, die bekanntlich von Kolonialbeamten, Missionaren und Siedlern benutzt wurde, sichtbar. Dieses Symbol für die koloniale Unterdrückung und Machtordnung und eins der Lieblingsmotive der (nicht nur deutschsprachigen) Literatur41 wird im Text wie folgt dichterisch gestaltet: Wie lang war’s her, dass man selbst, über die Bank gestreckt, ungebrannte Asche glühend auf den Hintern bezogen hatte? Ha, hier deckte Mann und Weib sich längelang auf die Erde, wenn man den Kiboko hob. Ließ sich das Leder polieren, zuckte nicht, nahm Tabak, Geld oder Hiebe, wie’s einem in seiner Laune zu gehen beliebte, tief ergeben. Ein Mannsbild, dem man so Unwillen ausgedrückt hatte, frischweg, wie er aus den Schwaden eines verregneten Morgens kroch, verbeugte sich tief nach empfangener Züchtigung und sprach: »Dank, großer Herr!« Ein Weib aber, Tränengekuller [!] noch im Gesicht, an den frischen Striemen hinstreichend: »Dein Stock schmeckt so süß wie Honig, großer Herr!«42 Zwar wird das deutsche Wort »Nilpferdpeitsche« im Textauszug nicht explizit erwähnt, aber das ändert nichts an der Sache. Wichtig zu betonen, ist die Art der kolonialkritischen Indienstnahme, die hier von diesem afrikanischen Ding eingesetzt wird. Im Text ist die Erzählungs- und Beobachtungsinstanz ein deutscher Er-Erzähler, der sich gerade in Afrika befindet. Die Auktorialität, die der Autor ihm beschert, erlaubt ihm, die Züchtigung in Europa und in Afrika zu vergleichen. Er weiß, wie Fritzchen unter dieser Gewalt in der Schulzeit gelitten hatte; auch einer der Gründe, warum er Europa hasste. Er hatte Angst vor »Ohrfeigen in ungezählten Mengen, Rohrstockhieben übers Gesäß, deren Zahl sich nicht nachrechnen ließ«.43 Weil Fritzchen die in Europa am eigenen Körper erlebte Gewalt nicht sublimiert,

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Dazu Mass, Sandra: Weiße Helden, a.a.O., S. 125. Lettow-Vorbeck, General von: Heia Safari!. Deutschlands Kampf in Ostafrika. Leipzig: Köhler u. Amelang, 1920. Dazu Gründer, Horst: »Die Safari geht weiter. Nach dem Ende des ÜberseeImperiums blüht die koloniale Nostalgie«, in: ZEIT Geschichte 4/19, 2019, S. 86–90. Siehe z.B. Brink, André: Die Nilpferdpeitsche. Aus dem Englischen von Hans Hermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1986. Olden, Balder: Kilimandscharo, a.a.O., S. 84f. Ebd., S. 83.

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sondern die Lust an Grausamkeit wieder in Afrika reproduziert, erinnert seine »epiphanische Gewalterfahrung«44 an den psychischen Sadismus, den man von Joseph Conrads Figur Kurtz aus Herz der Finsternis (1899) kennt, dem europäischen Elfenbeinhändler, der sich als Herrscher und Despot eines lokalen Stammes etabliert.45 Dabei bleibt die interessantere Frage folgende: zu welchem Zweck benutzt Balder Olden diese Sprache »sadistisch-masochistischer Sexualität und Gewalt«,46 um seinen Romanprotagonisten zu präsentieren? Um die kolonialkritische Perspektive in Bezug auf das Ding-Kiboko zu verstehen, muss man diese vermeintlich sadistische Sprache ästhetisch näher betrachten. Behält man im Hinterkopf das oben erwähnte Hauptanliegen des Protagonisten, Europa nicht als eine hochgepriesene Zivilisation zu präsentieren, muss man hier dem Zeichen der Ironie nachspüren. Der Textauszug ist in der Tat eine Gegenüberstellung zweier Dingsorten: der europäischen Dinge (Tabak, Geld) auf der einen Seite und des afrikanischen Dings (die Nilpferdpeitsche) auf der anderen Seite. Dadurch zeigt sich eine Parallele von der Prügelstrafe als Züchtigungsmethode gegen die Faulheit in der vermeintlichen »zivilisierten« europäischen Kultur (symbolisiert durch die Schulbank) zum »Kiboko« als Strafe gegen Diebstahl im angeblich »wilden« Afrika (symbolisiert durch die Erde). Dieses Nebeneinanderstellen der Prügelstrafen geschieht letztendlich auf dem Hintergrund der Groteske. Konstitutiv für die Existenz der Groteske ist, laut Gero von Wilperts Sachwörterbuch der Literatur, das Umschlagen »des Maßvollen ins Sinnlose bis geradezu Dämonische, des Lächerlichen ins Entsetzliche, Monströse«.47 Die von Balder Olden in den Textauszug gesetzte Korrelation zwischen weinenden europäischen Kindern und afrikanischen Frauen auf der einen Seite und tapferen afrikanischen Männern auf der anderen Seite, wobei die Afrikaner sich beim Unterdrücker bedanken müssen, zeigt die Groteske in der Schreibhaltung. Man sieht, dass diese Schreibweise eine moralisierende Funktion für die damaligen intendierten deutschen Leser hat. Denn der Bösewicht ist offensichtlich nicht Fritzchen, sondern das angeblich verderbte Europa, das vorgibt, Zivilisation in Afrika zu verbreiten, wobei nicht das Leben, sondern der Tod verkauft wird. Der Tod erscheint als Erlösung von der Hand des Kolonisators, denn solange der Kolonisierte am Leben bleibt, so die Logik des Textes, wird der Kolonialherr die Nilpferdpeitsche verwenden. »Wenn sie tot waren, […] brannte der Kiboko 44

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Damit meint der Gewaltsoziologe Sutterlüty den Rollentausch vom Opfer zum Täter bei Jugendlichen. Vgl. Sutterlüty, Ferdinand: Gewaltkarrieren. Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung. Frankfurt a.M. u.a.: Campus, 2002. Zu Kurtz siehe den Abschnitt »Afrika und das Dunkle im Herzen des europäischen Subjekts. Joseph Conrads Herz der Finsternis«, in: Hofmann, Michael: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. München: Wilhelm Fink, 2006, S. 152ff. Zur Entwicklung des Stoffes in Balder Oldens Romanwerk siehe Lorenz, Matthias N.: Distant Kinship, a.a.O., S. 235ff. Mass, Sandra: Weiße Helden, a.a.O., S. 142. Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Alfred Kröner, 2001, S. 321.

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nicht mehr«,48 heißt es im Text. Diese Kritik an der Systematik bei der Verwendung der Nilpferdpeitsche findet in diesem zynischen Zusammenhang einen intertextuellen Bezug zur sozialdemokratischen antikolonialen Rhetorik im Reichstag, etwa zu Vollmars Rede von 1895: »Mir wird nun versichert, dass die Peitsche, ob nun von Nilpferd- oder Rhinozeroshaut, ob sie Kiboko oder sonst wie heißt – in Ostafrika genau dieselbe Rolle spiele, wie es aus Westafrika bekannt geworden ist«.49 Denn in Kilimandscharo wird die Nilpferdpeitsche mit der europäischen Kultur gleichgesetzt: da wird von einem anonym gebliebenen Weißen beispielsweise berichtet, der kein »Europäer sein konnte, denn […] er hatte keinen Kiboko«.50 Es ist eine Kritik am aufklärerischen Ideal als dem moralisch fehlerhaftem Verhalten der vermeintlich »zivilisierten Welt«. Im Hinblick auf die Entstehungszeit des Textes erscheint die Autorintention insofern als eine Satire der von Kolonialautor*innen verbreiteten Afrikaromantik. Das postkoloniale Potential des Textes entfaltet sich darin, dass er als Gegenmodell zur populären kolonialpolitischen Doktrin der ›kolonialen Schuldlüge‹ erscheint. Somit entgleitet das afrikanische Ding seinem in der kolonialen Ordnung ursprünglich zugedachten Zweck des kolonialen Jochs und dreht den Spieß gegen den Kolonisator. Julian Osthues Studie über die Nilpferdpeitsche in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zeigt, dass dieses literarische Ding »ihre Macht ins Gegenteil umschlagen […] und sie gegen den Kolonisierer wenden«51 kann. Dieses postkoloniale Potential kann mit den allgemeinen kritischen literarischen Stellungnahmen der Weimarer Republik in Verbindung gebracht werden. Man findet sie selbst in lyrischen Texten dieser Zeit, etwa im Gedicht Der Kongo (1914) des amerikanischen Dichters Vachel Lindseys (1879–1931), das Claire Goll in ihrer Anthologie Die neue Welt 1921 übersetzte.52 Wolfgang Struck erklärt die Programmatik dieses Gedichtes in der Literatur der Zwischenkriegszeit dadurch, dass die Rache für den Kolonialismus, welche das lyrische Ich verbreitet ein Effekt sei, der »im Deutschland der ›schwarzen Schmach‹ mit einer gewissen provozierenden Wirkung rechnen durfte«.53 Der subversive Effekt, den Balder Olden dem afrikanischen Ding in seinem Text gibt, kann auch als ein Ding der »Anti-Schwarze Schmach« gelten. Denn die beschriebenen Objekte stehen in Beziehung zu einer Anti-Schmach-Propaganda. Diese Kontradiskursivität ist sogleich eine Parodie, 48 49

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Olden, Balder: Kilimandscharo, a.a.O., S. 202. Der sozialdemokratische Abgeordnete Goerg von Vollmar (1850–1922) während der Etatberatungen 1895. Zitiert nach Schröder, Martin: Prügelstrafe und Züchtigungsrecht in den deutschen Schutzgebieten Schwarzafrikas. Münster u.a.: LIT, 1997, S. 47. Olden, Balder: Kilimandscharo, a.a.O., S. 88. Osthues, Julian: »Nilpferdpeitsche und Botanisiertrommel«, a.a.O., S. 299. Lindsey, Vachel: Der Kongo (Eine Negerstudie). In: Goll, Claire: Die neue Welt. Eine Anthologie jüngster amerikanischer Lyrik. Berlin: Fischer, 1921, S. 32f. Struck, Wolfgang: Die Eroberung der Phantasie, a.a.O., S. 198.

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eine Umformung des revisionistischen Kolonialdiskurses. Denn sie stellt unterschwellig den gewaltsamen Charakter des kolonialen Projekts bloß und versucht, die prominente Idee der Kolonialrevision ad absurdum zu führen. Man findet die Kritik am kolonialrevisionistischen Projekt in der Form, dass es der afrikanischen materiellen Kultur schadet, bei dem Mitbegründer der dadaistischen Bewegung in Deutschland, Richard Huelsenbeck (1892–1974).

4.3 Richard Huelsenbeck: Jazz, ein Dada-Ding Der Berliner Arzt und Dadaist Richard Huelsenbeck trug am 12. Mai 1915 die »Negerlieder« in einer Veranstaltung eines Expressionisten-Abends vor,54 wobei er versuchte, durch seinen Schreibstil die vermeintlichen Eingeborenensprachen nachzuahmen.55 Als Gründungsmitglied des Dadaismus neben Hugo Ball (1886–1927), Tristan Tzara (1896–1963) u.a. las er während der ersten »Dada-Soirée« am 12. April 1918 das »Dadaistische Manifest« vor, das für die Kunst der Avantgarde eine »Interund Transnationalität als Transgression des Nationalen der Kunst«56 postulierte. Nach der dadaistischen Welle konzentrierte sich Huelsenbeck auf seinen Arztberuf und profilierte sich gleichzeitig als Reisejournalist. Der Literaturwissenschaftler Liu Weijian hat herausgearbeitet, wie sehr Huelsenbecks Schriften über China in dieser Zeit eine Antikolonialismuskritik widerspiegeln.57 Es wird auch zu zeigen sein, dass sein Reisebericht Afrika in Sicht (1928)58 afrikanische Dinge zum Zweck der Kolonialkritik modelliert hat. Der Text beginnt in medias res und erzählt von der Abfahrt des Ich-Erzählers nach Afrika mit dem Schiff Anna. Dass der Reisende das »graue Europa«59 hat verlassen müssen, erfährt man erst in den Reisevorbereitungen am Ende des Textes. Schenkt man dem Verleger des Buches Glauben, so soll diese Textgestaltung der Weltanschauung des Autors entsprechen, wonach »Tatsachen private Meinungen voraus-

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Über die biografischen Informationen siehe die ausführliche Zeittafel in Feidel-Mertz, Hildegard (Hg.): Der junge Huelsenbeck – Entwicklungsjahre eines Dadaisten. Gießen: Anabas, 1992, S. 254–258. Dazu Abschnitt »›Pan pan rataplan‹. Der Dada-Trommler«, in: Füllner, Karin: Richard Huelsenbeck. Texte und Aktionen eines Dadaisten. Heidelberg: Winter, 1983, S. 81–89. Van den Berg, Hubert u. Fähnders, Walter: »Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert. Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Metzler Lexikon. Avantgarde, a.a.O., S. 1–19, hier S. 17. Vgl. Abschnitt »Richard Huelsenbeck. Kolonialismuskritik und antibürgerliches Selbstverständnis«, in: Liu, Weijian: Kulturelle Exklusion und Identitätsentgrenzung. Zur Darstellung Chinas in der deutschen Literatur 1870–1930. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 2007, S. 293–336. Huelsenbeck, Richard: Afrika in Sicht. Ein Reisebericht über fremde Länder und abenteuerliche Menschen. Dresden: Jess, 1928. Ebd., S. 285.

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zugehen haben«.60 Dabei verrät die fiktiv-realistische Erzählweise, dass der Text weniger eine afrikanische Realität erzählt als er das europäische Kolonialdenken anprangert. Die Handlungen geschehen nämlich meistens entweder im Schiff Anna oder in verschiedenen afrikanischen Häfen. Man erfährt auf eine sarkastische Art die Kolonialgeschichte der unterschiedlichen europäischen Kolonialmächte in Afrika. Von den Portugiesen zum Beispiel heißt es, sie hätten den Afrikanern nur Steuern abgenommen, bis sie steinreich geworden sind61 und zur Abwechslung dann »die Jagd auf Neger«62 geführt, »sonst gäbe es nämlich nur Antilopen in ihrer Gegend«.63 In der Hafenstadt Sansibar versucht die Erzählinstanz, dem gerecht zu werden, was der Titel verspricht, nämlich Afrika sichtbar zu machen. Dabei wird der Leser mit einer dadaistisch-primitiven Beschreibung des Ortes konfrontiert, die in der Wortwahl sowie im Inhalt nicht verdient, hier zitiert zu werden. Im Laufe der Erzählung versteht man allerdings, dass die Erzählinstanz die vermeintliche ›Primitivität‹ bis zum tiefsten Punkt erzählt, um seinen intendierten europäischen Leser in einer Art Elektroschock aus einem bösen Traum zu wecken, nach dem Motto: Lieber Leser, wenn du mir zustimmend geglaubt hast, gehörst du einfach nicht zu den guten. Man vergesse nicht, dass dieser Schriftsteller persönlich viel mit psychoanalytischen Methoden geflirtet hat.64 Im vorliegenden Fall ist das zu heilende psychopathologische Syndrom in seinen Augen das in Europa falsch verstandene ›primitive‹ Leben der Afrikaner. In diesem Sinne versteht sich der Anfang des Textes als eine Ironie und eine parodistische Antwort auf rassistische und sozialdarwinistische Repräsentationen des Afrikaners. Der Schriftsteller versucht, den dadaistischen Sinn des Konzepts ›Primitivismus‹ als ein Patentrezept gegen diese koloniale Vereinnahmung des Afrikaners in den Vordergrund zu stellen. In dieser Verbindung sieht man in welche Richtung die kritische Perspektive des Textes führt, nämlich die kolonialkritische Perspektive der Dada-Bewegung. Weijian Liu hat Recht, wenn er schreibt, dass Huelsenbecks Reiseberichte keinen prinzipiellen Bruch mit dem Dadaismus signalisieren.65 In seinem dadaistisch-literarischen Engagement gegen den Kolonialismus bedient sich Huelsenbeck der Jazz-Musik als Illustration des positiv umgewerteten 60 61 62 63 64

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Ebd., S. 286. Ebd., S. 9. Ebd., S. 11. Ebd., S. 11. Schon im Ersten Weltkrieg ließ er sich freiwillig in Heilanstalten internieren und psychoanalytisch behandeln, um die Front zu entfliehen. Im New Yorker Exil praktizierte er später als Psychiater. Vgl. Fähnders, Walter: Avantgarde und Moderne, a.a.O., S. 133. Vgl. Kanz, Christine: »Psychoanalyse«, in: van den Berg, Hubert u. Fähnders, Walter (Hg.): Metzler Lexikon. Avantgarde, a.a.O., S. 271–273, hier S. 271. Vgl. Liu, Weijian: Kulturelle Exklusion, a.a.O., S. 319.

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›Primitivismus‹.66 Die Zukunft der Welt liege da, wo »noch keine Wolkenkratzer stehen, wo noch keine Businessstunden die Ströme verkümmern lassen«.67 Mit dieser Annahme rettet die Erzählinstanz quasi die Jazz-Musik vor der westlichen Kultur, in der, wie es im Text heißt, »die Zerspaltenheit der materiellen und geistigen Akzente einem Zustand der Hölle entspricht, den zu beschreiben ein mittelalterlicher Fanatist erst erfunden werden musste«.68 Der offensichtlich direkte Hinweis auf Dante Alighieris Hölle (Inferno) aus dem 14. Jahrhundert69 erklärt, warum der vom DadaGeist geprägte Reiseschriftsteller den Jazz aus dem amerikanischen Materialismus rausholt und aus ihm ein rein authentisches afrikanisches Ding macht. Das ›Authentische‹ war nämlich spätestens nach Carl Einsteins Essay über die afrikanische Plastik (1915) bereits positiv umgedeutet worden. Insofern lässt sich das Buch als eine regelrechte Antwort auf die in diesem Kontext formulierten Vorwürfe gegen den Dada-Geist lesen. »Es wird eine Zeit kommen, wo Europa gern vom Neger Jupiter geraubt werden möchte«,70 schreibt er als Paradeantwort auf die oben untersuchte Kritik am ›Primitivismus‹ in Claire Golls Roman. Seine Gewissheit in dieser Hinsicht beruht auf seinen eigenen Beobachtungen über ein angebliches zeitgenössisches Interesse an ›Primitivität‹ im Abendland. Seine Bemerkungen sind von einer Begeisterung für die vermeintlich vitalistischen Energien der Afrikaner geprägt. Die Jazzband sowie Josefine Bakers »Elastizität der Posteriora im Schwinden«71 hätten Erfolg in Europa, weil sie den »primitiven Rhythmus«72 beherrschen würden. Huelsenbeck rekurriert hierbei auf eine der »zehn Lügen über Afrika«,73 welche der Historiker Kurt Büttner kritisch für die DDR-Ideologie fruchtbar gemacht hatte, nämlich die Idee, der Afrikaner sei »emotional« und der Europäer »rationell«. Huelsenbecks Schreibhaltung, die auch gewissermaßen dem später in der DDR verbreiteten Verbrüderungs-Diskurs ähnelt, ist durch die Autorintention in Verbindung zu bringen, die ein Geißeln der Kolonialrevisionisten ist. Wenn die Erzählinstanz sich für den »Mangel an Interesse […] für fremde Völker 66

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Zur Bedeutung der Jazz für die Dada-Bewegung siehe Blake, Jody: »Tumulte noir. Die Wechselwirkung zwischen Dada und Jazz«, Burmeister, Ralf u.a. (Hg.): dada Afrika. Dialog mit dem Fremden. Zürich: Scheidegger & Spiess, 2016, S. 42–48. Huelsenbeck, Richard: Afrika in Sicht, a.a.O., S. 114. Ebd., S. 266. Alighieri, Dante: Die Göttliche Komödie. Band 1, Erster Teil: Inferno – Die Hölle. München: dtv, 1988. Huelsenbeck, Richard: Afrika in Sicht, a.a.O., S. 117. Ebd., a.a.O. Ebd., a.a.O. Kurt, Büttner u. Rachel, Christian: »Neunte Lüge: Der Afrikaner hat keine Philosophie oder ›Emotion ist schwarz – Denken ist griechisch‹«, in: Dies.: Zehn Lügen über Afrika. Berlin: Verlag der Nation, 1974, S. 184–204. Eine Idee, die übrigens auch durch Senghors surrealistisch geschulten Diskurs verbreitet wurde. Senghor, Léopold Sédar: Ce que l’homme noir apporte. In: Verdier, Jean: L’homme de couleur. Paris: Plon, 1939, S. 291–313, hier S. 295.

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und Sitten«74 beklagt, kritisiert sie dadurch die Unterwerfungsbereitschaft, welche Heinrich Mann für seinen Romanprotagonisten Diederich Heßling in Der Untertan von 1914 aufzeichnete.75 Die Logik des Textes ist, dass die deutschen Bürger vom preußischen »Glauben an die heilsame Kraft des Gehorsams«76 besessen seien, was sie daran hindere, die Ausbeutungen in Afrika zu sehen. Während die Afrikaner im »Kraal von primitiver Wildheit«77 glücklich gewesen seien, würden die Kolonialherren aus dem Ort, der »Wert drauf legt, zivilisiert zu sein«78 kommen und sie zur Zwangsarbeit verurteilen. »Ich beobachtete, wie ein weißer Boss einem schwarzen Arbeiter, der Steine trägt, mit voller Kraft ins Gesäß tritt, das fällt hier auf, es wird weitergearbeitet, ohne dass sich jemand umsieht«,79 heißt es im Text. Der beschriebene Tritt in den Hintern und die Prügelstrafe sind eine Anprangerung sowohl der Untaten des Kolonisators als auch der europäischen Berichterstattung, die über diese Gewalt nicht berichtet. Der Journalist Hannemann beispielsweise, offensichtlich ein erfundener Name, interessiere sich lediglich für den Kohlenhaufen in Kapstadt, den er fotografiert und mit der Überschrift »Das erwachende Afrika«80 veröffentlicht. Man erkenne hierbei eine subversive Schreibweise, die an folgenden Satz in Uwe Timms Roman Der Schlangenbaum (1986) erinnert: »Das also war der Weg in die Zukunft.«81 Bei diesem Gedanken in Form einer erlebten Rede schaut sich der deutsche Bauleiter Wagner eine Fernsehreklame von seiner eigenen Firma an. Die Werbespots zeigen einen kolossalen Bulldozer im Urwald82 in Lateinamerika, der in Zeitlupe die Wildnis, einen kleinen Hügel, ein Berg, Felsbrocken zerstört, nur damit die Autos auf der Autobahn rasen können. Die postkoloniale Kritik am Fortschritt des Textes wird spätestens erkennbar, wenn der Autor den deutschen Bauingenieur Hartmann sagen lässt: »Wir verstehen uns als Glücksbringer, […], aber es ist ein Glück, das auf einem weitverbreiteten Elend ruht.«83 Im Gegensatz zu dieser Berichterstattung, die mit dem Fortschrittsbegriff den Profit des Westens verbindet und das Unglück der kolonisierten Völker verschweigt, sieht Huelsenbecks dadaistisch geprägter Blick Folgendes: »Es sind merkwürdige Zeiten für diese Welt herausgekommen, die sich einige Jahrtausend nach gewohntem Ritus um ihre pri-

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Huelsenbeck, Richard: Afrika in Sicht, a.a.O., S. 55. Mann, Heinrich: Der Untertan. (1914). Frankfurt a.M.: Fischer, 2008. Huelsenbeck, Richard: Afrika in Sicht, a.a.O., S. 53. Ebd., S. 250. Ebd., a.a.O. Ebd., a.a.O. Huelsenbeck, Richard: Afrika in Sicht, a.a.O., S. 250. Timm, Uwe: Der Schlangenbaum. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1986, S. 38. Über die Symbolik des Urwalds siehe Fuhrmann, Wolfgang: »Der Urwald«, in: Zimmerer, Jürgen (Hg.): Kein Platz an der Sonne, a.a.O., S. 56–67. Ebd., S. 217.

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mitive Achse drehte. Man hat dem Neger den selbstverständlichen Grund seiner Lebensauffassung genommen«.84 Insgesamt liest sich Huelsenbecks Buch als eine Kritik gegen die in seinen Augen im Kreis des Kolonialrevisionismus herrschende Indifferenz gegenüber der afrikanischen (materiellen) Kultur. Er lässt seine Figuren diese Gleichgültigkeit verkörpern. Der deutsche Schiffskapitän Wackernagel, der lediglich in der Afrikafahrt als Schiffsoffizier arbeiten dürfe, erlaube sich, die Jazzmusik zu verbieten und stattdessen nur noch deutsche Walzer, Ländler und Dreher spielen zu lassen. Der Kolonialoffizier Friedrich aus Magdeburg verkörpere die prominente Stimme der Kolonialrevisionisten in Deutschland. Er verkaufe nicht nur Kolonialwaren, sondern auch Zigaretten und würde sogar für das Zigarrenrauchen der kleinen Kinder eintreten. Er würde Kinder »Deutschland, Deutschland über alles«85 singen lassen und träume nur noch davon, dass Deutschland so schnell wie möglich »seinen Platz an der Sonne«86 zurückerobere. Huelsenbecks Reisebericht kritisiert die Tatsache, dass gerade solchen Menschen vorbehalten war, über Deutschlands Recht auf die Kolonien zu fantasieren. Im Text heißt es: Herr Friedrich, der nicht dumm ist, weiß, dass viele Leute so sind wie er. Weshalb soll er ein Blatt vor den Mund nehmen? Herr Friedrich weiß im Unterbewussten, dass Friedrich sein, siegreich sein heißt. Herr Friedrich trägt seine Bildungslosigkeit als Repräsentant der Zeit mit Stolz zur Schau […]87 Der Kolonialmensch in Afrika erscheint als ein Ungebildeter, der in Europa nichts zu zeigen hat und sich in Afrika als zivilisierter und erfolgsgekrönter Europäer darstellt. In seinem Roman Effi Briest (1894) formuliert Theodor Fontane (1819–1898) eine ähnliche Kritik am Größenwahn eines in Europa gescheiterten Leutnants,88 in dem man ganz leicht Hermann von Wissmann erkennen kann.89 Mit dieser Gesellschaftskritik greift Huelsenbeck die Tatsache an, dass diese Menschen, die nicht ge84 85 86 87 88 89

Huelsenbeck, Richard: Afrika in Sicht, a.a.O., S. 153f. Ebd., S. 33. Ebd., S. 42. Huelsenbeck, Richard: Afrika in Sicht, a.a.O., S. 32. Fontane, Theodor: Effi Briest (1894). In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Warter Keilel. Band 4. München: Hanser, 1963, S. 288. Hermann von Wissmann (1853–1905) hat 1889 seinen Reisebericht über seine Afrikareisen (1880–1883) veröffentlicht. Vgl. Wissmann, Hermann von: Unter deutscher Flagge quer durch Afrika von West nach Ost. Von 1880 bis 1883. Berlin: Walther & Apolant, 1889. Mehr zu dieser Ästhetisierung der Kolonialgeschichte durch Fontane siehe Finke, Reinhard: »›… der Äquator läuft ihnen über den Bauch‹. Namen und Geschichten zu Afrika in Fontanes Efri Briest und anderswo«, in: Gruber, Bettina u. Plumpe, Gerhard (Hg.): Romantik und Ästhetizismus: Festschrift für Paul Gerhard Klussmann. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1999, S. 297–316, hier S. 301f.

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nug aufgeklärt sind, um den Dadaismus zu verstehen, in der Weimarer Republik Kolonialphantasien verbreiten, anstatt Interesse für die materielle Kultur in Afrika zu zeigen. Ein anderer Schriftsteller der Zwischenkriegszeit, der sein Interesse für die afrikanischen Dinge gegen das kolonialrevisionistische Projekt einzusetzen wusste, war der Ethnologe Julius Lips (1895–1950)

4.4 Julius Lips: »Fetisch« Wie kaum ein anderer hat der Kölner Ethnologe Julius Lips durch öffentliche Auftritte und wissenschaftliche und literarische Veröffentlichungen die antikoloniale Provokation in der Weimarer Zeit verkörpert.90 1937 erschien sein Buch The Savage Hits Back (Dt.: Der Wilde schlägt zurück)91 , in dem der »Wilde als Ethnograph«92 fungiert. Die darin von außereuropäischen Malern und Bildhauern angefertigten plastischen Kunstobjekte, welche die kolonialistischen Europäer kritisch darstellen, werden neuerdings als kolonialkritische »Dinge« in Kunstausstellungen vorgestellt.93 Offensichtlich schrieb sich Lips kolonialkritische Schreibhaltung im Kontext einer systematischen Durchführung des Projekts einer »umgekehrten Ethnologie, die den Europäer und Kolonisator aus den Quellen der Gegenseite zum Gegenstand nimmt«.94 Wie Erhard Schüttpelz nachgewiesen hat, hat diese Schreibhaltung mit Hermann Baumanns 1927 veröffentlichtem Artikel »Der Schwarze ka-

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Zur Biografie von Lips siehe Kramer, Fritz: Der rote Fes. Über Kunst und Besessenheit in Afrika. Frankfurt a.M.: Athenäum, 1987. Ders.: Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M.: Syndikat, 1977. Siehe Lips, Eva (Hg.): Zwischen Lehrstuhl und Indianerzelt. Aus dem Leben und Werk von Julius Lips. Rütten & Loening, 1965. Lips, Julius: The Savage Hits Back, or the White Man Through Native Eyes. London: Dickson, 1937. Deutsche Übersetzung von Lips, Eva: Der Weiße im Spiegel der Farbigen. Leipzig: Seemann, 1983. Siehe Abschnitt »The Savage hits back: Der Wilde als Ethnograph«, in: Gottowik, Volker: Konstruktion des Anderen. Clifford Geertz und die Krise der ethnographischen Repräsentation. Berlin: Reimer, 1997, S. 129–135. Vgl. Brus, Anna; Halder, Lucia u. Himmelheber, Clara (Hg.): »Der Wilde schlägt zurück«. Kolonialzeitliche Europäerdarstellungen der Sammlung Lips. Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung im Rautenstrauch-Jost-Museum – Kulturen der Welt, Köln (16.3.-3.6.2018). Emsdetten: Imorde, 2018; Vgl. Brus, Anna: »Der Wilde schlägt zurück« in Köln. Eine Ausstellung als antikoloniale Provokation«. Gespräch mit Dieter Kassel, Deutschlandfunk vom 16. März 2018. ht tps://www.deutschlandfunkkultur.de [Stand von 05.09.2019]. Schüttpelz, Erhard: Die Moderne im Spiegel des Primitiven Weltliteratur und Ethnologie (1870–1960). München: Wilhelm Fink, S. 27.

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rikiert den Weißen«95 angefangen. Dass der Artikel in der Berliner Zeitschrift Die Woche erschien, die sich damals für den kolonialen Gedanken sehr stark engagierte,96 illustriert die antikoloniale Provokation in der Weimarer Republik. Diese umgekehrte Ethnologie kann in Julius Lips’ Drama Heiden vor Afrika97 von 1930 durch seine kolonialkritische Gestaltung der afrikanischen Dingwelt analysiert werden. Zur Entstehungsgeschichte des Werkes muss noch gesagt werden, dass es unter dem Pseudonym Palan Karani erschienen ist, was allerdings offensichtlich weniger mit seiner kolonialkritischen Haltung als vielmehr mit dem in der akademischen Welt »sich zunehmend massiv formierenden Widerstand gegen Julius Lips«98 zusammenhängt. Dabei handelt es sich in Lips’ Stück um die dichterische Gestaltung des Schicksals der Festung Groß Friedrichsburg, die 1683 vom Großen Kurfürst an der Goldküste, im heutigen Ghana, zwecks des Sklavenhandels errichtet wurde. Schon 1717 verkaufte Friedrich Wilhelm I., der Nachfolger des Großen Kurfürsten, die westafrikanischen Stützpunkte an die Niederländische Westindien-Kompanie.99 Die Einheimischen unter dem Kommandeur John Conny weigerten sich allerdings, sich den Holländern zu unterwerfen. Nach fünfjähriger Resistenz fiel die Festung in die Hände der Holländer, nachdem sich »Connys Männer ungeschlagen ins Hinterland«100 zurückzogen. Obwohl John Connys Schicksal in der deutschsprachigen Literatur in etlichen Legenden als »treue Stütze der Preußen«101 erscheint, wurde sie im Allgemeinen in der gewöhnlichen eurozentrischen Geschichtsschreibung in die Geschichte des

Baumann, Hermann: »Der Schwarze karikiert den Weißen«, in: Die Woche (Berlin), Jg. 29/ Ausgabe 25, 1927, S. 722–724. 96 Dazu Klapproth, Georg: Die »Woche« als Zeitschriftentyp im Wandel der Zeit. Hamburg: Rauhes Haus, 1941, S. 19. 97 Lips, Julius (alias Palan Karani): Heiden vor Afrika. Ein Negerspiel. Leipzig: Das Zelt, 1930. 98 Kreide-Damani, Ingrid: Ethnologie im Nationalsozialismus. Julius Lips und die Geschichte der »Völkerkunde«. Teil 1. Wiesbaden: Reichert Verlag, 2010, S. 17. 99 Hierzu van der Heyden, Ulrich: »Sklavenfestungen an der Küste Ghanas als Erinnerungsorte. Das Beispiel Großfriedrichsburg – ein Denkmal deutsch-afrikanischer Beziehungen«, in: Speitkamp, Winfried (Hg.): Kommunikationsräume – Erinnerungsräume. Beiträge zur transkulturellen Begegnung in Afrika. München: Meidenbauer, 2005, S. 101–120. Vgl. Ders.: »Die brandenburgisch-preußische Handelskolonie Großfriedrichsburg«, in: Gründer, Horst u. Hiery, Hermann: Die Deutsche und ihre Kolonien. 2. Aufl. Berlin-Brandenbourg: be.bra verlag, 2017, S. 27–44. Vgl. auch Friederichs, Hauke: »Aufbruch an die Goldküste. Im 17. Jahrhundert will Brandenburg in den Sklavenhandel einsteigen«, in: ZEIT Geschichte 4/19, 2019, S. 24–27. 100 Friederichs, Hauke: »Aufbruch an die Goldküste«, a.a.O., S. 27. 101 Zitiert nach van der Heyden, Ulrich: »Jan Conny – Fairy Tale or True Chapter in Prussia’s Colonial History in West Africa«, in: Lundt, Bea u. Marzolph, Ulrich (Hg.): Narrating (Hi)Stories in West Africa. Münster u.a.: LIT, 2015, S. 113–149, hier S. 115. Ulrich van der Heyden hat neben der deutschen Mythisierung auch Legenden über Conny in Ghana sowie in den Karaiben (Jamaika, Bahamas) und in den USA herausgearbeitet (vgl. ebd. S. 132ff.). 95

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Großen Kurfürsten eingebettet.102 Diesem Sachverhalt versucht sich der Ethnologe Lips entgegenzustellen, indem er sich auf afrikanische »Sagen und Überlieferungen«103 stützt, um durch sein Stück den intendierten Zuschauern zu zeigen, dass Jan Cony (so heißt sein Protagonist) nicht in der Festung ermordet, sondern »in den Wäldern Afrikas verschollen«104 war. Bei diesem Versuch, einen Gegendiskurs zu formulieren, kennt der Berufsethologe nur zu gut, welches afrikanische Ding damals im europäisch-westlichen intellektuellen Milieu das Gemüt prägte, nämlich der Fetisch. Man wundere sich, dass in dem Stück Heiden vor Afrika, einer nicht-erzählenden, sondern darstellenden Gattung das Wort »Fetisch« so hochkonjunkturell gebraucht wird. Lips’ dramatisches Stück lässt sein »Fetisch«-Ding nicht nur in den Regiebemerkungen auftauchen, sondern auch in den von den unterschiedlichen Protagonisten (Weißen und Schwarzen) diskutierten Thematiken. Bereits auf der Liste der auftretenden Protagonisten befinden sich merkwürdige Gestalten wie Ada-Usche (Oberpriesterin des Schangokultes), Queto-Oschin (Oberpriester des Ogun) und Osun-Tola (Zauberin). Bei der Erwähnung von »Schango« und »Ogun« befindet man sich bereits in der westafrikanischen Kosmologie des Voodoos,105 die im deutschsprachigen Raum fälschlicherweise lediglich als Bezeichnung »für die Fortentwicklung afrikanischer Religionen in den Sklavengesellschaften in der Diaspora«106 erscheint. Schon im Koloniallexikon vom 1920 schreibt Heinrich Schnee von »Fetischen«, dass sie den Menschen zum Zaubern dienen und auf »eine Anrufung hin selbstständig ihre Zauberkraft ausstrahlen«107 können. Am Anfang von Lips’ Stück wird eine stilistische Vorausdeutung der Konfliktkonstellation zwischen den christlich-abendländischen und afrikanischen Religionen deutlich, auf die sich der Leser (Zuschauer) gefasst machen muss. Der holländische Offizier Van der Veer sagt zu Van Rombeck, Kapitän des Flaggschiffs Michael 102 Die Titel der Literarisierungen sprechen von selbst: Steurich, Emil: Johann Kuny, der erste brandenburgisch-preußische Negerfürst. Eine Erzählung aus den Kolonien des Großen Kurfürsten. München: Lehmann, 1900; Festenberg-Packisch, Hermann von: Groß-Friedrichsburg. Erzählendes Gedicht. Lissa in Posen: Eddecke, 1907; Voigt, Christoph: »Ein holländisches Huldigungsgedicht auf den Großen Kurfürsten«, in: Hohenzollern-Jahrbuch 18, 1914, S. 38–51. 103 Lips, Julius: Heiden vor Afrika, a.a.O., S. 69. 104 Ebd., a.a.O. 105 Vgl. Asante, Molefi Kete & Mazama, Ama (Hg.): Encyclopedia of African Religion. Band 1. California, SAGE Publications, 2009, S. 266–267. 106 Lorenz, Matthias N.: Distant Kinship, a.a.O., S. 368. Selbe Darstellung Metzler Lexikon Religion: Gegenwart – Alltag – Medien. Hg. von Christian Auffarth u.a. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2018, S. 580–584. Hubert Fichtes Reisebücher haben sicherlich zu dieser Annahme geführt. Vgl. Fichte, Hubert: Xango. Die Afroamerikanischen Religionen. Bahia, Haiti, Trinidad. Frankfurt a.M.: Fischer, 1976. 107 Schnee, Heinrich (Hg.): Deutsches Koloniallexikon Band 1 (1920). Wiesbaden: Suppes, 1996, S. 608.

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der Ruyter: »Da helfen uns selbst die Trompeten Jerichos nicht, um dieses ›Königreich‹ aus Dreck und Schlamm zu erobern«.108 Die absichtlich blasphemisch formulierte Intention des Autors will den europäischen Leser provozieren, indem die Macht der afrikanischen Fetische in den Vordergrund gestellt wird. In der Logik des Textes sind die Trompeten Jerichos – kirchlich-westliches Symbol für das Zerschmettern jeglicher festgebauten Mauern – plötzlich nicht genug mächtig, um die Kolonie zu erobern, weil »hundert neue Schädel als Fetische Großfriedrichsburg bewachen [und] nach ihren Göttern rufen«.109 Man findet diese überdeutliche Inszenierung der Macht der Fetische ebenfalls am Ende des Textes. Dort führen die Afrikaner eine Art Kriegsmusterung vor, während derer der von ihnen zum Zweck der Verteidigung der Festung verwendete Fetisch, ein großer Elefantenzahn in Gestalt eines Phallus, auf der Bühne präsentiert wird. Während die Soldaten den Zahn umtanzen, hört der intendierte Zuschauer Stimmen, die ihm verkünden: »Der mächtige Fetisch … der Gott… er macht uns stark … uns Männer …«110 Erkennbar ist die Kritik an der europäischen Überlegenheit, denn eine Umkehrung des abwertenden Bildes, das man in früheren europäischen Grundlagentexten findet,111 ist sichtbar. Die kolonialkritische Revision liegt darin, dass ein Text, der 1930 erscheint, die Macht dieses afrikanischen Dings in den Vordergrund stellt, in einer Zeit, in der das eigentliche fetischistische Ding das Radio war.112 Die Erwähnung des Radios soll hierbei exemplarisch daran erinnern, dass die positive Umwertung des Fetisch-Begriffs in der Zwischenkriegszeit im Prinzip lediglich für die europäische materielle Kultur, für Dinge der technischen-Fortschritte aufgehoben worden war. Um den afrikanischen »Fetisch« in dieser »modernen« Konnotation einzuschreiben, bedient sich Lips eines kontrafaktischen Diskurses. Denn die andere Gegebenheit, die als »Fetisch« bezeichnet wird, ist die Flagge. Der Autor lässt dieses europäische Ding aus der Sicht der Afrikaner als einen »Fetisch« der Weißen bezeichnen. Jan Cony, der die holländische Flagge herunterreißen lässt, erklärt seinen Landsleuten: Die Flagge ist ihr Abbild. Weiß. Ihr Fetisch. Weiße Binden tragen ihre Parlamentäre. Die Flagge hat unsere Augen blind gemacht und unser Herz voll Zweifel. […] Und doch – vielleicht ist Zauber drin, vielleicht. […] O Fetisch, geh zu deinem Herrn zurück. Verrat und Lüge, die du uns gebracht, bring zur Vernichtung jedes weiße

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Lips, Julius: Heiden vor Afrika, a.a.O., S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 58. Dazu Brosses, Charles de: »Über den Dienst der Fetischengötter«, a.a.O., S. 40–50. Als typisches Beispiel hierzu erwähnt Trentmann die lustigen schwedischen Werbespots, die Ende der 1920er Jahre die Banane zum idealen Snack beim Radiohören erklärten. Vgl. Trentmann, Frank: Herrschaft der Dinge, a.a.O., S. 629.

4 Das anti-kolonialrevisionistische Ding der Zwischenkriegszeit

Glück! Hüll ihre falschen Augen ein in Nacht, so wie ich hier dein Bild zerschneide!113 Als Kommandeur der Festung ist Jan Cony seit Jahren eigentlich nicht mehr wie die anderen Einheimischen. Er kennt die Symbolik der Flagge sehr gut und alle Flaggensignale im Kolonialkontext. Es ist nicht so, dass er diesem europäischen Ding Zauberkräfte zuschreiben würde. Das Fetischisieren der Flagge ist eine gewollte Provokation, deren Adressaten die damaligen deutschsprachigen Leser oder intendierten Zuschauer des Stucks sind. Insofern ist seine Rede kolonialpolitisch konnotiert, denn die Beschreibung der Flagge hat eine kolonialkriegsstrategische Funktion. Sie wird nämlich diskursiv auf die gleiche Stufe wie die einheimischen Fetische gestellt. Cony weiß ganz genau, dass seine Landleute keine Konkurrenz zu ihren eigenen Fetischen dulden werden. Die Alterität des europäischen ›Fetisch-Dings‹ wird gegen die Identität des afrikanischen Dings ausgespielt. Erkennbar wird die Ästhetik der »kontestierenden Kulturen«, welche die in den USA lehrende Philosophin Uma Narayan für die postkoloniale Theorie fruchtbar gemacht hatte, und die Monika Albrecht wie folgt zusammenfasst: Denn kulturelle Differenz wurde auch da schon auf beiden Seiten betont – auf der westlichen, um die Überlegenheit der eigenen Kultur zu unterstreichen und den Kolonialismus zu rechtfertigen, und in Reaktion darauf auf der nicht-westlichen, um die eigene Kultur ebenfalls durch Abgrenzung aufzuwerten, also nicht nur als verschieden von der westlichen, sondern auch als ihr überlegen darzustellen.114 In Heiden vor Afrika steht der Protagonist Conny in dieser kontestierenden Stellung. Durch die abwertende Abgrenzung des europäischen Dingsymbols (Flagge) versucht er, die europäisch-westliche Kultur abzustreifen. Wenn seine Landsleute diese eindeutige kulturelle »Differenz« und diese »Ordnung der Dinge« (im Foucault’schen Sinne115 ) nicht verstehen bzw. nicht achten, verwendet er Gewalt, um jegliche Form des religiösen Synkretismus zu vermeiden. Zum Beispiel: Als AdaUsche, die Oberpriesterin des Schango-Kultes, ein typisch christliches Ding wie den 113 114

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Lips, Julius: Heiden vor Afrika, a.a.O., S. 58. Albrecht, Monika: »Europa ist nicht die Welt«. Post-Kolonialismus in Literatur und Geschichte der westdeutschen Nachkriegszeit. Bielefeld: Aisthesis, 2008, S. 270. Hervorhebung im Originaltext. Für eine Illustration dieser »kontestierenden« Kulturen in der deutschen und afrikanischen (Post)Kolonialliteratur, Vgl. Atabavikpo, Vincent u. Kpao Sarè, Constant: »Die Problematik der »kontestierenden« Kulturen in der Kolonialliteratur: Am Beispiel von Eckenbrechers Was Afrika mir gab und nahm und Achebes Okonkwo. Oder das Alte stürzt«, in: IMO-IRIKISI Vol. 6, N° 1. Université d’Abomey- Calavi, 2014, S. 169–178. Damit meint Michel Foucault (1926–1984) eine eindeutige Feststellung von Identität oder Differenz. Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (1966). Übersetzt von Ulrich Köppen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003.

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Rosenkranz mit dem Gürtel des europäischen Priesters verwechselte und ihn an ihren »Fetisch« hängte, zerstörte Jan Cony den »Fetisch« auf der Stelle. Die narrativ evozierte Bildlichkeit erinnert an die biblische Geschichte der Tempelreinigung (Matthäus 21: 12ff.), als Jesus den Jerusalemer Tempelbetrieb auflöste und dabei predigte, dass das Haus Gottes dem Gottesdienst vorbehalten bleiben solle. Auf ähnliche Weise enträtselt die Priesterin den Grund der Zerstörung ihres »Fetisches«, denn sie fragt ihre zerstörte »Gottheit« Folgendes: »Warum hast du dich mit den Weißen eingelassen?«.116 Während Jesus durch seinen Eingriff das Haus Gottes von allen merkantilischen Machenschaften säubern wollte, hat Cony ein anderes politisch-diskursives Ziel, nämlich die Kolonisatoren aus dem Land zu vertreiben. Er sagt: »Gierig sind sie nach uns und unserem Land«117 und später »Das Land mag ihnen sein. Doch nie das Herz.«118 Der Vorhang des Stücks schließt mit dem Bild der Afrikaner im innersten Afrika, wo sie keinen Kontakt mehr zum Abendland zu haben glaubten und wo Cony seiner Frau »die Wälder Afrikas«119 schenkt. Diese Endwendung, die das Stück weniger dramatisch macht, erinnert an die Geschichte Azas aus dem französischsprachigen Roman Aza ou le Nègre (1792).120 Dort kehrt der befreite Sklave nach Senegal zurück und bekommt von den Wolofs das Angebot, ihn als Dorfchef zu krönen. Aza lehnt allerdings den Vorschlag mit der Begründung ab, der Wohnraum der Wolofs sei nicht genug entfernt von dem europäischen Jagdrevier. Stattdessen marschiert er weiter 55 Tage lang weiter ins innerste Afrika, um sich dessen sicher zu sein, dass die Europäer dorthin nicht kommen können. Solche literarischen Gestaltungen inszenieren zwar eine gewollt rebellische Attitüde des Afrikaners, die ein gelungenes Nebeneinander im kolonialen Kontext, welches man beispielsweise in Kafkas Erzählung Die Chinesischen Mauer (1917) findet,121 für unrealisierbar erklärt. Die Absicht dieser europäischen Dichter hierbei ist, durch diese Ablehnung des europäischen Eindringens durch die Afrikaner ihre persönliche skeptische Einstellung gegenüber dem europäischen Kolonialprojekt zu

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Lips, Julius: Heiden vor Afrika, a.a.O., S. 66. Ebd., S. 66. Ebd., S. 67. Ebd., S. 67. Das Buch wurde 1792 anonym veröffentlicht und neulich von Loïc Thommeret herausgegeben: Aza ou le Nègre. London: Modern Humanities Research Association, 2011. Siehe eine Analyse des Texte von Thommeret, Loïc: »Une voix romanesque africaine en Révolution: Aza ou le Nègre«, in: Dix-huitième siècle n° 44/1, 2012, S. 307–323. Kafka, Franz: Beim Bau der Chinesischen Mauer. In: Ders: Sämtliche Erzählungen. Köln: Anaconda, 2007, S. 448–463. Mehr dazu siehe Kimmich, Dorothee: »Lob des ›Nebeneinander‹. Zur Kritik kulturalistischer Mythen bei Kafka und Wittgenstein«, in: Kimmich, Dorothee u. Schahadat, Schamma (Hg.): Kulturen in Bewegung: Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität, a.a.O., S. 41–68.

4 Das anti-kolonialrevisionistische Ding der Zwischenkriegszeit

illustrieren. Dass die Autor*innen meistens anonym bleiben mussten (man denke auch an Voltaires Candide, das 1759 unter dem Pseudonym Docteur Ralph erschienen war), unterstreicht ihre kolonialkritische Zivilcourage (um mit dem heutigen Konzept zu sprechen). Im Fall von Lips liegt die gewagte kolonialkritische Perspektive des Stücks darin begründet, dass die Thematik »Brandenburg-Preußen in Afrika« mindestens bis ins Dritte Reich kolonialpolitisch, literarisch und durch Straßennamen öffentlich anerkannt wurde. Die kritische, ablehnende Haltung der heutigen afrikanischen Diaspora in Deutschland,122 die sich durch die Umbenennung des Berliner Gröben-Ufers (nach dem Expeditionsleiter Otto Friedrich von der Gröben123 ) in May-Ayim-Ufer im Jahre 2010 manifestierte,124 unterstreicht auch das moralische Wagnis in Lips’ Gegendiskurs im Kontext des Kolonialrevisionismus. Denn die Errichtung der westafrikanischen Stützpunkte wurde in der deutschen Kolonialpropaganda bis ins Dritte Reich als modellhafte Kolonisation benutzt, um die Thematik der ›kolonialen Schuldlüge‹ zu verbreiten.125 Im Gegensatz dazu zeigt Heiden vor Afrika eine andere Realität, nämlich den einheimischen Widerstand gegen das europäische Kolonialprojekt. Deutlich erscheint somit ein Plädoyer für einen Perspektivwechsel und für eine – man würde heute sagen – interkulturelle Kompetenz, denn es ging darum, sich in die bis dato als unzivilisierten Kolonisierten hineinzuversetzen. Lips’ Schauspiel wurde in der Forschung zu Recht unter dem Aspekt der kontrafaktischen Imagologie126 gedeutet. Insgesamt gelingt es Lips, durch die Modellierung der afrikanischen Dinge in einem dramatischen Werk sein damaliges ethnographisches Postulat dichterisch zu gestalten, das er schon in The Savage Hits Back wie folgt formuliert: »Sollten die Wilden erst einmal frei zu Wort kommen und für sich selbst sprechen können, würden 122

Dazu Bechhaus-Gerst, Marianne: »Welche Farbe hat die Nation? Afrodeutsche (Gegen-)Stimmen«, in: Dies.u. Zeller, Joachim (Hg.): Deutschland postkolonial? a.a.O., S. 243–263. 123 Vgl. Gründer, Horst (Hg.): »…da und dort ein junges Deutschland gründen« Rassismus, Kolonien und kolonialer Gedanke vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. München: dtv, 1999, S. 25f. 124 Zu der Diskussion, vgl. Ervedosa, Clara: »Das May-Ayim-Ufer in Berlin«, in: Zimmerer, Jürgen (Hg.): Kein Platz an der Sonne, a.a.O., S. 424–441. 125 Josef Buchhorn veröffentlichte 1940 das Theaterstück Weg in die Welt, in dem Carl Peters’ koloniale Abenteuer in Deutschostafrika als eine logische Folge des Projektes »BrandenburgPreußen in Afrika« typisiert wird. Vgl. Buchhorn, Josef: Weg in die Welt. Ein Schauspiel um den deutschen Mann Carl Peters. Schöneberg: Max Schwabe, 1940. Für weitere Belege siehe Kpao Sarè, Constant: »Carl Peters et l’Afrique orientale allemande. Entre mythe, littérature coloniale et prussianisme«, in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire Nr. 94, Paris: Presses de Sciences Po, 2007, S. 149–165. 126 Vgl. Oloukpona-Yinnon, Adjai Paulin: »›Vous les Blancs, vous nous avez apporté les vêtements et le mensonge. Les vêtements cachent le corps, le mensonge cache l’âme‹ – Réflexions sur un ›discours par procuration‹«, in: Gehrmann, Susanne u. Riesz, János (Hg.): Le Blanc du Noir. Représentations de l’Europe et des Européens dans les littératures africaines. Münster u.a.: LIT, 2004, S. 59–79.

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sie in schonungsloser Offenheit das koloniale System und die dafür verantwortlichen europäischen Gesellschaften an den Pranger stellen«.127 In diesem Sinne kann Heiden vor Afrika als ein postkoloniales ›Zurückschreiben‹128 avant la lettre betrachtet werden.

4.5 Zusammenfassung Alles in allem lässt sich festhalten, dass das kolonialkritische Potential des afrikanischen Dings in der Weimarer Literatur als eine Subversion der kolonialen Fantasien betrachtet werden kann. In einer Zeit, in der das Werbeschlagwort »Kolonialschuldlüge« einen Diskurs des besseren und menschlicheren Kolonialismus im Vergleich zu anderen europäischen Kolonialismen verbreitete, erscheint Balder Oldens Inszenierung der Nilpferdpeitsche als ein Gegenprojekt gegenüber dem kolonialrevisionistischen Projekt. In seiner kontradiskursiven Schreibhaltung werden die afrikanischen Dinge eingesetzt, um die koloniale Ordnung zu irritieren. Auch der Mitbegründer der dadaistischen Bewegung, Richard Huelsenbeck, verstand seine ästhetische Gestaltung des afrikanischen Dings als eine Kritik am kolonialrevisionistischen Projekt. Seine Gestaltung des Jazz als poetisches Prinzip widerspiegelt auch seine Kolonialismuskritik. Die dadaistischen fiktional-narrativen Züge erscheinen als ein Patentrezept gegen die koloniale Vereinnahmung der afrikanischen materiellen Kultur durch die Afrikaromantik und das Kolonialidyll der Zwischenkriegszeit. Die Jazz-Musik als Illustration des positiv umgewerteten ›Primitivismus‹ steht im Kontrast zum kolonialrevisionistischen Diskurs über die vermeintlich beglückten afrikanischen Bevölkerungen, wodurch eher für die Fortführung des Kolonialismus plädiert wurde. Diese kontradiskursive Stellung existiert auch in Julius Lips literarischer Gestaltung des afrikanischen Fetischs. Der Berufsethnologe zeigt hier, wie anhand einer Kontextualisierung und Funktionalisierung des afrikanischen Dings, des Fetischs, ein narratologischer Einfluss auf Ereignisse bestimmt werden kann. Diese Einflussnahme ist gleichzeitig zumindest für seine realen Leser bzw. Zuschauer eine kontradiskursive Bewusstwerdung in 127 128

Zitiert nach Gottowik, Volker: Konstruktion des Anderen, a.a.O., S. 333, Fußnote 40. Osthues argumentiert zu Recht, dass ein Rewriting etwas mit Intertextualität zu tun hat. Vgl. Osthues, Julian: »Politische Implikationen der Intertextualität. Ästhetische Verfahren von Rewriting im deutschsprachigen Roman der Gegenwart«, in: Neuhaus, Stefan u. Nover, Immanuel (Hg.): Das Politische in der Literatur der Gegenwart. Berlin, Boston: de Gruyter, 2018, S. 139–162, hier S. 147. Dennoch bleibt der politische Horizont eines Zurückschreibens eine Stimmgebung an die ›Subalternen‹. Gemeint ist im Allgemeinen eine Schreibhaltung, welche die diskursive Stimmergreifung durch die (oder auf Seiten der) ehemaligen Kolonisierten ermöglicht. Dazu Ashcroft, Bill; Gareth Griffiths und Helen Tiffin: The Empire Writes Back. Theory and practice in post-colonial literatures. New York, London: Routledge, 2002, S. 67ff.

4 Das anti-kolonialrevisionistische Ding der Zwischenkriegszeit

Bezug auf die herrschende Kolonialpropaganda. Die kontestierenden Kulturen werden in Heiden vor Afrika durch eine ästhetische Auswirkung als ein politischer Gegendiskurs im Kontext des Kolonialrevisionismus in den Vordergrund gestellt. Ähnliche Gegendiskurse wurden, wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein wird, auch im Dritten Reich durch etliche Schriftsteller formuliert.

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Die Tradition der deutschen Intellektuellen und Akademiker, die den »nationalsozialistischen Traum vom sozialen Aufstieg in Afrika«1 hatten, wurde vom Historiker Kasten Linne herausgearbeitet. Betrachtet man die kolonialapologetischen Institutionen und Machtapparate und die Prominenz jener Befürworter der Kolonialidee im Dritten Reich, erscheint die Bezeichnung »NS-Kolonialplanungen für Afrika«2 mehr als eine Metapher. Afrika fungierte bereits 1934 in der Publizistik exklusiv als der von Deutschen »eroberte Erdteil«.3 Diese fantasievolle Ausklammerung der anderen europäischen nichtdeutschen Kolonialreiche in Afrika entsprach der Ideologie des Lebensraums, die »nationalsozialistischer Konsens [war], weshalb sie sich nicht nur in der Kolonialliteratur, sondern auch in den Texten der Parteispitze findet«.4 Wurde Norman Ohlers These des »totalen Rauschs«5 von seinen Kritikern als problematisch rezipiert,6 ist man in der Forschungsliteratur einig, dass die Drogen-Literatur und ihre literaturästhetischen Fragen im Dritten Reich einen Boom

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Vgl. Linne, Karsten: »›Weiße Arbeitsführer‹ – Der nationalsozialistische Traum vom sozialen Aufstieg in Afrika, in: Sozial.Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts 19, Heft 3, 2004, S. 6–27. Vgl. Linne, Karsten: Deutschland jenseits des Äquators? Die NS-Kolonialplanungen für Afrika. Berlin: Christoph Links, 2008. Vgl. auch Kum’a Ndumbe III, Alexandre: Was wollte Hitler in Afrika? NS-Planungen für eine faschistische Neugestaltung Afrikas. Frankfurt a.M.: IKO-Verlag für Interkulturelle Kommunikation, 1993. Bohner, Theodor: Der eroberte Erdteil. Deutsches Schicksal in Afrika um Gustav Nachtigal. Berlin: Büchergilde Gutenberg, 1934. Ebner, Timm: Nationalsozialistische Kolonialliteratur. Koloniale und antisemitische Verräterfiguren »hinter den Kulissen des Welttheaters«. München: Wilhelm Fink, 2016, S. 77. Vgl. auch Hildebrand, Klaus: Vom Reich zum Weltreich. Hitler, NSDAP und koloniale Frage 1919-1945. München: Wilhelm Fink, 1965. Ohler, Norman: Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2015. Siehe zum Beispiel Barop, Helena: »Wenn das der Führer wüsste…«, in: DIE ZEIT Nr. 47/2015 vom 19. November 2015. Abrufbar unter https://www.zeit.de/2015/47/der-totale-rausch-sac hbuch-norman-ohler [Stand vom 30.10.2019].

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

erlebt hatte.7 Sie wurde unter dem Slogan »Nazis on Speed« herausgearbeitet.8 Mit diesem Anglizismus untersucht Werner Pieper Biografien der deutschsprachigen Schriftsteller im Dritten Reich, die unter dem Einfluss von Drogen standen: Klaus Mann, Walter Benjamin, Gottfried Benn, Ernst Jünger usw.9 Offensichtlich verstanden diese Autoren ihren Drogenkonsum auch als Protest gegen die Gemütskonditionierung durch die NS-Propaganda. Während die Hitlerjugend im Allgemeinen ihre »Melancholie als Droge«10 singen musste, versuchten diese Schriftsteller ihre Sucht nach dem afrikanischen Rauschgift als literarische Imagination zu verarbeiten. Bevor auf diese literaturästhetischen kolonialkritischen afrikanischen Dinge eingegangen wird, soll zunächst anhand der Afri-Cola-Werbung im Dritten Reich auf den schwierigen Kontext hingewiesen werden, in welchem die kolonialkritischen Stimmen formuliert wurden.

5.1 Exkurs: Afri-Cola, ein prokoloniales Ding Im Dritten Reich wurden Dinge als Medium der Pädagogie in Film sowie in der Werbung durch die NS-Propaganda missbraucht.11 Wie kaum ein anderes Ding mit afrikanischem Bezug wurde das Getränk Afri-Cola zu prokolonialistischem Zweck instrumentalisiert. Es handelt sich um eine angeblich aus der afrikanischen Kolanuss gewonnene und seit 1931 in Deutschland vertriebene Coca-Cola-Sorte. Über die Kolanuss, die bereits 3000 v. Chr. in Afrika geerntet und als Währung benutzt wurde, berichtet der Afrikaforscher Heinrich Barth (1821–1865), dass die Wohlhabenden in Westafrika seit dem 15. Jahrhundert diesen Luxusartikel am Morgen gekaut haben, um »die Bitterkeit der Nüchternheit zu brechen«.12 Trentmann hat Recht, wenn er schreibt, dass die kolonisierten Bevölkerungen »ihren eigenen Geschmack und ih-

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Siehe Moser, Jeannie: »Drogen-Literatur. Das experimentalisierte Selbst und seine Schreibweisen«, in: Feustel, Robert; Schmidt-Semisch, Henning u. Bröckling, Ulrich (Hg.): Handbuch Drogen in sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. Wiesbaden: Springer, 2019, S. 353–366. Pieper, Werner (Hg.): Nazis on speed: Drogen im 3. Reich. 2 Bande. Birkenau-Löhrbach, Pieper & The Grüne Kraft, 2002. Siehe »Mann, Benjamin, Benn, Jünger & Co.: Dichter und Denker, Kiffer & Junkies«, in: Pieper, Werner (Hg.): Nazis on speed: Drogen im 3. Reich. Band 1, a.a.O., S. 55–58. Siehe Abschnitt »›Wir reiten die Sehnsucht tot‹ oder Melancholie als Droge«, in: Reulecke, Jürgen: »Ich möchte einer werden so wie die--«: Männerbünde im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. u.a.: Campus, 2001, S. 103–128. Imai, Yasuo: »Ding und Medium in der Filmpädagogik unter dem Nationalsozialismus«, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 16/2, 2013, S. 229–251. Barth, Heinrich: Im Sattel durch Nord- und Zentralafrika. Reisen und Entdeckungen in den Jahren 1849–1855. (1858). Hg. von. Rolf Italiaander. Wiesbaden: Brockhaus, 1980, S. 238.

5 Das Dritte Reich: Das afrikanische Ding on speed

re Gewohnheiten in den kolonialen Pool«13 eingebracht haben. Im vorliegenden Fall wurde dieser Geschmack durch die NS-Werbung quasi verordnet. Typisch hierfür ist, dass der Gründer der Afri-Cola-Marke, Karl Flach (1905–1997), Mitglied der Nazi-Organisation »Deutsche Arbeitsfront« war, die »ab 1934 die Gewerkschaften ersetzte«.14 In der Praxis präsentierte sich das Getränk als AntiCoca-Cola, als antikapitalistisch und auf keinen Fall als antikolonialistisch. Die augenfälligsten Wechselwirkungen zwischen dem Nationalsozialismus und den Werbebemühungen der Kölner Getränkefirma Blumhoffer lassen sich schon im Logo des Getränkes feststellen. Skizziert ist nämlich eine Palme, das Symbol für das paradiesische Afrika,15 aber eine besondere »weiße stilisierte Palme, die große Ähnlichkeit mit dem späteren Symbol des Afrika-Korps aufweist«.16 Dieser wohlwollenden Vermischung der Symbole ist zu verdanken, dass das Ding Afri-Cola fern vom seit dem 19. Jahrhundert praktizierten »Warenrassismus«17 blieb, während Coca-Cola beispielsweise als gefährliches jüdisches Getränk verdächtigt wurde. Das Beispiel von Afri-Cola zeigt, wie sehr die kolonialfreundlichen Kreise im Dritten Reich Interesse an Kolonialwaren und insbesondere an afrikanischen Dingen zeigten. Dass nicht nur Werbung, sondern auch die prokolonialistische Literatur zu NS-Propagandazwecken diente, braucht hier nicht näher erläutert zu werden.18 Es gab eine Funktionalisierung der Reiseliteratur mit Bezug zu Afrika im Dritten Reich, nämlich die kolonialkritische Perspektivierung der Exilkritiker und der ›inneren Emigranten‹. Bei der Textauswahl dieser Form von Reiseliteratur stellt man leicht fest, dass die Autor*innen die Ästhetisierung der Abenteuersucht

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Trentmann, Frank: Herrschaft der Dinge, a.a.O., S. 24. Pieper, Werner (Hg.): Nazis on speed: Drogen im 3. Reich. Band 1., a.a.O., S. 111. Im Metzler Lexikon literarischer Symbole heißt es: »Die Palme steht repräsentativ für eine paradiesische Landschaft, für das ›Gelobte Land‹, wie es in E. Jüngers Afrikanische Spiele heißt, oder das ›Kaffern-Eldorado‹, wie der Kontinent in Raabes Stopfkuchen – bereits auf ironisch gebrochene Weise – genannt wird«, Hamann, Christof: »Afrika«, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2008, S. 9–11, hier S. 10. Baer, Martin u. Schröter, Olaf: Eine Kopfjagd, a.a.O., S. 152 u. 154. Dazu Trentmann, Frank: Herrschaft der Dinge, a.a.O., S. 232. Mehr dazu siehe Ebner, Timm: Nationalsozialistische Kolonialliteratur, a.a.O. Verwiesen sei dennoch auf die Funktion des Spezialgenres vom Reisebericht mit Bezug zu Afrika. Der nationalsozialistische Journalist und Buchautor Friedrich Sieburg (1893–1964) beispielsweise besuchte 1938 Tunesien, Algerien, Timbuktu, Sudan, Marokko etc. und veröffentlichte ein Buch Afrikanischer Frühling. Man kann diesen Titel ohne weiteres mit der nationalsozialistischen Afrikaromantik und kolonialen Fantasien in Beziehung bringen. Sieburg, Friedrich: Afrikanischer Frühling. Eine Reise. Frankfurt a.M.: Societäts-Verlag, 1938. Zu seinem Leben und Werk siehe Zimmermann, Harro: Friedrich Sieburg – Ästhet und Provokateur. Eine Biographie. Göttingen: Wallstein, 2015.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

durch die Inszenierung ihres eigenen Drogenkonsums als eine (kolonial)politische Stellungnahme intendieren. Im Folgenden sollen exemplarisch zwei Schriftsteller untersucht werden, die Nordafrika besucht haben, namentlich Klaus Mann und Ernst Jünger.

5.2 Klaus Mann: Fez, Fes … Zauberkräutlein der Exilkritik Im Exilkontext scheint die Kritik an der NS-Diktatur mit kritischen Positionen gegenüber dem Kolonialismus nicht unvereinbar, denn die deutschsprachigen Exilautor*innen prangerten auch die Machenschaften des Kolonialmenschen an.19 In seinem Roman Paradiese des Teufels (1933) prangert der Exilautor Balder Olden beispielsweise die menschenunwürdige Zwangsarbeit und skrupellose Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung im Kongo-Freistaat an.20 Einer der Exilautor*innen, der der Kolonial-Thematik in seinem Buch Der Wendepunkt von 1942 viel Raum widmet und in der postkolonialen literaturwissenschaftlichen Forschung kaum Erwähnung findet, ist Klaus Mann (1906–1949). Interessiert man sich für Klaus Manns Biografie, muss man erwähnen, dass sein Verhältnis zu Drogen tragisch endete, weil er sich 1949 das Leben durch eine Überdosis genommen hatte. Morphium und Heroin begleiteten sein privates Leben, sein künstlerisches Schaffen, sein politisches Engagement gegen den Nationalsozialismus sowie seine Exilzeit.21 Seine Freundin Annemarie Schwarzenbach (1908–1942), die ebenfalls den Drogen verfallen war, hatte ihre afrikanischen Erfahrungen bis nach Léopoldville (heute Kinshasa) und Brazzaville gebracht. Der Sohn des prominenten Schriftstellers Thomas Mann wollte ebenfalls mit seiner Schwester Erika bis nach Kongo fahren, hat allerdings lediglich Nordafrika bereisen können. Im Gegensatz zu der Schweizer Journalistin und Fotoreporterin Schwarzenbach, die erst in der Nachkriegszeit im Nachhinein ihre Kritik am Kolonialismus veröffentlichte,22 erschien Klaus Manns Buch noch im Dritten Reich. Dass der Text vorrangig als Kritik an der NS-Diktatur erscheint, ist nicht besonders, denn in der Exilkritik haben bekanntlich die politischen Wertezüge Vorrang. Trotzdem ist die unterschwellige Gestaltbarkeit der Kolonialismuskritik im analysierten Text nicht zu unterschätzen. In Bezug auf die Dingforschung im Kontext des Exils bilden die kolonialen Dinge allerdings ein bisher wenig in den Fokus gesetztes Thema. Untersucht wird statt-

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Siehe Braese, Stefan: »Exil und Postkolonialismus«, in: Krohn, Claus-Dieter und Winckler, Lutz (Hg.): Exil, Entwurzelung, Hybridität. München: Edition Text + Kritik, 2009, S. 1–19. Vgl. Olden, Balder: Paradiese des Teufels. Das Leben Sir Roger Casements. Berlin: Universitas, 1933. Vgl. Yang, Rong: »Ich kann einfach das Leben nicht mehr ertragen«: Studien zu den Tagebüchern von Klaus Mann (1931–1949). Marburg: Tectum, 1996, S. 104ff. Dazu Kpao Sarè, Constant: Postkoloniale Erinnerungskultur, a.a.O., S. 95ff.

5 Das Dritte Reich: Das afrikanische Ding on speed

dessen das Fremdwerden der auf Reisen gehenden europäischen Dinge, d.h. der Dinge, die von den Exilanten mitgenommen werden.23 Exildichtung, so der Befund der Forschung, gibt Aufschluss über die »Bedeutung (und den Bedeutungswandel) von Gegenständen, »Dingen«, und über die Einrichtung des Lebens in den vielfältigen Situationen und Prozessen der Entwurzelung und der Suche nach neuen Heimaten«.24 Dass Klaus Mann in seiner Exilerfahrung die marokkanische Droge zu einer Form der Textarbeit avancieren lässt, kann allerdings weniger als eine literarische Imagination der Heimat als ein Versuch des Rauschentzugs gelesen werden, und zwar entsprechend dem psychoanalytischen Prinzip »Schreiben als Therapie«.25 Werner Pieper bezeichnet den Kiff in Marokko zu Recht als eine »gerettete Identität«,26 denn sein Motiv sei die »Lust an der grenzüberschreitenden Erfahrung«27 gewesen. Liest man die Marokko-Episode28 aufmerksam, kann man gleichzeitig eine faschismus- und kolonialismuskritische Schreibhaltung feststellen. Obwohl der Untertitel auf »Lebensbericht« verweist, kann man die biografischen Züge weniger in den Mittelpunkt der Auslegung stellen und den Text vielmehr als ästhetisches Produkt betrachten, indem zwischen Autor und Erzählinstanz unterschieden wird. Denn in der Realität geschah die erzählte Handlung 1930 und wurde vor der Exilzeit in Treffpunkt im Unendlichen (1932)29 bereits literarisch gestaltet. In Der Wendepunkt (1942) beginnt die Marokko-Episode mit dem Appel des Protagonisten an die westlich-europäischen Touristen, die von Eskapaden träumen, die »bezaubernde« Stadt Fez doch besuchen zu kommen. Bald entpuppt sich diese Anwerbung von Touristen als eine humoristisch-kritische Botschaft gegen das, was vor dem Hintergrund der Überlegungen Edward Saids als »Orientalismus« beschrieben werden kann, nämlich die diskursive Konstruktion des Orients durch den Westen. Denn der arabische Touristenführer tritt ins Spiel, quasi in der Rolle eines Mephistos, und erzählt den

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Vgl. Kotowski, Elke-Vera: »Dinge des Exils. Der ambivalente Umgang nachfolgender Generationen mit dem deutsch-jüdischen Erbe. Ein Werkstattbericht«, in: Hahn, Hans Peter u. Neumann, Friedemann (Hg.): Dinge als Herausforderung, a.a.O., S. 287–304. Bischoff, Doerte u. Schlör Joachim: »Dinge des Exils. Zur Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Dinge des Exils. (= Exilforschung 31). München: Edition Text + Kritik, 2013, S. 9–20, hier S. 9f. Mehr dazu siehe Lätsch, David: Schreiben als Therapie? Eine psychologische Studie über das Heilsame in der literarischen Fiktion. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2011. Vgl. Abschnitt »Klaus Mann: Die gerettete Identität. Kiff in Marokko«, in: Pieper, Werner (Hg.): Nazis on speed, Band 1, a.a.O., S. 94–96. Pieper, Werner (Hg.): Nazis on speed, Band 1, a.a.O., S. 56. Mann, Klaus: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. (1942) Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2006, S. 331ff. Vgl. Mann, Klaus: Treffpunkt im Unendlichen. Roman (1932). Neuausgabe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch, 1998.

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beiden Reisegefährten (Klaus und seiner Schwester Erika), es sei gar nicht möglich, den wahren Reiz des Orients zu erfassen und zu ermessen, ohne die »orientalische Droge, den Zauberkräutlein Haschisch [zu] kosten«.30 In seinem Buch Grenzgänge: Kulturen des Rauschs seit der Renaissance (2013) hat der Politikwissenschaftler Robert Feustel ausführlich aufgezeigt, wie sehr die Thematik »Rausch« als eine westliche Projektion auf den Orient im europäischen Denken und der Literatur des 19. Jahrhunderts verbreitet war.31 Die Übernahme jener Form der westlichen Konstruktion Nordafrikas durch Klaus Mann wird zusätzlich mit dem Mephisto-Stoff in Einklang gebracht. Sowohl in diesem Roman Treffpunkt im Unendlichen als auch im Lebensbericht Der Wendepunkt wird das ästhetische Potential darin erkennbar, dass der literarische Stoff durch das Motiv des Zauberkräutleins inszeniert wird, ein Motiv, das nicht nur das Wunderleben der Volksmärchen, sondern auch die ganze deutschsprachige Literaturgeschichte wie ein roter Faden durchzieht.32 Man findet dieses Motiv in dem österreichischen Märchen »kindliche Aufopferung«, in dem ein Sohn durch die Berührung mit dem Zauberkräutlein dem Todesvogel sein eigenes Leben opfern muss, um die Heilung seines kranken Vaters zu bewirken.33 Sebastian und Sonja (alias Klaus und Erika), die Protagonisten in Treffpunkt im Unendlichen, lassen sich in Fes durch das Zauberkräutlein Haschisch verführen, was Sonja aufgrund der gravierenden Nachwirkungen nicht überlebt. Die den beiden literarischen Inszenierungen zugrunde liegende Autorenintention ist das Motiv des »Vom Teufel-geholt-werden«, das man in den unterschiedlichen Entwicklungen vom Faust-Stoff seit dem frühesten Volks-Faustbuch Historia von D. Johann Fausten (1587)34 über Goethes Faust (1878) und Christian Dietrich Grabbes Vormärz-Tragödie Don Juan und Faust (1829) bis hin zu Thomas Manns Doktor Faustus (1947) findet.35

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Mann, Klaus: Der Wendepunkt., a.a.O., S. 331. Feustel, Robert: Grenzgänge: Kulturen des Rauschs seit der Renaissance. München: Wilhelm Fink, 2013, S. 75ff. Vgl. Volkmann, Helga: Märchenpflanzen, Mythenfrüchte, Zauberkräuter. Grüne Wegbegleiter durch Literatur und Kultur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002, S. 168ff. Vgl. Moshamer, Joseph Alois: Geschichten vom Teufel: mit Einschluss der interessantesten Volkssagen, Geister- und Gespenster-Märchen, nationalen Gebräuchen und wahnwitzigen Sprüchen. Wien: Benedikt, 1873, S. 303–305. Vgl. Struwe-Rohr, Carolin: »Faust und die Dinge. Zur Fragmentierung und Verdinglichung in der Historia von D. Johann Fausten (1587)«, in: Wernli, Martina u. Kling, Alexander (Hg.): Das Verhältnis von res und verba, a.a.O., S. 143–163. Mehr dazu siehe Jasper, Willi: Faust und die Deutschen. Berlin: Rowohlt, 1998. Vgl. auch Bauer, Manuel: Der literarische Faust-Mythos: Grundlagen – Geschichte – Gegenwart. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2018.

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Wenn man Thomas Manns literarische Gestaltung des Teufelsbündnisses in Doktor Faustus36 im Hinterkopf hat, kann man schon vorahnen, wie die Geschichte bei seinem Sohn enden kann. Denn das Probieren der Droge entspricht dem Motiv der Bordelbesuche durch Adrian Leverkühn in Leipzig und ist durch eine Berührung des Unberührbaren, der Sünde, verbunden. In Thomas-Mann-Forschung wurde Adrians Bordellbesuch zu Recht als eine Quelle der Steigerung des produktiven Triebes gedeutet.37 Im analysierten Marokko-Kapitel führt die Erfahrung mit dem Negativen auch zu einem Teufelsbündnis. Im Text heißt es: Nach einer kleinen Weile fangen wir an, ganz ungewöhnlich heiter zu werden. Alles reizt uns zum Kichern. Die Form der Wasserkaraffe, die Quasten an Erikas Pantoffeln, der Name des Hotels, dessen Mobiliar so sehr, sehr drollig ist, der Name der arabischen Stadt, wohin unser höchst lachhafter kleiner Wagen uns gefahren hat. »Fez« wiederholen wir immer wieder, sinnlos amüsiert. »Was für ein Name! Visitez Fez, la Mysterieuse! Warum besuchen Sie denn um Gottes willen nicht das mysteriöse Fez, wo jedermann einen Fez trägt, einen Fez mit einer Quaste dran, eine Pantoffelmütze von prinzlicher Qualität: Sogar unser Führer hat einen, unser spaßhafter kleiner guide, unsere Gazelle, die uns mit der Quaste verführt.«38 Betrachtet man Der Wendepunkt als literarisches Produkt, müsse man in diesem Textauszug die Begegnung mit der Fremde ästhetisch analysieren. Werner Pieper sieht in Klaus Manns Experimentierfreude in Sachen Drogen die »Baudelair’sche Flucht vor dem Ennui«.39 Es wird im Textauszug ersichtlich, dass die Flucht vor der Langeweile die Protagonisten in die afrikanische Dingwelt der Fantasie geführt hat. Dass Faszinationsobjekte des europäisch-westlichen Orientalismus wie die Wasserkaraffe und die Quaste auf einmal drollig sind, kann schwer anders interpretiert werden als eine postkoloniale Kritik. Man denke an Franz von Dingelstedts (1814–1881) Kritik an Friedrich Rückert (1788–1866) wegen seines Interesses für den orientalischen Kulturraum40 , welche wie folgt formuliert wurde:

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Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde. (1947) Frankfurt a.M.: Fischer, 1990. Vgl. Beispielsweise Stresau, Hermann: Thomas Mann und sein Werk. Frankfurt a.M.: Fischer, 1963, S. 212. Mann, Klaus: Der Wendepunkt, a.a.O., S. 331. Pieper, Werner (Hg.): Nazis on speed, Band 1, a.a.O., S. 57. Der Erlanger Professor für orientalische Sprachen und Literaturen wurde 1841 vom König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen (1795–1861) nach Berlin berufen, was von seinen Zeitgenossen kritisiert wurde. Vgl. Orlick, Manfred: »Vermittler zwischen Orient und Okzident. Zum 150. Todestag von Friedrich Rückert«, in Literaturkritik Nr. 2, Februar 2016. Abrufbar unter ht tps://literaturkritik.de/id/21577 [Stand vom 30.10.2019].

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Nach Mekka zieht der Araber auf stolperndem Kamele. Und der Dichter nach Berlin auf holperndem Ghasele. Berlin ist Deutschlands Orient, und wenn ihm Palmen mangeln, […] Im Fusel-Opium berauscht sich offen auf der Gasse.41 Während der Dichter des Vormärz Dingelstedt in diesem Spottlied aus Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters vom 1841 die Opium-Droge als einen fremdartigen Stoff aus dem Orient präsentiert, findet die Orient-Symbolik in Der Wendepunkt keinen ironischen Bezug, sondern dient dazu, eine subversive Perspektive der kolonialen Ordnung zu formulieren. Dafür benutzt Klaus Mann das oben erwähnte Motiv des »Vom Teufel-geholt-werden«, um das Klischee über den Orient42 durch seine Modellierung der Droge anzuprangern. Die Repräsentation der afrikanischen und europäischen Dinge wird in der Tat nicht in der gewohnten kolonialen ›Ordnung der Dinge‹ dargestellt. Eine aufmerksame Lektüre zeigt die metonymische Deutung und Vermischung von der Stadt »Fes« zum Ding »Fez«. Das »Fez« ist die rote, kegelstumpfförmige orientalische Kopfbedeckung, die nach der marokkanischen Stadt Fes benannt wurde, wo sie zuerst hergestellt wurde. Durch diese Vermischung werden die Stadt und das Ding gleichsam als »mysteriös« bezeichnet. Seit der deutschen Avantgarde bis ins Dritte Reich ist das Eigenschaftswort »mysteriös« positiv umgewertet und bedeutet »geheimnisvoll«.43 Die Umkehrung des kolonialen Blicks auf das afrikanische Ding wird evident, wenn man die Funktion vom Fez mit früheren Texten vergleicht. In Theodor Fontanes Roman Effi Briest (1894) beispielsweise wird dem Fes mit abwertender Alterität begegnet. In einer Szene lässt Fontane seinen Romanprotagonisten Wüllersdorf dessen Freund, dem verzweifelten Baron Innstetten, der nach Afrika fliehen möchte, erklären, seine afrikanische Abenteuerlust sei nur gut für Leute, die in der europäischen Gesellschaft Probleme haben. Abgesehen von der Kritik am europäischen Kolonialprojekt in Afrika, die hier deutlich wird, lässt Fontane Wüllersdorf eine böswillige Herabwürdigung des marokkanischen Fez’, artikulieren, indem er seinem Freund folgende Frage stellt: »Aber ein Mann wie Sie! Wollen Sie mit einem roten Fez einem Palaver präsidieren?«.44 Im Gegensatz zu Effi Briest bleibt dieses afrikanische Ding in Der Wendepunkt solcher

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Dingelstedt, Franz von: Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters (1841). VI. Station, 1. Lied. Tübingen: Niemeyer, 1978, S. 182. Ein ähnliches Klischee über den angeblichen Gegensatz von Westen und Orient in Sachen Drogen wird im Buch Vom Rausch im Orient und Okzident (Stuttgart: Klett-Cotta, 1966) vom Ethnologen Rudolf Gelpke verbreitet. Vgl. Schutz, Joachim: Wild, Irre und Rein. Wörterbuch zum Primitivismus der literarischen Avantgarden in Deutschland und Frankreich zwischen 1900–1940. Gießen: Anabas, 1995, S. 63. Fontane, Theodor: Effi Briest (1894). In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Warter Keilel. Band 4. München: Hanser, 1963, S. 288.

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abwertenden Gedankenverknüpfungen unverdächtig. Vielmehr sind es die europäischen Dinge, die mit Entwertung dargestellt werden, angefangen mit dem Auto, das Symbol schlechthin für die europäische Mobilität, das als höchst lachhaft und klein dargestellt wird. Somit wird der Orientalismus als Kolonialismus performativ subvertiert. Zum Schluss kann man feststellen, dass der Lapsus – Verführung durch die Quaste – gewollt ist. Denn eigentlich müsste es heißen, »durch das Haschisch verführt«. Die Erzählinstanz entscheidet sich allerdings absichtlich für die Quaste, die genau wie der Fes typisch orientalisch-marokkanisch ist. Man kann diesen Blick auf den Orient als einen Versuch der Interkulturalität sowie die Perspektive, die durch den mephistophelischen Pakt entsteht, als »postkolonialen Blick«45 bewerten. Wie etwa Hubert Fichte (1935–1986) in seiner Marrakesch-Erzählung Der Platz der Gehenkten46 das Verhalten eines ganz nüchternen Europäers in der Fiktion benutzt, um Kritik am diskursiven Eurozentrismus zu üben,47 führt Klaus Manns Kritik an der eurozentrischen Repräsentation der afrikanischen Dinge über das durch Rauschgifte herbeigeführte Tollwerden. Erst durch den drogenbedingten Zustand, eine das Haschischrauchen hymnisch feiernde Stimmung, wird die gewonnene Sprache der Dinge deutlich. Die Stimme des Haschischs wird in Form einer Faschismus- und Kolonialismuskritik hörbar. Während in dem oben zitierten Textauszug mit dem »Führer« ein Touristenführer gemeint ist, wird später die Erzählerintention deutlicher und weist auf eine Kritik am Nationalsozialismus hin: Aber die Geschichte ist Variation und Entwicklung des mythischen Modells – nicht seine Wiederholung. Die Bedrohung, der die griechischen Staaten sich ausgesetzt fanden, erscheint beinahe harmlos im Vergleich mit jener, die wir nun zu ermessen und bestehen hatten. Denn diesmal war kein äußerer Feind, der den Sturm auf die Akropolis wagte: Die Gefahr kam von innen, in unserer Mitte wuchs die teuflische Saat.48 Das hier narrativ evozierte innere Erleben in der Form von Gefahr ist selbstverständlich der Nationalsozialismus. Doch im Hinblick auf die oben gemachten Beobachtungen ist dem Text schwer mit Kategorien einer bloßen Kritik am Nationalsozia-

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Vgl. Lützeler, Paul Michael (Hg.): Schriftsteller und Dritte Welt: Studien zum postkolonialen Blick. Tübingen: Stauffenburg, 1998. Fichte, Hubert: Der Platz der Gehenkten. Roman. Hg. von Gisela Lindemann u. Leonore Mau. Frankfurt a.M.: Fischer, 1989. Dazu Kpao Sarè, Constant: »The African Animal in Oral Tradition, Africanism and Postcolonialism. Animal-Human Relations in African Folktales and in German-Language Literature on Africa«, in: Lundt, Bea u. Marzolph, Ulrich (Hg.): Narrating (Hi)Stories in West Africa, a.a.O., S. 167–178, hier S. 226f. Mann, Klaus: Der Wendepunkt, a.a.O., S. 249. Hervorhebung von mir K.S.

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lismus beizukommen. Man kann in gewisser Weise die Parallele von diesem politischen Horizont zum kritischen Potential der marokkanischen Droge nicht übersehen. Denn auch sie war keine äußerliche Gewalt, sondern eine freiwillig herbeigeführte teuflische Saat. Somit vermischen sich Kritik am totalitären NS-Regime und Kolonialismuskritik. Ein anderer Schriftsteller des Dritten Reiches, dessen Leben Experimente mit Rausch vorweist49 und dessen Werk literaturästhetische Züge in Bezug auf die afrikanischen Drogen zeigt, ist der Autor der inneren Emigration, Ernst Jünger (1895–1999).

5.3 Ernst Jünger: Opium … Nur Dinge, die in der Hölle… Ernst Jünger gehört zu den Autor*innen, die sich als ›innere Emigranten‹ bezeichneten, weil sie eine »getarnte Distanz zur Gegenwart des Dritten Reiches«50 zeigen konnten. Diese Schriftsteller fühlten sich den ins Exil geflohenen Schriftstellern nicht moralisch unterlegen. Frank Thieß (1890–1977) äußert eine Kritik gegen die Verherrlichung der Exilautor*innen in der Nachkriegszeit mit der bekannten Paradeantwort: »Nur die in der Hölle gewesen sind, könnten vielleicht gerühmt werden«.51 Ernst Jünger ist allerdings ein besonders umstrittener Autor und wird manchmal als nationalsozialistischer Kolonialautor präsentiert.52 Obwohl er sich öffentlich als Volkstribune und Wortführer für den Nationalsozialismus und dessen, wie er sagt, »logische Konsequenz, den Imperialismus«53 geoutet hatte, veröffentlichte er 1936 seine romanartige Autobiografie Afrikanische Spiele,54 die »weder Edle noch Verächtliche«55 kennt. Wegen dieser vermuten lassenden Nähe zum Nationalsozialismus wird in der Forschung kontrovers diskutiert, inwiefern Jüngers Schreibhaltung 49 50 51

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Vgl. Jünger, Ernst: Annäherungen: Drogen und Rausch. Mit einem Nachwort von Volker Weidermann. Stuttgart: Klett-Cotta, 2014. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte Band 4: 1914–1949. München: Beck, 1987, S. 836. Siehe dazu »Nur die in der Hölle gewesen sind …«- Zur Problematik der inneren Emigration«, in: Deutsche Literatur in Schlaglichtern hg. von Bernd Balzer, Mannheim, Meyer, 1990, S. 414. Siehe auch »Fortdauerndes Exil und innere Emigration«, in: Ebd., S. 433ff. Dazu Ebner, Timm: Nationalsozialistische Kolonialliteratur, a.a.O., S. 65f. Vgl. auch Rubel, Alexander: Die Ordnung der Dinge. Ernst Jüngers Autorschaft als transzendentale Sinnsuche. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2018. Zitiert nach Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, a.a.O., S. 549. Jünger, Ernst: Afrikanische Spiele. Hamburg: Hanseatische Verlags-Anstalt, 1936. Zitiert wird aus folgender Auflage: Jünger, Ernst: Afrikanische Spiele. München: Paul List, 1955. Kaempfer, Wolfgang: Ernst Jünger. Stuttgart, Weimar: Metzler, 1981, S. 29. Hervorhebung im Originaltext.

5 Das Dritte Reich: Das afrikanische Ding on speed

in dieser Erzählung als innere Emigration fungieren kann.56 Zu der Diskussion soll im Hinblick auf die Editionsgeschichte nicht unerwähnt bleiben, dass das Erscheinen des Buches im Dritten Reich schon als ein unbestreitbares moralisches Wagnis gelten kann. Denn es erscheint ja nicht etwa in der Reihe »Kolonialbücherei der deutschen Jugend« des Berliner Verlages Steiniger, die bekanntlich Kolonialphantasien über die Expansion, »namentlich in Afrika propagierte«,57 sondern bei der Hamburger Hanseatischen Verlags-Anstalt, die in der Forschungsliteratur als Verlag des »Inneren Emigration« gilt.58 Der Autor selbst soll sich darüber gefreut haben, dass sein Roman erst nach »der sogenannten Verfallszeit«59 erschienen war. Damit habe er, so Helmuth Kiesel, signalisieren wollen, dass »Freiheit noch möglich ist«.60 Dass der Roman Afrikanische Spiele dem Lager der inneren Emigration zuzuordnen ist, zeigt sich nicht nur durch seine Entstehungsgeschichte. In Bezug auf die koloniale Thematik gehört Jünger zu dieser Zeit zu den Schriftstellern, die »nicht mehr mit dem System konform gehen wollten«61 und gleichzeitig »Joseph Conrad gelesen« haben.62 Um den Roman aus literaturwissenschaftlicher Sicht unbefangen interpretieren zu können, erweist es sich insofern als relevant, zwischen Autor und Erzählinstanz deutlich zu unterscheiden. In diesem Sinne betrachtet Hans Esselborn Jüngers Text als eine Erzählung über Afrika in den Schnittpunkten der Kulturen.63 Auch Volker Mergenthaler empfiehlt Jüngers Buch als »ausschließlich literarisches Produkt«64 zu betrachten, das eine ästhetische Durchdringung der Begegnung mit der Fremde zu bestimmen versuchte. 56

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Timm Ebner untersucht das Buch unter dem Zeichen der Kritik am Antisemitismus und stellt fest, dass Jünger weniger Verräterfiguren und stattdessen »eine futuristische Begeisterung für abstrakte, dezisionistische Feindfiguren« einsetzen würde (Ebner, Timm: Nationalsozialistische Kolonialliteratur, a.a.O., S. 119). Der Historiker Hans-Ulrich Wehler versteht aber Jüngers Schreibhaltung ausschließlich im Kontext der platten Desillusionierung und empfiehlt indes, Jünger in Bezug auf eine vermeintliche ästhetische Distanz zum Nationalsozialismus keinen Glauben zu schenken. (Vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, a.a.O., S. 549). Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, a.a.O., S. 836. Lokatis, Siegfried: Hanseatische Verlagsanstalt. Politisches Buchmarketing im Dritten Reich. Berlin, Boston: de Gruyter, 1992, S. 91. Zitiert nach Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger, a.a.O., S. 439. Ebd., a.a.O. Lorenz, Matthias N.: Distant Kinship, a.a.O., S. 135. Ebd., a.a.O. Vgl. Esselborn, Hans: »Äußeres und inneres Afrika bei Ernst Jünger«, in: Nilüfer, Kuruyazıcı (Hg.): Schnittpunkte der Kulturen. Stuttgart: Heinz, Akad. Verlag, 1998, 331–338. Mergenthaler, Volker: »Afrikanische Spiele (1936)«, in: Schöning, Matthias (Hg.): Ernst Jünger-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2014, S. 123–129, hier S. 127. Mergenthaler untersuchte Jüngers Roman auch als eine Ästhetik der Transgression. Vgl. Mergenthaler, Volker: Völkerschau – Kannibalismus – Fremdenlegion. Zur Ästhetik der Transgression (1897–1936). Tübingen: Niemeyer, 2005, S. 156–222.

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Der freie Schriftsteller Ernst Jünger, der schon als Gymnasiast 1913 nach Afrika floh, um dort in einer Fremdenlegion sein Glück zu versuchen,65 gab in seinem Roman Afrikanische Spiele dem Kolonialismus breiten Raum. Das Scheitern der »letzten sentimentalen Reise«,66 wie der Text ursprünglich heißen sollte, berichtet über die abenteuerlichen Eskapaden des jungen Legionärs Herbert Berger nach Afrika. Die Kolonialismuskritik wird in der Binnenerzählung deutlich, etwa wenn Berger in Bel-Abbès (Marokko) das feststellen muss, was ihm der französische Arzt Goupil vorhergesagt hatte, nämlich: »Die Ausbeutung ist die eigentliche Form, das große Thema unseres Jahrhunderts […] Die Kolonien sind auch Europa, kleine europäische Provinzen, in denen man die Geschäfte ein wenig offener und unbedenklicher treibt«.67 Diese Kritik an der Vorstellung von Afrika als »utopischem Raum der Gesetzlosigkeit«68 erinnert an Herders oben erwähnte Maxime der nordafrikanischen Bauwerke als »Freistätten des Handels, die Mutter von Gesetzgebungen und Kolonien«.69 In der Jünger-Forschung hat man zu Recht Jünger als einen Anhänger der Herderschen Auffassung der Weltgeschichte charakterisiert.70 In Bezug auf die materielle Kultur in Afrika soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass Jünger, der eigentlich Afrika südlich der Sahara erst 1966 besucht hatte, in seinem Text die Urkraft der afrikanischen Objekte beschreibt. Es treten auf: Der dunkle und unbekannte Urwald, Stromgeflecht des Nils oder des Kongo etc.71 Ebenso treten auf: »Allergewöhnlichste« Dinge wie Fieber, Überdruss und »Cafard«.72 Matthias Laurenz hat richtigerweise herausgearbeitet, dass diese Beschreibungen als intertextuelle Hinweise auf Joseph Conrads Herz der Finsternis zurückzuführen sind.73 Im Gegensatz zu Conrads Roman, wo der Sklavenhändler Kurtz von der Natur ominöse Dinge über ihn selbst erzählt bekommt, führen die »seltsamen Dinge«,74 65

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Zu Jüngers Biografie siehe Modick, Klaus: »Jünger, Ernst«, in: Lutz, Bernd (Hg.): Metzler Autoren Lexikon, a.a.O., S. 389–390. Vgl. Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie. München: Siedler, 2007. Jünger, Ernst: Afrikanische Spiele. München: Paul List, 1955, Klapptext. Ebd., S. 146. Crescenzi, Luca: »Afrikanische Spiele im Werk Ernst Jüngers«, in: Figal, Günter u. Schwilk, Heimo (Hg.): Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten. Stuttgart: Klett-Cotta, 1995, S. 169–182, hier S. 171. Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität, a.a.O., S. 717. Chung, Wonseok: Ernst Jünger und Goethe. Eine Untersuchung zu ihrer ästhetischen und literarischen Verwandtschaft. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 2008, S. 318, Note 122. Selbe Feststellung auch bei Kunicki, Wojciech: »An der Zeitmauer (1959)«, in: Schöning, Matthias (Hg.): Ernst Jünger-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2014, S. 213–219, hier S. 214. Jünger, Ernst: Afrikanische Spiele, a.a.O., S. 78. Ebd., S. 146. Lorenz, Matthias N.: Distant Kinship, a.a.O. Jünger, Ernst: Afrikanische Spiele, a.a.O., S. 163.

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die Berger sieht, ihn in Berührung zum marokkanischen Opium. Mit diesem DingSymbol erscheint der eigentliche Schlüssel fürs Verständnis der Erzählung. Denn im Gegensatz zum romantischen Motiv der Flucht von der väterlichen Obhut, welche – etwa in Eichendorfs Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts (1826) – mit der Sehnsucht nach Natur verbunden ist,75 führt Bergers Suche nach dem Außergewöhnlichen zu einem Kontakt mit den Rauschgiften. Nicht ohne Grund findet Berger in dem Opiumraucher Charles Benoit die perfekte Reisebegleitung durch Nordafrika. Der koreanische Germanist Wonseok Chung schreibt dazu: Der Opiumraucher Benoit verkörpert den Typus, welchen Herbert Berger sowie der Autor selbst auf ihren abenteuerlichen Fahrten zu finden hoffen. Benoit ist also gleichsam eine Verkörperung von Bergers eigentlichem Wunsch, den »natürlichen Söhnen des Lebens« anzugehören. Getrieben von anarchischen Gedanken und Wünschen locken ihn das Wagnis und der Tanz auf dem Vulkan.76 Dieser Interpretation muss man zustimmen, wenn man betrachtet, dass Benoit seinem Freund Berger in Afrika, seinem »Gelobten Land«,77 vor allem »schändliche Dinge«78 zeigt, die im Text nicht weiter beschrieben werden. Das subversiv-kritische Potential des Textes liegt darin, dass durch die ›dingliche‹ Macht des Opiums Berger eine persönliche Entwicklung macht, die ihm erlaubt, sich von kolonialen Denkmustern über das afrikanische Ding als Wunschobjekt zu distanzieren. Dass die Erzählinstanz das Projekt des deutschen Legionärs Bergers scheitern lässt, kann schwer anders interpretiert werden als ein Abgesang auf die Kolonialphantasie des Dritten Reiches. Denn Berger erklärt seine Entscheidung, Fremdenlegionär zu werden, durch seine eigene Lektüre von »schlechte[n] Bücher[n]«.79 Dies kann schon als Gegenmodell zu der damaligen Afrika-Utopie des Dritten Reiches gelesen werden. Denn als Jüngers Afrikanische Spiele erschien, war die öffentliche und veröffentlichte Meinung in Deutschland durch die Kolonialnostalgie der Weimarer Republik sowie die Kriegs- und Kolonialpropaganda des Dritten Reiches bereits manipuliert. Etwa die kolonialrevisionistische Safariromantik des Kolonialoffiziers Lettow-Vorbeck, die bis in den 1950er Jahre noch Leser und großen Auflagen erfreute80 , oder

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Dazu Rumpf, Michael: Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts. Inhalt – Hintergrund – Interpretation. München: Mentor, 2010, S. 47f. Chung, Wonseok: Ernst Jünger und Goethe. Eine Untersuchung zu ihrer ästhetischen und literarischen Verwandtschaft. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 2008, S. 65. Jünger, Ernst: Afrikanische Spiele, a.a.O., S. 114. Ebd., S. 227. Ebd., S. 11. Dazu Michels, Eckard: »Der Held von deutsch-Ostafrika«. Paul von Lettow-Vorbeck. Ein preußischer Kolonialoffizier. Paderborn: Ferdinand Schoeningh, 2008; vgl. Ders.: »Paul Lettow-Vorbeck«, in: Zimmerer, Jürgen (Hg.): Kein Platz an der Sonne, a.a.O., S. 373–386.

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Hans Grimms prominent erscheinende Gedanken über Deutschland als Volk ohne Raum (1926) und unterschwellig über Afrika als ein »Raum ohne Volk«, als Terra nullius,81 und die Betrachtungen in kolonialfreundlichen Kreisen, Afrika als Ergänzungsraum für die deutsche Wirtschaft und Forschungsinstituten zu sehen. Aus editionsästhetischer Perspektive kann man davon ausgehen, dass der Autor all jene Literatur unter der Kategorie der Schundliteratur einzuordnen und den Leser des Dritten Reiches vor deren Lektüre zu warnen versucht.

5.4 Zusammenfassung: Dinge im Dienst des kalkulierten Abenteuers Sowohl im Kontext des Exils als auch im Rahmen der inneren Emigration werden die afrikanischen Drogen als Ding der postkolonialen Kritik entsprechend modelliert. Dabei ist die implizierte moralische Absicht offenkundig keineswegs die Eloge des Kiffens, sondern eine Subversion der NS-Diktatur und ihrer kolonialen Fantasien in Afrika. Die kolonialismuskritische Schreibhaltung zeigt sich in Klaus Manns Lebensbericht Der Wendepunkt durch die subversive Inszenierung des (auch völkisch-nationalsozialistischen) tradierten Bild von Nordafrika. Es gelingt der Erzählinstanz, die Faszinationsobjekte der europäisch-westlichen Konstruktion des Orients (Wasserkaraffe, Quaste, Fez) mit einem subversiven Potential zu beladen. Auch Ernst Jünger inszeniert die afrikanische Droge mit einem subversiv-kritischen Potential, denn es gelingt seinem Protagonisten Berger, sich von den kolonialen Denkmustern über das afrikanische Ding als Wunschobjekt zu distanzieren: »Aus Afrika wird eine Schule«,82 schreibt dazu der amerikanische Germanist Gerhard Loose treffend. In dieser Konstellation wird der nationalsozialistische Kolonialtraum von Afrika entsprechend der Ästhetik der inneren Emigration unterschwellig angeprangert. Alles in allem kann festgehalten werden, dass der politische Horizont dieser beiden Autoren gleichzeitig die Kritik an der NS-Diktatur und am nationalsozialistischen kolonialen Traum ist. Denn sie formulieren eine andere Sichtweise der kolonialen Realität und tragen dazu bei, die Umsetzbarkeit der Kolonialphantasien über Afrika im Sinne von »Wann kommen die Deutschen wieder?«83 in Frage zu stellen. Aus gattungstheoretischer Sicht kann man die beiden analysierten Reiseberichte über Nordafrika als Zeichen des »kalkulierten Abenteuers« einordnen. Unter 81

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Vgl. Kreutzer, Leo: »›Afrika im Herzen‹ oder: Der Kolonialrevisionismus des Romans »Volk ohne Raum« und das Fortleben eines ›Kolonialismus ohne Kolonien‹«, in: Hofmann, Michael (Hg.): Unbegrenzt. Literatur und interkulturelle Erfahrung. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 2013, S. 127–138. Loose, Gerhard: Ernst Jünger. Gestalt und Werk. Frankfurt a.M.: Klostermann, 1957, S. 140. Dinglreiter, Senta: Wann kommen die Deutschen endlich wieder? Eine Reise durch unsere Kolonien in Afrika. Leipzig, Hase & Koehler, 1935.

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diesem Titel untersuchte Dorothea Fell (1998) die Reiseliteratur deutschsprachiger Frauen zwischen 1920 und 1945 und zeigt, dass die Reiseberichte und das Reisen u.a. auch nach Afrika dazu dienten, gesellschaftspolitische Themen aufzugreifen.84 Bei den vorliegenden Autoren gelten die Veröffentlichungen ihrer Texte im Dritten Reich auch als eine kalkulierte Inszenierung ihrer eigenen Abenteuersucht zwecks politisierender Wirkung. Die afrikanische Droge erscheint insofern als Dingsymbol, das signalisieren soll, dass »Freiheit noch möglich ist«.85 Dennoch darf nicht unerwähnt bleiben, dass der Fokus der behandelten Texte auf Nordafrika eigentlich ein Klischee ist.86 Mutmaßlich hängt dies mit einem Mangel an praktischen gemeinsamen kolonialen Schwerpunkthemen zusammen, denn, wie Edward Said treffend ausführt, das Verhältnis der deutschsprachigen Schriftsteller*innen zu Nordafrika war eigentlich nur imaginär, weil weder das Deutsche Reich noch die Habsburger Monarchie und die Schweiz Kolonien in der Region hatten.87 Alles in allem kann festgehalten werden: Nicht Nordafrika war »on speed«, sondern das Dritte Reich. Dies kann wiederum zu einschlägigen Überlegungen über die Alterität in Beziehung gesetzt werden, die drauf hinweisen, dass die Art und Weise, in der wir den »Anderen« konstruieren, letztendlich gleichbedeutend ist mit der Art und Weise, in der wir uns selbst repräsentieren.88 Um es mit der Wahrheit aus dem Talmud, die der amerikanischen Schriftstellerin Anaïs Nin (1903–1977) auch oft zugesprochen wird, auszudrücken: »Wir sehen die Dinge nicht so, wie sie sind, sondern so, wie wir sind«.89

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Vgl. Fell, Karolina Dorothea: Kalkuliertes Abenteuer. Reiseberichte deutschsprachiger Frauen (1920–1945). Stuttgart, Weimar: Metzler, 1998. Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger, a.a.O., S. 439. Mehr zu dieser Vereinnahmung Nordafrikas siehe Schmidtke, Sabine: »Die westliche Konstruktion Marokkos als Landschaft freier Homoerotik«, in: Die Welt des Islams 40, 2000, S. 375–411. Vgl. Said, Edward W.: Orientalismus, a.a.O., S. 19. Vgl. beispielsweise Fabian, Johannes: »Präsens und Repräsentation. Die anderen und das anthropologische Schreiben«, in: Berg, Eberhard; Fuchs, Martin (Hg.): Kultur, Soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1995, S. 335–354. Johannes Fabian hat sich auch mit der Einbeziehung der Opiate durch die europäischen Forschungsreisenden in Afrika befasst. Vgl. Fabian, Johannes: Im Tropenfieber. Wissenschaft und Wann in der Erforschung Zentralafrikas. München: Beck, 2001. »We don’t see thinks as they are – we see them as we are«, zitiert nach Bendixen, Peter: Einführung in das Kultur- und Kunstmanagement. 2. Aufl. Wiesbaden: Springer, 2013, S. 109.

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6 Nachkriegsliteratur: »Und wie hältst du’s mit dem afrikanischen Ding?«

Die Kolonialkritik der Nachkriegszeit war plural; doch sowohl in Ost- als auch Westdeutschland geriet sie weitgehend unter Ideologieverdacht.1 Die politische Systemkonkurrenz der beiden deutschen Staaten über Afrika braucht hierbei nicht mehr näher erläutert zu werden.2 Der Fokus wird lediglich auf die zu diesem Zweck durchgreifende literarische Indienstnahme von afrikanischen Dingen gelegt. Die kolonialkritische Perspektive erscheint nämlich als eine Gretchenfrage der beiden deutschen Nachkriegsliteraturen. Dabei entfaltet sich insbesondere das postkoloniale Potential der afrikanischen Dinge als eine globale Kritik am Kolonialismus auf der einen Seite und als Kapitalismuskritik auf der anderen Seite.

6.1 Georg Britting: Naturdinge als globale Kolonialkritik in der BRD Christoph Eykman hat die Nachkriegsliteratur als die Dingliteratur par exellence bezeichnet, denn sie beinhalte »beschreibungsintensive Romane, in welchen Dinge […] in hohem Maße bedeutungsstiftend sind«.3 Die westdeutsche Nachkriegszeit war publizistisch und politisch durch Kolonialphantasien geprägt. Wie die Historikerin Stefanie Michels zeigt, hatten Kolonialrevisionisten wie Lettow-Vorbeck das Ohr einflussreicher Politiker, was beispielsweise dazu geführt hatte, dass die BRD »aufgrund der öffentlichen Meinung – gezwungen [war] so genannte ›Gratialzahlungen‹

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Vgl. Schilling, Britta: »Kolonialismus und Kalter Krieg Unabhängigkeitsgeschenke und die materielle Politik der Erinnerung (1949–1968)«, in: Bechhaus-Gerst, Marianne u. Zeller, Joachim (Hg.): Deutschland postkolonial? a.a.O., S. 182–203. Dazu van der Heyden, Ulrich: »Die deutsch-deutsche Systemkonkurrenz Anfang der 1960er Jahre in Afrika, dargestellt am unabhängigen Ghana und seines Präsidenten Kwame Nkrumah«, in: Yigbe, Dotsé u.a. (Hg.): Das post/koloniale Afrika. Kulturwissenschaftliche Fragestellungen in Literatur und Geschichte. Münster u.a.: LIT, 2018, S. 123–144. Eykman, Christoph: Die geringen Dinge. Alltägliche Gegenstände in der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Aachen: Shaker, 1999, S. 5.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

in Kamerun und Togo durchzuführen«.4 Auch im Bereich der Literatur verstanden die Schriftsteller oft ihr Bewusstsein vom Kolonialismus meistens als Werkzeug für einen politischen Horizont. So versteht sich die Globalisierung der Kolonialkritik in der BRD insbesondere als Annäherungsversuch der westdeutschen Linken an die Dritte Welt,5 wobei der von der postkolonialen Kritik denunzierte »Orientalismus« (und d.h. auch Afrikanismus) selbst bei kanonisierten Autoren wie Arno Schmidt und Hubert Fichte zu finden ist.6 Es gibt allerdings auch Autor*innen, die in diesem Rahmen Afrika nur als Chiffre betrachten, um die innereuropäischen Diskussionen zu führen, ohne unbedingt die Möglichkeit einer Revision des kolonialistisch geprägten Sprachkanons zu eröffnen. Bei diesen findet man noch kolonialgeprägte abwertende Beschreibungen der afrikanischen Dinge. Klassisches Beispiel hierfür ist Johanna Moosdorfs 1952 veröffentlichter und in vielen Sprachen übersetzter Roman Flucht nach Afrika.7 Im Allgemeinen betrachtete diese Schriftstellerin Afrika, wie die Literaturwissenschaftlerin Andrea Allerkamp treffend schreibt, als den »dunklen Ort«.8 Sie lässt beispielsweise die Erzählinstanz sagen: Auch hatte er [Méchant] einen dieser sonderbaren, grell bemalten Holzgötzen dastehen […] Ich fand ihn, offen gesagt, unanständig. Er hatte einen überdimensionalen Bolzen zwischen seinen Holzbeinen hängen. Lassen wir ihn. Ich will Ihnen damit nur deutlich machen, dass unter diesem Dache Afrika war.9 Ein solches Herabsetzen eines ganzen Kontinents auf die Stufe eines einzigen exotischen Dings verdient nicht, kommentiert zu werden. Der Textauszug kann allerdings als Kontrastelement zu den herangezogenen Texten gelten. In Bezug auf die Kritik am Kolonialismus anhand der afrikanischen Dingsymbole ließe sich Georg Britting (1891–1964) anführen. Bekannt ist der bayerische

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Michels, Stefanie: Schwarze deutsche Kolonialsoldaten. Mehrdeutige Repräsentationsräume und früher Kosmopolitismus in Afrika. Bielefeld: transcript, 2009, S. 136. Gomsu, Joseph: Wohlfeile Fernstenliebe: Literarische und publizistische Annäherungsweisen der westdeutschen Linken an die Dritte Welt. Opladen, Westdeutscher Verlag, 1998. Vgl. Dunker, Axel: »Orientalismus in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Am Beispiel von Hugo von Hofmannsthal, Gottfried Benn, Franz Kafka, Friedrich Glauser, Hermann Hesse, Arno Schmidt und Hubert Fichte«, in: Durbeck, Gabriele u. Ders. (Hg.): Postkoloniale Germanistik. Bestandsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren. Bielefeld: Aisthesis, 2014, S. 271–327. Siehe eine Analyse des Romans, in: Schneider, Daniel: Identität und Ordnung. Entwürfe des »Eigenen« und »Fremden« in deutschen Kolonial- und Afrikaromanen von 1889 bis 1952. Bielefeld: Aisthesis, 2011, 278–314. Allerkamp, Andrea: Die innere Kolonisierung. Bilder und Darstellungen des/der Anderen in deutschsprachigen, französischen und afrikanischen Literaturen des 20. Jahrhunderts. Köln u.a.: Böhlau, 1991, S. 21–34. Moosdorf, Johanna: Flucht nach Afrika. Freiburg i.Br., Klemm, 1952, S. 247f.

6 Nachkriegsliteratur: »Und wie hältst du’s mit dem afrikanischen Ding?«

Schriftsteller in der Literaturgeschichte als Naturlyriker, Dichter des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit, nichtfaschistischer aber in Deutschland verbliebener Autor, dessen Texte wegen ihrer Gestaltung der »ewigen Werte« von den Nationalsozialisten geduldet wurden.10 Persönliche Bezüge zu Kolonien und insbesondere zu Afrika kann man bei ihm nicht erkennen. Er scheint auch keine Nähe zur westdeutschen Linken gehabt zu haben. Man weiß nur, dass Britting inoffizielle Kontakte zum DDR-Schriftstellerpaar Christa und Gerhard Wolf11 hatte, wobei wechselseitige Einflüsse über die koloniale Thematik nicht herausgearbeitet wurden.12 Aber »nicht die positivistische Entschlüsselung, sondern die hermeneutische Deutung öffnet daher den Zugang zu Brittings Werk«,13 schreibt Walter Schmitz, der Herausgeber seiner Werke. Brittings Erzählband Afrikanische Elegie von 195314 hat bisher eine geringe Betrachtung bei der postkolonialen Forschungsliteratur gefunden. Ein Überblick auf die Editionsgeschichte der 1946 verfassten und 1953 veröffentlichten Erzählung zeigt, dass Britting sich unbedingt vergewissern wollte, dass sein Text wegen des Titels Elegie nicht in die falsche Gattung (Lyrik) eingeordnet wurde. Er bestand darauf, dass der Text im Band 5 »Erzählungen 1941–1960« der Gesamtausgabe seiner Werke aufgenommen wurde, damit »nicht die Meinung aufkommen kann, es handle sich um ein Gedicht«.15 In der Erzählung Afrikanische Elegie ist der Bezug des Erzählten zur europäischen Kolonialgeschichte in Afrika evident. Handlungsort des Geschehens ist die von der französischen Kolonialmacht seit 1831 errichtete Fremdenlegion Sidi-bel-Abbès in Algerien. Diese Region wurde am 8. Mai 1945 Schauplatz einer blutigen Niederschlagung von Unruhen durch die französische Kolonialarmee. Das sogenannte Massaker von Sétif, das als Ausgangspunkt für den Algerienkrieg (1954–1962) gilt, 10

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Zu Brittings Biografie siehe Ohde, Horst: »Britting, Georg«, in: Lutz, Bernd (Hg.): Metzler Autoren Lexikon, a.a.O., S. 97. Vgl. Zirnbauer, Thomas: »Der Schöpfer der kleinen Welt am Strom. Georg Britting«, in: Barbey, Rainer u. Petzi, Erwin (Hg.): Kleine Regensburger Literaturgeschichte. Regensburg: Pustet, 2014, S. 240–245. Bei Christa Wolf (1919–2011) wurden intertextuelle Bezüge zu Conrads kolonialkritischem Roman Herz der Finsternis (1899) festgestellt. Vgl. Lorenz, Matthias N.: Distant Kinship, a.a.O., S. 332–348. Zu den Kontakten zwischen Britting und den DDR-Schriftstellern siehe Berbig, Roland: Stille Post: Inoffizielle Schriftstellerkontakte zwischen West und Ost: Von Christa Wolf über Günter Grass bis Wolf Biermann. Berlin: Christoph Links, 2005, S. 67 u. 359. Britting, Georg: Frühe Werke – Prosa. Dramen. Gedichte 1920–1930. Hg. von Walter Schmitz. München: Süddeutscher Verlag, 1987, S. 561. Britting, Georg: Afrikanische Elegie. Erzählung (1953). In: Sämtliche Werke Band 5. Hg. von Ingeborg Schuldt-Britting. München: Paul List, 1996, S. 139–170. Vinz, Curt: »Verlegerische Zusammenarbeit mit Georg Britting in den Jahren 1946 bis 1961«, in: Gajek, Bernhard u. Schmitz, Walter (Hg.): Georg Britting. (1891–1964). Vorträge des Regensburger Kolloquiums 1991. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 1993, S. 205–213, hier S. 212.

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wurde von der französischen Regierung offiziell erst 2005 anerkannt, wobei Nicolas Sarkozy bei einem Staatsbesuch in Algerien 2017 es ablehnte, sich für dieses Massaker zu entschuldigen.16 Angeblich sollen viele Söldner aus dem deutschsprachigen Raum am Massaker beteiligt gewesen sein, weshalb Sidi-bel-Abbès auch als einer der Lieblingsschauplätze der deutschen Kolonialphantasien17 sowie der österreichischen und Schweizer Literaturen des Postkolonialismus fungiert.18 Brittings Erzählung Afrikanische Elegie lässt sich unter den kritischen Schriften aufzählen, die dieses Kapitel des französischen Kolonialismus kritisieren. Dafür setzt der Autor gleichsam drei Rückkehrer-Figuren in den Handlungsablauf ein, die im Folgenden im Hinblick auf ihre jeweilige Beziehung zu afrikanischen Dingen untersucht werden.

6.1.1 Simon: Das afrikanische Ding als Glücksbringer im Weltkrieg In der Nachkriegsliteratur der Bundesrepublik im Allgemeinen erfreut sich das Motiv des Glückbringers großer Beliebtheit. Botho Strauß, einer der bedeutendsten Nachkriegsdramatiker,19 inszeniert in Der Park (1983)20 ein glücksbringendes Amulett namens die »lüsterne Titania, die Mondfee«.21 Man denke auch an Uwe Timms Modellierung des silbernen Reiterabzeichens in seiner Novelle Die Entdeckung der Currywurst 22 von 1993, in dem dieses glückbringende Ding Hermann Bremer im Zweiten Weltkrieg hilft, sich als Deserteur bei Lena Brücker zu verstecken. Dieser Funktion des Talismans als Gotteshand im Krieg wird in Brittings Erzählung Afrikanische Elegie mit einem kolonialkritischen Bezug inszeniert.

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Vgl. Lindner, Kolja: »Policing minorities and postcolonial condition. Sarkozystische Geschichtspolitik zwischen ideologischer Anrufung und gesellschaftlicher Modernisierung«, in: Frankreich Jahrbuch 2010: Frankreichs Geschichte: Vom (politischen) Nutzen der Vergangenheit. Hg. von dfi-Deutsch-Französisches Institut. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, 2011, S. 105–121, hier S. 112, Fußnote 5. Vgl. Michels, Eckard: Deutsche in der Fremdenlegion 1870–1965: Mythen und Realitäten. Paberborn: Schöningh, 1999. Vgl. auch Koller, Christian: Die Fremdenlegion: Kolonialismus, Söldnertum, Gewalt 1831 – 1962. Paderborn: Schöningh, 2013. Zum postkolonialen Blick über die Schweizer Fremdenlegionären in den französischen Kolonien siehe Koller, Christian: »(Post-)Koloniale Söldner: Schweizer Fremdenlegionäre in den französischen Kolonien und ihre Erinnerungsschriften«, in: Purtschert, Patricia; Lüthi, Barbara u. Falk, Francesca (Hg.): Postkoloniale Schweiz, a.a.O., S. 289–314. Vgl. Garbe, Joachim: Deutsche Geschichte in deutschen Geschichten der neunziger Jahre. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002, S. 238ff. Strauß, Botho: Der Park (1983), in: Ders.: Theaterstücke. Band 1. München: Hanser, 1991, S. 96. Mehr zu diesem Dingsymbol siehe Schauberger, Sebastian: Jetzt war immer schon. Studien zum Theater von Botho Strauß. Hamburg: disserta verlag, 2015, S. 100f. Timm, Uwe: Die Entdeckung der Currywurst. Novelle. (1993). 20. Auf. München: dtv, 2000.

6 Nachkriegsliteratur: »Und wie hältst du’s mit dem afrikanischen Ding?«

Der Försterssohn Simon, Freund des Ich-Erzählers, wird als Philister im romantischen Sinne porträtiert, d.h. als ein einfacher nüchterner, beschränkter Mensch, »den man heute als Spießer bezeichnen würde«.23 Der Darwinist und Nihilist findet Latein schwierig und überflüssig, ist nie in einer Großstadt gewesen und kennt das Elend der Welt (fortdauernde Sklaverei in Abessinien) nur aus Büchern. Da er in der Schule auch schlecht ist, zieht er eines Tages in die Welt, begibt sich in die französische Fremdenlegion in Afrika. Im Gegensatz etwa zum oben untersuchten Autor Ernst Jünger, der nach kaum fünf Wochen in der Legion auf Intervention des Vaters nach Deutschland zurückkehren musste, blieb Simon in Algerien bis in den Zweiten Weltkrieg hinein und hat dennoch keinen einzigen Schuss abgeben müssen. Die Dingsammlung, mit der Simon aus der Fremdenlegion zurückkehrt, besteht aus einer Ledertasche und der »Hand der Fatme« aus Silberblech, die ihm vor »Ungeziefer, Krankheit, und Liebesschmach«24 geschützt haben sollen. Diese afrikanischen Dinge haben in Afrikanische Elegie eine antikriegspädagogische Funktion. Die »Hand der Fatme« oder »Hand der Fatima« ist beispielsweise ein Amulett in Nordafrika, das einem Glauben nach gegen das Böse schützen kann.25 Man kennt dieses nordafrikanische Ding aus Rudolf Stratz’ gleichnamigem nordafrikanischem Liebes- und Abenteuerroman von 1905,26 in dem Yvonne Roland von ihrem neuen Liebhaber Sidi Frank in Südtunesien dieses Amulett als Glücksbringer bekommen hatte. Der postkoloniale Theoretiker Edward Said sieht in der Literarisierung solcher Objekte durch europäische Texte eine Form der Selbstvergewisserung.27 Ihm kann man insofern zustimmen, als Simons Besitz dieser nichtwestlichen Dinge als Rückmeldung für seine eigene Identität fungiert. Durch den Erwerb dieser Dinge kann der Försterssohn, der es zu nichts in der westlichen, mit Vernunft und Disziplin geprägten Welt gebracht hat, eine alternative Welt gewinnen, in der er plötzlich vom Taugenichts zum Zentrum des Geschehens wird. Die »Hand der Fatme« hat Simon so viel Glück gebracht, dass er bei seiner Rückkehr im Zweiten Weltkrieg »still behütet in Frankreich im Gefängnis gesessen [war]«,28 während die französische Erde das Blut seiner begabten Schulfreunde »zu trinken bekommen hatte«.29 Die Logik der Textes darf in diesem Zusammenhang so verstanden werden, dass Simons Kindheitsträumerei für afrikanische Dinge, für »Wildes«,30 wie es im Text 23 24 25 26 27 28 29 30

»Der Philister vor, in und nach der Geschichte«, in: Mettenleiter, Peter u. Knöbl, Stephan (Hg.): Blickfeld Deutsch. Paderborn: Schöningh, 1991, S. 246f. Britting, Georg: Afrikanische Elegie, a.a.O., S. 169. Dazu Seligmann, Siegfried: Der böse Blick und Verwandtes. Ein Beitrag zur Geschichte des Aberglaubens aller Zeiten und Völker. Band 2. Hildesheim: Olms, 1985, S. 18 u. 343. Stratz, Rudolf: Die Hand der Fatme. Roman. Berlin: Union Deutsche Verlagsgesellschaft, 1905. Said, Edward W.: Orientalismus, a.a.O., S. 19. Britting, Georg: Afrikanische Elegie, a.a.O., S. 169. Ebd., S. 169. Ebd., S. 169.

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heißt, viel wertvoller war als das Verhalten der Daheimgebliebenen, deren Kunstträumen letztendlich im Hitlerkrieg enden. Nicht ohne Grund zeigt Simon seinem Freund, dem Erzähler, sowohl seine afrikanischen mitgebrachten Dinge als auch seine Orient-Tattoos mit viel Stolz. »Und nun stand er prall und glänzend vor mir, narbenlos«,31 bemerkt der Erzähler. Dass er sich zwei sich schnäbelnde Tauben über seinem Handgelenk hat tätowieren lassen, wird vom Erzähler nicht als eine kulturelle Grenzüberschreitung im Sinne von »Verkafferung«32 beschrieben, sondern als Verlust der westlichen geistigen Ideale, welche die Welt in den Krieg führte. Daniel Hoffmann schreibt, dass Britting die Tätowierungen »als letzte, unzerstörbare Zeugen für die Bildkraft der Kunst«33 sieht. Sie symbolisieren auch die Faszination der ›exotischen‹ afrikanischen Kultur, die als Lösung für die von der europäischen Zivilisation im Weltkrieg zerstörte Welt präsentiert wird. Erkennbar ist hier die von Max Frisch (1911–1991) in der Nachkriegszeit formulierte, in der postkolonialen Literaturkritik immer hörbar werdende Kritik, die Europa seine Urheberrechte auf die Moderne abzuerkennen versucht: »Europa ist nicht die Welt«.34 Diese postkoloniale Kritik, die später unter dem programmatischen Schlagwort »Europa provinzialisieren«35 formuliert wird, beruht auf angeblichen Misserfolgen der humanistischen Werte der Aufklärung, welche u.a. auch in Form von kolonialer Gewalt authentifiziert wird. In der Erzählung Afrikanische Elegie gibt es einen zweiten Rückkehrer aus der Fremdenlegion, der die afrikanische Perspektive in der Kolonialgeschichte verkörpert, namentlich Kurt Kurilla.

6.1.2 Kurilla: Das afrikanische Ding aus der Sicht der ›Subalternen‹ Der Prozess der Befreiung aus der ›Subalternität‹ gewinnt an Interesse in Bezug auf literarische Dinge, insofern als man sie als sprachmächtig betrachten kann. In ihrer Studie über die erzählenden Dinge haben Wernli u. Kling in Tiecks und Troja31 32

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Ebd., S. 169. »Unter Verkafferung versteht man in Deutsch-Südwestafrika das Herabsinken eines Europäers auf die Kulturstufe des Eingeborenen«. Schnee, Heinrich (Hg.): Deutsches Koloniallexikon Band 3 (1920). Wiesbaden: Suppes, 1996, S. 606. Hoffmann, Daniel: Die Wiederkunft des Heiligen: Literatur und Religion zwischen den Weltkriegen. Paderborn: Schöningh, 1998, S. 416. Vgl. Albrecht, Monika: »Europa ist nicht die Welt«. a.a.O. Vgl. Chakrabarty, Dipesh: »Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte«, in: Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. 2. Aufl. Frankfurt a.M.: Campus, 2013, S. 134–161. Vgl. auch Membe, Achille: »Frankreich provinzialisieren?«, in: Ebd., S. 224–263. Zur Diskussion über die Tragweite dieses postkolonialen Projektes siehe Ziai, Aram (Hg.): Postkoloniale Politikwissenschaft. Theoretische und empirische Zugänge. Bielefeld: transcript, 2016, S. 49ff.

6 Nachkriegsliteratur: »Und wie hältst du’s mit dem afrikanischen Ding?«

nows Werken herausgearbeitet, wie sehr sich einige Texte diskursiv einstellen, indem »von sprechenden Dingen erzählt werden«.36 In derselben Logik zeigt Markus Krajewski, dass »stumme Diener« eigentlich wie erzählende Dinge sind, sie sind Subalterne, die sprechen können. Wenn Dinge aus ihrem Funktionskreis herausgeholt und in der Sinnproduktion eingesetzt werden, seien sie wie die in ihren Rechten beschränkten Subalternen. Sein Fazit lautet: »Nicht nur der Subalterne spricht, auch die Dinge. Sie können gar nicht anders als im Modus des StummgeschaltetSeins dennoch mitzureden mit Hilfe der um sie herumgelagerten Geschichten«.37 Zwar sind die in der Erzählung Afrikanische Elegie beschriebenen Dinge nicht sprachmächtig, dennoch gelten sie als ›subalterne‹, denn ihr Status als erzählte Dinge untersteht den ›Herrschaften‹. In diesem Gedankenzusammenhang bedeutet auch die Schwäche, die Absenz von Herrschaft der westlichen Dinge in einer ästhetischen Gestaltung eine Befreiung der kolonialen Dinge aus ihrer ›Subalternität‹. Eine aufmerksame Lektüre von Brittings Text zeigt, dass er einen literarischen »Gegen-Ort« anbietet, in dem eine diskursive Aufmerksamkeit für afrikanische »Naturdinge« (mit Heidegger gesprochen38 ) zu Ungunsten der europäischen Kriegswaffen erkennbar ist. Seine subversive Schreibweise, die die hegemoniale Ordnung der westlichen Dinge irritiert, illustriert die kolonialkritische Perspektive des Kolonisierten. Hier ist der Plot: Wie die oben beschriebene Figur Simon hat der Maler Kurt Kurilla nach fünf Jahren in Sidi Bel-Abbes keine Karriere als Kolonialsoldat machen können: »Nicht einmal bis zum Korporal hab ichs gebracht«,39 sagt er. Mit diesem Porträt eines gescheiterten Soldaten in der Hierarchie der Armee teilt Kurilla also mit den Kolonisierten eine Eigenschaft, nämlich die ›Subalternität‹, obwohl sie verschiedenen Herrschaftsformen unterstehen. Aus Kurillas Perspektive eines Beherrschten klingt die Geschichte der Fremdenlegion insofern anders. Er erzählt nämlich – um es mit Eduado Galeano auszudrücken – nicht aus der Perspektive des Jägers, sondern aus der des Löwen.40 Gemeint ist mit diesem der Kolonisierte und mit jenem selbstverständlich der Kolonisator. Wurden die europäischen Kolonisten in den koloniala-

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Wernli, Martina u. Kling, Alexander: »Von erzählten und erzählenden Dingen. Zur Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Das Verhältnis von res und verba, a.a.O., S. 7–31, hier S. 28. Krajewski, Markus: »Zum Stand der Dinge. Wenn Stumme Diener sprächen«, in: Wernli, Martina u. Ders. (Hg.): Das Verhältnis von res und verba, a.a.O., S. 293–310, hier, S. 307. Vgl. Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerks. Stuttgart: Reclam, 1960, S. 18. Britting, Georg: Afrikanische Elegie, a.a.O., S. 164. Der uruguayische Schriftsteller Eduado Galeano zitiert das afrikanische Sprichwort »Solange die Löwen nicht ihre eigenen Historiker haben, werden die Jagdgeschichten weiterhin die Jäger verherrlichen«, in: Galeano, Eduado: Das Buch der Umarmungen. Wuppertal: Peter Hammer, 1991, S. 110.

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pologetischen Berichtserstattungen über die Fremdenlegion heldenhaft gefeiert,41 so wird hier in Kurillas Mund die Geschichte aus »Dantes Hölle« gelegt. Gemeint ist die Göttliche Komödie des italienischen Dichters Dante Alighieri (1265–1321) aus dem 14. Jahrhundert42 , in dem die Sünder in den Trichter-Terrassen, die durch den Absturz Luzifers entstanden sind, mitleidlos büßen müssen.43 In Afrikanische Elegie findet man tatsächlich einen Intertextbezug dafür, etwa wenn der Fremdenlegionär Kurilla sagt: »Dante, die Hölle, sagte er, kennen Sie das Buch?«.44 Diese rhetorisch gemeinte Frage dient dazu, die in zeitgenössischen Veröffentlichungen verbreiteten Klischees über die Hölle, die den Afrikanern »schwarz gebrannt«45 haben soll, ad absurdum zu führen. Es wird klar, dass Britting vor der Schundliteratur warnt, welche die Vorgänge in der Fremdenlegion nicht kritisch hinterfragen und stattdessen Kolonialphantasien und Mythen verbreiten.46 Denn wenn Kurilla zugibt, er habe Dantes Buch nie gelesen, heißt es nicht, dass er gesondert etwas gegen dieses Buch hat. Im Gegenteil, es ist eine Aufklärungsbemühung, die Dantes Hölle als Abschreckungsinstrument gegen die Anwerbung der deutschen Fremdenlegionäre benutzt. Diese kontradiskursive Darstellung ist im Text durch die jeweiligen eingesetzten Kriegsgegenstände auffallend. Auf der Seite der Kolonialarmee findet man bekannte traditionelle westliche Duellwaffen: Einen »Säbel« mit »eingelegter Goldarbeit des Griffes«47 und einen »Degen«. Man kennt diese Dinge aus einem Vaterlandslied von 1812, geschrieben von dem Liebling der Traditionspfleger, Ernst Mo-

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Vgl. Koller, Christian: »Kriminelle Romantiker in der exotischen Hölle: Zur transnationalen Medialisierung der französischen Fremdenlegion«, in: Saeculum Band 62, Ausgabe 2, 2012, S. 247–266. Alighieri, Dante: Die Göttliche Komödie. Band 1, Erster Teil: Inferno – Die Hölle. München: dtv, 1988. Vgl. Schumacher, Meinolf: »Die Höllenfahrt des Visionärs – eine Anweisung zur Mitleidslosigkeit? Überlegungen zu Dantes Inferno«, in: Tuczay, Christa (Hg.): Jenseits. Eine mittelalterliche und mediävistische Imagination. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 2016, S. 79–86. Britting, Georg: Afrikanische Elegie, a.a.O., S. 164. Der Dramatiker des Vormärz Christian Grabbe (1801–1836) lässt beispielsweise seinen Herzog Gothland dem Afrikaner Berdoa sagen: »Mohr, du lügst. Die Hölle hat dich schwarz gebrannt!«, Vgl. Grabbe, Christian Dietrich: Herzog Theodor von Gothland. Eine Tragödie in fünf Akten. Leipzig: Philipp Reclam Jun., 1870, S. 25. Mehr zu dieser Vorstellung des Afrikaners im deutschen Bewusstsein siehe Martin, Peter: Schwarze Teufel, edle Mohren. Afrikaner in Geschichte und Bewusstsein der Deutschen. Hamburg: Junius, 2001, S. 284. Allein zwischen 1909 und 1914 hat Eckard Michels 70 Veröffentlichungen in Deutschland aufgezählt, welche Mythen über die Fremdenlegion verbreiten, wodurch jährlich mehr Bücher über die Fremdenlegion als in Frankreich selbst veröffentlicht worden seien. Vgl. Michels, Eckard: Deutsche in der Fremdenlegion 1870–1965: Mythen und Realitäten. Paderborn: Schöningh, 1999, S. 14 u. S. 55. Britting, Georg: Afrikanische Elegie, a.a.O., S. 164.

6 Nachkriegsliteratur: »Und wie hältst du’s mit dem afrikanischen Ding?«

ritz Arndt (1769–1860), in dem sie als Zeichen der Kühnheit und Kriegslüsternheit erscheinen: Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte; Drum gab er Säbel, Schwert und Spieß Dem Mann in seine Rechte, Drum gab er ihm den kühnen Muth Den Zorn der freien Rede, Dass er bestände bis aufs Blut, Bis in den Tod die Fehde.48 Allerdings baut Britting in seiner Erzählung eine Kriegskonstellation auf, die diese Kultdinge des deutschsprachigen Kulturraums dienstunfähig macht. Nicht selten hört man im modernen Sprachgebrauch, dass etwas nur unter besonderen Umständen realisiert werden kann. Anhand einer kontrafaktuellen Erzählsituation gelingt es Britting, die Umstände zu illustrieren, unter denen die afrikanischen Dinge im Kampf gegen europäische die Übermacht für sich entscheiden können. Kurilla erzählt nämlich seine alternativgeschichtlichen Erlebnisse im Antikolonialkrieg in Sidi Bel-Abbes, wobei im narrativ evozierten Erleben in der Imagination die Kunst des Steinmetzes, welche die Afrikaner beherrschten, den Krieg entschieden hat. Im Text heißt es: »Bei Sidi Bel Abbes«, sagte er, »das war ein Höllentag! Heut ists ja auch heiß«, sagte er, »aber damals, die Hitze, Sie können es sich nicht vorstellen. Es ging da eine Schlucht empor, eine Steinrinne, hoch hinauf, bis zum Himmel hinauf. Alles war weiß, auch der Himmel war weiß. Wir sollten hinauf, und die oben wollten das nicht, und schossen herunter. Von den Felsblöcken splitterten die Steinsplitter, Steinmetzarbeit machten sie an den Felsblöcken, hinter denen wir lagen. Wir sahen sie nicht, die Steinmetze, natürlich nicht, sie lagen in Deckung. Wir auch, hinter den Felsblöcken, aber weil wir hinauf wollten, mussten wir manchmal aufstehen, und das nützten sie aus, die oben, und machten dann nicht bloß Steinmetzarbeit.«49 Der Textauszug ist mit den zwei Wörtern »Steine« und »Felsblöcke« durchsäet. Bis zu Leo Frobenius’ Forschungsreisen der 1930er Jahren galten die afrikanischen Felsbilder immer noch als Faszinosum.50 Schenkt man dem Lexikon literarischer Symbole 48 49 50

Arndt, Ernst Moritz: Der Gott, der Eisen wachsen ließ (1812), in: Ausgewählte Gedichte und Schriften. Hg. von Gustav Erdmann. Berlin: Union Verlag, 1969, S. 61. Britting, Georg: Afrikanische Elegie, a.a.O., S. 164. Hervorhebung von mir K.S. Vgl. Kohl, Karl-Heinz: »Leo Frobenius und sein Frankfurter Institut«, Zimmerer, Jürgen (Hg.): Kein Platz an der Sonne, a.a.O., S. 387–405, hier S. 395.

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Glauben, so gelten Stein und Gestein seit der Antike als »Symbole magischer Abwehrmächte«.51 Erkennbar ist der Intertextbezug zu André Malraux’ Abenteuerroman Der Königsweg (1930), in dem der Archäologe Claude Vannec (alias André Malraux) die geheimnisvollen Reliefs in Kambodscha zu klauen versucht, wobei das antagonistische Potential der Naturdinge durch den Autor wie folgt inszeniert wird: Der Tempel, in dem etwas Unmenschliches die Figuren schützte, verlor sein Leben, »plötzlich wehrlos geworden gegenüber zwei weißen Männern«.52 Mit Hämmern, Meißeln und sonstigen Zerstörungswerkzeugen bestattet, dachten die Europäer Claude und Perken, der Weg sei frei, um die Skulpturen wegzuschaffen. Wer Julien Greimas (1917–1992) Aktantenmodell narrativer Strukturen kennt, weiß, dass in diesem Begehren des Objektes durch das Subjekt ein Gegner bzw. Opponent eintreten muss, um die Aktion des Helden zu verhindern.53 Im vorliegenden Fall erscheint der Störfaktor in der Form eines Dings, eines Naturgegenstandes, eines Steins, der den Helden in seinem unsittlichen Bravourstück einschränkt. Im Text heißt es: »Da war nur dieser Stein: trotzig, ein lebendiges Wesen, passiv und dennoch fähig, sich zu verweigern. In Claude stieg ein dumpfer, sinnloser Zorn auf.«54 Sowohl bei Malraux als auch bei Britting sieht man, dass der Sündenstolz des westlichen Eroberers durch die Modellierung der angeblichen Passivität der Kolonisierten performativ subvertiert wird. Durch diese magische Kraft der Gesteine wird die genuin anerkannte Macht der europäischen materiellen Kultur eingeschränkt und der Topos der Rebellion gegen das koloniale Eindringen in den Vordergrund gestellt. Man wird in derselben Gedankenrichtung bemerkt haben, dass Brittings Text nicht der Moral der Martin Luther’schen Tierfabel »Denn Gewalt gehet für Recht«55 entspricht, sondern jener der aufklärerischen »schöpferischen Weiterentwicklung«56 desselben Stoffes durch Lessing, wo sich der Wolf und das Schaf nicht am selben Ufer befinden.57 Durch die geographische Raumverteilung

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Wohlleben, Doren: »Stein/Gestein«, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole, a.a.O., S. 366–367, hier S. 367. Malraux, André: Der Königsweg. Aus dem französischen La Voie royale (1930) übersetzt von Ferdinand Hardekopf. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1986, S. 80. Vgl. Greimas, Algirdas Julien: Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen. Aus dem Französischen Sémantique structurale (1966) übersetzt von Jens Ihwe. Braunschweig: Vieweg, 1971. Malraux, André: Der Königsweg, a.a.O., S. 84. Luther, Martin: Vom Wolff und lemlin. Zitiert nach Wolff, Gerhart (Hg.): Arbeitstexte für den Unterricht. Theorie und Praxis des Erzählens. Stuttgart: Reclam, 1988, S. 65. May, Yomb: Die Fabeldichtung zwischen Oralität und Literatur. Untersuchung zu heutigen kamerunischen Basaa- und zu deutschen Fabeln des 18. Jahrhunderts. Oberhausen: Athena, 2000, S. 165. Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln und Erzählungen. In: Werke. Band 1. Hg. von Herbert G. Göpfert. München: Hanser, 1970, S. 69.

6 Nachkriegsliteratur: »Und wie hältst du’s mit dem afrikanischen Ding?«

erscheint nämlich die Übermacht des Angreifers in Kurillas Erzählung als vergeblich, während die erhöhte Beobachterposition, von der aus die ›Subalternen‹ reagieren, ihre Macht emporsteigen lässt. Wie Hartmut Böhme erklärt, gehört im universellen Volksglauben, wer oben steht, zur Sphäre des Unerreichbaren, denn »das Göttliche und das Heilige sind Prinzipiell oben«58 und deren Gegenteil also unten angesiedelt. In dieser Konstellation sollte in der postkolonialen »Semiophäre«59 die urteilende und sanktionierende Macht des Zentrums selbstverständlich oben und die Machtlosigkeit der Peripherie unten stehen. Brittings Inszenierung der natürlichen Hindernisse (Sonne, Berge, Himmel usw.) als übernatürliche Gegenspieler erscheint insofern als eine irritierende Betrachtung des kolonialen Blicks. Denn sie stellt die gewohnten kolonialen Machtverhältnisse in einer allegorisch chiastischen Reihenfolge, die an Victor Hugos Vers »unten sang ein König, oben starb ein Gott«60 denken lässt. Was die Figur Marlow aus Joseph Conrads Herz der Finsternis (1899) für die römischen Eroberungen und für den Imperialismus in Afrika geltend macht, bewahrheitet sich nicht in Brittings literarische Gestaltung des Dekolonisationskriegs, nämlich: »Unsere Kraft ist ja immer nur ein Gefühl, das sich aus der Schwäche der anderen ergibt«.61 Vielmehr erscheinen die afrikanischen Kriegsartefakte unter den beschriebenen Umständen augenblicklich effektiver als die der europäischen Kolonialmacht. Gegen einfache natürliche Artefakte (Felsblöcken, Steinsplitter) sind die europäischen technisch hergestellten Waffen plötzlich ohnmächtig. Als Unterlegener in der Hierarchie der Kolonialarmee gelingt es Kurilla, aus seiner eigenen ›Subalternität‹ heraus die den Kolonisierten und dem afrikanischen Dingen zugeschriebene Untauglichkeit und das Bild des passiven wehrlosen Opfers zu subvertieren. Der politische Horizont solcher Schreibhaltungen, welche die bekannte Machtasymmetrie der Kolonialgeschichte in umgekehrter Reihenfolge darstellen, wird von der postkolonialen Kritik als eine Möglichkeit des westlichen Schriftstellers gesehen, den marginalen ›Subalternen‹ eine »narrative Autorität«62 zu geben. Dieser politische Horizont lässt sich, wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein

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Böhme, Hartmut: »Berg«, zitiert nach: Stillig, Jürgen: Heilige Berge. Exzellenz, Entzauberung und Absurdität. Band 2. Hildesheim, Zürich, New York: Universitätsverlag Hildesheim/Georg Olms Verlag, 2018, S. 717. Vgl. Ruhe, Cornelia: »Semiosphäre und Sujet«, in: Dünne, Jörg u Mahler, Andreas (Hg.): Handbuch Literatur & Raum. Berlin, Boston: de Gruyter, 2015, S. 170–177, hier S. 174ff. »Un roi chantait en bas, en haut mourait un dieu«, [Des chiastischen Bildes wegen literarisch übersetzt von mir K.S.]. Die freie Übersetzung lautet: »Von eines Königs Spiel zu eines Gottes Ende«. Vgl. Hugo, Victor: »Booz endormi/Der Schlaf des Boas«, in: Helbling, Hanno u. Hindermann, Federico (Hg.): Französische Dichtung. Band 2: Von Corneille bis Gérard de Nerval. München: Beck, 2001, S. 282–287, hier S. 285. Conrad, Joseph: Herz der Finsternis, a.a.O., S. 6. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S. 224.

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wird, in einem Kontext der globalen Perspektive der postkolonialen Kritik in der Bundesrepublik verstehen.

6.1.3 Der afrikanische Leutnant: Kolonialkritik global Postkoloniale globale Kritik bedeutet im Folgenden, dass die Schriftsteller*innen ihren kritischen Blick nicht allein auf die deutsche Kolonialgeschichte werfen, sondern ihn auch als Beobachtung der weltweiten Zusammenhänge des Kolonialismus verstehen. Diese Traditionslinie befindet sich später beim erfolgreichen engagierten Schriftsteller Alfred Andersch (1914–1980), der die kolonialkritische Beschäftigung mit der Kolonialmacht Frankreich unter de Gaulle (die Giraffe) in seiner Erzählung In der Nacht der Giraffe (1958) durch folgenden Topos zusammenfasst: »Das Unrecht zu zerreißen, wo immer man es trifft«.63 Das postkoloniale Potential dieser Texte liegt in ihrer Suche nach der Globalisierung der Kolonialkritik. Die zehntausenden deutschen Söldner, die als französische Fremdenlegionäre in den Dekolonisationskriegen kämpften,64 die Gerüchte über eine SS-Vergangenheit vieler Legionäre,65 etc. bieten den Schriftsteller*innen die Möglichkeit, die Schauplätze zu vermeiden, die vom deutschen Kolonialismus geprägt sind, ohne die Verflechtungspunkte für die deutsche postkoloniale Perspektive aus dem Blick zu verlieren. Offensichtlich hat diese verallgemeinerte Kolonialkritik nicht nur die Literatur, sondern auch den gegenwärtigen Migrationsdiskurs mit »generischen Wissensindizierungen«66 nachhaltig geprägt, wie die postkoloniale Sprachforschung bereit herausgearbeitet hat.67 Diese globale Perspektive der Kolonialkritik wird in Brittings Erzählung Afrikanische Elegie auch thematisiert. Als Simon spurlos verschwindet, findet der Erzähler zwei neue Schulfreunde, die Brüder Franz und Ludwig Holtermeier, die nur von Literatur und Kunst schwärmen, und deren Träumen der weltkundige Onkel finanziell unterstützt. Der Onkel, Sohn eines wohlhabenden Wagenmachers, hat zwei Jahrzehnte lang »sein halbes Leben in Afrika zugebracht, in der französischen Fremden-

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Andersch, Alfred: In der Nacht der Giraffe (1958) In: Geister und Leute. Zehn Geschichten. Zürich: Diogenes, 1974, S. 12. Vgl. Koller, Christian: »Kolonialgeschichte und ihre Folgen im Überblick. Deutschland«, in: Göttsche, Dirk; Dunker, Axel u. Dürbeck, Gabriele: Handbuch Postkolonialismus und Literatur, a.a.O., S. 399–402, hier S. 401. Vgl. Michaels, Eckard: Deutsche in der Fremdenlegion 1870–1965: Mythen und Realitäten. Paderborn: Schöningh, 1999, S. 158. Vgl. Schmidt-Brücken: Verallgemeinerung im Diskurs. Generische Wissensindizierung in kolonialem Sprachgebrauch. Berlin, Boston: de Gruyter, 2015. Vgl. Wengeler, Martin: Topos und Diskurs. Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960–1985). Tübingen: Niemeyer, 2003, S. 300–331.

6 Nachkriegsliteratur: »Und wie hältst du’s mit dem afrikanischen Ding?«

legion«,68 wo er sich zum Offizier emporgedient hatte. Obwohl es selbstverständlich ist, dass der Onkel auch von der Familie Holtermeier stammt, bleibt er im Text anonym und wird nur noch mit Umschreibungen wie »der afrikanische Leutnant«69 oder der »gute, afrikanische Mann«70 bezeichnet. Diese Form metaphorischer Metamorphose des deutschen Rückkehrers in einen Afrikaner wurde oben bereits in realistischen Texten von Raabe, Keller und Stifter festgestellt. Gilt diese Namensgebung dort als Kulturpessimismus, da die rückkehrenden »Afrikaner« in Europa kolonialistisch wirken, hat sie hier eine andere Funktion. Man würde Brittings Afrikanische Elegie keine Gewalt antun, würde man den Text als Kritik an der Rolle der deutschen Fremdenlegionäre in den brutalen Dekolonisationskriegen betrachten. Man merke nämlich, dass die zwei ersten Rückkehrer (Simon und Kurilla) ihre Namen nicht verloren haben. Der Unterschied zwischen ihnen und dem Leutnant liegt darin, dass letzterer die »Gefechten gegen die braunhäutigen Wüstensöhne, die mit Pfeilen und Lanzen und Gewehrschüssen ihm nichts hatten anhaben können«71 erlebt hat, wobei ihm die unheimliche stechende Sonne in Afrika, »die Haare vom Kopf gesengt«72 hat. Anders gesagt, er hat die Grausamkeit des Dekolonisationskrieges am eigenen Leib gespürt. Erzählstrategisch haben diese Details eine zentrale Funktion im Text, denn dadurch findet der Ich-Erzähler den Link, um seine vermeintlichen früheren Lektüren über die westliche Kolonialgeschichte zu beschreiben. Gemeint sind offensichtlich sozialdarwinistisch inspirierte Texte, die, wie Osterhammel und Jansen schrieben, die Kolonisierten als unterlegen und den Kolonialkrieg als leicht abzukriegenden totalen Sieg präsentierten.73 Das Lesen dieser Schundliteratur wird als gefährlich vorausgesetzt und ein diskursives Feld mit Elementen der militärischen materiellen Kultur Afrikas überliefert. Die Lektüre des Ich-Erzählers, die rezeptionsästhetisch auch als Vorlage für die Deutung der ganzen Erzählung fungiert, ist wie folgt gestaltet: Ich las die Namen der Berge und Flüsse auf der Karte, und die Namen der Städte Biskra und Sidi Bel Abbes, und wie auf einem Bilderbogen sah ich es vor mir: Moscheen und Paläste, den Märchenerzähler im Schatten des Tors, sich bäumende Rosse, von Menschen wimmelnd die Basare, und mitten unter ihnen, puppenhaft

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Britting, Georg: Afrikanische Elegie, a.a.O., S. 155. Ebd., S. 160. Ebd., S. 161. Britting, Georg: Afrikanische Elegie, a.a.O., S. 155. Ebd., S. 155. Vgl. Osterhammel, Jürgen u. Jansen, Jan C.: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen. München: Beck, 2012, S. 49.

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klein, den Leutnant in glänzenden Schaftstiefeln, und goldene niederbayrische Ringe in den Ohren.74 Sowohl in seiner lyrischen als auch in seinen epischen Texten wurde Brittings Schreibweise im Allgemeinen eine »kräftige, »barocke« Metaphernsprache«75 bescheinigt, welche die Kenntnis der süddeutsch-bäuerlichen Lebens- und Dingwelt und eine »sinnlich-unmittelbare Präsenz der Naturdinge in seinen Texten herzustellen«76 versucht. Diese Mischung wird im zitierten Textauszug bemerkbar und widerspiegelt zugleich die postkoloniale Perspektive des Textes. Denn die bayerische Dingwelt wird durch eine Umkehrung des kolonialistisch geprägten Afrikabildes von Afrika als lächerlich und leblos dargestellt. Der Leutnant, im Übrigen Haupt-Idol der preußischen Bürger und Symbol des kolonialen Jochs, ist zusätzlich mit westlich-europäischen Machtdingen geschmückt: Mit den Schaftstiefeln und dem niederbayrischen Ring. Gerade die Stiefel symbolisieren die männliche Dominanz und die herrschaftliche Macht und Gewalt.77 Trotzdem erscheint der europäische Leutnant als »puppenhaft klein«, nur weil die afrikanischen Naturgegenstände ihm gegenüberstehen. Im Gegensatz dazu erscheinen die afrikanischen Dinge (Berge, Flüsse, Städte, Moscheen, Paläste, Tore, Märchen, Rosse, Basare) als lebendig. Man merkt eine dichterichte Gestaltung dessen, was Osterhammel und Jansen in Bezug auf Kolonialkriege schreiben, nämlich: »Gefährlicher als der Feind war oft die Natur«78 Der in Brittings Text namenlos gebliebene afrikanische Leutnant löst sich insofern von der konventionellen ›Ordnung der Dinge‹. Im Gegensatz etwa zu Joachim von Pasenov, der Figur aus Hermann Blochs Schlafwandler von 1930, der an alten Werten festhält und seine Uniform als Zeichen der »bessere[n] Ordnung der Dinge«79 parat hält, lenkt der Leutnant seine Aufmerksamkeit auf die ›Dinglichkeit‹ der afrikanischen Kriegswaffen. Nachdem ein deutsches zwölfjähriges Nachbarskind ihm die Gretchenfrage darüber stellt, wie doch die materielle Kultur der Afrikaner in Bezug auf Kriegstechnik aussehe, hat der afrikanische Leutnant diese nicht nur sprachlich beschrieben, sondern auch versucht, das Kind gleichsam in das afrikanische Dingsystem einzuweihen. Im Text heißt es: Er, der alte Soldat, der Wagenmacher, bewandert in jeder Art von Handfertigkeit, habe seines Nachbars zwölfjährigen Buben, der haben wollte, was andere auch 74 75 76 77 78 79

Britting, Georg: Afrikanische Elegie, a.a.O., S. 156. Ohde, Horst: »Britting, Georg«, in: Lutz, Bernd (Hg.): Metzler Autoren Lexikon, a.a.O., S. 97. Ebd., a.a.O. Heudecker, Sylvia: »Schuh«, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole, a.a.O., S. 334–335, hier S. 335. Osterhammel, Jürgen u. Jansen, Jan C.: Kolonialismus, a.a.O., S. 49. Broch, Hermann: Die Schlafwandler. Band 1., a.a.O., S. 24.

6 Nachkriegsliteratur: »Und wie hältst du’s mit dem afrikanischen Ding?«

hatten, Pfeil und Bogen geschnitzt und ein paar vergnügte Abende damit verbracht, die Waffe kunstgerecht herzustellen, nach afrikanischem Vorbild. Auch eine Scheibe habe er gemalt, mit zwölf Ringen, und dem schwarzen Zielpunkt in der Mitte, und den Knaben darin geübt, nach ihr zu schießen. Der Pfeil sei mit einer harmlosen, kurzen Eisenspitze versehen gewesen, damit er in die Scheibe eindringen könne. Einmal habe der Lehrer sich zu nahe an der Scheibe aufgehalten, den Schuss des Schülers zu beobachten, und da sei ihm der Pfeil ins Gesicht gefahren, unter die Nase, in die Oberlippe, und dort steckengeblieben. Gleich habe er ihn wieder aus dem Fleisch gerissen, und den erschrockenen Schützen getröstet, und die beiden hätten das Scheibenschießen noch eine Weile fortgesetzt, und die kleine Schramme habe der Leutnant gar nicht weiter beachtet. An Wundstarrkrampf sei er dann, nach Tagen erst, und unter großen Schmerzen, gestorben.80 Die »UmOrdnung der Dinge«,81 d.h. ihre Bedeutungszuweisungen durch die Literatur, wird im Textauszug darin evident, denn es tauchen nur Dinge auf, deren symbolische Erweiterung über das ›Afrikanertum‹ Auskunft geben: Pfeil, Bogen, Ringe, Eisenspitze usw. Der afrikanische Leutnant verliebt sich in diese Dinge und vernachlässigt demzufolge seinen eigenen Körper bis in den Tod. Der metaphorische Tod wird in der Forschungsliteratur als Hauptmerkmal von Brittings Erzähltexten rezipiert.82 Indirekt setzt sich Britting mit dem Narziss-Stoff aus der griechischen Mythologie auseinander. Sowie die mythische Gestalt Narziss sich in sein eigenes Spiegelbild im Teich verliebt und dabei den Tod findet, so wird die Tragik in Afrikanische Elegie durch den ersehnten Versuch, die afrikanischen Dinge liebevoll zu umarmen, dichterisch begründet. Daniel Hoffmann, der Brittings Erzählung analysiert, kommt zu dem Schluss, er habe die ursprüngliche Gestaltungskraft der Natur sowie die ewigen Grundformen der menschlichen Natur in den Mittelpunkt seiner Erzählungen gestellt. Brittings Werk sei auf die Erschließung einer phänomenalen Gestalt der Realität gerichtet, wobei »die Transparenz der Dingwelt jedoch nicht Ausweis für eine theophane Realität [ist], sondern für die eigenständige transzendente Gestalt der empirischen Welt selbst«.83 Mit ähnlichen Begriffskategorien hat der Schriftsteller und Kulturvermittler Janheinz Jahn (1918–1973) versucht, die afrikanische Kultur zu beschreiben. Im Rahmen der vorliegenden Studie konnten keine unmittelbaren wechselsei80 81 82

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Britting, Georg: Afrikanische Elegie. Erzählung (1953). In: Sämtliche Werke Band 5. Hg. von Ingeborg Schuldt-Britting. München: Paul List, 1996, S. 139–170, hier S. 29f. Ausdruck bei Ecker, Gisela u. Scholz, Susanne (Hg.): UmOrdnung der Dinge. Königstein/Taunus: Helmer, 2000. Vgl. Landshuter, Stephan: »Spuren einer epochalen Sinnkrise. ›Tod‹ und metaphorische ›Wiedergeburt‹ in Erzähltexten Georg Brittings«, in: Frank, Gustav u. Lukas, Wolfgang (Hg.): Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft. Passau: Stutz, 2004, S. 239–264. Hoffmann, Daniel: Die Wiederkunft des Heiligen, a.a.O., S. 17.

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tigen Einflüsse zwischen Jahn und Britting herausgearbeitet werden; jedoch sind intertextuelle Bezugnahmen zu Jahns berühmten Muntu-Thesen nicht zu übersehen.84 Nach Jahns Umrissen der neoafrikanischen Kultur (1958) sei beispielsweise der Tod in der afrikanischen Kultur gleichzusetzen mit Fluch, Bann und metaphysischer Strafe für denjenigen, der die Macht des »Wort-Samens« missbraucht. Bezugnehmend auf Alexis Kagames Ethnophilosophie der Bantuvölker85 erklärt er dieses Grundprinzip wie folgt: Das Nichts ist der Substanz im Allgemeinen und der materiellen Substanz im Besonderen, also jeglichem Kintu, gegenübergestellt. Es ist dort, wo keine Bintu, keine Dinge sind. Es ist nicht die Luft, denn die Luft ist etwas und befindet sich im Nichts.86 In diesem Zusammenhang erscheint die Lehre des afrikanischen Leutnants über die afrikanischen Dinge wie ein Missbrauch des Wortes, wie eine Beschwörung gegen das ›Afrikanertum‹, und wird dementsprechend mit dem Tod bestraft. Dieser tragische Tod, der an den Tod der kunstinteressierten Kunden in E.T.A. Hoffmanns Kriminalnovelle Das Fräulein von Scuedri (1819–1821) erinnert,87 ist eine Kritik der Vereinnahmung der afrikanischen materiellen Kultur. Sowie das sogenannte CardillacSyndrom den Künstler daran hindert, andere seinen Schmuck anlegen zu sehen, so vermeidet das narrativ evozierte künstlerische Verfahren in Brittings Erzählung, dass ein europäischer Beobachter sich der afrikanischen materiellen Kultur ungestraft bemächtigt. Diese Autorintention ist dadurch erkennbar, dass sich der afrikanische Leutnant nach der afrikanischen ›Ordnung der Dinge‹ orientiert und den Tod findet. Der von Goethe positiv gemeinte Topos »Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen«88 wird hier dramatisch inszeniert, um auch vor dieser Art kolonialer Bemächtigung der afrikanischen materiellen Kultur zu warnen.

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Janheinz, Jahn: Muntu. Die neoafrikanische Kultur. Blues, Kulte, Négritude, Poesie und Tanz. (1958) München u.a.: Diederichs, 1995. Kagame, Alexis: Sprache und Sein. Die Ontologie der Bantu Zentralafrikas. Übersetzt von Almut Seiler-Dietrich. Heidelberg: P. Kivouvou, 1985. Janheinz, Jahn: Muntu, a.a.O., S. 142. Hoffmann, E.T.A.: Das Fräulein von Scuderi (1912–1921). Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001. Mehr zu der Funktion der Dinge in dieser Novelle siehe Eder, Antonia: »Welch dunkles Verhältnis der Dinge. Indizienlese zwischen preußischer Restauration und französischem Idealabsolutismus in Das Fräulein von Scuderi«, in: George, Marion u. Liard, Véronique (Hg.): Spiegelungen – Brechungen. Frankreichbilder in deutschsprachigen Kulturkontexten. Berlin: Trafo, 2011, S. 263–286. Mit »Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen« meint Goethes Figur Ottilie, dass man dadurch seine Gesinnung ändert und ein anderer Mensch wird. Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften (1809), München: dtv, 1963, S. 416.

6 Nachkriegsliteratur: »Und wie hältst du’s mit dem afrikanischen Ding?«

Es durfte klar geworden sein, dass die fiktionalen Gestaltungen der afrikanischen Dinge durch die westdeutschen Schriftsteller*innen dazu dienen, eine Vernetzung der Kulturräume durch die Kolonialkritik zu etablieren. Was Monika Albrecht über die fiktionale Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus in der Nachkriegszeit feststellt, nämlich, dass sie »von großem zeitgenössischem Interesse an dem Stellenwert des Kolonialismus in globalen ökonomischen Zusammenhangen«89 zeugt, bewahrheitet sich hier in Bezug auf die Modellierung der afrikanischen Dinge. Diese Ausgangsposition der Kritik an den Kolonialphantasien unterscheidet sich, wie in dem folgenden Abschnitt zu zeigen sein wird, von der staatlich organisierten, geförderten und ideologisch propagierten Kolonialkritik der DDR.

6.2 Maximilian Scheer: Pyramide versus Damm, Kapitalismuskritik der DDR Im Gegensatz zu den revisionistischen Kolonialphantasien breiter Kreise der öffentlichen Meinung in Westdeutschland wurde die kolonialismuskritische Geschichtsschreibung in der DDR als Beitrag zum Klassenkampf verstanden. Im Kontext des Kalten Krieges wurde die Bundesrepublik durch die DDR-typische Rhetorik als »legitimer Erbe des deutschen Kolonialimperialismus«90 dargestellt, wohingegen sich Ostdeutschland als der »legitime Erbe der großen antikolonialen Traditionen der deutschen Arbeiterklasse und der humanistischen Kräfte«91 profilieren konnte. Am voreilig prophezeiten »Ende der Geschichte«92 wurde deutlich dass diese Kapitalismuskritik weniger mit Antikolonialismus zu tun hatte, als vielmehr mit dem Versuch, ein eigenes System aus »Vasallenstaaten« zu errichten.93 Selbstverständlich sehen die gegenwärtigen marxistischen Theoretiker in diesem System immer noch keine kolonialen Züge.94

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Albrecht, Monika: »Nachkriegszeit I. (ca. 1945–1965)«, in: Göttsche, Dirk; Dunker, Axel u. Dürbeck, Gabriele: Handbuch Postkolonialismus und Literatur, a.a.O., S. 275–277, hier S 276. Loth, Heinrich: Griff nach Ostafrika. Politik des deutschen Imperialismus und antikolonialer Kampf. Legende und Wirklichkeit. Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1968, S. 63. Ebd., S. 167. Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte. Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm u.a. München: Kindler, 1992. Vgl. van der Heyden, Ulrich: »Die Afrika-Geschichtsschreibung in der ehemaligen DDR: Versuch einer kritischen Aufarbeitung«, in: Africa Spectrum Vol. 27, N° 2, 1992, S. 207–211. Der marxistische Theoretiker Alain Badiou beispielsweise vertritt immer noch die Meinung, der sozialistische Block habe den »Kolonialismus im engeren Sinne« beendet. Badiou, Alain: Wider den globalen Kapitalismus: Für ein neues Denken in der Politik nach den Morden von Paris. Aus dem Französischen übersetzt von Caroline Gutberlet. Berlin: Ullstein, 2016.

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Der kapitalismuskritische politische Horizont hatte als Folge eine fleißige kolonialkritische Literatur, in der unterschwellig die westdeutschen Kolonialphantasien als Kulturimperialismus angeprangert werden. Christiane Bürger hat am Beispiel der Namibiaromane95 dieser Zeit ausführlich herausgearbeitet, wie sehr diese Texte unter dem Einfluss des marxistisch-leninistischen Metanarrativs bemüht waren, ein »unverfälschtes Afrikabild«96 zu produzieren. Ihr zufolge hätten die intertextuellen Bezüge zwischen Literatur und Historiographie, eine Besonderheit des DDR-Systems, dazu gedient, in bewusster Abgrenzung zur Bundesrepublik das Bild eines besseren sozialistischen Deutschlands zu kommunizieren. Dabei hätten der Wahrheitsanspruch und die zahlreichen ästhetischen, rhetorischen und narrativen Verfahren der Authentizitätsgenerierung geholfen, historisch verbürgte Personen in Texten literarisch zu gestalten. Wie hier zu zeigen sein wird, hat diese Editionsästhetik auch akribisch postkoloniale Modellierungen der afrikanischen Ding-Symbole ermöglicht. Einer der Autoren dieser Zeit, ist der in die DDR emigrierte westdeutsche Journalist und Schriftsteller Maximilian Scheer (1896–1978). Nach Kriegsende kam Scheer aus dem Exil wieder nach Deutschland. Bekannt war er vor allem wegen seines Romans Schwarz und Weiss am Waterberg von 1952,97 in dem er sich der prominenten Perspektive der Theoretikerin Hannah Arendt (1906–1975) aus ihrem Buch The Origins of Totalitarianism (1951)98 anlehnt, um die kausale Kontinuität zwischen Kolonialismus und Faschismus zu etablieren.99 Auch Scheer verstand sich selbst als Verehrer von Herders Bewusstsein vom Kolonialismus. In seinem Buch In meinen Augen (1982) schwärmt er von Herder als dem »profiliertesten Repräsentanten der klassischen deutschen Literatur, [der] die koloniale Unterdrückung in Asien, Afrika und Lateinamerika durch europäische Mächte leidenschaftlich verurteilt«100 habe. Ulla Biernat zählt Scheer zu den DDRReiseschriftstellern auf, die den Exotismus mit Gegenbildern konfrontieren. Er habe in seinem Reisebericht Von Afrika nach Kuba von 1961101 die »exotischen Bilder Texte hierzu sind auswahlweise May, Ferdinand: Sturm über Südwest-Afrika. Eine Erzählung aus den Tagen des Hereroaufstandes. Berlin: Neues Leben, 1962; Scheer, Maximilian: Schwarz und Weiß am Waterberg. Südwestafrika heute und gestern. (1952) Neue bearbeitete Ausgabe. Schwerin, Petermänken-Verlag, 1961. 96 Bürger, Christiane: Deutsche Kolonialgeschichte(n): Der Genozid in Namibia und die Geschichtsschreibung der DDR und BRD. Bielefeld: transcript, 2017, S. 111f. 97 Scheer, Maximilian: Schwarz und Weiß am Waterberg, a.a.O. 98 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. (1951) Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt, 1955. Die afro-kolumbianische Forscherin Plumelle-Uribe vertritt auch dieselbe These. Vgl. Plumelle-Uribe, Rosa Amelia: Weiße Barbarei. Vom Kolonialrassismus zur Rassenpolitik der Nazis. Übersetzt von Birgit Althaler. Zürich: Rotpunktverlag, 2004, S. 17. 99 Vgl. Bürger, Christiane: Deutsche Kolonialgeschichte(n), a.a.O., S. 141ff. 100 Scheer, Maximilian: In meinen Augen. Auslese aus 50 Jahren. Berlin: Verlag der Nation, 1982, S. 105. 101 Scheer, Maximilian: Von Afrika nach Kuba. Berlin: Verlag der Nation, 1961. 95

6 Nachkriegsliteratur: »Und wie hältst du’s mit dem afrikanischen Ding?«

und Denkmuster über das bereiste Land in den Kontext eines expliziten Kulturvergleichs«102 gestellt. Ihm muss man zustimmen, denn das Buch lässt sich in die Tradition der journalistischen Reiseberichte der DDR einordnen, deren Autor*innen die afrikanischen Länder bereisen, auf der Suche nach einer anderen Form der Berichterstattung. Man denke an Gertraud Heise, die ein eigenständiges Afrikabild in ihrem Buch Reise in die schwarze Haut (1980) zu erzeugen versuchte, das nicht der althergebrachten europäischen Sichtweise entspricht.103 Diese Autor*innen wurden in der postkolonialen Forschungsliteratur unter dem Aspekt der interkulturellen schwarz-weißen Verständigung untersucht.104 Was Scheer angeht, schrieb er seine Reportagen aus der Fremde ins richtunggebende Vorbild eines Georg Forsters oder des Universalgelehrten Alexander von Humboldts ein, indes aber auch im Sinne von Goethes Diktum, er wage es nicht, »über Gegendanken seiner Umgebung zu schreiben«.105 In einer Diskussion über die Essenz der Reportage soll Scheer sich wie folgt geäußert haben: »Aber vergiss nie, dass das zur Macht gekommene Bürgertum ebenso wie der Feudalismus die Reportage als Aschenbrödel behandelt hat; sie beide konnten den wahren Bericht über die Wirklichkeit nicht verdauen, also fraßen sie ihn nicht«.106 Man kann die Entstehungsgeschichte des Reiseberichts Von Afrika nach Kuba durch diese beiden Beweggründe erklären, nämlich die Suche nach authentischer Berichterstattung und die bewusste Entfernung von der bürgerlichen Gesellschaft. So reiste Scheer, wie er schreibt, mit seinem »Bleichgesicht am Rande der schwarzen Welt«107 und findet persönlich keine Kluft zwischen Afrika und Europa, weil »eines meiner ersten Bücher war eine Anklage gegen Weiße in Afrika«.108 Gemeint ist sicherlich der oben erwähnte Roman Schwarz und Weiß am Waterberg. Dieses Gefühl des Dazugehörens zur afrikanischen Welt hilft Scheer offensichtlich dabei, eine zusätzliche problematische Dimension einzubauen, die in den Dienst der deutsch-deutschen Konfrontation im Kalten Krieg gestellt wird, 102 Biernat, Ulla: »Ich bin nicht der erste Fremde hier«: Zur deutschsprachigen Reiseliteratur nach 1945. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004, S. 80. 103 Gertraud Heises Buch Reise in die schwarze Haut (1980). 104 Vgl. Lehner, Sonja: Schwarz-weiße Verständigung: Interkulturelle Kommunikationsprozesse in europäischdeutschsprachigen und englisch- und französischsprachigen afrikanischen Romanen (1970–1990). Frankfurt a.M.: IKO-Verlag für Interkulturelle Kommunikation, 1994. 105 Goethe in einem Brief an Schiller vom 9.8.1797. Zitiert nach Schütz, Erhard: »Facetten zur Vorgeschichte der Reportage. Kritik eines operativen Genres an seinen Traditionsversuchen«, in: Hübner, Raoul u. Ders. (Hg.): Literatur als Praxis? Aktualität und Tradition operativen Schreibens. Opladen, Westdeutscher Verlag, 1976, S. 44–70, hier S. 51. 106 Scheer, Maximilian: Die Reportage – gestern und heute. Leipzig, 1955, S. 11. Zitiert nach Schütz, Erhard: »Facetten zur Vorgeschichte der Reportage. Kritik eines operativen Genres an seinen Traditionsversuchen«, a.a.O., S. 51. 107 Scheer, Maximilian: Von Afrika nach Kuba, a.a.O., S. 144. 108 Ebd., S. 144.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

wobei die BRD durch Vorwürfe des Neokolonialismus überwogen wird. Denn die beobachtete Erzählerintention kontrastiert im Text mit der anmaßenden Stellung der westdeutschen Politiker. Der Präsident des Bundestages gilt als »exotischer Besucher«109 in Afrika. Allein diese Umkehrung des Exotismus-klischees (Deutscher als Exote) zeugt von einer postkolonialsubversiven Schreibhaltung. Ferner wird die Kolonialismus- und Kapitalismuskritik insofern evident, als der Bundestagspräsident als »Dienstbote der Wirtschaft und der westdeutschen ›Afrika Gesellschaft‹«110 porträtiert wird. Erkennbar ist Karl Marx Materialismus-Kritik, wonach der Kapitalismus der moderne Fetischismus sei, der Dinge nur als Gewinn und Profit sehen würde.111 Diese Materialismus- und Konsumkritik, die in der DDR zumindest offiziell und öffentlich geübt wurde,112 erklärt Scheers Schreibhaltung. In dem Reisebericht Von Afrika nach Kuba entfaltet sich bei den afrikanischen Dingen eine postkolonial-subversive Perspektive, die gleichzeitig materialistisch-kritisch ist. Über das Schicksal der berühmten ägyptischen Pyramide im Kontext des Baus des Hochdamms am Nil berichtet die Erzählinstanz mit viel Sarkasmus: Dort unten aber, ein paar Kilometer südlich von Assuan ist die Startexplosion des gigantischen Projekts schon verhallt, hat die Arbeit bereits begonnen, um das Nilwasser endlich zu lenken und den jahrtausendealten Traum der Ägypter zu verwirklichen – eine Tat, die grösser als der Bau der Pyramiden sein wird, weil sie nicht Tote rühmt, sondern Lebende speist und für die Lebenden schätzungsweise zweieinhalb Millionen Acker Land gewinnt.113 Die Ironie, die im Textauszug bemerkbar ist, zeigt auch das Schicksal der Pyramiden. Denn ab diesem Zeitpunkt wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf das durch das Dammprojekt ausgelöste Schicksal der Pyramiden gelenkt. Das sudanische Wadi Halfa wird beschrieben als »Stätte alter Pyramiden, [die] ausgelöscht werden wird«.114 Die Kapitalismuskritik in der Bezugnahme auf den Bau des Assuan-Damms wird durch dieses Schicksal der Pyramide sichtbar: Die westdeutsche Diplomatie wird beschuldigt, das Dammprojekt unterstützt zu haben. Als das »Profitmärchen so traurig zu Ende gegangen war«,115 so die Logik des Textes, soll sich die offizielle Bonner Diplomatie mit mehr Aufregung gesorgt haben als damals,

109 Ebd., S. 139. 110 Ebd., S. 139. 111 Marx, Karl: Das Kapital. (1867) In: Ders.u. Engels, Friedrich: Werke. Band 23. Berlin: Dietz, 1968, S. 49. 112 Trentmann schreibt lakonisch: »Der Sozialismus war enorm verschwenderisch«, Trentmann, Frank: Herrschaft der Dinge, a.a.O., S. 443. 113 Scheer, Maximilian: Von Afrika nach Kuba, a.a.O., S. 41. 114 Ebd., S. 41. 115 Ebd., S. 40.

6 Nachkriegsliteratur: »Und wie hältst du’s mit dem afrikanischen Ding?«

als Deutschland den Krieg verloren hatte. Vom westdeutschen Botschafter in Kairo heißt es im Text: Abu Simbel, das altägyptische Steinmal, würde in den Wassern des Hochdammes ersäuft werden, wenn es nicht gerettet werden könnte. Wer nie eine Träne geweint hatte, weil eine lebendige Kunststadt wie Dresden zum Kriegsende binnen weniger Stunden willkürlich im amerikanischen Bombenregen zur Feuerhölle verwandelt wurde, schien am lautesten über Abu Simbel zu schluchzen. Die Vergangenheit stand auf gegen die Zukunft.116 Im zitierten Text wird die fragwürdige These des »Nationalmasoschismus«117 erkennbar. Fragwürdig deswegen, weil sie bekanntlich versucht, die übliche Erinnerungsform an den Zweiten Weltkrieg einer Revision zu unterziehen, indem sie beispielsweise die Bombenangriffe der Alliierten auf Dresden als Verbrechen gegen die Menschlichkeit deutet. Aus diesem offensichtlich populären Mythos der Politik in der DDR118 wird in dem zitierten Textauszug eine regelrechte Abwehr gegen das, was in der DDR-Propaganda als kulturpolitische Offensive des westdeutschen Kapitalismus empfunden war, nämlich »der Profit«. Das beschriebene Bild des AssuanDamms erinnert an die 150 Meter hohe Autobahnbrücke, die im Uwe Timms Roman Der Schlangenbaum (1986) durch deutsche und französische Firmen im Urwald gebaut wurde. Die Brücke wird dort als »Denkmal der Fehlplanung und Korruption«119 dargestellt, welches »mächtig und auf eine wunderschöne Weise zwecklos und ohne Sinn«120 da steht. Den beiden Texten zugrunde liegendes postkoloniales Projekt ist die Kritik an der unreflektierten Einführung der eurozentrischen Entwicklungslogik samt negativen Folgen in die ehemalige kolonialisierte Welt. Doch während der postkoloniale Kritiker Timm diese Beobachtungen mit Fragen der Ökologie verbindet, versucht der Kapitalismuskritiker Scheer, den westdeutschen ›Homo Technicus‹ als menschen- und kulturfeindlich zu präsentieren. In diesem Kontext versteht sich Scheers literarische Inszenierung des Assuan-Damms als ein Symbol, d.h. als ein »Gegen-Ding«, das sich von der »Herrschaft des Dings« (der Pyramide) befreit, um mit den Typologien des Philosophen Friedrich Schlegel zu sprechen.121 116 117

Ebd., S. 41f. Vgl. Franz-Willing, Georg: Vergangenheitsbewältigung. Bundesrepublikanischer Nationalmasochismus. Coburg, Nation Europa-Verlag, 1992. 118 Raina Zimmering erwähnt in diesem Kontext das teils kubistische, teils expressionistische Bild des Dresdner Malers Wilhelm Lachnit »Der Tod von Dresden«, das bereits in Dezember 1945 in Dresden ausgestellt wurde. Dazu Zimmering, Raina: Mythen in der Politik der DDR: Ein Beitrag zur Erforschung politischer Mythen. Opladen: Leske & Budrich, 2000, S. 141. 119 Timm, Uwe: Der Schlangenbaum. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1986, S. 262. 120 Ebd., a.a.O. 121 Friedrich Schlegel (1772–1829) versteht das Symbol als ein »Gegen-Ding« aufgrund seiner nicht diskursiv in eine fixierte Abfolge von erklärender Explikation auseinandergezogene

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Alles in allem kann in den analysierten Texten festgestellt werden, dass die Schriftsteller*innen bemüht waren, die Spezifizität des deutschen Kolonialismus, den sogenannten »Sonderweg«,122 zu vermeiden. Aber während die sinnstiftende Funktion der Dingmodellierungen in der westdeutschen Literatur es zu einer globalen Verflechtung der Kulturräume durch ihre Kolonialkritik gebracht hat, blieb die Modellbildung der afrikanischen Dinge in der DDR-Literatur im klassischen ideologischen Kampf gegen den Kapitalismus befangen.

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Einheit«, während die Einbildungskraft durch ihre Freiheit von »der Herrschaft des Dings« charakterisiert ist. Mehr hierzu siehe Elsässer, Michael: Friedrich Schlegels Kritik am Ding. Hamburg: Meiner, 1997, S. 25f. In dieser Diskussion ist Jürgen Zimmerer der Meinung, es gebe keinen deutschen Sonderweg hinsichtlich des Rassismus und der koloniale Rassismus gehöre zu der universellen Geschichte. Zimmerer, Jürgen: »Kein Sonderweg im ›Rassenkrieg‹. Der Genozid an den Herero und Nama 1904–08 zwischen deutschen Kontinuitäten und der Globalgeschichte der Massengewalt«, in: Sven Oliver Müller, Cornelius Torp (Hg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen, 2009, S. 323–340.

7 Zwischenbilanz: subversive Dinge in der Verwandlung der Welt

Auf Grund der Erkenntnisse der literaturgeschichtlichen Dingreise in diesem Teil lassen sich einige Schlüsse ziehen. Die bisher analysierten Texte dürfen bisweilen der Kategorie der Exotismus-Literatur zugerechnet werden. Im Spannungsfeld von Literatur und Kolonialkritik hat dennoch die Poetik der Dinge1 den Schriftsteller*innen dabei geholfen, Mechanismen des Kolonialismus anzuprangern. Aus rezeptionsgeschichtlicher Sicht muss man betonen, dass die Anprangerungen mittels erzählter Dinge selten in nicht-populären Texten veröffentlicht wurden. Zwar kann man ihren Wirkungszusammenhang nur bedingt mit der Wirkung eines Herders über seine Zeit2 vergleichen, aber es handelt sich um kanonisierte Schriftsteller*innen mit entsprechenden Auflagenhöhen im deutschsprachigen Raum, deren Wirkung auf die Meinungsbildung in ihren jeweiligen Epochen nicht zu unterschätzen ist. Die Poetik der Dinge entwickelten die realistischen Schriftsteller (Raabe, Keller und Stifter) nicht nur als Gesellschaftskritik, sondern auch als Kritik am kolonialen Projekt. Eine Schreibhaltung, die weniger in ihren antikolonialen Haltungen als vielmehr im Rahmen ihrer Einbettung in Herders kolonialkritische Geschichtsschreibung zu verstehen ist. Die Dinge, die in fiktiven Erzählungen in Europa kolonialistisch wirken, dienen zugleich dazu, die Präsenz und Evidenz ›fremder‹ Dinge im 18. Jahrhundert (Brigit Neumann) anzuprangern. Die Modellierungen der afrikanischen Dinge in der literarischen Moderne schreiben sich auch in diese gewollt moralisch-pädagogische und bisweilen satirische Wirkung ein. Sie dienen dazu, den Kult der Dinge (Doerte Bischoff) im 19. Jahrhundert kritisch zu beobachten. Die Faszination für afrikanische Dinge bei Schriftstellern wie Altenberg, Paasche und Franz Jung äußert sich durch die Kritik an der Verwandlung

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Axel Dunker untersuchte sie am Beispiel von W.G. Sebalds Austerlitz. Vgl. Dunker, Axel: »Poetik der Dinge«, in: Öhlschläger, Claudia u. Niehaus, Michael (Hg.): W.G. Sebald Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar, Metzler, 2017, S. 180–185. Vgl. Maurer, Michael: Herder und seine Wirkung/Herder and His Impact: Beiträge zur Konferenz der Internationalen Herder-Gesellschaft Jena 2008. Heidelberg: Synchron, 2014.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

der Welt (Jürgen Osterhammel) und durch die kolonialkritische Prägung der geistesgeschichtlichen Strömung ihrer Zeit, namentlich des Primitivismus. Wie sehr die expressionistisch-dadaistische Welle selbst in der Weimarer Republik zwecks der Kolonialismuskritik eingesetzt wurde, zeigt das Beispiel von Richard Huelsenbeck. Bei ihm sowie bei Balder Olden und Julius Lips dienen die Inszenierungen der afrikanischen Dinge dazu, einen Gegendiskurs im Kontext der herrschenden kolonialrevisionistischen Propaganda zu formulieren. Mit gegendiskursiven Inszenierungen der Kolonialphantasien im Dritten Reich versprachen sich auch der Exil-Autor Klaus Mann und der ›innere Emigrant‹ Ernst Jünger eine politisierende Wirkung anhand der dichterischen Inszenierung ihrer eigenen Sucht nach dem afrikanischen Rauschgift. In der Nachkriegszeit bekamen die literarischen Dingmodellierungen einen politischen Horizont, nämlich die Kolonialkritik im Kontext des ideologischen Kampfs zwischen Ost- und Westberlin. Die in den Blick genommenen afrikanischen Dinge sind: Fetisch, Kaffee, Säbel, Burnus, Pfeife, Vogelflinte, Holzschemel, Bier, Kriegsdinge, Wasserbrunnen, Strohhüte, Nilpferdpeitsche, Jazz, Fez, Opium, Zauberkräutlein, Naturdinge, Pyramide, Damm etc. Die bisher untersuchten literarischen Modellbildungen haben gemeinsam, dass sie das kolonial-subversive Potential der afrikanischen Dinge in den Vordergrund stellen, wobei die politischen Horizonte noch genauer zu hinterfragen sind. Manchmal kann man in der Tat Zweifel an den antikolonialen Argumentationsweisen der Autor*innen haben, weil ihre antirassistischen und emanzipatorischen Einstellungen durch weitere ideologische Intentionen geprägt sind. Die in den nächsten Kapiteln herangezogenen Texte werden im Prinzip diesen ideologischen Gedankenverknüpfungen nicht verdächtigt. Im Prinzip deswegen, weil der Antikolonialismus in seinem Verhältnis zu Dingen und Konsum auch als eine der »modernen Ideologien«3 gilt.

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Ausdruck bei Trentmann, Frank: Herrschaft der Dinge, a.a.O., S. 30.

II Postkoloniale Dingmodellierungen

8 Postkoloniale Schreibhaltungen

Wie eingangs angekündigt, soll in diesem Teil der Studie das postkoloniale Potential der Modellierungen von afrikanischen Dingen in der gegenwärtigen Afrika-Literatur untersucht werden. Gemeint sind Texte, die, seitdem der Begriff »postkolonial« in den 1970er Jahren geprägt wurde, sich mit der kritischen Aufarbeitung der Kolonialherrschaft und ihrer Mechanismen auseinandersetzen. Dabei wird »postkolonial« in diesem Zusammenhang sowohl als »nach dem Kolonialismus« als auch als »antikolonial« und ferner auch als »über den Kolonialismus hinausführendes Projekt«1 verstanden. Man hat hier nicht mit einer postkolonialen literarischen Strömung mit eigenständigen Texten und Autor*innen zu tun, wie das bei anderen Nationalliteraturen der Fall ist.2 Dafür müsste erst eine eindeutige Verknüpfung zwischen den vermeintlich postkolonialen Autor*innen und dem Begriff »Postkolonialismus« gefunden werden, wovor einschlägige Studien nachdrücklich warnen.3 Bei den behandelten Schriftsteller*innen handelt es sich keineswegs um die sogenannte »kleine Literatur« im Sinne Sigrid Weigels, d.h. die »Literatur […] einer Minderheit, die sich einer großen Sprache bedient«,4 sondern oft um Preisträger, Bestseller, erfolgsgekrönte Dauerseller und auflagenträchtige Fiktionen, die im Kontext der Relektüre der Kolonialgeschichte,5 des »Wiederauflebens des Zeitalters

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Typologien aus der Definition von Göttsche, Dirk: »Postkolonialismus als Herausforderung und Chance germanistischer Literaturwissenschaft«, in: Erhart, Walter (Hg.): Grenzen der Germanistik, a.a.O., S. 561. Für postkoloniale Schriftsteller in Frankreich zum Beispiel siehe Sultan, Patrick: La scène littéraire postcoloniale. Paris: le Manuscrit, 2011. Vgl. Hermes, Stefan: »Bewältigungsversuche«, a.a.O., S. 129. Weigel, Sigrid: »Literatur der Fremde – Literatur in der Fremde«, in: Briegleb, Klaus & Weigel, Sigrid: (Hg.): Gegenwartsliteratur seit 1968. [Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Band 12.]. München: Hanser, 1992, S. 182–229, hier S. 229. Vgl. Bay, Hansjörg u. Struck, Wolfgang (Hg.): Literarische Entdeckungsreisen. Vorfahren – Nachfahrten – Revisionen. Köln u.a.: Böhlau, 2012.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

großer Entdeckungsreisen«6 oder der Kritik des deutschen Kolonialismus7 entstanden sind. Soweit sie im Rahmen des Afrika-Booms8 erschienen ist, wird diese Art Literatur in der Forschung als »Afrika-Literatur« (alternativ Afrikaliteratur)« bezeichnet.9 Grundsächlich besteht die Afrikaliteratur der Gegenwart aus zwei Kategorien von Texten. Auf die Exotismus-vermarktende erste Kategorie der Populärliteratur wird in der vorliegenden Studie nicht eingegangen.10 Die zweite Kategorie bilden die fiktiven Texte, die sich ins Genre des »romanhaften Erzählens von Geschichte«11 einordnen lassen und eine fruchtbare Reflexionsleistung in Bezug auf aktuelle postkoloniale Debatten anbieten. Nur diese narrativ evozierten literarischen Entwürfe der kolonialen Vergangenheit werden in den nächsten Abschnitten in Betracht gezogen. Selbst unter diesen Fiktionen, die den Namen Afrikaliteratur verdienen, hat Herbert Uerlings herausgefunden, dass einige Autor*innen in ihren Texten ihre eigenen Wünsche in die Verarbeitung der kolonialen Vergangenheit hineinprojizieren, während andere auf eine fragwürdige Weise versuchen, den ›Subalternen‹, den ehemaligen Kolonisierten eine Stimme einzuräumen.12 Bevor auf dieses Spektrum eingegangen wird, soll zunächst der Frage nachgegangen, inwiefern hier von einer Ding-Literatur die Rede sein kann.

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Vgl. Hamann, Christof u. Honold, Alexander (Hg.): Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen. Göttingen: Wallstein, 2009. Vgl. Göttsche, Dirk: »Erinnerung und Kritik des deutschen Kolonialismus in der Gegenwartsliteratur«, in: Bechhaus-Gerst, Marianne u. Zeller, Joachim (Hg.): Deutschland postkolonial? a.a.O., S. 383–407. Göttsche, Dirk: »Rekonstruktion und Remythisierung der kolonialen Welt: Neue historische Romane über den deutschen Kolonialismus in Afrika«, in: Hofmann, Michael u. Morrien, Rita (Hg.): Deutsch-afrikanische Diskurse in Geschichte und Gegenwart, a.a.O., S. 171–195, hier S. 174. Vgl. Kpao Sarè, Constant: Postkoloniale Erinnerungskultur, a.a.O.; Vgl. auch Schmiedel, Roland: Schreiben über Afrika, a.a.O. Diese Tradition verbreitet meistens nur für die touristische Massenkonsumgesellschaft scheinkritische naive Vorstellungen von Afrika weiter. Vgl. Hofmann. Corinne: Die weiße Massai. München: A-1-Verl., 1999. Mehr zu dieser Thematik siehe Göttsche, Dirk: »Zwischen Exotismus und Postkolonialismus. Der Afrika-Diskurs in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur«, in: Dirk Göttsche und M. Moustapha Diallo (Hg.): Interkulturelle Texturen. Afrika und Deutschland im Reflexionsmedium der Literatur. Bielefeld: Aisthesis, 2003, S. 161–244; Vgl. auch Ders.: »Kritische Erinnerung, Exotismus und Interkulturalität: Kolonialzeit und Afrika-Diskurs im Gegenwartsroman«, in: Annette Bühler-Dietrich, Françoise Joly (Hg.): Voyages d’Afriques. Interkulturelle Dialoge mit Afrika. Stuttgart: IZKT, 2011, S. 75–91. Titel vom Sammelband über historische Narrationen der Gegenwart. Vgl. Fulda, Daniel u. Jaeger, Stephan (Hg.): Romanhaftes Erzählen von Geschichte. Vergegenwärtigte Vergangenheiten im beginnenden 21. Jahrhundert. Berlin, Boston: de Gruyter, 2019. Vgl. Uerlings, Herbert: »Der neuere postkoloniale historische Roman. Probleme und Perspektiven«, in: Ebd., S. 303–327.

8 Postkoloniale Schreibhaltungen

8.1 Afrika-Ding-Roman des Postkolonialismus? Im Vergleich zur gewärtigen deutschsprachigen Literatur im Allgemeinen, in der das Wort »Ding« nicht mehr selten im Titel der Bücher geführt wird,13 kann im Titel der Afrika-Literatur noch kein inflationärer Gebrauch des Ding-Begriffs aufgezeichnet werden.14 Dies heißt dennoch nicht, dass diese Art Literatur in Inhalt und Stil weniger Interesse an Ding-Stoffen hätte. Schon aus philosophischer Sicht kann man die Texte, um die es hier geht, als »Dingtexte« bezeichnen, denn sie stehen – mit Siegfried Gerlings Typologien – im Gegensatz zu »Traumtexten«, welche sich in einem »Zwischenraum von imaginärem Sinn und realem Sein der Schrift: ihrem symbolischen Nichtsinn«15 aufhalten. Betrachtet man die Dingtexte in Sinne der Moderne, als literarische Darstellung der »Dinge, die gekommen und geblieben sind«,16 kann man ferner feststellen, dass die untersuchten Dinge zumindest in der westlichen Imagination immer geblieben sind. Da die Texte, die sie ästhetisch evozieren, ihre gegenständliche Welt durch sprachliche Mittel zum Ausdruck bringen, kann es nicht verkehrt sein, von der zeitgenössischen Afrikaliteratur als Ding-Literatur zu sprechen. Soweit er im Spannungsfeld von Literatur und Kolonialismus angesiedelt ist, kann der Afrika-Roman schwer auf koloniale Dinge verzichten. Können literarische Texte einen Kult der Dinge betreiben,17 können dinghaltige Texte über Afrika zum Beispiel die kolonialen Dinge inszenieren. Diese Form von AfrikaLiteratur artikuliert eine postkoloniale Bewusstseinsbildung,18 wobei der europäische Kolonialismus als ein Ensemble von Verflechtungen aufgefasst wird. In fiktiven Erzählungen findet sich Sebastian Conrads postkolonial geschulte Ansicht wieder, wonach »der deutsche Kolonialismus Teil einer globalen Ordnung [war], die bis heu-

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Allein Rowohlt hat eine unübersehbare Liste von manchmal bekannten, manchmal No-Name-Autoren: Auster, Paul: Im Land der letzten Dinge (1992); Nabokov, Vladimir: Durchsichtige Dinge. Sieh doch die Harlekine (2002); Baume, Sara: Die kleinsten, stillsten Dinge (2017) etc. Erwähnenswert sind dennoch Übersetzungen aus dem Englischen (Greene, Graham: Das Herz aller Dinge, 1948; Selasi, Taiye: Diese Dinge geschehen nicht einfach so, 2013) oder aus dem Portugiesischen (Antunes, António Lobo: Guten Abend ihr Dinge hier unten, 2005). Gerlich, Siegfried: Sinn, Unsinn, Sein: philosophische Studien über Psychoanalyse, Dekonstruktion und Genealogie. Wien: Passagen, 1992, S. 184. Kimmich, Dorothee: »Der Fremde und seine Dinge. Bemerkungen zur Funktion fremder Dinge in der Literatur der Moderne«, in: Brunner, José (Hg.): Erzählte Dinge, a.a.O., S. 177–190, hier S. 185. Vgl. Kimmich, Dorothee: »Dinge in Texten«, in: Scholz, Susanne u. Vedder, Ulrike (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, a.a.O., S. 21–29. Göttsche, Dirk: »Vereinnahmung oder postkoloniale Bewusstseinsbildung? Beobachtungen zur Darstellung afrikanischer Perspektiven auf die Kolonialgeschichte in neuen historischen Afrika-Romanen«, in: Literatur für Leser 33 (4/2010), 2011, S. 211–231.

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te fortwirkt«.19 Die deutschsprachigen Schriftsteller*innen verstehen sich in diesem Sinne als Globalplayer, in dem Sinne, dass sie die postkolonialen Schwerpunktthemen als transnationale und interkontinentale Themen betrachten.20 Sie beschränken sich nicht auf die koloniale Vergangenheit ihrer jeweiligen Heimat. Die postkoloniale Ästhetik, die sich in ihren Texten wiederfindet, versteht sich, wie Dirk Göttsche schreibt, als eine Strategie einer globalen Vernetzung der Kulturräume durch »Gedächtnisarbeit […] an der afrikanischen Zeitgeschichte«.21 Insgesamt betrachtet kann man die deutschsprachige Afrika-Literatur als eine Ding-Literatur des Postkolonialismus bezeichnen. Dabei reichen die in der postkolonialen Erinnerungskultur postulierten, für die afrikanischen Dinge relevanten Schwerpunktthemen von musealen Dingen über Rohstoffe bis hin zu Naturdingen. Bevor auf dieses Spektrum eingegangen wird, empfiehlt es sich zunächst, die in der Afrika-Literatur gängigen ästhetischen Schreibhaltungen in den Blick zu nehmen.

8.2 Uwe Timm: Das afrikanische Ding im Kontext der Einfühlungskritik Der Klassiker Goethe soll sich gegen die Ästhetik der Einfühlung mit den ›fremden Dingen‹ geäußert haben, als er in einem Brief an Herder vom 14. Oktober 1786 schrieb: »Die Fremde hat ein fremdes Leben und wir können es uns nicht zu eigen machen, wenn es uns gleich als Gästen gefällt«.22 Mit ähnlichem Argument spricht sich der Klassiker der Kolonialkritik Uwe Timm gegen die postkoloniale Einfühlungsästhetik aus, die in seinen Augen nur »ein kolonialer Akt«23 sein könne. Diese Schreibtradition, die im Grunde genommen nicht versucht, dem Afrikaner eine narrative Stimme zu geben, hat viele Texte des Kolonialismus mit Bezug zu Afrika geprägt.24 Die Inszenierung der Dingwelt in diesem Rahmen fokussiert sich oft 19 20

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Conrad, Sebastian: »Ungleiche Welt. Der deutsche Kolonialismus war Teil einer globalen Ordnung, die bis heute fortwirkt«, in: ZEIT Geschichte 4/19, 2019, S. 14–21. Zu dieser Schreibhaltung bei Trojanow und Hamann siehe Hofmann, Michael: »Postkoloniale Begegnungen in der globalisierten Welt. Indien und Afrika in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Ilija Trojanow: ›Der Weltensammler‹ und Christof Hamann: ›Usambara‹«, in: Ders. (Hg.): Unbegrenzt. Literatur und interkulturelle Erfahrung, a.a.O., S. 215–232. Göttsche, Dirk: »Der neue historische Afrika-Roman. Kolonialismus aus postkolonialer Sicht«, in: German Life and Letters 56, 2003, S. 261–280, hier S. 279. Zitiert nach Wierlacher, Alois: »Mit fremden Augen. Vorbereitende Bemerkungen zu einer interkulturellen Hermeneutik deutscher Literatur«, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 9, 1983, S. 1–16, hier S. 6. Vgl. Timm, Uwe u. Hamann, Christoph: »›Einfühlungsästhetik wäre ein kolonialer Akt.‹ Ein Gespräch«, in: Sprache im technischen Zeitalter. Heft 168, 2003, S. 450–462. Zur Diskussion siehe Kpao Sarè, Constant: Postkoloniale Erinnerungskultur, a.a.O., S. 60f; Vgl. auch Osthues, Julian: Literatur als Palimpsest: Postkoloniale Ästhetik im deutschsprachigen Roman der Gegenwart. Bielefeld: transcript, 2017, 224ff.

8 Postkoloniale Schreibhaltungen

auf europäisch-westliche Dinge. In Bezug auf den dinglichen Gehalt in Uwe Timms Werk schreibt Martin Hielscher: Die Dinge, das sind die Steinaxt mit den zwei Bohrlöchern, auf die sein Schulaufsatz antwortete, das sind der silberne Zahnstocher auf seinem Schreibtisch, der zum Anlass für die Geschichte vom Mann auf dem Hochrad wurde, das sind Napoleons Feldbett oder ein Stück Eisen, das auf Kaiser Wilhelm geschleudert wurde, eine Aktentasche mit Plastiksprengsatz, zwei Granatäpfel unter einem Küchenschrank und der Satz von Diderot, dass man davon ausgehen müsse, dass der Stein denkt.25 Folgerichtig widmete die Uwe-Timm-Forschung den afrikanischen Dingen weniger Aufmerksamkeit. Das postkoloniale Potential der afrikanischen Kriegsdinge, welches oben im Franz Jungs Morenga-Erzählung beschrieben wurde, wird in Timms Modellierung entsprechend seiner Vermeidung der postkolonialen Einfühlungsästhetik ausgeklammert. Während die Naturobjekte in Franz Jungs Modellierung mit einem subversiven Potential beladen sind, erscheinen sie in Timms Morenga als friedvolle Dinge. Selbst das von den einheimischen Hottentotten als »Wunderbusch« bezeichnetes Naturding, das man in Gottschalks Tagebucheintrag findet, hat nichts gegen die Kolonialmacht. Im Gegenteil: Dieser Busch steht auf einem »nackten Fels« wie eine »Kerze«, »grau sind seine Zweige« und er wartet auf den Regen.26 Dass die vermeintliche Wunderkraft dieses Dings nicht explizit ausgelegt wird, entspricht der Schreibhaltung des Autors. Es geht ja darum, den Sieg der Kolonialarmee anhand unmenschlicher Gewalt einleuchtend zu machen. Der Kontrast zwischen diesem Ding und der deutschen überlegenen Kriegswaffentechnologie dient dazu, die menschenverachtende Kriegspolitik des Kaiserreiches in den Vordergrund zu stellen; was wiederum die Funktion des Textes als »AntiKriegsroman«27 im kolonialen Kontext widerspiegelt. Die Ablehnung der Einfühlung mit den Afrikanern wird darin begründet, dass in diesem Kontext die

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Hielscher, Martin: »Die Dinge und die Wunder. Nachwort«, in: Timm, Uwe: Uwe Timm Lesebuch: die Stimme beim Schreiben. München: dtv, 2005, S. 467–474, hier S. 49. Hans-Peter Ecker, der Timms Roman Rot analysiert, findet in dem dort beschriebenen Eisbärenfell beispielsweise auch eine Kulturtechnik, ein Utensil, das auf Uwe Timms erlerntes Handwerk verweist. Ecker, Hans-Peter: »Die Heiligung des Diesseits. Die Leichenrede als Motiv und Strukturprinzip in Uwe Timms Roman Rot«, in: Marx, Friedhelm (Hg.): Erinnern, Vergessen, Erzählen. Beiträge zum Werk Uwe Timms. Göttingen: Wallstein, 2007, S. 189–201. Timm, Uwe: Morenga (1978). 8. Aufl. München: dtv, 2000, S. 432f. Dazu Albrecht, Monika: »Che Guevara in Deutsch-Südwest. Uwe Timms Anti-Kriegsroman Morenga aus interdisziplinärer Sicht«, in: Göttsche, Dirk u.a. (Hg.): Schreiben gegen Krieg und Gewalt. Ingeborg Bachmann und die deutschsprachige Literatur 1945–1980. Göttingen: V&R Unipress, 2006, S. 187–202.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

subversiven afrikanischen Dinge auf einen potenziellen Nama-Schriftsteller warten müssen, der »aus der anderen Sicht den Kolonialkrieg zwischen 1904 und 1907 erzählt«,28 wie Uwe Timm sarkastisch meint. Seine Schreibhaltung, wonach es für einen europäischen Autor unmöglich sei, sich in das Bewusstsein der Afrikaner hinein zu begeben, ohne sie »gewissermaßen im Nachhinein nochmals literarisch zu kolonisieren«,29 hat sich in dem gegenwärtigen Afrika-Roman des Kolonialismus quasi als Norm etabliert. Gerhard Seyfrieds Roman Herero (2003),30 der die genozidalen Züge des Kolonialkrieges in Namibia31 weniger zentral bewertet, indem er beispielsweise afrikanische Kriegsdinge gegen deutsche Kriegswaffen auftreten lässt, wurde eine »naive Einfühlungsästhetik«32 bescheinigt. Vor dieser Folie erscheint es folgerichtig, dass selbst das Spezialgenre der Kinder- und Jugendliteratur, in der die Einfühlung mit dem ehemaligen Kolonisierten als erzieherisches Potential Vorrang haben sollte, einen solchen Tabubruch wagt. In Inge Vietts Kinderbuch Morengas Erben (2004)33 ist die Skepsis vor der Ermächtigungsgeste evident, wobei die afrikanischen Protagonisten der »Morenga Erben« dennoch literarische Anerkennung und Aufmerksamkeit erreichen können. Es gelingt der Autorin nämlich, das kolonialkritische Potential erzieherisch zu inszenieren, ohne unbedingt einer afrikanischen Stimme zum Sprechen zu verhelfen. Die in Schleswig-Holstein aufgewachsene, politisch engagierte Schriftstellerin, die sowohl in der BRD als auch in der DDR wegen ihres politischen Engagements mehrmals verhaftet und erst 1997 entlassen wurde,34 inszeniert in diesem politischen Reisebericht den Morenga-Stoff. Ihre Reise durch Namibia zeugt von der Einfühlung

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Zitiert nach Albrecht, Monika: »Europa ist nicht die Welt«, a.a.O., S. 31. Timm, Uwe: Von Anfang und Ende. Über die Lesbarkeit der Welt. Frankfurter Poetikvorlesung. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009, S. 111. Seyfried, Gerhard: Herero. (2003). Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 2004. Zur Diskussion siehe Kundrus, Birthe und Zimmerer, Jürgen: »Standpunkte. War der Genozid geplant? Zwei Historiker, zwei Antworten«, in: ZEIT Geschichte 4/19, 2019, S. 76–78. Vgl. auch Kuß, Susanne: »Postkolonialismus und Genozid«, in: Bechhaus-Gerst, Marianne u. Zeller, Joachim (Hg.): Deutschland postkolonial? a.a.O., S. 204–222. Vgl. Hielscher, Martin: »Der Wunderbusch, die Kartographie, das Gebet. Formen und Erfahrungen des Fremden bei Uwe Timm, Gerhard Seyfried und Hubert Fichte«, in: Hamann, Christof (Hg.): Afrika, Kultur und Gewalt: Hintergründe und Aktualität des Kolonialkriegs in DeutschSüdwestafrika: seine Rezeption in Literatur, Wissenschaft und Populärkultur (1904–2004). Iserloch: Institut für Kirche und Gesellschaft, 2005, S. 191–205, hier S. 200. Vgl. auch Arich-Gerz, Bruno: »Postkoloniale Prosaliteratur zwischen Einfühlungs- und Rezeptionsästhetik. Zur (Erzähl-)Perspektive ›der Anderen‹ bei Gerhard Seyfried, Dietmar Beetz und in Giselher W. Hoffmanns Die schweigenden Feuer (1994)«, in: Acta Germanica. German Studies in Africa 37, 2009, S. 33–45. Viett, Inge: Morengas Erben. Eine Reise durch Namibia. Hamburg: Nautilus, 2004. Zur Biografie siehe Viett, Inge: Nie war ich furchtloser: Autobiographie. Hamburg: Nautilus, 1997.

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der Protagonistin mit den Menschen, die sich gegen die Auswirkungen des Kolonialismus und des kolonialen Genozids engagieren. Obwohl man die Stimmen der vermeintlichen Freiheitskämpfer nicht hört und der europäische Kanon nicht revidiert wird (intertextuelle Bezüge zu Uwe Timms Morenga), heißt es zum Beispiel über die Kalahari-Wüste: Unmöglich über die Kalahari zu fliegen und nicht an die Geschichte der namibischen Völker, an die Geschichte der Herero erinnert zu werden. […] In diesem Brennofen da unten haben die kaiserlich deutschen Truppen ihren ersten Völkermord praktiziert. Da unten haben zigtausend Menschen und Tiere erfolglos gegen den Dursttod gekämpft. Kein Wunder, dass die Erde die Farbe verblichener Knochen hat. Das Sterben war lang, so lang wie der Kampf ums Überleben. In verzweifelter Hoffnung auf Wasser hatten die Menschen bis zu zehn Meter tiefe Brunnen gegraben, um am Ende entkräftet hineinzufallen und zu sterben.35 Die Motive wie Genozid, Brennofen (Konzentrationslager) bilden einen Rekurs auf Hannah Arendts berühmt erscheinende These über die kausale Kontinuität zwischen dem kolonialen Genozid in Namibia und dem Holocaust im Dritten Reich.36 Für ein Kinderbuch ist die Erziehungsfunktion ohne weiteres sichtbar: Es zeigt nicht nur die Möglichkeit der Gedächtnisarbeit, sondern auch ein pädagogisches Interesse für die afrikanischen Dinge als postkolonial-subversive Elemente. Die Faszination für das Kalahari-Ding erscheint in diesem Sinne als eine postkoloniale »Kritik an den Faszinationen […] des kolonialen Begehrens«,37 welche Herbert Uerlings als Zeichen des postkolonialen Potentials eines literarischen Textes beschrieben hat. Neben diesen Schreibhaltungen, die eine ästhetische Skepsis vor der Einfühlungsästhetik widerspiegeln, gibt es aber auch einige erfolgreiche Schriftsteller*innen der Afrika-Literatur, die das Experiment der Einfühlungsästhetik versuchen.

8.3 Hans Christoph Buch: Das afrikanische Ding als Einfühlungsexperiment Im Gegensatz zum oben zitierten Goethe, der in einem Brief an Herder sich gegen die ästhetische Einfühlung mit fremden Völkern ausspricht, war Herder bekanntlich ein Einfühlungsästhetiker: »Den Gästen soll mein Gericht schmecken; nicht

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Viett, Inge: Morengas Erben, a.a.O., S. 5. Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, a.a.O. Uerlings, Herbert: Postkolonialismus und Kanon, a.a.O., S. 53.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

dem Koch gefallen!«,38 sagt er dazu bildhaft. Einer der gegenwärtigen Schriftsteller, der sein Werk als eine postkoloniale Ästhetik der Einfühlung mit der afrikanischen Welt postuliert, ist der Erzähler, Essayist und Reporter Hans Christoph Buch. Im Allgemeinen scheint ihm die aus der Einfühlungskritik entlehnte Warnung vor dem potenziellen »kolonialen Akt« (Uwe Timm) nicht unangenehm zu sein, sofern seine Schreibhaltung seinen eigenen afrikanischen Erfahrungen zugrunde liegt. In einem Text mit dem vielsagenden Titel »Der widerlichste Beutezug der Geschichte« meint er, wer die Stromschnellen des Kongo mit eigenen Augen gesehen hat, würde Joseph Conrads Pamphlet Herz der Finsternis anders lesen können als jemand, der das Innere Afrikas nur vom Hörensagen gekannt habe.39 Sowie H.C. Buch sich als Afrika-Kenner profiliert, so will er sich aber die Kritik der eurozentrischen Schreibweise grundsätzlich nicht gefallen lassen. Dabei erscheint seine kritische Haltung gegenüber den Afrikanern als problematisch. Denn die bei den afrikanischen Denkern geläufig gewordene postkoloniale Kritik, welche die Verantwortung vieler gegenwärtiger Probleme Afrikas in den »Nachwirkungen des Kolonialismus als Ideologie der wirtschaftlichen Ausbeutung sowie der politischen und militärischen Unterjochung überseeischer Länder«40 findet, sollte ihm zufolge nicht zentral bewertet werden, denn der Eurozentrismus sei längst passé und heute nur ein »Gespenst«.41 Der große Haken an seiner kritischen Haltung ist nur, dass er gleichzeitig versucht, den Vorwurf der eurozentrischen neokolonialen Vereinnahmung des ›Anderen‹ mit folgendem Argument von sich zu weisen: einige afrikanische Intellektuelle würden auch weniger die Nachwirkungen des Kolonialismus als vielmehr die Eigenverantwortung der Afrikaner selbst in den Vordergrund stellen.42 Selbstverständlich dürfen die afrikanischen Intellektuellen den Kolonialismus als ›Chiffre‹ für die ungerechte Herrschaft der politischen Entscheidungsträger in der nachkolonialen Zeit betrachten. Im Übrigen gebrauchen sie diese Rhetorik der Notwendigkeit für die Afrikaner, aus der Opferrolle zu kommen, in allerlei Bereichen, etwa in Bezug auf

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Herder, Johann Gottfried von: Johann Gottfried von Herder’s sämtliche Werke. Zur Geschichte und Philosophie. Bd. 15. Stuttgart: J.G. Cotta, 1829, S. 46. Buch, Hans Christoph: »Der widerlichste Beutezug der Geschichte«, in: Ders.: Standort Bananenrepublik: Streifzüge durch die postkoloniale Welt. Hannover, zu Klampen, 2004, S. 46. Gouaffo, Albert: »Die Kolonien des Kaisers. Die deutsche Herrschaft über Teile Afrikas bestand nur kurz, doch die Folgen sind bis heute spürbar«, in: Deutscher Kolonialismus: Wie die Vergangenheit die Gegenwart belastet, Südlink 188 – Juni 2019, Abrufbar unter https://w ww.inkota.de/index.php?id=2584 [Stand vom 17.11.2019]. Er schreibt: »Dabei ist der Eurozentrismus schon lange tot«, Buch, Hans Christoph: »Wer oder was ist Postkolonial?«, in: Ders.: Standort Bananenrepublik, a.a.O., S. 9–14, hier S. 9. Vgl. Buch, Hans Christoph: »Ratlose Gutmenschen. Vom Sinn und Unsinn der Kolonialismuskritik«, in: Ebd., S. 55–59.

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afrikanische Sprachen (Ngugi wa Thiong’o), auf Bevölkerungswachstum und Entwicklung (Mbembe) etc. Natürlich darf auch ein westlicher Kritiker das koloniale Wüten der westlichen ehemaligen Kolonialmächte »mit einem neuen, ironisch durchwirkten Selbstverständnis anprangern«,43 wie Moritz Holfelder schreibt. Dass ein europäischer Beobachter diese Tendenz als Paradeantwort gebraucht, um den Spieß gegen die ehemaligen Kolonisierten umzudrehen, ist allerdings falsch. Die Nachwirkungen des Kolonialismus als Rand- bzw. Oberflächenphänomen zu verharmlosen, erinnert an jene Taktik der Aufhebung der ethischen Verantwortung, die in einem anderen Kontext als eine »Banalisierung des Bösen«44 empfunden wurde. Auf die Gegebenheit, dass H.C. Buch die Anprangerung der Auswirkungen westlicher Sklaverei und des Kolonialismus in der Dritten Welt zur »Gipfel der Absurdität«45 bagatellisiert, darauf antwortet die indische Soziologieprofessorin Shalini Randeria mit »Man muss lernen Geschichten zu schreiben«.46 In H.C. Buchs autobiografischem Roman Stillleben mit Totenkopf (2018)47 wird eine »naive« ästhetische Modellierung der afrikanischen Dinge sichtbar. Während sich die Debatte um die Rückgabe der in der Kolonialzeit auf unfaire Weise erworbenen Kopfschädel in der deutschen Öffentlichkeit und zwischen den Historikern intensiviert, während die deutsche Gedächtnis-Diplomatie den Museen offiziell empfiehlt, »aus der Falle einer allein eurozentrischen Perspektive herauszukommen«,48 illustriert er, was der Titel und das Titelbild seines Romans versprechen, nämlich mit dem Totenkopf still leben zu können. Die Idee des Stilllebens mit dem Totenschädel, die den Roman in allen Peripetien wie ein roter Faden durchzieht, mag als eine Philosophie gedacht sein; aber diese Lebensphilosophie der Bagatellisierung der Leichen, Skelette und Totenköpfe, wie sie hier inszeniert wird, ist kaum zu begreifen.

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Holfelder, Moritz: Unser Raubgut: Eine Streitschrift zur kolonialen Debatte. Berlin: Links, 2019, S. 125. Nicht aus postkolonialer, sondern aus ethisch-moralischer Perspektive siehe Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München: Piper, 2006. Zur Diskussion siehe Volk, Christian: Urteilen in dunklen Zeiten. Eine neue Lesart von H. Arendts »Banalität des Bösen«. Berlin: Lukas, 2005. Buch, Hans Christoph: »Wer oder was ist Postkolonial?«, in: Ders.: Standort Bananenrepublik, a.a.O., S. 9–14, hier S. 14. Müller, Marie Elisabeth: »Man muss lernen Geschichten zu schreiben. Im Gespräch mit Shalini Randeria«, in: Der Freitag vom 14.03.2003. Abrufbar unter. https://www.freitag.de/autore n/der-freitag/man-muss-lernen-geschichten-zu-schreiben. [Stand vom 10.11.2019]. Buch, Hans Christoph: Stillleben mit Totenkopf. Roman. Frankfurt a.M.: Frankfurter Verlagsanstalt, 2018. Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) und Michelle Münterfering (SPD), Staatsministerin für Internationale Kulturpolitik im Auswärtigen Amt, in Die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Dezember 2018. Zitiert nach Holfelder, Moritz: Unser Raubgut, a.a.O., S. 23.

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Inspiriert wurde der Titel offenkundig vom Barock-Gemälde Vanitas-Stillleben,49 das den Totenschädel porträtiert, um somit »zur Meditation über die Vergänglichkeit des Lebens und die Eitelkeit irdischer Güter und Vergnügungen«50 einzuladen. H.C. Buchs Umdeutung des Stoffes ist umso unbegreiflicher, als die Realität irrer als die Fiktion erscheint. Klassisches Beispiel für den Verzicht auf literarische Schönfärberei in Bezug auf das Stillleben mit Totenköpfen ist etwa, wenn er in seinen Erinnerungen an den Literaturbetrieb erzählen muss, wie sehr der Dramatiker Heiner Müller (1929–1995) nach dem Selbsttod seiner Frau, der Schriftstellerin Inge Müller (1925–1966), Lust bekam, »noch einmal mit der Toten zu schlafen«.51 Der Leser gewinnt hier den Eindruck, der Erzähler würde hier eine »negative Faszination verspüren angesichts von […] Tod«,52 obwohl er versichert, dies sei nicht seine Absicht. Auf die von der Tageszeitung Die Welt 2017 gestellte Frage, was man als Schriftsteller tun kann, wenn die Realität irrer als jede Fiktion wirkt, hätte man sich in diesem Zusammenhang H.C. Buchs Antwort gewünscht. Auf diese Frage antwortete Ilija Trojanow nämlich, ein Romancier darf sich niemals einbilden, die Realität »im Griff zu haben«.53 Interessant ist auch die Antwort der US-amerikanischen Autorin Meg Wolitzer, die drauf hinwies, dass solche Literarisierungen sich lastwagenweise verkaufen lassen, weil »jeder die erschreckende und bedrückende Realität verstehen will«.54 Übertragen auf H.C. Buchs Modellierung des Totenkopfes, muss man Wolitzers Feststellung der perversen Konditionierung des Schriftstellers durch die Marktdynamik zustimmen. Man denke nämlich an Paul Cézannes (1839–1906) Aquarell »Stillleben mit drei Schädeln« (1902–1906), das von seinem Biografen mit Altersdepression des Malers in Verbindung gebracht worden ist.55 Reflektierte der französische Maler mit dem aufgegriffenen Totenkopfstillleben »ein tragisches Bewusstsein«,56 scheint H.C. Buch mit diesem Leitmotiv die eigene Entstellung zu evaluieren, sich in der Lebensphase vom Häuten der Zwiebel zu befinden (um mit Günter Grass zu sprechen57 ). Denn seine Erzählinstanz (denn es geht um einen Ro-

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Siehe Wentzlaff-Eggebert, Friedrich-Wilhelm: »Das Problem des Todes in der Deutschen Dichtung des Barocks«, in: Jansen, Hans Helmut (Hg.): Der Tod in Dichtung, Philosophie und Kunst. Darmstadt: Steinkopf, 1978, S. 182–188, hier S. 187. Raupp, Hans-Joachim: Stilleben und Tierstücke. Münster u.a.: LIT, 2004, S. 182. Buch, Hans Christoph: Stillleben mit Totenkopf, a.a.O., S. 116. Ebd., S. 91. »Was tun als Schriftsteller, wenn die Realität irrer wirkt als jede Fiktion?«, in: Die Welt vom 18.03.2017 und vom 25.03.2017. Abrufbar unter: https://www.welt.de/print/ die_welt/literatur/article163149708/Was-tun-als-Schriftsteller-wenn-die-Realitaet-irrer-wir kt-als-jede-Fiktion.html [Stand vom 11.11.2019]. Ebd., a.a.O. Vgl. Adriani, Götz: Paul Cézanne. Leben und Werk. München: C. H. Beck, 2006, S. 101. Ebd., a.a.O. Grass, Günter: Beim Häuten der Zwiebel. Augsburg: Weltbild, 2006.

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man) erklärt ihre Tätigkeit als Schriftsteller und als Berichterstatter in Krisengebieten mit folgender Moral: »Die zu Stillleben erstarrten Kampfszenen waren mein liebster Zeitvertreib, mit glühenden Wangen verschob ich Angreifer und Verteidiger vor und hinter den Palisaden […]«.58 Die Bezugnahme auf den geschichtlichen Stoff ist einleuchtend: als Alemannen und Römer vor und hinter den Palisaden standen, konnten die ersten im Jahre 260 den Limes überrennen und die Römer verdrängen, weil diese mit Korruption und Machtkämpfen beschäftigt waren.59 Bringt man diese Stoffentwicklung in Verbindung zu der im Afrika-Kapitel des Romans angeprangerten schlechten Regierungsführung in Afrika, versteht man die Logik des Textes: Die einzige Ursache für das dort herrschende Elend sei die Bad governance. In dieser Argumentationslinie kann der Autor den Vorwurf des Eurozentrismus vermeiden und zugleich die eigenen Schuldgefühle auf die korrupte politische Elite Afrikas projizieren. Die Vanitas-Symbolik der Hinfälligkeit und Vergänglichkeit des irdischen Lebens findet Verdichtung und Umdeutung in seiner allgemeinen Lebensgrundhaltung, wonach die Schädelköpfe im gegenwärtigen Afrika nichts mit den Nachwirkungen des Kolonialismus zu tun hätten, denn die Probleme seien hausgemacht.60 Inszeniert werden in Stillleben mit Totenkopf seine Gespräche mit Kindersoldaten und vergewaltigten Frauen, die er 2017 in der zentralafrikanischen Republik führte. In dem einleitenden Kapitel »Bangui« wird die Einfühlungsästhetik in dem Versuch einer Kanon-Revision sichtbar. Der Schreibstil folgt der Tradition des afrikanischen oralen Erzählens, das man im Roman Zerbrochenes Glas (2005)61 des afrikanisch-frankophonen Schriftstellers Alain Mabanckou findet. Mehr als Verre Cassé, in dem ohne Punkte, aber doch mit Kommata erzählt wird, um auf wenigen Seiten »die korrupten Regime des postkolonialen Afrikas«62 zu entlarven, gelingt es H.C. Buch, dieselbe Thematik ohne Punkte und ohne Kommata in der Erzählflut zu formulieren. Anders als Mabanckou, der »ein durchaus internationales Phänomen«63 anprangert, begnügt sich allerdings H.C. Buch damit, die Verantwortung der westlichen Staaten an der Unterentwicklung Afrikas weniger zentral zu bewerten, als von Kritikern des brutalen Liberalismus behauptet wird.64

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Buch, Hans Christoph: Stillleben mit Totenkopf, a.a.O., S. 62. Vgl. Abschnitt »Alemannen stürmen den Limes«, in: Wienecke-Janz, Detlef (Hg.): Die Chronik der Deutschen. München: Chronik, 2007, S. 32. Mehr dazu siehe Kpao Sarè, Constant: Postkoloniale Erinnerungskultur, a.a.O., S. 105ff. Mabanckou, Alain: Zerbrochenes Glas. Aus dem Französischen Verre Cassé (2005) übersetzt von Holger Fock u. Sabine Müller. München: Liebeskind, 2013. Mannweiler, Caroline: »Berauschend polyphon. Wenn unbändige Erzählfreude und intellektueller Scharfsinn sich glücklich fügen: Alain Mabanckous Roman Zerbrochenes Glas«, in: Literaturkritik Nr. 6, 05.06.2013, https://literaturkritik.de/id/18005 [Stand vom 26.11.2019]. Ebd., a.a.O. Argument, die vom Schweizer UN-Sonderberichterstatter Jean Ziegler sowie vom luxemburgischen UN-Diplomaten Jean Feyder formuliert wurden und eigentlich nicht oft genug wie-

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

Aus postkolonialästhetischer Sicht65 bleibt fragwürdig, dass H.C. Buch die Verantwortung der Afrikaner in den Vordergrund stellt und gleichzeitig die erzählende Stimme seiner afrikanischen Figuren verschwinden lässt. Im Vergleich zu früheren Texten, etwa zu seinem Roman Sansibar Blues (2008),66 in dem die afrikanischen Figuren Tippu Tip und Emily Ruete nicht nur die Hauptrollen übernehmen, sondern auch ihre Geschichten in der Ich-Form erzählen,67 verleiht H.C. Buch diesmal keinem afrikanischen Erzähler eine Stimme. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass eine Ermächtigungsgeste in Stillleben mit Totenkopf sichtbar wird. Die eurozentrische Vereinnahmung der Afrikaner in das Projekt der postkolonialen Bewusstseinsbildung wird durch die Stimme der europäischen Erzählinstanz an den intendierten europäischen Adressaten (Leser) eingebettet. In der Tradition der schreibenden »Afrika-Experten«, die mit ihm diese These teilen und konsequenterweise die Abschaffung (oder zumindest Reform) der Entwicklungshilfe vorschlagen,68 schreibt H.C. Buch einen offenen Brief an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Anders als sein offener Brief an den damaligen deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler in seinem Romanessay Apokalypse Afrika (2011), indem er der deutschen Afrika-Politik seit Bismarck unverändert Zynismus vorwarf und auf die weitgehende Verantwortung des europäischen Kolonialismus am Genozid in Ruanda hinwies,69 fungiert der vorliegende Brief keineswegs als ein Zola’scher »J’accuse« an die deutsche Entwicklungszusammenarbeit. Er ist dennoch ein »Ich klage an« im Sinne von »Wer schweigt, wird schuldig«.70

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derholt werden können: Würgegriff Afrikas durch die westlichen Nahrungs- und Ressourcenspekulation, Agrarsubventionen, Waffenexporte etc. Vgl. Ziegler, Jean: Wir lassen sie verhungern: Die Massenvernichtung in der Dritten Welt. München: Bertelsmann, 2012; Feyder, Jean: Mordshunger. Wer profitiert vom Elend der armen Länder? Frankfurt a.M.: Westend, 2010; Feyder, Jean: Leistet Widerstand! Eine andere Welt ist möglich. Frankfurt a.M.: Westend, 2018. Es kann nicht unerwähnt bleiben, dass H.C. Buch nicht viel von dieser postkolonialen Ästhetik hält. Der Postkoloniale Diskurs sei nichts mehr als »ein selbstreferenzielle Theorie und akademisches l’art pour l’art«, Buch, Hans Christoph: »Wer oder was ist Postkolonial?«, in: Ders.: Standort Bananenrepublik, a.a.O., S. 9–14, hier S. 14. Buch, Hans Christoph: Sansibar Blues oder: Wie ich Livingstone fand. Frankfurt a.M.: Eichborn, 2008. Vgl. Kpao Sarè, Constant: »›yes we can‹. Sprechende afrikanische Figuren in Hans Christoph Buchs Roman Sansibar Blues«, in: Ivorian Journal of Comparative Studies (IJCS) 1.2., 2014, S. 5161. Vgl. Seitz, Volker: Afrika wird armregiert. Oder wie man Afrika wirklich helfen kann. München: dtv, 2009. Buch, Hans Christoph: »Anhang: Offener Brief an Horst Köhler«, in: Ders.: Apokalypse Afrika oder Schiffbruch mit Zuschauern. Romanessay. Frankfurt a.M.: Eichborn, 2011, S. 243–248. Zur Funktion der Schuld bei dieser Briefform siehe Essig, Rolf-Bernhard u. Nickisch, Reinhard Martin Georg (Hg.): »Wer schweigt, wird schuldig!«: offene Briefe von Martin Luther bis Ulrike Meinhof. Göttingen: Wallstein, 2007.

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Denn H.C. Buch argumentiert wie folgt: »Es geht nicht um […] die Aufstockung der Entwicklungshilfe, sondern um eine Ressource, die noch knapper bemessen ist: um öffentliche Aufmerksamkeit«.71 Was der Berichterstatter in Bangui empfindet, ist der Grundgedanke in Friedrich Schillers Laokoon-Essay: »Auswegloses Leiden erregt kein Mitleid, sondern Abscheu«.72 Doch Laokoons Abscheu kann selbst andeutungsweise nicht mit der Abscheu verglichen werden, die er empfindet, wenn er an seine eigene Schuld denken muss. Die psychologische Katharsis der Binnenerzählung, die missbrauchten Frauen und Kindern helfen soll, das Ausleben innerer Konflikte und verdrängter Emotionen zu einer Reduktion ihrer Gefühle zu führen, kann die Erzählinstanz sich selbst nicht zumuten: »Plötzlich wollte ich nur noch weg, so schnell wie möglich und egal wohin«.73 Spätestens zu dieser Zeit erinnert das im Roman postulierte Projekt der Schuldzuweisung an die afrikanische politische Elite an das Bild des 1993 entstandenen Fotos The Vulture and the little Girl des südafrikanischen Fotojournalisten Kevin Carter (1960–1994).74 Diese einfühlende Katharsis in der Schreibhaltung westlicher Autor*innen lässt an Uwe Timms Vorbehalt gegen die postkoloniale Einfüllungsästhetik denken, wenn er sagt: »Und da, wo das versucht wurde, ist das ja auch immer peinlich bis rassistisch«.75 Der Sprach- und Kulturwissenschaftler Harald Haarmann bezeichnet diese Art Faszination für die eurozentrischen Denkweisen mit ihrer Ausklammerung der Stimmen Afrikas als »akademischen Narzissmus«.76 Der narzisstische Psychotrick wird hier darin sichtbar, dass der europäische Beobachter sich als Beschützer der ehemaligen Kolonisierten geriert, um somit mit dem Totenkopf in der Leichenkammer still weiterzuleben. Die beschriebenen Täter der bad governance in Afrika erscheinen als Totenkopfschwärmer im wahrsten Sinne des Wortes, während der beobachtende europäische Reporter sich selbst von seinem potenziellen »Täter«-Status in der nachkolonialen Gewalt befreit. »Afrikaner und Afrikanerinnen haben gefälligst Opfer zu sein, an denen wir unsere Schuldgefühle abarbeiten können. Ich will mich dabei keineswegs ausnehmen«,77 so das gewissenhafte Geständnis eines anderen Afrika-Kenners, Bartholomäus Grill, in seinem Bericht Wir Herrenmenschen (2019). Insofern hat H.C. Buch die

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Buch, Hans Christoph: Stillleben mit Totenkopf, a.a.O., S. 247. Ebd., S. 248. Ebd., S. 248. Vgl. Marinovich, Greg u. Silva, João: Der Bang-Bang Club: Schnappschüsse von einem verborgenen Krieg. Ins Deutsche übersetzt von Manfred Loimeier. Heidelberg: Wunderhorn, 2015. Timm, Uwe: »›Es geht alles – wenn es gut ist!‹«. Gespräch mit Christoph Hamann und Georg Mein am 31. Mai 2011. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 2. Jahrgang, Heft 2, 2011, S. 171–180, hier S. 178. Haarmann, Harald: Schwarz: eine kleine Kulturgeschichte. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 2005, S. 160. Grill, Bartholomäus: Wir Herrenmenschen: Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte. München: Siedler, 2019, S. 264.

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Projektion Afrikas durch den europäischen Beobachter, welche postkoloniale Kritiker wie Edward Said oder Chinua Achebe anprangern, in seinem Roman Stillleben mit Totenkopf nicht geraderücken können. Wilhelm Worringers (1881–1965) unterscheidet zwischen Sichtbarkeit und Erkennen des Wesens der Dinge.78 Offensichtlich muss man H.C. Buchs »subversiven Postkolonialismus«79 zwischen diesen beiden Polen einschreiben. Denn, wie Axel Dunker aufzeigt, muss man seine gewissermaßen politisch und moralisch inkorrekten surrealen Wirklichkeitsentwürfe wiederum als ein »postkoloniales Begehren nach moralischer Eindeutigkeit«80 verstehen.

8.4 Thomas Stangl: »Es gibt kein afrikanisches Ding« In den einleitenden Überlegungen wurde drauf hingewiesen, dass ein Ding in der vorliegenden Studie als »afrikanisch« gelten kann unter der Voraussetzung, dass der analysierte Text es als solches betrachtet, denn das Hauptziel der Untersuchung ist es, das postkoloniale Potential solcher erzählten afrikanischen Dinge zu erhellen. Insofern ist es evident, dass die »Afrikanität« einiger bisher untersuchter Dinge diskussionsbedürftig ist. Thomas Stangls Schreibhaltung in seinem Roman Fremde Verwandtschaften (2018)81 gibt Anlass, über diesen Status der Dinge zu reflektieren. Der Schweizer Schriftsteller, der in seinem Vorgängerroman Der einzige Ort (2004)82 die Timbuktu-Reise des Franzosen René Cailliés inszenierte, findet diesmal den AfrikaBezug durch die Reise eines zeitgenössischen Schweizer Architekten nach Dakar, der Hauptstadt Senegals. Zur Ästhetik der Stimmgebung kann nicht unerwähnt bleiben, dass Stangl die Erzählstrategie geändert hat, welche wir andernorts als gewinnbringend beschrieben haben, nämlich den Versuch, die Stimme des Afrikaners hörbar zu machen.83 In Der einzige Ort wurde das Sundiata-Epos des Historikers Djibril Tamsir Niane84 als Vorlage soweit benutzt, dass, wie der Literaturwissenschaftler Hansjörg Bay schreibt, »die Afrikaner keine sprachlosen Objekte der europäischen Beobachtung

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Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung. München: Piper, 1908. Mehr dazu siehe Müller-Tamm, Jutta: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne. Freiburg i.Br. u.a.: Rombach, 2005. Dunker, Axel: »Postkoloniales Begehren. Hans Christoph Buchs subversiver Postkolonialismus«, in: Sepp, Arvi u. Martens, Gunther: Gegen den Strich, a.a.O., S. 183–194, hier S. 193. Ebd., a.a.O. Stangl, Thomas: Fremde Verwandtschaft. Roman. Graz-Wien: Droschl, 2018. Stangl, Thomas: Der einzige Ort. Roman. Graz-Wien: Droschl, 2004. Vgl. Kpao Sarè, Constant: Postkoloniale Erinnerungskultur, a.a.O., S. 42 ff u. S. 169. Niane, Djibril Tamsir: Soundjata ou l’Epopée Mandingue. Paris: Présence africaine, 1960. Sundiata Keitas (ca. 1210–1260).

8 Postkoloniale Schreibhaltungen

sind«.85 Im vorliegenden Roman entscheidet sich Stangl für einen Er- und einen Ich-Erzähler, wobei beide die afrikanischen Realitäten aus der Perspektive der Europäer berichten. Man erfährt, dass der Romanprotagonist, der Wiener Architekt Harald Hiesl, sich für eine Reise nach Afrika entscheidet, wo er »die Welt wiederfinden«86 wolle. Er weiß aber, dass es nicht politisch korrekt ist, so zu sprechen: »Das zu sagen wäre das Dümmste«,87 denkt er. Während seiner Reise zu einer Konferenz nach Belleville (in der man leicht Dakar identifizieren kann) fängt Hiesl an, sich über die postkoloniale ›Ordnung der Dinge‹ Gedanken zu machen. Dinge seien »so sehr auf die Wörter angewiesen wie die Wörter auf die Dinge«,88 soll Thomas Stangl behauptet haben. Genauso sind die Wörter des europäischen Architekten auf afrikanische Dinge angewiesen. Von seiner rousseauistisch inspirierten Anfangsidee, die in Europa verlorene Welt in Afrika wiederzufinden zur desillusionistischen AfrikanismusEinstellung, es sei »ein Fehler hierherzukommen«89 hat er Beobachtungen über den gegenwärtigen postkolonialen Umgang mit afrikanischen Dingen gemacht. Er kommt zu folgender nüchterner Feststellung: »Aber es gibt kein afrikanisches Wohnzimmer wie es kein europäisches Wohnzimmer gibt. Es gibt kein afrikanisches Haus, es gibt das Haus, in dem er sitzt«.90 Das hier unterschwellig formulierte »es gibt kein afrikanisches Ding« ist keine Neubestimmung oder Dekonstruktion des Exotismus im Sinne von »Tropen gibt es nicht«.91 Begründet wird seine Einstellung nicht nur durch den deutlich erkennbaren Bezug zu Wolfgang Welschs Konzept der Transkulturalität, des Hybridcharakters von Kulturen der postmodernen Welt.92 Es geht dem Autor vielmehr darum, die postkolonialen Machtasymmetrien zwischen Afrika und Europa als Zerstörung seiner vorgeprägten Weltbilder zu entlarven. Die Stadt Dakar wird topographisch wie folgt beschrieben: Der 25-Stockwerke-Kasten, die kitschige Villa, die als Präsidentenpalast fungiert, die Straßennamen, die Quergassen, wodurch die Stadt sich »verformt«93 usw. Die Namen der öffentlichen

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Bay, Hansjörg: »Going native? Mimikry und Maskerade in kolonialen Entdeckungsreisen der Gegenwartliteratur (Stangl; Trojanow)«, in: Hamann, Christof u. Honold, Alexander (Hg.): Ins Fremde schreiben, a.a.O., S. 117–142, hier S. 141. Stangl, Thomas: Fremde Verwandtschaft, a.a.O., S. 93. Ebd., S. 93f. Zitiert nach Noël, Indra: Sprachreflexion in der deutschsprachigen Lyrik 1985–2005. Münster u.a.: LIT, 2006, S. 119. Stangl, Thomas: Fremde Verwandtschaft, a.a.O., S. 214. Ebd., S. 243. Hervorhebung im Originaltext. Vgl. Mayer, Michael: »Tropen gibt es nicht«, a.a.O. Vgl. Welsch, Wolfgang: Was ist eigentlich Transkulturalität?«, in: Darowska, Lucyna u.a. (Hg.): Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität. Bielefeld: transcript, 2010, S. 39–65. Stangl, Thomas: Fremde Verwandtschaft, a.a.O., S. 213.

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Plätze, Gebäude und Straßen werden als symbolische Architektur des französischen Kolonialismus ausgelotet und im Text durch Leerstellen markiert, zum Beispiel: »Die Aufschrift …te. Ro… .ri.«.94 Der Rezeptionsästhetiker Wolfgang Iser (1926–2007) hat gezeigt, wie sehr der implizite Leser durch diese Auslassungen aufgefordert wird, den »sozio-kulturellen Kontext im weitesten Sinne«95 zu entziffern, der im Text nicht vorgegeben ist. In dem vorliegenden Beispiel symbolisieren sie auf jeden Fall das sprachliche Tabu, das die Kritik der postkolonialen Mechanismen zu verhindert versucht. Durch diese chaotische Stadttopografie, die die Unsagbarkeit der nachkolonialen Nachwirkungen auf die Stadtplanung illustriert, wird allerdings ganz speziell die europäische und afrikanische Forschergemeinschaft kritisiert. Der Düsseldorfer Dozent Konrad, der Mann mit der »Foucaultglatze«,96 verkörpert zum Beispiel das heuchlerische Verhalten der europäischen Intellektuellen gegenüber der Entwicklung Afrikas. Das Porträtieren Konrads als Foucault streicht an, dass man es mit einem ganz besonderen Gelehrten zu tun hat. Aber er gehört zu den europäischen Figuren (wie die Belgierin, der Franzose …), die das patriarchalische Hierarchiedenken à la Leo Frobenius97 in der nachkolonialen Zeit verbreiten. Sie bilden einen »Haufen postkolonialistisch geschulter Leute«,98 heißt es im Text. Vom Promi-Architekt aus Burkina-Faso (in dem man das alter ego von Diébédo Francis Kéré, Träger des Preises für den besten Architekten der Welt im Jahre 2022, leicht identifizieren kann), der im Roman als gleichwertiger Teilnehmer an dem ArchitektenKongress am Tisch sitzt, behauptet der Franzose beispielsweise: »Die Afrikaner, sie sind wie Kinder, deshalb liebe ich sie so«.99 Unkommentiert soll dieses Klischee stehen, das der Autor in den Mund einer europäischen Figur legt, um die paternalistische Geste anzuprangern, welche die Entwicklung Afrikas hindert. Mamadou François Traoré, der Mann mit einem arabischen, französischen und afrikanischen Namen, symbolisiert seinerseits die Verantwortung der afrikanischen Elite für die Entwicklung Afrikas. Die Namensgebung des Afrikaners soll, so die Logik des Textes, die kulturelle Hybridität illustrieren, die Homi Bhabha als subversive Identität des Kolonisierten positiv umdeutet.100 In Fremde VerwandtschafStangl, Thomas: Fremde Verwandtschaft, a.a.O. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München: Fink, 1994, S. 115. Stangl, Thomas: Fremde Verwandtschaft, a.a.O. Vgl. Frobenius, Leo: Kulturgeschichte Afrikas. Wuppertal: Peter Hammer, 1998. Zur Kritik hierzu siehe Yambo Ouologuems Roman Das Gebot der Gewalt. München: Piper, 1969, S. 135. 98 Stangl, Thomas: Fremde Verwandtschaft, a.a.O., S. 221. 99 Ebd, a.a.O. 100 Vgl. Bhabha, Homi K.: »Von Mimikry und Menschen. Die Ambivalenz des kolonialen Diskurses«, a.a.O., S. 125–136. Vgl. Ders.: »Über kulturelle Hybridität: Tradition und Übersetzung«, in: Babka, Anna (Hg.): Über kulturelle Hybridität: Tradition und Übersetzung. Wien, Berlin: Turia + Kant, 2012, S. 17–57. 94 95 96 97

8 Postkoloniale Schreibhaltungen

ten spielen allerdings die nachkolonialen Begebenheiten gegen ihn, gegen seine Kunst als afrikanischer Architekt. Obwohl er im Text als der berühmte Architekt aus Burkina-Faso bezeichnet wird, stellt er seine weißen Masken (mit Frantz Fanon) in den Vordergrund. »Und dass das europäische Bauen mir vertraut ist, auch das, auch dieses Vertrautsein, ist mir fremd«,101 sagt er. Stangl übernimmt offensichtlich das Hybriditäts-Konzept aus Cheikh Hamidou Kanes Roman Der Zwiespalt des Samba Diallo,102 eine Konstellation, die dort als Gefahr thematisiert wird. Im Gegensatz zu Samba Diallo, der wahnsinnig und zum Schluss von dem Narren erdolcht wird, befreit sich Mamadou François Traoré vom Verrücktwerden, indem er sich damit begnügt, »den Konstrukteur lebendiger Häuser und ungeschickten Touristen Magister Ingenieur Harald Hiesl ernst anzuschauen«.103 Durch diese Kritik am fleißigen Staunen des europäischen Magisters, der »Teaching Machine«104 (um mit Spivak zu sprechen), würde sich der afrikanische Architekt (d.h. auch der afrikanische Intellektuelle im Allgemeinen), so die Logik des Textes, als unfähig erweisen, ein eigenes Entwicklungsmodell für Afrika zu präsentieren. Dabei schreibt Rainer Tetzlaff, dass die westlichen Entwicklungsmodelle »im Kern ein ›ökologisches Katastrophenmodell‹ darstellen«.105 Stangl kritisiert in diesem Zusammenhang die Unterwerfungsgeste des ehemaligen Kolonisierten gegenüber dem zum Fetisch erklärten westlichen Entwicklungsmodell. Am Beispiel der afrikanischen Architektur unterstellt er, dass es unter diesen Umständen eigentlich kein afrikanisches Ding mehr gebe. Vielmehr handele es sich, wie der Titel des Romans bereits bezeichnend angibt, nur um ›fremd-verwandte‹ Dinge.

8.5 Zusammenfassung Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Schreibhaltungen in der deutschsprachigen Literatur des Kolonialismus zwischen klarer Verweigerung der postkolonialen Einführungsästhetik und einer Sowohl-als-auch-Haltung oszillieren. Egal, ob die Schriftsteller*innen das afrikanische Ding als ein transkulturelles Ding oder als ein spezielles afrikanisches Objekt betrachten, sind sie quasi dazu verdammt, auf unterschiedliche Weise ihr postkoloniales Potential zu entwerfen. Verdammt deswegen, weil die Dinge, um die es geht, nicht irgendwelche interkulturelle Objekte sind,

101 Stangl, Thomas: Fremde Verwandtschaft, a.a.O., S. 226. 102 Kane, Cheick Hamidou. Der Zwiespalt des Samba Diallo. Erzählung aus Senegal. (1961). Aus dem Französischen übersetzt von János Riesz. Frankfurt a.M.: Lembeck, 1980. 103 Stangl, Thomas: Fremde Verwandtschaft, a.a.O., S. 221. 104 Spivak, Gayatri Chakravorty: Outside in the Teaching Machine. New York, London: Routledge, 1993. 105 Tetzlaff, Rainer: Afrika: Eine Einführung in Geschichte, Politik und Gesellschaft, a.a.O., S. 38.

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über die ein ganz seriöser nicht-rechtspopulärer Autor mit moralischen Sündenstolz berichten kann. Sind interkulturelle Dinge verschiedene Objekte, die »von einer anderen Kultur in die unsere gewandert«106 sind, entbehrt die Wanderungsgeschichte der afrikanischen musealen Dinge, Naturdinge, Rohstoff-Dinge usw. in die europäische Welt jeglicher (aufklärerischer) Vernunft. So sehr, dass die political correctness der modernen Gesellschaft es quasi verbietet, sie als einfache Souvenirs der Entdeckungsreisenden ohne den ›Geist der Zeiten‹ im Herderschen humanitätsbefördernden Sinne zu inszenieren, d.h. ohne die »Summe der Gedanken, Gesinnungen, Anstrebungen, Triebe und lebendigen Kräfte, die in einem bestimmten Fortlauf der Dinge mit gegebenen Umständen sich äußern«.107 Offensichtlich ist der Zeitgeist der Gegenwart in diesem Rahmen die von Michael Lützeler fruchtbar gemachte Ansicht des »postkolonialen Blicks«,108 d.h. die Dekolonisierung der kolonialen Verhältnisse und die Abgabe der Deutungshoheit an die ehemaligen Kolonisierten. In den nächsten Abschnitten soll auf die literarische Inszenierung der für die afrikanischen Dinge relevanten Ereignisse eingegangen werden, die in öffentlichen postkolonialen Debatten um die aktuelle Geschichtspolitik Erwähnung finden.

106 Niehaus, Michael: »Interkulturelle Dinge«, a.a.O., S. 33. 107 Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität, a.a.O., S. 88. 108 Vgl. Lützeler, Paul Michael (Hg.): Schriftsteller und Dritte Welt: Studien zum postkolonialen Blick. Tübingen: Stauffenburg, 1998.

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9.1 Die postkoloniale Diskussion: ›Sensible Dinge‹ zurück oder behalten? Die gegenwärtige Existenz außereuropäischer materieller Kulturen in westlichen Museen, Bibliotheken und sonstigen wissenschaftlichen und Forschungseinrichtungen ist eins der meistdiskutierten Schwerpunktthemen in gegenwärtigen postkolonialen Überlegungen. Eingeleitet wurde der Paradigmenwechsel in die öffentlichen Debatten spätestens, seitdem die Proteste der ehemaligen kolonisierten Völker gegen die Präsentation der aus den kolonialen Raubzügen stammenden Objekte immer hörbarer wurden. Kritisiert wird in diesem Zusammenhang, dass die Ausstellungen die Überlegenheit und den »Sieg« der ehemaligen Kolonialmächte bis in die Gegenwart unterschwellig fortdokumentieren, was den brutalen und unmenschlichen Charakter des Kolonialismus bagatellisiere und einen inakzeptablen Umgang mit den afrikanischen materiellen Kulturen reflektiere. In den 1990er Jahren sollen äthiopische Studierende gegen das British Museum protestiert haben, indem sie aus Londoner Bibliotheken Bücher aus Äthiopien entwendeten.1 In Deutschland kämpft der kamerunische Historiker Alexandre Kum’a Ndumbe III, Begründer der Nichtregierungsorganisation AfricAvenir, unermüdlich für die Rückführung des Museumsobjekts »Tangué von Lock Priso«, das seinem Großvater 1884 geraubt wurde und im Münchner Ethnologischen Museum ausgestellt ist.2 Überall in Europa lautet die postkoloniale Frage, die durch die Zivilgesellschaft gestellt wird, wie folgt: Mit welchem Recht dürfen die westlichen Einrichtungen die unfair erworbenen Objekte heute noch besitzen?

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Vgl. Arndt, Susan: »Impressionen. Rassismus und der deutsche Afrikadiskurs«, in: Dies. (Hg.): AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland. Studienausgabe. Münster: UNRAST, 2001, S. 11–68, hier S. 58. Vgl. Zeller, Joachim: »Die Königsinsignien von Kum’a Mbape aus Kamerun – Der Streit um koloniales Raubgut im Münchener Völkerkundemuseum«, in: van der Heyden, Ulrich und Ders. (Hg.): Kolonialismus hierzulande – Eine Spurensuche in Deutschland. Erfurt: Sutton, 2007, S. 328–329.

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Längst vergangen ist die Zeit, in der Der Königsweg (1930) von André Malraux (1901–1976) den renommierten von Journalisten vergebenen Preis »Prix Interallié« bekommen kann,3 obwohl der Roman mit »ausdrücklichem Bezug auf Nietzsches Willen zur Macht«4 den Diebstahl der Reliefs durch den Autor erzählt. Der Vergangenheit gehört endgültig auch die Zeit an, als der Ethnologe und Schriftsteller Michel Leiris (1901–1990) in seinem Erlebnisbuch Phantom Afrika (1934) mit Sündenstolz die grauenvollen Methoden schildern konnte, mit denen seine ethnographische Expedition »sich ihrer Beutestücke versicherte, die dann im Pariser Musée de l’homme landeten, dessen Leiter Leiris später wurde«.5 Der Paradigmenwechsel zeigt sich darin, dass der französische Präsident Emmanuel Macron auf die Frage des Status afrikanischer Kunstobjekte in französischen Museen am 22. November 2018 mit dem von ihm kommissionierten »Bericht über die Rückerstattung afrikanischen Vermögens« antwortete.6 Der von dem französischen Kunsthistoriker Bénédicte Savoy und dem senegalesischen Ökonomen Felwine Saar vorgelegte Bericht plädiert für die Restitution des afrikanischen Erbes an Afrika. In seinem neulich erschienenen Buch Unser Raubgut (2019) hat der Journalist und Buchautor Moritz Holfelder aufgezeigt, wie sehr dieser Bericht auch in Deutschland »Sprengkraft«7 besitzt. Von der Forderung nach einer Rückgabe der Kolonien in der Weimarer Republik leitet man heute die Zeit der Forderung nach einer Restitution der unter dubiosen Erwerbsumständen gesammelten Objekte, darunter auch etliche Arten sensibler Dinge wie religiöse Artefakte, menschliche Überreste und illegal oder illegitim gehandelte Kunstobjekte ab.8 Besondere Aufmerksamkeit bekommen die ent-

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Der französische Schriftsteller und Politiker André Malraux (1901–1976) berichtet in La Voie royale (1930), wie er sich Kunstwerke in Kambodscha beschaffte, um sie auf dem internationalen Kunstmarkt zu verkaufen und bekam den ersten »Prix Interallié« 1930. Vgl. Malraux, André: Der Königsweg, a.a.O. Mehr dazu siehe »Das geklaute Relief«, in: Krücker, Franz-Josef: Kambodscha: Natur und Tempel von Angkor bis Sihanoukville. Berlin: Trescher Verlag, 2015, S. 138f. Hillebrand, Bruno: »Literatur und Dichtung (Fremdartig). André Malraux«, in: Ottmann, Henning (Hg.): Nietzsche-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2016, S. 468- 470, hier S. 469. Grasskamp, Walter: André Malraux und das imaginäre Museum: Die Weltkunst im Salon. München: Beck, 2014, S. 24. Vgl. Leiris, Michel: Phantom Afrika. Aus dem Französischen L’Afrique fantôme (1934) übersetzt von Rolf Wintermeyer. Frankfurt a.M.: Syndikat, 1980. Vgl. Sarr, Felwine u. Savoy, Bénédicte: Zurückgeben: Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter. Übersetzt von Daniel Fastner. Berlin: Matthes & Seitz, 2019. Holfelder, Moritz: Unser Raubgut, a.a.O., S. 22. Zu weiterführender Literatur siehe Vedder, Ulrike: »Kriegszeichen, Schmerzobjekt, Sammelding: Zähne in der Literatur«, in: Böhme, Hartmut u. Slominski, Beate (Hg.): Das Orale. Die Mundhöhle in Kulturgeschichte und Zahnmedizin. München: Fink, 2013, S. 277–284; Laukötter, Anja: »Das Völkerkundemuseum«, in: Zimmerer, Jürgen (Hg.): Kein Platz an der Sonne, a.a.O., S. 231–243; Flohr, Markus: »Muss das weg? Wie koloniale Objekte in deutsche Museen ka-

9 Der Kopfschädel und andere museale Dinge

wendeten Schädel der Afrikaner. Denn das Bekanntwerden der wissenschaftlichen Sammlungen der deutschen Universitäten in der breiten Öffentlichkeit hat die Klinge der Argumente über die Restitutionsforderung der Kopfschädel und sonstiger Gebeine geschärft. »Dennoch hat erst mit der Rückgabe von Human Remains aus dem kolonialen Genozid und Krieg 1904 bis 1908 in Namibia im Jahr 2011 eine breitere, auch ethische Auseinandersetzung eingesetzt«,9 präzisieren die Herausgeber des Sammelbandes Nicht nur Raubkunst! (2017). Die Frage der Restitution kolonialen Raubguts bleibt allerdings unter Politikern und auch Historikern sowohl in Deutschland als auch in Afrika vehement diskutiert.10 Das Museum Humboldt-Forum, das 2020 seine Türe öffnen und die Ausstellungen über fremde Kulturen präsentieren soll, um dazu beizutragen, dass der eurozentrische Bick nahezu verlassen wird,11 gerät bereits in die Kritik des Eurozentrismus.12 Kritisiert wird nicht nur, dass außereuropäische Architekten und Denker aus Afrika bei der Planung und Realisierung des Projektes kaum involviert werden, sondern auch, dass das Humboldt-Forum auf ein koloniales Vergessen abzielen werde.13 Der Historiker Jürgen Zimmerer, der diese letzte Kritik formulierte, hat die Befürchtung, dass in Deutschland zu sehr auf Provenienzforschung14 gesetzt

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men – und was nun aus ihnen wird«, in: ZEIT Geschichte 4/19, 2019, S. 93; Holfelder, Moritz: Unser Raubgut, a.a.O. Brandstetter, Anna-Maria u. Hierholzer, Vera: »Sensible Dinge. Eine Einführung in Debatten und Herausforderungen«, in: Dies. (Hg.): Nicht nur Raubkunst! a.a.O., S. 11–28, hier S. 17. Zur Diskussion siehe »›Sie sehen in allem nur Ausbeutung‹ Hermann Parzinger und Jürgen Zimmerer streiten über das Humboldt Forum, die Benin-Bronzen und den Kolonialismus«, in: ZEIT Geschichte 4/19, 2019, S. 94–98. Vgl. Anschnitt »Ich bin’s mal wieder, euer Humboldt Forum!«, in: Holfelder, Moritz: Unser Raubgut, a.a.O., S. 139–162. Vgl. Morat, Daniel: »Katalysator wider Willen. Das Humboldt Forum in Berlin und die deutsche Kolonialvergangenheit«, in: Zeithistorische Forschungen, 16. Jg., Nr. 1/2019, S. 140–153. Vgl. Zeller, Joachim: »Weltkulturmuseum? Koloniale Schatzkammer? Das Berliner Humboldt Forum in der Krise. Plädoyer für eine radikale Ehrlichkeit«, in: Bechhaus-Gerst, Marianne u. Zeller, Joachim (Hg.): Deutschland postkolonial? a.a.O., S. 547–570. Vgl. Zimmerer, Jürgen: »Humboldt Forum: Das koloniale Vergessen«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 60, Heft 7, 2015, S. 13–16. Die Ethnologin Larissa Förster und der Historiker Holger Stoecker haben 2016 die Ergebnisse einer Provenienzforschung über den menschlichen Überrest »Kopfhaut eines Herero« in ihrem Buch Haut, Haar und Knochen veröffentlicht. Die vom Biologen und Geographen Leonhard Schultze (1872–1955) zwischen 1903 bis 1905 aus Namibia deportierte Kopfhaut befand sich in der Lehrsammlung des Zoologischen Instituts der Universität Jena. Insgesamt hat die Spurensuche zwischen 2011 und 2014 die Restitution von mindestens 20 menschlichen Überresten nach Namibia möglich gemacht. Vgl. Förster, Larissa u. Stoecker, Holger: Haut, Haar und Knochen. Koloniale Spuren in naturkundlichen Sammlungen der Univeristät Jena. Weimar: Verlag Datenbank für Geisteswissenschaften (vdg), 2016, S. 19.

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wird, was zur Verzögerung der Restitutionen führen wird. Weder die Provenienzforschung noch die Bedingungen in den rechtmäßigen Empfängerländern dürfen, ihm zufolge, die Rückgabe verzögern. Um schneller zu handeln, schlägt Zimmerer eine Beweislast-Umkehr vor, die ermöglichen kann, einige Objekte an die UNESCO zu übergeben, bis die rechtmäßigen Eigentümer genau identifiziert werden: »Es kann nicht die Position in Europa oder das darf es nicht sein: Wir geben nicht zurück, weil noch nicht genau geklärt ist, [wie] die Modalitäten in den Empfängergesellschaften, bei den rechtmäßigen Eigentümern [sind]«, sagt er.15 Mit diesem Kompromiss könne man, so die Augmentation, sich besser auf die Restitution der Dinge konzentrieren, die eindeutig als Raubkunst erscheinen, etwa die 440 BeninBronzen aus dem heutigen Nigeria. Folgt man dieser Idee, müsste man diese Dinge bevorzugt behandeln, weil sie eine große symbolische Kraft besitzen. Dass die Rücksichtnahme auf die Prioritäten der Afrikaner selbst bei der ganzen postkolonialen Diskussion unabdingbar ist, das zeigen zwei Stellungsnahmen aus der afrikanischen Perspektive. In seiner Kritik an den Optionen des Humboldt-Forums lenkt der Kameruner Germanist Albert Gouaffo seine Aufmerksamkeit eher auf heilige Objekte, da sie ihre Aura lediglich in den Herkunftsländern entfalten können. Er schreibt: Die menschlichen Überreste müssen aus der Verbannung zurück in die Herkunftsländer gebracht werden, damit sie eine ihnen angemessene Ruhestätte finden. Da gilt es, keinen Kompromiss einzugehen, denn es handelt sich hier aus heutiger Sicht um eine grobe Menschenrechtsverletzung.16 Eine andere Stellungnahme aus der afrikanischen Perspektive stammt vom Politikwissenschaftler und postkoloniale Kritiker Achille Mbembe, der die Diskussion über die Restitution mit der möglichen Reparation verbindet. Er sagt: »Die Wahrheit ist die Lehrmeisterin für Verantwortung und Gerechtigkeit […] Erstens: Die Wahrheit annehmen und zweitens: das Antlitz einer Erde wiederherstellen, die wir zerstört haben, was miteinschließt, die Lebensräume der betroffenen Bevölkerung wieder-

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Vgl. Schäfer-Noske, Doris: »Gespräch mit Jürgen Zimmerer. Ein Jahr Macron-Initiative. Wendepunkt im Umgang mit dem kolonialen Erbe«, in: Deutschlandfunk vom 13.11.2019. htt ps://www.deutschlandfunk.de/ein-jahr-macron-initiative-ein-wendepunkt-im-umgang-mi t-dem.691.de.html?dram:article_id=463337 [Stand vom 15.11.2019]. Gouaffo, Albert: »Im artifiziellen Koma. Heilige Objekte können ihre Aura nur in ihren Herkunftsländern entfalten. Eine Stellungnahme aus Kamerun, in: duz Magazin 05/18 vom 25. 05.2018; URL: https://www.duz.de/duz-magazin/2018/05/imartifiziellen-koma/478. [Stand vom 17.11.2019].

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herzustellen. Und wenn Letzteres eine finanzielle Wiedergutmachung nötig macht, sollte man diese leisten«.17 Insgesamt kann man davon ausgehen, dass die Notwendigkeit der Rückgabe der in der Kolonialzeit auf unfaire Weise erworbenen Dinge in den nächsten Jahrzehnten noch die postkoloniale Diskussion prägen wird. Denn während die einen diese musealen Dinge immer wieder als »geteilte Objekte«18 sehen, weisen die anderen daraufhin, dass die ›geteilten Dinge‹ nur wahre Freunde sein können, wenn sie dem rechtmächtigen Eigentümer zurückgegeben werden. Wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein wird, versuchen die gegenwärtigen deutschsprachigen Schriftsteller*innen, durch ihre Modellierungen der afrikanischen Dinge an dieser Diskussion teilzunehmen.

9.2 Schädel-Ding Das Verhältnis von Literatur zu menschlichen Schädeln und Skeletten kann schon für sich allein die ganze deutschsprachige Literaturgeschichte stichwortartig illustrieren. Der Komparatist Till R. Kuhnle beschreibt dieses Verhältnis von der Mittelalterlichen Literatur über Barock und die Klassiker Goethe und Schiller bis hin zu den Romantikern, Expressionisten und zeitgenössischen Schriftstellern.19 Der Schädelfetischismus des westlichen Denkens stand und steht zwar nicht immer im Zusammenhang mit dem Kolonialismus. Es hat immer einen Schädel in einer Vitrine »im Land von Faust und Goethe […] als Memento mori auf den Schreibtischen der Gelehrten«20 gegeben. Das Verhältnis von Literatur zum menschlichen Kopfschädel im afrikanischen Kolonialkontext kann bisweilen lustig und bisweilen tragisch erscheinen. Lustige Episoden betreffen durchaus die lebendigen Schädel, etwa wenn europäische Reisende sich darüber beklagen, wie sehr »die Sonne Afrikas unsere kahlen Schädel

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Heinz, Joachim: »Forscher Mbembe über Afrika und die Zukunft der Menschheit »Das Denken hat noch seinen Platz in unserer Welt«. Gespräch mit Achille Mbembe. Abrufbar unter https://www.domradio.de/themen/kirche-und-politik/2018-10-10/forscher-mbembe-ue ber-afrika-und-die-zukunft-der-menschheit. [Stand vom 30.10.2019]. Vgl. Reyels, Lili; Ivanov, Paola u. Weber-Sinn, Kristin (Hg.): Humboldt Lab Tanzania. Objekte aus den Kolonialkriegen im Ethnologischen Museum, Berlin – Ein tansanisch-deutscher Dialog. Berlin: Reimer, 2018. Kuhnle, Till R.: »Skelett/Totenschädel«, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole, a.a.O., S. 351–353. Hulverscheidt, Marion u. Stoecker, Holger: »Erinnerungen an einen Schädel. Zum Umgang mit menschlichen Gebeinen im Völkerkundlichen Museum Witzenhausen«, in: Brandstetter, Anna-Maria u. Hierholzer, Vera (Hg.): Nicht nur Raubkunst!: Sensible Dinge in Museen und universitären Sammlungen. Göttingen: V&R Unipress, 2017, S. 205–222, hier S. 207.

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[dörrt]«.21 Diese Form vom Leiden der Schädel unter der unheimlichen afrikanischen Sonne konnte bekanntlich technisch durch den berühmten Tropenhelm halbwegs gelindert werden. Bis in den Zweiten Weltkrieg hinein soll der Wehrphysiologe Otto Friedrich Ranke (1899–1959) spezielle Tropenhelme für das Afrikakorps entwickelt haben.22 Bis zum plötzlichen Auftauchen des Tropenhelms der amerikanischen First Lady Melani Trump in Ghana 201823 durfte man allerdings meinen, dass jenes koloniale Ding heute unbrauchbar geworden sei. Manch eine politikwissenschaftlich fundierte Studie hat ihn metonymisch unsichtbar erklärt, weil er in ein kolonialistisches Denken mutiert sei, das »noch immer unsere Köpfe beherrscht«.24 Weniger amüsant wirkt der in der Forschungs- und Entdeckungsliteratur kursierende Schädel-Fetischismus, wenn er mit antisemitischen Tönen in Verbindung gebracht wird, etwa wenn der Expeditionsführer Siegfried Passarge (1866–1958) seinen kamerunischen Dolmetscher von Andu auf den Namen Itzig umtauft, weil sein Schädel in seinen Augen »auffallend jüdisch«25 sei. Weder unsichtbar noch lustig ist das grausamere Schicksal der Schädel, wenn etwa der Kolonisierer oder der Kolonisierte im Kolonialkrieg geköpft und sein Schädel als Trophäe in die Höhe gestemmt wird. Man kennt die Geschichte des britischen Gouverneurs in Sierra Leone, dessen Schädel 1824 »zu einem Kultobjekt bei afrikanischen Riten wurde«.26 Im Gegensatz zu diesem wahrscheinlich singulären Phänomen in der Kolonialgeschichte wurden spätestens seit 1804 Gebeine aus SubsahaAfrika quasi systematisch gesammelt, gemessen, klassifiziert, präpariert, zu wissenschaftlichem Zweck verwendet27 und ausführliche Abhandlungen darüber ver-

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Der holländische Kapitän Rombeck in: Lips, Julius: Heiden vor Afrika, a.a.O., S. 9. Auch der Leutnant in Britings oben analysierten Erzählung ist glatzköpfig geworden, weil ihm die stechende Sonne in Afrika, »die Haare vom Kopf gesengt« hat, Britting, Georg: Afrikanische Elegie, a.a.O., S. 155. Vgl. Ohler, Norman: Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2015, S. 72. Vgl. zum Beispiel »Symbol der Kolonialzeit. Melania Trumps Tropenhelm löst Kritik aus«, ntv vom 06.10.2018. https://amp-n-tv-de.cdn.ampproject.org [Stand vom 20.09.2019]. Habermann, Friederike: Der unsichtbare Tropenhelm: Wie koloniales Denken noch immer unsere Köpfe beherrscht. Klein Jasedow: Drachen, 2013. Zitiert nach Gräbel, Carsten: Die Erforschung der Kolonien: Expeditionen und koloniale Wissenskultur deutscher Geographen, 1884–1919. Bielefeld: transcript, 2015, S. 136. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt, a.a.O., S. 713. Vgl. Stoecker, Holger: »Knochen im Depot: Namibische Schädel in anthropologischen Sammlungen aus der Kolonialzeit«, in: Zimmerer, Jürgen (Hg.): Kein Platz an der Sonne, a.a.O., S. 442–457.

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fasst.28 Die deutsche Kolonisation in Ostafrika wurde zu Recht als »eine Kopfjagd«29 bezeichnet. Während aber die oben erwähnte Thematik der »geteilten Objekte« in der Gedächtnisarbeit mit Ostafrika scheinbar auf dem wissenschaftlichen Bereich ohne großes Aufsehen läuft,30 scheint die Frage der »geteilten Erinnerung«31 in Bezug auf Namibia vermutlich wegen des dort durchgeführten Genozids mit seinem »traurigen Fiasko der Konzentrationslager«32 delikater. Selbst ein flüchtiger Augenschein in den gegenwärtigen Zeitungsartikeln zeigt, dass sich das Thema in der breiten Öffentlichkeit großer Beliebtheit erfreut: breite Presse (Tagespiegel, Süddeutsche Zeitung, FAZ, Die Welt …) begrüßte die Geste der Staatsministerin für internationale Kulturpolitik im Auswärtigen Amt, Michelle Müntefering (SPD), die 2018 um Vergebung in Namibia bat. Diese hinreichend positive Einstellung der öffentlichen Meinung erleichterte auch den kritischen Umgang mit menschlichen Überresten, die sich offensichtlich nicht nur in öffentlichen Einrichtungen, sondern auch in privaten Sammlungen befinden. Die Entstehungs- bzw. Produktionsgeschichte der fiktiven Erzählung Ein Schädel aus Namibia,33 die Gerhard Ziegenfuß und Helmut Rücker, respektive Autor und Co-Autor, im gleichen Jahr in Anno Verlag erscheinen ließen, kann auch in diesem Kontext verstanden werden. Hier ist der Plot der auf einer wahren Geschichte basierenden Fiktion: Der Missionar in Deutsch-Südwestafrika, Pater Alois Ziegenfuß (Pater Alois) schickt 1913 einen Totenschädel an seine Familie in Dingelstädt/Thüringen. Überzeugt, dass es sich um den Schädel eines Herero-Häuptlings handelt, geben seine Verwandten das »Objekt« von Generation zu Generation weiter, bis es 1960 in die Obhut von Gerhard Ziegenfuß kam. Im Buch berichtet letzterer, wie es ihm gelingt, den Schädel nach Namibia zurückzubringen. Gleichzeitig wird der Co-Autor Rücker

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Der Geograph und Historiker Gräbel erwähnt die Studien über Gehirne, Schädel, Knochen und Skelette von Hereros, Ovambo und Hottentotten, die sich Expeditionsleiter wie Franz Thorbecke (1875–1945), Oscar Baumann (1864–1899) u.a. aneigneten und von den Anthropologen untersuchen ließen. Vgl. Gräbel, Carsten: Die Erforschung der Kolonien, a.a.O., S. 296ff. Baer, Martin u. Schröter, Olaf: Eine Kopfjagd, a.a.O. Vgl. Reyels, Lili; Ivanov, Paola u. Weber-Sinn, Kristin (Hg.): Humboldt Lab Tanzania, a.a.O. Solche Maßnahmen kritisiert Jürgen Zimmerer als Arbeit »an Trommeln oder Pfeilspitzen, die im Grunde ja als Dutzendware hier liegen und nicht diese große symbolische Kraft haben«. Vgl. Schäfer-Noske, Doris: »Gespräch mit Jürgen Zimmerer«, a.a.O. Stoecker, Holger: »Knochen im Depot«, a.a.O., S. 449. Ausdruck bei Kreienbaum, Jonas: ›Ein trauriges Fiasko‹: Koloniale Konzentrationslager im südlichen Afrika 1900 – 1908. Hamburg: Hamburger Edition HIS, 2015. Ziegenfuß, Gerhard u. Rücker, Helmut: Ein Schädel aus Namibia. Erhobenen Hauptes zurück nach Afrika. Ahlen: Anno Verlag, 2018.

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damit beauftragt, die seine Gedächtnislücken durch eine fiktiv-ästhetische Strategie aufzufüllen. Erzählstrategisch lässt sich das Buch leicht in die Kategorie der Texte einordnen, die das Experiment der Einfühlungsästhetik probieren. Die Geschichte wird nämlich von dem Schädelkopf selbst erzählt, eine Stimmgebung, die an die Erzähltechnik des »Postexotismus« erinnert, welche der französische Schriftsteller Antoine Volodine, Träger des renommierten Literaturpreises »Médicis« 2014, begründet hat.34 Im Gegensatz zu Volodines Science-Fiktion-Texten, in denen die Toten Rache nehmen, versucht Ein Schädel aus Namibia die Nicht-Repräsentation der afrikanischen Perspektive durch die europäischen Schriftsteller*innen zurechtzurücken. Durch die Ich-Erzählperspektive des Schädels wird das Problem der Absenz der afrikanischen Stimme in der Relektüre der Kolonialgeschichte partiell gelöst. Die Grenzen dieser Schreibweise liegen beim eurozentrischen Blick, den Jürgen Osterhammel in einem ähnlichen Kontext wie folgt diskutiert: Dabei kann nicht übersehen werden, wer für wen schreibt. Dass sich ein europäischer (deutscher) Autor an europäische (deutsche) Leser wendet, wird den Charakter des Textes nicht unberührt lassen: Erwartungen, Vorwissen und kulturelle Selbstverständlichkeiten sind nicht standortneutral. Diese Relativität führt auch zu dem Schluss, dass die Zentrierung von Wahrnehmungen nicht von realen Gewichtsverhältnissen – anders gesagt: Von Zentrum-Peripherie-Strukturen – gelöst werden kann.35 Vor diesem Hintergrund kann die Stimmgebung an den Schädel in Ein Schädel aus Namibia nur als ein misslungener Versuch betrachtet werden. Der eurozentrische Blick ist evident, denn die Autoren lassen den erzählenden Schädel wissen, dass er ihnen sein neues Leben als »geheimnisvolle halbmenschliche Daseinsweise«36 verdankt. Niko weiß, dass die Deutschen Gert, »mein Hüter und Chief«,37 und Helmut, »mein Inspirator und Schädelversteher«38 nach eigenem Ermessen entschieden haben, dass er (der Schädel) Niko statt Nikolas wie im realen Leben heißen soll und dadurch »mir diese neue Existenz zwischen zwei Buchdeckeln herbeischrieb[en]«.39 Diese Ermächtigungsgeste der Autoren, die zeigen, dass die erzählte Geschichte samt potenzieller Gedächtnisarbeit letztendlich von ihrem Willen abhängig ist, ist

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Antoine Volodines Romane, die von Holger Fock und Sabine Müller ins Deutsche übersetzt wurden, sind auswahlweise: Dondog. (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005); Mevlidos Träume. (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2011). Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt, a.a.O., S. 19f. Hervorhebung im Originaltext. Ziegenfuß, Gerhard u. Rücker, Helmut: Ein Schädel aus Namibia, a.a.O., S. 47. Ebd., S. 44. Ebd., a.a.O. Ebd., a.a.O.

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eine unterschwellige Erprobung des immer hörbarer werdenden eurozentrischen »Kolumbus Syndroms«.40 Die Argumentationslinie lautet, dass die machtkritischen Untersuchungen der Unterrepräsentativität des vermeintlichen ›Subalternen‹ letztendlich auch im Westen formuliert wurden: »Sie [die postkoloniale Kritik] beruft sich auf die gesamte Tradition westlicher Kolonialkritik«,41 lautet die stolze eurozentrische Sicht der Sache. Dessen ungeachtet, kann man in Ein Schädel aus Namibia die Tatsache nicht übersehen, dass allein der Blick des europäischen Beobachters die »Existenz [des Schädels] bezeugt«42 (um mit Said zu sprechen). Das Problem der Absenz der afrikanischen Stimme in der Relektüre der Kolonialgeschichte ist dennoch insofern gelöst, als in den oben zitierten Aussagen des Ich-erzählenden Schädels eine metatextuelle Selbstbeobachtung nicht zu übersehen ist, die wiederum von der Relevanz der sprechenden Stimme zeugt, welche nicht westlich-europäisch, sondern afrikanisch-Herero ist. Denn dadurch wird der Schädel nicht nur zum Zentrum der Geschichte, sondern auch zum Zentrum der Erzählperspektive. Diese literarische Erprobung des nachkolonialen Anspruchs auf Selbstrepräsentativität eröffnet dem Schriftstellerduo die Möglichkeit, an der öffentlichen Diskussion über die Schädelrückgabe teilzunehmen. Denn sie lassen den Schädel seine eigene Geschichte erzählen. So erfährt man, dass Niko im Kolonialkrieg von 1904–1908 von einer Kugel der deutschen Kolonialarmee getroffen und vom Pferd kopfüber gefallen sei. Er sei danach von Grabräubern aus seiner Ruhestätte geraubt worden, befand sich zunächst im Dingelstädter Wohnzimmer als Dekoration und später 1960 in Gerds Arbeitszimmer.

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Mit dem »Kolumbus Syndrom« meint der Philosoph Franz Martin Wimmer Folgendes: »Die Geschichte, wie wir sie heute kennen, hat Europäer zu Autoren«. Wimmer, Franz Martin: Globalität und Philosophie. Wien, Berlin: Turia + Kant, 2003, S. 17. Reinhard, Wolfgang: »Kolonialgeschichtliche Probleme und kolonialhistorische Konzepte«, in: Leonhard, Jörn u. Renner, Rolf G.: Koloniale Vergangenheiten – (post-)imperiale Gegenwart, a.a.O., S. 23–41, hier S. 26. So wird immer wieder draufhingewiesen, dass die kolonialkritische Macht letztendlich auch im Westen beheimatet ist, weil die prominenten Begründer der postkolonialen Theorien nicht aus der Position einer »Peripherie« publizieren, sondern in europäisch-abendländischen Ländern leben und an hochrenommierten amerikanischen und britischen Universitäten lehren. Einer dieser Kritiker, der in London geborene, in Ghana aufgewachsene und in den USA lehrende Philosoph Anthony Appiah, schreibt: »Postcoloniality is the condition of what we may ungenerously call a ›comprador intelligentsia‹: a relatively small, Western-style, Western-trained group of writers and thinkers who mediate the trade of cultural commodities of world capitalism at the periphery. In the West they are known through the Africa they offer; their compatriots know them both through the West they present to Africa and through an Africa they have invented for the world, for each other, and for Africa«. Appiah, Kwame Anthony: In my father’s house. Africa in the philosophy of culture. New York, Oxford: Oxford University Press, 1993, S. 149. Said, Edward W.: Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 267.

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Die Möglichkeit der Gedächtniskultur in diesem heiklen Schwerpunktthema wird damit eröffnet, dass die Autoren Niko, den Schädel, sagen lassen, sein Geist würde nach all den Jahren weiterleben. »Gott sei Dank, oder hereromäßig gesprochen, den Ahnen sei Dank«,43 heißt es im Text. Diese klare Zuordnung des Gebets zum Glauben der Herero entscheidet auch die Frage der Erinnerungsarbeit, die nicht im europäischen Kontext, sondern in Afrika geschehen kann. Insgesamt werden in Bezug auf die Erinnerungskultur viele Diskussionspunkte thematisiert, die im Folgenden ausführlich behandelt werden müssen, weil sie die postkoloniale Perspektive des Buches herausarbeiten.

9.2.1 Erinnerungskonkurrenz in Familiengedächtnissen Unter Erinnerungskonkurrenz soll mit der Anglistin und Kulturwissenschaftlerin Astrid Erll verstanden werden, dass der literarische Text das Gedächtnis marginalisierter Gruppen darstellt oder »andere Selbstbilder und Werthierarchien als die der dominierenden Erinnerungskultur«44 inszeniert. Es wird zu zeigen sein, dass die Gedächtnisarbeit, die hier postuliert wird, den oben beschriebenen kritischen Einstellungen aus der afrikanischen Perspektive entspricht. Dadurch entsteht das antagonistische Wirkungspotential, von der Erll meint, es sei das typische Merkmal des postkolonialen Rewriting.45 Die Revision des westlichen Erinnerungskanons wird in Ein Schädel aus Namibia beispielsweise darin begründet, dass der Text die Tatsache denunziert, dass die Vergangenheitsbewältigung mit Verdrängungsmechanismen unternommen wird. Niko konnte bemerken, dass Pater Alois, der ihn nach Deutschland gebracht hatte, bei seinen Besuchen in seinem Dingelstädter Elternhaus ihn einfach ignoriert. »Verdrängte er Erinnerungen? Jedenfalls würdigte er mich keines Blicks«,46 sagt er. Die knappe Erwähnung dieser scheinbar banalen Peripetie in der Erzählung dient offensichtlich dazu, das Bewusstsein des heutigen Rezipienten für eine kritische Aufnahme dieser herkömmlichen Haltung zu gewinnen, die in der Logik des Textes als »verführerischer Weg«47 gilt. Eine zweite kritische Perspektive gegenüber der westlichen Erinnerungskultur lautet, dass die Nachfahren der ehemaligen deutschen Akteure im Kolonialkrieg im Rahmen der Familiengedächtnisarbeit ihrer Vorfahren gedenken, ohne Rücksicht

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Ziegenfuß, Gerhard u. Rücker, Helmut: Ein Schädel aus Namibia, a.a.O., S. 47. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2017, S. 200. Vgl. Ebd., a.a.O. Ziegenfuß, Gerhard u. Rücker, Helmut: Ein Schädel aus Namibia, a.a.O., S. 59. Ebd., S. 76.

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auf die der heutigen Namibier zu nehmen. Diese Form asymmetrischer Gedächtnisarbeit wird in Ein Schädel aus Namibia kritisch beobachtet. Durch die Fertigkeit des gesellschaftlichen »Erlesens«, welche das deutsche Autorenduo ihn aneignen lassen, kann Niko beobachten, wie der Name von Pater Alois (Symbol für Schuld am Schädelraub) 1948 friedlich »in den weiß-grauen Graben gemeißelt wird«.48 Mit seiner Fertigkeit der »Telepathie« vergleicht Niko diese Erinnerungskultur mit dem, was zu gleicher Zeit in Namibia geschah: Wie ärmlich dagegen die verscharrten Zehntausende von Toten in meiner namibischen Heimat, ihre verstreuten Gebeine nach dem entsetzlichen Völkermord an unseren Stämmen, ihre letzten Ruhestätten nicht mehr erkennbar, eins geworden mit dem trockenen, barmherzigen Omaheke-Sand, gnädig hat die Wüste sie zu sich genommen, und gebe der oberste Gott, dass ihre Seelen bei ihm sind oder in der großen Ahnen-Heimat.49 Beim Wort »ärmlich«, das die Beisetzung in Namibia bezeichnet, sieht man schon, woher der Wind weht. Nikos Gedankenspiel versucht, die Ungleichmäßigkeit der für die Gedächtniskultur mobilisierten Mittel anzuprangern, denn dadurch seien die ehemaligen Opfer erneut benachteiligt. Diese kritische Darbietungsweise ist eine Erinnerungskonkurrenz in dem Sinne, dass sie die dominierende Erinnerungskultur performativ subvertiert.

9.2.2 Versöhnung Das antagonistische Wirkungspotential der Erinnerungskonkurrenzen kann, wie die Kulturwissenschaftlerin Yvonne Robel zeigt, durch die Versöhnungsmechanismen entschärft werden, wenn die Protagonisten auf Verhandlung setzen.50 Im Fall von Namibia könne es nicht ausreichen, die Anerkennung von Genozid an den »ausschließlich entwicklungspolitisch gefüllten Verantwortungsbegriff«51 zu knüpfen. Vielmehr müssten die ›Entschädigungsrelevanzen‹ in einen Verhandlungsprozess eingeschrieben werden. In ihrem Buch Ein Schädel aus Namibia plädieren die Autoren auch für diese Form der Erinnerung und Versöhnung zwischen den gegenwärtigen deutschen und namibischen Generationen. Inszeniert wird diese Möglichkeit durch die gemeinsame Gedächtnisarbeit. Die Autoren lassen Niko, den Schädel, selbst wiederholt von der gemeinsamen Erinnerungskultur als Patentrezept für die Versöhnung sprechen. Als der namibische Botschafter in seiner E-Mail 48 49 50 51

Ebd., S. 59. Ziegenfuß, Gerhard u. Rücker, Helmut: Ein Schädel aus Namibia, a.a.O., S. 59. Vgl. Robel, Yvonne: Verhandlungssache Genozid: Zur Dynamik geschichtspolitischer Deutungskämpfe. München: Fink, 2013. Ebd., S. 388.

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den Wunsch seiner Regierung, die menschlichen Überreste nach Namibia zurückführen zu lassen, formuliert, freute sich Niko folgendermaßen: »Für Versöhnung, Versöhnung!! Ich werde fast wahnsinnig! Mir vergehen die Sinne …«.52 Man hat hierbei mit einem der Begriffe zu tun, die drauf hinweisen, dass weniger die Figur Niko als vielmehr das deutsche Autorenduo spricht. Denn man hat nicht mit einer »hereromäßigen«53 Revision des europäischen Sprachkanons zu tun, mit denen der Leser generell im Text vertraut war. Stattdessen wird das christliche Zeugnis für Versöhnung als Befreiung von der Last der Vergangenheit als Erinnerungskultur angesehen. Im Text lauten Nikos Worte wie folgt: Immer wieder dieser traumatische Kolonialkrieg. War General Lothar von Trotha ein Christ? Kannte er das »Liebet eure Feinde«, beherzigte er die Bergpredigt? Was für eine Abart des Christentums vertrat er? Spielte er nicht Gott, als er die Vernichtung eines ganzen Volkes betrieb, mit unmenschlicher Härte, mit entsetzlicher Gnadenlosigkeit? General von Trotha, der Töter? Abgründiges muss in ihm vorgegangen sein, und in all den anderen kaiserlichen Tötern unter den Kolonialtruppen, diesen Abknallern und Abschießern, mit Duldung des deutschen Kaisers Wilhelm II.; diese gottlosen Vollstrecker von gottlosen Befehlen; auf ihren Schultern trugen sie zu Ehren des Kaisers, was immer die Wert war, die ungebremste Mordlust als stolzes Dekor, ihre Zeigefinger klebten am Abzug ihrer Mordwaffen und wollten nicht davon lassen.54 Obwohl die Erzählstrategie darin besteht, einem Schädel-Ding noble Aktivitäten wie das »Erlesen« und das »Telepathieren« zuzuschreiben, etwa wie E. T. A. Hoffmann in Lebensansichten des Katers Murr (1819) einer Katze das Schreiben beilegt,55 muss man hier feststellen, dass die europäisch-deutschen Autoren Ziegenfuß und Rücker an der Stelle Nikos sprechen. Ihre postkoloniale Perspektive ist sichtbar, wenn sie ihre eigene Einstellung in Bezug auf schuldtragende Täter (Trotha, Kolonialtruppe, Wilhelm II.) und Opfer im Kolonialkrieg in den Mund der afrikanischen Schädel-Figur legen. Diese Begrenzung der Täterschaft auf die handelnden Akteure des Kolonialkrieges im Kaiserreich wird der Schreibintention gerecht, die man im Vorwort lesen kann. In Bezug auf die Würde, die er dem Schädel zurückzugeben beabsichtigt, präzisiert Ziegenfuß: »Obwohl ich sie ihm nicht genommen habe«.56 Dieser »Ich nicht«-

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Ziegenfuß, Gerhard u. Rücker, Helmut: Ein Schädel aus Namibia, a.a.O., S. 78. Ebd., S. 47. Ebd., S. 77. Vgl. Kofman, Sarah: Schreiben wie eine Katze. Zu E. T. A. Hoffmanns »Lebensansichten des Katers Murr«. Wien: Böhlau, 1985. Ziegenfuß, Gerhard u. Rücker, Helmut: Ein Schädel aus Namibia, a.a.O., S. 8.

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Topos, den der Historiker Joachim Fest (1926–2006) im Kontext der Gedächtnisarbeit in Bezug auf das Dritte Reich formuliert hatte,57 wird in Ein Schädel aus Namibia soweit literarisch gestaltet, dass die Schuld bei der Generation seines Großonkels bleibt und die Idee der »Erbschaft der Schuld«58 verschwindet. Diese Erlösung von der Schuld wird wiederum als ein guter Startpunkt für die Versöhnung vorausgesetzt. »Das Erinnern kann grausam sein, wenn Versöhnung nicht gelingt«,59 heißt es lakonisch. Diese Einstellung der Ding-Figur gilt als eine Kritik der Autoren an der diplomatisch gesteuerten Erinnerungsarbeit in Kontext einer Gedächtniskonkurrenz. Der Ich-Erzähler Niko findet nämlich diese Art von Gedenktagen nur schrecklich, denn der Kampf, um mit der Erinnerung fertig zu werden, sei »durch materielle Leistung allein nicht zu beenden, auch nicht durch das Vergessen«.60 In diesem Sinne betonnen die Autoren die Relevanz der Bereitschaft aller Protagonisten, sich für Verhandlungen einzulassen. Sie betrachten den beschriebenen Schädel als »Paradigma für das Schicksal von vielen Tausend getöteten Herero und Nama«.61 Bereits im Vorwort erklärt Ziegenfuß seine Absicht, durch sein Buch sowohl die innernamibischen Verhältnisse als auch den deutschen Umgang mit dem Völkermord zu beleuchten. »Schädel wird zur Provokation«,62 schließt er daraus. Somit wird die literarische Konstruktion der Schädel-Figur als eine Möglichkeit der gemeinsamen Erinnerungskultur angesehen. In diesem Gedankenzusammenhang wird der Schädel Niko von der Erzählinstanz so programmiert, dass er seine »Betrachter ausrütteln«63 muss. Dabei sind die Betrachter dieser »BuchstabenKopffigur«,64 wie er sich selbst nennt, die intendierten deutschsprachigen Leser. Durch diese Schreibhaltung wird die erzählte Geschichte zum erinnerungsrelevanten Schwerpunktthema für die heutigen und zukünftigen deutschen Generationen. Um diese Möglichkeit der Gedächtnisarbeit für die zukünftigen Generationen zu illustrieren, trainieren die Autoren die Fantasie ihrer eigenen Kinder. Im Text dürfen die Kinder sich einbilden, wie der Schädel im wahren Leben aussehen könnte, und ihn durch Zeichnungen porträtieren. »Aber rührend, und als Menschen gleich erkennbar«,65 denkt die Erzählinstanz Niko von dieser Form der Erinnerungskultur. Diese Erziehungsmethode kann schwer anders interpretiert 57 58 59 60 61 62 63 64 65

Fest, Joachim: Ich nicht. Erinnerung an meine Kindheit und Jugend. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2006. Mehr über die Thematik siehe Buruma, Ian: Erbschaft der Schuld. Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan. München: Hanser, 1994. Ziegenfuß, Gerhard u. Rücker, Helmut: Ein Schädel aus Namibia, a.a.O., S. 76. Ebd., S. 76. Ebd., S. 8. Ebd., S. 8. Ebd., S. 53. Ebd., S. 55. Ebd., S. 55.

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werden als ein Versuch der Autoren, an die ganze deutsche Gesellschaft zu einer Erinnerungskultur zu appellieren. So versteht auch die afrikanische Ding-Figur diese Geste; Niko sagt nämlich: »Solche Versöhnungsmomente suche ich, jeder Strohhalm wird ergriffen«.66 Entgegen der familiären Tradition, in welcher der Totenschädel vom Vater auf Sohn und von Generation auf Generation in die Obhut übernommen wurde, lehrt Gert seine Kinder somit, wie eine gemeinsame Erinnerung möglich ist. Erkennbar ist hier der intertextuelle Bezug zu Gotthold Ephraim Lessings (1729–1781) Obhut-Ring aus seinem Aufklärungsstück Nathan der Weise (1779).67 Wie bei Lessing dient die Abweichung von der »rigiden« Erbe-Tradition dazu, das humanistische Ideal zu privilegieren. In diesem Kontext sieht man, dass Ein Schädel aus Namibia für mehr Toleranz und Weltoffenheit in Sachen Erinnerungskultur plädiert. Im Gegensatz zu seinen Eltern, deren Gedächtnisarbeit darin bestand, lediglich Pater Alois’ Grab »lieblich mit Blumen und duftenden Büschen«68 zu bepflanzen, lernen die Kinder der Autoren, in der Fantasie sich in die andere Seite hinein zu versetzen und ihr bei der Repräsentation von Gedächtnislücken zu helfen. Zum Schluss geht die Erzählung auf die Schwierigkeiten ein, welche die Versöhnung behindern könnten, nämlich die Herausforderung für die Kultur-Diplomatie in den beiden Erinnerungsräumen (Deutschland und Namibia).

9.2.3 Tabuisierte Vergangenheit versus »Nation Building« Wie oben erwähnt, war die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den ›sensiblen Dingen‹ in Europa wie auch in den afrikanischen Ländern durch die Zivilgesellschaft eingeleitet worden. Da in Fall vom heutigen Namibia die Schädelrückgabe mit Gedächtnisarbeit und Wiedergutmachung (oder Entwicklungshilfe) verknüpft ist, ist diese Aktivität eine Herausforderung sowohl für die namibische als auch für die deutsche Diplomatie. Für Namibia, ein Land, das erst 1990 seine politische Unabhängigkeit erlangen konnte und wie kaum eine andere Nation in Afrika mit Asymmetrien jonglieren muss, die auf den Folgen des kolonialen Genozids beruhen,69 ist eine mit Entwicklungszusammenarbeit verknüpfte Gedächtnisarbeit eine nicht zu unterschätzende Herausforderung im Prozess der Nation Building. Anna-Maria Brandstetter schreibt dazu: 66 67 68 69

Ebd., S. 55. Lessing, Gotthold Ephraim: Nathan der Weise. (1779). Hamburg: fabula, 2016. Ziegenfuß, Gerhard u. Rücker, Helmut: Ein Schädel aus Namibia, a.a.O., S. 59. Mehr dazu siehe Kößler, Reinhart: »Postcolonial asymmetry: coping with the consequences of genocide between Namibia and Germany«, in: Albrecht, Monika (Hg.): Postcolonialism Cross-Examined: Multidirectional Perspectives on Imperial and Colonial Pasts and the Neocolonial Present. New York, London: Routledge, 2019, S. 117–135.

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Zugleich waren koloniale Gesellschaften immer auch »Gesellschaften im Plural« und eröffneten den verschiedenen Akteure vielfältige, fragmentierte und verflochtene Handlungsspielräume, jenseits der Annahme von einer vereinfachenden dichotomen Ordnung in Kolonisierte und Kolonisierende, wie sie bisweilen in den aktuellen Debatten um kolonialzeitliche Sammlungen, die sich insbesondere um das Humboldt-Forum im rekonstruierten Stadtschloss in Berlin entzünden, zu hören ist.70 Die Folge für den erwähnten Prozess der Nation Building ist eine Interessen-Konkurrenz zwischen den Vertretern der Herero und Nama, die über Lobbyisten bis in die Berliner Zivilgesellschaft verfügen und mit »Not about us without us«71 taktieren, auf der einen Seite, und der offiziellen namibischen Regierung auf der anderen Seite.72 Bei einer Übergabe von menschlichen Überreste 2018, an der die Staatsministerin im Auswärtigen Dienst, Michelle Müntefering, teilnahm, soll sich der Herero-Vertreter Vekuii Rukoko den sterblichen Überresten gegenüber geäußert haben: »Willkommen zu Hause. Aber jetzt muss der Kampf um nachträgliche Gerechtigkeit weitergehen«.73 Solche Äußerungen rufen bei der namibischen Regierung, die im Übrigen von den Anhängern des Ovambo-Volks dominiert ist, Skepsis hervor, weil sie verdächtigt werden, die Formung des nationalen Bewusstseins zu verhindern. Die Befürchtung in diesem Zusammenhang ist, dass nicht alle Volksgruppen und Komponenten der namibischen Gesellschaft im Lampenlicht dieser Art Gedächtnisarbeit stehen können. »Aber leider hatte Präsident Sam Nujoma kein Verständnis für diese Art von ›Versöhnungsfeier‹ und untersagte im Jahr 2003 den Kriegszirkus«,74 schreibt Bartholomäus Grill in seinem neulich erschienen Bericht Wir Herrenmenschen (2019). Diese Abneigung des Präsidenten gegen die theatralische Vorführung der politischen und traditionellen Führer der Herero kann mit den offenen Fragen in Sachen Wiedergutmachung in Verbindung gebracht werden: »wieviel« wird »wie« »an wen« und »ab wann« gezahlt? Die in Deutschland zu bewältigende Herausforderung liegt dem Grundsatz zugrunde, dass ein Schuldbekenntnis bedeutet, daraus viele Konsequenzen zu ziehen. Der Soziologe Reinhardt Kößler spricht von dem deutschen offiziellen

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Brandstetter, Anna-Maria: »Kolonialwaren. Objekte aus Namibia in der Ethnographischen Studiensammlung Mainz«, in: Dies.u. Hierholzer, Vera (Hg.): Nicht nur Raubkunst! a.a.O., S. 147–162, hier S. 149. Zitiert nach Kößler, Reinhart: »Postcolonial asymmetry«, a.a.O., S. 123. Vgl. Kössler, Reinhart u. Henning Melber: Völkermord – Und was dann? Die Politik deutsch-namibischer Vergangenheitsbearbeitung. Frankfurt a.M.: Brandes + Apsel, 2017. Zitiert nach Scheibe, Axel: DuMont Reise-Taschenbuch Reiseführer Namibia. Namibia. Ostfildern: Dumont Reiseverlag, 2019, S. 74. Grill, Bartholomäus: Wir Herrenmenschen, a.a.O., S. 185.

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Approach als »Playing on postcolonial asymmetry«,75 denn das innernamibische Interessenspiel sei für die deutsche Diplomatie ein fruchtbarer Boden für den sparsamen Umgang mit Fragen wie Reue oder Wiedergutmachung sowie für die Vermeidung des Begriffs »Genozid« überhaupt. In der Forschungsliteratur spricht man sogar von Verdrängung, die für die Versöhnung schädlich sein könnte.76 Diese diplomatische »eigennützige Rechtfertigungsstrategie«77 erklärt auch den Grundsatz der wissenschaftlichen Provenienzforschung, die, wie schon erwähnt, von ihren Kritikern als eine klare Abneigung gegenüber der Rückgabe der sensiblen Dinge interpretiert wird. Diese Forschungen zeigen, so Reinhart Kößler, »welche gewaltigen Hindernisse einer Erweiterung unseres Wissens um diese Sachverhalte entgegenstehen«.78 In Ein Schädel aus Namibia werden diese Hindernisse sowohl in Deutschland als auch in Namibia beobachtet. Der Leser kann bemerken, dass die E-Mail des namibischen Botschafters in Berlin, Andreas B. D. Guibeb, bei Niko, dem Schädel, in dieser Reihenfolge sowohl seinen Stolz als Herero (»für die noch lebenden Herero«79 ) als auch einen nationalpatriotischen Stolz (»für den Aufbau Namibias!«80 ) geweckt hat. Dabei versucht der diplomatische Text, jedenfalls der in der Erzählung eingebaute Ausschnitt, diese Ambiguität zu vermeiden. Der Botschafter spricht nämlich von »human remains of Namibian origin«.81 Diese innernamibische geschichtspolitische Interessenlage wird in Ein Schädel aus Namibia dennoch nicht in den Vordergrund gestellt. Das Autorenduo versteht seine Teilnahme an dieser Debatte als mit der Ordnung des deutschen Grundgesetzes vereinbar, welche »unser Handeln bestimmt und uns ethisch-moralisch in die Pflicht nimmt«.82 Insofern kann man die literarische Modellierung des Schädels in Ein Schädel aus Namibia als wesentliches

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Kößler, Reinhart: »Postcolonial asymmetry«, a.a.O., S. 123ff. Vgl. Auch Ders.u. Melber, Henning: »Völkermord – Anerkennung ohne Entschuldigung und Entschädigung? Verwicklungen in verwobener Geschichte«, in: Bechhaus-Gerst, Marianne u. Zeller, Joachim (Hg.): Deutschland postkolonial? a.a.O., S. 223–242. Vgl. Melber, Henning: »›Wir haben überhaupt nicht über Reparationen gesprochen‹. Die namibisch-deutschen Beziehungen: Verdrängung oder Versöhnung?«, in: Zimmerer, Jürgen u. Zeller, Joachim (Hg.): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika, a.a.O., S. 215–226. Grill, Bartholomäus: Wir Herrenmenschen, a.a.O., S. 268. Kößler, Reinhart: »Sammelrezension zu Sammy Baloji: Hunting & Collecting. Larissa Förster & Holger Stoecker: Haut, Haar und Knochen. Koloniale Spurensuche in naturkundlichen Sammlungen der Universität Jena«, in: PERIPHERIE Nr. 144, 36. Politik mit Kunst. Leverkusen: Barbara Budrich, 2016, S. 529–532, hier S. 532. Ziegenfuß, Gerhard u. Rücker, Helmut: Ein Schädel aus Namibia, a.a.O., S. 78. Ebd., S. 78. Ebd., S. 78. Ebd., S. 9.

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Plädoyer für die offizielle Entschuldigung der deutschen Diplomatie werten, auf die »Namibia immer noch wartet«.83

9.3 Zusammenfassende Bemerkung Zusammenfassend lässt sich der postkoloniale Blick in Ein Schädel aus Namibia darin sehen, dass die Autoren in der gegenwärtigen Debatte um das Schicksal der in der Kolonialzeit geraubten Schädel klare Stellungen nehmen. In der verbürgten politischen Geschichtspolitik sind sie für die Rückgabe der Schädel und gegen eine Verdrängung der Schuld und das Vergessen. Sie eröffnen die Möglichkeit einer gemeinsamen Gedächtnisarbeit, die in ihren Augen für die Versöhnung der Völker unabdingbar sei. Dass die kritische Haltung des Autorenduos in dieser Frage in der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur nicht immer vertreten ist, zeigt die Inszenierung der Frage nach dem angemessenen Umgang mit Schuld und Reparation durch den preisgekrönten Kriminalautor Bernhard Jaumann in seinem Roman Der lange Schatten (2005).84 Eine Modellierung der Schädelgeschichte, die der oben erwähnten offiziellen Einstellung der deutschen Diplomatie gerecht wird, nämlich die postkolonialen Asymmetrien zu benutzen, um den Spieß gegen die Reparationsansprüche umzudrehen. Als eine namibische Delegation in Berlin ankommt, um die in der deutschen Kolonialzeit geraubte Herero-Schädel zurückzuholen, werden ein Polizist und ein Pfarrer ermordet. Hier lässt die Erzählinstanz beispielsweise die Reparationsforderungen der Herero und Nama durch die namibische Diplomatie als eine Art »Tribalismus [bezeichnen], die über Folklore hinausgeht und unterbunden werden [muss]«.85 Dirk Göttsche hat Recht, wenn er von diesem Roman schreibt, dass der Autor seine »eigene Deutung durchzusetzen«86 versucht. Denn die postkoloniale Erinnerungsarbeit, die hier für den deutschsprachigen Leser postuliert wird,87 entspricht weder dem geschichtspolitischen Kompromiss von 2015, 83

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Pelz, Daniel: »Völkermord. Namibia wartet weiter auf deutsche Entschuldigung«, in: DW vom 13.09.2019. Abrufbar unter: https://www.dw.com/de/völkermord-namibia-wartet-weiter-auf-deutsche-entschuldigung/a-50402887 [Stand vom 22.11.2019]. Jaumann, Bernhard: Der lange Schatten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2015. Zu Jaumanns Leben und Werk siehe Erb, Andreas: »Bernhard Jaumann«, in: Düwell, Susanne; Bartl, Andrea; Hamann, Christof u. Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur, a.a.O., S. 158–161. Jaumann, Bernhard: Der lange Schatten, a.a.O., S. 155. Göttsche, Dirk: »›Die Schatten der Vergangenheit‹: Kolonialzeit und Geschichtspolitik in Bernhard Jaumanns Namibia-Krimis«, in: Ernst, Thomas u. Mein, Georg (Hg.): Literatur als Interdiskurs: Realismus und Normalismus, Interkulturalität und Intermedialität von der Moderne bis zur Gegenwart. Eine Festschrift für Rolf Parr zum 60. Geburtstag. München: Fink, 2016, S. 497–510, S. 509. Vgl. Göttsche, Dirk: »History or Memory? Postcolonial politics of memory in Bernhard Jaumann’s Der lange Schatten and M.G. Vasanji’s The Magic of Saida«, in: Ders.: (Hg.): Memory

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

der »über die bisherigen, Reparationsansprüche vermeidenden Entschuldigungen hinausgeht«,88 noch dem Geist der von den Senatoren (dem Hamburger Kultursenator Carsten Brosda 2017 respektive dem Berliner Justizsenator Dirk Behrend 2018) ausgesprochenen Entschuldigungen.89 Postkoloniale moralische Forderungen betreffen nicht nur die Debatte um die Rückgabe der menschlichen Überreste, die während der Kolonialzeit auf illegitime Weise in europäischen Besitz kamen. Sie gewinnen auch Zugang zu Ökologie und Umweltfragen mit ihrer entwicklungspolitischen moralischen Verknüpfung. Dabei wird die westlich-europäische vereinnahmende Betrachtungsweise der afrikanischen Dinge als ein Schwerpunktthema der postkolonialen Überlegungen in den Vordergrund gestellt. Auf diese Problematik soll in dem nächsten Abschnitt eingegangen werden.

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and Postcolonial Studies: Synergies and New Directions. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 2019, S. 45–74. Göttsche, Dirk: »Die Schatten der Vergangenheit«, a.a.O., S. 507. Vgl. Starzmann, Paul: »Kolonialverbrechen in Namibia. Berliner Justizsenator bittet Herero und Nama um Entschuldigung«, in: Der Tagesspiegel vom 27.08.2018. Abrufbar unter: https://www.tagesspiegel.de/politik/kolonialverbrechen-in-namibia-berliner-justizsen ator-bittet-herero-und-nama-um-entschuldigung/22962662.html [Stand vom 22.11.2019].

10 Kilimandscharo und andere Naturdinge

10.1 Das postkoloniale Projekt: ›Postkolonie‹ noch Heimat? Durch die Benennung der afrikanischen Gegenden durch europäische Ortsnamen war die europäische Kolonisation bemüht, im Kontext des Wettlaufs um Afrika sich so viel Raum anzueignen, wie es ging. Der Leipziger Geograph Hans Meyer nannte den Kilimandscharo beispielsweise »Kaiser-Wilhelm-Spitz«.1 Ein klassisches Beispiel für diesen toponymischen Wettkampf ist der Film Die Viktoriafälle von 1907, der wie Wolfgang Fuhrmann aufzeigt, diesen Wasserfall, der gar nicht in den Territorien der deutschen Schutzgebiete lag, trotzdem als Teil der deutschen Heimat stilisiert, nur weil dort die deutsche Industrie eingesetzt werden konnte, um Elektrizität zu erzeugen.2 Interessant ist, dass ausgerechnet die Blut-und-Boden-Literatur die räumliche Kontinuität bis in den afrikanischen Kontinent ausdehnt und diese narrativen Kolonien als nationalen Raum bis ins Dritte Reich hinein verbreitet hat. Joachim Warmbold schreibt dazu: Kolonial-Literatur ist ›Blut-und-Boden‹-Literatur. Die engen Beziehungen zahlreicher Autoren zur ›Heimatkunstbewegung‹ sowie das Bestreben, Deutschlands Recht auf Kolonien besonders eindrücklich zu dokumentieren, führte zu einer Übernahme der ›Blut-und-Boden‹-Ideologie. Einer Einbeziehung der KolonialLiteratur in das ›Schrifttum‹ des Nationalsozialismus stand somit nichts mehr im Wege.3

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Meyer, Hans: Zum Schneedom des Kilimandscharo. 40 Photographien aus Deutsch-Ostafrika mit Text. Berlin: Meidinger, 1888. Fuhrmann, Wolfgang: »Der Urwald«, a.a.O., S. 59. Warmbold, Joachim: »Ein Stückchen neudeutsche Erd’…« Deutsche Kolonial-Literatur. Aspekte ihrer Geschichte, Eigenart und Wirkung, dargestellt am Beispiel Afrikas. Frankfurt a.M.: Haag und Herchen, 1982, S. 278f.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

Sind die kolonisierten Subjekte in diesem Kontext manchmal als »in der neuen Heimat nicht nur störend, sondern ganz eindeutig überflüssig«4 empfunden, werden die afrikanischen Naturdinge fast immer als wertvolle Schätze für die Phantasiereiche betrachtet. Die Germanistin Anna Brasch hat am Beispiel der weltanschaulichen Literatur der Jahrhundertwende aufgezeigt, dass die ambivalente Inszenierung der Fremde als »Fremde« und zugleich als deutsch-europäische »Heimat« durch den Kolonialroman eigentlich kein Widerspruch sei, denn diese Semantisierung von überseeischen Territorien als nationalem Raum sei als »Modernisierungsprozess« zu verstehen.5 Modernität deswegen, weil die Kolonialautor*innen ihre Raumkonstruktionen als Beitrag zur »vorgestellten Geographie Deutschlands in der wechselseitigen Beziehung der deutschen Regionen«6 verstehen, so Anna Brasch weiter. Dabei erscheine jene Geografie als »zusammenhängender und homogener Raum, der jedoch nicht durch Gleichförmigkeit, sondern durch Vielfalt geprägt«7 sei. Mit der postkolonialkritischen Welle der 1970er Jahre zeigt sich immer mehr eine ästhetische Neudeutung kolonialer Raumlektüren.8 Koloniale Landvermessungen werden in diesem Zusammenhang deswegen kritisiert, weil sie den kolonialen Raum als Heimat in die Imagination ästhetisch hineinschmuggelten. Man denke an »Landvermesser, die in Karten, das heißt in deren weiße Fläche, fiktive Flüsse, Berge, Dörfer, Ebenen oder Tundren mogeln«,9 führt der Schweizer Schriftsteller Gerhard Meier (1917–2008) in seinem Roman Toteninsel (1979) an. Speziell in Bezug auf die deutsche koloniale Imagination von Afrika hebt die postkoloniale Kritik hervor, dass sie von der kolonialen Ordnung geprägt war: Berge wie Kibo (Kilimandscharo), Usambara usw. wurden in den Fantasien der Kolonialliteratur bis zum Ende des Dritten Reiches als deutscher Raum präsentiert. »How German can an African mountain become?«,10 mit dieser Frage klagt der Historiker Jens Jaeger 2009 die prätentiöse Ausdrucksweise der deutschen Entdeckungsreisenden an, die den Kili-

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Warmbold, Joachim: »Ein Stückchen neudeutsche Erd…«, a.a.O., S. 121. So analysiert Warmbold Gustav Frenssens Peter Moors Fahrt nach Südwest. Ein Feldzugsbericht. (1906). Berlin: G. Grote’sche Verlagsbuchhandlung, 1907. Brasch, Anna S.: Moderne – Regeneration – Erlösung: Der Begriff der ›Kolonie‹ und die weltanschauliche Literatur der Jahrhundertwende. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2017, S. 131f. Ebd., S. 133. Ebd., S. 133. Vgl. Shah, Mirah: »Richard Kandts Reisebericht Caput Nili. Die Konstruktion moderner Identität im Raum des Anderen«, in: Mehigan, Tim u. Corkhill, Alan (Hg.): Raumlektüren: Der Spatial Turn und die Literatur der Moderne. Bielefeld: transcript, 2014, S. 167–188. Meier, Gerhard: Toteninsel. Roman. (1979). Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992, S. 24. Jaeger, Jens: »Colony as Heimat? The Formation of Colonial Identity in Germany around 1900«, in: German History Vol. 27, No. 4, 2009, S. 467–489, hier S. 467f.

10 Kilimandscharo und andere Naturdinge

mandscharo als »deutschen Berg«11 bezeichnen. Die postkoloniale Kritik liegt darin, dass der deutsche koloniale Diskurs durch diese Vereinnahmung der »Naturdinge« die Schutzgebiete als Heimat betrachtete.12 Die kontrapunktische Relektüre dieser Repräsentation des ehemaligen kolonialen Raums bildet einen der Eckpunkte der gegenwärtigen postkolonialen Überlegungen. Postuliert wird, dass die ›Postkolonie‹ als eine imaginäre Vermessung Afrikas (mit Mbembe)13 nicht mehr als »verlorene Heimat«14 in der deutschen Imagination auftreten sollte. Wie Christof Hamann am Beispiel der Berge zeigt, ist bei den deutschsprachigen Schriftsteller*innen der Gegenwart allerdings das Verhältnisse von fiktionalisierten Räumen und wirklichen afrikanischen Bergen durch mythologische Einschläge geprägt.15 Ein Urbild hierfür sei die westliche Vorstellung der Höhe (Gipfel, Olymp, Alpen) als Orte, »an denen der Mensch den Göttern nahe war«16 . Aus dieser Konstellation folge die kolonialistische Annahme, wonach »derjenige, der oben steht, mächtiger ist als diejenigen, die unten sind – das Oben-Sein gilt entsprechend als Beginn eines politischen oder nationalen Machtanspruchs, der in der Sicht nach unten schon die Überwachung seines künftigen Besitzes mitdenkt«.17 Aus ding-narratologischer Sicht erklärt diese Vorstellung die diskursasymmetrische Repräsentation der afrikanischen Berge durch den Kolonialtext, wie dies Hans Meyers mächtige Beobachterposition in seinen Ostafrikanischen Gletscherfahrten illustriert.18 Insofern besteht die kritische Aufgabe einer Literatur des Postkolonialismus heute darin, durch eine Relektüre kolonialer Raumphantasien der »Geographie der Literatur«19 die subversiven ästhetischen Formen ins Spiel zu bringen. In den folgenden Abschnitten soll auf diese kritische Funktion in ausgewählten deutschsprachigen fiktiven Texten der Gegenwart eingegangen werden.

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Vgl. zum Beispiel Kirschstein, Egon Fr.: »Auf dem höchsten deutschen Berg: Kilimandscharo und Meru«, in: Kolonie und Heimat, 19, 1909, S. 6. Vgl. Oloukpona-Yinnon, Adjai Paulin: »Kolonie als Heimat. Deutsche Koloniallyrik unter dem Thema ›Heimat‹. Ein Beitrag zur Frage des Eigenen und des Fremden«, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 29, Nr. 2, 1997, S. 24–29. Vgl. Parr, Rolf: Die Fremde als Heimat: Heimatkunst, Kolonialismus, Expeditionen. Konstanz: Konstanz University Press, 2018. Mbembe, Achille: Postkolonie, a.a.O. So der Titel eines 1928 erschienen Reiseberichts. Vgl. Mattenklodt, Wilhelm: Verlorene Heimat. Als Schutztruppler und Farmer in Südwest. Berlin: Parey, 1928. Vgl. Hamann, Christof: »Nach Oben. Berge als Schauplatz der Literatur«, in: Ernst, Thomas u. Mein, Georg (Hg.): Literatur als Interdiskurs, a.a.O., S. 479–498. Ebd., S. 483. Ebd., S. 484. Meyer, Hans: Ostafrikanische Gletscherfahrten. Forschungsreisen im Kilimandscharo-Gebiet. Leipzig, 1890. Ausdruck bei Piatti, Barbara: Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien. Göttingen: Wallstein, 2008.

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10.2 Kilimandscharo/Usambara/Orange River Ein Jahrhundert nach der »Vertreibung der Deutschen aus ihrer angestammten ostafrikanischen Heimat«20 bleibt der Kilimandscharo in der Einbildung »ein Stück besten Deutschlands mitten im schwarzen Kontinent«,21 schreiben die Dichter und Satiriker Robert Gernhardt (1937–2006) undf. W. Bernstein (1938–2018). Die Hochkonjunktur der literarischen Gestaltungen mit Bezug zum Kilimandscharo widerspiegelt die ungebrochene Sehnsucht nach afrikanischen Bergen in der allgemeinen Imagination. No-Name-Autor*innen, mehr oder weniger bekannte Schreiber*innen und erfahrene Schriftsteller*innen machen sich allein mit Titeln Kilimandscharo oder Usambara gegenseitig Marktanteile streitig. In Deutschland, Österreich und der Schweiz kämpfen Verlage mit Reiseführern, Reiseberichten und fiktiven Texten mit Bezug auf diese Berge um die Anteile des deutschsprachigen Marktes.22 In fiktiven Texten, die sich mit der Thematik der Berge als deutsche Heimat aus postkolonialer Perspektive befassen, lässt sich der postkoloniale Blick mindestens bis zu Christof Hamanns Usambara (2007)23 zurückführen. Hamanns Roman wurde in der Forschungsliteratur als kritische Inszenierung der Kolonisierung des afrikanischen Raums durch europäische Dingsymbole (blaue Blumen, Botanisiertrommel)24 gedeutet. Dabei weist der titelgebende Berg auf ein afrikanisches Naturding hin, Usambara, was wiederum aus der Perspektive der Dingforschung wenig in den Vordergrund gestellt wird. Um diese Lücke zu schließen, musste der reale Autor sein zweites spezielles Steckenpferd, das des leidenschaftlichen Literaturwissenschaftlers, reiten. Er erklärt: Mir war daran gelegen, dass die Leserinnen und Leser einerseits, etwa mithilfe von Toponymen, ihr Alltagswissen über den Kibo bzw. das Kilimandscharo-Massiv aufrufen können, andererseits dieses Wissen weniger bestätigt als vielmehr irritiert

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Gernhardt, Robert u. Bernstein, F. W.: »Ein Berg und seine Geschichte«, in: Dies.: Hört, Hört! Das Wims- Vorlesebuch. (1979) Frankfurt a.M.: Fischer, 1998. Zitiert nach Hamann, Christof u. Honold, Alexander: »Der Kilimanscharo«, in: Zimmerer, Jürgen (Hg.): Kein Platz an der Sonne, a.a.O., S. 81–95, hier S. 93. Ebd., a.a.O. Neuere Bücher sind auswahlweise Jacobs, Anne (Leah Bach): Der Himmel über dem Kilimandscharo. München: Blanvalet, 2019; Prüfer, Tillmann: Der heilige Bruno. Die unglaubliche Geschichte meines Urgroßvaters am Kilimandscharo. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2016; Blaeulich, Max: Kilimandscharo zweimeteracht. Salzburg, Residenz, 2005. Hamann, Christof: Usambara. Göttingen: Steidl, 2007. Gerhard, Ute: »›Blaue Blume‹ und ›Spießerpflanze‹. Spuren des deutschen Kolonialismus in Christof Hamanns Roman ›Usambara‹«, in: Hamann, Christof u. Honold, Alexander (Hg.): Ins Fremde schreiben, a.a.O., S. 323–329.

10 Kilimandscharo und andere Naturdinge

wird. Die realistische Organisation des Schauplatzes besitzt hier, so die These, eine kritische Funktion.25 Man kann in der gegenwärtigen Afrikaliteratur beobachten, dass diese kritische Hinterfragung die Schreibhaltung vieler Schriftsteller*innen prägt. Im Gegensatz zur Inszenierung der afrikanischen Berge in früheren Texten, welche eine kolonialaffirmierende Funktion hatten, zeichnen sich die gegenwärtige Afrikaromane des Kolonialismus durch ihre kritische Haltung gegenüber der Semantisierung dieser Naturdinge als nationalen Raum aus. Dieser Zusammenhang der Dinge befindet sich in einem fiktiven Text, dessen Intertextbezug zu Hamanns Roman bereits im Titel evident ist, namentlich in Leah Bachs 2012 erschienenem Roman Sanfter Mond über Usambara.26 Hinter diesem Pseudonym verbirgt sich die Schriftstellerin Anne Jacobs, die als Autorin der Trilogie Die Tuchvilla27 bekannt war. Die Afrika-Saga, die sie unter dem Pseudonym Leah Bach veröffentlicht, besteht außer diesem Buch aus dem Roman Der Himmel über dem Kilimandscharo (2019).28 In dem Roman Sanfter Mond über Usambara handelt es sich um Charlotte Ohlsen (Geb. Harmsen) und ihre Cousine Klara, die mit einer Kaffeeplantage in den Usambara-Bergen ihr Lebensglück suchen. Im Oktober 1906 hatte die historische verbürgte Figur des neuen Gouverneurs in Daressalam, Herr von Rechenberg29 die Idee, den Einheimischen die Plantagenarbeit beizubringen, damit sie die Früchte ihrer Ernten an die Kolonialverwaltung verkaufen können. In der Binnenerzählung findet man eine Namensdeutung des Berges Usambara, die man als Rezeptionsvorgaben der Autorin in Bezug auf die koloniale Raumaneignung anhand europäischer Ortsnamen30 betrachten kann. In einem Brief an Charlotte erklärt Klara ihr Glück und ihre Freude, in der Gegend namens »afrikanischer Harz«31 leben zu dürfen. Die-

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Hamann, Christof: »Nach Oben. Berge als Schauplatz der Literatur«, a.a.O., S. 493. Jacobs, Anne (Leah Bach): Sanfter Mond über Usambara. München: Blanvalet, 2012. Jacobs, Anne: Die Tuchvilla (2014); Die Töchter der Tuchvilla (2015) u. Das Erbe der Tuchvilla (2016). Jacobs, Anne (Leah Bach): Der Himmel über dem Kilimandscharo. München: Blanvalet, 2019. Nach dem Maji-Maji-Aufstand (1905–1908) wurde Albrecht Freiherr von Rechenberg (1861–1935) zum zivilen Gouverneur in Daressalam berufen. Seine »Rekonstruktionspolitik« beruhte auf dem Prinzip, dass die für die Plantagenwirtschaft benötigte afrikanische Arbeitskraft nicht durch Zwangsarbeit erreicht werden konnte. Vgl. Gründer, Horst u. Hiery, Hermann: Die Deutsche und ihre Kolonien, a.a.O., S. 70 u. 87. Zum Maji-Maji-Aufstand siehe Böhm, Andrea: »Rebellion auf den Plantagen. Der Maji-Maji-Krieg ist einer der opferreichsten der Kolonialgeschichte«, ZEIT Geschichte 4/19, 2019, S. 80–85. Zu dieser Diskussion siehe Schuster, Susanne: »Europäische Ortsnamen als Zeugen kolonialer Raumaneignung: Grönlands Nordosten«, in: Stolz, Thomas u. Warnke, Ingo H.: Vergleichende Kolonialtoponomastik: Strukturen und Funktionen kolonialer Ortsbenennung. Berlin, Boston: de Gruyter, 2018, S. 161–189. Jacobs, Anne (Leah Bach): Sanfter Mond über Usambara, a.a.O., S. 75.

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se Taufe der Usambara-Region gibt der Schriftstellerin die Möglichkeit, eine postkoloniale Kritik zu üben. Sie lässt Charlotte denken: Usambara – wie melodisch dieses Wort klang, wie viele Farben und Düfte es in sich trug. Usambara. Wie konnte man dieses Land mit einem deutschen Gebirge vergleichen, schon der Name »Harz« klang abgehackt und dürr. Wie schön auch immer dieser Harz sein mochte, den sie nie gesehen hatte – Usambaras Hänge waren wilder, die Pflanzen üppiger, der Himmel weiter. Usambara war Afrika, ein grünendes Paradies, selbst die Nebel waren dort Licht und voller Zartheit, und erst die Menschen …32 Erkennbar wird im Textauszug die kritische Haltung der Autorin gegenüber der vereinnahmenden Besitznahme des Berges durch das deutsche Kolonialprojekt und die europäische Imagination. Abgesehen von der Anprangerung der geschmacklosen oronymischen Benennung des Usambara-Berges hört man hier fast die literarische Kolonialphantasie, etwa Paul Ettighoffers Beschreibung Südwestafrikas in seinem Reisebericht So sah ich Afrika (1939), wo es heißt: Das Farbenspiel der Berge, der Ebene, des Wüstensandes, des Horizonts ist so unwahrscheinlich stark und unangetastet, dass man zuerst traumverloren hinblickt. Du bist Maler, du möchtest diese Farben wiedergeben, so, wie du sie siehst. Tue es nicht, niemand wird dir glauben. Sie werden dir Kitsch vorwerfen, jene, die niemals die Trunkenheit des afrikanischen Farbenspiels vor dem Sonnenuntergang, am Rande der Wüste Namib, erleben durften. Dass ich dies sehen und erleben durfte, macht mich dankbar und ganz klein, ganz schwach vor der Größe der gewaltigen Natur. Hinter den steilen, verwitterten Gipfeln der wilden Gebirgsketten im Westen und Nordwesten will die Sonne untergehen, nicht langsam und zögernd wie bei uns, sondern rasch, ohne Strahlen, ohne Abendrot, ohne Dunst.33 Im Gegensatz zum NS-Journalisten, Erzähler und Sachbuchautor Paul Ettighoffer (1896–1975), der durch seine Afrikaromantik seinen Lesern das nationalsozialistische Kolonialprojekt verkaufen wollte34 , kritisiert Leah Bach die westliche Vereinnahmung eines afrikanischen Dings. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird dem Leser einleuchtend, dass die Erzählinstanz das oben erwähnte postkoloniale Projekt 32 33 34

Ebd, S. 76. Hervorhebung von mir K.S. Ettighoffer, Paul Cölestin: So sah ich Afrika: mit Auto und Kamera durch unsere Kolonien. (1939) München: Bertelsmann, 1943, S. 27. Zu Ettighoffers Leben und Werk siehe »Ettighoffer, Paul Cölestin, auch: Frank, Löhr von Wachendorf«, in: Kühlmann, Wilhelm (Hg.): Killy. Literaturlexikon. Bd. 3. Berlin, Boston: de Gruyter, 2008, S. 330–331; Vgl. auch Hillesheim, Jürgen und Michael, Elisabeth: Lexikon nationalsozialistischer Dichter. Biographien, Analysen, Bibliographien. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1993, S. 161–170.

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zu erproben versucht, nämlich die Kritik an der Semantisierung der ›Postkolonie‹ als nationalen Raum. Die im Textausschnitt formulierte Erkenntnis »Usambara war Afrika« ist ein Gegenprojekt zu kolonialen toponymischen Benennungen afrikanischer Gegenden im Sinne vom »Inbesitznehmen der Fremde als Heimat«.35 Die kritische Haltung des Textes zeigt, dass der postkoloniale Blick sich von der kolonialen Perspektive entfernen muss, welche die afrikanischen Naturdinge wie Berge, Flüsse usw. als jungfräulich dargestellt hatten, um am Wettlauf um Afrika (dem sogenannten »scramble for Africa«) teilzunehmen und später den völkisch-nationalsozialistischen kolonialen Traum in Afrika zu verbreiten. Die Inszenierung dieser kritischen Perspektive dient offensichtlich dazu, die Rolle dieser Naturdinge in entwicklungspolitischen Prozessen in den Vordergrund zu stellen. Das Stichwort hierfür lautet: Ökologie. Dieser Zusammenhang der Dinge (Ökologie-Entwicklung-Afrikanische Naturdinge) wird auch in Elisabeth Herrmanns Thriller Zartbittertod (2018)36 inszeniert. Die in Marburg geborene Schriftstellerin mit dem Schwerpunkt Kriminalromane, Trägerin der Deutschen Krimi-Preises (2012), zeigt auch Interesse an der deutschen Kolonialgeschichte. Was Dirk Göttsche über das Subgenre Kriminalliteratur herausgearbeitet hat, bewahrheitet sich hier im Spezialgenre Thriller, nämlich, dass es »zwischen dem populären Genre Kriminalroman und dem seit den 1990er Jahren deutlich gewachsenen literarischen und öffentlichen Interessen an der deutschen und europäischen Kolonialgeschichte eine neue Schnittmenge zu geben [scheint], die für die postkoloniale Literaturwissenschaft von Interesse ist«.37 Die Überschneidungen zwischen der literarischen Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte und der Gattungsformat des Thrillers geschieht in Zartbittertod in der generationsübergreifenden Konstellation, welche die Tradition des Afrikafamilienromans wie Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land (2003) oder Paluch u. Habecks Der Schrei der Hyänen (2004)38 aufzeichnet. Private Erinnerungen mit Bezug zu der nationalen Kolonialgeschichte werden verarbeitet. In dem Chocolaterie-Geschäft ihrer Eltern, wo Mia aufgewachsen ist, hängt ein rätselhaftes Familienfoto,

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Parr, Rolf: Die Fremde als Heimat: Heimatkunst, Kolonialismus, Expeditionen. Konstanz: Konstanz University Press, 2018, S. 9. Herrmann, Elisabeth: Zartbittertod. Thriller. München: cbj, 2018. Göttsche, Dirk: »Die Schatten der Vergangenheit«, a.a.O., S. 497. Wackwitz, Stephan: Ein unsichtbares Land. Familienroman. Frankfurt a.M.: Fischer, 2003. Paluch, Andre u. Habeck, Robert: Der Schrei der Hyänen. Roman. München: Piper, 2003. Mehr über Wackwitzs Textualität der Familiengeschichten siehe Eigler, Friederike: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. Berlin: Erich Schmidt, 2005, S. 185–226. Zu Der Schrei der Hyänen siehe Bauer, Justina: Zwischen kolonialer Reproduktion und postkolonialer Neukonstruktion. Darstellung kolonialer Vergangenheit in »Deutsch-Südwestafrika« in der deutschsprachigen Romanliteratur seit 1978. Hannover: Wehrhahn, 2015, S. 382–428.

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auf dem ein lebensgroßes Nashorn aus Schokolade zu sehen ist, zusammen mit ihren Urgroßvater Jakob und dessen Lehrherrn Gottlob Herder. Mia Arnholt aus Meißen war bekannt, dass ihr Urgroßvater als kleiner Junge mit sechs Jahren als »Pfandsklave«, als »Bambuse« aus dem damaligen Deutsch-Südwestafrika nach Deutschland gekommen war. Im Rahmen der Aufnahmeprüfung für die Hamburger Journalistenschule soll die Abiturientin Mia eine Hausarbeit über die Geschichte eines Familienfotos schreiben. Eine Hausarbeit als Vergangenheitsbewältigung, die an Siegfried Lenz Deutschstunde (1968) erinnert. Im Gegensatz zu Siggi Jepsen, der von übermächtigen Erinnerungen an seinen Vater eingeholt wird, sodass er ein leeres Heft abgibt,39 findet Mia auf dem verblichenen Foto mit ihrem Urgroßvater und dem zentnerschweren Nashorn aus Schokolade ein dankbares Recherchethema. Auf dieser Spurensuche entdeckt der Leser wie Mia gleichzeitig auch den transkulturellen Weg einiger afrikanischer Dinge nach Europa. Der Kunstspezialist Dr. Gerald Kühn, der gerade an der Darstellung des hundertjährigen Firmenjubiläums arbeitet, versucht, die hinterlassenen Erinnerungsdinge von Mias Urgroßvater (Postkarte, Briefe, Kette, Hemd,) zu entziffern und kann beispielsweise aus Jakobs Halskette, das kidani, Folgendes herausfinden: »Ein Stück aus Leder und zum Teil aus Metallperlen, Keramik, Stein und Glas gefertigt […]. Die meisten der Materialien haben die Herero von den Ovambo bekommen«,40 wohingegen die Glasperlen »von europäischen Einflüssen«41 zeugen würden. Die postkoloniale Perspektive dieser Modellierung der afrikanischen Dinge liegt darin begründet, dass die Verantwortung der europäisch-deutschen Wirtschaft bei den heutigen Reparationsforderungen in den Vordergrund gestellt wird. Mias Bruder Jandrik sagt: Deutsch-Südwestafrika war eine Kolonie. Über dieses Kapitel der Geschichte schweigt des Sängers Höflichkeit. Und das denkst du, ein Fabrikant, der den Grundstein seines Vermögens mit der Versklavung fremder Völker gelegt hat, steht dir Rede und Antwort?42 Aber Mia betrachtet das Forschungsding als ihr »trojanisches Nashorn«, womit sie »die Herders bei ihrer Eitelkeit packen«43 will, damit sie ihre Archive freigeben. Die Erzählung in Form von Rückblendungen und Flash back anhand von Gedächtnisbrocken der betroffenen Protagonisten zeigt in der Tat in den Archiven der erfolgreichen Familie und Firma Herder sowohl »Schuld« als auch »Schulden«, wie Günter 39 40 41 42 43

Lenz, Siegfried: Deutschstunde. (1968) München: dtv, 1994. Herrmann, Elisabeth: Zartbittertod, a.a.O., S. 117. Ebd., S. 117. Ebd., S. 32. Ebd., S. 33.

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Grass’ postkolonial geschulte Sprache über die Schuldproblematik in seinem Erinnerungsbuch Beim Häuten der Zwiebel (2006) differenziert: Schulden und Schuld. Zwei Wörter, so nah beieinander, so fest im Nährboden der deutschen Sprache verwurzelt, doch ist dem erstgenannten mit Abzahlung […] abmildernd beizukommen; die nachweisbare wie die verdeckte oder nur zu vermutende Schuld jedoch bleibt.44 Als Dingsymbol erscheint das Nashorn in Zartbittertod als Erinnerungsobjekt über die deutsche Schuld im Kolonialkrieg. »Es geht um eine alte Schuld, die wir irgendwann einmal bezahlen müssen. Wir haben uns an einem Land und einem Kind versündigt«,45 sagt Wilhelm Herder seinem Sohn Wolfgang. Seine Präzision, »Es geht hier nicht um Geld«,46 deutet allerdings drauf hin, dass er die Reparation dieser Schuld nicht mit Entschädigungszahlungen zu erledigen beabsichtigt. In dieser Schuldproblematik erscheint die Thematik der Ökologie als eine mögliche Buße nach der Reue. Dies ist der eigentliche politische Horizont des Romans: Denn im Kontext der zu tilgenden Kolonialschuld hat sich die Firma Herder eine ganz vernünftige Idee ausgedacht: Sie möchte nämlich ein »ökologisches Bewässerungssystem am Orange River«47 errichten. Spätestens zu dieser Zeit ist die Verbindung von den fiktionalisierten afrikanischen Naturdingen (hier des Orange Rivers) zum Gedanken über Ökologie und Entwicklung erkennbar. Im Gegensatz zur oben erwähnten postkolonialen Kritik der Oronymie der Naturdinge, welche die Raumaneignung durch die kolonialen Ortsnamen zeigt, betrifft die kritische Perspektive hier nicht die »Hydronymie«. Klarer: Angeprangert wird nicht die Tatsache, dass der Fluss bereits einen europäischen Namen trägt; vielmehr wird die Diskussion über Kolonialschuld mit dem Entwicklungstopos in Verbindung gebracht. Dies wird dem postkolonialen Projekt gerecht, das der Politikwissenschaftler Aram Ziai vorschlägt, nämlich, dass der Postkolonialismus die materiellen Praktiken der Entwicklungspolitik zu untersuchen hat.48 Der Amerikanist Hubert Zapf hat auch wiederholt aufgezeigt, dass die Literatur in diesem Sinne eine avantgardistische Rolle spielen kann, wenn sie sich als »kulturelle Ökologie«49 versteht. Elisabeth Herrmanns Roman Zartbittertod illustriert, wie man sieht, eine mögliche Rückkehr der Gesellschaft in die

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Grass, Günter: Beim Häuten der Zwiebel, a.a.O., S. 36. Herrmann, Elisabeth: Zartbittertod. Thriller, a.a.O., S. 151. Ebd., S. 151. Ebd., S. 159. Vgl. Ziai, Aram: »Postkoloniale Perspektiven auf Entwicklung«, in: Peripherie. Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt Nr. 120, 30. Jg. Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot, 2010, S. 399–426. Vgl. Zapf, Hubert: Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans. Tübingen: Niemeyer, 2002. Vgl. Ders. (Hg.): Kultur-

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Literatur.50 Diese Schreibhaltung zeigt ganz gut den politischen Horizont der untersuchten Schriftsteller*innen in ihrer Modellierung der afrikanischen Naturdinge. Sie zielen offensichtlich auf eine postkoloniale Bewusstwerdung, die mit der Absicht der nachhaltigen Entwicklung verknüpft ist.51 Eine andere Semantisierung der afrikanischen Naturdinge als nationalen Raum, die in der gegenwärtigen Afrika-Literatur aus postkolonialer Perspektive modelliert wird, betrifft die Nilquelle.

10.3 Nilquelle-Ding Die Inszenierungen der Suche nach der Nilquelle existiert in fast allen Literaturen der Gegenwart.52 Wie kaum ein anderes fiktionalisiertes Naturding wurde die Nilquelle von deutschsprachigen Forschungs- und Entdeckungsreisenden als deutscher Anteil an der Erkundung Afrikas angeführt. Ein Afrikareisender wie Richard Kandt (1867–1918)53 wird mal als der »letzte Entdecker«,54 mal als der »wahre Entdecker der Quelle des Weißen Nils«55 dargestellt. Kaum ein afrikanischer Naturgegenstand hat auch eine größere Aufmerksamkeit der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur des Kolonialismus mit Bezug zu Afrika bekommen. Durch die Rehabilitierungsversuche des Kolonialbeamten Kandt, den, wie H.C. Buch argumentiert, der Reichskolonialbund »wegen dessen jüdischer Herkunft aus der Liste der Afrika-

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ökologie und Literatur. Beiträge zu einem transdisziplinären Paradigma der Literaturwissenschaft. Heidelberg: Winter, 2008. Dazu Peters, Ursula: »Die Rückkehr der ›Gesellschaft‹ in die Kulturwissenschaft«, in: Scientia Poetica, Band 22, Heft 1, 2018, S. 1–52. Zu dieser Diskussion siehe Ziai, Aram: »Postkoloniale Politikwissenschaft. Grundlagen einer postkolonialen politischen Theorie und deren Anwendungsfehler«, in: Reuter, Julia u. Karentzos, Alexandra (Hg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden: Springer, 2012, S. 283–296. In der französischen Literatur findet man Philippe Nessmanns Roman Versteckt im Dschungel. Die Entdeckung der Nilquellen durch Richard Burton und John Speke. Roman. Aus dem Französischen von Anke Baumgartner. Kerle bei Herder, 2010. Zu Richard Kandts Leben siehe Strizek, Helmut: Geschenkte Kolonien. Ruanda und Burundi unter deutscher Herrschaft; mit einem Essay über die Entwicklung bis zur Gegenwart. Berlin: Links, 2006, S. 77ff. Vgl. Honold, Alexander: »Caput Nili. August 1898: Richard kandt gelingt die letzte Entdeckung der Nillquelle«, in: Alexander, Honold u. Scherpe, Klaus R. (Hg.): Mit Deutschland um die Welt, a.a.O., S. 226–235. Vgl. Demhardt, Imre Josef: Aufbruch ins Unbekannte. Legendäre Forschungsreisen von Humboldt bis Hedin. Darmstadt: WBG, 2011, S. 72.

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forscher strich«,56 werden auch verschiedene Modellierungen der Nilquelle sichtbar. Man findet eine kritische Relektüre der Semantisierung der Nilquelle als nationalen Raum bei dem in Bulgarien geborenen und heute in Wien lebenden deutschsprachigen Schriftsteller Ilija Trojanow.57 In seinem Roman Der Weltensammler (2006)58 geht es um das Enträtseln des »allerunbekanntesten, allerinnersten Afrikas«,59 wozu die Nilquelle gehört. Inszeniert werden die Expeditionsreisen des britischen Ethnologen, Schriftstellers, Orientalisten Sir Richard Francis Burton (1821–1890) nach Indien, Arabien und Ostafrika. Trojanows Inszenierung der Ostafrika-Etappe von Burtons Reise, wo er auf der Suche nach der Nilquelle ist, wurde von Jana Domdey zu Recht in die Kategorie der postkolonialen Einfühlungsästhetik eingestuft.60 In dem Ostafrika-Kapitel habe Trojanow die Perspektive der historisch verbürgten Gestalt Sidi Mubarak Bombay (ca. 1820–1885) so eingebaut, dass Burtons europäisch-imperiale Stimme systematisch durch Bombays Perspektive entschärft wird. Das postkoloniale Potential seiner Inszenierung der afrikanischen Dinge wird allerdings weniger in der eingebauten Stimme der Einwohner als in dem ästhetischen Verfahren der Umkehrung vom Wissensmuster erkennbar. Die Figur Speke, historisch verbürgte Gestalt von John Hanning Speke (1827–1864), der Burton in seine Entdeckungsreise durch Ostafrika begleitete, ist in Trojanows Text ein besessener Täufer der afrikanischen Naturdinge durch europäischen Symbolnamen: Er [Bwana Speke] gab allen Orten, die er auf jener Reise erblickte, […] gleich einen Namen, so als verteile er Geschenke an Kinder aus armen Familien. Kaum hatte er sich für einen Namen entschieden, bat er mich, die Träger von dem neuen Namen in Kenntnis zu setzen. […] Bevor Bwana Speke wusste, wie das andere Ufer des Sees, die andere Seite des Hügels, das andere Ende des Tals aussah, hatte er dem See, dem Hügel, dem Tal schon einen Namen gegeben.61 Noch mehr: Speke betrachtet seine Namensgebung nicht nur als eine Taufe im kolonial-missionierenden Sinne, sondern als ein christlich-europäisches Einsegnung. 56 57 58 59 60

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Buch, Hans Christoph: Sansibar Blues oder: Wie ich Livingstone fand. Frankfurt a.M.: Eichborn, 2008, S. 21. Vgl. seinen autobiografisch-politischen Essay, Trojanow, Ilija: Nach der Flucht. Frankfurt a.M.: Fischer, 2017. Trojanow, Ilija: Der Weltensammler. Roman. München: Hanser, 2006. Hamann, Christof: »Afrika«, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2008, S. 9–11, hier S. 11. Domdey, Jana: »Intertextuelles Afrikanissimo. Postkoloniale Erzählverfahren im OstafrikaKapitel von Ilija Trojanows Der Weltensammler (2006)«, in: Acta Germanica. German Studies in Africa 37, 2009, S. 46–64. Trojanow, Ilija: Der Weltensammler, a.a.O., S. 481.

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Der Unterschied liegt darin, dass der Missionar im kolonialen Kontext Menschen mit ihren Lokalnamen findet, denen er dann quasi einen anderen Namen zulegt.62 Als die Einheimischen Speke daran erinnern, dass der See, den er jetzt mit dem Namen »Victoria« tauft, schon den Namen Nyanza trägt, wird er zornig und schreit: »Unfug […] wie kann er einen Namen haben, ich habe ihn heute erst entdeckt«,63 was zeigt, dass er seine Aktivität oronymisch nicht wie eine Umbenennung betrachtet, sondern wie eine Taufe. Man kann in Spekes Tätigkeit eine »koloniale Aneignung«64 sehen, aber erzähltechnisch wichtiger ist zu beobachten, dass der Sprecher im Text der intradiegetische Erzähler Sidi Mubarak Bombey ist. Und Bombey ist Afrikaner, oder genauer ein Afrikaner mit transkulturellem Hintergrund, wie Dirk Göttsche treffend präzisiert.65 Da er kein westlicher Europäer ist, wird er in dem postkolonialen ZweiWelten-Modell automatisch in die Ecke der unterrepräsentierten Peripherie geortet. Der postkoloniale Diskurs teilt die Welt nämlich in europäisches Zentrum und afrikanische Peripherie ein. In diesem Zusammenhang liegt die postkoloniale Kritik darin, dass sich die Stimme der vermeintlich unterrepräsentierten Afrikaner über diesen europäischen Kult der toponymischen Benennung der Naturdinge mokiert. Dabei bilden die rassistischen Stereotype des Kolonialprojekts das Zielobjekt dieses Spotts. Mit dem Bild der »Geschenke an Kinder« nach der Taufe und die Verkündung des Namens an die Träger sieht man die vormalige Funktion der Mission im Kolonialunternehmen. Zum Schluss lässt der Erzähler im Textauszug die Idee durchklingen, dass diese Taufstunden vor der eigentlichen wissenschaftlichen Erschließung der afrikanischen Dinge Vorrang hatte: Speke kennt den Namen der Dinge, bevor er die Dinge sieht; was eigentlich jedweder Rationalität entbehrt. Sagte Immanuel Kant nicht, dass Begriffe ohne Anschauung blind sind?66 Dies verweist wiederum auf den oben erwähnten Kontrast zwischen der afrikanisch-logozentrischen und der europäisch-semiotischen Ordnungen der Dinge. Deutlicher wird diese Opposition im Text durch Bombays Erklärung darüber, was eine Quelle ist. Ihm zufolge kann die von den Europäern gesuchte Quelle des Nils nicht in dem Wort liegen, das sie verwenden, um eine Quelle zu bezeichnen, denn

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Vgl. Reinhard, Wolfgang: »Der Missionar«, in: Zimmerer, Jürgen (Hg.): Kein Platz an der Sonne, a.a.O., S. 282–293. Trojanow, Ilija: Der Weltensammler, a.a.O., S. 482. Schmiedel, Roland: Schreiben über Afrika, a.a.O., S. 276. Dirk Göttsche zeigt diese Faszination der deutschsprachigen Literatur für transkulturelle Figuren in Afrika am Beispiel von H.C. Buchs Schreibhaltung. Vgl. Göttsche, Dirk: »Hans Christoph Buch’s Sansibar Blues and the fascination of cross-cultural experience in contemporary German historical novels about colonialism«, in: German Life and Letters 65 (1), 2012, S. 27–146. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. 75.

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das Wasser, das die in ihren Augen Nicht-Quellen in den See gießen, »nährt den Fluss, den sie Nil nennen«.67 Durch diese gegensätzlichen Sichtweisen über die Naturdinge wird die phänomenologische Theorie der »Dinge und Undinge«68 literarisch erprobt. Im Gegensatz zum Philosophen der Aufklärung, Immanuel Kant (1724–1804), der in seiner semiotisch geprägten ›Ordnung der Dinge‹ das »Unding« (nihil negativum) als einen »leeren Gegenstand ohne Begriff«69 versteht, erkennt Bombays logozentrische Sicht der Dinge ein »Unding« eher als einen Begriff ohne konkreten Gegenstand. Das Schein-Ding ist hier die von den Europäern angeblich entdeckte Quelle, während das richtige Ding in Bombays Augen in der verborgenen, unentdeckbaren, weil sinnlich nicht erfassbaren Welt zu suchen ist. Klarer: Wer die richtige Quelle des Nils kennen will, müsste wie in der Märchenwelt70 imstande sein, die verschiedenen Wassersorten nach ihrem jeweiligen Ursprungfluss auseinanderzutrennen. Bis dahin kann die Nilquelle in Bombays Logik nur so sehr einleuchtend wie Kafkas »Odradek«71 sein, d.h. wie eine Form, die in der Welt nicht vorkommt, aber die »die Dinge in der Vergessenheit annehmen«72 (um mit Walter Benjamin zu sprechen). Schließlich liegt die postkoloniale Kritik darin, dass Spekes Gewohnheit als eine typisch europäische Eigenart beschrieben wird, wie folgende Verallgemeinerung mit dem Personalpronomen »sie« im Plural zeigt: »Für sie war jedes Dorf, jeder Fluss, jeder See, jeder Wald wie eine Jungfrau, und sie hatten Begierden von Riesen, die nur zufriedenstellen waren, wenn sie sich all dieser Jungfrauen bemächtigen konnten«,73 sagt Bombay. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird die Erzählhaltung des Autors evident. Dass ein Afrikaner mit orientalischem »Migrationshintergrund« namens Bombay von den Jungfrauen weiß, ist ein Klischee, kann dennoch in den narrativ evozierten Plausibilitätsfragen als vorstellbar gelten. Allerdings ist der Intertextbezug zu den »Begierden von Riesen« eher in die Kategorie des Wissens beim Autor als des Nicht-Wissens bei einem in Ostafrika im 19. Jahrhundert

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Trojanow, Ilija: Der Weltensammler, a.a.O., S. 478. Vgl. Flusser, Vilém: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen. Mit einem Nachwort von Florian Rötzer. München: Hanser, 1993. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. 292. Über Undinge in der Märchenwelt siehe Körte, Mona: »Unding«, in: Scholz, Susanne u. Vedder, Ulrike (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, a.a.O., S. 448–451. Kafka, Franz: Die Sorge des Hausvaters. In: Ders.: Drucke zu Lebzeiten. Hg. von Wolf Kittler. Frankfurt a.M.: Fischer, 2002, S. 282–284. Benjamin, Walter: Franz Kafka. In: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann. Bd. II.2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992, S. 409–438, hier S. 431. Über die Epistemologie von Kafkas »Odradek« siehe Vedder, Ulrike: »Das Rätsel der Objekte: Zur literarischen Epistemologie von Dingen. Eine Einführung«, a.a.O., S. 11f. Trojanow, Ilija: Der Weltensammler, a.a.O., S. 393f.

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lebenden Erzählers einzuordnen. Letzterer müsste schon einiges über die germanische Mythologie und ihre Götterwelt etwa bei Tacitus gelesen haben. Dort hat man nämlich etwa in der Erzählung vom Riesenbaumeister, wie Rudolf Simek, ein Kenner dieser Zeit, schreibt, »eine Reihe von Ortsnamen […] zu einem Kult der Freyja gestellt«74 , wobei diese Liebesgöttin »auch das Objekt der Begierde von Riesen«75 war. Indem Trojanows diese Rhetorik, die eher zum speziellen Bildungswissen eines vorzugsweise europäischen Akademikers gehört, in den Mund seiner afrikanischen Figur legt, spricht der Autor an der Stelle seiner Figur und lässt ihn seine eigene Perspektive verkörpern. Aber Trojanow versteht diesen legitimen Zweifel an seiner Art der Stimmgabe an die ›Subalternen‹ als eine ernüchternde Reproduktion der alten kolonialistischen Reflexe.76 Doch dies dahingestellt: Diese Schreibhaltung hilft jedenfalls dem Rezipienten dabei, Trojanows persönliche Stellung in der eingangs erwähnten Diskussion über die Vereinnahmung der afrikanischen Naturdinge als Teilelemente des deutschen Heimatsraums zu deuten.

10.4 Zusammenfassung Bei der Beschäftigung mit der Modellierung der afrikanischen Naturdinge (Kilimandscharo, Usambara, Orange River, Nilquelle) hat sich das postkoloniale Potential der gegenwärtigen Afrikaliteratur aufgezeigt. Sichtbar wird es vor allem durch die kritische Haltung der Autor*innen gegenüber der Raumaneignung bzw. der Vereinnahmung der afrikanischen Berge, Wasserquellen und Gewässer durch die europäische Imagination. Die subversive Verschiebung besteht darin, die im kolonialen Afrikadiskurs entworfenen Wissensmuster umzukehren. Das postkoloniale Potential wird aber auch durch den ästhetischen Versuch sichtbar, die Frage der kolonialen Schuld durch den Topos der Entwicklungspolitik zu lösen. In den analysierten Texten kann man leicht feststellen, dass die Schriftsteller*innen durch ihre Neuschreibung der Kolonialgeschichte darum bemüht sind, diese kolonialen Konstruktionen der afrikanischen Dinge als Teilelement des deutschen Raums mit einer subversiv-kritischen Einstellung darzustellen. Ein anderes Schwerpunkthema der postkolonialen Diskussion, das dichterische Gestalt in der zeitgenössischen Afrikaliteratur findet, ist die Thematik der afrikanischen Rohstoffe und ihre Rolle in der Entwicklungspolitik.

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Simek, Rudolf: Götter und Kulte der Germanen. 4. Aufl. München: Beck, 2016, S. 81. Ebd., a.a.O. Schobel, Eva: »Allah und Olé. Gespräch mit Ilija Trojanow«, in: Die Presse vom 14.09.2007. Abrufbar unter: https://www.diepresse.com/330095/allah-und-ole. [Stand vom 23.11.2019].

11 Blutdiamanten und andere Rohstoff-Dinge

11.1 Die postkoloniale Kritik Angeblich soll der Tierschutzgedanke so alt wie die Welt und in der Bibel und im Talmud verankert gewesen sein; so jedenfalls die Paradeantwort auf Arthur Schopenhauers (1788–1860) antisemitische Auslassungen über die vermeintliche Tierfeindlichkeit der Juden.1 Offensichtlich hat diese Diskussion das scheinbar kulturverbreitende Kolonialprojekt nicht geprägt. Im Fall von Afrika im Zeitalter des Imperialismus hat Jürgen Wächter aufgezeigt, dass sich das Projekt des kolonialen Artenschutzes, das durch die Unterstützung des Kaisers Schutzmaßnahmen bekam, vom Tierschutzgedanken (Wohlergehen einzelner Individuen) abgegrenzt habe.2 Abgesehen vom evident zelotischen Eifer der Tierschützer kann dennoch nicht ausbleiben, dass die Kolonialismuskritik bei dieser Bewegung die Funktion eines zusätzlichen Zündstoffs für die vom Kaiser als zentral bewerteten Schutzmaßnahmen gespielt hatte. Joseph Conrads Geißeln des Elfenbeinhändlers Kurtz in Herz der Finsternis hatte nicht nur drauf abgezielt, den zeitgenössischen europäischen Lesern über die Folgen der rücksichtslosen Jagd nach Elfenbein auf das Leben des Kolonisierten selbst vor Augen zu führen, sondern auch gleichsam eine Kritik am Konsum des Elfenbeins in Europa zu üben. Schon am Anfang des Textes3 lässt die Rahmenerzählung folgende Situation sichtbar werden: Die Herrschaften auf der Nelly, die eine Dominopartie organisieren wollen, lassen die ausgepackte Dominoschachtel unberührt und unbeachtet liegen, sobald Marlow mit seinem Bericht über die skrupellose Jagd nach Elfenbein in Kongo anfängt. Mattias Lorenz hat treffend bemerkt, dass die Dominosteine im 19. Jahrhundert oft aus Elfenbein gefertigt wurden, was zeigt, dass Conrad andeuten will, dass die britische Marktwirtschaft Anteil an dem hat, was im 1

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Zu Diskussion siehe Abschinitt »Vom ›ältesten Tierschutzgedanken der Welt‹ zur modernen Ökokaschrut- Bewegung«, in: Baranzke, Heike: Würde der Kreatur? Die Idee der Würde im Horizont der Bioethik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002, S. 363ff. Wächter, H. Jürgen: Naturschutz in den deutschen Kolonien in Afrika (1884–1918). Münster u.a.: LIT, 2008, S. 16. Conrad, Joseph: Herz der Finsternis, a.a.O., S. 3.

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Kongo passiert.4 Insofern fungiert das narrativ evozierte Schicksal der Elefanten als Elektroschock, um die damalige Gesellschaft aus dem Schlafe aufzurütteln und für den Tierschutzgedanken zu sensibilisieren. Sicherlich haben solche kolonialkritischen Stimmen dazu geführt, dass das europäische Kolonialprojekt sich etliche ethisch-tragbare Gründe ausdenken musste. Einer dieser Gründe war selbstverständlich der zivilisations- bzw. lichtbringende Gestus des Kolonialismus, der der Jagd auf die afrikanischen Wildtiere quasi Gesetzeskraft verleihen konnte. Anziehungskraft für Kinozuschauer genoss beispielsweise ein Film mit dem vielsagenden Titel Nashornjagd in Deutschost-Ost-Afrika (1914). Wolfgang Fuhrmann hat sich für die Rezeption dieses Films interessiert und stellt fest, dass die Presse und das Publikum ihn begeistert aufgenommen hatten, weil er den kolonialistischen Diskurs verbreitete, wonach man zur Sicherheit der Afrikaner die gefährlichen Wildtiere töten müsse.5 Angeblich musste man auf den Vorabend der Dekolonisierung warten, bevor die Kolonialkritik dem europäischen Konsumenten den Grundgedanken des ethischen Konsums nahebringen konnte. »Der ethische Konsum hatte einen christlichkolonialen Hintergrund«,6 so erklärt sich der Konsumforscher Frank Trentmann die Entstehung der Fairtrade-Siegel. Argumentiert wird, dass die ersten Gründer der Oxfam-Läden oft ehemalige Missionare waren, die in den 1960er Jahren Handwerksprodukte wie zum Beispiel die afrikanischen handgemachten Perlen und Verzierungen verkauften. Vom Fairtrade-Siegel bis zum offiziellen Verbot des Elefantenhandels durch die UN-Artenschutzkonferenz im August 20197 ist viel Wasser unter den Brücken hindurchgeflossen. Zwischen dem oben erwähnten Kino der Kolonialzeit und dem 2011 in deutschen Kinos gezeigten Serengeti, der an die Verantwortung der Zuschauer appelliert, »den Tieren jenes ›freie, wilde Land‹ […] zu erhalten, damit ›die große Wanderung wie schon seit Jahrtausenden weitergehen kann‹«,8 ist sicherlich eine fortschrittliche Veränderung in dem Geschmack des Kinopublikums geschehen. Dass dieser Film auch aus postkolonialer Sicht der Vorwurf gemacht wird, er würde die Perspektive der afrikanischen Bevölkerung nicht in Betracht ziehen,9 illustriert den Diskussionsbedarf in der Öffentlichkeit selbst bei wohlwollenden Inszenierungen der Kolonialgeschichte. An dieser Debatte nehmen die deutschsprachigen Schriftsteller*innen durch verschiedene Schwerpunktthemen teil, etwa durch den ethischen Konsum vom Elfenbein. 4 5 6 7 8 9

Lorenz, Matthias N.: Distant Kinship, a.a.O., S. 36. Fuhrmann, Wolfgang: »Der Urwald«, a.a.O., S. 60. Trentmann, Frank: Herrschaft der Dinge, a.a.O., S. 769. Vgl. Eichhorn, Christoph: »Artenschutz-Konferenz. Export-Verbot für Afrikanische Elefanten«, https://www-sueddeutsche-de.cdn.ampproject.org [Stand vom 15.09.2019]. Gißibl, Bernhard u. Paulmann, Johannes: »Serengeti darf nicht sterben«, in: Zimmerer, Jürgen (Hg.): Kein Platz an der Sonne, a.a.O., S. 96–108, hier S. 96. Ebd., S. 107.

11 Blutdiamanten und andere Rohstoff-Dinge

11.2 Elfenbein-Ding Im Zeitalter des Imperialismus und im Kontext des Wettlaufs um Afrika war das afrikanische Elfenbein ein großes Business in Europa. Zwischen 1870 und 1890 sollen jährlich bis 70.000 afrikanische Elefanten getötet worden sein.10 Offensichtlich hat sich seit dem Vorabend der Dekolonisierung bis zur heutigen durch die postkoloniale Kritik geprägten Gegenwart das Konsumverhalten in Bezug auf Elfenbein nicht viel geändert. Nach Schätzungen der Weltnaturschutzunion (IUCN) soll zwischen 1980 und 2015 die Zahl der afrikanischen Elefanten von rund 1,3 Millionen auf nur noch 415.000 gesunken sein. In ihrer Funktion als »Reflexion und gegebenenfalls Transformation kultureller Wahrnehmungen«11 hatte die postkoloniale Literaturkritik auch schnell erkannt, dass dies auch eine Auswirkung des Kolonialismus ist. Diese Vernetzung von Nachwirkungen der Kolonialgeschichte und nachhaltiger Konsumgesellschaft scheint für die deutschsprachige Afrikaliteratur der Gegenwart von Interesse zu sein. Dieser postkoloniale Blick befindet sich in Ilija Trojanows Roman Macht und Widerstand (2015).12 Die Handlung betrifft zwar spezifisch die osteuropäische Erfahrungswelt von der Zeit des Kalten Krieges bis in die Gegenwart.13 Aber der postkolonial und interkulturell geschulte Schriftsteller verpasst nicht die Gelegenheit, um an der globalpolitischen Diskussion um afrikanische Rohstoffe teilzunehmen. In den von Konstantin und Metodi erzählten Kapiteln kommt die kritische Haltung über den Konsum vom afrikanischen Dingen zum Tragen. In der Binnenerzählung haben die bulgarischen Figuren ganz besondere Verhältnisse zu afrikanischen Dingen. Der Widerstandskämpfer Konstantin Scheitanow trinkt nur noch aus einer kleinen Plastikwasserflasche, die er seit Jahren aufbewahrt, weil er sie in Paris »von einem buntgekleideten Afrikaner, der mich fröhlich anlächelte«14 gekauft habe. Die Erzählerintention ist hier zweibödig. Auf der

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Vgl. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt, a.a.O., S. 555. Neumann, Birgit: »Methoden postkolonialer Literaturkritik und anderer ideologiekritischer Ansätze«, in: Nünning, Vera u. Nünning, Ansgar (Hg.): Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Ansätze – Grundlagen – Modellanalysen. Stuttgart: Metzler, 2010, S. 271–292, hier S. 272. Tojanow, Ilija: Macht und Widerstand. Roman. Frankfurt a.M.: Fischer, 2015. Vgl. Klocke, Sonja E.: »Macht und Widerstand im post-sozialistischen Europa: Nomenklatura und Staatssicherheit nach 1989 in der Gegenwartsliteratur«, in: Adler, Hans u. Dies. (Hg.): Protest und Verweigerung: Neue Tendenzen in der deutschen Literatur seit 1989. München: Fink, 2019, S. 63–92. Vgl. Bidmon, Agnes: »Streng vertraulich! Dokufiktionales Erzählen als Schreibweise des Politischen in der Literatur der Gegenwart anhand von Ilija Trojanows Macht und Widerstand«, in: Lubkoll, Christine; Illi, Manuel u. Hampel, Anna (Hg.): Politische Literatur. Abhandlungen zur Literaturwissenschaft. Stuttgart: Metzler, 2018, S. 421–440. Trojanow, Ilija: Macht und Widerstand, a.a.O., S. 71.

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einen Seite wird die unreflektierte postsozialistische Systemtransformation angeprangert. Unreflektiert deswegen, weil der bis dato angeprangerte Dingfetischismus nach der Wende plötzlich idealisiert wird. Denn die erzählte Zeit ist nach der Wende, in der Zeit, als die Plastikflaschen im Westen schon lange nicht mehr als Zeichen der Modernität, sondern der Dekadenz galten. Während ein Film wie Plastic Planet (Österreich, 2009)15 damit wirbt, dass die Zuschauer niemals mehr aus einer Plastikflasche trinken, betrachtete Konstantin dieses Objekt als Souvenirs, als Beweis dafür, dass er in Paris war, und trinkt nur noch aus dieser Plastikflasche. Auf der anderen Seite gilt der Zusammenhang, der zwischen der Plastikflasche und dem lachenden Afrikaner hergestellt wird, als eine postkoloniale Kritik. Denn das absichtlich eingebaute Klischee über das Lachen des Afrikaners, das den Grund erklären soll, warum Konstantin seine Trinkflasche kauft, wird gleichzeitig durch das Evozieren der Farben seiner Kleidung entschärft. Man denke an Walter Benjamins Warnung, wenn er der Kleidung antizipatorische Kräfte über die »kommenden Dinge«16 zuschreibt. In der Tat geht die kritische Perspektive des Textes in Richtung der von Senghor postulierten revanchistischen Haltung gegenüber der abwertenden Inszenierung des afrikanischen Lächelns, wenn er in seinem Gedicht Schwarze Hostien davon träumt, die Reklameplakate für Kakao-Banania von allen Wänden Frankreichs herunterzureißen.17 Trojanows Text ist schon deswegen postkolonial besetzt, weil Konstantins Vorliebe für das afrikanische Lächeln aus der Erzählperspektive nicht affirmativ evoziert wird, sondern vielmehr eine kritisch-subversive Funktion innehat. Zugleich kann seine Vorliebe für die Plastikflasche und die Erinnerung an das Banania-Lächeln des Afrikaners schwer anders interpretiert werden als der bekannte Topos vom ›Dreck‹ als Materie am falschen Ort im Sinne von »Excremental Postcolonialism«.18 Sabine Schülting schreibt über diese postkoloniale Literaturkritik: In postkolonialen Literaturen entwickelt sich an der Mitte des 20. Jahrhunderts eine Form literarischen Schreiben, die Joshua D. Esty als »excremental postcolonialism« (1999) bezeichnet hat. Die europäische Assoziation der ehemaligen Kolonien mit Dreck wird anzitiert und gleichzeitig als Mittel der Gesellschaftssatire

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Vgl. Pretting, Gerhard u. Boote, Werner: Plastic planet: die dunkle Seite der Kunststoffe. Das Buch zum Film] Freiburg: Orange-Press, 2010. Benjamin, Walter: Das Passagen- Werk (1940), in: Ders: Gesammelte Schriften Hg. von Rolf Tiedemann. Band V/1. [Mode]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991, S. 110–132, hier S. 112. »Mais je déchirerai les rires Banania sur tous les murs de France«, Senghor, Léopold Sédar: Hosties Noires. Paris: Seul, 1948, S. 7f. Vgl. Esty, Joshua D.: »Excremental Postcolonialism«, in: Contemporary Literature 40/1, 1999, S. 22–59.

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und/oder Kritik an westlichen Hygienediskursen und ihren rassistischen bzw. kolonialen Grundannahmen appropriert.19 Im narrativ evozierten Verhalten des bulgarischen Widerstandskämpfers Konstantin fungiert die Plastikwasserflasche als eine Metapher für seine Selbstpositionierung in der Verwestlichung des ehemaligen Blocks nach der Wende, bei seinem ersten und einzigen Besuch in Paris. Das ist aber der uneigentliche Ausdruck der Metapher. Die eigentliche Ausdruckweise wird in der Tatsache sichtbar, dass Trojanow diese osteuropäische Erfahrung in Verbindung mit »African-ness« bringt – man denke an Senghors oben erwähnte Negritude-Wut. In diesem Zusammenhang versteht man, dass Trojanow hier eine kritische Stellung gegenüber dem ›exkrementalen‹ postkolonialen Blick nimmt. Die Kritik jenes ›exkrementalen‹ Blicks wird auch bei einer anderen Figur sichtbar, namentlich dem Elefantenjäger Žiwkow. Die historisch verbürgte Figur Todor Schiwkow (1911–1998) war ein kommunistischer Bulgarischer Politiker. In der Erzählung des opportunistischen Geheimdienstmannes Metodi erfährt man, dass er seine Jagdabenteuer in Afrika als Staatsbesuche betrachtet. Im Text heißt es: Jahre später war Žiwkow auf Staatsbesuch in Afrika, zur Jagd eigentlich, kam mächtig zufrieden zurück, hatte ’nen Elefanten zur Strecke gebracht. Das Foto ließ er sich im Büro aufhängen, sein ganzer Stolz, daneben ein Bild von ihm und dem fetten Bayern, zwischen beiden ein erlegter Keiler, und was für einer, ’n gewaltiges Trumm, nur nennen wir so was hierzulande nicht gleich Großwild.20 Zwar erwähnt Trojanow nicht den Chiffre-Namen für die Elefantenjagd als Staatsbesuch in Afrika, den König von Spanien, Juan Carlos.21 Aber er greift offenkundig das Problem der fehlenden Beispielhaftigkeit solcher Gesten auf. Die evozierte Gestalt des »fetten Bayern«, des an Franz Josef Strauß (1915–1988) erinnernden »Elefantenmachers«,22 dessen Freundschaft mit Schiwkow sowie ihre gemeinsamen dubiosen Geschäfte und Jagdvergnügen in Afrika bekannt sind,23 illustriert, woher der 19 20 21

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Schülting, Sabine: »Dreck«, in: Scholz, Susanne u. Vedder, Ulrike (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur, a.a.O., S. 395–396, hier S. 396. Trojanow, Ilija: Macht und Widerstand, a.a.O., S. 71. Vgl. Eintrag »Juan Carlos. Mücke oder Elefant?«, in: Kirchner, Sebastian u. Breyer-Mayländer: Manager in der Öffentlichkeit – Fettnäpfchen kennen und meiden: Mit Fallbeispielen und praxisnahen Checklisten zum Kommunikations-Selbsttest und PR-Audit. Wiesbaden: Springer, 2014, S. 70–71. Ausdruck bei Lambrecht, Rudolf und Mueller, Michael: Die Elefantenmacher. Wie Spitzenpolitiker in Stellung gebracht und Entscheidungen gekauft werden. Frankfurt a.M.: Eichborn, 2010, S. 162. Zur »Freundschaft zwischen Strauß und Schiwkow« siehe Schlötterer, Wilhelm: Wahn und Willkür: Strauß und seine Erben oder wie man ein Land in die Tasche steckt. München: Heyne, 2013, S. 64. Zu Strauß’ Aktivitäten beispielsweise in Togo siehe Yigbe, Gilber Dotsé: »Togo. Land

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

Wind weht. Dass Žiwkow den Kapitalismus angreift, der nicht mal imstande sei, die angeblich gesunden Grapefruits zuckersüß schmecken zu lassen, wie er sie in Tansania und Guinea probiert habe, und dennoch den Tierschutzgedanken nicht kennt, illustriert den oben erwähnten Dreck-Postkolonialismus wieder. Die den fiktiven Erzählungen zugrunde liegende postkoloniale Kritik ist offensichtlich die ökologische Gefahr, die die Ausbeutung der afrikanischen Rohstoffe für die Welt darstellt.

11.3 »Nashorn« als Ding-Symbol für Schuld Ein anderer Rohstoff tierischen Ursprungs, dessen Literarisierung mit einem postkolonialen Potential beladen ist, ist das Horn des Nashorns. Die Erzählungen beruhen angeblich auf einen Hokuspokus-Glauben. In Leah Bachs oben untersuchtem Roman Der Himmel über dem Kilimandscharo (2019) findet man ein Gespräch zwischen Charlotte Ohlsen und Klara, in dem von der aphrodisischen Wirkung des Horns eines Nashorns die Rede ist. Klara meint: »Gewiss hat er [der Inder Kamal Singh] früher selbst Sklaven gehalten. Und dieses Zeug, das sie aus Tierhörnern machen – nichts als Aberglaube und Hokuspokus«.24 Charlotte aber meint: »Ein Geschäft war ein Geschäft – und wenn die Käufer dieser Pülverchen daran glaubten, es könne ihre Manneskraft erhöhen –, warum nicht? Vielleicht half es ja tatsächlich, wer könnte das schon genau wissen.«25 Diese Diskussion zeigt, dass beim Nashorn-Ding weniger das ›Dingliche‹ selbst als vielmehr die Beziehung des Menschen zu dieser Materialität problematisiert wird. Dabei ist diese Mensch-Ding Beziehung in der Afrikaliteratur in allen ihrer Facetten, von Trivialliteratur über Reiseberichte bis hin zu fiktiver postkolonialer Literatur, zugegen. Dass bei diesen Literarisierungen ein Erziehungspotential postuliert wird, zeigt das Interesse der Kinder- und Jugendliteratur für das Thema Nashorn. Patricia Purtschert hat herausgearbeitet, dass die Autoren des Schweizer Kinderbuchs Globi bei den Nashörnern (2007)26 von früherer Rassismuskritik an ihren Texten gelernt hätten, um im vorliegenden Text eine interkulturelle bzw. postkoloniale Schreibhaltung zu zeigen. Typisch hierfür sei, dass sie Globis afrikanische Kollegen weniger exotisch porträtieren und ihnen vielmehr eine Stimme geben. Sie schreibt: »Tom, der Nashornwärter, trägt eine Schildmütze, Turnschuhe und eine Uniform, lebt in einer modernen Welt und scheint mit Globi, der als Zeichen seiner

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einer anachronistischen Germanophilie?«, in: Bechhaus-Gerst, Marianne u. Zeller, Joachim (Hg.): Deutschland postkolonial? a.a.O., S. 159–167, hier S. 165. Jacobs, Anne (Leah Bach): Der Himmel über dem Kilimandscharo, a.a.O., S. 274. Ebd., a.a.O. Lendenmann, Jürg u. Schmid, Heiri: Globi bei den Nashörnern. Zürich: Globi-Publishing, 2007.

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kulturellen Offenheit ein afrikanisches Amulett trägt, auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten«.27 Dass Globi den Afrikanern zeigt, wie man Messergriffe aus dem afrikanischen Hartholz statt aus Nashorn herstellen kann,28 wurde von Patricia Purtschert zu Recht als eine koloniale Geste und die Schreibhaltung im Text als koloniale Narrative gedeutet.29 Betrachtet man den Text aus rezeptionsästhetischer Sicht, kann man dennoch hier eine postkoloniale Perspektive herauskristallisieren. Denn die intendierten Leser des Textes sind weniger die Afrikaner als vielmehr deutschsprachige Schulkinder. In diesem Zusammenhang kann die Inszenierung dieser kolonialen Geste weniger eine affirmative als eine kritische Funktion besetzen. Es ist zwar eine Ablehnung der Einfühlungsästhetik, die aber die Möglichkeit der Kolonialkritik nicht ausklammert. Diese Einstellung befindet sich nicht nur in Schweizer Kindergeschichten, sondern auch in postkolonialen fiktiven Texten. Matto Kämpf, der nicht in Verdacht steht, Rassismus zu verbreiten, inszeniert sie in seiner Schweiz-Satire Kanton Afrika von 2014 wie folgt. […] eine energische Weibsperson mit kurz geschorenen Haaren, soeben zurückgekehrt aus Afrika. Ihre Haut war gegerbt und ihr Zahnfleisch gesprenkelt. […] Sie setzte sich auf ein Sofa und nagte an einem Nashornknochen. Sie sei aus bester Basler Gesellschaft, flüsterte der Professor mir ins Ohr, gestern nach einundzwanzig Jahren aus Afrika heimgekehrt. Nach einer Weile legte sie den Knochen beiseite, zog sich eine Prise Schnupftabak in die Nase und wandte sich ans Publikum. Der Schnupftabak stamme aus dem Kongo und werde aus moosgewordenen Ahnen gewonnen.30 In seiner Habilitationsschrift glaubt Matthias Lorenz in der hier porträtierten Frau Annemarie Schwarzenbach31 zu erkennen, deren intertextuellen Züge an Joseph

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Purtschert, Patricia: »›De Schorsch Gaggo reist uf Afrika‹. Postkoloniale Konstellationen und diskursive Verschiebungen in Schweizer Kindergeschichten«, in: Dies.u. Lüthi, Barbara u. Falk, Francesca (Hg.): Postkoloniale Schweiz, a.a.O., S. 89–116, hier S. 110f. »Bald schon stehen Kunden lange/vor den Holzgriff-Messern Schlange,/Grenadil [afrikanisches Hartholz] liegt wieder vorn«,/Ladenhütter wird das Horn.«, Lendenmann, Jürg u. Schmid, Heiri: Globi bei den Nashörnern, a.a.O., S. 30ff. Purtschert, Patricia: »›De Schorsch Gaggo reist uf Afrika‹«, a.a.O., S. 112. Kämpf, Matto: Kanton Afrika. Eine Erbauungsschrift. Luzern: Der gesunde Menschenversand, 2014, S. 39f. Die Schweizer Journalistin, Schriftstellerin und Fotoreporterin Annemarie Schwarzenbach (1908–1942), deren Freundschaft mit Klaus Mann bekannt ist, unternahm eine 1941 Reise nach Léopoldville (heute Kinshasa) und Brazzaville. Dort macht sie die Erfahrung einer heimatslosen Europäerin. Nachdem sie auf ihr Schweizer Staatsrecht durch ihre Heirat mit dem französischen Diplomat Claude Clarac verzichtete, versagte ihr die Behörde der

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Conrads Figur Marlow erinnern würden.32 Abgesehen von dem Bezug zur Conrads Kolonialismuskritik muss man sich fragen, welche Rolle die Nashornknochen bei dieser seltsamen Frau in Matto Kämpfs Persiflage spielen. Das Ding steht einfach da, wird ohne Funktion im Bericht erwähnt und, in dem Moment, in dem der Leser glaubt, seine Nützlichkeit könne nun beschrieben werden (Stichwort: die Prise Schnupfpulver), wird eine ominöse Geschichte von moosgewordenen Ahnen erzählt. Dabei fungiert diese Geschichte als eine »uneigentliche Bedeutung«,33 wie Anke-Marie Lohmeier für die Theorie des Films fruchtbar gemacht hat. Sie erklärt: Auch Bilder evozieren Konnotationen. […] Und wie in der Sprache spielen sie auch hier eine gewichtige Rolle als potentielle Sinnsignale, als ›Scharniere‹ zwischen eigentlichen und eigentlichen Bildbedeutungen, mit denen der Bildtext die Konstitution uneigentlicher Bildbedeutungen steuern kann.34 Vor dieser Folie wird ersichtlich, dass das narrativ evozierte Bild der Nashornknochen hier die eigentliche Bedeutung innehat. Das Nichts-Tun des Nashorn-Dings illustriert keineswegs eine Impotenz der literarischen Beschreibung. Die Geschichte der moosgewordenen Ahnen ist eine rhetorische Digression,35 die hier dazu dient, eine Steigerung zu bekommen und den Fokus auf das nichtbeschriebene Ding zu richten. Anstatt einer sprachlichen Erfassung des Nashorn-Dings erscheint somit eine stumme Einfühlung mit dem Ding. Dieses Einfühlen und dieses Nicht-Erzählen werden zum Totem stilisiert, wobei die Verhaltensvorschrift hier die Sensibilität für das Ding ist, d.h. das Verzichten auf den Konsum des Hornpulvers. Im Gegensatz zum oben erwähnten Helden der Kinderliteratur, Globi, der explizit sagt »Holz statt Horn« und die Kritik des Rezipienten über seine Bevormundung einstecken muss, begnügt sich die Rückkehrerin aus Afrika hier damit, eine Prise ihres ominösen Tabaks zu nehmen, während die Nashornknochen einfach da liegen. Somit verschwindet der Eindruck der kolonialen Bevormundung, während die postkoloniale

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»France libre« die Anerkennung ihrer französischen Staatsbürgerschaft, weil ihr Mann im Dienste der Regierung von Vichy stand. Durch politische Verdächtigungen in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt, begann Schwarzenbach mit der Niederschrift ihres Romans Das Wunder des Baums. (Aus dem Nachlass herausgegeben und mit einem Nachwort von Sofie Decock, Walter Fähnders und Uta Schaffers. Zürich: Chronos, 2011) Zu Schwarzenbachs Leben und Werk siehe Carbone, Mirella (Hg.): Annemarie Schwarzenbach. Werk, Wirkung, Kontext. Bielefeld: Aisthesis, 2010. Lorenz, Matthias N.: Distant Kinship, a.a.O., S. 473. Lohmeier, Anke-Marie: Hermeneutische Theorie des Films. Berlin, Boston: de Gruyter, 2012, S. 213. Ebd., a.a.O. Dazu Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Alfred Kröner, 2001, S. 131.

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Kritik an der Ausbeutung der Rohstoffe tierischer Herkunft bleibt. Die Gemeinsamkeit dieser beiden Texte ist der Tierschutzgedanke, wobei der postkoloniale Blick der jeweiligen Autoren dadurch eruiert werden kann, dass die Sprecher über die afrikanischen Dinge keine Afrikaner, sondern westlich-europäische Beobachter sind. Es gibt aber Texte, die das Nashorn-Ding explizit als Zeichen der kolonialen Gewalt inszenieren. In Elisabeth Herrmanns Roman Zartbittertod wird das Nashorn quasi zum Dingsymbol für die koloniale Schuld. Denn die Nashorn-Schokolade, die Mia auf dem verblichenen Foto mit ihrem Urgroßvater sieht, wurde für Victoria Luises Hochzeit, der Tochter des letzten Kaisers, im Mai 1913 in Lüneburg hergestellt und nach Berlin bei dreißig Grad im Schatten verschickt. Mia will die Spuren des Dings zurückverfolgen, d.h. die letzten Zeugen von Jakobs Reise mit dem Nashorn ausfindig machen. »Vielleicht hatte er den Triumphzug begleiten dürfen?«,36 denkt sie. Statt der Geschichte des Triumphzugs entdeckt die Forscherin allmählich die Kolonialgeschichte Namibias im Kolonialkrieg (1904–1908) gegen die Herero. Dabei wird der Blick des Lesers auf die Verantwortung der deutschen Unternehmen fokussiert, die von der Kolonisation profitiert hatten. Firmenchefs sind Lieblingsfiguren der kolonialkritischen Afrikaliteratur. Man denken an Kurtz’ Handelsfirma in Joseph Conrads Herz der Finsternis (1899) oder an Willy und Kuno, die Meister der Brauereien in Urs Widmers Im Kongo (1996).37 In diesen Texten wird oft eine Entlarvung der europäischen Unternehmen im Hinblick auf den von ihnen in der Kolonisation geschlagenen Profit und die Notwendigkeit ihrer Beteiligung in Entschädigungsfragen sichtbar. Die Entschädigungsklage der Herero People’s Reparations Corporation war beispielsweise nicht nur gegen die Bundesrepublik als ehemalige Kolonialmacht, sondern auch gegen die Rechtsnachfolger deutscher Unternehmen gerichtet.38 In Zartbittertod führt Mias familiäre Spurensuche zu dieser Thematik, wobei das Schokoladen-Nashorn die zu begleichenden Schulden jener Unternehmen symbolisiert. In der Binnenerzählung lehnen es die Firmen jedoch ab, zur Gedächtnisarbeit beizutragen. Durch ihre finanzielle Macht hat die Firma Herder erreicht, dass Dr. Kühn sich nicht mehr als anerkannter Wissenschaftler fühlt, weil er sich an die Firma und ihre betriebswirtschaftliche Dynamik »verkauft« hatte. Dass die erzählte Geschichte einen Zusammenhang zu der nachgeborenen Generation findet, illustriert folgende Situation: Als der Sohn Wolfgang, der die Firma 36 37 38

Herrmann, Elisabeth: Zartbittertod, a.a.O., S. 21. Widmer, Urs: Im Kongo. Roman. Zürich: Diogenes, 1996, S. 214. Im Namen aller Herero forderte Kuiama Riruako, alias Paramount Chief, vier Milliarden Dollar Schadenersatz von der Bundesrepublik Deutschland und den Rechtsnachfolgern deutscher Unternehmen. Siehe Grill, Bartholomäus: Ach, Afrika. Berichte aus dem Inneren eines Kontinents. 7. Auf. München: Goldman, 2005, S. 109. Siehe auch Böhlke-Itzen, Janntje: Kolonialschuld und Entschädigung. Der deutsche Völkermord an den Herero 1904–1907. Frankfurt a.M.: Brandes + Apsel, 2004.

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Herder heute leitet, seinen Vater daran erinnert, es sei Geschichte vom Kaiserreich, denn »Wir haben nicht damit zu tun«,39 muss der Vater Wilhelm nachhackend die Gretchenfrage der Kolonialkritik stellen: »Und all das hier ist vom Himmel gefallen?«.40 Aus seiner Begründung wird ersichtlich, dass die Entwicklung der Industrienationen auf den Gräueltaten der Kolonialzeit beruht. Seine Antwort auf seine eigene Frage lautet nämlich: »Aber nicht das Fundament, auf dem dieses Haus steht«.41 Wie in dieser Begründung ersichtlich wird, ist die Erzählerintention quasi mit der biblischen Konnotation der Erbsünde geprägt, denn die Schuld lässt sich von Generation zu Generation systematisch vererben.42 Dieses Verständnis rechtfertigt die Reparationsforderungen und Entschädigungszahlungen. Denn aus der Anerkennung der historischen Schuld der Kolonialherren folgen viele aus dieser zu ziehende Konsequenzen. Der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka beispielsweise plädiert sogar für die Zurückerstattung post-kolonialer Beute, die »in den Banktresoren, in Immobilien in den westlichen Staaten versteckt sind; und die Rückerstattung müsste die Unternehmen jener afrikanischen Führer einschließen, die bei der Enteignung des Kontinentes dem europäischen Beispiel gefolgt sind«.43 Ein anderes Thema in Bezug auf den ethischen Konsum der afrikanischen Dinge ist die Problematik der sogenannten Blutdiamanten

11.4 Blutdiamanten Im Rahmen der »scramble for Africa« trugen die afrikanischen Diamanten zur sogenannten mineral revolution zwischen 1880 und 1900 bei. Konnte man damals sowohl auf geschulte europäische Arbeiter als auch auf ungelernten afrikanischen Wanderarbeiter zählen,44 wurde die Arbeiterfrage bis in 21. Jahrhundert hinein immer weniger ethisch ausgelotet. In etlichen Reportagen, Reiseberichten und Statistiken der Nichtregierungsorganisationen ist die Rede von Kindersoldaten und Kinderarbeit. Bisweilen parallel zum Thema »Artenschutz«, bisweilen unabhängig davon entwickelte sich die viel mediatisierte internationale Kampagne gegen die »Blutdiaman-

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Herrmann, Elisabeth: Zartbittertod. Thriller, a.a.O., S. 151. Ebd., S. 152. Ebd., S. 152. Mehr über die Erbschaft der Schuld siehe Buruma, Ian: Erbschaft der Schuld, a.a.O. Soyinka, Wole: Die Last des Erinnerns. Was Europa Afrika schuldet – und was Afrika sich selbst schuldet. Düsseldorf: Patmos, 2001, S. 93. Vgl. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt, a.a.O., S. 229.

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ten«45 mit dem Hollywood-Film Blood Diamond (2006) mit Leonardo DiCaprio und dem Beniner Djimon Hounsou in den Hauptrollen. Mit seinem Buch Saubere Diamanten? (2003) versuchte das evangelische Hilfswerk »Brot für die Welt« zu zeigen, so der Rezensent, welch »wichtiger Beitrag zur Beendigung von Kriegen die Kontrolle des Handels mit Rohdiamanten sein kann«.46 Auch die postkoloniale Literaturkritik inszeniert die Blutdiamanten, um an den in der Öffentlichkeit geführten Diskussion über den vermeintlichen »Fluch der Rohstoffe«47 teilzunehmen. Eine typisch deutsche Polemik um die ethische Beziehung des modernen Menschen zu den wertvollen Edelsteinen betrifft die Luxussucht des Bischofs vom Limburg.48 Als der Managerfehler 2013 in die breitere Öffentlichkeit gelangte, hörte man u.a. auch die Forderung »Der Bischof möge ein Bistum in Afrika übernehmen«.49 Obwohl sein Fauxpas nichts direkt mit den Konfliktdiamanten zu tun hatte, möge der Leser an dieser Stelle sich einbilden, der Bischof würde tatsächlich ein Bistum in Afrika übernehmen und würde dort mit einem Kreuz aus Diamanten erscheinen. Mit dieser Vorstellung wäre man mitten in der Handlung von Leah Bachs Roman Der Himmel über dem Kilimandscharo (2019). Der Leser erfährt nämlich, dass Charlotte Ohlsens anfängliche Befangenheit rasch verschwand, als sie den Bischof Cassian Spiß aus der Kilimandscharo-Region sah, denn »das Bischofskreuz auf seiner Brust war keineswegs mit Diamanten besetzt, sondern aus schlichtem Metall«.50 Bei diesem Gedanken steht die Protagonistin in Ostafrika. Als ihr der Besuch eines Bischofs angekündigt wurde, hat sie an jene »wohlgenährten Prälaten [gedacht], über die ihr Großvater früher gern gespottet hatte«51 . Das Evozieren der »wohlgenährten Prälaten« lässt an die moralische Korruption des Papsttums durch die Renaissance-Gestalt Lucretia Borgia (1480–1519)52 denken. Der Intertextbezug führt beispielswei45

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Siehe Abschnitt »Der internationale Kampf gegen ›Blutdiamanten‹«, in: Tetzlaff, Rainer: Afrika: Eine Einführung in Geschichte, Politik und Gesellschaft. Wiesbaden: Springer, 2018, S. 257–260. Mahnke, Hans-Chiristian: »Rezension zu Brot für die Welt (Hg.): Saubere Diamanten? Der Kampf gegen schmutzige Geschäfte mit Blutdiamanten am Beispiel Sierra Leones. Frankfurt a.M.: Brandes + Apsel, 2003«, in: Africa Spectrum, Vol. 40, No. 3, 2005, S. 560–561, hier 560. Vgl. Abschnitt »Fluch der Rohstoffe«, in: Haas, Hans-Dieter u.a. (Hg.): 222 Keywords Wirtschaftsgeografie: Grundwissen für Wirtschaftswissenschaftler und –praktiker. Wiesbaden: Springer, 2014, S. 39–40. Vgl. Eintrag »Der Bischof von Limburg«, in: Kanning, Uwe Peter: Managementfehler und Managerscheitern. Wiesbaden: Springer, 2019, S. 53–59. Kettmann, Otto: Limburg 2013 – Anatomie eines Skandals. Münster u.a.: LIT, 2016, S. 59. Jacobs, Anne (Leah Bach): Der Himmel über dem Kilimandscharo. München: Blanvalet, 2019, S. 601. Ebd., a.a.O. Die französischen Dichter Victor Hugo (1802–1885) und Alexandre Dumas (1802–1870) schrieben über Lucretia Borgia. Vgl. Hugo, Victor: Lucretia Borgia. Aus dem Französischen Lu-

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se zum Text Leben des Cäsar Borgia (1782) erzählt von dem deutschen evangelischen Theologen Anton Friedrich Büsching (1724–1793), eine in Afrika spielende Geschichte, in der es heißt: »Die Wache des päpstlichen Palastes begleitete sie, und der Gouverneur von Rom nebst vielen Soldaten. Eine unendliche Menge Damen – nebst vielen wohlgenährten Prälaten – […] und endlich kam Lucretia selbst«.53 Dieser Intertextbezug wird in Der Himmel über dem Kilimandscharo als Kontrastelement eingeführt, um die historisch verbürgte Gestalt des Tiroler Benediktinerbischofs Cassian Spiß (1866–1905) zu präsentieren, der bekanntlich von Maji-Maji-Kämpfern umgebracht wurde.54 In der Binnenerzählung ist Charlotte evangelisch, aber ihre Erleichterung zeigt, dass ihr Großvater von der Schwäche eines katholischen Bischofs für Luxus-Steine wie Diamanten erzählt hatte. Dass der Großvater diese Vorliebe negativ bewertet, spricht dafür, dass es nicht um saubere Blutdiamanten geht, sondern Dinge, die unter kriminellen Umständen erworben worden sind, namentlich Blutdiamanten. In diesem Zusammenhang kann die Erzählerintention schwer anders interpretiert werden als eine Kritik an der Ausbeutung der Rohstoffe durch die Kolonialmacht Deutschland. In Bezug auf den politischen Horizont solcher Modellierungen der afrikanischen Diamanten im kolonialen Kontext soll abschließend noch einen Textauszug aus Elisabeth Herrmanns Zartbittertod zitiert werden, der dies gut illustriert: »Das sind doch hoffentlich keine Blutdiamanten!« So nannte man die Steine, die illegal und oft unter entsetzlichen Bedingungen geschürft wurden. Meist in Krisen- und Konfliktgebieten, um damit Waffen zu kaufen, mit denen Warlords und Putschisten ihre Kriegszüge finanzierten. »Nein. Sie hat sie wahrscheinlich gefunden.« »Gefunden? Findet man in Namibia einfach so Diamanten?«55  

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crèce Borgia (1833) übersetzt von Georg Buechner. Bremen: Europäischer Literaturverlag, 2015; Vgl. Dumas, Alexandre: Les Borgia (1856). Paris: L’Archipel, 2010. Zu neueren Erkenntnisse über die Borgia siehe Neumann, Florian: Die Wahrheit über Lucrezia Borgia. Stuttgart: Reclam, 2019. Büsching: Anton Friedrich: Leben des Cäsar Borgia, Herzogs von Valentinois. Berlin: Friedrich Maurer, 1782, S. 127. Vgl. Fuko, Alfred: »Die schwierige Suche nach der historischen Wahrheit. Ansichten eines Nachgeborenen«, in: Becker, Felicitas u. Beez, Jigal: Der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika, 1905–1907. Berlin: Links, 2005, S. 179–183, hier S. 182. Herrmann, Elisabeth: Zartbittertod. Thriller, a.a.O., 32.

11 Blutdiamanten und andere Rohstoff-Dinge

11.5 Zusammenfassung Bezeichnungen wie »Ressourcenfluch« oder »Fluch des Reichtums«56 in Bezug auf afrikanische Rohstoff-Dinge rufen nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch im literarischen Schaffen Skepsis hervor. Kaum ein vernünftiger Schriftsteller kann ihre Ausbeutung durch die westlichen fiktiven Figuren affirmativ inszenieren. Schon aus dieser Perspektive sind die Modellierungen der Dinge wie Elfenbein, Nashorn und Diamanten durch die gegenwärtigen deutschsprachigen Schriftsteller*innen fast immer mit einem kolonialkritischen Potential beladen. Aus den verbürgten Ereignissen der Kolonialgeschichte wird insofern auch immer eine Auseinandersetzung mit einer zeitgeschichtlichen Gegebenheit. Filme wie The Ivory Game (Österreich, 2016) oder der oben erwähnte Blood Diamond bilden dazu Inspirationsquellen und Schreibfolien. Es kann nicht unerwähnt bleiben, dass die analysierten Texte die Verbindung zwischen der Kolonialgeschichte und dem Topos der nachhaltigen Entwicklungspolitik anzusprechen versuchen.

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Burgis, Tom: Der Fluch des Reichtums: Warlords, Konzerne, Schmuggler und die Plünderung Afrikas. Frankfurt a.M.: Westend, 2016.

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12 Zwischenbilanz: Alexa, sprich über das afrikanische Ding!

Im Gegensatz zu den im ersten Teil untersuchten Autor*innen lassen sich die Schriftsteller*innen der Afrikaliteratur, um die es hier geht, schwer in der Kategorie der Exotismus-Literatur zurechnen. In Bezug auf die Modellierung der afrikanischen Dinge konnte gezeigt werden, dass die Schriftsteller*innen des Afrikaromans der Gegenwart postkolonial geschult sind, denn sie inszenieren die koloniale Vergangenheit eher aus einer kritischen Perspektive. Die Stichwörter lauten: (post-)koloniale Gedächtnisarbeit anhand musealer Dinge, postkoloniale Bewusstwerdung in Bezug auf die Naturdinge, weltpolitischer Kampf gegen die Ausbeutung von Rohstoffen usw. Unterschwellig werden Themen wie Ökologie, nachhaltiges Konsumverhalten, Konfliktmanagement bei Rohstoffen usw. besprochen, und zwar im Sinne von Reller u. Holdinghausens Prognose: »Wir konsumieren uns zu Tode, und darüber vergessen wir die anderen, die Gemeinschaft, die Gesellschaft«.1 In ihrer Erzählweise erscheint die gegenwärtige deutschsprachige Afrikaliteratur des Postkolonialismus allerdingst als ein Reservoir von Sprachbefehlen über zurückgedrängte Themen. Man merkt nämlich, dass es die Absicht der Autor*innen ist, in fiktiven Texten die Dinge beim Namen zu nennen, die die Gesellschaft kaum wahrnimmt. Der Eindruck vom Sprachbefehl entsteht, weil es selten um Dingtexte geht, sodass die evozierten Dinge rezeptionsästhetisch als zusätzliche »Sprecher« zwischen dem Text und dem Leser erscheinen. Dadurch versuchen die Autor*innen, marginalisierte und verdrängte, weil kolonialistisch beladene afrikanische Dingsymbole zu thematisieren und ins gegenwärtige Bewusstsein zu rücken. Die Beschreibung der afrikanischen Dinge wird in diesem Zusammenhang der Funktion der Literatur als »reintegrativen Interdiskurs« gerecht, die der Amerikanist Hubert Zapf für die kulturelle Ökologie fruchtbar gemacht hat. Gemeint ist, dass

1

Bunia, Remigius: »Die dreckigen Dinge. Aus Liebe zum Konsum«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. 67. Jahrgang, Heft 773, Stuttgart: Klett-Cotta, 2013, S. 980–991, hier S. 980; Vgl. Reller, Armin u. Holdinghausen, Heike: Wir konsumieren uns zu Tode. Warum wir unseren Lebensstil ändern müssen, wenn wir überleben wollen. Frankfurt a.M.: Westend, 2013.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

die Literatur als ein Reservoir von Spezialdiskursen zu verstehen ist, denn das Wissen wird durch die Sprache der Literatur produziert.2 Dementsprechend ähnelt die mittelbare Erzählstrategie der untersuchten Texte den Alexa-Befehlen aus der Technik. Mit etwas Fantasie hört der Leser nämlich die Texte sagen: Alexa, spricht bitte über das Kopfschädel-Ding; Alexa, sprich über die Diamanten; Alexa, sprich über Elfenbein… Dabei spricht Alexa hier unmittelbar an die Leser und indirekt an die Gesellschaft.

2

Zapf unterscheidet zwischen einem kulturkritischen Metadiskurs, einem imaginativen Gegendiskurs und einem reintegrativen Interdiskurs. Zapf, Hubert: Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans. Tübingen: Niemeyer, 2002, S. 63ff.

13 Schlussbemerkung

13.1 Zusammenfassung: Dinge zwischen Interkulturalität und Postkolonialität Die untersuchten afrikanischen Dinge sind keine interkulturellen Dinge in dem Sinne, dass sie sich »wahrhaft dazwischen«1 befinden. Sie werden eher als ›fremde Dinge‹ mit ihrer Erfahrung der Differenz aufgezeichnet. Doch so, wie literarische Figuren und Personen in einer Alteritätssituation interkulturell operieren können,2 so gelingt es den erzählten Dingen in dieser Funktion auch, den Geltungsanspruch kolonialer Asymmetrien ästhetisch zu suspendieren und somit zu einem »Verstehen« einzuladen. Dass solche Dinge in Bezug auf ihre interkulturelle Handhabung zu untersuchen sind, ist Forschungskonsens. Annette Werberger schreibt dazu: Interaktion zwischen Kulturen und Gruppen geschieht nicht nur über Personen und Gruppen sowie über philosophische oder religiöse Ideen oder Texte, sondern auch mittels wichtiger Wege zu Wasser und zu Land, durch Instrumente, Güter und Institutionen. Die Handlungsmacht der Dinge und die Interaktion von Personen, Dingen, Interaktionen und Räumen müssen in einer literarischen Verflechtungsgeschichte mitbeschrieben werde.3 Es konnte hier gezeigt werden, dass die in diesem Kontext entstehenden Modellierungen der afrikanischen Dinge oft mit einem (post-)kolonialen Potential beladen sind. Parallel zu dem oft in den Blick genommenen kolonialistischen Blick bildet die kolonialkritische Perspektive auch einen Kernpunkt der Wechselbeziehungen zwischen deutschsprachiger Literatur und materieller Kultur. Sowohl die literarischen 1 2

3

Niehaus, Michael: »Interkulturelle Dinge«, a.a.O., S. 34. Hervorhebung im Originaltext. Adelson, Leslie A.: »Interkulturelle Alterität: Migration, Mythos und Geschichte in Jeanette Landers postkolonialem Roman Jahrhundert der Herren«, in: Fischer, Sabine u. McGowan, Moray (Hg.): Denn du tanzt auf einem Seil. Positionen deutschsprachiger MigrantInnenliteratur. Tübingen: Stauffenburg, 1997, S. 35–52. Werberger, Annette: »Überlegungen zu einer Literaturgeschichte als Verflechtungsgeschichte«, in: Kimmich, Dorothee u. Schahadat, Schamma (Hg.): Kulturen in Bewegung: Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität, a.a.O., S. 109–144, hier S. 123f.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

Texte, die erschienen sind, bevor der Begriff »postkolonial« geprägt wurde, als auch gegenwärtige Fiktionen mit Bezug zu Afrika zeigen ununterbrochen eine kolonialkritische Perspektive. Je nach literarischer Strömung strahlen die afrikanischen Dinge verschiedene Farben aus: Erzeugung der Wirklichkeit im Kontext des kritischen Exotismus als eine Form von Widerstand gegenüber dem Kolonialprojekt, subjektive Wahrnehmung der Dingwelt als Bewusstwerdung über die Unmenschlichkeit der Kolonisation und des Kolonialmenschen, Subversion der europäischen Kolonialphantasien durch ästhetische Änderung und Verschiebung der vorherrschenden völkischen, revisionistischen und nationalsozialistischen kolonialistischen ›Ordnung der Dinge‹, Ideologiekampf im Kalten Krieg und postkoloniale Machtkritik an diversen gegenwärtigen Globalisierungsphänomenen. Alle herangezogenen Texte haben gemeinsam, dass sie die koloniale ›Ordnung der Dinge‹, die »auf Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Heuchelei aufgebaut war«,4 anprangern. Beispiele der hierzu modellierten afrikanischen Dinge reichen von Naturdingen (Steine, Gestein, Berge, Damm, Flüsse…), Artefakten (Obelisken, Tempel, Fetische, Statuen, Holzschemel, Fez …) über Waren (Kaffee, Tee, Diamanten, Elfenbein) bis hin zu Werkzeugen (Säbel, Vogelflinte, Nilpferdpeitsche …) und Stoffen (Bier, Drogen.) und vieles mehr. Zwei Kategorien von Texten müssen allerdings unterschieden werden. Die erste Kategorie wurde in der »vorgeschichtlichen« Zeit der postcolonial Studies aufgezeichnet. Dem Kolonialdiskurs halten die Autor*innen dezidiert eine kontradiskursive Schreibweise entgegen. Einige experimentieren mit einer reziproken ›Verdinglichung‹ des Europäers im Sinne der von Julius Lips postulierten kolonialkritischen »umgekehrten Ethnographie«.5 Erzählstrategisch setzten die Autor*innen jener Texte der Zeit vor den postcolonial studies oft Funktionalisierungen und Kontextualisierungen der narrativ evozierten Dinge ein, um dementsprechend die koloniale ›Ordnung der Dinge‹ zu kritisieren. Das subversiv-postkoloniale Potential der deutschsprachigen Schriftsteller*innen vom Realismus bis zur Literatur der Nachkriegszeit dient im Allgemeinen zum

4 5

Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt, a.a.O., S. 1300. Kulturwissenschaftliche Buchtitel hierzu reichen von »So sahen sie uns«, über »Europa sieht sich mit fremdem Blick«, bis hin zu »The First Response of Aboriginal Peoples to the White Man« oder »Das schwarze Bild vom weißen Mann«. Vgl. Burland, Cottie Arthur u. Forman, Werner: So sahen sie uns. Das Bild der Weißen in der Kunst der farbigen Völker. München: Anton Schroll, 1968; Vgl. Weißhaupt, Winfried: Europa sieht sich mit fremdem Blick. Werke nach dem Schema der »Lettres persanes« in der europäischen, insbesondere der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 1979; Vgl. Blackburn Julia: The White Men. The First Response of Aboriginal Peoples to the White Man. London: Orbis Publishing Ltd., 1979; Blackburn Julia: The White Men. The First Response of Aboriginal Peoples to the White Man. London: Orbis Publishing Ltd., 1979.

13 Schlussbemerkung

Nachdenken über das europäische Kolonialprojekt und den Kolonialismus, ohne eine andere ›Ordnung der Dinge‹ vorzuschlagen. Die zweite Kategorie besteht aus interkulturell und postkolonial geschulten Schriftsteller*innen, die zwei weitere Dimensionen zu ihrer Kolonialismuskritik hinzufügen. Zum einen dient ihre Schreibhaltung zum Reflektieren über die afrikanischen Dinge selbst, über deren Funktion in der modernen Konsumgesellschaft und über deren möglichen Beitrag in aktuellen Debatten um die nachhaltige Entwicklung. Es handelt sich hierbei um postkoloniale Impulse, deren Traditionslinie offensichtlich sich bis Herders »Idee von der Verwobenheit des Menschen«6 reicht. In diesem Kontext lautet Bruno Latours Kritik an der Moderne wie folgt: »Zwischen Modernisierung und Ökologisierung müssen wir uns entscheiden«.7 Zum anderen dienen ihre Inszenierungen der afrikanischen Dingwelt dazu, die neueren interkulturellen und postkolonialen Theoriebildungen zu erproben und in der aktuellen Geschichtspolitik Stellung zu beziehen. Theorien, die in literarischen Gestaltungen modellhalt integriert werden, können oft als eigene Beiträge der Autor*innen zu den jeweiligen Thematiken im Kontext der postmodernen Literaturästhetik gelten. Politische Vorgänge wie die Restitution von 20 Herero- und NamaSchädeln an Namibia, der internationale Kampf gegen Ausbeutung der afrikanischen Rohstoffe, das Verbot des Elefantenhandels durch die UN-Artenschutzkonferenz usw. werden verarbeitet.

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Gemeint ist seine Relativierung der Mittelpunktstellung des Menschen, wonach der Mensch nur ein kleiner Teil des Ganzen sei, die in seinen Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) formuliert wird. Mehr zum ökologischen Hintergrund und zur Traditionslinie siehe Schuster, Jana: »Verkettungen der ›Dinge‹ und der Wörter. Verunreinigungsarbeit bei Latour und Stifter«, in: Wernli, Martina u. Ders. (Hg.): Das Verhältnis von res und verba, a.a.O., S. 241–270, hier S. 259, Fußnote 77. Man findet übrigens diese Idee der Verwobenheit des Menschen in der afrikanischen Ethnophilosophie, etwa in dem Gedicht »A l’école du caméleon« (dt.: Vom Chameleon lernen) des Malischen Dichters Amadou Hampathe Bâ (1900–1991), wo das Chamäleon zu dem Menschen sagt: »Informez vous, ne croyez pas que vous êtes le seul existant de la terre. Il y a toute l’ambiance autour de vous!« (dt.: Machen Sie sich kundig. Denken Sie nie, dass Sie das einzige Wesen auf der Welt sind. Es gibt das ganze Ambiente um Sie [übersetzt von mir K.S.]). Zitiert nach Blion, Reynald u. Gresset, Karine (Hg.): Histoires de savoir: migrations, mobilité des compétences et développement. Paris: Karthala, 2004, S. 120. Latour, Bruno: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2014, S. 40.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

13.2 Ausblick: afrikanische Perspektive Die ausgehende Studie hat sich nicht in die sogenannte »dekoloniale Forschungsstrategie« eingetragen.8 Würde man jene Perspektive miteinbeziehen, würde die präsentierte Sachlage dadurch an Gewicht verlieren, dass sie sich ausschließlich auf deutschsprachige Texte beschränkt, obwohl es um afrikanische Dinge geht. Die Kritik wäre vielleicht gar nicht so abwegig. Wäre es denkbar, dass die zeitgenössischen afrikanischen Schriftsteller*innen sich nicht für diese afrikanischen Dinge interessieren? Diese Forschungsperspektive sprengte allerdings den Rahmen der vorliegenden Studie. Für die afrikanische Perspektive ist es hier vielleicht noch ratsam, auf Dingmodellierungen einiger deutschschreibender afrikanischer Schriftsteller*innen und Übersetzungen afrikanischer Literatur einzugehen. Denn, wie Hermann Schulz, der unermüdliche Promoter der afrikanischen Literatur in Deutschland, immer wieder darauf hinweist, es gibt »wunderbare Romane afrikanischer Autoren, um die sich niemand […] kümmert«9 . Als erstes literarisches Gesprächsangebot in Bezug auf eine Inszenierung der afrikanischen Dinge ließe sich die Literatur afrikanischer Migrant*innen und Autor*innen der Postmigration10 anführen. In Bezug auf die diasporische Literatur afrikanischer Migranten zeigen die Arbeiten von Dirk Göttsche, dass sie in einem Zwischen-Raum zwischen afrikanischer und europäisch-deutscher Perspektive zu verorten sind.11 Für diese Reflexion kann man Ijoma Mangolds Lebensgeschichte Das deutsche Krokodil (2017)12 als Beleg anführen. Der 1971 in Heidelberg geborene Li-

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Vgl. Müller, Fransiska: »Von Wissenproduktion, Weltordnung und ›worldism‹. Postkoloniale Kritiken und dekoloniale Forschungsstrategien in den internationalen Beziehungen«, in: Ziai, Aram (Hg.): Postkoloniale Politikwissenschaft, a.a.O., S. 235–254. Zitiert nach Struck, Wolfgang: »Reenacting Colonialism. Die Wiederkehr des Kolonialismus als Melodram«, in: Gutjahr, Ortrud u. Hermes, Stefan (Hg.): Maskeraden des (Post-)Kolonialismus. Verschattete Repräsentationen ›der Anderen‹ in der deutschsprachigen Literatur und Film. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011, S. 318. Zu einem Überblick über die postmigrantische perspektive in der germanistischen Literaturwissenschaft vgl. Buchkapitel »von der ›Migrationsliteratur‹ zur ›postmigrantischen‹ Literatur«, in: Schößler, Franziska u. Wille, Lisa: Einführung in die Gender Studies. Berlin/Boston: De Gruyter, 2022, S. 123–130. Göttsche, Dirk: »Eine eigene Mischung aus Identität und Kultur. Afrikanische Migrantenliteratur in deutscher Sprache zwischen Diaspora und Transkulturalität«, in: Mont Cameroun. Afrikanische Zeitschrift für interkulturelle Studien zum deutschsprachigen Raum Nr. 6: Literaturen der Migration in Deutschland: Das Beispiel Afrika. Dschang: Dschang University Press, 2009, S. 29–51; Vgl. auch Göttsche, Dirk: »Deutsche Literatur afrikanischer Diaspora und die Frage postkolonialer Kanonrevision«, in: Uerlings, Herbert u. Patrut, Iulia-Karin (Hg.): Postkolonialismus und Kanon, a.a.O., S. 327–360. Mangold, Ijoma: Das deutsche Krokodil. Meine Geschichte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2017.

13 Schlussbemerkung

teraturkritiker und kulturpolitischer Korrespondent der Wochenzeitung »Die Zeit« ist Afrodeutscher mit einem nigerianischen Vater und einer deutschen Mutter.13 In Das deutsche Krokodil inszeniert Mangold das Krokodil als ein afrikanisches Ding in seiner Beziehung zu den deutsch-afrikanischen Mischlingen. Der Er-Erzähler berichtet von dem Verhältnis eines an den Autor erinnernden Jungen namens Ijoma Alexander Mangold zu einem Krokodil aus Ebenholz. Ijoma hat das KrokodilDing als Geschenk von seinem in Nigeria lebenden Vater bekommen. In seinen Augen ist das Ding dennoch mehr als ein Spielzeug. Es ist aus dem wertvollen Ebenholz hergestellt, das man lediglich in Afrika findet, es ist schwarz wie die Afrikaner und es ist das Wahrzeichen Afrikas zugleich. Umso weniger versteht er, dass die ›Anderen‹, die Deutschen ohne afrikanischen Migrationshintergrund, nicht dasselbe spüren können, was er fühlt. Selbst die Mutter, die eine wahre emotionale Bindung zu seinem Vater hat, stellt das Ding auf den Fenstersims, anstatt in das Bücherregal wie die afrikanischen Masken. Der Erzähler berichtet: Wenn seine Schulfreunde vorbeikommen und das Krokodil auf dem Fenstersims entdecken, fragen sie, was das sei. Ein Krokodil, sagt er dann mit Pokerface – und ist jedes Mal verwundert, dass das Krokodil gern zum Spielen benutzt wird, ohne weitere Fragen über seine Herkunft nach sich zu ziehen. Sieht nur er diese Verbindung? Sind die anderen blind? Sind seine Sorgen übertrieben?14 Die unerklärliche emotionale Bindung, die Ijoma zum afrikanischen Ding hat, illustriert die Hybridität des Menschen im Diaspora-Kontext. Das Krokodil fungiert als Dingsymbol seines ›African-ness‹, das sich in diesem Fall mit seinem ›Deutschsein‹ gut harmonisiert. Eine andere Kategorie von deutschsprachigen Texten, die die afrikanische Perspektive illustrieren können, bilden die Übersetzungen afrikanischer Autor*innen ins Deutsche. Obwohl diese nicht das Dazwischen, jedenfalls nicht den deutschafrikanischen interkulturellen Raum, bewohnen, können ihre Texte eine Grenzüberschreitung durch die Übersetzungsarbeit erleben.15 Als Beispiel hierfür wurden

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Vgl. Völker-Rasor, Anette: Mit Flüchtlingen lernen: Kulturelle Annäherung in Deutschkursen für Asylsuchende. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, 2019, S. 79ff. Mangold, Ijoma: Das deutsche Krokodil, a.a.O., S. 46. Mayanja, Shaban: »Diasporische afrikanische Literatur in deutscher Übersetzung: Grenzüberschreitungen am Beispiel der Übertragung von Bernadine Evaristos Blonde Roots ins Deutsche«, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A, Band 134. Berlin u.a.: Peter Lang, 2019, S. 187–204.

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oben bereits Taiye Selasis Roman des Afroprolitanismus16 Diese Dinge geschehen nicht einfach so (2013) sowie António Lobo Antunes Guten Abend, ihr Dinge hier unten (2005) erwähnt.17 Allerdings geht es hier um Bücher, die bereits im Titel das Wort »Ding« führen, was allerdings nur auf den inflationären Gebrauch des Ding-Begriffs im Deutschen hinweist. Weder in ihren englischen Versionen noch im Inhalt handelt es sich um Modellierungen der afrikanischen Dinge. Als Dingtext, der ein ästhetisch evoziertes afrikanisches Ding beinhaltet, kann Pettinah Gappahs Roman Aus der Dunkelheit strahlendes Licht (2019) eingeführt werden.18 Die 1971 in Simbabwe geborene Preisträgerin des »Guardian First Book Award« (2009) hatte vor dem vorliegenden Roman bereits zwei weitere Bücher in deutscher Übersetzung veröffentlicht, nämlich Die Farben des Nachtfalters (2016) und Die Schuldigen von Rotten Row (2017).19 In Aus der Dunkelheit strahlendes Licht geht es um die Kolonialgeschichte Afrikas, die Entdeckung der Nilquellen durch David Livingstone, den berühmten schottischen Afrikaforscher. Nach seinem Tod 1873 wird der Leichnam Livingstones von seiner Gefolgschaft in seine Heimat zurückgebracht. Aus dieser Perspektive bekommt die afrikanische Träger-Karawane somit eine Stimme in der Kolonialgeschichte.20 Verkörpert wird diese afrikanische Stimme durch die historisch verbürgte Figur Chirango, deren Frau man im Theatherstück The Hungry Earth (1981)21 des südafrikanischen Dramatikers Maishe Maponya findet. In Bezug auf die vermeintliche Entdeckung der Nilquelle durch die europäischen Entdeckungsreisenden ist der Prinz Chirango Kirango von Dzimbahwe die Symbolfigur der afrikanischen Resistenz gegen das koloniale Eindringen. Im Rekurs auf Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft 22 kann man Chirangos Haltung und Stimme in Aus der Dunkelheit strahlendes Licht als eine postkoloniale Kritik verstehen. Der japanische Philosoph Eiji Makino hat Kants Theorie des 16

17

18 19 20 21 22

Zum Begriff siehe Diop, Papa Samba: »Mots et concepts en circulation dans l’espace francophone: De l’›afropolitanisme‹ en question«, in: Yigbe, Dotsé u.a. (Hg.): Das post/koloniale Afrika. Kulturwissenschaftliche Fragestellungen in Literatur und Geschichte. Münster u.a.: LIT, 2018, S. 7–26. Selasi, Taiye: Diese Dinge geschehen nicht einfach so. Aus dem Englischen übersetzt von Adelheid Zöfel. Frankfurt a.M.: Fischer, 2013; Antunes, António Lobo: Guten Abend, ihr Dinge hier unten. München: Luchterhand, 2005. Gappah, Petina: Aus der Dunkelheit strahlendes Licht. Roman. Aus dem Englischen Out of Darkness. Shining Light (2019) übersetzt von Anette Grube. Frankfurt a.M.: Fischer, 2019. Gappah, Petina: Die Farben des Nachtfalters. Hamburg: Arche, 2016; Dies: Die schuldigen von Rotten Row. Hamburg: Arche, 2017. Vgl. Malzner, Sonja u. Peiter, Anne D. (Hg.): Der Träger: Zu einer »tragenden« Figur der Kolonialgeschichte. Bielefeld: transcript, 2018. Maponya, Maishe: The Hungry Earth (1981). In: Gilbert, Helen (Hg.): Postcolonial Plays. An Anthology. New York, London: Routledge, 2013, S. 16–24, hier S. 23f. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O.

13 Schlussbemerkung

»Erhabenen« in Abweichung zu Spivaks Ausführungen über die ›Subalternen‹ als eine Sichtweise rezipiert, in der »die eigene Kultur als allgemeingültig angesehen wird«.23 Dabei entstehe die Beurteilung über das Erhabene der Naturdinge »durch die Subreption zwischen dem urteilenden Subjekt und dem beurteilten Gegenstand«.24 Die postkoloniale Vernunft bestehe darin, dass Kant nachfolgenden Generationen die Anwendung seiner Vernunftkritik ermöglicht habe. Um diese postkoloniale Vernunftkritik zu erproben, lässt Petina Gappah Chirango aus seinem Status des ›Subalternen‹ kommen und die afrikanische Gegenstimme verkörpern, die das europäische Kolonialprojekt verabscheute. Im Gegensatz zu den Trägern und Karawanen, deren Verantwortung an der Vermessung und Erschließung Afrikas in den Vordergrund gestellt wird, hat er mehrere Europäer umgebracht, um zu verhindern, dass sie die Nilquelle entdecken, weil er diese als Dingsymbol für die afrikanische Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Religion versteht. Er erklärt: Dieser Stanley, dieser Cameron, dieser Speke, dieser Grant. Wer sind sie, wer sind sie alle, wer sind sie, dass sie so ungehindert in unser Land kommen können? […] Und jetzt geht dieser Cameron noch weiter ins Landesinnere. Es werden noch mehr von ihnen kommen, merkt euch meine Worte. Diese Nilquelle, die er finden wollte, die sie alle finden wollen. Sie werden sie finden und auch die Quellen anderer Flüsse, und dabei werden sie sehen, dass es noch andere Dinge gibt, die sie in Besitz nehmen können. Und sie werden wollen, dass wir ihre Götter anbeten, als hätten wir keine eigenen.25 Somit verabsolutiert Chirango seine eigene Kultur als allgegenwärtig, und seine Erfahrung der ›Differenz‹ betrachtet die Entdeckung der Nilquelle durch die Europäer als eine Versklavung Afrikas. Das europäische Kolonialprojekt der Entdeckung, Kartierung und Benennung der Geo-Objekte erscheint aus dieser afrikanistischen Perspektive abgelehnt zu sein. Eine andere afrikanische Perspektive in Bezug auf die afrikanischen Dinge wird vom mosambikanischen Schriftsteller Mia Couto26 inszeniert. Der Preisträger des »Neustadt International Prize for Literature« (2014) illustriert nämlich die Verantwortung der Afrikaner selbst mit dem Handel mit Elfenbein und die Folgen für Afrika. Man bedenke, dass bei der Diskussion über den Artenschutz gerade einige afri-

23

24 25 26

Makino, Eiji: »Weltbürgertum und die Kritik an der postkolonialen Vernunft«, in: Ruffing, Margit u.a.: (Hg.): Kant und die Philosophie in Weltbürgerlicher Absicht. Berlin, Boston: de Gruyter, 2013, S. 321–338, hier S. 332. Ebd., S. 333. Gappah, Petina: Aus der Dunkelheit strahlendes Licht, a.a.O. Zu Coutos Biografie siehe Schönberger, Gerhard: Mosambikanische Literatur portugiesischer Sprache. Entstehung und Probleme einer Nationalliteratur. Frankfurt a.M.: Domus Editotia Europea, 2002, S. 189–216.

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

kanische Staaten aus wirtschaftlichen Interessen gegen härtere Maßnahmen waren.27 Im Gegensatz zum oben untersuchten Roman Macht und Widerstand (2015), in dem Ilija Trojanow die Gefahr der unreflektierten Ausbeutung des afrikanischen Elfenbeins für die Welt so pointiert und psychologisch inszeniert, zeigt Couto, dass die handelnden Figuren, d.h. die Elefantenjäger selber, oft die ersten Opfer jenes tierfeindlichen Handels sind. Zentrales Thema seines Romans Imani (2015)28 bildet der Krieg, den der große Herrscher Ngungunyane im kolonialen Mosambik gegen die Kolonialherren führt. In einem Kapitel, das die Vermarktung des Elfenbeins strukturiert, werden die tödlichen Folgen für die afrikanischen Akteure und Profiteure in der gängigen Tradition der Trivialliteratur vor Augen geführt. Alle Beteiligten werden nämlich auf eine mysteriöse Weise ermordet. Dabei ist die Handlung in dem Roman vom Kitsch weit entfernt, sondern findet eine Verbindung zur Kolonialgeschichte: Großvater Tsangatelo, in dem man den berüchtigten Sklaven- und Elfenbeinhändler Tippu-Tip (alias Hamed Muhamed) erkennen kann, betreibt ein seltsames Business: Mit seinen Karawanen und Trägern transportiert er Elfenbein für die Engländer und Portugiesen gegen Bezahlung. Somit wird die Verantwortung der Afrikaner an der Elefantenjagd in den Vordergrund gestellt. Aber aus irgendeinem ominösen Grund musste Tsangatelo sein Dorf verlassen, wo er glücklich gelebt hatte. Im Text wird dieser Grund magisch-realistisch dargestellt und verdient hier ausführlich zitiert zu werden: Die Einwände seiner Frau beschäftigten den Großvater und bereiteten ihm eine unruhige Nacht. Am nächsten Morgen, schlecht geschlafen und noch schlechter aufgewacht, traf Tsangatelo einen seiner Träger vor der Haustür an. Zu seinen Füßen ein Bündel mit Elfenbein und Tierfellen. Der Mann verneigte sich und nutzte die Verneigung dazu, mit den Händen tief in das Tragbündel zu greifen. Als er das Bündel anhob, geschah etwas, das Tsangatelo niemals zu beschreiben gelang: Mit dem Bündel zusammen kam der ganze Erdboden ringsum hoch. Wie ein Tischtuch erhob sich die Erde um das Bündel, und eine Staubwolke schwebte in der Luft. Um den Träger herum bildete sich ein abgrundtiefer Krater. Offenbar mühelos hob der Mann die ganze Landschaft höher an, als er groß war. Dann setzte er sich die Welt auf den Kopf. Regungslos auf der überraschenden Insel stehend, verkündete der Sklave: »Jetzt kann niemand mehr gehen! Die Karawanen sind tot, für immer tot«. Der Herr der Träger, der mächtige Tsangatelo, erzitterte von Kopf bis Fuß – jemand hatte ihm den bösen Blick geschickt. Irgendwo in einem unbe-

27 28

Siehe https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/artenschutz-botswana-namibia-und-s imbabwe-fuer-elfenbeinhandel [Stand vom 30.11.2019]. Couto, Mia: Imani. Roman. Aus dem Portugiesischen Mulheres de Cinza (2015) übersetzt von Karin von Schweder-Schreiner. Zürich: Unionsverlag, 2017.

13 Schlussbemerkung

kannten Topf wurde sein unheilvolles Schicksal geschmiedet. Noch am selben Tag beschloss Tsangatelo das Dorf zu verlassen.29 Coutos Romanwerk ist für seine Nähe zum lateinamerikanischen magischen Realismus bekannt, eine Literaturform, die mit dem Wunderbaren verbunden ist.30 Der Elfenbeinmarkt wird in dem Textauszug zu einem magischen Raum, in dem alle beteiligten Träger weggezaubert werden. Dass der Hauptorganisator am Leben bleibt, ist nicht nur rezeptionsästhetisch selbstverständlich, es soll auch dafür sensibilisieren, dass er ohne diesen tierfeindlichen Handel auch weiterleben kann. Die Erkundung der magischen Seite der Materialität zielt somit darauf ab, die Folgen des Elfenbeingeschäftes für die Afrikaner vor Augen zu führen. Sowohl bei Mia Couto als auch bei Petina Gappah wird die afrikanische Perspektive über den Umgang mit Dingen in den Mittelpunkt gestellt. Die politisch-soziale Komponente der literarischen Subversion ist hier nicht, wie man oft denkt, gegen den Westen orientiert. Vielmehr prangern die afrikanischen Schriftsteller*innen die Fehlentscheidungen der Afrikaner selbst an, und überlassen offensichtlich ihren westlichen Kollegen das Feld der Okzidentalismuskritik. Wie das afrikanische Sprichwort sagt: »Jeder heilige Sumpf hat sein Krokodil«.

29 30

Couto, Mia: Imani, a.a.O. Durst, Uwe: Das begrenzte Wunderbare. Zur Theorie wunderbarer Episoden in realistischen Erzähltexten und in Texten des »Magischen Realismus«. Münster u.a.: LIT, 2008.

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Ding- und Namensregister

A Achebe, Chinua, 31, 42, 47, 162, 226, 240 Afri-Cola, 108, 109 Ägypten, 48 Albrecht, Monika, 101, 128, 139, 153, 154, 180, 240, 250 Altenberg, Peter (1859–1919), 68–71, 225 Andersch, Alfred (1914–1980), 134, 226 Annas, Rolf, 79, 240 Appiah, Kwame Anthony, 175, 240 Arendt, Hannah, 140, 155, 157, 241 Arndt, Ernst Moritz (1769–1860), 131, 226 Ashcroft, Bill, 104, 241 August, Herzog Carl (1757–1828), 70 Auto, 115, 190, 245 Automobil, 25 Ayim, May, 103, 245 B Bâ, Amadou Hampathe (1900–1991), 217 Bach, Johann Sebastian (1685–1750), 50, 238 Bachmann-Medick, Doris, 17, 55, 241 Ball, Hugo (1886–1927), 92 Ballon, 27 Barth, Heinrich (1821–1865), 108, 226 Barthes, Roland (1915–1980), 15, 17, 25, 230, 263, 269 Baumann, Hermann, 98, 241

Bauwerke, 39, 118 Behrens, Franz Richard (1895–1977), 86, 262 Benjamin, Walter, 25, 108, 197, 202, 230 Benn, Gottfried, 108, 124, 244 Berg, 95, 121, 133, 187, 188, 233, 234, 245 Bhabha, Homi K., 28, 38, 55, 69–71, 73, 133, 164, 242 Bier, 25, 72, 74–77, 82, 146, 216 Bischoff, Doerte, 18, 24–26, 31, 45, 54, 56, 111, 230 Bismarck, Otto von, 160 Blaeulich, Max, 30 Blumen, 180, 188 Bogen, 137 Böhme, Hartmut, 18, 133, 168, 231, 239 Bombay, Sidi Mubarak (ca. 1820–1885), 195, 197 Borgia, Lucretia (1480–1519), 209, 210, 263, 265, 267 Britting, Georg (1891–1964), 34, 123–125, 127–132, 135–138, 172, 225, 227, 266, 269, 270 Broch, Hermann, 88, 136, 267 Brosses, Charles de (1709–1777), 40, 100, 231 Bruce, Nayo, 69, 243 Buch, Hans Christoph, 156–161, 194, 196 Bülow, Frieda Freiin (1857–1909), 60

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

Burnus, 51–53, 59, 146 Burton, Sir Richard Francis (1821–1890), 52, 194, 195 Büsching, Anton Friedrich (1724–1793), 210, 263 C Carlos, Juan (König von Spanien), 203 Carter, Kevin (1960–1994), 161 Cézanne, Paul (1839–1906), 158, 262 Chakrabarty, Dipesh, 128, 243 Chamberlain, Houston Stewart (1855–1927), 48, 263, 271 Christ, Valentin, 21, 33, 231 Conrad, Joseph, 30, 42, 87, 133, 199, 227 Conrad, Sebastian, 128, 152, 243 Couto, Mia, 222, 223, 225 D Damm, 139, 146, 216 Dante Alighieri (1265–1321), 94, 130, 226 de Gaulle, Charles, 134 Dingelstedt, Franz von (1814–1881), 114, 227 Dinglreiter, Senta, 120, 243 Dumas, Alexandre (1802–1870), 209 Dunker, Axel, 22, 28, 33, 52, 54, 62, 124, 134, 139, 145, 162, 232, 240, 244, 247, 250, 258, 259 Dürbeck, Gabriele, 22, 62, 134, 139, 240, 247, 250, 258, 259 E Eckenbrecher, Margarethe von, 60, 227 Eichendorff, Joseph von, 119, 268 Einstein, Carl (1885–1940), 64, 82, 94, 249 Elfenbein, 65, 199–201, 211, 214, 216, 221, 222 Engels, Friedrich, 142, 267 Erll, Astrid, 176, 244

F Fabian, Johannes, 28, 121, 245 Faden, 60, 112, 157 Fanon, Frantz (1925–1961), 31, 66, 67, 165, 245 Fernrohr, 27 Fest, Joachim (1926 – 2006), 179, 264 Fetisch, 18, 22, 25, 45, 47, 59, 65, 66, 97, 99–102, 146, 165, 230, 239 Fez, 110, 111, 113, 114, 120, 146 Fichte, Hubert (1935–1986), 99, 115, 124, 154, 244, 248 Flach, Karl (1905–1997), 109 Fontane, Theodor (1819–1898), 44, 50, 96, 114, 227, 247 Fotografie, 24, 236 Foucault, Michel (1926–1984), 101, 164, 232 Frenssen, Gustav, 186 Freytag, Gustav, 50, 227 Frisch, Max (1911–1991), 128 Frobenius, Leo (1873–1938), 22, 76, 164, 245, 249 Früchte, 189 G Gappah, Petina, 220, 221, 225, 227 Geld, 80, 89, 90, 193 Gide, André (1869–1951), 40, 227 Gleim, Johann Ludwig, 50, 227 Goethe, Johann Wolfgang von, 59, 71, 138, 227 Goll, Claire (1891–1977), 64, 65, 91, 225, 246, 252, 265 Goll, Yvan (1891–1950), 65, 246 Göttsche, Dirk, 22, 44, 45, 49, 51, 57, 62, 134, 139, 149–153, 183, 184, 191, 196, 218, 233, 240, 246, 247, 250, 258, 259 Grass, Günter (1927–2015), 38, 125, 158, 193, 262

Ding- und Namensregister

Grill, Bartholomäus, 161, 181, 182, 207, 247 Grimm, Brüder, 74 Grimm, Hans (1875–1959), 83, 120 Großfriedrichsburg, 98–100 Gründer, Horst, 38, 89, 98, 103, 189, 248, 249, 260 Günther, Hans Friedrich Karl (1891–1968), 86, 264

H Hamann, Christof, 20, 49, 109, 150, 154, 163, 183, 187–189, 195, 225, 233, 241, 245, 248, 263 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 26, 264 Heidegger, Martin, 129, 264 Heine, Heinrich, 50, 228 Herder, Johann Gottfried (1744–1803), 33, 38–42, 47, 49, 59, 118, 140, 145, 152, 155, 166, 217, 228, 249, 251, 254, 258, 262, 266, 267, 271 Herrmann, Elisabeth, 191–193, 207, 208, 210, 225 Hoffmann, E.T.A., 138, 228 Hofmann, Michael, 34, 39, 43, 49, 79, 82, 90, 120, 150, 152, 247–249, 251 Holzschemel, 67, 70, 71, 146, 216 Honold, Alexander, 27, 57, 150, 163, 188, 194, 230, 233, 241, 245, 248, 249, 265 Huelsenbeck, Richard (1892–1974), 34, 92, 94–96, 146, 225, 264 Hugo, Victor (1802–1885), 52, 133, 209, 265 Humboldt, Alexander von, 141, 194, 243 Humboldt (Forum), 169–171, 173, 181, 237, 240, 254, 262 Hut, 50

I Iser, Wolfgang (1926–2007), 164, 265 J Jacobs, Anne (Leah Bach), 188, 189, 204, 209, 225 Jaumann, Bernhard, 183, 225 Jazz, 65, 66, 92–94, 104, 146, 238, 242 Jung, Franz (1888–1963), 79–81, 225, 268 Jünger, Ernst (1895–1999), 116, 118, 119, 225, 234, 267 K Kaba, 84, 85 Kaffee, 45, 49, 50, 77, 146, 216, 227, 230, 234, 238 Kafka, Franz, 102, 197, 265 Kämpf, Matto, 205, 225 Kane, Cheick Hamidou, 165, 228 Kant, Immanuel, 42, 196, 197, 220, 265 Keller, Gottfried (1819–1890), 25, 51–53, 226, 228, 262 Kerze, 153 Kette, 192 Kibo, 186, 188 Kiboko, 86, 89, 90 Kilimandscharo, 34, 46, 87–89, 91, 185–189, 198, 204, 209, 225, 226, 228, 234, 256 Kimmich, Dorothee, 17, 20, 21, 25, 38, 54, 63, 102, 151, 215, 234, 249, 261 Kleidung, 202 Kohl, Karl-Heinz, 53, 78, 131, 235, 249 Kongo, 87, 110, 207, 229 Kopfschädel, 34, 157, 167, 169, 171, 214 Kpao Sarè, Constant, 61, 68, 87, 101, 103, 110, 115, 150, 152, 159, 160, 162, 250, 251 Kreutzer, Leo, 43, 46, 120, 251, 258

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

Kreuz, 209 Kundrus, Birthe, 83, 84, 154, 231, 251, 259 L Latour, Bruno, 16, 58, 217, 236 Leiris, Michel (1901–1990), 168, 228 Leiter, 168 Lendenmann, Jürg, 204, 228 Lenz, Siegfried, 192, 228 Lessing, Gotthold Ephraim (1729–1781), 132, 180, 228 Lettow-Vorbeck, Paul (1870–1964), 83, 89, 119, 123, 228, 253 Lindsey, Vachel (1879–1931), 91, 252 Lips, Julius (1895–1950), 97–102, 172, 226, 252 Livingstone, David, 160, 195, 220, 227 Luther, Martin, 132 Lützeler, Paul Michael, 88, 115, 166, 253, 267 M Mabanckou, Alain, 159, 228 Malraux, André (1901–1976), 132, 168, 228 Mangold, Ijoma, 218, 219, 226 Mann, Heinrich (1871–1950), 95, 228 Mann, Klaus, 205 Mann, Klaus (1906–1949), 111–113, 115, 226 Mann, Thomas, 113, 228 Maran, René (1887–1960), 64, 228 Marx, Karl, 142, 267 Mbembe, Achille, 31, 81, 157, 170, 171, 187, 253, 270 Meckel, Christoph, 30 Meyer, Hans (1858–1929), 46, 185, 187 Morenga, Jakob, 34, 79–81, 153, 154, 225, 226, 240 Morrison, Toni, 23, 254

Müller, Heiner (1929–1995), 30, 64, 158, 268 Müller, Inge (1925–1966), 158 N Nashorn, 192, 193, 204, 206, 207, 211 Naturdinge, 34, 123, 129, 132, 136, 146, 166, 185–187, 189, 191, 193–198, 213, 221 Ngugi wa Thiong’o, 157 Niane, Djibril Tamsir, 162, 268 Nilpferdpeitsche, 24, 27–29, 32, 46, 86, 89–91, 104, 146, 216, 231, 236 Nilquelle, 194, 195, 197, 198, 220, 221 Nkrumah, Kwame, 123, 260 O Obelisk, 37 Olden, Balder, 86–89, 91, 110, 226, 228, 229, 263 Oloukpona-Yinnon, Adjai Paulin, 103, 187, 254 Opium, 114, 116, 119, 146 Orte, 187 Osterhammel, Jürgen, 41, 44, 51, 59, 82, 135, 136, 172, 174, 201, 208, 216, 255 Ouologuem, Yambo, 164, 229 P Paasche, Hans (1881–1920), 72, 74–76, 226 Packendorf, Gunther, 79–81 Peters, 61, 250 Pfeil, 137 Pflanzen, 190 Platon, 20, 235 Pombe, 72, 74–77, 82, 236 Purtschert, Patricia, 51, 126, 205, 250, 256 Pyramide, 139, 142, 143, 146

Ding- und Namensregister

R Raabe, Wilhelm (1831–1910), 45–49, 51, 57, 145, 226, 229, 251, 266 Räume, 30, 37 Reuter, Julia, 194, 261 Ring, 136, 180 Rücker, Helmut, 173, 174, 176–180, 182, 226

Simons, Oliver, 62, 68, 258

S Säbel, 51, 53, 59, 80, 130, 131, 146, 216 Said, Edward W. (1935–2003), 27, 40, 42, 43, 59, 73, 78, 121, 127, 175, 256 Sansibar, 160, 195, 196, 227, 247 Sarkozy, Nicolas, 126 Sarotti, 84, 86, 236 Schädel, 100, 169, 171–180, 182, 183, 226, 234, 239 Scheer, Maximilian (1896–1978), 140–142, 226, 229 Scherpe, Klaus R., 27, 43, 50, 67, 68, 194, 230, 242, 249, 256 Schiewer, Gesine Lenore, 21, 42, 237 Schiff, 92 Schiwkow, Todor, 203, 204 Schlüssel, 119 Schnee, Heinrich (1871–1949), 83, 99, 128, 257 Schuh, 136, 233 Schulze-Engler, Frank, 25, 238 Schwarzenbach, Annemarie (1908–1942), 30, 110, 205, 206, 257, 263 Schwert, 131 Sebald, W. G., 30, 145, 232 Seel, Martin, 50 Seghers, Anna, 25 Senghor, Léopold Sédar (1906–2001), 11, 13, 22, 94, 202, 257 Sieburg, Friedrich (1893–1964), 109, 258 Simo, David, 22, 46, 67, 258

Spivak, Gayatri Chakravorty, 67, 70, 72, 165, 221, 258

Soyinka, Wole, 208, 258 Speke, John Hanning (1827–1864), 195, 196, 221 Spengler, Oswald (1880–1936), 63, 88, 269 Spiegel, 38, 44, 97, 252, 257, 258 Spiel, 27, 28, 32, 70, 111, 133, 187, 230

Stangl, Thomas, 162–165, 226, 229 Steine, 58, 95, 131, 210, 216 Stiefel, 136 Stifter, Adalbert (1805–1868), 54–58, 226 Strauß, Botho, 126, 229 Stuchtey, Benedikt, 19, 37, 41, 61, 62, 259, 272 Sundiata, Keita (ca. 1210–1260), 162

T Tacitus, P. Cornelius, 48 Tee, 216 Tempel, 37, 39, 132, 168, 266 Tessmann, Günther, 76, 239 Tetzlaff, Rainer, 165, 209, 269 Thieß, Frank (1890–1977), 116 Timbuktu, 162 Timm, Uwe, 95, 126, 143, 152–156, 161, 226, 229, 233, 248, 259 Trentmann, Frank, 18, 50, 75, 77, 85, 100, 108, 109, 142, 146, 200, 239 Trojanow, Ilija, 52, 195–197, 201, 203, 226, 229 Tucholsky, Kurt (1890–1935), 72, 264 Tzara, Tristan (1896–1963), 92

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Constant Kpao Sarè: Afrikanische Dinge in der deutschsprachigen Literatur

U Uerlings, Herbert, 32, 45, 63, 150, 155, 218, 239, 244, 246, 259 Uhr, 27 Usambara, 50, 152, 186, 188–191, 198, 225, 230, 245, 249 V van der Heyden, Ulrich, 43, 62, 84, 98, 123, 139, 167, 240, 253, 259, 260 van Laak, Dirk, 26, 260 Viett, Inge, 154, 155, 226, 269 Vogelflinte, 67, 70, 81, 146, 216 Vollmar, Goerg von (1850–1922), 91 Volodine, Antoine, 229 W Wackwitz, Stephan, 191, 229 Wagen, 113 Wehler, Hans-Ulrich, 116, 117, 260 Welsch, Wolfgang, 38, 163, 261 Weyand, Björn, 17, 269

Widmer, Urs, 207, 229 Wieland, Christoph Martin (1733–1813), 39, 249 Wierlacher, Alois, 152, 261 Wilhelm I. (deutscher Kaiser), 98 Wilhelm II. (deutscher Kaiser), 80, 178 Winkelmann, Johann Joachim (1717–1768), 40 Wissmann, Hermann von (1853–1905), 76, 96, 261 Wolf, Christa, 30, 125, 262 Z Zauberkräutlein, 110, 112, 146 Ziegenfuß, Gerhard, 173, 174, 176–180, 182, 226 Zimmerer, Jürgen, 34, 61, 62, 84, 95, 103, 119, 131, 144, 154, 168–170, 172, 173, 182, 188, 196, 200, 236, 239, 242, 243, 250, 255 Zola, Emil, 160 Zug, 53

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