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German Pages 388 [390] Year 2022
stefan röttig
Affekt und Wille
Dieses Buch widmet sich der Analyse der handlungspsychologischen und normativen Aspekte von Senecas Ethik. Unter Einbeziehung der Quellen zur älteren und mittleren Stoa arbeitet es zunächst ihr handlungspsychologisches Fundament heraus. Hiervon ausgehend erschließt es Senecas ethische Überlegungen, die allesamt auf den Tugenderwerb und die Erlangung der Glückseligkeit abzielen.
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Affekt und Wille
er römische Philosoph Seneca befasst sich in seiner Ethik mit den psychologischen Grundlagen unseres Handelns und erläutert eingehend, wie wir glücklich werden können. Affekte wie Wut, Trauer und Furcht entziehen uns nicht nur die Kontrolle über unser Handeln, sondern machen uns auf Dauer auch unglücklich. Worauf wir uns konzentrieren m üssen, ist unser Wille. In einer Welt voller Ungewissheiten ist er die einzige Instanz, die in unserer Macht steht. Richtig ausgerichtet steuern wir mit ihm unser Handeln und bahnen uns den Weg zur Glückseligkeit.
röttig
röttig Affekt und Wille
Senecas Ethik und ihre handlungspsychologische Fundierung
philosophia romana
band 4
p h i lo soph ia rom a na Studien, Editionen und Kommentare zur römischen Philosophie und ihrem Fortleben Herausgegeben von Gernot Michael Müller (Bonn) Jörn Müller (Würzburg)
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s t e fa n r ö t t i g
Affekt und Wille Senecas Ethik und ihre handlungspsychologische Fundierung
Universitätsverlag
wi n ter
Heidelberg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Würzburg; Univ., Diss., 2020 Gedruckt mit Unterstützung der Julius-Maximilians-Universität Würzburg
u m s c h lagb il d Amadeo Ruiz Olmos (1913–1993): Statue des Seneca an der Puerta de Almodóvar in Córdoba (eingeweiht im Jahr 1965) Foto: Depositphotos
i s b n 978-3-8253-4932-5 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2o22 Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg Imprimé en Allemagne · Printed in Germany Umschlaggestaltung: Klaus Brecht GmbH, Heidelberg Druck: Memminger MedienCentrum, 87700 Memmingen Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier Den Verlag erreichen Sie im Internet unter: www.winter-verlag.de
MEINER BABUSCHKA ANNA MARTYNOWNA STARODUBZEWA (1936–2017)
Vorwort Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Februar 2020 an der Graduiertenschule für die Geisteswissenschaften (GSH) der Julius-Maximilians-Universität Würzburg eingereicht habe. Mein Rigorosum fand im Juli desselben Jahres am dortigen Institut für Philosophie statt. Den Dissertationstitel habe ich seitdem leicht verändert, im Wesentlichen ist er aber derselbe geblieben. Von der Ausarbeitung des Exposés bis hin zum Abschluss des Manuskripts ist mir von vielen Seiten Unterstützung zuteilgeworden, für die ich mich im Folgenden herzlich bedanken möchte. Der Mensch, der mich auf das Thema der Dissertation aufmerksam gemacht und die Arbeit von ihren Anfängen bis zu ihrem Abschluss auf jede nur erdenkliche Weise unterstützt hat, ist mein Doktorvater Prof. Dr. Jörn Müller. Ihm möchte ich insbesondere dafür danken, dass er mich zu Beginn meiner Promotionszeit, in einem Moment, als Zweifel über die Umsetzbarkeit meiner These in mir aufkamen, ermutigt hat, nicht aufzugeben – und dass er mir in schwierigen Lebenssituationen mit Rat und Tat zur Seite stand. Prof. Dr. Christian Tornau danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens, aus dem ich viel gelernt habe und durch das ich meine Doktorarbeit insgesamt deutlich verbessern konnte. Ungemein profitiert hat diese auch von meinem Aufenthalt als Visiting Assistant in Research (VAR) an der Yale University, der von Prof. Brad Inwood betreut wurde. Mir ist selten ein Mensch begegnet, der nicht nur auf fachlicher, sondern auch auf menschlicher Ebene als exzellent zu bezeichnen ist. Des Weiteren sei der Studienstiftung des deutschen Volkes gedankt, die es mir durch ein Promotionsstipendium ermöglicht hat, mich ganz auf die wissenschaftliche Arbeit zu konzentrieren. Für mich war sie aber weit mehr als nur eine Geldgeberin: Sie hat mir das Gefühl vermittelt, etwas Sinnvolles zu tun, und mir zahlreiche Gelegenheiten geboten, mich weiterzubilden, die ich als bleibende Geschenke betrachte. Großer Dank gebührt zudem Prof. Dr. Dag Nikolaus Hasse, dessen Assistenz ich in der Endphase meiner Promotionszeit vertreten durfte. So konnte ich zusätzliche Erfahrung in der Lehre sammeln und meine Dissertation zügig zum Abschluss bringen. Einer ganzen Reihe weiterer Menschen sei gedankt, weil sie mit mir über Abschnitte aus meiner Doktorarbeit diskutiert, Teile daraus gelesen und kommentiert oder mir wichtige Literaturhinweise gegeben haben: den Kolleg*innen und Freun-
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Vorwort
d*innen vom Institut für Philosophie der Universität Würzburg, insbesondere Prof. Dr. Karl Mertens, der sich als drittes Mitglied meines Promotionskomitees engagiert hat; weiterhin Veronika Müller, Michael Vazquez, Dr. habil. Andree Hahmann, Guus Eelink, Theresa Weiß, Friedrich Reinhardt, Dr. Wilfried Kühn, Vera Engels, Prof. Dr. Jula Wildberger, Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Erler und Jacob Tonner. Für die Aufnahme meiner Doktorarbeit in die Reihe „Philosophia Romana“ möchte ich deren Herausgebern danken, Prof. Dr. Gernot Michael Müller und Prof. Dr. Jörn Müller. Den Publikationsprozess maßgeblich unterstützt haben Lara Turtur und Paul Wassermann, die aufwendige redaktionelle Arbeiten vorgenommen haben, Bastian Jürgen Wagner, der mir eine große Hilfe in technischen Angelegenheiten war, Dennis Pfefferkorn, der mit der Anfertigung der Register begonnen, und Manuel Steiner, der sie abgeschlossen hat und den ich außerdem als versierten Lektor gewinnen konnte. Unschätzbarer Dank gebührt ferner Christoph Beckel und Ala Jamous, durch die ich gelernt habe, was Freundschaft ist, und schließlich meiner Familie, die immer für mich da war und mich, wo sie nur konnte, unterstützt hat. Meine russische Großmutter konnte die Fertigstellung dieser Arbeit leider nicht mehr erleben, aber sie hätte sich darüber gefreut, auch wenn sie kein Deutsch konnte und keine Ahnung von Philosophie hatte. Ihr ist sie gewidmet. Würzburg, im Frühjahr 2022
Stefan Röttig
Inhaltsverzeichnis I
Einleitung........................................................................... 19
1 2
Forschungsstand, These und Methode .................................................. 19 Der 89. Brief der Epistulae morales ad Lucilium ................................. 24
II
Das handlungspsychologische Fundament ........................ 31
1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.4.1 1.4.2
Alt- und mittelstoische Handlungspsychologie und Gefühlslehre........ 31 Die altstoische Handlungspsychologie ................................................. 31 Affektverständnis und Affektgenese in der älteren Stoa ...................... 46 Die altstoische Gefühlssystematik ........................................................ 54 Rückkehr zu Platon? Affekte nach Poseidonios ................................... 69 Die Dreiteilung der Seele bei Platon ..................................................... 69 Poseidonios und der altstoische gefühlstheoretische Kognitivismus.... 73
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.5 2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.6 2.6.1 2.6.2 2.6.3
Handlungspsychologie und Gefühlslehre bei Seneca ........................... 78 Monismus oder Dualismus? Senecas Seelenkonzept ........................... 78 Die senecanischen Handlungsmomente ................................................ 83 Gibt es bei Seneca eine Systematik der Affekte und guten Gefühle?... 88 Die Entstehung von Wut in De ira 2,1–4 (= dial. 4,1–4) ..................... 96 Das Unrecht .......................................................................................... 97 Erscheinung von einem Unrecht, Zustimmung und Wut.................... 102 Willensstärke und Willensschwäche................................................... 114 Willensschwache Charaktere in Senecas Tragödien I: Medea ........... 118 Willensschwache Charaktere in Senecas Tragödien II: Phaedra ........ 122 Willensschwache Charaktere in Senecas Tragödien III: Thyest......... 131 Apathie vs. Metriopathie ..................................................................... 136 Die peripatetische Metriopathie in der Darstellung Ciceros ............... 138 Die peripatetische Metriopathie in der Darstellung Senecas .............. 144 Senecas Kritik an der peripatetischen Metriopathie ........................... 150
3
Schlussfolgerungen und Ausblick....................................................... 156
10
Inhaltsverzeichnis
III
Die Ethik .......................................................................... 161
1 1.1 1.2
Das Telos ............................................................................................ 161 Der Tugenderwerb als moralisches Ziel und seine Effekte ................ 161 Das Ideal der Selbstübereinstimmung ................................................ 167
2 2.1 2.2
Das iudicium ....................................................................................... 174 Decreta und praecepta: Orientierungspunkte richtiger Urteile .......... 174 Wissen und Tugend............................................................................. 180
3 3.1 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.2.1 3.3.2.2 3.3.3 3.3.3.1 3.3.3.2 3.3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6 3.3.6.1 3.3.6.2 3.3.7 3.3.7.1 3.3.7.2 3.3.7.3 3.3.8
Der impetus ......................................................................................... 186 Der gute Wille ..................................................................................... 186 Das Gewollte (voluntarium) ............................................................... 191 Schlechte impetus vermeiden oder heilen – die remedia .................... 195 Formung und Formbarkeit der individuellen geistigen Natur ............ 197 Affektpräventive Techniken für den Moment vor einem Voraffekt ... 201 Selbsteinschätzung .............................................................................. 201 Die bewusste Vorwegnahme zukünftiger ,Übel‘ ................................ 208 Affektpräventive Techniken für den Moment nach einem Voraffekt 213 Zurückhaltung und angemessene Auslegung von Taten .................... 213 Die Prüfung der intentionalen Objekte ............................................... 217 Das seelische Gerichtetsein auf sich selbst ......................................... 219 Therapie von Wut ............................................................................... 220 Therapie von Furcht ............................................................................ 226 Therapie von Kummer ........................................................................ 236 Kummertherapie in der Konsolationsschrift an Helvia ...................... 239 Kummertherapie in der Konsolationsschrift an Marcia ...................... 246 Hybride Techniken: Der Gebrauch von exempla................................ 252 Kurzer Forschungsüberblick und eigener Ansatz ............................... 252 Der Gebrauch von exempla als affektpräventive Technik .................. 255 Der Gebrauch von exempla als affekttherapeutische Technik ............ 267 Weitere Techniken: Die Selbstprüfung ............................................... 278
4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3
Die actio .............................................................................................. 284 Die wesentlichen Merkmale einer Wohltat......................................... 285 Wohltaten zweiter Stufe ...................................................................... 295 Wozu Wohltaten erweisen, entgegennehmen und erwidern? ............. 297 Wohltaten richtig erweisen, entgegennehmen und erwidern .............. 302 Wie man Wohltaten richtig erweist .................................................... 304 Wie man Wohltaten richtig entgegennimmt ....................................... 314 Wie man Wohltaten richtig erwidert................................................... 318
Inhaltsverzeichnis
11
5
Die unterschiedlichen moralischen Entwicklungsstadien ..................... 322
6
Lob und Tadel........................................................................................ 327
IV
Schlusswort ........................................................................ 335
V
Literaturverzeichnis ........................................................... 345
VI
Orts- und Personenregister ................................................ 363
VII
Stellenregister .................................................................... 367
Tabellenverzeichnis Tabelle 1: altstoische Affektsystematik ............................................................... 62 Tabelle 2: altstoische Systematik der guten Gefühle ........................................... 64 Tabelle 3: Senecas implizite Systematisierung der Affekte ................................ 95 Tabelle 4: Senecas implizite Systematisierung der guten Gefühle ...................... 95 Tabelle 5: remedia in De ira 3,5,3–13,1 und ihre Anwendungsmomente ........ 256 Tabelle 6: remedia in De ira 3,24,2–36,1 und ihre Anwendungsmomente ...... 279
Zitierweise und Abkürzungen Die Zitation von Senecas Werken richtet sich nach den maßgeblichen kritischen Ausgaben, die allesamt im Literaturverzeichnis aufgeführt sind. Bei anderen antiken Autoren greife ich entweder auf eine kritische oder eine zweisprachige Ausgabe zurück, die an jenem Ort ebenfalls gut einsehbar sein sollten. Die Schreibweise lateinischer Wörter wurde vereinheitlicht (beispielsweise wird „ds“, wie in adsensio, stets mit „ss“ wiedergegeben). Was die Übersetzungen angeht, fiel die Wahl auf diejenige, die den Punkt aus meiner Sicht am ehesten trifft. Das hat zur Folge, dass die verwendeten Übersetzungen bestimmter Werke (etwa der Epistulae morales) sehr variieren. Häufiger fertige ich auch eine eigene Übersetzung an, wenn ich meine, dass nur so der eigentliche Sinn der Textpassage gewahrt bleibt. Die Urheber*innen der Übersetzungen werden durchweg in Klammern angegeben, und es wird kenntlich gemacht, wenn Änderungen daran vorgenommen wurden. Alle verwendeten Übersetzungen finden sich im Literaturverzeichnis. Der überwiegende Teil der nachfolgenden Abkürzungen ist dem Neuen Pauly entnommen. Ich weiche von ihm dann ab, wenn eine Abkürzung darin nicht enthalten war oder mir eine andere üblicher erschien. Aët. plac. AL Alex. Aphr. fat. Alex. Aphr. mant. Ar. Did. epit. phys. Aristot. an. Aristot. EN Aristot. rhet. Aspas. ad Aristot. EN Aug. civ. Aug. lib. arb. Calc. comm. Cic. ac. 1 Cic. ac. 2 Cic. de orat. Cic. div.
Aëtios, Placita philosophorum Augustinus-Lexikon Alexander von Aphrodisias, De fato Alexander von Aphrodisias, De anima libri mantissa Areios Didymos, Epitomes fragmenta physica Aristoteles, De anima Aristoteles, Ethica Nicomachea Aristoteles, Ars rhetorica Aspasius, In Ethica Nicomachea quae supersunt commentaria Augustinus, De civitate Dei Augustinus, De libero arbitrio Calcidius, Commentarius in Platonis Timaeum Cicero, Academicorum posteriorum, liber 1 Cicero, Lucullus sive Academicorum priorum, liber 2 Cicero, De oratore Cicero, De divinatione
16 Cic. fam. Cic. fat. Cic. fin. Cic. nat. Cic. off. Cic. Phil. Cic. rep. Cic. top. Cic. Tusc. Clem. Strom. DG DL DNP Epik. kyr. dox Epik. Men. Epikt. diatr. Epikt. ench. Eur. Or. Gal. PHP Gal. QAM Gell. noct. Att. Hdt. Hippol. haer. Lact. ira LS Lucr. Muson. Ruf. Nauck TGF Phil. quaest. in Gen. Philod. de ira Philod. adv. [sophistas] Plat. Gorg. Plat. leg. Plat. Phdr. Plat. Phaid. Plat. Prot. Plat. rep. Plat. soph. Plat. Tht.
Zitierweise und Abkürzungen
Cicero, Ad familiares Cicero, De fato Cicero, De finibus bonorum et malorum Cicero, De natura deorum Cicero, De officiis Cicero, Philippische Reden Cicero, De re publica Cicero, Topica Cicero, Tusculanae disputationes Clemens von Alexandria, Stromata Diels, Hermann (Hg.), Doxographi graeci Diogenes Laertios, Vitae philosophorum Der neue Pauly Epikur, Kyriai doxai Epikur, Brief an Menoikeus Epiktet, Diatriben Epiktet, Encheiridion Euripides, Orestes Galen, De placitis Hippocratis et Platonis Galen, Quod animi mores corporis temperamenta sequantur Gellius, noctes Atticae Herodot, Historien Hippolytus von Rom, Refutatio omnium haeresium Laktanz, De ira dei Long, Anthony A./Sedley, David N. (Hgg.), The Hellenistic philosophers Lukrez, De rerum natura Musonius Rufus, C. Musonii Rufi Reliquiae Nauck, Tragicorum Graecorum fragmenta Philon (v. Alex.), Quaestiones et solutiones in Genesim et in Exodum Philodem, De ira Philodem, Adversus [sophistas] Platon, Gorgias Platon, Leges (Nomoi) Platon, Phaedrus Platon, Phaidon Platon, Protagoras Platon, Respublica (Politeia) Platon, Sophista Platon, Theaetetos
Zitierweise und Abkürzungen
Plat. Tim. Plot. enn. Plut. adv. Col. Plut. cons. ad Apoll. Plut. de libid. et aegr. Plut. de Stoic. rep. Plut. de virt. mor. Poseid. Ps.-Andr. pass. Quint. inst. Sen. ad Helv. Sen. ad Marc. Sen. ad Polyb. Sen. benef. Sen. brev. vit. Sen. clem. Sen. const. sap. Sen. d. Ält. contr. Sen. de ira Sen. de ot. Sen. de prov. Sen. de tran. an. Sen. dial. Sen. epist. Sen. fragm. Sen. Med. Sen. nat. Sen. Phaedr. Sen. Thy. Sen. vit. beat. Sext. Emp. Pyrrh. hyp. Sext. Emp. adv. math. Stob. anthol. SVF Tac. Germ. Tert. anim. Th. v. Aqu. S. th. TLL Us. Epic. WaPh
Platon, Timaeus Plotin, Enneaden Plutarch, Adversus Colotem Plutarch, Consolatio ad Appolonium Plutarch, De libidine et aegritudine Plutarch, De Stoicorum repugnantiis Plutarch, De virtute morali Poseidonios, The Fragments Pseudo-Andronicus, De passionibus Quintilian, Institutio oratoria Seneca, Ad Helviam matrem de consolatione Seneca, Ad Marciam de consolatione Seneca, Ad Polybium Seneca, De beneficiis Seneca, De brevitate vitae Seneca, De clementia Seneca, De constantia sapientis Seneca der Ältere, Controversiae Seneca, De ira Seneca, De otio Seneca, De providentia Seneca, De tranquillitate animi Seneca, dialogi Seneca, Epistulae morales ad Lucilium Seneca, Fragmenta Seneca, Medea Seneca, Naturales quaestiones Seneca, Phaedra Seneca, Thyestes Seneca, De vita beata Sextus Empiricus, Pyrrhôneiai hypotypôseis Sextus Empiricus, Adversus mathematicos Stobaios, Anthologium Stoicorum veterum fragmenta Tacitus, Germania Tertullian, De anima Thomas von Aquin, Summa theologica Thesaurus Linguae Latinae Usener, Epicurea Wörterbuch der antiken Philosophie
17
I
Einleitung
1
Forschungsstand, These und Methode
In seiner 1985 erschienenen richtungsweisenden Studie Ethics and Human Action in Early Stoicism analysiert Brad Inwood die altstoische Handlungspsychologie und stellt ihre Funktion innerhalb der altstoischen Ethik heraus. Gleich zu Beginn formuliert er seine fundamentale These:1 The older Stoics not only elaborated an analysis of human action in greater detail than their rivals did, but they used it, I would claim, deliberately as a basis for their ethics. They seem to have seen clearly that making claims about what sorts of action are good or right should only be done on the basis of a theory about what action is.
Inwood behauptet, die ältere Stoa habe eine eigene Handlungspsychologie entwickelt, die sie ihrer Ethik bewusst als Fundament zugrunde legte. Wie der Titel und das angeführte Zitat aber schon erkennen lassen, liegt der Schwerpunkt seiner Studie auf der älteren Stoa. Und so könnte man fragen: Gilt seine These auch für die jüngere Stoa, also für die Phase, die mit Seneca ihren Anfang nahm? Einige Essays, die Inwood unter dem Titel Reading Seneca, Stoic Philosophy at Rome in einem Buch zusammengetragen hat, sind für die Beantwortung dieser Frage von zentraler Bedeutung. Zu ihnen gehört unter anderem Seneca and Psychological Dualism,2 wo er sich gegen die Meinung stellt, dass Seneca nur ein Eklektiker gewesen sei.3 Er argumentiert dort, dass sich der römische Philosoph nahtlos in die philosophische Tradition der älteren Stoa einreihen lässt, weil er dem psychologischen Monismus treu bleibt und nicht zu einem psychologischen Dualismus zurückkehrt.4 Inwood geht sogar noch weiter und zeigt, dass sich Orthodoxie und Innovation nicht ausschließen müssen: Seneca sei ein eigenständiger s
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4
Inwood 1985, S. 2. Vgl. Inwood 2005, S. 23–64. Diese schon lange bestehende Meinung ist auch in der neueren Forschung noch anzutreffen, vgl. Guckes 2004, S. 8: „Die Philosophie der römischen Stoa schließlich ist als eklektisch zu beurteilen.“ Vgl. auch Walde 2017, S. 142, die, obwohl es ihr, wie sie selbst sagt, nicht um eine Rekonstruktion von Senecas Lehre vor dem Hintergrund hellenistischer Philosophenschulen geht, seine Philosophie als eine „Lebensphilosophie des eklektischen römischen Stoizismus“ charakterisiert. Das ist bezeichnend, suggeriert ihr Anliegen doch, dass sie kein Urteil über Senecas Philosophie fällen will. Dennoch fällt sie eines. Inwood geht in „Seneca and Psychological Dualism“ nur an wenigen Stellen auf die Kernideen des psychologischen Monismus bzw. Dualismus ein, und dann zum Teil
20
Einleitung
Denker, der nicht einfach nur an die ältere Stoa anknüpft, sondern auch deren handlungspsychologische Überlegungen weiterentwickelt und ihnen etwas genuin Neues hinzufügt, das sich vor allem in der Konzeption der Zustimmung (συγκατάθεσις/assensio, assensus) als „consciously chosen response to a stimulus“ niederschlägt.5 In The Will in Seneca beschäftigt sich Inwood zudem mit der Frage, welchen Beitrag Seneca zur Konzipierung des philosophischen Willensbegriffs geleistet hat.6 Seiner Ansicht nach hat der Begriff des Willens (voluntas/velle) bei Seneca die Funktion eines Wunsches zweiter Ordnung (second order desire), weil dieser immer dann auf ihn zurückgreift, wenn es um die Bildung des Selbst (selfshaping), die Selbsterkenntnis (self-knowledge) und Selbstkontrolle (self-control) geht. Andererseits verwende Seneca den Willen als Moment kausal-wirksamen Urteilens oder Entscheidens im Prozess der Reaktion auf einen Handlungsstimulus.7 Bemerkenswerterweise kommt Inwood in seinen Essays aber nicht wieder auf seine frühere These zu sprechen. Er versucht nicht, sie mit Blick auf Seneca abermals zu verfechten. Die Frage, welche Bedeutung die Handlungspsychologie in der Ethik der jüngeren Stoa und insbesondere bei Seneca hat, wird von ihm auch hier nicht abschließend beantwortet. Wie sieht es mit der übrigen Forschung aus? Senecas Philosophie wurde unter ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten untersucht. Die ältere Forschung legte ihren Fokus ausschließlich auf die Frage, wie genau das Verhältnis Senecas zu früheren Stoikern zu beurteilen ist. So geht es Salomon Rubin in seiner 1901 erschienenen Dissertation mit dem Titel Die Ethik Senecas in ihrem Verhältnis zur älteren und mittleren Stoa darum, „[...] alles zum Vergleiche heran[zu]ziehen, was erklären kann, welches die bestimmenden Einflüsse gewesen sind, die [Senecas] Ansichten so oft modifizierten“.8 Rubin unterstreicht, dass Seneca sich zwar selbst als Anhänger der stoischen Schule bezeichnet, „[...] an mehreren Stellen aber entschieden dagegen Verwahrung einlegt“.9 Daher macht er es sich zur Aufgabe, zu untersuchen, „[...] in welchen Punkten seine Stellungnahme zur stoischen Ethik
s
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auch nur indirekt: In seiner Kritik an der Quellenforschung merkt er mit Blick auf Fillion-Lahille 1984 auf S. 30 an: „[...] [S]he does not see that the key issue for orthodoxy is not the relation of irrationality in the soul to the passions, but whether or not there is any irrational part.“ Auf S. 32 erklärt er: „The orthodox Stoic view is that all passions are causally dependent on rational decisions of the mind, and that a conflict between one’s rational decision-making powers and the passions of the soul, of the sort which Plato attributes to Leontius in Republic IV, is simply not possible.“ Eine ausführliche Behandlung dieses Themas erfolgt auf den S. 46–53 und 69–83. Vgl. Inwood 2005, S. 59, eig. Herv. Vgl. ebd., S. 132–156. Vgl. ebd., S. 155. Rubin [1901] 2015, S. 1. Ebd.
Forschungsstand, These und Methode
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eine abweichende oder übereinstimmende ist“.10 Unter dieser Fragestellung stellt er allerdings hie und da fest, dass die Ethik bei Seneca auf einer „psychologischen Basis“ beruht bzw. dass „die Psychologie bei ihm die Basis [bildet], auf der die ethischen Hauptgrundsätze sich aufbauen“.11 Dieser Punkt wird von Rubin aber nicht weiter ausgearbeitet, was wohl hauptsächlich an seinem quellenfokussierten Erkenntnisinteresse liegt. In der jüngeren Forschung trat dann ein Perspektivenwechsel ein. Es geht nicht mehr nur um die Frage, wie das Verhältnis Senecas zu früheren Stoikern zu beurteilen ist; vielmehr möchte man ihn auch als eigenständig denkenden Philosophen besser verstehen.12 Zu den Ersten, die seine Philosophie als solche genauer zu charakterisieren versuchten, gehört Ilsetraut Hadot. In ihrer 1969 erschienenen Dissertation Seneca und die griechisch-römische Tradition der Seelenleitung präsentiert sie Seneca als einen Philosophen, dessen zentrales Anliegen die Seelenleitung und Seelenheilung war. Dieses Charakteristikum ist, wie Hadot unterstreicht, „[...] von niemandem, der sich je mit den Werken des jüngeren Senecas befaßt hat, [...] in Zweifel gezogen oder bestritten worden [...]“.13 Doch blieb ihrer Meinung nach eine gründliche Untersuchung über die Ziele der Seelenleitung Senecas, „[...] wie er selbst die Aussichten derselben beurteilt hat und welche Methoden er für anwendbar hielt [...]“, bisher aus. Im weiteren Verlauf ihrer Arbeit betont sie immer wieder, dass Seneca ein Psychagoge und kein systematischer Philosoph war, denn „[...] für einen Systematiker der Philosophie hätte die Psychologie eine der Grundlagen für die Ethik dargestellt, wäre doch für ihn zum Beispiel die Lehre von den Seelenteilen und der Entstehung der Affekte die theoretische Voraussetzung für die Seelentherapie gewesen. Seneca jedoch hat sich um diese Zusammenhänge wenig gekümmert und Fragen aus der Psychologie kaum berührt“.14 Es ist bemerkenswert, dass Hadots Aussage in einem diametralen Gegensatz zur Auffassung Rubins steht, der gerade meint, Senecas Ethik beruhe auf einer psychologischen Grundlage. Sicherlich mag Hadot recht damit haben, dass Seneca kein systematischer Philosoph war, oder genauer gesagt: kein Autor, der seine Philosophie als System präsentierte. Zudem zeichnet er sich nicht wie etwa Aristoteles durch ein analytisches, kleinschrittiges und komprimiertes Vorgehen aus. Dafür wurde er häufig s
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Rubin [1901] 2015, S. 1. Auch Holler 1934 interessiert sich in seiner Dissertation Seneca und die Seelenteilunglehre und Affektpsychologie der Mittelstoa primär für Senecas Verhältnis zu früheren Stoikern. Wie der Titel seiner Arbeit aber bereits verrät, steht hier dessen Verhältnis zur mittleren Stoa unter den thematischen Gesichtspunkten der Seelenteilung und Affektpsychologie im Vordergrund. Rubin [1901] 2015, S. 3 und 16. Ich habe in dieser Arbeit Literatur bis einschließlich 2020 berücksichtigt. Für einen neueren Sammelband zu Senecas Schrift De ira sei auf Laurand/Malaspina/Prost 2021 verwiesen. Hadot 1969, S. 1, auch im Folgenden. Ebd., S. 90, eig. Herv.
22
Einleitung
gescholten, sogar von prominenter Seite: Friedrich Nietzsche mokierte sich über sein „unausstehlich weises Larifari“.15 Aber sollte man es Hadot gleichtun und daraus folgern, dass die Psychologie bei ihm – ja vielleicht sogar in der gesamten jüngeren Stoa – so gut wie keine Rolle mehr spielte? Für diese Annahme spräche jedenfalls, dass Seneca, Epiktet und auch Marc Aurel (um nur die bekanntesten Vertreter zu nennen) primär an der praktischen Umsetzung stoischer Lehrsätze interessiert waren. „Handeln lehrt die Philosophie, nicht reden“ (facere docet philosophia, non dicere),16 lesen wir in Senecas Epistulae morales ad Lucilium. Und auch Epiktet betont in seinem Encheiridion, dass der erste und notwendigste Bereich der Philosophie die Anwendung ihrer Lehren sei, wie zum Beispiel nicht zu lügen. 17 Eine deutliche Akzentverschiebung hin zur gelebten und praktizierten Philosophie ist ebenfalls bei Marc Aurel erkennbar. Man könnte daher schnell so weit gehen wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie und zu dem Schluss kommen, dass die Philosophie der jüngeren Stoa „[...] eigentlich das spekulative Interesse ganz verlor und mehr eine rhetorische und paränetische Wendung nahm, der sowenig als unserer Predigten in der Geschichte der Philosophie Erwähnung geschehen kann“.18 Doch ist es wirklich so, dass wir es hier nur noch mit sogenannter Ratgeberliteratur zu tun haben, die jeglichen philosophischen Wert verloren hat und deswegen eigentlich in die Esoterikecke gehört? In der vorliegenden Arbeit möchte ich anhand einer eingehenden Untersuchung von Senecas Schriften zeigen, dass die Psychologie – genauer gesagt: die Handlungspsychologie – auch noch in der Ethik der jüngeren Stoa von Bedeutung war. Der Begriff der Handlungspsychologie oder Handlungstheorie ist modern und hat kein Pendant im Griechischen oder Lateinischen, deswegen mag seine Verwendung anachronistisch wirken. Er stellt dennoch eine geeignete Analysekategorie dar, da mit seiner Hilfe etwas aufgedeckt werden kann, das in Senecas Schriften tatsächlich vorhanden ist. Der Begriff der Handlungspsychologie erscheint als Analysekategorie zudem geeigneter als derjenige der Handlungstheorie, denn er bringt klarer zum Ausdruck, dass Handeln mit seelischen Aktivitäten zu tun hat. Bei dem Begriff der Handlungstheorie könnte man dagegen vermuten, s
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Vgl. Nietzsche [1882] 2000, Vorspiel 34, S. 23 (= KSA 3,360f.). Dort heißt es unter der Überschrift Seneca et hoc genus omne: „Das schreibt und schreibt sein unausstehlich weises Larifari, als gält es primum scribere, deinde philosophari.“ Sen. epist. 20,2 (eig. Übers.). Vgl. auch Sen. epist. 16,3: [philosophia] non in verbis, sed in rebus est („[...] nicht in den Worten, sondern in den Taten besteht sie [die Philosophie]“, eig. Übers.). Vgl. Epikt. ench. 52: Ὁ πρῶτος καὶ ἀναγκαιότατος τόπος ἐστὶν ἐν φιλοσοφίᾳ ὁ τῆς χρήσεως τῶν θεωρημάτων, οἷον τὸ μὴ ψεύδεσθαι. Vgl. darüber hinaus ebd., 49. Dort heißt es, dass es wichtig ist, die Vorschriften (παρηγγελμένα), die Chrysipp in seinen Schriften formuliert, zu kennen und zu verstehen. Noch wichtiger aber sei es, sie anzuwenden (χρῆσθαι) – allein darauf dürfe man stolz sein. Hegel 1833, S. 435.
Forschungsstand, These und Methode
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dass auch oder nur Fragen behandelt werden, die die Ontologie von Handlungen betreffen, wie etwa die, was Handlungen sind oder wie sie individuiert werden. Derlei Fragen stehen jedoch nicht im Mittelpunkt dieser Arbeit, so wichtig sie für sich genommen sind. Das Unternehmen, die Handlungspsychologie in Senecas Ethik aufzudecken, kann nur gelingen, wenn man den Rat Hadots befolgt und die Aufmerksamkeit nicht nur auf einen Teil des senecanischen Schrifttums lenkt. Wer sich nur mit einem der Dialogi oder den Epistulae morales gründlicher befasst, sieht nicht, „[...] daß sich Episteln und Dialoge gegenseitig bedingen und ergänzen [...]“.19 Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt freilich auf Senecas Prosaschriften; allerdings halte ich es für gewinnbringend, auch seine Tragödien in die Untersuchung einzubeziehen. Neuere Forschungen legen nahe, dass diese ebenfalls handlungspsychologisch interessant sind.20 Und noch ein weiterer Rat Hadots soll beherzigt werden: Es ist nicht nur erforderlich, Senecas Werke in ihrer Gesamtheit in den Blick zu nehmen, sondern man muss auch Ciceros Schriften kennen sowie die Stoa in allen ihren Entwicklungsphasen, will man zu einem vertieften Verständnis seines philosophischen Ansatzes gelangen.21 Was die genauere Methodik angeht, so steht an erster Stelle die nahe Arbeit an Senecas Texten (close reading). Das Augenmerk gilt dabei stets ihrem philosophischen Gehalt und weniger den Techniken, mit denen dieser vermittelt wird.22 Ebenso werden werk- sowie systemimmanente Zusammenhänge und Diskrepanzen berücksichtigt: Seneca war Autor, stand aber zugleich in der stoischen Schultradition, und dennoch fühlte er sich ihr nicht sklavisch unterworfen; er wollte sich als Stoiker und als freier Denker verstanden wissen – für ihn lag darin kein Widerspruch.23 Weil er seine philosophischen Überlegungen nicht systematisch geordnet präsentiert, ist es unvermeidlich, zum Teil große Sprünge sowohl innerhalb s
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Hadot 1969, S. 3. Vgl. Fuhrer 2010; Müller 2014; Müller 2018; Fischer 2014, S. 754 und Schubert 2016, XII 41. Vgl. Hadot 1969, S. 4. Eine ähnliche Handlungsempfehlung spricht Wildberger 2006, S. XIII aus. Für einen solchen Ansatz vgl. Dietsche 2014, Früh 2015 und Wiener 2018. Den älteren Stoikern wird dagegen nachgesagt, dass sie eher ihr Land verraten hätten, als von der Linie ihrer Schule abzuweichen (vgl. Poseid. F 35 [= De Sequela 819–20]). Elizabeth Asmis sieht in Senecas Pochen auf freie Meinungsäußerung einen spezifisch römischen Zug: „[...] [H]e views his independence as a right that he has as a Roman“ (vgl. Asmis 2015, S. 225). Dieses ausgeprägte Unabhängigkeitsempfinden ist auch auf dem Gebiet der Sprache bemerkbar: Wie schon Cicero will Seneca nicht einfach nur griechische Begriffe latinisieren, sondern eigene lateinische Ausdrücke dafür finden. So berichtet er in seiner Schrift De tranquillitate animi (vgl. Sen. dial. 9,2,3 [= de tran. an. 2,3]), dass die Griechen die psychische Widerstandsfähigkeit (stabilis sedes animi) „Wohlgemutheit“ (εὐθυμία) nannten und Demokrit darüber ein hervorragendes Buch geschrieben habe. Seneca weigert sich aber, sie bloß als euthymia zu bezeichnen; er nennt sie Seelenruhe (ego tranquillitatem voco) und fügt hinzu: […] nec enim imitari
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Einleitung
eines seiner Werke als auch zwischen seinen verschiedenen Werken zu machen. Im Prinzip gilt es dabei, sich so wie die Bienen in seinem bekannten Bienengleichnis zu verhalten, das heißt, umherzufliegen, die zur Honiggewinnung geeigneten Blüten auszusaugen und dann das Gesammelte zu ordnen und auf die Honigwaben zu verteilen.24 Ein solcher auf die Lehre fokussierter Zugriff auf Senecas Schriften findet seine Berechtigung darin, dass Lehre und Form bei ihm unabhängiger voneinander sind als zum Beispiel bei Cicero.25 Den Ausgangspunkt meiner Studie bildet der 89. Brief der Epistulae morales ad Lucilium, der auf paradigmatische Weise verdeutlicht, dass Senecas Ethik auf einem handlungspsychologischen Fundament beruht. 2
Der 89. Brief der Epistulae morales ad Lucilium
Seneca folgt im 89. Brief der Einteilung der Philosophie in drei Bereiche (τόποι) bzw. Arten (εἴδη) bzw. Gattungen (γένη):26 Ethik (pars moralis/τὸ ἠθικόν), Physik (pars naturalis/τὸ φυσικόν) und Logik (pars rationalis/τὸ λογικόν).27 Der Reihe nach wendet er sich jedem dieser Teile zu und bringt deren weitere Unterteilung zur Darstellung. Er beginnt mit der Ethik:28 s
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et transferre verba ad illorum formam necesse est: res ipsa de qua aliquo signanda nomine est, quod appellationis Graecae vim debet habere, non faciem. („[…] [N]icht nämlich nachzuahmen und zu übersetzen die Begriffe nach der Gestalt der Originalbegriffe ist nötig; die Sache selbst, um die es sich handelt, ist durch einen Begriff zu bezeichnen, der des griechischen Begriffs Gehalt haben muss, nicht dessen Gestalt“, Übers. Rosenbach). Vgl. Sen. epist. 84,3. Zum Bienengleichnis und dem 84. Brief insgesamt vgl. Graver 1996, Kap. V und Graver 2014b. Vgl. Sauer 2018, S. 90–95. Zur geringeren Bedeutung der Dialogform bei Seneca vgl. Hirzel 1895, S. 24–34. Apollodor sprach von Bereichen, Chrysipp und Eudromos von Arten, und andere (ἄλλοι) von Gattungen (vgl. DL 7,39). Vgl. Sen. epist. 89,9. Nach Diogenes Laertios (vgl. DL 7,39) war Zenon der Erste, der die Philosophie nach diesem Muster unterteilte. Nach Cicero geht diese Einteilung bereits auf Platon und seinen Schülerkreis zurück (vgl. Cic. ac. 1,19 und Cic. fin. 4,3–4). Von Sextus Empiricus erfahren wir, dass sie „gewissermaßen“ (δυνάμει) von Platon stammt, weil er über viele Themen der Physik, der Ethik und der Logik gesprochen habe; tatsächlich hätten sie aber erst Xenokrates und seine Schüler sowie die Peripatetiker und die Stoiker verwendet (vgl. Sext. Emp. adv. math. 7,16f.). Vgl. für eine Analyse und Diskussion der stoischen Dreiteilung Ierodiakonou 1993. Sen. epist. 89,14–16, Übers. Apelt. Seneca räumt ihr mit Blick auf Lucilius einen maßgeblichen Stellenwert ein: vgl. Sen. epist. 89,19, wo er gleich im Anschluss an seine Erörterung der Dialektik zu ihm sagt: Haec, Lucili virorum optime, quominus legas non deterreo, dummodo quidquid legeris ad mores statim referas („Dergleichen zu lesen, mein bester Lucilius, sei dir unverwehrt; nur musst du, magst du auch lesen, was du
Der 89. Brief der Epistulae morales ad Lucilium
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Ergo cum tripertita sit philosophia, moralem eius partem primum incipiamus disponere. Quam in tria rursus dividi placuit, ut prima esset inspectio suum cuique distribuens et aestimans quanto quidque dignum sit, maxime utilis – quid enim est tam necessarium quam pretia rebus imponere? – secunda de impetu, de actionibus tertia. Primum enim est ut quanti quidque sit iudices, secundum ut impetum ad illa capias ordinatum temperatumque, tertium ut inter impetum tuum actionemque conveniat, ut in omnibus istis tibi ipse consentias. Quidquid ex tribus defuit turbat et cetera. Quid enim prodest inter aestimata habere omnia, si sis in impetu nimius? quid prodest impetus repressisse et habere cupiditates in sua potestate, si in ipsa rerum actione tempora ignores nec scias quando quidque et ubi et quemadmodum agi debeat? Aliud est enim dignitates et pretia rerum nosse, aliud articulos, aliud impetus refrenare et ad agenda ire, non ruere. Tunc ergo vita concors sibi est ubi actio non destituit impetum, impetus ex dignitate rei cuiusque concipitur, proinde remissus acrior prout illa digna est peti. Es verbleibt also bei der Dreiteiligkeit der Philosophie, und zuerst wollen wir die Ethik ihrer Gliederung nach überschauen. Sie zerfällt auch ihrerseits in drei Teile. Der erste beschäftigt sich mit der Aufgabe, einem jeden das Seine zukommen zu lassen und den Wert eines jeden Dinges abzuschätzen, ein sehr nützliches Kapitel; denn was wäre mehr vonnöten als diese Wertbestimmungen? Der zweite Teil handelt vom Antrieb, der dritte von den Handlungen. Zuerst nämlich muss man über den Wert der Dinge urteilen; sodann muss man einen geordneten und maßvollen Antrieb in sich wach werden lassen; drittens müssen Handlung und Antrieb miteinander im Einklang stehen, um hierin zur vollen Übereinstimmung mit dir selbst zu gelangen. Fehlt eines von diesen dreien, dann bleiben auch die beiden anderen von Störungen nicht verschont. Denn was nützt es, alles bei sich bewertet zu haben, wenn deine Antriebe zu viel Gewalt über dich haben? Und was nützt es, den Antrieben Einhalt zu tun und Herr zu sein über deine Begierden, wenn du beim Handeln die rechte Zeit verfehlst und nicht weißt, wann, wo und wie ein jedes geschehen soll? Denn ein anderes ist es, Wert und Preis der Dinge zu kennen, ein anderes den rechten Zeitpunkt, ein anderes die Antriebe zu zügeln und beim Handeln den ruhigen Schritt zu wahren und sich nicht zu überstürzen. Dann erst ist das Leben mit sich im Einklang, wenn die Handlung dem Antrieb nicht untreu wird und der Antrieb in angemessenem Verhältnis zu dem Werte eines jeden Dinges steht, also je nach dem Grade, in dem es begehrenswert ist, bald gelassener, bald heftiger sein wird.
Die Ethik zerfällt in den Teil, der davon handelt, einem jeden das Seine zukommen zu lassen (suum cuique distribuere) und den Wert eines jeden Dinges abzuschätzen (aestimare quanto quidque dignum sit); der zweite Teil beschäftigt sich mit
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willst, dabei von vornherein immer den moralischen Gesichtspunkt als den für dich maßgebenden im Auge behalten“, Übers. Apelt, modifiziert). Vgl. zu dieser Stelle auch Annas 2007, S. 63.
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Einleitung
dem Antrieb (de impetu) und der dritte mit den Handlungen (de actionibus).29 Diese unterschiedlichen Teile kennzeichnen zugleich unterschiedliche Handlungsmomente: „Zuerst nämlich muss man über den Wert der Dinge urteilen (quanti quidque sit iudicare); sodann muss man einen geordneten und maßvollen Antrieb in sich wach werden lassen (impetum ordinatum temperatumque capere); drittens müssen Handlung und Antrieb miteinander im Einklang stehen (impetum actionemque convenire) [...].“ Nur wessen Handlungsmomente dauerhaft in einem solchen harmonischen Verhältnis stehen, kann vollends mit sich übereinstimmen (in omnibus istis tibi ipse consentire). Ist eines dieser drei Handlungsmomente nicht so beschaffen, wie gerade beschrieben, sind auch die anderen Störungen ausgesetzt. Wenn etwa der Antrieb kein richtiges Maß einhält, war es umsonst, alles bei sich bewertet zu haben (inter se aestimata habere omnia). Ebenso wenig ist die Kontrolle über den eigenen Antrieb von Nutzen, wenn der richtige Zeitpunkt verfehlt wird und man nicht weiß, wann (quando), wo (ubi) und wie (quemadmodum) eine äußere Handlung ausgeführt werden soll. Das von Seneca im 89. Brief vorgestellte Dispositionsschema der Ethik deutet darauf hin, dass er von der altstoischen Handlungspsychologie beeinflusst ist.30 Nach Auffassung Rubins ist seine Dreiteilung der Ethik „[...] nichts anderes als eine feingegliederte konsequent ineinandergefügte architektonische Struktur, die aus den drei Grundsteinen der stoischen Psychologie, nämlich der phantasia, hormê und synkatathesis aufgebaut ist“.31 Die phantasia wird seines Erachtens im ersten Handlungsmoment angesprochen. Auch wenn sie nicht eigens genannt s
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Diese Dreiteilung ist nicht Senecas eigene Kreation. Nach Stobaios’ Bericht hat schon der im ersten Jahrhundert v. Chr. lebende Mittelplatoniker Eudorus die Ethik auf diese Weise unterteilt (vgl. Stob. anthol. 2,42,7–45,6 und Griffin 2013, S. 126f.). Ferner steht zu vermuten, dass Senecas verlorene, wahrscheinlich unvollendet gebliebene moralis philosophia nach diesem Muster gegliedert gewesen sein könnte. Vgl. dazu Lausberg 1970, S. 172: „Im 89. Brief gibt Seneca eine Gliederung der ganzen Philosophie und ihrer Teile. Es liegt nahe, in der Unterteilung der moralis pars eine Art Dispositionsschema der Libri moralis philosophiae zu sehen.“ Gemeinhin wird angenommen, dass das Werk einen vergleichsweise systematischen Charakter gehabt haben könnte (vgl. Leeman 1953; Cancik 1967, S. 67; Lausberg 1970, S. 169 und 173 sowie Dietsche 2014, S. 152f.). Für eigene Anspielungen Senecas auf seine moralis philosophia vgl. Sen. epist. 106,2 (= Sen. fragm. F 116 Ed. Haase = Sen. fragm. T 90 Ed. Vottero), Sen. epist. 108,1 (= Sen. fragm. F 117 Ed. Haase = Sen. fragm. T 91 Ed. Vottero) und Sen. epist. 109,17 (= Sen. fragm. F 118 Ed. Haase = Sen. fragm. T 92 Ed. Vottero). Seneca war mit der Abfassung der Schrift von 64 bis zu seinem Tod 65 oder kurz davor beschäftigt (vgl. Lausberg 1970, S. 169). Thomas Baier sieht in dem Dispositionsschema mit seinem Dreischritt „die Erkenntnis des Richtigen, die Befähigung, es umzusetzen […], die eigentliche Handlung“ dagegen eine Anlehnung an die aristotelische bzw. peripatetische Handlungspsychologie (vgl. Baier 2005a, S. 15 und Baier 2005b, S. 52). Hier und in den folgenden beiden Sätzen zitiere ich Rubin [1901] 2015, S. 3. Ich gebe die von ihm verwendeten griechischen Begriffe mit lateinischen Buchstaben wieder.
Der 89. Brief der Epistulae morales ad Lucilium
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werde, könne nur sie gemeint sein, „[...] da ja der impetus bzw. die hormê nur dann entstehen kann, wenn er [bzw. sie] durch die phantasia einen Anreiz empfangen hatte [...].“ Die ebenfalls im Dispositionsschema der Ethik nicht genannte synkatathesis werde dagegen im dritten Handlungsmoment thematisiert, da „[...] der Beifall sich nicht allein darauf beschränkt, den sich regenden Trieb durch seine Zustimmung zu bestärken, sondern ihn auch zur Willenskraft zu erheben sucht, die sich nachher in Thaten umzusetzen bestrebt ist.“ Rubins knappe Erläuterungen können nicht so recht überzeugen, weil er ausschließlich den 89. Brief in den Blick nimmt. Sein Ansatz ist aber vielversprechend. In den nachfolgenden Abschnitten möchte ich den Blick erweitern und zeigen, dass Seneca genau wie die älteren Stoiker beim Handlungsablauf von einer sich einstellenden Erscheinung (phantasia/species) ausgeht, die erwachsene Menschen in der Regel durch zwei Typen von Aussagen zum Ausdruck bringen: durch eine konstatierende Aussage, dass etwas der Fall ist, und durch eine normative Aussage, dass etwas getan werden soll. Auch die altstoische Konzeption der Zustimmung wird von Seneca übernommen. Allerdings bleibt es nicht bei der bloßen Übernahme von altstoischem Gedankengut:32 Erstens erzeugt der Zustimmungsakt laut Seneca offenbar nicht immer einen Antrieb, der notwendig und hinreichend für eine Handlung ist33 – in epist. 89,15 lässt er durchblicken, dass die äußere Handlung dem geordneten und maßvollen Antrieb untreu werden kann (destituere), was ausgeschlossen wäre, wenn ein Antrieb stets ohne weiteres in eine Handlung umgesetzt würde; und zweitens ist es eine verbreitete Ansicht, dass Seneca an anderen Stellen einen Willensbegriff verwendet, den die griechischen Philosophen in der Form noch nicht kannten.34 Hier stellt sich die Frage, welche s
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Contra Graver 2014, S. 275. Neu sind ihrer Auffassung nach nur die rhetorischen Strategien, mit denen Seneca die wichtigsten Elemente der schon bestehenden stoischen Handlungspsychologie und Gefühlslehre vermittelt. Vgl. S. 44 und Fußn. 47 für die Annahme der Stoa-Forschung, dass den älteren Stoikern zufolge ein Antrieb notwendig und hinreichend für eine Handlung ist (sofern nichts dazwischenkommt). Vgl. exemplarisch Voelke 1978, S. 162 („Il est indéniable qu’aucun terme grec ne rend pleinement la signification de voluntas dans l’acception si riche que lui donne Sénèque“) und Scott 1986, S. 41 („[…] Seneca’s […] teaching on will is original“). Contra Rist 1969, S. 219–232, der argumentiert, dass Seneca mit seinem Begriff der voluntas letztlich im intellektualistischen Fahrwasser der älteren Stoa bleibt, insofern als er den Willen, gut zu werden, von der Einsicht, was gut ist, abhängig macht (vgl. ebd., S. 224). Wenn Seneca von voluntas und velle spricht, gehe es ihm letztlich um den moralischen Charakter: „The man who has the right kind of moral character will want to do the right things for the right reasons. Our will springs from our habits, as Aristotle and Chrysippus would agree“ (ebd., S. 227). Trotzdem gibt Rist zu, dass Senecas Willensbegriff bisweilen über diese Bedeutungsdimension hinausgeht (vgl. ebd.). Aufseiten derer, die Senecas Willensbegriff für wenig innovativ halten, befindet sich auch Ilsetraut Hadot: „[…] [À] mon avis chez Sénèque la voluntas latine ne se distinguait pas sensiblement de la prohairesis grecque“ (Hadot 2014, S. 299).
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Einleitung
Neuerungen sein Willensbegriff gegenüber der vorangegangenen philosophischen Tradition aufweist. Neu wäre etwa, wenn er in ihm verschiedene, unser Handeln betreffende Besonderheiten semantisch vereinigen würde. Ein solches Clusterkonzept fehlt zum Beispiel bei Aristoteles, wie Charles Kahn aufgezeigt hat.35 Ob es sich bei Seneca finden lässt, kann nur durch die Offenlegung der Semantik seines Willensbegriffs ersichtlich werden, die eines der Ziele dieser Arbeit ist. Für einen philosophischen Willensbegriff im engeren Sinne sind in der Forschung drei Grundbedeutungen vorgeschlagen worden: i) der Wille als rationales Streben, ii) als Dezisionsvermögen und iii) als Antriebskraft.36 Als rationales Streben wird er dann aufgefasst, wenn man annimmt, dass er auf bestimmte Ziele ausgerichtet ist, die für erstrebenswert gehalten werden und daher zumindest bis zu einem gewissen Grad zu ihrer Verfolgung motivieren.37 Die Bedeutung eines Dezisionsvermögens hat er dagegen dann, wenn der Gedanke ist, dass man seinetwegen bewusst und frei zwischen verschiedenen Handlungsoptionen wählen kann, „[…] ohne dabei aber im strikten Sinne an vernünftige Urteile bzw. Evaluationen über das in der Situation jeweils Beste bzw. Richtige gebunden zu sein“38 – voluntaristische s
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Vgl. Kahn 1988, S. 240. Aristoteles’ Handlungstheorie enthält ihm zufolge vier nicht miteinander verbundene Kernideen: dass etwas in unserer Macht steht (eph’ hêmin) (1), dass etwas willentlich (hekousion) getan wird (2), wozu auch diejenigen Handlungen gehören, die das Ergebnis eines Entschlusses (prohairesis) sind (3) – und dass der Wunsch (boulêsis) Bestandteil des Entschlusses ist (4). Später spricht Richard Sorabji den antiken griechischen Philosophen – und Seneca – die Verwendung eines Clusterkonzepts des Willens ab (vgl. Sorabji 2000, S. 321–334 und Sorabji 2004). Inwoods summarisches Willenskonzept (summary will), das er dem traditionellen Willenskonzept (traditional will; vgl. Fußn. 36) gegenüberstellt und das er in Senecas Philosophie gegeben sieht, hat meines Erachtens nicht den Charakter eines Clusterkonzepts: „[…] [T]he lexical item ‚will‘ is not supposed to stand for any single mental item […] which coherently accounts for [a set of explananda]. […] [it] is an instrumental summary reference to a more complex set of explanantia“ (Inwood 2005, S. 134). Vgl. Horn 2005, S. 763 und Müller/Hofmeister Pich 2010, S. 6–10. Inwood spricht in diesem Zusammenhang vom traditionellen Willenskonzept (traditional will, vgl. Inwood 2005, S. 133). Die Merkmale, die es aus seiner Sicht auszeichnen, sind allerdings nicht exakt dieselben, die von Horn 2005 und Müller/Hofmeister Pich 2010 vorgeschlagen werden. Er orientiert sich an Kenny 1979, S. vii, der ein Willenskonzept ablehnt, das den Willen als ein dem introspektiven Bewusstsein zugängliches Phänomen versteht, dessen Akte mentale, handlungsverursachende Ereignisse (volitions) sind und aus freien Stücken hervorgebracht werden. Inwood erweitert dieses traditionelle Willenskonzept nur um eine inhaltliche Facette: „[…] [I]t is almost universally assumed by proponents of traditional will that its occurrent volitions are rooted in a faculty of the will, a distinct part of the soul or mind, a set of dispositions devoted particularly to the generation of ‚volitions‘ in the sense just given“ (Inwood 2005, S. 133). Ich arbeite im Folgenden in erster Linie mit den Kriterien von Horn 2005 und Müller/Hofmeister Pich 2010, füge diesen aber das Kriterium der Handlungsverursachung hinzu. Vgl. Müller/Hofmeister Pich 2010, S. 8. Müller/Hofmeister Pich 2010, S. 9.
Der 89. Brief der Epistulae morales ad Lucilium
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Lesarten der senecanischen Philosophie, die den Willen bei ihm als eigenständiges, von anderen seelischen Vermögen und Akten unabhängiges psychologisches Prinzip deuten, sind verbreitet.39 Dass der Wille ein Dezisionsvermögen ist, impliziert gewöhnlich auch, dass er die Ursache von Handlungen ist: Wer sich für Option A entscheidet, wird A in den meisten Fällen auch tun. Als Antriebskraft wird der Wille schließlich dann verstanden, wenn er eine Art Energiequelle darstellt, von der abhängt, ob man an der Verfolgung eines einmal gesteckten Ziels festhält. 40 Es wird zu eruieren sein, welche dieser Grundbedeutungen Senecas Willensbegriff zukommt. Sollte sich herausstellen, dass wir es mit einem Clusterkonzept zu tun haben, würde Senecas Denken einen Wendepunkt in der Philosophiegeschichte markieren.41 Der 89. Brief gibt aber nicht nur zu erkennen, dass Seneca von der altstoischen Handlungspsychologie beeinflusst ist. Er offenbart zugleich, welche Bedeutung die Handlungspsychologie innerhalb seiner Ethik hat. Die einzelnen Handlungsmomente – das Werturteil, der Antrieb und die äußere Handlung – werden von ihm nicht um ihrer selbst willen thematisiert, wie es typisch wäre für die analytische Tradition der philosophischen Handlungstheorie; sie bilden vielmehr das Fundament seiner Ethik. Seneca macht die Verwirklichung eines ethischen Ideals abhängig von der Beschaffenheit verschiedener intrinsischer Handlungskomponenten. Die Übereinstimmung mit sich selbst – das ethische Ideal – kann nur erreicht werden, wenn man stets richtig über den Wert der Dinge urteilt, einen geordneten und maßvollen Antrieb entwickelt und schließlich die äußere Handlung mit dem Antrieb in Einklang bringt. Ein solches Programm einer handlungspsychologisch fundierten Ethik mag seinen Ursprung in der älteren Stoa haben, wie Inwood in seinem Buch Ethics and Human Action in Early Stoicism behauptet. Aber erst mit Seneca kommt es derart klar zum Vorschein. Aus diesen Überlegungen heraus ergeben sich die weiteren Schritte meiner Studie. Ziel des ersten Hauptstückes ist es, im Ausgang einer Rekonstruktion der altstoischen Handlungspsychologie Senecas Reflexionen zur Funktionsweise der
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Prägnante Überblicke geben Inwood 2005, S. 135–137 und Fuhrer 2010, S. 69, Fußn. 1. Während Albrecht Dihle noch von Senecas „begrifflich ungeklärtem Voluntarismus“ sprach (vgl. Dihle 1985, S. 152), haben ihn in jüngerer Zeit Thomas Baier (vgl. Baier 2005a, S. 21) und insbesondere Rainer Zöller zum Voluntaristen erklärt (vgl. Zöller 2003): „Wir […] betonen, dass Seneca im Vergleich mit der Vernunftbestimmtheit des Willens in der griechischen Theorie, dem sogenannten Vernunftprinzip, das der römischen Tradition gemäße Willensprinzip entgegenstellt“ (ebd., S. 8f.). Zöller definiert das Willensprinzip nicht eigens, seine Ausführungen lassen aber erkennen, was er darunter versteht: die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des Willens gegenüber der Vernunft, und einen „Primat des Willens vor der Vernunft“ (vgl. ebd., S. 10). Vgl. Müller/Hofmeister Pich 2010, S. 7 und 9f. Laut Sorabji ist es Augustinus, bei dem erstmals ein solches Clusterkonzept des Willens zu finden ist (vgl. Sorabji 2000, S. 335–337 und Sorabji 2004, S. 18–20).
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Einleitung
einzelnen Handlungsmomente systematisch aufzuarbeiten. Diese werden unter anderem im 113. Brief offenkundig, vor allem aber zu Beginn des zweiten Buches seiner Schrift De ira, wo er der Frage nachgeht, wie Wut zustande kommt. Bevor aber die einschlägigen Passagen in den beiden Werken untersucht werden, lohnt ein Blick auf die Gefühlslehre der älteren und mittleren Stoa. Dies erleichtert nicht nur die systematische Verortung von Senecas Konzept der Wut – alle von ihm thematisierten Affekte und guten Gefühle lassen sich so leichter verorten. Außerdem können auf diese Weise Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen Senecas Gefühlslehre und der Gefühlslehre seiner stoischen Vorgänger bemerkt und berücksichtigt werden. Schwerpunkt des zweiten Hauptstückes ist dagegen die ethische Thematik der Übereinstimmung mit sich selbst. Fragen, die dabei im Vordergrund stehen, sind zum einen: Was versteht Seneca unter der Übereinstimmung mit sich selbst? Unterscheidet sich sein Ideal von demjenigen älterer Stoiker? Zum anderen ist von Interesse, wie die Übereinstimmung mit sich selbst erreicht werden kann. Hier kommen neben den dafür erforderlichen Kenntnissen moralischer Gehalte, einem guten Willen und einer bestimmten Freude am moralischen Handeln Senecas affektpräventive und affekttherapeutische Techniken zum Tragen, mit deren Hilfe man den Ausbruch eines Affekts vermeiden bzw. seine Wirkung lindern und sich darin üben kann, einen geordneten und maßvollen Antrieb zu erzeugen. Weil die Erzeugung eines solchen Antriebs für die Übereinstimmung mit sich selbst jedoch nicht genügt, sondern ebenso die Umstände berücksichtigt werden müssen, stellt sich zudem die Frage, worauf man bei ihnen genau zu achten hat, damit der geordnete und maßvolle Antrieb und die äußere Handlung in ein stimmiges Verhältnis treten. Eine Antwort darauf findet sich in Senecas Schrift De beneficiis, die deshalb zum Ende dieser Arbeit ins Zentrum rückt. Der Wille spielt aus Senecas Sicht, wie zu sehen sein wird, sowohl in der Handlungs- und Affektgenese als auch in der Ethik eine wichtige Rolle. Seine Untersuchung kann deswegen nicht gesondert stattfinden, sondern wird in die beiden Hauptstücke integriert.
II
Das handlungspsychologische Fundament
1
Alt- und mittelstoische Handlungspsychologie und Gefühlslehre
1.1
Die altstoische Handlungspsychologie
Am Anfang der altstoischen Handlungspsychologie steht die Lehre von der Erscheinung (φαντασία).1 Eine Erscheinung ist allgemein gesprochen ein Eindruck in der Seele (τύπωσις ἐν ψυχῇ),2 der von etwas Vorhandenem (ἀπὸ ὑπάρχοντος) unmittelbar verursacht wird.3 Befindet sich beispielsweise etwas Weißes vor dem Gesichtssinn,4 so wird es durch den Vorgang des Sehens in die Seele „eingeknetet“, „eingedrückt“ und „abgesiegelt“.5 Entsprechendes geschieht beim Geruchs-, Gehör-, Geschmacks- und Tastsinn.6 An anderer Stelle findet sich eine ähnliche
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Der Begriff der Erscheinung geht auf Platon zurück. Im Theaitetos setzt sie Sokrates mit einer Wahrnehmung (αἴσθησις) gleich (vgl. Plat. Tht. 152c); im Sophistês bestimmt sie der Gast dagegen als etwas, das durch eine Wahrnehmung (δι’ αἰσθήσεως) entsteht, und als Mischung von Wahrnehmung und Meinung (σύμμειξις αἰσθήσεως καὶ δόξης; vgl. Plat. soph. 264a–b). Vgl. Sext. Emp. adv. math. 7,228 (= SVF 2,56) und DL 7,50. Aët. plac. 4,12,1 (= LS 39 B) definiert die Erscheinung etwas irreführend als πάθος ἐν τῇ ψυχῇ und verwendet damit denselben Ausdruck, den die älteren Stoiker für „Affekt“ verwenden. Ein Affekt wird ihnen zufolge aber, wie auf den S. 46–53 deutlich werden wird, keineswegs unmittelbar verursacht. Der Ausdruck πάθος muss in diesem Kontext so viel bedeuten wie „Widerfahrnis“. Vgl. DL 7,50: νοεῖται δὲ [ἡ] φαντασία ἡ ἀπὸ ὑπάρχοντος [...]. Das Beispiel findet sich bei Aët. plac. 4,12,1 (= LS 39 B). Vgl. DL 7,50: νοεῖται δὲ [ἡ] φαντασία ἡ ἀπὸ ὑπάρχοντος κατὰ τὸ ὑπάρχον ἐναπομεμαγμένη καὶ ἐναποτετυπωμένη καὶ ἐναπεσφραγισμένη, οἵα οὐκ ἂν γένοιτο ἀπὸ μὴ ὑπάρχοντος („Die Erscheinung wird aufgefasst als von einem Vorhandenen verursacht und ist ihm entsprechend eingedrückt, eingeknetet und abgesiegelt, wie sie nicht entstehen könnte von einem Nichtvorhandenen“, eig. Übers.). Trotz dieser Definition scheinen die älteren Stoiker Raum für die Möglichkeit gelassen zu haben, dass Erscheinungen nicht durch Sinneswahrnehmungen zustande kommen. So berichtet Diogenes Laertios (vgl. DL 7,51), dass manche Erscheinungen ihnen zufolge nicht sinnlich seien und allein auf eine Aktivität des Verstandes zurückgingen (οὐκ αἰσθητικαὶ δ’ αἱ διὰ τῆς διανοίας). Die nichtsinnlichen Erscheinungen stehen hier jedoch weniger im Fokus. Vgl. Aët. plac. 4,12,1 (= LS 39 B), der jedoch nur den Tast- und Geruchssinn nennt. Dass das Vorhandene über die Sinne kausal auf die Seele einwirken kann, wird umso nachvollziehbarer, wenn man bedenkt, dass die Seele, wie das Vorhandene selbst, für die älteren Stoiker körperlich ist (vgl. Shogry 2018, S. 6).
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Das handlungspsychologische Fundament
Definition, jedoch im Hinblick auf eine Klasse von Erscheinungen, die die Grundlage für eine Erkenntnis (κατάληψις) bilden:7 τῆς δὲ φαντασίας τὴν μὲν καταληπτικήν, τὴν δὲ ἀκατάληπτον· καταληπτικὴν μέν, ἣν κριτήριον εἶναι τῶν πραγμάτων φασί, τὴν γινομένην ἀπὸ ὑπάρχοντος κατ’ αὐτὸ τὸ ὑπάρχον ἐναπεσφραγισμένην καὶ ἐναπομεμαγμένην· ἀκατάληπτον δὲ τὴν μὴ ἀπὸ ὑπάρχοντος, ἢ ἀπὸ ὑπάρχοντος μέν, μὴ κατ᾽αὐτὸ δὲ τὸ ὑπάρχον τὴν μὴ τρανῆ μηδὲ ἔκτυπον. Von der Erscheinung sei die eine kataleptisch (καταληπτική)8, die andere aber nicht (ἀκατάληπτον); die kataleptische Erscheinung ist das Kriterium für Wahrheit (τὰ πράγματα), weil sie von etwas Vorhandenem (ἀπὸ ὑπάρχοντος) verursacht wird und ihm entsprechend abgesiegelt (ἐναπεσφραγισμένη) und eingeknetet (ἐναποs
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DL 7,46, eig. Übers. Epiktet teilt die Erscheinungen später ähnlich ein (vgl. Epikt. diatr. 1,27): Τετραχῶς αἱ φαντασίαι γίνονται ἡμῖν· ἢ γὰρ ἔστι τινὰ καὶ οὕτως φαίνεται ἢ οὐκ ὄντα οὐδὲ φαίνεται ὅτι ἔστιν ἢ ἔστι καὶ οὐ φαίνεται ἢ οὐκ ἔστι καὶ φαίνεται („Auf vierfache Weise werden uns die Erscheinungen zuteil: Denn entweder ist etwas und erscheint auch so (1), oder es ist nicht und erscheint auch nicht, als ob es ist (2); oder es ist, erscheint aber nicht [so] (3), oder es ist nicht, erscheint aber [so] (4)“, eig. Übers.). Hinter (1) dürfte sich die kataleptische Erscheinung verbergen. (2) stellt einen interessanten Fall dar, den die älteren Stoiker nach unserer Quellenlage so nicht berücksichtigt haben, nämlich den Fall, dass etwas Nichtvorhandenes adäquat repräsentiert werden kann: als Nichtvorhandenes (zum Beispiel erscheint das Traumbild als Traumbild). In (3) wird sicherlich die nichtkataleptische Erscheinung thematisiert, die von etwas Vorhandenem ausgeht, es aber nicht adäquat repräsentiert, in (4) dagegen die nichtkataleptische Erscheinung, die von etwas Nichtvorhandenem verursacht wird. Zur kataleptischen Erscheinung: Sie wird in den Quellen zur älteren Stoa auch als einzigartiger Eindruck beschrieben – „wie er nicht entstehen könnte von etwas Nichtvorhandenem“ (vgl. DL 7,50; Sext. Emp. adv. math. 7,248, 252; Cic. ac. 2,77). Diese Charakterisierung ist meines Erachtens aber nur eine andere Ausdrucksweise dafür, dass die kataleptische Erscheinung die einzige ist, die ihr Objekt genau repräsentiert (Frede 1987, S. 165 argumentiert, dass die älteren Stoiker sie deshalb hinzufügten, weil die Akademiker ein solches Merkmal ablehnten). Wegen ihrer exakten Übereinstimmung mit ihrem Objekt ist die kataleptische Erscheinung verständlicherweise das Kriterium für Wahrheit (κριτήριον τῆς ἀληθείας, vgl. DL 7,54; Sext. Emp. adv. math. 7,227 und in der Sekundärliteratur Frede 1987, S. 166–169). Zur Kritik der Akademiker an dem Konzept der kataleptischen Erscheinung kann ich mich hier nicht weiter äußern, das würde den Rahmen meiner Arbeit sprengen. Für eine Einführung in diese Thematik vgl. die Einleitung von Andreas Graeser und Christoph Schäublin zu Cic. ac. 2, S. IX–XLII sowie Schriefl 2019, S. 49–51. Die genaue Bedeutung dieses vom Verb καταλαμβάνειν („ergreifen“ oder „einnehmen“) herstammenden Ausdrucks in der Junktur φαντασία καταληπτική ist umstritten. Görler 1977, S. 92 schlägt drei mögliche Bedeutungen vor: (1) Die Erscheinung ergreift den ihr zugrunde liegenden Gegenstand, (2) sie lässt sich von ihm ergreifen und (3) sie bemächtigt sich des erkennenden Individuums.
Alt- und mittelstoische Handlungspsychologie und Gefühlslehre
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μεμαγμένη) ist; dagegen wird die nichtkataleptische Erscheinung entweder von keinem Vorhandenen verursacht, oder sie wird von einem Vorhandenen verursacht, bildet es aber nicht klar (τρανῆ) und deutlich (ἔκτυπον) ab.
Eine nichtkataleptische Erscheinung wäre demnach zum Beispiel eine Fiktion (φάντασμα), wie sie etwa im Traum vorkommt,9 oder eine Wahnvorstellung, wie diejenige Orests,10 der seine Schwester Elektra für eine Erinnye hielt – Orests Erscheinung ging zwar von etwas Vorhandenem aus, nämlich Elektra, aber sie stellte nicht adäquat dar, was das Vorhandene ist. Über die Bedeutung des Begriffes „Eindruck“ (τύπωσις), der höchstwahrscheinlich auf Zenon zurückgeht,11 bestand im innerschulischen Diskurs Uneinigkeit. Kleanthes verstand darunter buchstäblich einen materiellen Eindruck mit Vertiefung und Erhebung, wie er etwa entsteht, wenn man einen Siegelring in Wachs eindrückt.12 Chrysipp war anderer Meinung: Er hielt es für unmöglich, dass an demselben materiellen Objekt viele solcher Eindrücke zur selben Zeit entstehen. Denn dann müsste seiner Meinung nach dasselbe materielle Objekt, „[...] wenn die denkende Seele einmal die Erscheinung von einem Dreieck und einem Viereck gleichzeitig aufbaute, [...] zur selben Zeit bei sich selbst verschiedene Formen annehmen [κατὰ τὸν αὐτὸν χρόνον διαφέροντα ἔχειν περὶ αὑτῷ σχήματα] und zugleich dreieckig und viereckig oder auch rund werden [...]“.13 Außerdem war Chrysipp der Überzeugung, dass die Seele dann über eine sehr ausgeprägte Formbarkeit verfügen müsste, was in seinen Augen aber noch unmöglicher ist, als dass sie gleichzeitig verschiedene Formen annimmt.14 Aus diesen Gründen sprach er sich dafür aus, einen Eindruck als qualitative und nicht als materielle Veränderung der Seele zu verstehen (φαντασία ἐστὶν ἑτεροίωσις ψυχῆς). 15 So wie die Luft, wenn viele gleichzeitig sprechen, zur selben Zeit verschiedene Stöße bekommt s
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Vgl. DL 7,50. Ein φάντασμα könnte ein Beispiel für eine nichtsinnliche, allein durch den Verstand hervorgebrachte Erscheinung sein. Vgl. Sext. Emp. adv. math. 7,244f. (= LS 39 G) und 249 (= LS 40 E 13–17). Vgl. Sext. Emp. adv. math. 7,230 (= SVF 2,56), der Chrysipp so wiedergibt, als interpretiere er Zenons Begriff der τύπωσις. Vgl. Sext. Emp. adv. math. 7,228f. (= SVF 2,56). Hankinson 2003, S. 62 sieht hier den Einfluss des Wachsblockmodells aus Platons Theaitetos (vgl. Plat. Tht. 191c–195a). Vgl. Sext. Emp. adv. math. 7,229 (= SVF 2,56) sowie DL 7,50: [...] ἀνένδεκτόν ἐστι πολλοὺς τύπους κατὰ τὸ αὐτὸ περὶ τὸ αὐτὸ γίνεσθαι – wobei man jedoch nicht eindeutig sagen kann, wie dieser Satz zu übersetzen ist. Long und Sedley übersetzen ihn folgendermaßen: „[...] [I]t is impossible for there to be many such prints at the same time affecting the same subject.“ In der deutschen Übersetzung von Fritz Jürß heißt es: „[...] [V]iele Abdrücke vom selben Objekt an derselben Stelle [sind] nicht möglich [...].“ Vgl. Sext. Emp. adv. math. 7,229f. (= SVF 2,56). Vgl. Sext. Emp. adv. math. 7,230 (= SVF 2,56) und auch DL 7,50: [...] φαντασία δέ ἐστι τύπωσις ἐν ψυχῇ, τουτέστιν ἀλλοίωσις, ὡς ὁ Χρύσιππος ἐν τῇ δευτέρᾳ Περὶ ψυχῆς ὑφίσταται („Die Erscheinung ist ein Eindruck in der Seele, das heißt eine Veränderung, wie der bekannte Chrysipp im zweiten Buch Über die Seele behauptet“, eig. Übers.).
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und zugleich viele Veränderungen erfährt, so nehme auch eine Seele bei einer sinnlichen Wahrnehmung viele Erscheinungen zur selben Zeit in sich auf und erfahre zugleich viele Veränderungen.16 Die älteren Stoiker trafen unter den Erscheinungen offenbar noch eine weitere Unterscheidung. Bisweilen reden sie von sogenannten antreibenden Erscheinungen (φαντασίαι ὁρμητικαί): „Sie sagen, dass das den Antrieb Bewegende nichts anderes ist als eine Erscheinung, die sogleich zu etwas antreibt, das von Interesse ist“ (τὸ δὲ κινοῦν τὴν ὁρμὴν οὐδὲν ἕτερον εἶναι λέγουσιν ἀλλ’ ἢ φαντασίαν ὁρμητικὴν τοῦ καθήκοντος αὐτόθεν).17 Dementsprechend könnte man zum Beispiel sagen, dass die Erscheinung von Wasser zum Trinken antreibt, denn Wasser ist von Interesse, wenn man Durst hat. Hat man keinen Durst, treibt die Erscheinung von Wasser auch nicht zum Trinken an.18 Angesichts der altstoischen Unterteilung in kataleptische und nichtkataleptische Erscheinungen stellt sich die Frage, welcher sachliche Zusammenhang zwischen kataleptischen und nichtkataleptischen Erscheinungen einerseits und antreibenden Erscheinungen andererseits besteht. Die uns aus zweiter Hand erhaltenen Berichte über die Lehren der älteren Stoa geben darüber keine Auskunft. So viel könnte man aber sagen, ohne dass die älteren Stoiker Einspruch erhoben hätten: Auch antreibende Erscheinungen können durch etwas Nichtvorhandenes unmittelbar verursacht werden, wie zum Beispiel bei der Halluzination einer Wasserquelle, die einem Durstigen die Aussicht auf etwas Trinkbares eröffnet. Desgleichen können antreibende Erscheinungen durch etwas Vorhandenes verursacht werden, das sie nicht klar und deutlich repräsentieren. Für diesen Fall ließe sich wieder der wahnsinnige Orest als Beispiel anführen, der beim Anblick seiner Schwester Elektra zurückschreckt, weil sie ihm als Erinnye erscheint19 (wobei hier die antreibende Erscheinung streng genommen s
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Vgl. Sext. Emp. adv. math. 7,231f. (= SVF 2,56). Stob. anthol. 2,86,17f. (= LS 53 Q), eig. Übers. Für die Bezeichnung „antreibend“ vgl. Frede 2011, S. 36: „Such impressions are called ‚impulsive‘ (hormêtikai), since they impel the animal to act.“ Jula Wildberger spricht von einer „Drang-Erscheinung“ (vgl. das Nachwort zu ihrer Übersetzung von Senecas Schrift De ira, S. 309). Peter Steinmetz vermutet, dass die φαντασία ὁρμητική erst nach Zenon konzipiert wurde (vgl. Steinmetz 1994, S. 545); John Stevens argumentiert dafür, dass sie schon immer Teil der stoischen Doktrin war (Stevens 1996, S. 16f. und Stevens 2000). Zur Übersetzung des Begriffes καθῆκον an dieser Stelle vgl. Inwood 1985, S. 56 („In other, usually ethical, contexts this term is translated as ‚appropriate‘; here it might better be rendered ‚of interest‘ or ‚relevant‘“) und Stevens 1996, S. 6, der eine Verbindung zur stoischen Oikeiôsis-Lehre herstellt und die Bedeutung „nützlich“ vorschlägt. In jedem Fall sollte καθῆκον nicht zu rationalistisch interpretiert werden, da für die älteren Stoiker das καθῆκον auch bei Tieren und sogar Pflanzen zu beobachten ist (vgl. DL 7,107). Vgl. für das Wasser-Beispiel auch Frede 1986, S. 107. Vgl. Eur. Or. 5,264f.: Elektra versucht Orest, den wieder ein Anfall von Wahnsinn heimsucht, festzuhalten. Da sagt er zu ihr: μέθες· μί’ οὖσα τῶν ἐμῶν Ἐρινύων | μέσον μ’ὀχμάζεις, ὡς βάλῃς ἐς Τάρταρον („Lass ab! Du bist eine der Erinnyen und hältst mich an der Hüfte fest, um mich in den Tartaros zu werfen“, eig. Übers.).
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von etwas forttreibt und nicht zu etwas hin). Ebenso können antreibende Erscheinungen durch etwas Vorhandenes unmittelbar verursacht werden, das sie klar und deutlich repräsentieren, wie zum Beispiel durch eine tatsächlich vorhandene Wasserquelle. Es liegt daher nahe, in kataleptischen bzw. nichtkataleptischen und antreibenden Erscheinungen keinen kategorischen Unterschied zu sehen. Vielmehr scheint es so zu sein, dass es hin und wieder kataleptische und nichtkataleptische Erscheinungen gibt, die zugleich auch antreiben. Bei erwachsenen Menschen haben Erscheinungen in der Regel eine von der Vernunft vorstrukturierte rationale Form (λογική) und können sprachlich artikuliert werden.20 Im Erkenntnisprozess stellt sich die rationale Erscheinung zuerst ein, „[…] und daraufhin drückt der Verstand, der ein Ausdrucksvermögen ist, das aus, was er unter der Erscheinung passiv erfahren hat“ (προηγεῖται γὰρ ἡ φαντασία, εἶθ’ ἡ διάνοια ἐκλαλητικὴ ὑπάρχουσα, ὃ πάσχει ὑπὸ τῆς φαντασίας, τοῦτο ἐκφέρει λόγῳ). 21 Der phänomenale Gehalt einer rationalen Erscheinung kann auf unterschiedliche Weise ausgedrückt werden.22 Eine Möglichkeit besteht darin, eine Aussage (ἀξίωμα) zu treffen.23 Wenn es den älteren Stoikern zufolge s
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Vgl. DL 7,51: Ἔτι τῶν φαντασιῶν αἱ μέν εἰσι λογικαί, αἱ δὲ ἄλογοι· λογικαὶ μὲν αἱ τῶν λογικῶν ζῴων, ἄλογοι δὲ αἱ τῶν ἀλόγων. αἱ μὲν οὖν λογικαὶ νοήσεις εἰσίν, αἱ δ’ ἄλογοι οὐ τετυχήκασιν ὀνόματος („Ferner sind von den Erscheinungen die einen rational, die anderen aber nicht. Rational sind die Erscheinungen der vernunftbegabten Lebewesen, nichtrational diejenigen der vernunftlosen. Die rationalen Erscheinungen sind nun Gedanken, die nichtrationalen aber haben keinen Namen“, eig. Übers.). Vgl. auch Sext. Emp. adv. math. 8,70 (= LS 33 C): λογικὴν δὲ εἶναι φαντασίαν καθ’ ἣν τὸ φαντασθὲν ἔστι λόγῳ παραστῆναι („Eine rationale Erscheinung sei diejenige, der zufolge es möglich ist, den Gehalt der Erscheinung sprachlich darzustellen“, eig. Übers.). Vgl. in der Sekundärliteratur Stowell 1999, S. 62, Fußn. 37: „[…] [T]he impressions prior to assent can be called ‚rational‘ in the sense that […] they can be articulated in propositional form.“ Shogry 2018 sieht in den φαντασίαι λογικαί ein Indiz dafür, dass sinnliche Erscheinungen kognitiv durchdrungen sind, das heißt kein rohes Sinnesmaterial transportieren, sondern von unseren Überzeugungen und Sachkenntnissen beinflusst sind. Ich halte seine Lesart für plausibel, stimme ihm aber nicht darin zu, dass diese Erscheinungen schon eine propositionale Struktur aufweisen (vgl. auch Frede 1986, S. 109 und Frede 1987, S. 153–155; Frede nimmt aber nicht wie Shogry an, dass rationale Erscheinungen nichts weiter als einen propositionalen Gehalt haben [vgl. ebd., S. 155f.]). Wie das nachfolgende Diogenes-Laertios-Zitat nahelegt, wird die Propositionalstruktur der rationalen Erscheinungen erst durch den Verstand gewährleistet. Dazu ist er jedoch nur deshalb imstande, weil die Vernunft sie bereits vorstrukturiert hat. DL 7,49 (eig. Übers.). Christopher Gill und Julia Annas argumentieren, dass die sprachliche Artikulierung nicht bewusst vonstattengehen muss (vgl. Gill 1991, S. 186–188 und Annas 1992, S. 78). Unter „phänomenalem Gehalt“ verstehe ich all das, was ein Lebewesen durch eine Erscheinung passiv erfährt. Was in Übereinstimmung mit einer rationalen Erscheinung fortbesteht, ist ganz allgemein ein λεκτόν, vgl. Sext. Emp. adv. math. 8,70 (= LS 33 C): λεκτὸν δὲ ὑπάρχειν φασὶ
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rationale Erscheinungen gibt, die kataleptisch oder nichtkataleptisch sind, und wir ferner annehmen, dass sie zuweilen auch antreiben können, dann müssten sich diese Unterschiede konsequenterweise auch in den Aussagen niederschlagen, mit denen sie zum Ausdruck gebracht werden.24 Somit würde sich folgendes Schema ergeben: (1) Der phänomenale Gehalt einer kataleptischen Erscheinung wird durch die Aussage zum Ausdruck gebracht, dass etwas Bestimmtes der Fall ist (zum Beispiel, dass dort Wasser ist), weil sie von etwas Vorhandenem verursacht wird, das sie klar und deutlich repräsentiert. (2) Der phänomenale Gehalt einer nichtkataleptischen Erscheinung dagegen wird von Person zu Person unterschiedlich zum Ausdruck gebracht – je nachdem, inwieweit jemand darin geübt ist, kataleptische und nichtkataleptische Erscheinungen auseinanderzuhalten. Die weise Person ist so scharfsinnig, dass sie die nichtkataleptische Erscheinung als solche enttarnt und die Formulierung ihres phänomenalen Gehalts entsprechend anpasst (halluziniert sie eine Wasserquelle, wird sie sich sagen, dass dort eigentlich kein Wasser ist; ein weiser Orest wird sich sagen, dass dort eigentlich keine Erinnye ist).25 Die meisten nichtweisen Mens
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τὸ κατὰ λογικὴν φαντασίαν ὑφιστάμενον, sowie DL 7,63: φασὶ δὲ [τὸ] λεκτὸν εἶναι τὸ κατὰ φαντασίαν λογικὴν ὑφιστάμενον. Das λεκτόν kann vollständig oder unvollständig sein. Aussagen gehören genau wie Syllogismen (οἱ συλλογισμοὶ), Fragen (τὰ ἐρωτήματα) und Erkundigungen (τὰ πύσματα) zu den vollständigen λεκτά (vgl. ebd.). Unvollständig sind λεκτά, wenn ihr sprachlicher Ausdruck unabgeschlossen ist: zum Beispiel „schreibt“ – da erfährt man nämlich nicht, wer schreibt; zu den unvollständigen λεκτά gehören deshalb die Prädikate (τὰ κατηγωρήματα, vgl. ebd.). Der phänomenale Gehalt einer rationalen Erscheinung muss also nicht zwangsläufig mit einer Aussage wiedergegeben werden. Die Aussagen sind dabei Ausdruck von etwas, das schon da ist. Der antreibende Charakter einer kataleptischen oder nichtkataleptischen Erscheinung kommt nicht erst durch die sprachliche Artikulation ihres phänomenalen Gehalts zustande, sondern haftet ihr (wenn überhaupt) schon als solcher an. Vgl. hierzu Blackson 2017, der zwischen einer „form interpretation“ und einer „no-form interpretation“ der antreibenden Erscheinung unterscheidet. Die bei Diogenes Laertios zu findende, vermutlich skeptische Anekdote von Sphairos (einem Stoiker der dritten Generation) und Ptolemaios Philopator (dem König der Ptolemäer) bringt ein Problem mit sich (vgl. DL 7,177). Sphairos reiste angeblich eines Tages, „[...] als er für sich beanspruchte, weit genug in den Wissenschaften vorangeschritten zu sein [...]“ (προκοπὴν ἱκανὴν περιποιησάμενος λόγων, eig. Übers.), zu Ptolemaios nach Alexandria. Der sei der Überzeugung gewesen, der stoische Weise könne kataleptische und nichtkataleptische Erscheinungen nicht immer auseinanderhalten, und habe Sphairos aus Wachs geformte Granatäpfel vorgelegt. Im Glauben, Sphairos habe sich getäuscht, soll Ptolemaios ausgerufen haben, dass Sphairos einer falschen (nichtkataleptischen) Erscheinung zugestimmt hat. Aber Sphairos wies ihn wohl gleich wieder in die Schranken und versicherte, er habe nicht der Erscheinung zugestimmt, dass es sich um Granatäpfel handele, sondern der Erscheinung, dass es sich wahrscheinlich um Granatäpfel handele (οὐχ ὅτι ῥόαι εἰσίν, ἀλλ’ ὅτι εὔλογόν ἐστι ῥόας αὐτὰς
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schen können kataleptische und nichtkataleptische Erscheinungen aber nicht auseinanderhalten und werden den phänomenalen Gehalt der einen Erscheinung sprachlich genauso zum Ausdruck bringen wie den der anderen (sie werden sich in beiden Fällen zum Beispiel sagen, dass dort Wasser ist). Wie verhält es sich aber nun mit kataleptischen und nichtkataleptischen Erscheinungen, die auch antreiben? (3) Der phänomenale Gehalt einer kataleptischen Erscheinung, die auch antreibt, würde zusätzlich durch die Aussage zum Ausdruck gebracht werden, dass etwas Bestimmtes getan werden soll (καθῆκον) – zum Beispiel, dass man das Wasser dort trinken soll.26 (4) Der phänomenale Gehalt einer nichtkataleptischen Erscheinung, die auch antreibt, würde von den meisten nichtweisen – nicht aber von den weisen – Menschen ebenfalls zusätzlich durch die Aussage zum Ausdruck gebracht werden, dass etwas Bestimmtes getan werden soll. Wird die nichtkataleptische Erscheinung durch etwas Nichtvorhandenes wie bei der Halluzination einer Wasserquelle unmittelbar verursacht, träfen die Nichtweisen neben der Aussage, dass dort eine Wasserquelle sei, eine Aussage wie: „Ich soll dorthin gehen und Wasser trinken.“ Wird jene Erscheinung durch etwas Vorhandenes wie zum Beispiel Elektra unmittelbar verursacht, das sie aber nicht klar und deutlich repräsentiert, träfe jemand wie Orest neben der Aussage, dass dort eine Erinnye sei, eine Aussage wie: „Die Erinnye soll von mir fernbleiben.“ Aussagen, mit denen man die faktische Seite von kataleptischen und nichtkataleptischen (antreibenden) Erscheinungen zum Ausdruck bringt, könnte man als konstatierende Aussagen bezeichnen. Aussagen, mit denen man den motivationalen Aspekt von kataleptischen und nichtkataleptischen antreibenden Erscheinungen zum Ausdruck bringt, könnte man dagegen als normative Aussagen bezeichnen.27 s
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εἶναι). Und wenn etwas wahrscheinlich sei, dann könne sich jederzeit auch etwas anderes ergeben. Das Problem an dieser Anekdote ist, dass Sphairos, wenn er wirklich weise ist, den phänomenalen Gehalt seiner nichtkataleptischen Erscheinung nicht einmal mit einer Wahrscheinlichkeitsaussage zum Ausdruck bringen dürfte (vgl. auch Horn 2006, S. 351). Er hätte schlicht und einfach erkennen müssen, dass die Granatäpfel unecht sind. Eine Lösungsmöglichkeit des Problems besteht darin zu sagen, Sphairos sei gar nicht weise, sondern nur auf dem Weg zur Weisheit (vgl. ebd.). Sein Erfahrungsschatz reicht so weit, dass er erkennt, dass es sich nicht um echte Granatäpfel handelt; er reicht aber nicht so weit, dass er erkennt, dass es sich um unechte Granatäpfel handelt. Für einen anderen Lösungsweg vgl. Brennan 1996, S. 319–325. Ihm zufolge stimmt Sphairos einer kataleptischen Erscheinung zu (vgl. ebd., S. 323). Sollte dies der Fall sein, stellt sich aber die Frage, warum Sphairos eine Wahrscheinlichkeitsaussage trifft. Eine kataleptische Erscheinung lässt keinen Spielraum für Möglichkeiten, sie repräsentiert etwas Vorhandenes so, wie es tatsächlich ist. Das Sollen ist hier also prudenzieller Natur und kein moralisches Sollen (vgl. auch Annas 1992, S. 96). Inwood spricht nicht von normativen, sondern von hormetischen Aussagen – vgl. Inwood 1985, S. 59f.: „If one sort of proposition leads to an action when it is assented to, it is reasonable to dub it ‚hormetic‘, even though none of our sources does so. But the
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Es ist umstritten, ob ein und dieselbe rationale Erscheinung mit mehreren Aussagen oder anderen sogenannten lekta verbunden sein kann (grobkörnige Interpretation), oder ob jeder rationalen Erscheinung immer nur genau ein lekton (zum Beispiel eine Aussage) korrespondiert (feinkörnige Interpretation). Zu denen, die eine grobkörnige Interpretation vertreten, gehört Brad Inwood: „Nothing stands in the way of the hypothesis that more than one lekton or even that lekta of different kinds accompany a single presentation.“28 Inwood stützt sich dabei auf die Passage bei Sextus Empiricus bzw. Diogenes Laertios, wonach ein lekton dasjenige ist, was in Übereinstimmung mit einer rationalen Erscheinung fortbesteht,29 und argumentiert, dass die Formulierung eine solche Interpretation zulasse.30 Als Beispiel führt er ein Süßmaul an, das ein Stückchen Kuchen sieht und dadurch zu einer antreibenden Erscheinung gelangt.31 Das Süßmaul formt hinsichtlich ein und s
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distinction in the kinds of proposition was clearly in the Stoics’ minds […].“ Den anderen Aussagetypus nennt Inwood „non-hormetic proposition“. Auch wenn es plausibel ist anzunehmen, dass das Konzept der normativen (hormetischen) Aussage ein fester Bestandteil der altstoischen Handlungspsychologie war, ergibt sich dennoch ein Problem: Für die Stoiker sind Aussagen immer wahr oder falsch (vgl. Cic. fat. 38, Cic. ac. 2,95, DL 7,66 und SVF 2,912). Inwiefern kann aber eine normative Aussage wahr oder falsch sein? Eine Antwort könnte lauten: Eine normative Aussage des Typs „A soll f tun“ ist dann wahr, wenn sie den motivationalen Aspekt einer kataleptischen antreibenden Erscheinung zum Ausdruck bringt, und dann falsch, wenn sie den motivationalen Aspekt einer nichtkataleptischen antreibenden Erscheinung zum Ausdruck bringt. Eine andere Antwort könnte lauten: Eine normative Aussage des Typs „A soll f tun“ ist dann wahr, wenn sie mit einer Lehre übereinstimmt, die vorschreibt, dass A f tun soll, und dann falsch, wenn sie nicht mit ihr übereinstimmt. Inwood 1985, S. 61. Shogry 2018, S. 23, Fußn. 42 bezeichnet diesen Standpunkt ohne weitere Begründung als „dubious assumption“. Vgl. Sext. Emp. adv. math. 8,70 (= LS 33 C): λεκτὸν δὲ ὑπάρχειν φασὶ τὸ κατὰ λογικὴν φαντασίαν ὑφιστάμενον, und vgl. DL 7,63: φασὶ δὲ [τὸ] λεκτὸν εἶναι τὸ κατὰ φαντασίαν λογικὴν ὑφιστάμενον. Bei einem anderen Wortlaut hätte er sich, wie er unterstreicht, mehr Zurückhaltung auferlegt, vgl. Inwood 1985, S. 277, Anm. 116: „If we were told that ‚rational presentation is accompanied by a lekton‘ I would be reluctant to make the hypothesis I am making here.“ Bei Inwood wird nicht klar, wie kataleptische und nichtkataleptische Erscheinungen einerseits und antreibende Erscheinungen andererseits zusammenhängen. Klar ist, dass für ihn antreibende Erscheinungen keinesfalls kataleptisch im Sinne von erkenntnistauglich sein können: „For it is certain that no hormetic presentation, whether rational or non-rational, is cataleptic“ (vgl. ebd., S. 76). Das scheint ein Indiz dafür zu sein, dass er antreibende Erscheinungen als Erscheinungen sui generis versteht. Dennoch können antreibende Erscheinungen für ihn durch mehrere Aussagen verschiedenen Typs zum Ausdruck gebracht werden. Aber warum? Weil sie nicht nur antreiben, sondern auch etwas Vorhandenes oder Nichtvorhandenes repräsentieren? Würde er also die Meinung teilen, dass kataleptische bzw. nichtkataleptische Erscheinungen zuweilen auch antrei-
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derselben Erscheinung nicht nur die konstatierende Aussage „Dort ist ein Stückchen Kuchen“, sondern auch die normative Aussage „Ich soll dieses Stückchen Kuchen essen.“32 Man könnte, um beim früheren Beispiel zu bleiben, ebenso gut an einen Durstigen denken, der Wasser sieht und so zu einer, sagen wir, kataleptischen Erscheinung gelangt, die auch antreibt. Der Durstige formt hinsichtlich ein und derselben Erscheinung nicht nur die konstatierende Aussage „Dort ist Wasser“, sondern auch die normative Aussage „Ich soll das Wasser trinken“. Eine feinkörnige Interpretation vertritt dagegen Tad Brennan, der folgendermaßen argumentiert: „[...] [Rational impressions] are each correlated with a unique proposition-like item, the axiôma, which is partly constitutive of the identity of the impression (i.e., two visual impressions may be completely alike so far as their visual content goes, and yet be distinct impressions even at the level of type because of the distinctness of their accompanying axiômata).“33 Für Brennan können rationale Erscheinungen in manchen Fällen nur durch die ihnen jeweils korrespondierende spezifische Aussage voneinander unterschieden werden. Deswegen sei eine Erscheinung auch nur mit einer einzigen Aussage verbunden. Folgt man seinem Ansatz, hätte das Süßmaul bzw. der Durstige zwei rationale Erscheinungen, eine antreibende einerseits und eine kataleptische oder nichtkataleptische andererseits, denen jeweils genau eine Aussage korrespondiert, nämlich eine normative und eine konstatierende. Brennan ist zudem der Auffassung, dass eine grobkörnige Interpretation im Stile Inwoods durch die Quellen nicht gedeckt ist.34 Es ist schwer zu sagen, welcher von beiden Interpretationsansätzen der altstoischen Position am nächsten kommt. Insgesamt leuchtet Inwoods Vorschlag mehr ein, denn wie sollte es möglich sein, dass zwei rationale Erscheinungen in phänomenaler Hinsicht nicht zu unterscheiden sind, wohl aber hinsichtlich der ihnen korrespondierenden Aussagen, wenn diese doch nur ein Ausdruck jener sind? So gesehen müssten eigentlich auch die ihnen korrespondierenden Aussagen gleich sein. Außerdem wäre es dann nötig, einen kategorischen Unterschied zwischen kataleptischen bzw. nichtkataleptischen Erscheinungen einerseits und antreibenden Erscheinungen andererseits zu treffen, da eine kataleptische bzw. nichtkataleptische Erscheinung, die auch antreibt, (zumindest nach meiner Darstellung) stets durch mehr als eine Aussage zum Ausdruck gebracht wird, was Brennan gerade ausschließen will. Meines Erachtens ist es aber wenig einleuchtend, einen solchen kategorischen Unterschied vorzunehmen. s
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ben? Aufgrund dieser Vagheit werde ich bei seinem Beispiel nur von antreibenden Erscheinungen sprechen. Bei meinem Beispiel spreche ich hingegen von kataleptischen Erscheinungen, die antreiben (ich könnte natürlich auch ein Beispiel anführen, bei dem eine nichtkataleptische Erscheinung antreibt; der Einfachheit halber beschränke ich mich hier aber auf ein Beispiel). Vgl. Inwood 1985, S. 61. Zu dem, was Inwood als „imperatival lekton“ bezeichnet, komme ich auf S. 43. Brennan 2003, S. 260f. Vgl. ebd., S. 261, Fußn. 8, wobei er Inwood aber nicht erwähnt.
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Schließlich spricht eine Passage bei Sextus Empiricus eher für eine grobkörnige Interpretation. Für deren Verständnis muss der etwas längere Kontext berücksichtigt werden, in dem sie steht. Wenn wir Sextus’ Bericht Glauben schenken dürfen, unterteilten die älteren Stoiker rationale Erscheinungen auf nochmals andere Weise.35 Demnach sind einige rationale Erscheinungen a) überzeugend (πιθαναί), andere b) nichtüberzeugend (ἀπίθανοι); wieder andere c) überzeugend und nichtüberzeugend (πιθαναὶ ἅμα καὶ ἀπίθανοι), und schließlich gibt es noch d) jene, die weder überzeugend noch nichtüberzeugend sind (οὔτε πιθαναὶ οὔτε ἀπίθανοι). Überzeugende Erscheinungen (a) rufen eine sanfte Bewegung in der Seele hervor (λεῖον κίνημα περὶ ψυχήν), wie zum Beispiel die Erscheinung, die durch die Aussage zum Ausdruck gebracht wird, dass jetzt Tag ist oder ich eine Rede halte (sofern es Tag ist oder ich eine Rede halte). Nichtüberzeugende Erscheinungen (b) rufen keine sanfte Bewegung in der Seele hervor, sondern halten uns davon ab, ihnen zuzustimmen (ἀποστρέφουσαί ἡμᾶς τῆς συγκαταθέσεως), wie zum Beispiel die Erscheinung, die durch die Aussage zum Ausdruck gebracht wird: „Wenn es Tag ist, steht die Sonne nicht am Himmel“, oder die Erscheinung, die durch die Aussage zum Ausdruck gebracht wird: „Wenn es dunkel ist, ist es Tag.“36 Überzeugend und nichtüberzeugend (c) sind Erscheinungen, die je nach ihrer relativen Disposition (κατὰ τὴν πρός τι σχέσιν) bald das eine und bald das andere sind, zum Beispiel Erscheinungen von unlösbaren Argumenten. Weder überzeugend noch nichtüberzeugend (d) sind Erscheinungen, die durch Aussagen wie „Die Anzahl der Sterne ist gerade“ oder „Die Anzahl der Sterne ist ungerade“ zum Ausdruck gebracht werden. Sextus’ Dihairese geht noch weiter:37 τῶν δὲ πιθανῶν [ἢ ἀπιθάνων]38 φαντασιῶν αἱ μέν εἰσιν ἀληθεῖς, αἱ δὲ ψευδεῖς, αἱ δὲ ἀληθεῖς καὶ ψευδεῖς, αἱ δὲ οὔτε ἀληθεῖς οὔτε ψευδεῖς. ἀληθεῖς μὲν οὖν εἰσὶν ὧν s
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Vgl. im Folgenden Sext. Emp. adv. math. 7,242f. (= LS 39 G). Damit man sich das erste Beispiel noch besser vorstellen kann, kann man an folgende Situation denken: Paul wacht in seinem Bett auf und schaut auf den Wecker. Es ist 10 Uhr morgens und er hätte schon längst auf Arbeit sein müssen. Als er seinen Rollladen hochzieht, bemerkt er aber, dass es draußen noch dunkel ist. Verdutzt fragt er sich: „Wie kann das 10 Uhr morgens sein?“ Schnell wird ihm klar: Sein Wecker geht falsch. Nach einem Blick auf eine andere Uhr seufzt er vor Erleichterung, wechselt die Batterien seines Weckers und legt sich wieder ins Bett. Leicht ließe sich auch ein ähnliches Beispiel für die nichtüberzeugende Erscheinung finden, die durch die Aussage „Wenn es dunkel ist, ist es Tag“ zum Ausdruck gebracht wird. Sext. Emp. adv. math. 7,243–247 (= LS 39 G und ebd., 30 F), Übers. Hülser, Fragmente zur Dialektik der Stoiker 273, modifiziert. Ich folge hier v. Arnims Vorschlag, ἢ ἀπιθάνων zu tilgen. Eine Erklärung dafür geben Long und Sedley in ihrem Kommentar zu dieser Stelle. Sie merken an, dass die beiden Beispiele für nichtüberzeugende Erscheinungen (zu finden unter b, vgl. S. 40) offensichtlich falsch sind, während die Beispiele in diesem Abschnitt ausschließlich den überzeugenden Erscheinungen gelten. Eine Inklusion beider Disjunkte würde ihrer Meinung nach der „proper procedure for definition by diairesis“ zuwiderlaufen.
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ἔστιν ἀληθῆ κατηγορίαν ποιήσασθαι, ὡς τοῦ “ἡμέρα ἔστιν” ἐπὶ τοῦ παρόντος ἢ τοῦ “φῶς ἔστι”, ψευδεῖς δὲ ὧν ἔστι ψευδῆ κατηγορίαν ποιήσασθαι, ὡς τοῦ κεκλάσθαι τὴν κατὰ βυθοῦ κώπην ἢ μύουρον εἶναι τὴν στοάν, ἀληθεῖς δὲ καὶ ψευδεῖς, ὁποία προσέπιπτεν Ὀρέστῃ κατὰ μανίαν ἀπὸ τῆς Ἠλέκτρας (καθὸ μὲν γὰρ ὡς ἀπὸ ὑπάρχοντός τινος προσέπιπτεν, ἦν ἀληθής, ὑπῆρχε γὰρ Ἠλέκτρα, καθὸ δ’ ὡς ἀπὸ Ἐρινύος, ψευδής, οὐκ ἦν γὰρ Ἐρινύς), καὶ πάλιν εἴ τις ἀπὸ Δίωνος ζῶντος κατὰ τοὺς ὕπνους ὡς ἀπὸ παρεστῶτος ὀνειροπολεῖται ψευδῆ καὶ διάκενον ἑλκυσμόν. οὔτε ἀληθεῖς οὔτε ψευδεῖς εἰσὶν αἱ γενικαί· ὧν γὰρ τὰ εἴδη τοῖα ἢ τοῖα, τούτων τὰ γένη οὔτε τοῖα οὔτε τοῖα, οἷον τῶν ἀνθρώπων οἱ μέν εἰσιν Ἕλληνες οἱ δὲ βάρβαροι, ἀλλ’ ὁ γενικὸς ἄνθρωπος οὔτε Ἕλλην ἐστίν, ἐπεὶ πάντες ἂν οἱ ἐπ’ εἴδους ἦσαν Ἕλληνες, οὔτε βάρβαρος διὰ τὴν αὐτὴν αἰτίαν. [Die Stoiker sagen:39] Von den überzeugenden Erscheinungen sind die einen wahr, die anderen falsch, wieder andere wahr und falsch, und nochmals andere weder wahr noch falsch. Wahr sind diejenigen, die die Möglichkeit eröffnen, eine wahre Prädikation von ihnen zu bilden, wie beispielsweise zum gegenwärtigen Zeitpunkt ‚Es ist Tag‘ oder ‚Es ist hell‘. Falsch sind diejenigen, die die Möglichkeit eröffnen, eine falsche Prädikation von ihnen zu bilden, wie zum Beispiel, dass das Ruder unter Wasser gebrochen oder die Säulenhalle am Ende mausschwänzig sei. Wahr und falsch sind einerseits Erscheinungen wie die, die Orest von Elektra her überkam (denn insofern ihn die Erscheinung so überkam, als gehe sie von etwas Vorhandenem aus, war sie wahr – Elektra existierte nämlich; insofern ihn die Erscheinung aber so überkam, als gehe sie von einer Erinnye aus, war sie falsch, Elektra war nämlich keine Erinnye); aber andererseits sind die Erscheinungen auch dann wahr oder falsch, wenn jemand zu Lebzeiten Dions diesen im Traum [zwar inhaltlich völlig richtig, aber doch] so schaut, als gehe die Erscheinung von dem neben ihm stehenden Dion aus, woraufhin das Traumgesicht eine falsche und leere Attraktion ist. Weder wahr noch falsch sind die generischen Erscheinungen. Denn bei den Dingen, deren Arten von dieser oder von jener Beschaffenheit sind, sind die Gattungen weder von dieser noch von jener Beschaffenheit. Beispielsweise sind die
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Wie das κατὰ τοὺς ἀπὸ τῆς Στοᾶς (vgl. Sext. Emp. adv. math. 7,241) verdeutlicht, ist Sextus wirklich der Überzeugung, die stoische Lehre wiederzugeben, obwohl die Rede von glaubhaften und nicht glaubhaften Erscheinungen an Karneades erinnert, vgl. Cic. ac. 2,99: Duo placet esse Carneadi genera visorum; In uno hanc divisionem, alia visa esse, quae percipi possint, [die Herausgeber übernehmen diesen Teilsatz, den ein Korrektor, der nicht mit dem Schreiber des Codex Vindobonensis 189 identisch ist, hinzufügt] in altero autem, alia visa esse probabilia alia non probabilia („Karneades also vertritt die Lehrmeinung, es gebe zwei Arten von Erscheinungen. Die eine Art sei unterteilt in Erscheinungen, die erfasst werden könnten, und solche, die nicht erfasst werden könnten; die zweite Art einerseits in glaubhafte Erscheinungen, andererseits in nicht glaubhafte“, Übers. Schäublin). Welche Stoiker Sextus hier im Blick hat, ist nicht ganz klar. Kurz zuvor spricht er von Zenon (vgl. Sext. Emp. adv. math. 7,236).
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Das handlungspsychologische Fundament Menschen teils Griechen, teils Barbaren; aber die Gattung ‚Mensch‘ ist nicht Grieche, weil dann alle einzelnen Menschen Griechen wären, und aus demselben Grund auch nicht Barbar.
Für die gegenwärtige Problemlage ist vor allem das Beispiel des Orest interessant. Orest hat genau eine überzeugende nichtkataleptische Erscheinung, deren phänomenalen Gehalt er durch zwei konstatierende Aussagen zum Ausdruck bringt – durch die Aussage „Dort ist Elektra“, die wahr ist, weil sie etwas Vorhandenem entspricht, und durch die Aussage „Dort ist eine Erinnye“, die falsch ist, weil sie keinem Vorhandenen entspricht.40 Wenn man Brennans Ansatz folgt, müsste man die Passage jedoch anders interpretieren: Danach hätte Orest zwei überzeugende nichtkataleptische Erscheinungen, denen jeweils genau eine spezifische konstatierende Aussage korrespondiert. Orest hätte nicht eine einzige Erscheinung, die wahr und falsch ist, sondern eine Erscheinung, die wahr ist, und eine, die falsch ist. Wahr wäre die Erscheinung, die durch die Aussage „Dort ist Elektra“ zum Ausdruck gebracht wird; falsch dagegen jene, die durch die Aussage „Dort ist eine Erinnye“ zum Ausdruck gebracht wird. Sextus’ Bericht gibt eine feinkörnige Interpretation im Stile Brennans aber nicht her. Sextus beginnt zwar im Plural (ἀληθεῖς δὲ καὶ ψευδεῖς [sc. φαντασίαι πιθαναί]), setzt dann aber eindeutig im Singular fort (ὁποία προσέπιπτεν Ὀρέστῃ [sc. φαντασία πιθανή]). Daraus lässt sich folgern, dass er von einer einzigen Erscheinung spricht, die zugleich wahr und falsch ist, und nicht von mehreren Erscheinungen, von denen eine wahr ist und eine falsch. So viel zu der Frage, ob ein und dieselbe rationale Erscheinung mit mehreren Aussagen oder anderen lekta in Verbindung stehen kann, oder ob jeder rationalen Erscheinung immer nur genau ein lekton (zum Beispiel eine Aussage) korrespondiert. Zu Beginn war die Rede davon, dass die Lehre von der Erscheinung am Anfang der altstoischen Handlungspsychologie steht. Nun wissen wir auch, warum: Eine Erscheinung ist dasjenige, was zuweilen bewegt (τὸ κινοῦν). Sie bewegt aber nicht im Sinne einer aristotelischen causa efficiens, sondern im Sinne einer chrysippschen „mithelfenden und der Wirkung am nächsten liegenden Ursache“ (einer causa adiuvans et proxima),41 die notwendig, aber nicht hinreichend für das Zustandekommen einer Handlung ist. Man denke hier an Chrysipps berühmtes Walzen- und Kreiselbeispiel: Die Walze bzw. der Kreisel benötigen einen Anstoß von außen, der die mithelfende und der Wirkung am nächsten liegende Ursache für die
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Diese beiden Aussagen könnten auch Bestandteil einer Konjunktion sein (vgl. Shogry 2018, S. 22f.), innerhalb derer ein Teil wahr und ein Teil falsch ist. Orest könnte sich sagen: „Dort ist Elektra und sie ist eine Erinnye.“ Vgl. Cic. fat. 41f., wo es heißt: [...] cum id visum proximam causam habeat [sc. assensio], non principalem [...]. Bei Plutarch findet sich der ähnliche griechische Ausdruck προκαταρκτικὴ αἰτία, vgl. Plut. de Stoic. rep. 1056 B–C (= LS 55 R).
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Walzen- bzw. Kreiselbewegung ist.42 Danach drehen sich beide Gegenstände aufgrund ihrer eigenen Natur, die wiederum die causa efficiens – bzw. in stoischer Terminologie: die causa perfecta et principalis – darstellt.43 Ob eine Erscheinung zu einer solchen Ursache einer Handlung werden soll, liegt aufgrund unserer Natur – wir sind zu Zustimmungen fähig – in unserer Hand (ἐφ’ ἡμῖν/ in nostra potestate).44 So können wir einer mit einer kataleptischen oder nichtkataleptischen antreibenden Erscheinung verbundenen normativen Aussage, dass etwas Bestimmtes getan werden soll, zustimmen – eine Zustimmung, die sich als Selbstaufforderung, zum Beispiel: „Trinken!“, interpretieren ließe45 – und dadurch einen s
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Vgl. Cic. fat. 42f. sowie Gell. noct. Att. 7,2,11f. (= LS 62 D 13–17). Vgl. Cic. fat. 41. Für einen ähnlichen griechischen Ausdruck vgl. Plut. de Stoic. rep. 1056 B–C (= LS 55 R), der von einer αὐτοτελὴς αἰτία spricht. Die Anzahl der mit causa adiuvans et proxima/causa perfecta et principalis angesprochenen Ursachentypen ist umstritten. Laut Susanne Bobzien sind es zwei (vgl. Bobzien 1998b, S. 206 und 208), laut Laura Gómez vier (vgl. Gómez 2014, S. 129–131). Vgl. Cic. fat. 43: [...] sed assensio nostra erit in potestate [...]. Vgl. auch Cic. ac. 1,40f. (= LS 40 B): [...] sed ad haec quae visa sunt et quasi accepta sensibus assensionem adiungit animorum, quam esse vult in nobis positam et voluntariam („Aber mit dem, was gesehen und gleichsam mit den Sinnen aufgenommen wurde, verband er [Zenon] die Zustimmung der Seele, die, so will er es, in unserer Hand liegt und gewollt ist“, eig. Übers.). Vgl. außerdem Cic. ac. 2,37, wo es ebenso heißt, die assensio sei in nostra potestate. Für die jüngere Stoa vgl. Epikt. diatr. 4,1,68f.: [...] Πότερον οὖν οὐδὲν ἔχεις αὐτεξούσιον, ὃ ἐπὶ μόνῳ ἐστὶ σοί, ἢ ἔχεις τι τοιοῦτον; — Οὐκ οἶδα. — Ὅρα οὖν οὕτως καὶ σκέψαι αὐτό. μή τις δύναταί σε ποιῆσαι συγκαταθέσθαι τῷ ψεύδει; — Οὐδείς — Οὐκοῦν ἐν μὲν τῷ συγκαταθετικῷ τόπῳ ἀκώλυτος εἶ καὶ ἀνεμπόδιστος. — Ἔστω. — („Hast du denn gar nichts zur freien Verfügung, was ausschließlich in deiner Gewalt ist? Oder hast du etwas Derartiges? Ich weiß es nicht. Denk doch einmal über diese Frage nach. Kann dich etwa jemand dazu veranlassen, dem zuzustimmen, was falsch ist? Niemand. Also bist du auf dem Gebiet der Zustimmung unbehindert und unbeschränkt frei? Richtig“, Übers. Nickel, Epiktet/Teles/Musonius Rufus). Vgl. zu der Textstelle auch den Kommentar von Lothar Willms (Willms 2011, S. 354–358). Inwiefern die freie Zustimmung mit der stoischen Theorie des Schicksals kompatibel ist, diskutiert Bobzien 1998a (vgl. vor allem Kapitel 1, 6, 7 und 8 sowie die Unterabschnitte 3,1,5; 3,4,2; 4,2,2–4 und 5,3 für zusätzliche Informationen); für eine kritische Auseinandersetzung mit ihrem Buch vgl. Brennan 2001. So wird auch Stobaios’ Äußerung (Stob. anthol. 2,88,4f. [= LS 33 I]) verständlich, wonach Zustimmungen auf Aussagen bezogen seien, Antriebe aber auf Prädikate, die „in gewissem Sinne in den Aussagen enthalten sind“ (Ἤδη δὲ ἄλλῳ μὲν εἶναι συγκαταθέσεις, ἐπ’ ἄλλο δὲ ὁρμάς. καὶ συγκαταθέσεις μὲν ἀξιώμασί τισιν, ὁρμὰς δὲ ἐπὶ κατηγορήματα, τὰ περιεχόμενά πως ἐν τοῖς ἀξιώμασιν [...]). Aussagen sind vollständige sprachliche Gebilde (λεκτά); sie bestehen mindestens aus Subjekt und Prädikat, während Prädikate unvollständige sprachliche Gebilde sind – ihnen fehlt das Subjekt und man will wissen, wer da etwas tut (vgl. DL 7,63). Vgl. auch den Kommentar von Long und Sedley zu der Stelle bei Stobaios: „[...] [T]he linguistic form that the impuls takes is seen to be imperatival, ‚Exercise!‘. Hence, it seems, our impulse is not
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Das handlungspsychologische Fundament
Antrieb erzeugen,46 der notwendig und hinreichend für eine Handlung ist47 (vorausgesetzt, dieser werden keine Hindernisse in den Weg gelegt). Auch aus epistemologischer Sicht liegt in unserer Hand, was aus einer Erscheinung werden soll: Wir können einer mit einer kataleptischen oder nichtkataleptischen (antreibenden) Erscheinung verbundenen konstatierenden Aussage, dass etwas Bestimmtes der Fall ist, zustimmen, wobei diese Zustimmung im ersteren Fall eine Erkenntnis (κατάληψις), im letzteren dagegen eine Meinung (δόξα) ist, zum Beispiel die Erkenntnis oder Meinung, dass dort Wasser ist.48 Mit „wir“ sind ebenfalls wieder s
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directed to the whole proposition. Having given it our assent, what we are impelled towards is not, ‚I should exercise‘, but exercising, the action to which our assent to the whole proposition impels us“ (eig. Herv.). Das Prädikat, auf das sich der Antrieb bezieht, ist mit keinem grammatischen Subjekt verbunden, aber es hat dennoch ein Subjekt, das man sich nur hinzudenken muss, wie beispielsweise bei einem imperativischen Infinitiv. Wer „Antreten!“ sagt, der bezieht sich damit auf eine bestimmte Person bzw. Personengruppe (zum Beispiel Soldaten), auch wenn er dabei kein grammatisches Subjekt verwendet (vgl. zur Interpretation des Prädikats als Infinitiv auch Meyer 2017, S. 115f. und 132.). Das Modell der imperativischen Selbstaufforderung wurde erstmals von Brad Inwood vorgestellt (vgl. Inwood 1985, S. 62; für eine Kritik vgl. Annas 1992, S. 96, Fußn. 20). Inwood scheint die Besonderheit, dass Zustimmungen auf Aussagen bezogen seien, Antriebe aber auf Prädikate, nicht genügend zu berücksichtigen, wenn er die Selbstaufforderung mit „You, eat that piece of cake“ wiedergibt (vgl. Inwood 1985, S. 61). Denn so formuliert, wäre sie ein vollständiges sprachliches Gebilde. Friedemann Buddensiek spricht nicht von einer Selbstaufforderung, sondern von einer Reaktionsüberzeugung, deren propositionalen Gehalt er aber ebenfalls als vollständiges sprachliches Gebilde zu deuten scheint (vgl. Buddensiek 2012, S. 79). Der Antrieb ist so eng mit dem Zustimmungsakt verknüpft, dass er zuweilen mit ihm gleichgesetzt wird – vgl. Stob. anthol. 2,88,1 (= LS 33 I): Πάσας δὲ τὰς ὁρμὰς συγκαταθέσεις εἶναι [...]. Vgl. Cic. ac. 2,24, wonach die ὁρμή (hier wiedergegeben mit appetitio) dasjenige ist, wodurch wir zum Handeln veranlasst werden (qua ad agendum impellimur). Vgl. auch Inwood 1985, S. 53: „[...] [A]n impulse is the cause of an action, as being its necessary and sufficent condition; an impulse invariably produces an action, provided that no external obstacles bar the physical execution of the act [...].“ Vgl. außerdem Brennan 2003, S. 265: „Impulse is a necessary condition for action [...]. But impulse is also a sufficient condition for action [...]“, und Vogt 2006, S. 67: „According to early Stoic theory, actions are caused by impulses [...]“, sowie Buddensiek 2012, S. 78: „Der Impuls wiederum verursacht direkt die entsprechende Handlung.“ Gegen die Annahme, dass ein Antrieb eine Handlung verursacht, argumentiert jüngst Meyer 2017. Sie unterscheidet zwei Perspektiven: eine handlungstheoretische (behavioural construal) und eine psychologische (psychological construal). Verursacht werde eine Handlung durch einen Antrieb nur psychologisch gesehen, nicht aber handlungstheoretisch gesehen. Aus handlungstheoretischer Perspektive ist laut Meyer ein Antrieb eine Handlung. Die Erkenntnis ist eine Sonderform der Zustimmung (vgl. Görler 1977, S. 85). Das Gleiche gilt für eine Meinung. Laut Cic. Tusc. 4,15 charakterisierten die älteren Stoiker eine Meinung als schwache Zustimmung: opinationem autem [...] volunt [sc. Stoici]
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erwachsene (in erster Linie nichtweise) Menschen gemeint, was sich allein schon daraus ableiten lässt, dass sich Zustimmungen den älteren Stoikern zufolge grundsätzlich auf Aussagen beziehen,49 die eben streng genommen nur ein erwachsener Mensch mithilfe seines Verstandes bilden kann.50 In der Forschung wurde diskutiert, ob man die Zustimmung als Willen auffassen kann. Communis Opinio ist, dass beide Konzepte nicht identisch sind.51 Aber was fehlt der Zustimmung eigentlich zum Willen? Hierfür ist es hilfreich, die oben vorgestellten Kriterien für einen philosophischen Willensbegriff im engeren Sinne heranzuziehen.52 Als rationales Streben lässt sich die Zustimmung insofern einstufen, als die Person, die einer mit einer antreibenden Erscheinung (sei sie nun kataleptisch oder nicht) verbundenen normativen Aussage zustimmt, für sich ein Ziel konstituiert, das sie verfolgen will. Da Zustimmung und Antrieb so nahe beieinanderliegen, dass sie teilweise miteinander identifiziert werden, könnte man zumindest einige der Eigenschaften, die für den Antrieb charakteristisch sind, auch für sie geltend machen, zum Beispiel die Eigenschaft, eine Bewegung auf s
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esse imbecillam assensionem („In der Meinung aber [...] wollen sie [die Stoiker] eine schwache Zustimmung sehen“, Übers. Kirfel, modifiziert). Vgl. auch Sext. Emp. adv. math. 7,151 (= SVF 1,67): [...] φασιν ἐκεῖνοι [sc. οἱ Στωϊκοί] [...] δόξαν εἶναι τὴν ἀσθενῆ καὶ ψευδῆ συγκατάθεσιν („Jene [die Stoiker] sagen, dass eine Meinung eine schwache und falsche Zustimmung sei“, eig. Übers.). Außerdem: Ob die Zustimmung auch bei einer kataleptischen Erscheinung in unserer Hand liegt, ist nicht ganz klar. Bei Sextus Empiricus (vgl. Sext. Emp. adv. math. 7,257 [= LS 40 K]) ist die Rede davon, dass uns diese geradezu an den Haaren packt und zur Zustimmung drängt (τῶν τριχῶν [...] λαμβάνεται, κατασπῶσα ἡμᾶς εἰς συγκατάθεσιν). Inwood 1985, S. 76 will die innostra-potestate-Bedingung aufrechterhalten, ebenso Schriefl 2019, S. 48. Für eine eingehende Argumentation gegen die verbreitete Annahme, Zustimmungen zu kataleptischen Erscheinungen seien notwendig, vgl. Brittain 2014. Vgl. Stob. anthol. 2,88,4 (= LS 33 I): [...] καὶ συγκαταθέσεις μὲν ἀξιώμασί τισιν [...]. Tiere haben keinen Verstand und auch keine Vernunft, bei Kindern sind diese Vermögen biologisch noch nicht vollständig entwickelt. Die Stoiker gehen davon aus, dass es dazu erst im 14. Lebensjahr kommt. Vgl. SVF 2,835 (Iamblichos bei Stobaios): [...] οἱ μὲν Στωϊκοὶ λέγουσι μὴ εὐθὺς ἐμφύεσθαι τὸν λόγον, ὕστερον δὲ συναθροίζεσθαι ἀπὸ τῶν αἰσθήσεων καὶ φαντασιῶν περὶ δεκατέσσαρα ἔτη („Die Stoiker sagen, dass die Vernunft nicht sofort entstehe, sondern erst später, um das 14. Lebensjahr, von den Sinneswahrnehmungen und Erscheinung ‚zusammengesammelt‘ werde“, eig. Übers.). Vgl. auch Aët. plac. 5,23,1 (= SVF 2,764): Ἡράκλειτος καὶ οἱ Στωικοὶ ἄρχεσθαι τοὺς ἀνθρώπους τῆς τελειότητος περὶ τὴν δευτέραν ἑβδομάδα, περὶ ἣν ὁ σπερματικὸς κινεῖται ὀρρός („Heraklit und die Stoiker [sagen], dass die Menschen um die zweite Hebdomade, wenn die Samenflüssigkeit einsetzt, erwachsen werden“, eig. Übers.). Vgl. Vogt 2014, S. 110. Charles Kahn sieht in der Zustimmung den Wegbereiter des traditionellen Willenskonzepts (vgl. Kahn 1988, S. 245f.). Jean-André Voelke (Voelke 1973, S. 32) und Thomas Baier (vgl. Baier 2005a, S. 17f. und Baier 2005b, S. 54) interpretieren die Zustimmung als Willen. Vgl. S. 28.
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etwas hin zu sein.53 Außerdem könnte man in der Zustimmung wie im Antrieb eine notwendige und hinreichende Bedingung für eine Handlung sehen: Stimmt man einer mit einer antreibenden Erscheinung verbundenen normativen Aussage zu, handelt man (wenn nichts dazwischenkommt). Eine Zustimmung hätte dann dieselbe kausale Funktion wie eine Entscheidung. Zugleich ließe sie sich ebenso wie diese als ein Vermögen verstehen: Sie liegt in unserer Hand und kann erteilt oder nicht erteilt werden. Dennoch steht die Zustimmung hinter einem philosophischen Willensbegriff im engeren Sinne zurück. Sie ist Teil des Hegemonikons und daher immer schon vernünftig – selbst dann, wenn sie falsch ist. Nach dem altstoischen Modell kann es keine vernunftunabhängigen Zustimmungen geben. Diese Abhängigkeit hat eine freiheitsmindernde Auswirkung. So bleibt die Zustimmung von der moralischen Verfasstheit des Hegemonikons nicht unberührt: Weise Personen geben andere Zustimmungen als nichtweise Personen, ihr Zustimmungsverhalten wird von ihrem individuellen seelischen Zustand beeinflusst.54 Bis auf ihre kausale Funktion erfüllt die Zustimmung streng genommen also nicht die Kriterien für ein Dezisionsvermögen. Schwerlich lässt sie sich auch als eine Art Antriebsenergie deuten, denn nirgends wird sie so dargestellt, als sei sie der Garant dafür, an einem einmal gesteckten Ziel festzuhalten. 1.2
Affektverständnis und Affektgenese in der älteren Stoa
Die Handlungspsychologie der älteren Stoa zeigt sich in den uns erhaltenen Fragmenten nicht nur für sich genommen, sondern auch im Kontext einer Affektenlehre: Ein Affekt (πάθος) ist seinem Wesen nach (ἐν εἴδει) ein Antrieb,55 der jedoch eine besonders störrische Eigenschaft besitzt: Genau genommen ist ein Affekt „[...] ein exzessiver Antrieb (ὁρμὴ πλεονάζουσα) und ungehorsam gegenüber der wählenden Vernunft (ἀπειθῆ τῷ αἱροῦντι λόγῳ), oder eine unvernünftige Bes
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Susan Sauvé Meyer hat die Stellen, in denen der Antrieb als ein Gerichtetsein auf etwas hin beschrieben wird, zusammengetragen (vgl. Meyer 2018, S. 132). Vielen Interpret*innen zufolge ist das, weswegen sich der Mensch nach Chrysipps Walzen- und Kreiselbeispiel bewegt, die individuelle Natur. Meines Erachtens ist es genau genommen aber die durch die individuelle Natur und den seelischen Zustand geprägte Zustimmung, aufgrund derer sich der Mensch bewegt. Vgl. Stob. anthol. 2,88,6f.: [...] ἐν εἴδει τὸ πάθος τῆς ὁρμῆς ἐστι [...]. Die altstoische Affektenlehre ist also im Grunde genommen in der altstoischen Handlungspsychologie fundiert. Vgl. Hossenfelder 1985, S. 47 („Die Stoiker fundierten ihre Affektenlehre in einer allgemeinen Handlungstheorie“), Annas 1993, S. 62 („[...] the thesis about emotions is just part of a wider account of action“), Inwood 2005, S. 42 („[...] the theory of the passions is a subset of the theory of action [...]“), Müller 2009, S. 161 („Im Kontext der [...] Handlungspsychologie bewegt sich nun auch die stoische Lehre von den Affekten [...]“), Graver 2014a, S. 261 („In identifying the causes of occurrent emotions [...], the Stoics referred to the same explanation they gave for actions generally [...]“).
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wegung der Seele gegen die Natur (κίνησιν ψυχῆς ἄλογον παρὰ φύσιν) – gleichwohl gehören alle Affekte zum Hegemonikon der Seele“ (εἶναι δὲ πάθη πάντα τοῦ ἡγεμονικοῦ τῆς ψυχῆς).56 Dass Affekte nicht auf die wählende Vernunft hören, spricht zunächst gegen die Annahme, dass ihr Entstehen kausal von der Vernunft abhängt. Gleich darauf heißt es aber, dass alle Affekte zum Hegemonikon (zum „Herrschenden“ oder „Führungsvermögen“) der Seele gehören bzw. Sache des Hegemonikons sind – je nachdem, wie man den genitivus possessivus übersetzen will –, und das wiederum spricht für die Annahme, dass ihr Entstehen kausal von einer vernünftigen Instanz abhängt. Was im ersten Moment wie ein Widerspruch anmutet, ist in Wirklichkeit keiner. Aber um das zu verstehen, muss man die altstoische Seelenlehre genauer in den Blick nehmen. Die älteren Stoiker stehen in dem Ruf, psychologische Monisten zu sein.57 Diese Redeweise kann missverständlich sein, denn ihr liegt keineswegs die Überzeugung zugrunde, dass es nur einen einzigen Seelenteil gibt.58 Die uns aus zweiter Hand erhaltenen Berichte lassen erkennen, dass auch die älteren Stoiker von verschiedenen Seelenteilen ausgegangen sein müssen. In diesen Berichten ist bisweilen die Rede von genau acht Seelenteilen (ἐξ ὀκτὼ μερῶν/octo in partes)59 –
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Vgl. Stob. anthol. 2,88,8–10 (= LS 65 A 1–3), eig. Übers. und Herv. Eine Kurzversion dieser Definition findet sich bei Stobaios schon an früherer Stelle (vgl. Stob. anthol. 2,39,4f.), sogar mit einer genaueren Angabe der Autorschaft: ὡς δ’ ὁ Στωϊκὸς ὡρίσατο Ζήνων, πάθος ἐστὶν ὁρμὴ πλεονάζουσα („Nach der Definition des Stoikers Zenon ist ein Affekt ein exzessiver Antrieb“, eig. Übers.). Auch DL 7,110 und Cic. Tusc. 4,11 schreiben Zenon eine solche Definition zu, wobei sie den Punkt in Stobaios’ längerer Version der Definition – dass alle Affekte zum Hegemonikon gehören – jedoch nicht erwähnen. Cicero führt dieselbe Definition und eine Kurzfassung davon, die er mit den Worten perturbatio sit appetitus vehementior wiedergibt, in den Tusculanae Disputationes auch an späterer Stelle an (vgl. ebd., 4,47). Zenons Affektdefinition wird nach Galen (vgl. Gal. PHP 4,2,8) dann auch von Chrysipp übernommen: [...] ἄλογόν τε καὶ παρὰ φύσιν κίνησιν ψυχῆς αὐτὸ [sc. τὸ πάθος] φάσκῃ καὶ πλεονάζουσαν ὁρμήν [...] („[...] eine unvernünftige und widernatürliche Bewegung der Seele sei er [der Affekt], sagt er, und ein exzessiver Antrieb“, eig. Übers.). Meines Wissens prägte Brad Inwood diesen Ausdruck (vgl. Inwood 1985, S. 131). Richard Joyce scheint eine solche Meinung zu vertreten (vgl. Joyce 1995, S. 333): „[...] [W]hat the Stoics primarily intended when they insisted upon a monistic soul was a soul without physical differentiation, without distinct organs in different parts of the body.“ Vgl. Aët. plac. 4,4,4 (= SVF 2,827) und DL 7,110; auch später berichtet Diogenes Laertios von acht Seelenteilen (vgl. ebd., 7,157). Nach Calc. comm. 220 (= LS 53 G) und Tert. anim. 14,2 (= Poseid. F 147) war es Chrysipp, der die Seele in acht Teile zerlegte. Der Mittelstoiker Panaitios soll dagegen von sechs Seelenteilen ausgegangen sein (vgl. ebd.). Vgl. hierzu auch Inwood 2014b, insbesondere S. 77–82, auf denen er die panaitianische Seelenlehre mit der chrysippschen vergleicht.
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dem Hegemonikon (ἡγεμονικόν60 /principale), das zugleich der oberste Seelenteil61 ist und sich im Herzen62 befindet; den fünf Sinnen (τὰ αἰσθητικά bzw. τὰ αἰσθητήρια/sensus) – also Gesichts-, Geruchs-, Gehör-, Geschmacks- und Tastsinn; dem Zeugungsvermögen (σπερματικόν bzw. σπέρμα bzw. γεννητικόν/serendi procreandique potentia) und dem Sprechvermögen (φωνητικόν bzw. φωνή/vocalis substantia).63 Die Sinne, das Zeugungs- und Sprechvermögen werden dabei als Pneumaströme (πνεύματα/spiritus) bestimmt, die aus dem ebenfalls aus Pneuma bestehenden Hegemonikon wie aus der Quelle eines Brunnens hervorsprudeln und in alle Richtungen ausströmen.64 Auch in anderen Berichten ist die Rede von verschiedenen Seelenteilen, wobei in ihnen jedoch keine genaue Zahl genannt wird. Am deutlichsten wird dies in einem von Galen angeführten Chrysipp-Zitat:65 Ἡ ψυχὴ πνεῦμά ἐστι σύμφυτον ἡμῖν συνεχὲς παντὶ τῷ σώματι διῆκον, ἔστ’ ἂν ἡ τῆς ζωῆς εὐτονία παρῇ ἐν τῷ σώματι. ταύτης οὖν τῶν μερῶν ἑκάστῳ διατεταγμένων μορίῳ, τὸ διῆκον αὐτῆς εἰς τὴν τραχεῖαν ἀρτηρίαν φωνήν εἶναι, τὸ δὲ εἰς s
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Diogenes Laertios spricht an einer Stelle nicht vom ἡγεμονικόν, sondern vom διανοητικόν (vgl. DL 7,110); an einer anderen vom λογιστικόν (vgl. ebd., 7,157). τὸ ἡγεμονικόν ist oftmals die Abkürzung für τὸ ἡγεμονικὸν μέρος (vgl. Stob. anthol. 2,65,2). Stobaios berichtet auch, dass das ἡγεμονικὸν μέρος als διάνοια bezeichnet wurde (vgl. ebd., 2,65,3). So gesehen ist Diogenes Laertios’ Redeweise vom διανοητικόν (vgl. S. 48, Fußn. 60) nicht abwegig. Vgl. Aët. plac. 4,5,7 (= DG 391,12–14): […] οἱ Στωικοὶ πάντες ἐν ὅλῃ τῇ καρδίᾳ ἢ τῷ περὶ τὴν καρδίαν πνεύματι („Alle Stoiker [waren der Ansicht, dass das Hegemonikon] im ganzen Herzen bzw. in dem um das Herz befindlichen Pneuma [sei]“, eig. Übers.). Vgl. auch DL 7,159: ἡγεμονικὸν δ’ εἶναι τὸ κυριώτατον τῆς ψυχῆς, ἐν ᾧ αἱ φαντασίαι καὶ αἱ ὁρμαὶ γίνονται καὶ ὅθεν ὁ λόγος ἀναπέμπεται: ὅπερ εἶναι ἐν καρδίᾳ („Das Hegemonikon sei die Hauptsache der Seele, wo die Erscheinungen, die Antriebe und die Vernunft herkommen, und das alles liege im Herzen“, Übers. Jürß, modifiziert). Galen kritisiert diese Auffassung später (vgl. Gal. PHP 5,1,1–3). Er scheint eher Timaios’ bzw. Platons Meinung zu teilen, der zufolge sich nur der eifrige Seelenteil im Herzen befindet (vgl. ebd., 5,1,3 und Plat. Tim. 70a–d). Vgl. Aët. plac. 4,4,4 (= SVF 2,827) und 21,1–4 (= LS 53 H), Calc. comm. 220 (= LS 53 G) und DL 7,110. Vgl. Calc. comm. 220 (= LS 53 G). Ein paar Zeilen später vergleicht er das Hegemonikon mit einem Baumstamm und die übrigen Seelenteile mit Ästen, die daraus hervorragen. An anderer Stelle vergleicht er es mit einer Spinne und die übrigen Seelenteile mit Fäden, deren Anfänge die Spinne in den Füßen hält, sodass sie sofort merkt, wenn irgendwo ein Tierchen ins Gewebe gerät (vgl. Calc. comm. 220 [= SVF 2,879]). Aëtios vergleicht das Hegemonikon mit einem Tintenfisch und die übrigen Seelenteile mit dessen Tentakeln (vgl. Aët. plac. 4,21,1 [= LS 53 H]). Aus heutiger Sicht erinnern alle diese Vergleiche stark an das Gehirn und sein Nervensystem (vgl. Annas 1992, S. 61f., Long 1982, S. 48 und Long 2002, S. 572). Gal. PHP 3,1,9f. (= SVF 2,885), Übers. Nickel, Stoa und Stoiker, modifiziert. Das Zitat stammt wohl aus Chrysipps verlorener Schrift Über die Seele (Περὶ ψυχῆς).
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ὀφθαλμοὺς ὄψιν, τὸ δὲ εἰς ὦτα ἀκοήν, τὸ δὲ εἰς ῥῖνας ὄσφρησιν, τὸ δ’ εἰς γλῶτταν γεῦσιν, τὸ δ’ εἰς ὅλην τὴν σάρκα ἁφήν, καὶ τὸ εἰς ὄρχεις ἕτερόν τιν’ ἔχον τοιοῦτον λόγον σπερματικόν, εἰς ὃ δὲ συμβαίνει πάντα ταῦτα, ἐν τῇ καρδίᾳ εἶναι, μέρος ὂν αὐτῆς τὸ ἡγεμονικόν. Die Seele ist ein mit uns entstandenes Pneuma, das zusammenhängend den ganzen Körper durchdringt, solange die Spannkraft des Lebens im Körper ist. Jedem Bereich des Körpers sind bestimmte Teile der Seele zugeordnet: Den Seelenteil, der durch die Luftröhre geht, nennen wir ‚Stimme‘, den zu den Augen gehenden ‚Sehkraft‘, den zu den Ohren gehenden ‚Gehör‘, den zur Nase gehenden ‚Geruchssinn‘, den zur Zunge gehenden ‚Geschmackssinn‘, den durch das gesamte Fleisch gehenden ‚Tastsinn‘, den zu den Geschlechtsorganen führenden, der seine besondere Aufgabe hat, ‚Zeugungsvermögen‘. Das Hegemonikon aber, der Seelenteil, in dem alle anderen Seelenteile zusammenkommen, befindet sich im Herzen.
Betrachtet man diese Textpassage genauer, wird allerdings schnell klar: Hier werden dieselben acht Seelenteile wie sonst auch genannt – das Hegemonikon, die fünf Sinne und das Sprech- und Zeugungsvermögen. Sie enthält trotzdem einen neuen Punkt: Aus ihr geht hervor, dass die älteren Stoiker die Vermögen der Seele offenbar nach den ihnen zugrunde liegenden Körperteilen unterschieden.66 So gibt es ein Sehvermögen, ein Hörvermögen, ein Geruchsvermögen, ein Geschmacksvermögen, ein Tastvermögen und eben ein Sprech- und Zeugungsvermögen, denen jeweils Augen, Ohren, Nase, Zunge, Fleisch, Luftröhre und Geschlechtsorgane zugrunde liegen. Aus anderen Quellen geht zudem hervor, dass einigen Vermögen der Seele aus altstoischer Sicht nicht verschiedene Körperteile zugrunde liegen, sondern nur ein einziger Körperteil: Das Hegemonikon hat, obwohl ihm nur das Herz zugrunde liegt, bei erwachsenen Menschen in der Regel gleich mehrere Vermögen, zu denen die älteren Stoiker nach dem Doxographen Aëtios Wahrnehmung (αἴσθησις), Erscheinung (φαντασία), Zustimmung (συγκατάθεσις) und Antrieb (ὁρμή) rechnen.67 Diese Vermögen unterscheiden sich so voneinander, s
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Der Ausdruck δύναμις ist in dem von Galen angeführten Chrysipp-Zitat nicht enthalten. Vgl. dazu Iamblichos’ Darstellung der altstoischen Seelenlehre bei Stob. anthol. 1,368,12–20 (= LS 53 K). Zwar verwendet er diesen Ausdruck dort nicht explizit; um der zu Beginn stehenden Frage πῶς οὖν διακρίνονται aber ein Subjekt zu geben, schlagen Long und Sedley vor: „Supply αἱ δυνάμεις τῆς ψυχῆς.“ Das ist plausibel, denn der Textabschnitt, unter dem sich die Stelle findet, trägt die Überschrift: Ἐν ταὐτῷ· περὶ δυνάμεων ψυχῆς („In derselben [Schrift des Iamblichos ‚Über die Seele‘]: Über die Vermögen der Seele“). Vgl. Aët. plac. 4,21,1 (= LS 53 H). Nach seinem Bericht ist das Hegemonikon das, was die Erscheinungen, Zustimmungen, Wahrnehmungen und Antriebe „hervorbringt“ (τὸ ποιοῦν τὰς φαντασίας καὶ συγκαταθέσεις καὶ αἰσθήσεις καὶ ὁρμάς). Auf ähnliche Weise gibt Galen (Gal. PHP 3,5,31f. [= SVF 2,896]) die verschiedenen Vermögen des Hegemonikons wieder. Ihm zufolge soll Chrysipp geschrieben haben: ὁρμῶμεν κατὰ τοῦτο τὸ μέρος καὶ συγκατατιθέμεθα τούτῳ καὶ εἰς τοῦτο συντείνει τὰ αἰσθητήρια πάντα
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Das handlungspsychologische Fundament
wie sich bei einem Apfel Süße und Wohlgeruch voneinander unterscheiden68 – was wohl heißen soll: Zwischen ihnen gibt es nur einen qualitativen,69 keinen lokalen Unterschied.70 Erst durch das Hegemonikon können die von den einzelnen Sinnesorganen empfangenen Reize, die für sich genommen rein physiologischer Natur sind, zu Wahrnehmungen und Erscheinungen werden. Die älteren Stoiker veranschaulichen dies angeblich am Beispiel des Schmerzes: Angenommen jemand sage, ihm schmerze der Finger, dann betrifft der Schmerz zweifellos den Finger, aber die Wahrnehmung des Schmerzes (ἡ αἴσθησις τοῦ ἀλγεῖν) findet im Hegemonikon statt. 71 Das Hegemonikon verleiht uns Menschen darüber hinaus in einem bestimmten Alter die Fähigkeit, Erscheinungen sprachlich auszudrücken;72 ebenso ermöglicht es uns, Zustimmungen zu erteilen. Wird zum Beispiel der mit einer antreibenden Erscheinung verbundenen normativen Aussage „Ich soll spazieren gehen“ zugestimmt, sendet das Hegemonikon über die entsprechenden Kanäle einen Pneumastrom zu den Gliedmaßen, sodass diese zur Bewegung veranlasst werden – das soll zumindest die Ansicht von Kleanthes gewesen sein.73 Chrysipp hat dagegen wohl geglaubt, dass das Pneuma des Hegemonikons die Bewegung der
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(„Wir gewinnen unsere Antriebskräfte in diesem Teil (das heißt dem Herzen), mit diesem geben wir unsere Zustimmung, und hier laufen alle Wahrnehmungen zusammen“, Übers. Nickel, Stoa und Stoiker). Stobaios spricht in diesem Zusammenhang von φαντασία, συγκατάθεσις, ὁρμή und λόγος (Stob. anthol. 1,368,19f. [= LS 53 K]). Warum der λόγος hier extra genannt wird, leuchtet in Anbetracht der Tatsache, dass das Hegemonikon bei erwachsenen Menschen in der Regel ohnehin vernünftig ist, nicht unmittelbar ein. Die altstoische Definition der Affekte (vgl. Stob. anthol. 2,88,8–10 [= LS 65 A 1–3] und S. 46) könnte aber Aufschluss geben: Darin wird der λόγος als das Vermögen der Wahl (αἱρῶν λόγος) charakterisiert (für eine andere Erklärung vgl. Long 1982, S. 50f.). Dass immer wieder die Zustimmung und der Antrieb als Vermögen des menschlichen Hegemonikons angeführt werden, könnte die große Bedeutung belegen, die die älteren Stoiker der Handlungspsychologie zuschrieben (vgl. Inwood 1985, S. 30). Vgl. Iamblichos bei Stob. anthol. 1,368,17–20 (= LS 53 K). Vgl. auch Inwood 2014b, S. 71. Vgl. auch Plut. de virt. mor. 441 C (= LS 61 B): καὶ νομίζουσιν οὐκ εἶναι τὸ παθητικὸν καὶ ἄλογον διαφορᾷ τινι καὶ φύσει τοῦ λογικοῦ διακεκριμένον, ἀλλὰ ταὐτὸ τῆς ψυχῆς μέρος, ὃ δὴ καλοῦσι διάνοιαν καὶ ἡγεμονικόν […] („Weiter sind sie der Meinung [Zenon, Chrysipp und andere ältere Stoiker], der leidenschaftliche und unvernünftige Teil der Seele sei vom vernünftigen Teil nicht durch irgendeinen Unterschied in der Natur der Seele getrennt, sondern derselbe Teil der Seele – sie nennen ihn Verstand und Hegemonikon […]“, Übers. Hülser, LS, modifiziert, eig. Herv.). Vgl. Plot. enn. 4,7,7 (= SVF 2,858). Vgl. S. 45, Fußn. 50. Vgl. Sen. epist. 113,23.
Alt- und mittelstoische Handlungspsychologie und Gefühlslehre
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Gliedmaßen direkt mit der Zustimmung verursacht.74 Auf die Frage, was ein Spaziergang ist, soll er deshalb geantwortet haben, das Hegemonikon selbst sei der Spaziergang.75 Nach diesen Betrachtungen dürfte klar sein, dass sich hinter dem sogenannten psychologischen Monismus der älteren Stoa keine Lehre verbirgt, der zufolge es nur einen einzigen Seelenteil gibt. Der Ausdruck ist aber insofern zutreffend, als das Hegemonikon der „integrative Ort aller mentalen Operationen“76 ist. Es ist die Instanz, die, wie der Name schon sagt, über alle anderen Seelenteile bzw. -vermögen herrscht.77 Diese Herrschaft ist allerdings nicht absolut zu verstehen, im Sinne eines alles automatisch regulierenden Mechanismus, jedenfalls nicht bei erwachsenen Menschen, die im Vollbesitz ihrer kognitiven Fähigkeiten sind. In der Tat aktualisiert das Hegemonikon einige Vermögen unmittelbar, wie etwa das Vermögen, Erscheinungen zu haben, zu denen man unter anderem durch Sinneswahrnehmungen gelangt. Andere Vermögen aktualisiert es jedoch mittelbar, wie etwa Antriebe, die bei erwachsenen Menschen in der Regel erst dann entstehen, wenn sie einer mit einer antreibenden Erscheinung verbundenen normativen Aussage zugestimmt haben. Aus diesem Grund haben Chrysipp und Antipatros von Tarsos, der Lehrer des Mittelstoikers Panaitios,78 in ihrer Auseinandersetzung mit den Akademikern auch auf der Meinung beharrt, dass diejenigen haltlose Behauptungen aufstellen, die der Überzeugung sind, ein Antrieb folge sofort auf eine Erscheinung, ohne dass dieser zuvor stattgegeben (εἴκειν) oder zugestimmt wurde (συγκατατίθεσθαι).79 Damit kann geklärt werden, was die älteren Stoiker meinen, wenn sie sagen, alle Affekte gehören zum Hegemonikon der Seele: Affekte sind für sie ihrem Wesen nach Antriebe und gehören insofern neben Wahrnehmung, Erscheinung und Zustimmung zu einem der vier grundlegenden Vermögen des menschlichen Hegemonikons. Genauer gesagt gehören sie zu demjenigen seiner Vermögen, dessen Aktualisierung es nicht unmittelbar herbeiführt, sondern mittelbar über eine Zustimmung, die in unserer Hand liegt. Als ein Antrieb entsteht ein Affekt erst dann, wenn einer normativen Aussage, die mit einer antreibenden Erscheinung verbunden ist, zugestimmt wird – eine Grundannahme, die die älteren Stoiker zu gefühlstheoretischen Kognitivisten macht.80 Dennoch räumen sie Affekten eine gewisse s
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Vgl. Inwood 1985, S. 50: „Chrysippus thought that the relation of mind to body was more intimate, and that the pneuma of the mind could act directly on the limbs and that this should properly be called ‚action‘.“ Vgl. Sen. epist. 113,20: [...] Chrysippus [ait] ipsum principale. Müller 2009, S. 157. Graver bezeichnet das Hegemonikon als „die einzige Kommandozentrale“ (single command center), Graver 2014a, S. 261, Fußn. 14. Vgl. Steinmetz 1994, S. 641. Vgl. Plut. de Stoic. rep. 1057 A (= LS 53 S). Vgl. auch Vogt 2004, S. 81 und Demmerling/Landweer 2007, S. 3. Graver spricht in diesem Zusammenhang von einem affektiven Volitionalismus (affective volitionalism,
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Das handlungspsychologische Fundament
Eigenständigkeit ein, denn sie erklären, dass Affekte nicht auf die wählende Vernunft (αἱρῶν λόγος) hören,81 die ebenfalls als ein grundlegendes Vermögen des menschlichen Hegemonikons verstanden werden könnte.82 Welcher Gedanke verbirgt sich nun dahinter? Auch wenn Kleanthes und Chrysipp wahrscheinlich unterschiedlicher Auffassung waren, wie es physiologisch gesehen nach dem Zustimmungsakt zu einer Handlung kommt, können wir doch mit der Mehrheit der Interpret*innen davon ausgehen, dass nach Ansicht beider die Zustimmung zu einer mit einer antreibenden Erscheinung verbundenen normativen Aussage wie etwa „Ich soll spazieren gehen“ einen Antrieb erzeugt, der notwendig und hinreichend für eine Handlung wie die des Spazierengehens ist (sofern nichts dazwischenkommt).83 Oder nehmen wir beispielsweise eine Handlung wie das Singen: Wird der mit einer antreibenden Erscheinung verbundenen normativen Aussage „Ich soll singen“ zugestimmt, entsteht ein Antrieb, der notwendig und hinreichend für die Handlung des Singens ist (sofern nichts dazwischenkommt). Spätestens bei diesem Beispiel wird klar, dass die Art der Handlung aus altstoischer Sicht von dem Gehalt der ihr zugrunde liegenden normativen Aussage abhängt, die der Akteur durch einen Verstandesakt gebildet hat. Niemand wird der normativen Aussage „Ich soll spazieren gehen“ zustimmen und dann singen, es sei denn, er ist psychisch beeinträchtigt (etwa durch die Einnahme von Rauschmitteln) oder leidet an einer psychischen Störung. Wenn Affekte Antriebe sind, ist zu erwarten, dass sie nach demselben Muster wie Antriebe zustande kommen.84 Einen wesentlichen Unterschied gibt es jedoch: Die Zustimmung führt in ihrem Fall zu einem exzessiven Antrieb.85 s
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vgl. Graver 2007, S. 63) und hebt dadurch hervor, dass wir aus Sicht der älteren Stoiker für unsere Affekte selbst verantwortlich sind. Das ist einer der Gründe, warum Affekte für sie irrational sind. Der andere ist, dass die in Affekte involvierten Urteile falsch sind (vgl. hierzu insbesondere S. 109–113). Vgl. S. 49, Fußn. 67. Vgl. S. 44, Fußn. 47. Vgl. Vogt 2006, S. 68: „The Stoics define emotions as impulses [...]. Thus, whatever applies to impulses generally, should apply to the kind of impulse which the emotions are.“ Chrysipp scheint seinen Gedanken, dass Zustimmungen zu mit antreibenden Erscheinungen verbundenen normativen Aussagen direkt in eine Handlung umgesetzt werden, konsequent auf seine Affektenlehre übertragen zu haben: Einigen Quellen nach zu urteilen sind Affekte (πάθη) für ihn Urteile (κρίσεις; vgl. Gal. PHP 4,3,2 und DL 7,111), das heißt, genau in dem Moment des Urteilsaktes – also zeitgleich mit der Zustimmung zu einer mit einer antreibenden Erscheinung verbundenen normativen Aussage – entsteht der Affekt (vgl. auch Nussbaum 1994, S. 380). Seine Vorgänger – Zenon und wahrscheinlich auch Kleanthes (der aber nicht explizit genannt wird) – glaubten dagegen wohl, Affekte seien nicht mit Urteilen zu identifizieren, sondern folgten auf diese als unvernünftige Kontraktionen (συστολαί), Zusammenkrümmungen (ταπεινώσεις), Bisse (δήξεις), Anschwellungen (ἐπάρσεις) und Ausgießungen (διαχύσεις; vgl. Gal.
Alt- und mittelstoische Handlungspsychologie und Gefühlslehre
53
Den Unterschied zwischen einem nichtexzessiven und einem exzessiven Antrieb erklärt Chrysipp an einem Beispiel:86 Geht jemand spazieren, entspricht die Bewegung seiner Beine seinem Antrieb und er kann sofort stehen bleiben, wann immer er will. Rennt er jedoch, geht die Bewegung seiner Beine über seinen Antrieb hinaus und er kann nicht sofort stehen bleiben, wann immer er will. Wie der Spaziergänger hat auch der Sprinter einer mit einer antreibenden Erscheinung verbundenen normativen Aussage zugestimmt und dadurch einen Antrieb erzeugt, der notwendig und hinreichend für seine Handlung war.87 Im Gegensatz zum Fußgänger verliert er aber für einen gewissen Zeitraum die Kontrolle über sein Handeln, weil sein Antrieb eine exzessive Eigendynamik entwickelt hat.88 In diesem Sinne hören Affekte nicht auf die wählende Vernunft. Zwar gehören sie zum menschlichen Hegemonikon, genauer gesagt zu demjenigen seiner Vermögen, dessen Aktualisierung von einer Zustimmung abhängt. Sobald diese jedoch gegeben wird, verselbstständigen sie sich auf eigentümliche Weise und können nicht gleich wieder unter Kontrolle gebracht werden.
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PHP 4,3,2). Das wiederum klingt wie eine konsequente Weiterführung des kleanthischen (sicherlich auch zenonischen) Gedankens, wonach Zustimmungen zu mit antreibenden Erscheinungen verbundenen normativen Aussagen nicht mit den durch sie hervorgerufenen Wirkungen zusammenfallen. Wie zu sehen war, schießt Kleanthes zufolge das menschliche Hegemonikon nach der Zustimmung erst einmal einen Pneumastrahl zu den Gliedmaßen, bevor es zur Bewegung kommt. Vgl. zu diesem Thema auch Forschner 21995, S. 138f., der vermutet, dass Chrysipp die Charakterisierung des Affekts als Urteil bevorzugt, weil „[...] damit die dem affektiven Prozeß immanente Hauptursache angezeigt ist“ (ebd., S. 139). Zweifel an einer grundsätzlichen Meinungsverschiedenheit zwischen Chrysipp und seinen Vorgängern äußern Inwood 1985, S. 130f. und Graver 2007, S. 33. Einen prinzipiellen Unterschied schließt aber auch Forschner aus (vgl. Forschner 21995, S. 139). Sorabji hält dagegen an der These fest, dass es einen solchen Unterschied gegeben hat (vgl. Sorabji 2000, S. 63–65). Das Beispiel ist in mehreren, dem Anschein nach wörtlichen Zitaten enthalten, die Galen anführt (vgl. Gal. PHP 4,2,13–16, ebd., 4,4,24f. und 30f., ebd., 4,5,13f. und ebd., 4,6,35f.). Ihm zufolge stammt es aus Chrysipps Schrift Über die Affekte (Περὶ παθῶν). Vgl. zum Aufbau dieser Schrift Nussbaum 1987, S. 138 und Fußn. 22; Nussbaum 1994, S. 367f. sowie Tieleman 2003, S. 89–94. Sie bestand wohl aus vier Büchern; in den ersten drei könnte Chrysipp Affekte analysiert und gedeutet, im letzten sich dagegen mit ihrer Therapie beschäftigt haben. Dass den Stoikern zufolge Affekte Handlungen verursachen, bezweifelt Meyer 2017, S. 124–131. Vgl. hierzu auch Buddensiek 2012, S. 83: „[Der Affizierte] ‚tritt aus sich heraus‘, ‚gerät außer sich‘, seine exzessiven Impulse besitzen Eigendynamik. Er wird, wenn auch selbstverantwortet, von diesen Zuständen getrieben, genauer: In diesen Zuständen treibt er sich selbst gegen sich selbst.“
54 1.3
Das handlungspsychologische Fundament
Die altstoische Gefühlssystematik
Die kognitivistische Ausdeutung der Affekte macht verständlich, warum die älteren Stoiker dachten, dass ausschließlich erwachsene Menschen Affekte haben können. Ein vollständig entwickeltes Hegemonikon befähigt dazu, den phänomenalen Gehalt von Erscheinungen in Aussageform zu bringen und diesen Aussagen zuzustimmen. Bei Kindern ist das Hegemonikon noch nicht vollständig entwickelt, und auch die damit zusammenhängenden kognitiven Fähigkeiten sind noch nicht in gleichem Maße ausgeprägt wie bei Erwachsenen. Tiere haben zwar ein Hegemonikon, von dem auch Antriebe ausgehen können89 – ihr Hegemonikon ist aber nicht vernünftig.90 Infolgedessen können sie den phänomenalen Gehalt ihrer Erscheinungen weder in Aussageform bringen (sofern sie überhaupt Erscheinungen haben und nicht nur Sinneswahrnehmungen)91 noch sind sie dazu in der Lage, s
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Vgl. Ar. Did. epit. phys. 39 (= DG 471,11): εἶναι δὲ ψυχὴν ἐν τῷ ὅλῳ φασίν, ὃ καλοῦσιν αἰθέρα καὶ ἀέρα, κύκλῳ περι γῆν καὶ θάλασσαν καὶ ἐκ τούτων ἀναθυμιαθεῖσ· τὰς δὲ λοιπὰς ψυχὰς προσπεφυκέναι ταύτῃ, ὅσαι τε ἐν ζῴοις εἰσὶ καὶ ὅσαι ἐν τῷ περιέχοντι· διαμένειν γὰρ ἐκεῖ τὰς τῶν ἀποθανόντων ψυχάς. ἔνιοι δὲ τὴν μὲν τοῦ ὅλου ἀΐδιον, τὰς δὲ λοιπὰς συμμίγνυσθαι ἐπὶ τελευτῇ εἰς ἐκείνην. ἔχειν δὲ πᾶσαν ψυχήν ἡγεμονικὸν τι ἐν αὑτῇ, ὃ δὴ ζωὴ καὶ αἴσθησίς ἐστι καὶ ὁρμή („Sie sagen, die Seele sei im Universum, was sie Äther und Luft nennen, und umfasse ringsherum Erde und Meer, aus denen sie aufdampfe; die übrigen Seelen seien mit dieser Seele verbunden – jene, die in den Lebewesen sind, und jene, die in der Kugelhülle des Äthers sind. Dort verblieben die Seelen der Verstorbenen. Einige [sagen] aber, dass die [Seele] des Universums ewig sei, dass aber die übrigen [Seelen] sich letztendlich in sie hineinmischen. Jede Seele habe ein Hegemonikon in sich, das ja Leben ist und Wahrnehmung und Antrieb“, eig. Übers.). In dieser Textpassage wird zwar der Ausdruck „Lebewesen“ nicht näher erläutert; es ist aber davon auszugehen, dass darunter Menschen und Tiere zu verstehen sind. Vgl. Inwood 1985, S. 72: „[...] [I]n non-rational animals this hêgemonikon does not contain the power of reason.“ Ob die älteren Stoiker noch einmal zwischen Tieren unterschieden, die Erscheinungen haben können, und Tieren, die keine Erscheinungen haben können, ist unklar. Eine solche Unterscheidung erscheint aber plausibel und wurde auch von anderen antiken Philosophen getroffen – vgl. etwa Aristot. an. 428a1–11 (wenngleich er nicht immer ganz konsequent in der Zuteilung der psychischen Fähigkeiten ist). Man denke nur an den großen Unterschied zwischen einem Löwen und einem Regenwurm. Dass ein Regenwurm Erscheinungen hat, erscheint abwegig, während ein Löwe mit Sicherheit eine antreibende Erscheinung hat, wenn er hungrig ist und zum Beispiel eine Antilope sieht. Die Forschung neigt zu der Ansicht, dass die älteren Stoiker ausnahmslos allen Tieren das Vermögen zuschrieben, Erscheinungen zu haben: vgl. Pohlenz 51978, S. 56 („Solche Vorstellungen hat auch das Tier“); Graver 2007, S. 109 („Animals share with humans the capacity for impressions [...]“) und Frede 2011, S. 35 („Animals perceive things. This perception involves their having an impression (phantasia) of the thing perceived“).
Alt- und mittelstoische Handlungspsychologie und Gefühlslehre
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Zustimmungen zu geben.92 Aber auch wenn den älteren Stoikern zufolge nur erwachsene Menschen Affekte haben können, haben dennoch nicht alle erwachsenen Menschen Affekte. Sie vertreten die Auffassung, dass es von Zeit zu Zeit einige wenige gibt, die vollkommen affektfrei sind (ἀπαθής).93 Die weise Person erteilt nur mit Erscheinungen verbundenen konstatierenden und normativen Aussagen, die vereinbar mit der stoischen Güterlehre sind, ihre Zustimmung und vermeidet auf diese Weise die Entstehung von Affekten. Dass sie frei von Affekten ist, bedeutet für die älteren Stoiker aber nicht, dass sie überhaupt keine Gefühle hat. Anstelle von Affekten hat sie sogenannte gute Gefühle (εὐπάθειαι/constantiae94). Die älteren Stoiker versuchten die Affekte und die guten Gefühle in ein System zu bringen. Bei der Systematisierung der Affekte gingen sie von vier generischen Affekten aus: Begierde (ἐπιθυμία/libido bzw. cupiditas), Furcht (φόβος/metus), Lust (ἡδονή/laetitia bzw. voluptas) und Kummer (λύπη/aegritudo). 95 Begierde und Furcht treten zuerst auf (προηγεῖσθαι), wobei jene sich auf ein scheinbares Gut bezieht (τὸ φαινόμενον ἀγαθόν), diese aber auf ein scheinbares Übel (τὸ φαινόμενον κακόν).96 Lust und Kummer folgen dagegen auf Begierde und Furcht s
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Das muss aber nicht heißen, dass nicht zumindest manche Tiere etwas tun können, das einer Zustimmung ähnelt. Inwood mutmaßt, dass die älteren Stoiker dafür den Begriff des Nachgebens (εἴξις) etabliert haben könnten (vgl. Inwood 1985, S. 76). Vgl. auch Graver 2007, S. 109, die Inwoods Gedanken aufgreift. Vgl. Cic. ac. 1,38–39, wo Marcus Varro sagt, laut Zenon müsse der Weise von Leid, Begierde, Furcht und Lust wie von einer Krankheit völlig frei sein. Vgl. auch DL 7,117: Φασὶ δὲ καὶ ἀπαθῆ εἶναι τὸν σοφόν […] („Sie sagen aber, dass der Weise frei von Affekten ist […]“, eig. Übers.). Der stoische Weise ist selten (Sen. dial. 2,7,1 [= const. sap. 7,1]); er ist sogar so selten wie der ägyptische Vogel Phönix, der nur alle 500 Jahre auf die Welt kommt (vgl. Sen. epist. 42,1 und Alex. Aphr. fat. 199,14–23). Nach Cicero pflegten die älteren Stoiker nicht anzugeben, wer tatsächlich weise ist oder war (vgl. Cic. ac. 2,145). In den Tusculanen behauptet „M“, er habe noch nie einen Weisen gesehen (vgl. Cic. Tusc. 2,51). So übersetzt Cicero εὐπάθεια ins Lateinische (vgl. ebd., 4,14). Eine Erklärung für diese etwas überraschende Übersetzung gibt Graver 2007, S. 51. Vgl. Stob. anthol. 2,88,14f. (= LS 65 A 5f.), DL 7,111–114, Cic. Tusc. 3,74f. und ebd., 4,11–14. Vgl. Stob. anthol. 2,88,16–18 (= LS 65 A 7f.). Martha Nussbaum hat darauf hingewiesen, dass der Wert oder Unwert, der in der Genese eines Affekts vermittels einer konstatierenden Aussage einem Ding oder einer Sache zugeschrieben wird, nach allgemeinstoischer Auffassung ein gravierender und sehr hoher Wert oder Unwert sein muss (vgl. Nussbaum 1987, S. 149f. und Nussbaum 1994, S. 371, 377). Denn niemand würde sich vor etwas fürchten, das er für nicht so schlimm hält. In den Quellen ist aber, bis auf ein paar wenige Ausnahmen (vgl. etwa Cic. Tusc. 3,61 und Cic. fin. 2,13), nicht davon die Rede, dass das scheinbare Gut bzw. Übel, auf das sich ein Affekt bezieht, ein scheinbar großes Gut bzw. großes Übel ist. Ich halte mich hier und im Folgenden an den Primärtext und nehme keine Angleichung vor. Zur Kritik an Nussbaums Vorschlag
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Das handlungspsychologische Fundament
(ἐπιγίγνεσθαι),97 und auch sie beziehen sich auf ein scheinbares Gut bzw. Übel.98 Was für die älteren Stoiker wirklich und was scheinbar gut bzw. schlecht ist, erläutert nach Stobaios’ Bericht Zenon:99 Τῶν δ’ ὄντων τὰ μὲν ἀγαθά, τὰ δὲ κακά, τὰ δὲ ἀδιάφορα. Ἀγαθὰ μὲν τὰ τοιαῦτα· φρόνησιν, σωφροσύνην, δικαιοσύνην, ἀνδρείαν καὶ πᾶν ὅ ἐστιν ἀρετὴ ἢ μετέχον ἀρετῆς· κακὰ δὲ τὰ τοιαῦτα· ἀφροσύνην, ἀκολασίαν, ἀδικίαν, δειλίαν καὶ πᾶν ὅ ἐστι κακία ἢ μετέχον κακίας· ἀδιάφορα δὲ τὰ τοιαῦτα· ζωὴν θάνατον, δόξαν ἀδοξίαν, ἡδονὴν πόνον, πλοῦτον πενίαν, ὑγίειαν νόσον, καὶ τὰ τούτοις ὅμοια. Von den Dingen, die existieren, seien die einen Güter, die anderen Übel, und wieder andere indifferent. Güter seien: Klugheit, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und alles, was eine Tugend ist oder an einer Tugend teilhat. Übel dagegen: Unverstand, Zügellosigkeit, Ungerechtigkeit, Feigheit und alles, was ein Laster ist oder an einem Laster teilhat. Indifferent sei wiederum das so Beschaffene: Leben, Tod, Ruhm, Ansehensverlust, Lust, Mühsal, Reichtum, Armut, Gesundheit, Krankheit und dergleichen.
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vgl. Brennan 1998, S. 39–44, dem zufolge die älteren Stoiker die Intensität, wie stark oder schwach etwas Indifferentes erscheint, von der Ausprägung der Affektdisposition abhängig machten. Vgl. Stob. anthol. 2,88,18f. (= LS 65 A 8f.). Vgl. Cic. Tusc. 4,11: partes autem perturbationum volunt ex duobus opinatis bonis nasci et ex duobus opinatis malis [...] („Sie [die älteren Stoiker] lehren aber, dass die verschiedenen Formen der Leidenschaften aus zwei vermeintlichen Gütern und aus zwei vermeintlichen Übeln entstehen [...]“, Übers. Kirfel, eig. Herv.). Vgl. auch Cic. Tusc. 3,61: [...] [causa aegritudinis] est enim nulla alia nisi opinio et iudicium magni praesentis atque urgentis mali („[Die Ursache des Kummers] ist aber nichts anderes als die Meinung und das Urteil, dass ein großes und bedrängendes Übel der Fall ist“, eig. Übers.). Stob. anthol. 2,57,19–58,4, eig. Übers. Vgl. auch DL 7,101–103. Für die jüngere Stoa vgl. Epikt. diatr. 2,9,15: τῶν ὄντων τὰ μὲν ἀγαθά, τὰ δὲ κακά, τὰ δ’ ἀδιάφορα· ἀγαθὰ μὲν οὖν ἀρεταὶ καὶ τὰ μετέχοντα τῶν ἀρετῶν· κακὰ τὰ δ’ ἐναντία· ἀδιάφορα δὲ πλοῦτος, ὑγεία, δόξα („Von den Dingen, die existieren, sind die einen Güter, die anderen Übel, und wieder andere indifferent. Güter sind nun die Tugenden und das, was an den Tugenden teilhat. Übel aber sind das Gegenteil. Indifferent sind Reichtum, Gesundheit und Ansehen“, eig. Übers.). Vgl. auch Epikt. diatr. 2,19,13: τῶν ὄντων τὰ μέν ἐστιν ἀγαθά, τὰ δὲ κακά, τὰ δ’ ἀδιάφορα. ἀγαθὰ μὲν οὖν ἀρεταὶ καὶ τὰ μετέχοντα αὐτῶν· κακὰ δ’ κακίαι καὶ τὰ μετέχοντα κακίας, ἀδιάφορα δὲ τὰ μεταξὺ τούτων, πλοῦτος, ὑγίεια, ζωή, θάνατος, ἡδονή, πόνος („Von den Dingen, die existieren, sind die einen Güter, die anderen Übel, und wieder andere indifferent. Güter sind nun die Tugenden und das, was an ihnen teilhat. Übel aber sind Laster und das, was am Laster teilhat. Indifferent sind die Dinge, die dazwischenliegen, [nämlich] Reichtum, Gesundheit, Leben, Tod, Lust, Schmerz“, eig. Übers.). Zur Kritik an dieser aus skeptischer Sicht dogmatischen Axiologie vgl. Sext. Emp. Pyrrh. hyp. 3,168–197 und adv. math. 11,1–109.
Alt- und mittelstoische Handlungspsychologie und Gefühlslehre
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Unter den scheinbaren Gütern verstehen die älteren Stoiker offenbar Dinge, die von einem selbst für gut befunden werden, aber in Wirklichkeit indifferent sind (ἀδιάφορα100/indifferentia101). Indifferent sind sie deshalb, weil von ihnen nicht abhängt, ob wir glückselig werden oder nicht.102 Nur die Tugenden (αἱ ἀρεταί) sind in Wirklichkeit gut (ἀγαθά) und glücksrelevant, während in Wirklichkeit schlecht (κακά) und Unglück bringend ausschließlich die Laster (αἱ κακίαι) sind.103 Streng genommen sind nach Stobaios’ Bericht für die älteren Stoiker aber nicht nur die Tugenden gut, sondern auch die Dinge, die an ihnen teilhaben. Das Gleiche gilt für die Laster: Nicht nur die Laster sind schlecht, sondern auch die Dinge, die an ihnen teilhaben. Es ist nicht ganz leicht zu sagen, was damit gemeint sein könnte. Nahe liegt, darunter Dinge zu verstehen, die dazu beitragen bzw. davon zeugen, dass man tugend- oder lasterhaft wird bzw. ist, wie zum Beispiel bestimmte Handlungen.104
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Angeblich hat der Zenonschüler Ariston von Chios den Begriff des Indifferenten in die stoische Philosophie eingeführt (vgl. Cic. ac. 2,130 und DL 7,37). So übersetzt Cicero den Ausdruck ins Lateinische (vgl. Cic. fin. 3,53). Später macht ihn sich auch Seneca zu eigen (vgl. Sen. epist. 82,10 und 117,9). Vgl. Cic. fin. 3,50. Vgl. Cic. ac. 1,35f.: [...] [Zeno] omnia quae[que] ad beatam vitam pertinerent in una virtute poneret nec quicquam aliud numeraret in bonis idque appellaret honestum quod esset simplex quoddam et solum et unum bonum [...] („[…] [Zenon] verlegte [...] alles, was zum glückseligen Leben gehört, ausschließlich in die Tugend und zählte nichts anderes zu den Gütern; und nur dieses einfache, alleinige und einzige Gute nannte er das wahrhaft Gute “, Übers. Straume-Zimmermann, modifiziert). Vgl. weiterhin Cic. fin. 3,26, wo der stoisch gesinnte jüngere Cato (bzw. Cato Uticensis) sagt: Quod autem continet non magis eam disciplinam, de qua loquor, quam vitam fortunasque nostras, id est ut, quod honestum sit, id solum bonum iudicemus [...] („Der Grundsatz aber, auf welchem diese Lehre, von der ich spreche, so gut wie unser Lebensglück beruht, ist der, dass man das moralisch Gute für das einzige Gut hält“, Übers. Merklin, modifiziert). Nach Cicero unterschieden sich die älteren Stoiker hinsichtlich ihrer Güterlehre von den Peripatetikern und älteren Akademikern. Diese sind davon überzeugt gewesen, so erklärt seine Figur Marcus Varro in Cic. ac. 1,21–23, „[...] dass das glückselige Leben zwar in der Tugend allein liege, dass es aber nicht vollkommen glückselig sei, wenn nicht auch die Güter des Körpers und die übrigen hinzukämen, von denen oben die Rede war [gemeint sind Reichtum, Macht, Ruhm und Ansehen] und die die Betätigung der Tugend erleichtern“ (Übers. Straume-Zimmermann). Einige Vetreter der mittleren Stoa, wie Panaitios und Poseidonios, sollen die Autarkie der Tugend aufgegeben und ebenso körperliche sowie äußere Güter für glücksrelevant gehalten haben (vgl. DL 7,128). Vgl. etwa ebd., 7,94f. Dort werden zu dem, was an der Tugend bzw. am Laster teilhat, die tugendgemäßen bzw. die lastergemäßen Handlungen (τάς τε πράξεις τὰς κατ’ ἀρετὴν/τάς τε πράξεις τὰς κατὰ κακίαν) und die tugendhaften bzw. lasterhaften Menschen (τοὺς σπουδαίους/τοὺς φαύλους) gerechnet. Offen bleibt allerdings, wer der Ur-
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Das handlungspsychologische Fundament
Soweit wir wissen, haben die älteren Stoiker die indifferenten Dinge nochmals unterteilt – in bevorzugte (προηγμένα/praeposita/praecipua/producta/commoda), zurückgesetzte (ἀποπροηγμένα/reiecta/remota) und wertneutrale (οὔτε προηγμένα οὔτε ἀποπροηγμένα/neutra).105 Zu den bevorzugten Dingen gehören unter anderem Ruhm, Reichtum und Gesundheit; zu den zurückgesetzten Dingen dagegen Ansehensverlust, Armut, Krankheit und dergleichen.106 Zu keinem von beiden gehört so etwas wie Hautfarbe oder Helläugigkeit (χαροπότης). 107 Diese etwas künstlich anmutende Hierarchisierung, 108 die die Indifferenz des Indifferenten wieder zu relativieren scheint, lässt sich innersystematisch jedoch durch die sogenannte Oikeiôsislehre plausibilisieren. 109 Chrysipp soll im ersten Buch seiner Schrift Über die Ziele (Περὶ τελῶν) erklärt haben, dass sich die Natur die Lebewesen zu eigen (οἰκειούση) gemacht hat, indem sie ihnen einen auf ihre Selbsterhaltung (τὸ τηρεῖν ἑαυτό) ausgerichteten natürlichen Antrieb einpflanzte, der schon kurz nach der Geburt aktiv wird (daher auch die Bezeichnung πρώτη ὁρμή).110 Ein Lebewesen neigt von diesem Zeitpunkt an dazu, das abzuwehren, was ihm schaden könnte (τὰ βλάπτοντα διωθεῖται), bzw. das zu akzeptieren, was s
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heber der hier genannten tugendgemäßen/lastergemäßen Handlungen ist: die tugendhaften bzw. lasterhaften Menschen selbst oder solche, die auf dem Weg sind, es zu werden. Vgl. Cic. fin. 3,15 sowie ebd., 3,50, wo die Hierarchisierung des Indifferenten mit alia aestimabilia, alia contra, alia neutrum wiedergegeben wird. Die προηγμένα werden auch mit producta bzw. promota übersetzt (vgl. ebd., 3,52) und die ἀποπροηγμένα mit remota (für den Ausdruck promota vgl. auch Cic. Tusc. 5,47). An einer Stelle nennt Cicero (bzw. „M“) die προηγμένα auch commoda (vgl. ebd., 5,120). Für die griechischen Begriffe vgl. Stob. anthol. 2,80,14–21 und 84,18–85,11 (= LS 58 E) sowie Sext. Emp. adv. math. 11,62. Laut Cicero und Stobaios geht die Hierarchisierung des Indifferenten auf Zenon zurück (vgl. Cic. fin. 3,51 und Stob. anthol. 2,84,23f. [= LS 58 E ]). Hierin stimmen Stobaios und Cicero überein. Den bevorzugten Dingen ordnet Cicero außerdem die Unversehrtheit der Sinne (integritas sensuum) und das Freisein von Schmerz (doloris vacuitas) zu; dementsprechend finden sich in seiner Liste der zurückgesetzten Dinge zusätzlich der Verlust der Sinneswahrnehmung (sensuum amissio) und der Schmerz (dolor; vgl. Cic. fin. 3,51). Vgl. Stob. anthol. 2,81,11–15. Sextus Empiricus führt als Beispiel für etwas absolut Indifferentes das Ausstrecken oder Krümmen des Fingers an (vgl. Sext. Emp. adv. math. 11,62). Selbst einige Stoiker sahen hier eine Schwachstelle. Ariston von Chios soll die kritische Bemerkung gemacht haben, dass etwas als vorgezogenes Indifferentes zu bezeichnen im Prinzip dasselbe sei, wie es „gut“ zu nennen. Angeblich hat er deshalb die Binnendifferenzierung des Indifferenten abgelehnt (vgl. ebd., 11,64–67 [= LS 58 F]; DL 7,160 [= LS 58 G]; Cic. fin. 5,73) – obwohl er den Begriff des Indifferenten in die stoische Philosophie eingeführt haben soll (vgl. Fußn. 100). Möglicherweise hat er ihn eingeführt, um die Bedeutungslosigkeit all dessen deutlich zu machen, was nicht mit dem moralischen Zustand der Seele zu tun hat. Vgl. auch Schriefl 2019, S. 129f. Vgl. DL 7,85.
Alt- und mittelstoische Handlungspsychologie und Gefühlslehre
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ihm zuträglich sein könnte (τὰ οἰκεῖα προσίεται).111 Sieht man die Hierarchisierung des Indifferenten vor diesem Hintergrund, wirkt sie weniger künstlich: Ruhm, Reichtum, Gesundheit und dergleichen sind bevorzugte Dinge, weil sie einem Lebewesen wie dem Menschen zuträglich sind, auch wenn dessen Glückseligkeit nicht von ihnen abhängt; Dinge wie Ansehensverlust, Armut, Krankheit und dergleichen sind dagegen zurückgesetzt, weil sie einem Lebewesen wie dem Menschen abträglich sind, ihn aber dennoch nicht unglücklich machen – glücklich kann er auch dann werden, wenn er kein Ansehen hat, arm und krank ist. 112 Schließlich sind Dinge wie eine bestimmte Hautfarbe oder Helläugigkeit absolut indifferent, weil sie einem Lebewesen wie dem Menschen weder abträglich noch zuträglich sind. Wie eingangs schon mit Blick auf die altstoische Affektsystematik erwähnt, folgen Lust und Kummer laut den älteren Stoikern auf Begierde und Furcht. Lust entsteht ihrer Ansicht nach dann, wenn wir das scheinbar Gute, das wir begehrt haben, erlangen (wie zum Beispiel Reichtum oder Ruhm), oder wenn wir das scheinbar Schlechte, das wir gefürchtet haben, vermeiden (wie zum Beispiel Armut oder Ansehensverlust).113 Beim Kummer verhält es sich genau umgekehrt: Entweder erlangen wir das scheinbar Gute nicht, das wir begehrt haben (auch hier ließen sich wieder Reichtum oder Ruhm als Beispiele anführen), oder uns widerfährt das scheinbar Schlechte, das wir gefürchtet haben (zum Beispiel geraten wir in Armut oder verlieren unser Ansehen).114 Die älteren Stoiker definieren Begierde, Furcht, Lust und Kummer entsprechend ihrer allgemeinen Definition von Affekten, der zufolge Affekte unvernünftig sind, da sie etwas Exzessives an sich haben und nicht auf die wählende Vernunft hören (aber auch nicht unabhängig von ihr entstehen).115 Die Begierde defis
111
112 113 114 115
Vgl. DL 7,85 und Cic. fin. 3,16: „Placet his“ inquit „quorum ratio mihi probatur, simulatque natum sit animal – hinc enim est ordiendum –, ipsum sibi conciliari et commendari ad se conservandum et ad suum statum eaque, quae conservantia sint eius status, diligenda, alienari autem ab interitu iisque rebus, quae interitum videantur afferre [“] („Die Leute, deren Lehre mir einleuchtet, begann er, sind der Meinung, dass ein Lebewesen sogleich nach der Geburt – denn damit sollte man beginnen – eine Zuneigung und Hinwendung zu sich selbst entwickelt, um sich zu erhalten und auf seine Verfassung und das, was der Erhaltung dieser Verfassung dient, bedacht zu sein, dass es sich aber gegen die Vernichtung und die Dinge, die zur Vernichtung zu führen scheinen, sträubt“, Übers. Merklin). Vgl. Sext. Emp. adv. math. 11,60f. Vgl. Stob. anthol. 2,88,19f. (= LS 65 A 9f.). Vgl. Stob. anthol. 2,88,20f. (= LS 65 A 10f.). Zuweilen ist sogar die Rede von etwas Gewaltsamem (βιαστικόν, vgl. Stob. anthol. 2,89,6 [= LS 65 A 13]). Für die nachfolgenden altstoischen Definitionen der einzelnen generischen Affekte vgl. DL 7,111–114, Ps.-Andr. pass. 1 (= LS 65 B), Cic. Tusc. 3,23– 26, 61, 74f. und insbesondere ebd., 4,12–14, sowie Stob. anthol. 2,90,7–18 Auf einen Unterschied zwischen Stobaios’ Darstellung einerseits und der Darstellung von Cicero
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Das handlungspsychologische Fundament
nieren sie als unvernünftiges Verlangen (ἄλογος ὄρεξις/ratione adversante appetitio116) bzw. als Trachten nach einem erwarteten scheinbaren Gut (δίωξις προσδοκωμένου ἀγαθοῦ117/appetentia futuri opinati boni118), die Furcht dagegen als unvernünftige Abwendung (ἄλογος ἔκκλισις/declinatio sine ratione119) bzw. als Vermeiden einer erwarteten scheinbaren Gefahr (φυγὴ ἀπὸ προσδοκωμένου δειs
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und Ps.-Andronicus andererseits verweist Graver: Stobaios verwende bei allen vier generischen Affekten den Ausdruck „frisch“ (πρόσφατος), während Cicero und Ps.Andronicus ihn nur mit Bezug auf die gegenwartsbezogenen Affekte gebrauchen (vgl. Graver 2007, S. 229, Anm. 13; die von Diogenes Laertios überlieferten altstoischen Affektdefinitionen entbehren den Ausdruck dagegen ganz). Ein weiterer nennenswerter Unterschied in den Darstellungen besteht darin, dass bei Cicero und Stobaios noch klarer zutage tritt, dass die altstoische Affektenlehre in der altstoischen Handlungspsychologie fundiert ist. Cicero (bzw. „M“) verdeutlicht dies am Kummer, im Grunde sagt er aber, dass die causa aller Affekte eine Meinung sei (vgl. Cic. Tusc. 3,24: Est igitur causa omnis in opinione, nec vero aegritudinis solum, sed etiam reliquarum omnium perturbationum). Der Kummer beruht ihm zufolge auf zwei Meinungen – zum einen auf der Meinung, dass ein Übel gegenwärtig ist (opinio [bzw. iudicium] praesentis mali), zum anderen auf der Meinung, „[...] es sei nötig, richtig und pflichtgemäß, das, was sich ereignet hat, mit Betrübnis zu ertragen“ ([...] opinio [...] oportere, rectum esse, ad officium pertinere ferre illud aegre quod acciderit [...]; vgl. für beide Meinungen ebd., 3,25, 61 und 74). Erst wenn beide Meinungen gebildet werden, entsteht, so Cicero (bzw. „M“), der Kummer oder allgemeiner gesprochen: ein Affekt. Stobaios spricht bei allen vier generischen Affekten jeweils von dem Meinen (τὸ δοξάζειν), dass ein Gut der Fall/nahe ist, bzw. dass ein Übel der Fall/nahe ist. Außerdem verwendet er für Kummer und Lust den mit Ciceros pleonastischer Formulierung „es ist nötig, richtig und pflichtgemäß“ gleichbedeutenden Ausdruck καθήκει. Für die Begierde und die Furcht verwendet er die Verbaladjektive ὄρεκτον und φευκτόν, die man mit „es ist nötig, richtig und pflichtgemäß, etwas zu erstreben“ bzw. mit „es ist nötig, richtig und pflichtgemäß, etwas zu vermeiden“ übersetzen könnte (vgl. Graver 2007, S. 42). Vgl. Cic. Tusc. 4,12: quae [sc. appetitio] autem ratione adversante incitata est vehementius, ea libido est vel cupiditas effrenata [...] (Ernst A. Kirfel bezieht quae in seiner Übersetzung auf voluntas, was meines Erachtens wenig Sinn ergibt). Weder Diogenes Laertios noch Ps.-Andronicus achten darauf, auch immer den griechischen Ausdruck für „scheinbar“ (φαινόμενον) zu verwenden. Ich ergänze ihn in der deutschen Übersetzung, weil wir uns im Bereich der Affekte befinden, die für die Stoiker per definitionem immer nur durch scheinbare Güter oder Übel hervorgerufen werden. Diese Wortgruppe kommt in den Tusculanae Disputationes so nicht vor, sondern ist eine eigene Zusammenfassung von Merkmalen, die die Begierde laut Cicero auszeichnen. Das Nomen appetentia könnte die lateinische Entsprechung für δίωξις sein. Es ist in Cic. Tusc. 4,11 zu finden. Die Information, dass sich die Begierde auf zukünftige scheinbare Güter bezieht, findet sich am deutlichsten ebd.: libido [est] futurorum [opinatorum bonorum]. An anderer Stelle charakterisiert Cicero die Begierde auch als eine immoderata appetitio opinati magni boni (vgl. ebd., 3,24). Vgl. ebd., 4,13.
Alt- und mittelstoische Handlungspsychologie und Gefühlslehre
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νοῦ120/recessus animi et fuga a futuris opinatis malis121). Daran wird deutlich, dass sich Begierde und Furcht nicht nur auf scheinbare Güter bzw. Übel beziehen, sondern darüber hinaus auch noch eine zeitliche Komponente haben: Sie beziehen sich auf zukünftige scheinbare Güter bzw. Übel. Auch Lust und Kummer werden von den älteren Stoikern definiert. Lust ist ihrer Ansicht nach ein unvernünftiges Anschwellen (ἄλογος ἔπαρσις/sine ratione animi elatio) bzw. die frische Meinung, dass etwas Gutes der Fall ist (δόξα πρόσφατος ἀγαθοῦ παρουσίας/opinio recens boni praesentis); Kummer ist im Gegensatz dazu eine unvernünftige Kontraktion (ἄλογος συστολή/adversante ratione animi contractio) bzw. die frische Meinung, dass etwas Schlechtes der Fall ist (δόξα πρόσφατος κακοῦ παρουσίας/ opinio recens mali praesentis).122 Wie Begierde und Furcht haben also auch Lust und Kummer eine zeitliche Komponente. Im Unterschied zu Begierde und Furcht sind Lust und Kummer aber auf die Gegenwart ausgerichtet. Die Beschreibung von Lust als „Anschwellen“ und Kummer als „Kontraktion“ könnte zudem darauf hindeuten, dass Affekte für die älteren Stoiker eine physiologische Seite haben.123 Wie teilweise schon erläutert, gingen sie von einer materiell verfassten Seele aus, und vor diesem Hintergrund wäre es wenig verwunderlich, wenn sich Affekte für sie auch materiell manifestierten.124 Andererseits könnten die älteren Stoiker auf diese Weise aber auch einfach einer Erfahrung Ausdruck verliehen haben, die uns allen bekannt sein dürfte: Lust hat etwas Beflügelndes an sich, Kummer fühlt sich dagegen an, als würde sich das Herz in der Brust zusammenziehen. Aus diesem
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Diogenes Laertios gibt die altstoische Definition der Furcht etwas ungenau mit προσδοκία κακοῦ wieder (vgl. DL 7,112). Auch diese Wortgruppe kommt in den Tusculanae Disputationes so nicht vor, sondern ist eine eigene Zusammenfassung von Merkmalen, die Cicero der Furcht zuschreibt (vgl. Cic. Tusc. 4,11, 15). Vgl. Ps.-Andr. pass. 1 (= LS 65 B) und Cic. Tusc. 3,26, 61, 74f. und ebd., 4,13f. Laut Cicero geht die Ansicht, dass solche Meinungen „frisch“ sind, auf Zenon zurück (vgl. ebd., 3,75). Frisch sind sie nicht nur, weil sie sich auf ein scheinbares Gut bzw. Übel beziehen, das sich kurz zuvor ereignet hat, sondern vor allem weil das scheinbare Gut bzw. Übel immer noch nachwirkt (vgl. ebd.). In ebd., 3,24 bestimmt Cicero (bzw. „M“) die Lust als eine über das Maß hinausgehende Freude, die durch die Meinung von irgendeinem gegenwärtigen großen Gut entsteht (praeter modum elata laetitia, opinione praesentis magni alicuius boni). Vgl. auch Forschner 21995, S. 121: „Die Stoa hat den Affekt eben nicht nur in ethischen und psychologischen, sondern auch in physiologischen Termini beschrieben.“ Bei Seneca findet sich dieser Gedanke in Sen. epist. 106,5: Non puto te dubitaturum an affectus corpora sint [...], tamquam ira, armor, tristitia, nisi dubitas an vultum nobis mutent, an frontem astringant, an faciem diffundant, an ruborem evocent, an fugent sanguinem („Ich glaube, du wirst nicht zweifeln, ob die Affekte Körper sind [...]. Du müsstest denn auch zweifeln, ob sie unsere Mienen verändern, ob sie unsere Stirn in Falten legen, ob sie unser Gesicht aufhellen, ob sie Röte hervorrufen, ob sie den Blutlauf hemmen“, Übers. Apelt, modifiziert).
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Das handlungspsychologische Fundament
Blickwinkel betrachtet sind „Anschwellen“ und „Kontraktion“ Beschreibungen der Erlebnisqualität von Lust bzw. Kummer. Der Übersichtlichkeit wegen seien die Definitionen der Affekte und ihre Unterarten in einer Tabelle zusammengefasst:125 Tabelle 1: altstoische Affektsystematik
Begierde
Furcht
Lust
Kummer
(ἐπιθυμία/libido bzw. cupiditas)
(φόβος/metus)
(ἡδονή/laetitia bzw. voluptas)
(λύπη/aegritudo)
unvernünftiges Verlangen; Trachten nach einem erwarteten scheinbaren Gut
unvernünftige Abwendung; Vermeiden einer erwarteten scheinbaren Gefahr
unvernünftiges Anschwellen; frische Meinung, dass etwas scheinbar Gutes der Fall ist
unvernünftige Kontraktion; frische Meinung, dass etwas scheinbar Schlechtes der Fall ist
Unterarten nach Diogenes Laertios: Verlangen (σπάνις), Hass (μῖσος), Ehrgeiz (φιλονεικία), Wut (ὀργή), sexuelle Liebe (ἔρως), Groll (μῆνις), Zorn (θυμός) und dergleichen
Unterarten nach Diogenes Laertios: Entsetzen (δεῖμα), Zaudern (ὄκνος), Scham (αἰσχύνη), Bestürzung (ἔκπληξις), Unruhe (θόρυβος), Beklemmung (ἀγωνία) und dergleichen
Unterarten nach Diogenes Laertios: Verzückung (κήλησις), Schadenfreude (ἐπιχαιρεκακία), Befriedigung (τέρψις), Ausgelassenheit (διάχυσις) und dergleichen
Unterarten nach Diogenes Laertios: Mitleid (ἔλεος), Neid (φθόνος), Missgunst (ζῆλος), Eifersucht (ζηλοτυπία), Leid (ἄχθος), Belästigung (ἐνόχλησις), Missmut (ἀνία), Weh (ὀδύνη), Verwirrung (σύγχυσις) und dergleichen
Unterarten nach Stobaios: Wut und seine Unterarten (ὀργὴ καὶ τὰ εἴδη αὐτῆς126), heftige sexuelle
Unterarten nach Stobaios: Zaudern (ὄκνοι), Beklemmung (ἀγωνίαι), Bestürzung (ἔκπληξις), Scham
Unterarten nach Stobaios: Schadenfreude (ἐπιχαιρεκακίαι), Zufriedenheit (ἀσμενισμοί),
Unterarten nach Stobaios: Neid (φθόνος), Missgunst (ζῆλος), Eifersucht (ζηλοτυπία), Mitleid (ἔλεος), Trauer
s
125
126
Vgl. DL 7,111–114, Stob. anthol. 2,90,19–91,9 (= LS 65 E) und Cic. Tusc. 3,83 sowie ebd., 4,16. Ich greife hier zum Großteil auf die Übersetzungen von Jürß (für Diogenes Laertios), Hülser, LS (für Stobaios) und Kirfel (für Cicero) zurück. Unterarten der Wut sind laut Stobaios: Zorn (θυμός), bittere Wut (χόλος), Groll (μῆνις), Hass (κότος), Verbitterung (πικρίαι) und dergleichen (vgl. Stob. anthol. 2,91,1f., eig. Übers.). Diese Affekte erscheinen in der langen Liste von Ps.-Andronicus, die ich hier aus Platzgründen nicht gesondert angeführt habe, nicht als Unterarten der Wut, sondern als Unterarten der Begierde (vgl. SVF 3,397).
Alt- und mittelstoische Handlungspsychologie und Gefühlslehre
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Liebe (ἔρωτες σφοδροί), Liebessehnsucht und Liebesverlangen (πόθοι καὶ ἵμεροι), Vergnügungssucht (φιληδονίαι), Liebe zum Reichtum (φιλοπλουτίαι), Ehrsucht (φιλοδοξίαι) und dergleichen127
(αἰσχύναι), Unruhe (θόρυβοι), Aberglaube (δεισιδαιμονίαι), Grauen (δέος), Entsetzen (δείματα) und dergleichen128
Gaukelei (γοητεῖαι) und dergleichen129
(πένθος), Leid (ἄχθος), Ärger (ἄχος), Missmut (ἀνία), Weh (ὀδύνη), Ekel (ἄση) und dergleichen130
Unterarten nach Cicero: Wut (ira), Aufbrausen (excandescentia), Hass (odium), Feindschaft (inimicitia), Zwietracht (discordia), Bedürfnis (indigentia), Sehnsucht (desiderium) und dergleichen
Unterarten nach Cicero: Trägheit (pigritia), Scham (pudor), Schrecken (terror), Angst (timor), Entsetzen (pavor), Kopflosigkeit (exanimatio), Verwirrung (conturbatio), Verzagtheit (formido) und dergleichen
Unterarten nach Cicero: Schadenfreude (malivolentia), Genuss (delectatio), Prahlen (iactatio) und dergleichen
Unterarten nach Cicero: Neiden (invidentia), Eifersucht (aemulatio), Missgunst (obtrectatio), Mitleid (misericordia), Beklemmung (angor), Trauer (luctus), Gram (maeror), Grübeln (aerumna), seelischer Schmerz (dolor), Jammern (lamentatio), Aufregung (sollicitudo), Ärger (molestia), Niedergeschlagenheit (afflictatio), Verzweiflung (desperatio) und dergleichen
s
127
128 129 130
Eine Unterartenliste wird häufig mit „und dergleichen“ (καὶ τὰ ὅμοια/et si quae sunt de genere eodem bzw. et similia bzw. et cetera eius modi) abgeschlossen (Diogenes Laertios fügt es nie an, Stobaios lässt es bei der Furcht und beim Kummer aus, Cicero nur bei der Furcht). Es zeigt an, dass die jeweilige Liste als offen zu verstehen ist. Da ich keinen Grund sehe, warum die älteren Stoiker die Listen der Affektunterarten generell als geschlossen angesehen bzw. nur die Unterartenliste der Furcht oder die des Kummers als geschlossen angesehen haben sollten, habe ich die fehlenden „und dergleichen“ in Tabelle 1 ergänzt. Vgl. auch die Liste von Ps.-Andronicus (ebd., 3,409). Vgl. ebd. Vgl. ebd.
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Das handlungspsychologische Fundament
Bei der Systematisierung der guten Gefühle stellen die älteren Stoiker den vier Affekten der nichtweisen bzw. törichten Person (φαῦλος/insipiens bzw. stultus) drei gute Gefühle gegenüber, die ausschließlich die weise Person (σοφός/sapiens) haben kann. Das Wünschen (βούλησις/voluntas) tritt an die Stelle der Begierde, da es ein wohlbegründetes Verlangen ist (εὔλογος ὄρεξις/cum ratione desiderare).131 Vorsicht (εὐλάβεια/cautio) nimmt den Platz der Furcht ein, weil sie ein wohlbegründetes Vermeiden ist (εὔλογος ἔκκλισις/declinatio cum ratione). Anstelle von Lust empfindet die weise Person Freude (χαρά/gaudium), da sie eine wohlbegründete Erhebung ist (εὔλογος ἔπαρσις/cum ratione moveri). Für den Kummer gibt es bei der weisen Person keine Entsprechung.132 Die Definitionen der guten Gefühle und ihrer Unterarten seien nachfolgend ebenfalls aus Gründen der Übersichtlichkeit in einer Tabelle zusammengefasst:133 Tabelle 2: altstoische Systematik der guten Gefühle
Wünschen
Vorsicht
Freude 134
(βούλησις/voluntas)
(εὐλάβεια/cautio)
(χαρά/gaudium)
wohlbegründetes Verlangen
wohlbegründetes Vermeiden
wohlbegründete Erhebung
Unterarten:135 freundliche Gesinnung (εὔνοια), Wohlwollen (εὐμένεια), Herzlichkeit (ἀσπασμός), Liebe (ἀγάπησις)136
Unterarten: Scham (αἰδώς), Reinheit (ἁγνεία)
Unterarten: Ergötzung (τέρψις), Frohsinn (εὐφροσύνη), Wohlgemutheit (εὐθυμία)
–
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s
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Vgl. hier und im Folgenden DL 7,116 und Cic. Tusc. 4,12–14. Katja Maria Vogt merkt an, dass unklar ist, warum die weise Person keinen, wie sie sagt, „rationalen Schmerz“ zum Beispiel über den Mangel an Tugend bei anderen empfinden sollte (vgl. Vogt 2004, S. 79 und Vogt 2006, S. 67, Fußn. 22). Die Antwort gibt Senecas Mitleid-Diskussion im zweiten Buch von De clementia (vgl. S. 94f.). Für die Unterarten der guten Gefühle vgl. DL 7,116 und Ps.-Andronicus (SVF 3,432). Die Übersetzungen stammen von mir. Eine lateinische Version der Unterarten der guten Gefühle ist uns nicht erhalten. Graver vermutet ausgehend von Cic. Tusc. 4,66, dass in einem anderen altstoischen Klassifikationssystem anstelle der Vorsicht die Zuversicht (θάρρος/confidentia) gestanden haben könnte. Die Zuversicht sei dann irgendwann (wahrscheinlich von Chrysipp) durch die Vorsicht ersetzt worden, da diese ein geeigneteres Analogon zur Furcht dargestellt habe. Vgl. Graver 2007, S. 213–220. Die Unterartenlisten werden nicht mit einem „und dergleichen“ beendet. Sollte man sie also als geschlossene Listen betrachten? Mir erschließt sich nicht, warum Inwood meint, dass keine der Quellen die weise Liebe dem Wünschen unterordnet, obwohl er sogar Ps.-Andronicus (SVF 3,432) und DL
Alt- und mittelstoische Handlungspsychologie und Gefühlslehre
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Es liegt nahe, dass das Wünschen und die Vorsicht genau wie die Begierde und die Furcht zukunftsgerichtet sind, während sich die Freude wie die Lust auf die Gegenwart bezieht. Man kann außerdem annehmen, dass – analog zu den gegenwartsbezogenen Affekten – besonders bei der Freude die physiologische oder erlebnishafte Seite der guten Gefühle zur Geltung kommt: Die Freude ist eine „Erhebung“. Strittig ist, worauf sich die guten Gefühle beziehen. Beziehen sie sich auf das wahrhaft Gute oder Schlechte, also auf Tugend und Laster (bzw. die Dinge, die daran teilhaben), oder auf bevorzugtes oder zurückgesetztes Indifferentes?137 Was das Wünschen und die Vorsicht angeht, könnte man auf Anhieb meinen, die weise Person habe es eigentlich nicht nötig, sich die Tugend (bzw. die Dinge, die zu ihrem Erwerb beitragen) zu wünschen oder vor dem Laster (bzw. den Dingen, die zu seiner Zuziehung führen) vorzusehen, denn sie hat die Tugend bereits und kann sie auch nicht mehr verlieren.138 Die von Ps.-Andronicus überlieferten Definitionen der Unterarten der guten Gefühle laden allerdings zu einer differenzierteren Betrachtung ein:139 s
137
138
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7,116 nennt (vgl. Inwood 1997, S. 60, Fußn. 14). Bei beiden Autoren taucht die Liebe (ἀγάπησις) in der Liste der Unterarten des Wünschens (βούλησις) auf. Ich frage mich auch, welche Ausgabe von DL ihm vorliegt, wenn er sagt: „[…] [T]he list in DL 7.116 […] bizarrely lists ἐπιθυμία as a ‚virtuous passion‘ under χαρά“ (ebd.). Weder in der Ausgabe von Robert D. Hicks noch in der von Tiziano Dorandi findet sich der Begriff der ἐπιθυμία unter den Unterarten der Freude. Martha Nussbaum vertritt die Auffassung, dass sich die guten Gefühle auf Indifferentes beziehen (vgl. Nussbaum 1994, S. 399). Tad Brennan (vgl. Brennan 1996, S. 326, Fußn. 17 und Brennan 1998, S. 54–57) gehört dagegen dem Lager derer an, die meinen, die guten Gefühle bezögen sich auf Tugenden und Laster. Friedemann Buddensiek (vgl. Buddensiek 2012, S. 90) behauptet, sie bezögen sich auf Tugenden; ob sie sich auch auf Laster beziehen, lässt er allerdings offen („Gegenstand der guten Gefühle sind keine indifferenten Dinge […], sondern nur das, was tatsächlich gut und erstrebenswert ist, nämlich Vernunft, d. h. Tugend“). Chrysipp nahm nach DL 7,127 bezüglich der Unverlierbarkeit der Tugend eine Sonderstellung unter den älteren Stoikern ein. Während etwa Kleanthes für die uneingeschränkte Unverlierbarkeit der Tugend einstand, habe er die Ansicht vertreten, dass es Faktoren gibt, die zum Verlust der Tugend führen können, wie etwa Trunkenheit und μελαγχολία. Nach Ciceros Darstellung in Cic. Tusc. 3,9–11 könnte eine derartige Position unter den älteren Stoikern aber nicht nur Chrysipp vertreten haben. Cicero unterscheidet dort zwischen Wahnsinn, insania, für die die Griechen (Graeci) – gemeint dürften wohl die älteren Stoiker sein – den seiner Meinung nach weniger geeigneten Ausdruck μανία verwenden, und Irrsinn, furor, den sie ihm zufolge μελαγχολία nennen. Wahnsinnig sei, wer die Weisheit noch nicht erreicht hat, irrsinnig dagegen, wessen Seele gegenüber allem blind ist (wer also sozusagen klinisch krank ist). Die weise Person könne aus Sicht der Griechen nur Irrsinn, nicht aber Wahnsinn befallen. SVF 3,432, eig. Übers. Merkwürdig ist, dass Ps.-Andronicus vom Wohlwollen und auch von der Herzlichkeit sagt, sie seien Unterarten (εἴδη) des Wünschens, das Wohlwollen dann aber und wahrscheinlich auch die Herzlichkeit als freundliche Gesinnung
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Das handlungspsychologische Fundament Eὔνοια μὲν οὖν ἐστι βούλησις ἀγαθῶν 140 αὐτοῦ ἕνεκεν ἐκείνου. Εὐμένεια δὲ εὔνοια ἐπίμονος. Ἀσπασμὸς δὲ ἀδιάστατος 141 Ἀγάπησις… Τέρψις μὲν οὖν ἐστι χαρὰ πρέπουσα ταῖς περὶ αὐτὸν ὠφελείαις. Εὐφροσύνη δὲ χαρὰ ἐπὶ τοῖς τοῦ σώφρονος ἔργοις. Εὐθυμία δὲ χαρὰ ἐπὶ διαγωγῇ ἢ ἀνεπιζητησίᾳ παντός. Αἰδὼς μὲν οὖν ἐστιν εὐλάβεια ὀρθοῦ ψόγου. Ἁγνεία δὲ εὐλάβεια τῶν περὶ θ142 ἁμαρτημάτων. Die freundliche Gesinnung ist der Wunsch nach Gütern für einen anderen um seiner selbst willen. Wohlwollen aber ist eine dauerhafte freundliche Gesinnung. Herzlichkeit ist dagegen eine ununterbrochene freundliche Gesinnung. Liebe… Ergötzung ist nun aber eine angemessene Freude über den Nutzen, der einem zuteilwird. Frohsinn ist dagegen Freude über die Werke des Besonnenen. Wohlgemutheit aber ist Freude wegen des Dahinfließens und der Makellosigkeit des Alls. Scham ist nun aber die Vorsicht vor gerechtem Tadel. Reinheit ist dagegen die Vorsicht vor Fehltritten gegen die Götter.
An diesen Definitionen fällt auf, dass viele der guten Gefühle als fremdbezogen charakterisiert werden. Bei der freundlichen Gesinnung, dem Frohsinn und der Wohlgemutheit richtet die weise Person ihre Aufmerksamkeit auf etwas, das nicht mit ihr persönlich zu tun hat. Die intentionalen Objekte sind dabei von unterschiedlicher Beschaffenheit: Mal sind es Güter, die jemandem gewünscht werden (freundliche Gesinnung); mal sind es die Handlungen eines Besonnenen, die erfreuen (Frohsinn); mal ist es das All, das für Wohlgemutheit sorgt. Allen diesen fremdbezogenen guten Gefühlen ist aber eine bestimmte Art von Vollkommenheit gemeinsam: Die Güter, die der freundlich gesinnte Weise einem anderen um sei-
s
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142
(εὔνοια) bestimmt. Streng genommen sind sie also Unterarten der freundlichen Gesinnung und Subunterarten des Wünschens. Bei Diogenes Laertios findet sich diese Unterordnung nicht (vgl. DL 7,127). ἑτέρῳ hat Wachsmuth hinzugefügt. Dass εὔνοια hinzugefügt werden muss, hat Wachsmuth vermutet. Hat er recht, unterscheidet sich die Definition des Wohlwollens kaum noch von der der Herzlichkeit. θεοὺς hat Kreuttner vervollständigt.
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ner selbst willen wünscht, müssen Tugenden sein, denn sonst würde er etwas wünschen, das instabil ist und schnell wieder verlorengehen kann; die Handlungen des Besonnenen, die den Frohsinn des Weisen befördern, sind tugendhaft – sie zeugen von der Tugend der Besonnenheit; und das All, das den Weisen wohlgemut sein lässt, ist aus allgemeinstoischer Sicht ein makellos rotierendes Räderwerk. Alle fremdbezogenen guten Gefühle haben, wie sich daraus schließen lässt, nichts bevorzugtes Indifferentes, sondern etwas wahrhaft Gutes zum Gegenstand, auch wenn das wahrhaft Gute in unterschiedlichen Daseinsformen auftritt. Die Ergötzung (τέρψις) ist hingegen per definitionem ein selbstreferenzielles gutes Gefühl: Sie bezieht sich auf den Nutzen (ὠφέλεια), der dem Weisen persönlich zuteil wird. Als selbstreferenzielle gute Gefühle lassen sich auch die Scham (αἰδώς) und die Reinheit (ἁγνεία) deuten: Erstere bezieht sich auf möglichen gerechten Tadel am Weisen selbst, Letztere auf von ihm ausgehende potenzielle Handlungen, die, beginge er sie, einem Frevel an den Göttern gleichkämen. Eignet dem persönlichen Nutzen des Weisen nun wie den Gütern, die er einem anderen um seiner selbst willen wünscht, wie den Handlungen des Besonnenen, die seinen Frohsinn befördern, und dem All, das ihn wohlgemut sein lässt, eine bestimmte Art von Vollkommenheit? Eine Antwort auf diese Frage findet sich bei Sextus Empiricus. Er berichtet, dass die Stoiker (οἱ Στωικοί) 143 das wahrhaft Gute [ἀγαθόν] zum einen als Nutzen [ὠφέλεια] und zum anderen als nichts anderes als Nutzen [οὐχ ἕτερον ὠφελείας] definierten. Erläuternd fügt er hinzu: „[…] [M]it ‚Nutzen‘ meinen sie die Tugend [τὴν ἀρετήν] und die tugendhafte Handlung [τὴν σπουδαίαν πρᾶξιν]; mit ‚nichts anderes als Nutzen‘ den tugendhaften Menschen [τὸν σπουδαῖον ἄνθρωπον] und seinen Freund [τὸν φίλον].“144 Für die hiesigen Belange ist insbesondere der erste Teil der Definition und Erläuterung interessant.145 Nutzen kann demzufolge nur die Tugend und die tugendhafte Handlung haben.146 Übertragen auf das selbstreferenzielle gute Gefühl der Ergötzung bedeutet das: Die weise Person ergötzt sich genau genommen am Nutzen, der ihr dank ihrer eigenen Tugend und der daraus resultierenden tugendhaften Handlungen zuteilwird. Also bezieht sich die Ergötzung ebenfalls auf etwas wahrhaft Gutes und nicht auf etwas bevorzugtes Indifferentes. Bei den selbstreferenziellen guten Gefühlen der Scham (αἰδώς) und der Reinheit könnte man schließlich ebenso fragen, worauf sie sich beziehen. Es gibt zwei
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Die undifferenzierte Redeweise lässt vermutlich auf eine allgemeinstoische Position schließen. Vgl. Sext. Emp. adv. math. 11,22f. (= LS 60 G = SVF 3,75), Übers. Hülser, LS, Interp. geändert. Eine Interpretation des zweiten Teils der Definition und der dazugehörigen Erläuterung gibt Sextus Empiricus (vgl. Sext. Emp. adv. math. 11,23f. [= LS 60 G = SVF 3,75]). Seneca sagt später (vgl. Sen. epist. 87,36f.): Non est id bonum quod plus prodest, sed quod tantum prodest („Nicht ist das ein Gut, was überwiegend nützt, sondern was nur nützt“, Übers. Rosenbach).
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Das handlungspsychologische Fundament
Möglichkeiten: Entweder sie haben etwas zurückgesetztes Indifferentes oder etwas wahrhaft Schlechtes zum Gegenstand. Das Schlüsselwort in der Definition der Scham (αἰδώς) ist „gerechter Tadel“ (ὀρθὸς ψόγος). Als gerecht dürfte ein Tadel für alle Stoiker dann gegolten haben, wenn er etwas kritisiert, für das der Getadelte im vollen Sinne selbst verantwortlich ist. Und dafür kamen aus ihrer Sicht nur moralisch schlechte Handlungen und moralisch schlechte Seelenzustände (Laster) infrage. Wer sein Ansehen verliert, arm oder krank wird, der mag im höheren oder geringeren Grade die Schuld daran tragen; ein Stoiker würde die Mitverantwortlichkeit des Schicksals in diesen Fällen aber nie gänzlich ausschließen und deshalb einen Tadel, der allein auf zurückgesetztes Indifferentes zielt, für ungerecht halten. Wenn sich die weise Person nun schämt, dann stellt sie sich vor, wie die Leute sie für eine moralisch schlechte Handlung oder einen moralisch schlechten Seelenzustand tadeln würden. Tatsächlich ist und bleibt sie jedoch weise147 und verhält sich auch entsprechend. Der Gegenstand der Scham (αἰδώς) ist in letzter Konsequenz folglich etwas wahrhaft Schlechtes. Und was ist mit dem selbstreferenziellen guten Gefühl der Reinheit? Ein Fehltritt (ἁμάρτημα) gegen die Götter kann allgemeinstoisch gesehen nichts anderes als eine Handlung sein, die von einem Laster zeugt oder zumindest ein Laster begünstigt. Zwar gibt es in den Quellen keine Definition, aus der dies unmittelbar hervorgeht, man könnte zu dieser Annahme aber aufgrund des Umstandes gelangen, dass die älteren Stoiker Frömmigkeit (εὐσέβεια) als eine Tugend verstanden – sie ordneten sie der Gerechtigkeit unter148 und bestimmten sie als „Wissen um die Ehrerbietung der Götter“ (εὐσέβειαν δὲ ἐπιστήμην θεῶν θεραπείας).149 Ex negativo ließe sich daraus schließen, dass Unfrömmigkeit für sie der Mangel an Wissen um die Ehrerbietung der Götter war und dass derjenige, der auf Grundlage dieses Mangels handelt, unfromm ist oder sich wenigstens wie ein Unfrommer verhält. Dass die Reinheit nach altstoischer Auffassung eine Vorsicht vor Fehltritten gegen die Götter ist, bedeutet also, dass die weise Person sich davor in Acht nimmt, etwas zu tun, das zum Laster der Unfrömmigkeit führt oder seine Entstehung begünstigt. Somit bezieht sich auch das selbstreferenzielle gute Gefühl der Reinheit auf etwas wahrhaft Schlechtes und nicht auf etwas zurückgesetztes Indifferentes. Interpretiert man die angeführten Definitionen in diesem Sinne, scheint es angemessen zu sein zu sagen, dass sich die guten Gefühle auf etwas wahrhaft Gutes s
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Mit Blick auf Chrysipp müsste hier noch die Einschränkung „sofern er nicht von Trunkenheit und μελαγχολία betroffen ist“ hinzugefügt werden (vgl. S. 65, Fußn. 138), denn beides kann für ihn nach DL 7,127 zum Verlust der Tugend führen. Warum die weise Person aber überhaupt von Trunkenheit betroffen sein kann – zumal sie dabei sogar das Risiko eingeht, ihre Tugend zu verlieren –, ist schwer nachzuvollziehen, es sei denn, man nimmt an, dass Chrysipp an so etwas wie Zwangsalkoholisierung dachte. Vgl. Stob. anthol. 2,60,22f. (= LS 61 H). Gerechtigkeit definierten sie als „Wissen, das sich darauf bezieht, jedem nach Verdienst zuzuteilen“ (ἐπιστήμην ἀπονεμητικὴν τῆς ἀξίας ἑκάστῳ, Stob. anthol. 2,59,10f. [= LS 61 H]; Übers. Hülser, LS). Vgl. Stob. anthol. 2,62,2f.
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oder Schlechtes beziehen, das heißt auf Tugend oder Laster (bzw. die Dinge, die daran teilhaben) – und nicht auf bevorzugtes oder zurückgesetztes Indifferentes. Darin unterscheiden sie sich von den Affekten, bei denen den älteren Stoikern zufolge etwas für gut oder schlecht gehalten wird, das in Wahrheit weder gut noch schlecht ist. 1.4
Rückkehr zu Platon? Affekte nach Poseidonios
Der antike Mediziner Galen behauptet, der Mittelstoiker Poseidonios habe sich in Sachen Seelen- und Affektenlehre nicht den älteren Stoikern, sondern Platon angeschlossen: Poseidonios sei zu dessen Dreiteilung der Seele und dem darauf aufbauenden Affektverständnis zurückgekehrt. Im Folgenden wird deshalb zunächst diese Theorie, für die das vierte Buch der Politeia die maßgebliche Quelle ist, in ihren Grundzügen vorgestellt, um eine gute Ausgangsposition für die Analyse des poseidonischen Ansatzes zu haben. Mit Blick auf Seneca ist Poseidonios’ Seelenund Affektenlehre vor allem deshalb interessant, weil in der Forschung oftmals behauptet worden ist, er sei von ihr und nicht von derjenigen der älteren Stoa beeinflusst.150 1.4.1 Die Dreiteilung der Seele bei Platon Im vierten Buch seiner Politeia lässt Platon seine Sokratesfigur eine Analogie zwischen der Polis und der Seele herstellen, die im Prinzip aber die Methode der gesamten Untersuchung ist.151 Sokrates nimmt an, dass beiden Entitäten drei Arten von Naturen innewohnen (τριττὰ γένη φύσεων152 bzw. εἰδή153; teilweise ist auch von Teilen [μέρη154] die Rede): Was in der Polis der beratende (βουλευτικόν), s
150
151 152 153 154
Vgl. Holler 1934, Pohlenz 51978, S. 308, Fillion-Lahille 1984, S. 163–169, Scott 1986, S. 82f. und insbesondere S. 88–100 sowie Cooper 1998, S. 99. Scott fasst die wesentliche Argumentationslinie dieser Forschungsposition wie folgt zusammen: „[...] [G]enerally the explanation goes as follows: Posidonius, dissatisfied with the early Stoa’s account of the development of πάθη, created an irrational principle side by side with the divinely rational control center of the soul, or the ἡγεμονικόν. Seneca adopted Posidonius’ psychology and therefore explains the soul more in Platonic than in Chrysippan terms. The immediate consequence of this psychology is that man’s unvirtuous conduct can be explained as originating from a source unrelated to the logos and irrational in origin. The operation of will can thus proceed either from one’s rational or from one’s irrational part“ (Scott 1986, S. 74, orig. Herv. entfernt). Vgl. Anderson 1971. Vgl. Plat. rep. 4,435b. Vgl. ebd., 4,435b–c, e und 439e. Vgl. ebd., 4,431e–432a, 442b–c und 444b.
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hilfeleistende (ἐπικουρητικόν) und gelderwerbende Teil (χρηματιστικόν) ist,155 ist in der Seele der vernünftige (λογιστικόν), eifrige (θυμοειδές) und begehrende Teil (ἐπιθυμητικόν).156 Polis und Seele gleichen einander nach Sokrates’ Darstellung aber auch noch in einem anderen Punkt: Beide können weise, tapfer, besonnen und gerecht sein. Weise ist die Polis dann, wenn sie wohlberaten ist (εὔβουλος), das heißt, wenn ihre Herrscher (ἄρχοντες) über das nichtfachspezifische, umfassende praktische Wissen der Wohlberatenheit (εὐβουλία) verfügen und davon Gebrauch machen.157 Auf der anderen Seite ist die Seele weise, wenn die Vernunft in ihr herrscht (ἄρχειν) und ihr Wissen über das Angemessene (ἐπιστήμη τοῦ ξυμφέροντος) anwendet,158 indem sie zum Beispiel in bestimmten Handlungssituationen beschließt, dass man etwas nicht tun soll (αἱροῦντος λόγου μὴ δεῖν).159 Die Polis kann auch tapfer genannt werden, und zwar dann, wenn ihr hilfeleistender Teil, das Heer, unter allen Umständen – bei Schmerzen, Lust, Begierde und Furcht – die Auffassung darüber aufrechterhält, was der Gesetzgeber für schrecklich (δεινόν) erklärt hat.160 Aus einem ganz ähnlichen Grund ist die Seele tapfer: Sie ist tapfer, wenn der eifrige Seelenteil „[…] durch Lust und Unlust hindurch immer treu bewahrt, was von der Vernunft als furchtbar angekündigt worden ist und was nicht“. 161 Die anderen beiden Kardinaltugenden bestimmt Sokrates ebenso parallel. Eine besonnene Polis ist dadurch gekennzeichnet, dass zwischen ihrem von Natur aus besseren und ihrem von Natur aus schlechteren Teil Einmütigkeit (ὁμόνοια bzw. ξυμφωνία) besteht.162 Das ist dann der Fall, wenn die wenigen Vernünftigen über die vielen Unvernünftigen herrschen, die sich von ihren Begierden, Lüsten und Unlüsten leiten lassen (für Sokrates gehören zu dieser Gruppe in erster Linie Kinder, Frauen und Gesinde).163 Desgleichen gibt es in der Seele ein von Natur aus Besseres164 – nämlich die Vernunft, die den kleineren Teil der Seele ausmacht165 – und ein von Natur aus Schlechteres:166 den begehrenden Teil, der das Meiste in der Seele ist.167 Besonnenheit liegt dann vor, wenn die Vernunft herrscht und der begehrende Seelenteil von ihr beherrscht wird, und beide s
155
156 157 158 159 160 161
162 163 164 165 166 167
Vgl. Plat. rep. 4,440e–441a. Zuvor spricht Sokrates vom φυλακικόν, ἐπικουρητικόν und χρηματιστικὸν γένος (vgl. ebd., 4,434c). Vgl. ebd., 4,439d und 440e–441a. Vgl. ebd., 4,428b–d. Vgl. ebd., 4,442c. Vgl. ebd., 4,440b. Vgl. ebd., 4,429b–d. Vgl. ebd., 4,442b–c, Übers. Schleiermacher, modifiziert, auf die ich auch im Folgenden zurückgreife. Vgl. ebd., 4,432a–b. Vgl. ebd., 4,431b–c. Vgl. ebd., 4,431a. Vgl. ebd., 4,442c. Vgl. ebd., 4,431a. Vgl. ebd., 4,442a.
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sich darüber einig sind, dass die Vernunft herrscht.168 Schließlich ist die Polis gerecht, wenn jeder ihrer Teile – genauer gesagt: jeder Angehörige eines der in ihr existierenden Stände – seiner Funktion nachgeht (τὰ αὑτοῦ πράττειν).169 Wenn also zum Beispiel der Geschäftsmann das tut, was seiner Funktion als Geschäftsmann entspricht (Geld zu erwerben), und ein Krieger das wünscht, was seiner Funktion als Krieger entspricht (tapfer zu kämpfen). Übernimmt der Geschäftsmann die Aufgabe des Kriegers oder wechselt der Krieger zur beratenden Klasse über, dann ist das Vielgeschäftigkeit (πολυπραγμοσύνη), die laut Sokrates schädlich für die Polis ist.170 Im Prinzip verhält es sich in der Seele genauso: Die Seele ist gerecht, wenn jeder ihrer Teile gemäß seiner Funktion tätig ist171 – der vernünftige herrscht, der eifrige das von der Vernunft Beschlossene aufrechterhält und der begehrende begehrt, ohne dabei die Tätigkeit der anderen Seelenteile zu behindern.172 Zu einem Störfaktor wird der begehrende Seelenteil dann, wenn er durch schlechte Erziehung anwächst und stark wird. Wird er so stark, dass er die Herrschaft übernimmt, verfällt die gesamte Seele in einen ungerechten Zustand, den Sokrates auch als einen Zwiespalt (στάσις) charakterisiert.173 Dass sich die Polis in verschiedene Bereiche unterteilen lässt, leuchtet unmittelbar ein. Aber wie begründet Sokrates seine Annahme, dass es verschiedene Seelenteile gibt? Er geht vom sogenannten Prinzip der Gegensätze aus, dem zufolge ein und dasselbe nicht gleichzeitig Entgegengesetztes tun und leiden kann, jedenfalls nicht in demselben Sinne und derselben Hinsicht.174 So ist es zum Beispiel unmöglich, dass ein und dasselbe stillsteht und sich bewegt.175 Ein Mensch, der ruhig dasteht, aber seinen Kopf und seine Hände bewegt, tut zwar gleichzeitig Entgegengesetztes – aber nicht in Bezug auf ein und dasselbe. Vielmehr muss man sagen, dass einiges von ihm ruhig dasteht, während sich anderes bewegt (Oberkörper und Beine sind etwa bewegungslos, Kopf und Arme nicht).176 Übertragen auf die Seele bedeutet das: Wenn sie überlegt, eifert oder begehrt, dann kann sie das nicht in Bezug auf ein und dasselbe tun. Es muss daher so sein, dass ein Teil von ihr überlegt, einer eifert und einer begehrt.
s
168 169 170 171 172 173 174 175 176
Vgl. Plat. rep. 4,442c–d. Vgl. ebd., 4,433b. Vgl. ebd., 4,434a–b. Vgl. ebd., 4,441d–e. Vgl. ebd., 4,441e–442b. Vgl. ebd., 4,440e und 444b. Vgl. ebd., 4,436b. Vgl. ebd., 4,436c–d, auch im Folgenden. Vgl. ebd. Im Anschluss konterkariert Sokrates mit demselben Gedanken den Einwand, ein Kreisel würde zugleich stehen und sich bewegen (vgl. ebd., 4,436d–e). Etwas später sagt er von einem Bogenschützen, dass er den Bogen nicht zeitgleich anspannen und losschnellen würde, sondern dass eine Hand die losschnellende sei und die andere die anspannende (vgl. ebd., 4,439c).
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Sokrates greift in der Politeia verschiedene Fälle psychischer Konflikte auf, die das Verhältnis der in der Seele wirkenden Kräfte gut veranschaulichen. Auf den vielleicht bekanntesten kommt er zu sprechen, wenn er der Frage nachgeht, ob der Eifer (θυμός) etwas Drittes (τρίτον) neben Vernunft und Begierde ist.177 Als bestätigendes Beispiel für seine Vermutung führt er die Geschichte des Leontios an.178 Leontios, der Sohn des Aglaion, sei eines Tages an der nördlichen Mauer des Piräus in die Stadt heraufgekommen. Auf seinem Weg soll er bemerkt haben, dass beim Scharfrichter Leichname liegen, woraufhin ihn das Begehren ergriffen hat, zu ihnen hinzusehen. Zugleich erfüllte ihn wohl aber auch Abscheu, und die habe ihn dazu bewegt, seinen Blick von den Toten abzuwenden. Doch sein Begehren, zu ihnen hinzusehen, sei nach wie vor dagewesen. Und so muss es zu einem inneren Kampf gekommen sein, bis Leontios von seiner Begierde überwunden wurde (κρατούμενος δ’ οὖν ὑπὸ τῆς ἐπιθυμίας) und mit weitgeöffneten Augen zu den Leichnamen lief. Seine Niederlage eingestehend soll er zu seinen Augen gesagt haben: „Da habt ihr es nun, ihr unseligen, sättigt euch an dem schönen Anblick!“179 Für Sokrates geht aus dieser Geschichte hervor, dass Eifer180 und Begierde zuweilen miteinander streiten (πολεμεῖν) – als zwei ontologisch verschiedene seelische Kräfte (ὡς ἄλλο ὂν ἄλλῳ).181 Der Eifer ist in Leontios’ Fall darauf ausgerichtet, die Anweisung der Vernunft, nicht zu den Leichnamen hinzusehen, praktisch umzusetzen (mit Sokrates’ Worten gesprochen: das, was von der Vernunft für schrecklich erklärt worden ist, aufrechtzuerhalten). Wegen seiner schlechten Erziehung drängt Leontios’ Begierde ihn allerdings in die entgegengesetzte Richtung – zu den Leichnamen hinzusehen –, und das so sehr, dass sie das Vorhaben seines Eifers zunichtemacht. In der Folge wird seine Begierde zum handlungsleitenden Grund und setzt das, wozu sie ihn anfangs nur gedrängt hat, endgültig in die Tat um.182 Dass Leontios nunmehr von ihr wie von etwas anderem beherrscht wird, s
177
178 179 180
181
182
Vgl. Plat. rep. 4,439e. Für weitere figurative Darstellungen psychischer Konflikte bei Platon vgl. das Bild vom Ungeheuer in ebd., 9,588b–590d, den Seelenwagen in Plat. Phdr. 246a–254e und das Marionettengleichnis in Plat. leg. 1,644d–645b. Vgl. Plat. rep. 4,439e–440a. Vgl. ebd., 4,440a. Sokrates verwendet hier den Ausdruck ὀργή, in dem er aber nur ein Synonym für θυμός zu sehen scheint. Denn von θυμός spricht er in seiner Ausgangsfrage, ob der Eifer etwas Drittes in der Seele ist – und sowohl die Geschichte des Leontios als auch die Schlussfolgerungen, die er daraus zieht, stehen unter dieser Ausgangsfrage. Vgl. ebd. Die Auffassung, dass eine Person mehrere Motivationen zur selben Zeit haben kann, wird in der Forschung unter anderem als motivationaler Pluralismus bezeichnet. Müller 2009, S. 89 deutet Leontios’ inneren Konflikt als klaren Fall synchroner Willensschwäche, da Leontios „[…] offensichtlich gegen sein eigenes und in dieser Situation durchaus präsentes Urteil [handelt], sich seiner Begierde der nekrophilen Schaulust zu enthalten“.
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zeigt sich besonders deutlich daran, dass er zu seinen Augen spricht, als wären sie die der Begierde selbst. Nach Platons Seelenmodell kann man somit von den eigenen Affekten wie von einer fremden Macht überfallen werden, ohne dass man es will. 1.4.2 Poseidonios und der altstoische gefühlstheoretische Kognitivismus Wie eingangs bemerkt, soll Poseidonios zur platonischen Dreiteilung der Seele und dem darauf aufbauenden Affektverständnis zurückgekehrt sein. Die wichtigste Quelle für seine Seelen- und Affektenlehre ist Galens Schrift „Über die Lehren von Hippokrates und Platon“ (De placitis Hippocratis et Platonis). Galen verwendet ihn darin aber gewissermaßen nur, um noch überzeugender gegen seinen philosophischen Hauptgegner, Chrysipp, argumentieren zu können (einen Stoiker mit einem anderen Stoiker zu widerlegen, macht schließlich mehr Eindruck, als ihn mit jemandem zu widerlegen, der kein Stoiker ist). Galens Äußerungen sind so gesehen mit Vorsicht zu genießen. Aber auch noch aus einem anderen Grund könnte seine Darstellung von Poseidonios’ Annahmen verzerrt sein. Er will unter anderem zeigen, dass Platons Lehren wahr sind.183 Deswegen neigt er dazu, poseidonische und platonische Positionen zu harmonisieren.184 Und das könnte er gut auch dort tun, wo zwischen ihnen keine Übereinstimmung besteht, zumal er sich bewusst sein dürfte, dass seine Gegenargumente an Überzeugungskraft verlören, wenn sich die Philosophen, die er gegen Chrysipp anführt, untereinander nicht einig wären. Diese Bedenken mindern die doxographische Qualität Galens; die spärliche Überlieferungslage lässt ein Ausweichen auf andere Quellen allerdings kaum zu. Nach Galen hat Poseidonios Platon bewundert (θαυμάζων τὸν ἄνδρα) und ihn göttlich genannt (θεῖον ἀποκαλῶν).185 Seine Wertschätzung galt wohl vor allem dessen Seelen- und Affektenlehre. Er habe sie in Ehren gehalten (πρεσβεύων)186 und die Dreiteilung der Seele deswegen von ihm übernommen. In der uns nicht erhaltenen Schrift „Über die Affekte“ (Περὶ παθῶν) verwendete Poseidonios für die einzelnen Seelenteile angeblich sogar genau dieselben Begriffe wie Platon,187 wobei er jedoch die Redeweise von Teilen (μέρη) und Arten (εἴδη) abgelehnt und stattdessen den Ausdruck „Vermögen“ (δύναμις) vorgezogen haben soll.188 Er war s
183 184
185
186 187 188
Vgl. Gal. PHP 5,6,41f. Sogar Kleanthes habe sich Platon angeschlossen (vgl. ebd., 5,6,42 [= Poseid. T 91 und F 151]). Bei Zenon ist sich Galen unsicher, ihn kann er nicht so richtig einordnen (vgl. ebd.). Vgl. Gal. PHP 4,7,23 (= Poseid. T 97 und F 150a). Auch Panaitios soll Platon als göttlich bezeichnet haben (vgl. Cic. Tusc. 1,79). Vgl. Gal. PHP 4,7,23 (= Poseid. T 97 und F 150a). Vgl. Gal. PHP 8,1,14 (= Poseid. F 32). Vgl. Gal. PHP 6,2,5 (= Poseid. F 146).
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Galen zufolge also der Ansicht, dass die Seele über drei Vermögen verfügt: ein begehrendes (ἐπιθυμητική), ein eifriges (θυμοειδής) und ein vernünftiges (λογιστική).189 Ob diese Vermögen für ihn auch dieselben Funktionen hatten wie für Platon (bzw. seinen Sokrates), verschweigt Galen aber weitestgehend. Nur an einer Stelle, wo es um das Thema der Vernunftentwicklung bei Kindern geht, merkt er an, dass diese noch keine Vernunft haben und daher auch keine Notiz von ihren Befehlen (προστάγματα) nehmen.190 Gleichwohl ist nicht ganz klar, was hiervon Galens eigene Ansicht ist und was die des Poseidonios. Theoretisch könnte Letzterer genauso wie Platon die Vernunft als normative Kraft aufgefasst haben. Die platonische Seelenlehre bildete für Poseidonios anscheinend die Grundlage seiner Affekttheorie. Galen gibt ihn so wieder, als habe er weder geglaubt, dass Affekte Urteile sind (eine Annahme, die Chrysipp vertreten haben soll), noch dass sie auf Urteile folgen (eine Annahme, die Zenon vertreten haben soll); vielmehr würden sie durch das eifrige und begehrende Seelenvermögen verursacht (ὑπὸ τῆς θυμοειδοῦς τε καὶ ἐπιθυμητικῆς δυνάμεως ἡγεῖται γίγνεσθαι τὰ πάθη).191 Denn andernfalls sei nicht verständlich, wie ein Affekt und mit ihm ein exzessiver Antrieb entstehen kann.192 Die Vernunft kommt für Poseidonios laut Galen als Ursache nicht infrage, das würde ihre Fähigkeiten übersteigen – sie könne ja nicht selbst ihr eigenes Maß überschreiten.193 Um seinen Punkt noch deutlicher zu machen, hat Poseidonios wahrscheinlich sogar Chrysipps eigenes Beispiel von einem Sprinter in diesem Zusammenhang aufgegriffen und gegen ihn verwendet. Der Sprinter, der nicht gleich anhalten kann, wenn er anhalten will, sondern dafür einen Moment benötigt, könne nicht wegen seiner Vernunft nicht gleich anhalten; schuld daran sei sein Körpergewicht.194 Und so wie es sich bei ihm verhält, so verhalte es sich Galen zufolge für Poseidonios im Prinzip auch bei den Affekten. Die Ursache dafür, dass sie über das von der Vernunft gesetzte Maß hinausschießen, ist etwas, das nicht vernünftig ist. Galen übersieht allerdings einen entscheidenden Punkt oder klammert ihn vielleicht sogar absichtlich aus: Poseidonios scheint gar nicht bestritten zu haben, dass
s
189 190 191
192
193 194
Vgl. Gal. PHP 8,1,14 (= Poseid. F 32). Vgl. Gal. PHP 5,5,7f. (= Poseid. F 31 und 169). Vgl. Gal. PHP 4,3,3f. (= Poseid. F 34) und Gal. PHP 5,1,5f. (= Poseid. F 153 und 157). Für die Ansichten Chrysipps und Zenons vgl. S. 52, Fußn. 85. Der Darstellung Galens nach zu urteilen, entsteht der Antrieb laut Poseidonios aus dem Affekt (vgl. Gal. PHP 5,6,14 [= Poseid. F 150b] und Gal. PHP 5,6,23f. [= Poseid. F 162 und 187]). Vgl. Gal. PHP 4,3,4f. (= Poseid. F 34 und 157). Vgl. Gal. PHP 4,3,5 (= Poseid. F 34 und 157).
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Urteile in Affekte involviert sind.195 Das lässt sich einer Klassifikation der Widerfahrnisse (πάθη) entnehmen, die er erstellt haben soll.196 Ihr zufolge sind einige Widerfahrnisse (1) rein psychisch (τὰ ψυχικά), wie etwa Begierde (ἐπιθυμίαι), Furcht (φόβοι) und Zorn (ὀργαί); andere (2) sind rein physisch (τὰ σωματικά), wie beispielsweise Fieber. Ferner gebe es (3) Widerfahrnisse, die physisch sind und eine psychische Komponente haben (περὶ ψυχὴν σωματικά) – zu ihnen gehören etwa Trägheit oder Erscheinungen; und schließlich gebe es (4) psychophysische Widerfahrnisse (περὶ σῶμα ψυχικά), wie zum Beispiel Zittern (τρόμοι) und Blässe (ὠχριάσεις). Die rein psychischen Widerfahrnisse (1), zu denen Poseidonios offenbar die Affekte rechnete, involvieren seiner Auffassung nach, wie es heißt, Urteile und Annahmen (τὰ ἐν κρίσεσι καὶ ὑπολήψεσιν). Verbindet man diesen Gedanken mit dem, dass die Seele rationale und irrationale Vermögen hat, dann ergibt sich folgendes Bild: Für Poseidonios sind Urteile in Affekte involviert, aber Affekte sind nicht das Werk von Urteilen allein; letztendlich können sie nur zustande kommen, weil noch etwas Irrationales in der Seele existiert, das den Urteilen zusätzlich Schub verleiht.197 Poseidonios’ Kritik an den älteren Stoikern kann demzufolge nicht so scharf gewesen sein, wie Galen suggerieren will. Er lehnte zwar Chrysipps Annahme ab, dass Affekte Urteile sind, teilte Zenons Meinung aber dahingehend, dass sie auf Urteile folgen – seiner Ansicht nach folgen sie jedoch nicht nur auf Urteile, sondern sind auch das Ergebnis von etwas Irrationalem in der Seele, das sich für ihn scheinbar aus ihrem eifrigen und begehrenden Vermögen zusammensetzte. Dass für Poseidonios die platonische Seelenlehre die Grundlage für seine Affekttheorie gebildet haben könnte, zeigt sich noch in anderen Kontexten. Einmal geht es offenbar um so etwas wie Willensschwäche: Man nimmt an, etwas sei ein großes Gut, weiß aber, dass es eigentlich ein großes Übel ist, und dennoch hält
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195
196 197
Hier und im Folgenden geht es um Poseidonios’ philosophische Überlegungen zu Affekten erwachsener Menschen. Das muss dazu gesagt werden, weil er nach Galen davon überzeugt war, dass auch manche Tiere (beispielsweise Wachteln, Hähne, Rebhühner, Ichneumone, Nattern, Krokodile) und Kinder Affekte haben, obwohl sie über keine bzw. noch keine Vernunft verfügen (vgl. Gal. PHP 5,5,1–6 [= Poseid. F 169] sowie Gal. PHP 5,1,10f. [= Poseid. F 159] und Gal. PHP 5,6,37f. [= Poseid. F 33]). Wegen ihrer Vernunftlosigkeit dürften sich ihre Affekte für Poseidonios aber von denen erwachsener Menschen strukturell unterschieden haben. Vgl. Plut. de libid. et aegr. 6 (das erste der beiden sogenannten Tyrwhitt-Fragmente). Janine Fillion-Lahille war die Erste, die eine solche Interpretation vorgeschlagen hat: Sie meint, das Irrationale in der Seele sei für Poseidonios die cause première eines Affekts, das Urteil dagegen die cause efficiente (vgl. Fillion-Lahille 1984, S. 154). John M. Cooper folgt ihr später. Er sieht in der Existenz einer vernunftunabhängigen psychischen Kraft, die Urteilen Schub verleiht, Poseidonios’ zentrale Innovation der altstoischen Emotionstheorie (vgl. Cooper 1998, S. 84f.).
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man an der Annahme, dass es ein großes Gut ist, fest.198 Wie Galen überliefert, war Poseidonios nicht klar, wie die Ursache dafür, dass man an einer falschen Annahme festhält, ebendiese Annahme sein soll.199 Seine Kritik dürfte einer Position Chrysipps gegolten haben, der die Möglichkeit einer vernunftunabhängigen Motivation strikt ablehnte, sodass ihm nichts anderes übrigblieb, als die Präferenz für eine Sache ausschließlich aus der entsprechenden Annahme abzuleiten. Darauf vermutlich anspielend stellte Poseidonios wohl etwas ironisch fest, dass die Ursache für das Festhalten an der eigentlich falschen Annahme noch gefunden werden muss ([τὴν αἰτίαν] ζητητέον δέ).200 Galen gibt offen zu, dass weder er in der Lage ist, sie zu finden, noch irgendeiner seiner Zeitgenossen, unter denen sich, wie er hervorhebt, nicht wenige Stoiker befunden haben.201 Nach dem zu urteilen, was bisher herausgearbeitet worden ist, könnte die Suche nach der Ursache aber ein Ende haben: Es scheint nicht abwegig zu sein, dass Poseidonios zufolge das Irrationale in der Seele dazu verleitet, an der eigentlich falschen Annahme festzuhalten. Auch aus der Diskussion eines Phänomens, das mit dem Thema der Affektdauer zu tun hat, geht hervor, dass für Poseidonios die platonische Seelenlehre die Grundlage seiner Affekttheorie gebildet haben könnte. Galen zufolge sind sich Chrysipp und Poseidonios darin einig, dass Affekte mit der Zeit nachlassen können, auch wenn die Meinung (δόξα), dass ein Übel der Fall ist, beibehalten wird.202 Bei der Klärung der hierfür infrage kommenden Ursachen kamen sie aber anscheinend auf keinen gemeinsamen Nenner. Chrysipp habe das Nachlassen des Affekts bei gleichzeitiger Beibehaltung der Meinung, dass ein Übel der Fall ist, mit der Frische der Meinung erklärt203 – je mehr sie an Frische verliert, desto schwächer werde auch der Affekt. An Chrysipps Gedankengang leuchtete Poseidonios, wie wir von Galen erfahren, allerdings nicht ein, warum ein Affekt, nur wenn die Meinung frisch ist, die Seele in Beschlag nehmen soll, wenn sie nicht frisch ist, jedoch nicht oder zumindest nicht in gleichem Maße.204 Daher gibt er eine andere Erklärung für das geschilderte Phänomen: Obwohl die Meinung, dass ein Übel der Fall ist, beibehalten wird, könne der Affekt nachlassen, teils weil das „Affektive der Seele“ (τὸ παθητικὸν τῆς ψυχῆς) gesättigt wird, teils weil es infolge seiner lang
s
198
199 200 201 202
203 204
Vgl. Gal. PHP 4,5,42 (= Poseid. F 164). Der sich dort findende Argumentationsgang ist in hohem Grade obskur. Ich versuche hier den wichtigsten Gedanken herauszugreifen. Vgl. Gal. PHP 4,5,43f. (= Poseid. F 164). Vgl. Gal. PHP 4,5,45 (= Poseid. F 164). Vgl. Gal. PHP 4,5,45f. (= Poseid. F 164). Vgl. Gal. PHP 4,7,12–19 (= Poseid. F 165) für Chrysipp und Gal. PHP 4,7,24f. (= Poseid. F 165) für Poseidonios. Vgl. Gal. PHP 4,7,14 (= Poseid. F 165). Vgl. Gal. PHP 4,7,4f. (= Poseid. F 165).
Alt- und mittelstoische Handlungspsychologie und Gefühlslehre
77
anhaltenden Bewegungen (αἱ πολυχρόνιοι κινήσεις) ermattet.205 Man könne sich das Ganze wie bei einem rennenden Pferd vorstellen: Auch das rennende Pferd werde irgendwann stehenbleiben, teils weil seine Rennbegierde befriedigt ist, teils weil es von der anstrengenden Bewegung erschöpft ist.206 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Poseidonios nach Galens Darstellung platonisches Gedankengut mit stoischem verband. Vermutlich kehrte er zur Dreiteilung der Seele zurück, akzeptierte jedoch nicht die Redeweise von Teilen oder Arten, sondern sprach sich für die Verwendung des Ausdrucks „Vermögen“ aus. Stoisch an seinen aus zweiter Hand überlieferten Überlegungen ist insbesondere seine Überzeugung, dass Urteile in Affekte involviert sind. Die hierbei entscheidende Frage, wie diese Involviertheit genau zu verstehen ist, beantwortete er wohl negativ damit, dass Affekte weder mit Urteilen identisch sind noch ausschließlich auf Urteile folgen. Sein Ansatz könnte in eine etwas andere Richtung gegangen sein: Anscheinend behielt er den gefühlstheoretischen Kognitivismus der älteren Stoa bei, mäßigte seine Rigorosität aber dadurch, dass er von etwas Irrationalem und Affektivem in der Seele ausging (Galen zufolge bestand es für ihn ähnlich wie für Sokrates bzw. Platon aus einem eifrigen und begehrenden Vermögen). Nimmt man Poseidonios’ Kognitivismus ernst, kann dieses Irrationale und Affektive der Seele aber nicht aus sich selbst heraus Affekte verursachen. Ein Fall wie der des Leontios ist ausgeschlossen. Damit Affekte entstehen können, sind zusätzlich Urteile erforderlich. Und genauso wenig wie Affekte ohne weiteres entstehen können, so wenig können Urteile ohne weiteres entstehen. Vor allem der in Galens Bericht zu findende Fall, der davon handelt, dass man an einer Annahme festhält, obwohl man weiß, dass sie eigentlich falsch ist, legt nahe, dass das Irrationale und Affektive der Seele aus Poseidonios’ Sicht die treibende Kraft bei der Urteils- und Entscheidungsfindung ist. Es erzeuge einen affektiven Zug (ἡ παθητικὴ ὁλκή) zu etwas hin.207 Die ebenso bei Galen zu findende Diskussion des Phänomens, dass Affekte bisweilen nachlassen, obwohl die Meinung, dass ein Übel der Fall ist, beibehalten wird, suggeriert darüber hinaus, dass Poseidonios s
205
206 207
Vgl. Gal. PHP 4,7,33 (= Poseid. F 165) und Gal. PHP 5,6,31 (= Poseid. F 166). Poseidonios scheint mit dem „Affektiven der Seele“ auch das Phänomen erklärt zu haben, dass Menschen häufig weinen, obwohl sie nicht weinen wollen, und dass bei anderen die Tränen aufhören zu fließen, bevor sie aufhören wollen zu weinen (Vgl. Gal. PHP 4,7,37f. [= Poseid. F 165]). Vgl. Gal. PHP 5,6,31 (= Poseid. F 166). Vgl. Gal. PHP 5,5,21 (= Poseid. F 169). Poseidonios soll auch von affektiven Bewegungen (παθητικαὶ κινήσεις) gesprochen haben (vgl. Gal. PHP 5,5,23f. [= Poseid. F 153]). Jedoch ist nicht unmittelbar klar, ob sie aus seiner Sicht in die gleiche Kategorie gehören wie der affektive Zug zu etwas hin. Dafür lassen sich meines Erachtens keine eindeutigen Textbelege finden. John M. Cooper behauptet dennoch, dass sie für Poseidonios direkt vom eifrigen und begehrenden Vermögen verursacht werden und so zur Entstehung eines Affekts beitragen (vgl. Cooper 1998, S. 85 und Fußn. 31; vgl. auch Gill 1998, S. 125f., der sich Cooper anschließt).
78
Das handlungspsychologische Fundament
nur das Entstehen von Affekten an Urteile knüpft. Ihr Vergehen kann für ihn scheinbar allein von dem Zustand des Irrationalen und Affektiven in der Seele abhängen. 2
Handlungspsychologie und Gefühlslehre bei Seneca
2.1
Monismus oder Dualismus? Senecas Seelenkonzept
Nur einige wenige Stellen geben uns Aufschluss darüber, wie sich Seneca den Aufbau der Seele (animus) vorgestellt haben könnte. Der 92. Brief liefert in dieser Hinsicht die meisten Informationen. Zu Beginn legt Seneca dort fest, dass er und Lucilius darin übereinkommen werden (inter me teque conveniet), dass die Seele zum einen dienende Teile hat (partes ministrae) und zum anderen einen leitenden Teil, den er principale nennt208 – die älteren griechischen Stoiker prägten hierfür den Begriff Hegemonikon.209 Zu den dienenden Teilen rechnet er das, was uns ermöglicht, uns zu bewegen und ernährt zu werden (per quas movemur alimurque).210 Damit thematisiert er zwei Vermögen, die auch in den Berichten über die Lehren der älteren Stoa Erwähnung finden.211 Das, was uns zur Bewegung und Ernährung befähigt, ist uns, wie Seneca hinzufügt, „um des Hegemonikons willen“ gegeben (propter ipsum principale nobis datas).212 Leider erläutert er nicht weiter, was er damit meint. Vermutlich wollte er so zum Ausdruck bringen, dass das Hegemonikon dank des Bewegungsvermögens praktisch tätig werden kann, während es dank des Ernährungsvermögens erhalten werden kann.
s
208 209
210 211
212
Vgl. Sen. epist. 92,1. Schon Scott 1986, S. 78 weist auf die Synonymität von principale und ἡγεμονικόν hin, ohne aber einen Beleg dafür anzubringen: „[...] Seneca’s concept of the principale corresponds to the early Stoic notion of the soul’s ἡγεμονικόν“ (orig. Herv. entfernt). Für einen Beleg vgl. Calc. comm. 220 (= LS 53 G). Bemerkenswerterweise spricht Calcidius von anima und nicht wie Seneca von animus. Das dürfte daran liegen, dass der Begriff anima in der Spätantike gebräuchlicher war. Cicero übersetzt ἡγεμονικόν ähnlich wie Seneca und Calcidius mit principatum (vgl. Cic. nat. 2,29). Vgl. Sen. epist. 92,1. Vgl. Calc. comm. 220 (= LS 53 G): [...] partes animae [...] omnia [...] membra usque quaque vitali spiritu complent reguntque et moderantur innumerabilibus diversisque virtutibus, nutriendo, adolendo, movendo motibus localibus, instruendo sensibus, compellendo ad operandum [...] („[...] die Teile der Seele erfüllen alle Glieder durchgängig mit Lebenspneuma und regulieren und steuern sie mit unzähligen Kräften – Ernährung, Wachstum, Ortsbewegung, Sinneswahrnehmung und Handlungsantrieb“, eig. Übers.). Vgl. Sen. epist. 92,1.
Handlungspsychologie und Gefühlslehre bei Seneca
79
Über das Hegemonikon selbst sagt Seneca, es habe etwas Irrationales und etwas Rationales in sich (in hoc principali est aliquid irrationale, est et rationale).213 Diese Annahme weicht von der altstoischen Seelenlehre ab. Die älteren Stoiker spalteten das Hegemonikon nicht in einen rationalen und in einen irrationalen Teil auf, sondern schrieben ihm verschiedene Vermögen zu, nach Aëtios: Wahrnehmung, Erscheinung, Zustimmung und Antrieb.214 Das Verhältnis zwischen Irrationalem und Rationalem beschreibt Seneca ähnlich wie das zwischen Ernährung und Bewegung auf der einen Seite und Hegemonikon auf der anderen: Das Irrationale dient dem Rationalen; das Rationale wiederum steht nicht im Dienst von etwas anderem – es macht vielmehr alles von sich abhängig (omnia ad se refert).215 Ein Blick auf die Makroebene soll die Vorrangigkeit des Rationalen zusätzlich veranschaulichen: Auch hier hängt alles von der göttlichen Vernunft (divina ratio) ab.216 Der Vergleich erscheint umso legitimer vor dem Hintergrund von Senecas Überzeugung, dass die menschliche Vernunft von der göttlichen abstammt (ex illa est).217 Aber anstatt noch mehr in die psychologische Feinanalyse einzutauchen, führt er ein neues Thema ein. Ihn interessiert nunmehr, was die Ausbildung der Vernunft (ratio) mit dem glücklichen Leben (vita beata) zu tun hat.218 Nur an einer Stelle des 92. Briefes kommt er zu seinem Ausgangsthema für einen Moment zurück. Eher nebenbei bemerkt er:219 Irrationalis pars animi duas habet partes, alteram animosam, ambitiosam, impotentem, positam in affectibus, alteram humilem, languidam, voluptatibus deditam [...]. Der irrationale Teil der Seele hat zwei Teile: Der eine ist mutig, eifrig, ungestüm, neigt zu Affekten, der andere ist niedrig, schlaff, den Lüsten zugewandt […].
An dieser Bemerkung fällt zunächst auf, dass Seneca das Irrationale als Teil der Seele und nicht mehr wie zuvor als Teil des Hegemonikons ansieht. Wenn aber ein Teil des Hegemonikons irrational ist, es selbst aber ein Teil der Seele ist, dann kann man auch sagen, dass ein Teil der Seele irrational ist. Außerdem geht aus der Textpassage hervor, dass Seneca einen Unterschied zwischen Affekten (affectus) und Lüsten (voluptates) macht, der ganz unorthodox ist. Normalerweise versteht er Lust als einen Affekt.220 s
213
214 215 216 217 218 219 220
Sen. epist. 92,1. Seneca dürfte hier das Hegemonikon erwachsener Menschen im Blick haben. Wie noch zu sehen sein wird, denkt er nämlich, dass auch Tiere ein Hegemonikon haben, das aber nicht vernünftig ist. Vgl. S. 49. Auch hier ist wieder das Hegemonikon erwachsener Menschen gemeint. Vgl. Sen. epist. 92,1. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Ab ebd., 92,2. Senecas Übergang von rationale zu ratio ist, denke ich, unproblematisch. Εbd., 92,8, eig. Übers. Vgl. S. 91f.
80
Das handlungspsychologische Fundament
Der hervorstechende Punkt in der Textpassage ist aber, dass Seneca den irrationalen Teil der Seele nochmals in zwei Teile unterteilt. Terminologisch betrachtet ähneln sie dem eifrigen und begehrenden Seelenteil aus dem vierten Buch von Platons Politeia: Die Attribute animosa und ambitiosa haben eine ähnliche Bedeutung wie thymoeides; die Junktur humilis, languida, voluptatibus dedita könnte eine Entsprechung zu epithymêtikon sein, auch wenn es in der Forschung dazu unterschiedliche Einschätzungen gibt.221 Relativ eindeutig sagen lässt sich aber, was Seneca mit dieser Zweiteilung des irrationalen Seelenteils bezweckt: Er will zu verstehen geben, dass für die Epikureer das glückliche Leben nicht in der Vervollkommnung der ratio besteht; für sie sei die Voraussetzung dafür vielmehr der irrationale Seelenteil. Und als wäre dies nicht schon genug – die Epikureer machten unser Glück auch noch von dem schlechteren der beiden irrationalen Teile abhängig: „[...] [D]en erstgenannten ungezügelten, gleichwohl besseren, gewiss aber beherzteren und eines Mannes würdigeren, ließen sie außer Acht, den letzteren kraftlosen, verächtlichen (enervem et abiectam) betrachteten sie als unentbehrlich für ein glückliches Leben.“222 Es ist schwierig auszumachen, ob Seneca die Unterteilung des Hegemonikons in einen rationalen und einen zweigeteilten irrationalen Teil nur vornimmt, um eine gute Angriffsposition gegen das epikureische Glücksverständnis zu haben, oder ob er eine solche Unterteilung tatsächlich vertritt. Inwoods Interpretation geht in die erste Richtung.223 Sein Hauptpunkt ist, dass der gesamte 92. Brief auf einer Übereinkunft zwischen Seneca und Lucilius beruht, die nicht impliziert, dass Seneca das, worin beide übereinkommen, auch glaubt (wie wenn man beispielsweise einem christlichen Freund in einer Diskussion zugesteht, dass Gott seinen Sohn auf die Welt geschickt hat, damit er uns von unseren Sünden befreit – das Zugeständnis muss nicht bedeuten, dass man den Glauben des christlichen Freundes auch teilt). Der Grund, warum Seneca im Hegemonikon etwas Irrationales verortet und dieses Irrationale selbst wiederum in zwei Teile zergliedert, sei, dass er sich mit den Platonikern gegen die Epikureer verbünden will, denn beide – sowohl die Stoiker als auch die Platoniker – sahen in der ratio die entscheidende Glücksquelle. Hätte er seine Argumentation lediglich auf das komplexere stoische Seelenmodell gestützt, wäre sie weniger überzeugend gewesen; außerdem lebte s
221
222 223
Für Inwood besteht eine Übereinstimmung; dennoch glaubt er nicht, dass Seneca die psychologischen Prämissen Platons übernommen hat (vgl. Inwood 2005, S. 40). Asmis hingegen sieht keine Übereinstimmung (vgl. Asmis 2015, S. 229). Scott sieht die Abweichung von Platon wiederum an anderer Stelle: „Plato [...] keeps the irrational power discrete from the rational“ (vgl. Scott 1986, S. 83). Die Abweichung besteht ihm zufolge also darin, dass Platon das Rationale und Irrationale strikt trennt und nicht wie Seneca in dieselbe vernünftige Instanz – das Hegemonikon – verlegt. Ciceros Benennung von Platons drei Seelenteilen im Lateinischen hilft hier nur wenig weiter. Er nennt sie principatum/ratio, ira und cupiditas (vgl. Cic. Tusc. 1,20). Vgl. Sen. epist. 92,8, Übers. Gunermann et al., Rechtschr. angepasst. Vgl. Inwood 2005, S. 38–41.
Handlungspsychologie und Gefühlslehre bei Seneca
81
er, wie Inwood unterstreicht, in einem soziokulturellen Umfeld, das von platonischem Gedankengut geprägt war, und konnte deswegen auf größere Zustimmung hoffen, wenn er Platon für seine Argumentation heranzieht. Hat Seneca Platons Psychologie also nur zu rhetorischen Zwecken eingesetzt? Nein, meint Inwood: Er akzeptiere einen unter Stoikern nicht unbeliebten Leib-Seele-Dualismus,224 der nicht mit dem psychologischen Dualismus zu verwechseln ist. Inwood verweist hier auf zwei Stellen im 71. Brief, auf die ich im Folgenden näher eingehen möchte:225 Non educo sapientem ex hominum numero nec dolores ab illo sicut ab aliqua rupe nullum sensum admittente summoveo. Memini ex duabus illum partibus esse compositum: altera est irrationalis, haec mordetur, uritur, dolet; altera rationalis, haec inconcussas opiniones habet, intrepida est et indomita. In hac positum est summum illud hominis bonum. Nicht hebe ich die weise Person aus der Zahl der Menschen heraus oder billige ihr keine Schmerzen zu wie irgendeinem Felsen, der keine Empfindung hat. Ich weiß genau, dass sie aus zwei Teilen zusammengesetzt ist: Der eine ist vernunftlos – er wird verletzt, gebrannt, empfindet Schmerz; der andere ist vernunftbegabt – er hat unerschütterliche Überzeugungen, ist unerschrocken und unbezwinglich. In diesem Teil ist jenes höchste Gut des Menschen angesiedelt.
Seneca denkt, dass alle Menschen, die weisen eingeschlossen, aus einem vernunftlosen und einem vernunftbegabten Teil bestehen (pars irrationalis/pars rationalis).226 Hinter dem vernunftlosen Teil verbirgt sich aber kein irrationaler Seelenteil. Das lässt sich daraus ableiten, dass er sagt, dieser Teil könne verletzt und gebrannt werden. Er kann damit nur den Leib bzw. Körper meinen. Der vernunftbegabte Teil stellt dagegen die Seele dar, die bei einer weisen Person in einem so vortrefflichen Zustand ist, dass sie von ihren Überzeugungen nicht mehr abrückt und durch nichts mehr erschüttert werden kann. Es handelt sich hier also um einen Leib-Seele- und um keinen psychologischen Dualismus.227 Die Implikationen dieses Leib-Seele-Dualismus werden wenige Zeilen später deutlich:228
s
224
225 226
227 228
Vgl. auch S. 163 und Fußn. 14 sowie Rist 1989, S. 2001: „[…] [I]t is clear that in early Stoicism the distinction between body and soul is more than merely conceptual. […] we do not find tripartition in Seneca, but a dualism of body and mind […].“ Sen. epist. 71,27, Übers. Loretto et al., modifiziert. Das illum im zweiten Satz bezieht sich nicht auf ein latentes animum, wie Zöller fälschlicherweise annimmt (vgl. Zöller 2003, S. 134 und Smith 2004), sondern auf das im ersten Satz enthaltene sapientem. Vgl. dazu auch Smith 2014, S. 356f. Sen. epist. 71,29, Übers. Gunermann et al., modifiziert.
82
Das handlungspsychologische Fundament Ne extra rerum naturam vagari virtus nostra videatur, et tremet sapiens et dolebit et expallescet; hi enim omnes corporis sensus sunt. Ubi ergo calamitas, ubi illud malum verum est? illic scilicet, si ista animum detrahunt [...]. Damit es nicht so aussieht, als ob unsere Tugend außerhalb des Bereichs der Natur umherschweift: Die weise Person wird zittern, Schmerz empfinden und erblassen; all dies sind nämlich Empfindungen des Körpers. Wo ist also das Unglück, wo jenes wahre Übel? Dort natürlich, wenn diese Dinge die Seele niederdrücken [...].
Weil die weise Person wie alle anderen Menschen einen Körper hat, kann sie ebenso zittern, Schmerz empfinden und erblassen. Seneca bezeichnet diese Phänomene ausdrücklich als Empfindungen des Körpers, das bedeutet: Ihre Ursache liegt nicht in der Seele, sondern im Körper. Deswegen nimmt er auch keine Unterteilung in rein physische und psychophysische Widerfahrnisse vor, wie es Poseidonios getan haben soll.229 Er würde keinen Unterschied machen zwischen einem der Kälte geschuldeten Zittern und einem Zittern, das aufgrund von Lampenfieber entsteht. Zahnschmerz oder Kränkungsschmerz, Blässe wegen einer Magenverstimmung oder wegen eines Schrecks – all das wären für ihn nichts weiter als körperliche Empfindungen. Die ethische Schlussfolgerung, die er aus ihrer mit dem menschlichen Dasein zwangsläufig einhergehenden Existenz zieht, ist, dass das Unglück und die Übel mit dem Körper zu tun haben, insofern man sich von seinen Empfindungen bestimmen lässt. Diese ganze Argumentationslinie erinnert stark an Platons Phaidon. Nicht nur der Gedanke, dass emotionale Regungen Sache des Körpers sind, findet sich darin wieder, sondern auch der, dass unglücklich und schlecht ist, wer dem Körper und seinen Regungen verhaftet bleibt.230 Senecas durch seinen Leib-Seele-Dualismus bedingte Reduktion emotionaler Regungen auf Empfindungen des Körpers wird in Ansätzen auch im 92. Brief sichtbar. Er kritisiert im Anschluss an seine Unterteilung des irrationalen Seelenteils die Epikureer dafür, dass sie der Vernunft befehlen, dem schlechteren der beiden irrationalen Teile, also dem kraftlosen und den Lüsten zugewandten Teil, zu dienen (huic rationem servire iusserunt).231 Dadurch verkehren sie die auf Vernunftherrschaft ausgelegte Natur des Menschen und machen ihn zu einem Wesen, dessen Teile (membra) nicht mehr zusammenpassen. Die Vernunft, und mit ihr die Weisheit, seien dem epikureischen Verständnis zufolge so an den Körper gebunden wie die schöne menschliche Gestalt einer Skylla an einen grausigen tierischen Unterleib, wobei der Skylla:232
s
229 230
231 232
Vgl. S. 75. Vgl. Plat. Phaid. 65a, 66b–d, 81b–e und 83b–e. Allerdings durchbricht Platon im Phaidon mit seinem Bild vom Kind im Mann die strenge Leib-Seele-Dichotomie (vgl. Erler 2008, S. 30; vgl. auch Erler 2004). Vgl. hier und im Folgenden Sen. epist. 92,9. Ebd., 92,9f., Übers. Gunermann et al.
Handlungspsychologie und Gefühlslehre bei Seneca
83
[...] fera animalia adiuncta sunt, horrenda, velocia: at isti sapientiam ex quibus composuere portentis? Prima pars hominis est ipsa virtus; huic committitur inutilis caro et fluida, receptandis tantum cibis habilis, ut ait Posidonius. Virtus illa divina in lubricum desinit et superioribus eius partibus venerandis atque caelestibus animal iners ac marcidum adtexitur. [...] wenigstens wilde Tiere hinzugefügt [sind], schauerliche, flinke: Doch die Leute da, aus was für Scheußlichkeiten haben sie ihre ‚Weisheit‘ zusammengestückelt? Der vornehmste Bestandteil des Menschen ist eben die Tugend; mit dieser wird das nutzlose und hinfällige Fleisch zusammengebracht, nur für die Nahrungsaufnahme tauglich, wie Poseidonios sagt. Jene göttliche Tugend landet schließlich im Sumpf, und an ihre erhabenen, verehrungswürdigen und himmlischen Teile wird ein tierisches Wesen angehängt, kraftlos und schlaff.
Es ist bezeichnend, dass Seneca den Körper – das Fleisch – ähnlich charakterisiert wie den schlechteren irrationalen Seelenteil: Er sei kraftlos und schlaff. Wie nahe er die beiden Bestandteile des Menschen aneinanderrückt, wird zudem daran ersichtlich, dass er immer noch die Glücksauffassung der Epikureer kritisiert. Sein nahtloser Übergang von der epikureischen Verortung des Glücks im schlechteren irrationalen Seelenteil zur epikureischen Bindung der Vernunft und Tugend an den Körper legt den Schluss nahe, dass für ihn kein wesentlicher Unterschied zwischen dem kraftlosen und den Lüsten zugewandten irrationalen Seelenteil und dem Körper besteht. Somit kann man festhalten, dass Seneca das Hegemonikon nur deshalb in platonischer Façon in einen rationalen und irrationalen Teil aufgliedert, weil er die epikureische Glücksauffassung veranschaulichen und sie mit Platon noch stärker in Verruf bringen will. Platon dient ihm aber nicht nur als rhetorische Unterstützung, er hatte offenbar auch einen theoretischen Einfluss auf ihn. Denn Seneca nimmt wie er eine Trennung zwischen Körper und Seele vor. Das macht Senecas Psychologie aber nicht unorthodox, denn ein Leib-Seele-Dualismus ist nichts, das seine stoischen Vorgänger prinzipiell ausgeschlossen hätten. Wie sich dieser Dualismus auf seine Affektenlehre auswirkt, wird sich insbesondere in der Untersuchung über seine Theorie der Wutgenese zeigen.233 Um dorthin zu gelangen, bedarf es allerdings einer grundlegenderen Analyse des senecanischen Handlungsund Gefühlsverständnisses. 2.2
Die senecanischen Handlungsmomente
Wie früher schon bemerkt,234 deutet der 89. Brief auf einen Einfluss der altstoischen Handlungspsychologie auf Seneca hin. Er konzipiert dort im Anschluss an s
233 234
Vgl. S. 102–113. Vgl. S. 26.
84
Das handlungspsychologische Fundament
Überlegungen zur Einteilung der Ethik die Idee eines idealen Handlungsverlaufs: Wer vollends mit sich selbst übereinstimmen will, muss stets richtig über den Wert der Dinge urteilen, einen kontrollierbaren Antrieb erzeugen und diesen mit der äußeren Handlung in Einklang bringen. Ein Sachzusammenhang zwischen diesen Handlungsmomenten und denen der älteren Stoa lässt sich allein daraus aber kaum herstellen. Um den Einfluss der altstoischen Handlungspsychologie auf Seneca vollends zu erkennen, muss der Blick erweitert werden. Der 113. Brief stellt dafür einen geeigneten ersten Anlaufpunkt dar. Lucilius zeigt sich dort zu Beginn interessiert an Senecas Meinung zu der unter Stoikern diskutierten Frage, ob Gerechtigkeit (iustitia), Tapferkeit (fortitudo), Klugheit (prudentia) und die übrigen Erscheinungsformen der Tugenden selbst Lebewesen (animalia) sind.235 Seneca hält die gesamte Debatte für eine Haarspalterei (subtilitas), die den Stoikern den Ruf eingebracht hat, ihren Scharfsinn nur noch an Nichtigkeiten zu üben. 236 Er kommt Lucilius’ Wunsch aber trotzdem nach. Einer seiner vielen Einwände gegen die Annahme, Tugenden seien Lebewesen, besteht darin, dass das Handeln eines vernunftbegabten Lebewesens charakteristische Merkmale hat, die der Tugend als solcher nicht zukommen. Und an dieser Stelle stellt er einige handlungspsychologische Überlegungen an:237 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei irritatum est, deinde impetum cepit, deinde assensio confirmavit hunc impetum. Quid sit assensio dicam. Oportet me ambulare: tunc demum ambulo cum hoc mihi dixi et approbavi hanc opinionem meam; oportet me sedere: tunc demum sedeo. Jedes vernunftbegabte Lebewesen handelt nur dann, wenn es durch die Erscheinung von irgendeiner Sache angeregt wird, daraufhin einen Antrieb entwickelt und schließlich die Zustimmung diesen Antrieb bekräftigt. Was die Zustimmung ist, will ich sagen. Ich soll spazieren gehen: Dann erst gehe ich spazieren, wenn ich es mir gesagt und diese meine Meinung gebilligt habe. Ich soll sitzen: Dann erst sitze ich.
Auch für Seneca beginnt die Handlung eines vernunftbegabten Lebewesens mit einer Erscheinung (species),238 die eine Erscheinung von irgendeiner Sache ist s
235
236 237 238
Vgl. Sen. epist. 113,1. Vgl. auch Stob. anthol. 2,65,1–4: Βούλονται δὲ καὶ τὴν ἐν ἡμῖν ψυχὴν ζῷον εἶναι, ζῆν τε γὰρ καὶ αἰσθάνεσθαι· [...] Διὸ καὶ πᾶσαν ἀρετὴν ζῷον εἶναι [...] („Sie wollen aber auch, dass die Seele in uns ein Lebewesen ist, denn sie lebe und nehme wahr. [...] Deshalb sei auch jede Tugend ein Lebewesen“, eig. Übers.). Vgl. Sen. epist. 113,1. Ebd., 113,18, eig. Übers. Leider findet sich keine Stelle, aus der eindeutig hervorgeht, dass species Senecas Übersetzung für φαντασία ist. Hans v. Arnim merkt in den Stoicorum veterum fragmenta mit Blick auf Sen. epist. 113,18 ohne weitere Begründung an: „species = φαντασία“ (vgl. SVF 3,168). Auch Jula Wildberger scheint in species das lateinische Äquivalent für φαντασία zu sehen (vgl. das Nachwort zu ihrer Übersetzung von Senecas Schrift De
Handlungspsychologie und Gefühlslehre bei Seneca
85
(alicuius rei). Was die Sache ist, erläutert er nicht weiter, sodass ungewiss bleibt, ob er darunter wie die älteren Stoiker etwas Vorhandenes (ὑπάρχον) oder Nichtvorhandenes (μὴ ὑπάρχον) versteht. Die Erscheinung regt das vernunftbegabte Lebewesen an (irritare). Genauer könnte man sagen: Sie regt es an, etwas zu tun. Insofern handelt es sich von der Sache her um eine antreibende Erscheinung (φαντασία ὁρμητική), auch wenn Seneca eine andere Terminologie verwendet. Auf die antreibende Erscheinung folgt die Entwicklung eines Antriebs (impetum capere).239 Seine volle Kraft entfaltet der Antrieb aber nicht von allein, sondern erst dann, wenn das vernunftbegabte Lebewesen seine Zustimmung (assensio) gegeben hat – vorher handelt es sich sozusagen nur um einen „Vorantrieb“.240 Aus Senecas Gedankengang geht sogar relativ deutlich hervor, was der Gegenstand der Zustimmung ist. Es ist nicht der sich anbahnende Antrieb, wie man mit Blick auf die Äußerung, dass die Zustimmung den Antrieb bekräftigt (assensio conformavit s
239
240
ira, S. 307), begründet dies aber ebenfalls nicht weiter. Cicero lässt sich hierfür nicht als Gewährsmann anführen, denn er übersetzt φαντασία nicht mit species, sondern mit visum, vgl. Cic. ac. 1,40, wo er Varro folgende Worte in den Mund legt: Plurima autem in illa tertia philosophiae parte mutavit [sc. Zeno]. In qua primum de sensibus ipsis quaedam dixit nova, quos iunctos esse censuit e quadam quasi impulsione oblata extrinsecus, quam ille φαντασίαν, nos visum appellemus licet […] („Das meiste aber änderte er [Zenon] in jenem dritten Teil der Philosophie. In ihm lehrte er zunächst einmal über die Sinneswahrnehmungen Neues. Er war der Ansicht, sie kämen zustande durch eine Art Anstoß von außen, den er φαντασία nennt, was wir mit visum wiedergeben können“, Übers. Straume-Zimmermann). Aulus Gellius berichtet später von einem berühmten stoischen Philosophen, ohne seinen Namen zu nennen, der aus einem Reisebündel (ex sarcinula) das uns nicht erhaltene fünfte Buch von Epiktets Diatriben (hier: διαλέξεις) hervorholte (vgl. Gell. noct. Att. 19,1,4, 14). Er zitiert eine Passage daraus und übersetzt offenbar wie Cicero φαντασία mit visum (er spricht genau genommen von den visa animi, vgl. ebd., 19,1,15). Von ihnen werde der menschliche Verstand gleich beim ersten Anblick einer Sache, wenn sie bis zur Seele vordringt, getroffen (quibus mens hominis prima statim specie accidentis ad animum rei pellitur, vgl. ebd.). So wie es Gellius darstellt, scheinen für Epiktet species und visum aber nicht bedeutungsgleich zu sein. Es sieht eher so aus, als sei eine species für ihn ein visueller Wahrnehmungsakt, ein visum dagegen das, was dadurch in der Seele bzw. im Verstand zurückbleibt. Ob die Entwicklung des Antriebs ihrerseits von weiteren Zustimmungen abhängt, geht aus der Passage nicht hervor, man kann aber davon ausgehen. Vgl. Meyer 2017, S. 114: „What Seneca here refers to as „entertaining an impulse“ (impetum cepit) may be the process that Origen describes as reason ‚juding impressions‘ (κρίνοντα τὰς φαντασίας – Princ. 3.1.3) […].“ Für eine ähnliche Deutung vgl. Müller 2018, S. 445f., Fußn. 50: „Dass der Impuls hier schon an zweiter Stelle, also noch vor der Zustimmung, ins Spiel kommt, verweist darauf, dass bei Handlungen eine phantasia hormêtikê vorliegt, die bereits eine Art ‚Vorimpuls‘ mit sich bringt. Dieser wird aber erst durch die Zustimmung zum handlungsleitenden Impuls, ebenso wie eine unwillkürliche propatheia erst durch Zustimmung zum voll ausgebildeten Affekt wird.“ Auch Graver 2014a, S. 266 stellt die Parallele zur φαντασία ὁρμητική her.
86
Das handlungspsychologische Fundament
hunc impetum), denken könnte; es sind offenbar Aussagen, die eine normative Form aufweisen („Ich soll [oportet] spazieren gehen“, „Ich soll sitzen“)241 – sie wären obsolet, wenn sich die Zustimmung direkt auf den sich anbahnenden Antrieb bezöge. Mit diesen Aussagen bringt Seneca, indem er sie zu sich sagt, den phänomenalen Gehalt einer antreibenden Erscheinung zum Ausdruck. In Anlehnung an Diogenes Laertios’ Bericht über die Lehren der älteren Stoiker könnte man etwas präziser sagen: Seneca drückt mit seinem Verstand das aus, was er unter der Erscheinung passiv erfahren hat 242 – im Text ist davon jedoch keine Rede. Mit der Zustimmung zu einer normativen Aussage,243 mit der er den phänomenalen Gehalt einer antreibenden Erscheinung zum Ausdruck gebracht hat, entfaltet sein sich anbahnender Antrieb seine volle Kraft. Zugleich bringt Seneca auf diese Weise aber auch eine Handlung zustande: Die Zustimmung zur normativen Aussage „Ich soll spazieren gehen“ führt dazu, dass er spazieren geht (sofern nichts dazwischenkommt); die Zustimmung zur normativen Aussage „Ich soll sitzen“ führt dazu, dass er sich hinsetzt (sofern nichts dazwischenkommt). Der Kausalzusammenhang zwischen Antrieb und Handlung ist nicht ganz offensichtlich. Wenn aber, wie Seneca hier sagt, eine Zustimmung zugleich zu einem Antrieb im eigentlichen Sinne und zu einer Handlung führt, dann scheinen Antrieb und Handlung für ihn sehr nahe beieinander zu liegen. Vom Zustandekommen einer Handlung bzw. Bewegung bei nichtvernunftbegabten Lebewesen muss Seneca eine andere Vorstellung gehabt haben. 244 Wie Menschen sind auch Tiere (animalia) mit einem Hegemonikon (principale) ausgestattet.245 Das Hegemonikon ist in ihrem Fall aber anders gebaut (aliter ductum): Es weist keine ganz so feine (subtile) und genaue (exactum) Struktur auf.246 Deswegen haben Tiere zwar eine Stimme, „[…] aber nur eine unartikulierte und konfuse, die keine Wörter hervorbringen kann“.247 Weil sie mit einem Hegemonikon ausgestattet sind, können sie zudem Dinge wahrnehmen, Erscheinungen von ihnen
s
241 242 243
244
245
246 247
Das oportet entspricht dem griechischen καθῆκον (vgl. Stevens 1996, S. 10). Vgl. DL 7,49 und S. 35. Seneca spricht streng genommen nicht von einer Aussage, sondern von einer Meinung (opinio). Er bezeichnet das als Meinung, was er zu sich sagt. Wenn man etwas zu sich sagt, dann hat man aber eigentlich noch keine Meinung zu dem, was man zu sich sagt – dessen muss sich auch Seneca bewusst gewesen sein. Aus diesem Grund lese ich ihn hier schwächer und interpretiere ihn so, als ob er über Aussagen spricht, und de facto tut er das auch. Es gibt keine Anhaltspunkte, die eine Klärung der Frage zuließen, ob für Seneca auch das Verhalten eines Tieres eine actio ist oder nicht. Vgl. Sen. dial. 3,3,7 (= de ira 1,3,7). Dieser Auffassung waren schon die älteren Stoiker (vgl. Ar. Did. epit. phys. F 39 [= DG 471,11] und S. 54, Fußn. 89, in der ich eine Übersetzung anbiete). Vgl. Sen. dial. 3,3,7 (= de ira 1,3,7). Vgl. ebd., Übers. Wildberger, modifiziert.
Handlungspsychologie und Gefühlslehre bei Seneca
87
haben (visus speciesque rerum capere)248 und auch zu Antrieben angeregt werden (ad impetus evocari).249 Wegen der eigentümlichen Beschaffenheit ihres Hegemonikons sind ihre Erscheinungen aber trübe und verworren (turbidae et confusae).250 Bedauerlicherweise geht Seneca hier nicht weiter in die Tiefe. Aus seinen Äußerungen können jedoch einige Schlussfolgerungen gezogen werden, bringt man sie mit seinen Überlegungen im 113. Brief in Verbindung. So handelt bzw. bewegt sich ein vernunftloses Lebewesen seiner Auffassung nach vermutlich ebenfalls nur dann, wenn es irgendeine Sache wahrnimmt und von der Erscheinung derselben angeregt wird. Allerdings stellt sich hier die schwierige Frage, ob sich der tierische Antrieb, der sich daraufhin entwickelt, automatisch in die Tat umsetzt. Von Zustimmungen kann dessen Entwicklung aus Senecas Sicht nicht abhängen; er schließt ausdrücklich aus, dass Tiere Affekte haben können,251 die, wie er meint, nur dort vorkommen, wo es auch Vernunft gibt und mit ihr – so der implizite Gedanke – ein Zustimmungsvermögen.252 Aber so wie es Quasi-Affekte geben kann,253 könnte es auch Quasi-Zustimmungen geben. Sie könnten jedoch nicht im gleichen Maße frei sein wie echte Zustimmungen, weil ihnen keine Vernunft zugrunde läge. Darüber hinaus ist sehr fraglich, ob wirklich alle Tiere damit begabt wären. Und was könnte ihr Gegenstand sein? Tieren fehlt laut Seneca jegliche Sprachfähigkeit, weswegen er sie häufig auch stumme Tiere (muta animalia) nennt.254 Die Quasi-Zustimmung könnte sich in Anbetracht dessen ohne sprachliche Vermittlung direkt auf den phänomenalen Gehalt einer Erscheinung beziehen. Man könnte allerdings auch näher an der altstoischen Handlungspsychologie bleiben und argumentieren, dass ebenso Quasi-Zustimmungen immer sprachliche Entitäten zum Gegenstand haben. Im Unterschied
s
248
249
250 251
252 253
254
Ich stütze mich hier auf die Übersetzung von Wildberger. Sie suggeriert, dass visus für Seneca visuelle Wahrnehmungsakte sind, während eine species das ist, was davon in der Seele bzw. im Verstand bzw. im Hegemonikon zurückbleibt. Es verhält sich somit genau andersherum als bei dem, was Gellius von Epiktet berichtet (vgl. Gell. noct. Att. 19,1,15 und S. 84, Fußn. 238). Vgl. Sen. dial. 3,3,7 (= de ira 1,3,7). Ob alle Tiere Erscheinungen haben, lässt sich mit Seneca ebenso wenig beantworten wie mit den älteren Stoikern (vgl. S. 54, Fußn. 91). Vgl. Sen. dial. 3,3,7 (= de ira 1,3,7). Vgl. Sen. dial. 3,3,4 (= de ira 1,3,4), Sen. dial. 3,3,6 (= de ira 1,3,6) und Sen. dial. 3,3,8 (= de ira 1,3,8). Vgl. auch Cic. Tusc. 4,31. Vgl. Sen. dial. 3,3,4 (= de ira 1,3,4). Vgl. Sen. dial. 3,3,6 (= de ira 1,3,6), wo Seneca anmerkt, dass Tiere affektähnliche Antriebe haben. Auch Kinder empfänden keine echte Wut, sondern „Quasi-Wut“ (quasi ira, vgl. Sen. dial. 3,2,5 [= de ira 1,2,5]). Sie wissen oft nicht einmal, warum sie wütend werden, sondern werden es ohne Grund, ohne dass ihnen ein Unrecht geschehen wäre. Allerdings haben sie irgendeine Erscheinung von einem Unrecht, und deswegen entwickeln sie auch eine Art Wut. Vgl. Sen. dial. 3,3,6 (= de ira 1,3,6) sowie Sen. epist. 124,8, 16, 19, 20, 22.
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Das handlungspsychologische Fundament
zu Seneca müsste man den Tieren, die sie womöglich geben können, dann aber eine rudimentäre Form von Sprache zugestehen.255 2.3
Gibt es bei Seneca eine Systematik der Affekte und guten Gefühle?
Senecas handlungspsychologische Überlegungen sind integraler Bestandteil seiner Erklärung, wie ein Affekt entsteht. Am meisten interessiert er sich für die Entstehung von Wut. Bevor seine Ausführungen dazu analysiert werden, erscheint es jedoch sinnvoll, einen Überblick über die von ihm thematisierten Affekte und guten Gefühle zu geben. Da er sie im Gegensatz zu den älteren Stoikern an keiner Stelle überblicksartig in Genus oder Art einteilt,256 sondern vielmehr hie und da auf sie zu sprechen kommt, habe ich mich im Folgenden an der Systematik der älteren Stoa orientiert. Das heißt, ich trage zuerst zusammen, was Seneca über die Begierde bzw. das Wünschen sagt; danach tue ich dasselbe im Hinblick auf Furcht und Vorsicht, Lust und Freude sowie Kummer. Bemerkungen seinerseits zu Gefühlsunterarten werden dabei ebenso berücksichtigt und dann behandelt, wenn das entsprechende generische Gefühl behandelt wird. Die Begierde steht als generischer Affekt weniger in Senecas Fokus. Sein Interesse gilt vielmehr einigen ihrer Unterarten. Zu ihnen gehört in erster Linie die Wut (ira),257 die er als besonders starken Affekt versteht. Während sich andere Affekte zurückhalten lassen, tritt sie hervor und zeigt sich im äußeren Erscheinungsbild.258 Genauer definiert er sie als „[…] das unbändige Verlangen nach Rache für ein Unrecht […]“.259 Er zitiert auch Poseidonios’ Definition, die etwas gehaltvoller als seine eigene ist. Poseidonios soll gesagt haben, Wut sei „[…] das unbändige Verlangen, denjenigen zu bestrafen, von dem man sich zu Unrecht verletzt glaubt“.260 s
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256 257
258 259
260
Vgl. auch Brittain 2003, S. 263: „[…] [T]here must be some sense in which animals have something analogous to concepts, what I will call ‚quasi-concepts‘.“ Nur so sei verständlich, warum tierische antreibende Erscheinungen evaluativ sind. Für Brittains Erläuterung, was „quasi-concepts“ sind, vgl. ebd., S. 265f. Margaret Graver macht dieselbe Feststellung (vgl. Graver 2014a, S. 267). Ihr entspricht im Griechischen die ὀργή (vgl. S. 62). Nach Wacht 1998, S. 532 ordnet Seneca der Begierde noch die Hoffnung zu. Zugleich merkt er unter Verweis auf Spira 1987 an, dass der Begriff ἐλπίς in den Quellen zur älteren Stoa nicht ausdrücklich als Affekt definiert wird (vgl. ebd., Fußn. 88). Vgl. Sen. dial. 3,1,5 (= de ira 1,1,5). Vgl. Lact. ira 17,13 (= Sen. dial. 3,2,3b = de ira 1,2,3b): Ira est inquit [sc. Seneca] cupiditas ulciscendae iniuriae […] (Übers. Wildberger). Vgl. Lact. ira 17,13 (= Sen. dial. 3,2,3b = de ira 1,2,3b = Poseid. F 155): Ira est […], ut ait Posidonius, cupiditas puniendi eius a quo te inique putes laesum (Übers. Wildberger, modifiziert). Wie Wildberger in ihrer siebten Anmerkung zu ihrer Übersetzung von Senecas Schrift De ira feststellt, scheinen auch andere stoische Wut-Definitionen dasselbe besagt zu haben. Als Belegstellen führt sie Cic. Tusc. 4,21 und DL 7,113 an.
Handlungspsychologie und Gefühlslehre bei Seneca
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Zudem weiß Seneca, dass die Griechen (Graeci) die Wut nochmals unterteilten.261 Auf die von ihnen vorgeschlagenen Unterarten geht er aber nicht weiter ein, weil sie aus seiner Sicht keine Entsprechungen im Lateinischen haben (apud nos vocabula sua non habent).262 Bei Stobaios lässt sich nachlesen, dass die älteren Stoiker den Zorn (θυμός), die bittere Wut (χόλος), den Groll (μῆνις), den Hass (κότος) und die Verbitterung (πικρίαι) dazurechneten. 263 Möglicherweise meint Seneca genau sie. Obwohl er auf diese Unterarten nicht eingeht, fügt er hinzu, dass auch den Römern verschiedene Arten von Wut (irarum differentiae) bekannt sind,264 die bei genauerem Hinsehen jedoch eher den Charakter von Dispositionen haben: Die Römer sprechen vom „Reizbaren“ (amarus), „Griesgrämigen“ (acerbus), „Übellaunigen“ (stomachosus), „Grimmigen“ (rabiosus), „Spröden“ (difficilis), „Ungeschliffenen“ (asper) und „Mürrischen“ (morosus).265 Abgesehen von diesen definitorischen Aspekten sagt Seneca etwas zur Interdependenz zwischen der Wut und anderen Affekten. Erinnert man sich an die gefühlstheoretischen Grundlagen der älteren Stoa, würde man erwarten, dass Lust entsteht, sobald die als Unrecht erscheinende Tat vergolten worden ist (Vergeltung ist in diesem Zusammenhang das scheinbare Gut, das man zuerst begehrt und dann erlangt hat). Laut Seneca löst sich alle Wut in letzter Konsequenz aber nicht in Lust, sondern in Traurigkeit (tristitia) auf.266 Und bevor sie das tut, kann auch noch etwas anderes geschehen: Es ist möglich, dass sie in ihrer Entfaltung von einem anderen Affekt gestört wird
s
261 262 263
264 265
266
Vgl. ergänzend dazu Ps.-Andronicus (SVF 3,397). Im Rahmen seiner stoischen Argumentation innerhalb des dritten Buches seiner Tusculanen charakterisiert Cicero (bzw. „M“) den Wütenden ähnlich. Er sei jemand, der den Wunsch hat, „[…] dem, von dem er verletzt worden zu sein glaubt, einen möglichst großen Schmerz zuzufügen“ (proprium est enim irati cupere, a quo laesus videatur, ei quam maxumum dolere inurere, Cic. Tusc. 3,19, Übers. Kirfel). Der Umstand, dass diese Charakterisierung in typisch stoischen argumenta auftaucht, spricht ebenfalls für eine unter Stoikern verbreitetere Wut-Definition. Vgl. Sen. dial. 3,4,2 (= de ira 1,4,2). Vgl. ebd. Etwas später spricht er auch von den species der Wut. Vgl. Stob. anthol. 2,91,1f. und Fußn. 126. Dass die älteren Stoiker diese Unterteilung vornahmen, legt die Überschrift des Kapitels nahe, in dem sie sich findet. Sie lautet: Ζήνωνος καὶ τῶν λοιπῶν Στωικῶν δόγματα περὶ τοῦ ἠθικοῦ μέρους τῆς φιλοσοφίας („Die Lehren Zenons und der übrigen Stoiker über den ethischen Teil der Philosophie“, eig. Übers.). Vgl. Sen. dial. 3,4,2 (= de ira 1,4,2). Vgl. ebd. (eig. Übers.). Vgl. auch Cic. Tusc. 4,54: „Zu Recht […] haben unsere Landsleute (nostri) […] Jähzornige allein mürrisch [morosos] genannt“ (Übers. Kirfel, modifiziert). Vgl. Sen. dial. 4,6,2 (= de ira 2,6,2): [...] in hanc [sc. tristitiam] omnis ira vel post paenitentiam vel post repulsam revolvitur („[...] und diese ist es [die Traurigkeit], in die sich schließlich alle Wut auflöst, sei es infolge eintretender Reue oder infolge erlittener Niederlage“, Übers. Apelt, modifiziert).
90
Das handlungspsychologische Fundament
– wer in Wut gerät und dann zum Beispiel von Furcht ergriffen wird, lässt sein Racheobjekt unversehrt.267 Dass dem Affekt der Begierde ein gutes Gefühl gegenübersteht, scheint Seneca ebenso wie die älteren Stoiker angenommen zu haben. Aber er thematisiert auch hier wieder eher Unterarten des generischen Gefühls anstatt es selbst. Dazu kommt, dass er im Vergleich zur Wut nicht im mindesten ins Detail geht. Im 81. Brief verkündet er am Rande seiner Abhandlung über Wohltaten: „[...] [W]ir sagen: Nur die weise Person verstehe es, zu lieben [...]“ (solus sapiens scit amare).268 Wie seine Formulierung „wir sagen“ (dicimus) zu erkennen gibt, handelt es sich um eine Ansicht, die unter Stoikern weit verbreitet gewesen sein muss,269 doch bleibt im Dunkeln, wie sie zu deuten ist. Was hat es mit der Liebe Seneca und anderen Stoikern zufolge auf sich?270 Und warum denken sie, dass sie nur Menschen empfinden, die die Weisheit erlangt haben?271 Furcht beschreibt Seneca als einen Affekt, der mit einer Fluchtbewegung einhergeht (timor fugam habeat).272 Insofern unterscheidet sie sich von der Wut, die, wie er sagt, ein Antrieb zu etwas hin ist.273 Außerdem gehört die Furcht (diesmal: metus) zu den Affekten, die sich schwer verbergen lassen.274 Sie macht sich durch charakteristische Anzeichen bemerkbar und kann deshalb im Vorhinein erkannt s
267 268 269
270
271
272
273 274
Vgl. Sen. dial. 3,8,7 (= de ira 1,8,7). Vgl. Sen. epist. 81,12. Vgl. die Tabelle der guten Gefühle auf S. 64, in der die Liebe (ἀγάπησις) für eine besondere Art des Wünschens (βούλησις) steht. Alles, was wir wissen, ist, dass die älteren Stoiker die Liebe des Weisen (amor) als Versuch gedeutet haben sollen „[…] Freundschaft zu schließen aufgrund des Anblicks der Schönheit“ (conatum amicitiae faciendae ex pulchritudinis specie, Cic. Tusc. 4,72, Übers. Kirfel). Bei Diogenes Laertios und Stobaios findet sich dieselbe Definition, wobei sie bei ihnen jedoch keinem guten Gefühl gilt. Laut Diogenes ist die Liebe (ἔρως) eine Begierde (ἐπιθυμία) und der „[…] Versuch Freundschaft zu schließen aufgrund der zutage tretenden Schönheit“ (ἐπιβολὴ φιλοποιΐας διὰ κάλλος ἐμφαινόμενον, DL 7,113, eig. Übers.). Nachdem Stobaios nacheinander die Unterarten der Begierde definiert hat (erst die Wut, dann ihre Unterarten), definiert er die heftige sexuelle Liebe (ἔρωτες σφοδροί; vgl. Stob. anthol. 2,91,2), die er nun verkürzt mit „Liebe“ (ἔρως) wiedergibt, wie Diogenes als ἐπιβολὴ φιλοποιίας διὰ κάλλος ἐμφαινόμενον (ebd., 2,91,15f.). Wie kann es sein, dass zwei kategorial verschiedene Gefühle auf dieselbe Weise definiert werden? Inwood vermutet, dass der Begriff der Schönheit (κάλλος) äquivok ist: Die nichtweise Liebe beziehe sich auf die physische Schönheit, die weise dagegen auf die charakterliche (vgl. Inwood 1997, S. 64). Andererseits ist vorstellbar, dass die Sekundärquelle, die Diogenes und Stobaios benutzten, fehlerhaft war. Für eine Beschreibung der nichtweisen Liebe, die Panaitios gegeben haben soll, vgl. Sen. epist. 116,5 und Inwood 1997, S. 60f. Vgl. Sen. dial. 4,3,5 (= de ira 2,3,5). Ansonsten findet sich in seinen Schriften keine exakte Definition der Furcht bzw. Angst (vgl. Wacht 1998, S. 512). Vgl. Sen. dial. 4,3,5 (= de ira 2,3,5). Vgl. Sen. dial. 3,1,7 (= de ira 1,1,7).
Handlungspsychologie und Gefühlslehre bei Seneca
91
werden.275 Das alles, und dass sie die Wut in ihrer Entfaltung stören kann, spricht dafür, dass Seneca auch die Furcht als einen starken Affekt versteht. Entsprechend der altstoischen Lehre von den guten Gefühlen steht der Furcht laut Seneca die Vorsicht (cautio) gegenüber. Das vermittelt seine Erwiderung auf den Einwand der Peripatetiker, die weise Person könne aufgrund ihrer Apathie keine Gefahren wahrnehmen.276 Natürlich sei das möglich: Zwar empfindet sie keine Furcht (hier wieder: timor), dafür aber Vorsicht.277 Deshalb liefert sie sich nicht blindlings Gefahren aus. Ebenso wenig klammert Seneca die von den älteren Stoikern als resultativ deklarierten Affekte aus, wie zum Teil aus dem 59. Brief hervorgeht. Dort bekundet er zunächst, es sei ihm eine wahre Lust gewesen, Lucilius’ Brief zu lesen (magnam ex epistula tua percepi voluptatem), weist sogleich aber darauf hin, dass er sich, wenn er sich so ausdrückt, nur dem allgemeinen lateinischen Sprachgebrauch anschließt, wonach Lust (voluptas) einen heiteren Gemütszustand bezeichnet (animi hilaris affectio).278 Er verbindet damit aber nichts weiter, genauso wenig wie wir im Deutschen mit dem Wort Spaß verbinden, wenn wir sagen: „Es hat Spaß gemacht.“ Gleichwohl hat die Lust für einen Stoiker wie ihn noch eine spezifischere Bedeutung: Sie ist ein vitium279 – ein moralischer Fehltritt280 –, weil sie auf der Meinung von einem falschen Gut beruht (opinione falsi boni mota),281 kein Maß und Ziel kennt (immoderata et immodica) und schnell ins Gegenteil umschlägt (in diversum statim inclinatura). Als ihren Gegenpart sieht Seneca genau wie die älteren Stoiker die Freude (gaudium), die ebenfalls kein reiner Terminus technicus ist: Im Lateinischen ist es geläufig zu sagen, jemandes Wahl zum Konsul oder seine Heirat oder die Entbindung seiner Frau habe große Freude bereitet (magnum gaudium nos ex illius consulatu aut nuptiis aut ex partu uxoris percepisse).282 Von der stoischen Warte aus betrachtet hat aber auch die Freude noch eine spezifischere Bedeutung: Sie bezeichnet eine gehobene Stimmung der Seele (animi elatio),283 die aus dem Bewusstsein der eigenen Tugend entsteht (non nascitur nisi ex
s
275 276 277 278 279 280
281 282 283
Vgl. Sen. dial. 3,1,7 (= de ira 1,1,7). Vgl. Sen. epist. 85,26. Mehr dazu auf S. 145f. Vgl. ebd., 85,26. Vgl. ebd., 59,1. Vgl. ebd.: vitium esse voluptatem credimus. Zuweilen steht vitium bei Seneca nicht nur für ein bestimmtes moralisches Fehlverhalten, sondern auch für eine charakterliche Disposition, die jemanden geneigt macht, sich moralisch falsch zu verhalten. Stellen, die diese Bedeutung erkennen lassen, sind etwa ebd., 17,12 und ebd., 85,15. Vgl. ebd., 59,4, auch nachfolgend. Vgl. ebd., 59,2. Vgl. ebd.
92
Das handlungspsychologische Fundament
virtutum conscientia)284 – und weder aufhört noch sich ins Gegenteil verkehrt.285 Wie Seneca feststellt, streben im Grunde alle Menschen nach Freude. Viele wissen aber nicht, dass sie eine Wirkung der Weisheit ist (sapientiae effectum).286 Und so suchen sie sie um sich herum, obwohl sie den Blick eigentlich nach innen wenden müssten:287 [...] ille ex conviviis et luxuria, ille ex ambitione et circumfusa clientium turba, ille ex amica, alius ex studiorum liberalium vana ostentatione et nihil sanantibus litteris—omnes istos oblectamenta fallacia et brevia decipiunt, sicut ebrietas, quae unius horae hilarem insaniam longi temporis taedio pensat, sicut plausus et acclamationis secundae favor, qui magna sollicitudine et partus est et expiandus. [...] [D]er eine [sucht sie] bei Gelagen und Verschwendung, der andere bei Ehrgeiz und einer Schar von Klienten, die ihn umgibt, einer bei seiner Geliebten, ein anderer bei eitler Prahlerei mit wissenschaftlicher Betätigung und bei Literatur, die keine Ruhe bringt – alle diese Leute lassen sich durch trügerische und kurze Genüsse täuschen, wie bei Trunkenheit, die die heitere Tollheit einer Stunde mit lange währendem Ekel aufwiegt, wie Beifall und Anerkennung durch wohlwollenden Zuruf, was mit großer Beunruhigung sowohl errungen ist als auch gebüßt werden muss.
Die hier beschriebenen Ablenkungen (oblectamenta), so der implizite Gedanke Senecas, haben äußere Umstände zum Gegenstand und sind von ihnen abhängig. Ändern sich diese oder sind gar nicht mehr gegeben, wirkt sich dies entsprechend auch auf die Ablenkung aus. Je nüchterner – um das Beispiel der Trunkenheit aufzugreifen – der Betrunkene wird, desto mehr lässt seine heitere Entrückung nach; steigt sein Alkoholpegel, steigt auch seine Heiterkeit. Die Freude dagegen stammt nach Senecas Auffassung nicht von anderswoher (aliunde) und unterliegt deshalb auch nicht fremder Willkür (ne arbitrii quidem alieni est).288 Bei ihr spielt es keine Rolle, ob sich die Umstände ändern oder ganz ausbleiben. Weil die fortuna sie
s
284
285
286 287 288
Vgl. Sen. epist. 59,16. Ähnlich heißt es in Sen. dial. 7,15,2 (= vit. beat. 15,2): [...] gaudium [...] ex virtute oritur [...] – hier wird die conscientia allerdings nicht genannt. Dass für Seneca die Freude aus dem Bewusstsein der eigenen Tugend entsteht, verdeutlicht, dass er die Auffassung der älteren Stoa teilt, der zufolge die Freude auf etwas wahrhaft Gutes gerichtet ist (vgl. S. 65–67). Vgl. Sen. epist. 59,2–3: [...] gaudio autem iunctum est non desinere nec in contrarium verti. Vgl. auch ebd., 23,4: [...] [gaudium] numquam deficiet [...], sowie ebd., 72,4: [...] sapientis vero contexitur gaudium, nulla causa rumpitur, nulla fortuna; semper et ubique tranquillus est („[...] die Freude des Weisen besteht allerdings fort, wird durch keinen Anlass unterbrochen, durch keinen Schicksalsschlag; immer und überall bleibt er ruhig“, eig. Übers.). Vgl. Sen. epist. 59,16. Ebd., 59,15, Übers. Gunermann et al. Vgl. Sen. epist. 59,18.
Handlungspsychologie und Gefühlslehre bei Seneca
93
nicht gegeben hat, kann sie sie auch nicht wieder entreißen.289 Deswegen hört die Freude auch nicht mehr auf, wenn sie sich einmal bei uns eingestellt hat.290 Für die älteren Stoiker besteht zwischen Begierde und Furcht auf der einen und Kummer auf der anderen Seite ein bestimmter Zusammenhang: Kummer empfindet die Person, die das scheinbar Gute, das sie begehrt hat, nicht bekommt, oder der das scheinbar Schlechte, vor dem sie sich gefürchtet hat, widerfährt.291 Bei Seneca findet sich ein solcher Gedankengang nicht. Dafür beleuchtet er an manchen Stellen die psychologische Seite des Kummers. Nicht die Dinge sind es (res), wie er feststellt, die uns beunruhigen, sondern unsere Meinungen (opiniones) über die Dinge.292 Oft steigern wir den Kummer (dolor) oder bilden ihn uns ein;293 wir entsetzen uns über etwas Zweifelhaftes, als wäre es Gewissheit (expavesciums dubia pro certis),294 und gäben uns so vorschnell einer Meinung hin (cito accedimus opinioni).295 Die Folge ist, dass wir nicht glücklich (beatus) werden können.296 Neben diesen psychologischen Beobachtungen hebt Seneca die zeitliche Komponente des Kummers hervor. Er argumentiert dabei folgendermaßen: Kummer (hier wieder: dolor) ergibt sich aus dem, was man wahrnimmt (ex eo quod sentias); wahrgenommen wird aber nicht das, was kommen wird, und auch nicht das, was vergangen ist – denn beides ist aktuell nicht der Fall;297 wahrgenommen wird vielmehr nur das, was gegenwärtig ist. Daraus folgt, dass sich Kummer aus etwas Gegenwärtigem ergibt.298 In dieser Hinsicht stimmt Seneca mit den älteren Stos
289 290
291 292
293 294 295 296 297 298
Vgl. Sen. epist. 59,18: Quod non dedit fortuna non eripit. Vgl. ebd., 23,4: [...] numquam deficiet [sc. gaudium], cum semel unde petatur inveneris („[...] niemals wird sie [die Freude] versagen, wenn du einmal, woraus sie sich gewinnen lässt, gefunden hast“, Übers. Rosenbach). Vgl. S. 59. Vgl. Sen. epist. 17,12: non est enim in rebus vitium, sed in ipso animo („Nicht in den Dingen liegt der Fehler, sondern in der Seele selbst“, eig. Übers.). Vgl. auch ebd., 43,10: non damnum in his molestum esse, sed opinionem damni („Nicht der Verlust ist beschwerlich, sondern die Meinung über den Verlust“, eig. Übers.). Der Gedanke findet sich schon bei Cicero. Im Anschluss an einige exempla, die einem vorschweben sollen, damit man Schmerzen besser ertragen kann, sagt er (bzw. „M“): „Siehst du also, dass das Übel in den Meinungen (opiniones) und nicht in der Natur (naturae) liegt?“ (Cic. Tusc. 2,53, Übers. Kirfel, modifiziert). Später macht sich Epiktet diesen Gedanken zu eigen (vgl. Epikt. ench. 5): Ταράσσει τοὺς ἀνθρώπους οὐ τὰ πράγματα, ἀλλὰ τὰ περὶ τῶν πραγμάτων δόγματα [...] („Nicht die Dinge verwirren die Menschen, sondern die Meinungen über die Dinge“, eig. Übers.). Vgl. Sen. epist. 13,5. Vgl. ebd., 13,13. Vgl. ebd., 13,8. Vgl. ebd., 74,5. Vgl. ebd., 74,34. Auch der Kummer über den Tod eines Angehörigen (vgl. Sen. ad Polyb. und Sen. ad Marc.) resultiert aus der Wahrnehmung von etwas Gegenwärtigem, nämlich dass der Angehörige nicht mehr da ist.
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Das handlungspsychologische Fundament
ikern überein, die ebenfalls meinten, Kummer beziehe sich auf etwas Gegenwärtiges.299 Schließlich beschäftigt sich Seneca mit einem Affekt, der aus altstoischer und ebenso aus seiner Sicht eine Unterart des Kummers darstellt: dem Mitleid (misericordia). Das Mitleid ist, wie er definiert, „[...] ein Kummer der Seele beim Anblick fremden Elends oder Betrübnis aufgrund fremden Unglücks […]“ (misericordia est aegritudo animi ob alienarum miseriarum speciem).300 Bei ihm glaubt man, jemandem sei etwas zugestoßen, das er nicht verdient hat.301 Allein die fortuna einer Person steht also im Vordergrund und nicht die Gründe, warum es so gekommen ist, wie es gekommen ist. 302 Deshalb ist Mitleid kontraproduktiv. Hinzu kommt, dass es zermürbt (contundit), entmutigt (abicit) und zu einer inneren Kontraktion führt (contrahit).303 Man kann nicht mehr klar denken.304 Was nützlich ist, was billig und welche Gefahren drohen – all das gerät aus dem Blick.305 Aber genau darauf kommt es an, will man anderen Menschen helfen.306 Als Musterbeispiel fungiert für Seneca wie immer die weise Person, die völlig frei von Affekten ist und sich somit auch jeglichen Mitleids entledigt hat. Mit klarem Verstand und umsichtig hilft sie ihren Mitmenschen gern und erhobenen Sinnes (libens et altus animo), bewahrt stets denselben Gesichtsausdruck, bleibt friedlich und lässt sich durch nichts erschüttern.307 Aus diesen Ausführungen Senecas zu generischen und spezifischen Gefühlen ist zu schließen, dass er die altstoische Gefühlssystematik kennt und in seine eigene Philosophie integriert. Der Übersichtlichkeit wegen seien die Ergebnisse wie früher in tabellarischer Form dargestellt:
s
299 300
301 302 303 304 305 306
307
Vgl. S. 61. Sen. clem. 2,5,4, Übers. Büchner, modifiziert. Seneca fügt noch eine zweite Definition des Mitleids an: […] aut tristitia ex alienis malis contracta quae accidere immerentibus credit […] („[…] oder [das Mitleid ist] Traurigkeit, die entsteht, wenn man glaubt, dass jemandem unverdientermaßen Unglück geschehen ist“, eig. Übers.). Diese Definition ist aus meiner Sicht aber nur eine variatio der ersten Definition. Eine Definition des Mitleids in lateinischer Sprache bietet auch Cicero an, vgl. Cic. Tusc. 4,18: misericordia est aegritudo ex miseria alterius iniuria laborantis („Mitleid ist der Kummer aufgrund des Unglücks eines anderen, das er zu Unrecht erleidet“, Übers. Kirfel). Vgl. Sen. clem. 2,5,4. Vgl. ebd., 2,5,1. Vgl. ebd., 2,5,5. Vgl. ebd., 2,6,1. Vgl. ebd. Vgl. auch Cic. Tusc. 4,56: „Können wir etwa ohne Mitleid nicht großzügig [liberales] sein? Denn wir dürfen selbst nicht Kummer auf uns nehmen wegen anderer, sondern müssen, wenn wir es vermögen, anderen ihren Kummer erleichtern“ (Übers. Kirfel). Vgl. Sen. clem. 2,6,2 und 5,5.
Handlungspsychologie und Gefühlslehre bei Seneca
95
Tabelle 3: Senecas implizite Systematisierung der Affekte
Begierde
Furcht
Lust
Kummer
(cupiditas)
(timor/metus)
(voluptas)
(dolor/tristitia/aegritudo)308
ist ein Antrieb zu etwas hin309
geht mit einer Fluchtbewegung einher
beruht auf der Meinung von einem falschen Gut; ist maßlos und instabil
wird durch die Meinung über etwas Gegenwärtiges hervorgerufen
Unterarten: Wut (ira)
Unterarten: ?
Unterarten: ?
Unterarten: Mitleid (misericordia)
Tabelle 4: Senecas implizite Systematisierung der guten Gefühle
Wünschen
Vorsicht
Freude
–
(?)
(cautio)
(gaudium/laetitia)310
?
?
stabile gehobene Stimmung der Seele; entspringt aus dem Bewusstsein, dass man die Tugend erworben hat
–
Unterarten: lieben (amare)
Unterarten: ?
Unterarten: ?
–
Seneca teilt die Affekte und guten Gefühle jedoch nirgends überblicksartig in Genus oder Art ein. Es ist vielmehr so, dass er sein Wissen um die altstoische Gefühlssystematik abruft, je nachdem, wann es ihm erforderlich und aufschlussreich erscheint. Einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt er dabei nicht.
s
308
309
310
Senecas Verwendung von dolor in einem unspezifischen Kontext spricht für einen generischen Affekt. Daraus, dass Mitleid ihm zufolge eine Form von Kummer (aegritudo) bzw. Traurigkeit (tristitia) ist (vgl. Sen. clem. 2,5,4), könnte man schließen, dass er aegritudo bzw. tristitia als Oberbegriffe für alle Formen von Kummer ansieht. Diese Charakterisierung und auch die der Furcht entnehme ich Sen. dial. 4,3,5 (= de ira 2,3,5), wo Seneca Furcht und Wut gegenüberstellt. Vgl. S. 166, Fußn. 37.
96 2.4
Das handlungspsychologische Fundament
Die Entstehung von Wut in De ira 2,1–4 (= dial. 4,1–4)
Wut ist der Affekt, mit dem sich Seneca am meisten beschäftigt hat. Über sie hat er eine ganze Schrift verfasst: De ira. Während er im ersten Buch unter anderem die phänotypischen Merkmale der Wut beschreibt und definiert, was Wut ist, erklärt er zu Beginn des zweiten Buches, wie sie – und ein Affekt generell – einsetzt (incipere), anwächst (crescere) und ausbricht (efferri).311 Bemerkenswert an dieser in der Forschung viel diskutierten Sacherörterung312 ist, dass Senecas Erklärung für die Entstehung von Wut (bzw. eines Affekts) im Grunde nichts anderes ist als eine Erklärung für das Zustandekommen einer Handlung, einer Handlung, die obendrein eine moralische Eigenschaft hat, nämlich verwerflich zu sein.313 Für Seneca gilt damit dasselbe wie für die ältere Stoa: Auch er betrachtet Affekte als besondere Fälle von Handlungen.314 An ihrer Psychologie ist er vor allem deshalb interessiert, weil er glaubt, über sie zeigen zu können, dass sich ein moralisches Fehlverhalten wie das der Wut grundsätzlich vermeiden lässt. Denn würde Wut ohne unseren Willen entstehen (non voluntate nostra), stünde sie nicht in unserer Macht (in nostra potestate),315 sie könnte nicht kontrolliert werden (invicta) und wäre unvermeidlich (inevitabilis).316 Man wäre ihr so ausgeliefert, wie Leontios in Platons Politeia seiner Begierde ausgeliefert ist, oder um es mit anderen Worten auszudrücken: Es wäre praktisch unmöglich, ein moralisches Fehlverhalten zu vermeiden. Senecas Ausgangsfrage lautet dementsprechend:317
s
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314 315 316 317
Vgl. Sen. dial. 4,4,1 (= de ira 2,4,1). Vgl. unter anderem Abel 1983, S. 79–81; Fillion-Lahille 1984, S. 163–169 und 180f.; Malchow 1986, S. 17–57; Rist 1989, S. 2000–2003; Sorabji 1998, S. 153f. und 160– 162; Sorabji 2000, S. 66–75; Stevens 2000, S. 156–160; Zöller 2003 (Stellen angeführt in Fußn. 386); Baier 2005a, S. 16–19; Inwood 2005, S. 51–63; Vogt 2006, S. 69–73; Graver 2007, S. 125–132; Fuhrer 2010, S. 80–84; Krewet 2013, S. 133–140; Kaufman 2014, S. 119–126; Gartner 2015, S. 217–230 und Asmis 2015, S. 230–232. Vgl. Sen. dial. 3,1,1 (= de ira 1,1,1): Seneca zeigt sich wenig erstaunt darüber, dass gerade die Wut Novatus Angst gemacht hat, „[...] ist doch unter allen [Affekten] kein anderer so widerwärtig und keiner so außer sich“ (maxime ex omnibus taetrum ac rabidum, Übers. Wildberger). Vgl. auch Sen. dial. 3,5,3 (= de ira 1,5,3), wo er von der Wut sagt, sie sei ein wilder und gefährlicher Fehltritt (ferum ac perniciosum vitium). Vgl. S. 46, Fußn. 55. Zu Senecas Konzept von in nostra potestate vgl. auch Eliasson 2008, S. 97–106. Vgl. Sen. dial. 4,2,1 (= de ira 2,2,1). Sen. dial. 4,1,1 (= de ira 2,1,1), Übers. Wildberger (als direkte Frage formuliert und ohne Berücksichtigung der konjekturalen Ergänzung von Hermes, die meines Erachtens unnötig ist [Reynolds druckt sie aber in seiner Ausgabe]; für eine Interpretation mit Berücksichtigung der Konjektur vgl. Inwood 2005, S. 52).
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[...] quaerimus enim ira utrum iudicio an impetu318 incipiat, id est utrum sua sponte moveatur an quemadmodum pleraque quae intra nos insciis nobis oriuntur. Entsteht Wut aufgrund eines Urteils oder aufgrund eines unmittelbaren Dranges, das heißt, bewegt sich der Wütende aus eigenem Antrieb oder entsteht die Bewegung – wie vieles innerhalb von uns – ohne dass wir davon wissen?
Seine orthodox stoische Antwort erfolgt prompt: Ohne Zustimmung (assentiri/approbare/assensus mentis)319 bzw. Urteil gibt es auch keine Wut (iudicio nascitur, iudicio tollitur);320 von diesen mentalen Operationen hängt ab, ob wir wütend werden oder nicht, und da sie in unserer Hand liegen, können wir über sie auch kontrollieren, ob wir wütend werden oder nicht. Wer wütend wird, ist somit selbst dafür verantwortlich. Wut ist aus Senecas Sicht ein gewollter Fehltritt (voluntarium animi vitium).321 Mit dieser Auffassung stellt sich Seneca gegen all jene, die behaupten, Menschen könnten bisweilen von ihren Affekten überwunden werden. Er hält Fälle wie den des Leontios für unmöglich. Dennoch geht er davon aus, dass bestimmte emotionale Reaktionen nicht von einer Zustimmung bzw. einem Urteil abhängen. Dass diese Annahme nicht auf einem psychologischen, sondern auf einem LeibSeele-Dualismus beruht, wird im Anschluss an die nachfolgende Untersuchung eingehend erläutert, die zu ergründen sucht, was die Natur des Unrechts ist, dessen Wahrnehmung Seneca zufolge das erste Moment im Wutentstehungsprozess darstellt. 2.4.1 Das Unrecht So wie nach altstoischer Doktrin eine Handlung ihren Ursprung in einer Erscheinung (φαντασία) hat, so hat laut Seneca auch der Wutentstehungsprozess seinen Ursprung in einer Erscheinung, und zwar in der Erscheinung von einem Unrecht s
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321
Seneca drückt sich hier etwas unpräzise aus, denn auch Wut ist für ihn ein impetus (vgl. Sen. dial. 4,3,4f. [= de ira 2,3,4f.]), aber kein impetus in diesem Sinne. Vgl. dazu auch Stevens 2000, S. 158; Graver 2014a, S. 270, Fußn. 41 und Gartner 2015, S. 218. Vgl. Sen. dial. 4,1,4 (= de ira 2,1,4) und Sen. dial. 4,3,5 (= de ira 2,3,5). Vgl. Sen. dial. 4,4,2 (= de ira 2,4,2). Aus Senecas Sicht scheinen iudicium und assensus dasselbe zu sein. Ein Urteil ist eine Zustimmung zu einer mit einer Erscheinung verbundenen Aussage. Vgl. Sen. dial. 4,2,2 (= de ira 2,2,2). Vgl. auch Bäumer 1982, S. 95: „Entwickelt sich der Affekt durch ein rationales Urteil, unterliegt er unserer eigenen Verantwortung [...]“, und Müller 2018, S. 439: „Für die initiale Selbstversklavung durch seine nicht erzwungene Zustimmung zum Affekt ist der Geist selbst verantwortlich.“ Seneca vertritt denselben emotionstheoretischen Volitionalismus wie die ältere Stoa. Laut Bäumer ist die Betonung des voluntativen Moments der Wut jedoch sein Verdienst (vgl. Bäumer 1982, S. 95).
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(species oblata iniuriae/species iniuriae),322 die durch eine Wahrnehmung unmittelbar in der Seele hervorgerufen wird. Seneca erläutert in De ira 2,1–4 aber weder, was ein Unrecht ist (i), noch legt er dar, wie es wahrgenommen wird (ii); ebenso wenig sagt er etwas darüber, ob und inwiefern es als etwas Vorhandenes (ὑπάρχον) charakterisiert werden kann (iii), das für die älteren Stoiker eines der Kriterien für die nähere Bestimmung einer Erscheinung war. Aufschluss über die erste Frage gibt seine Schrift De constantia sapientis („Über die Standfestigkeit des Weisen“), in der deutlich wird, dass ein Unrecht für ihn kein Übel (malum) ist. Daher kann es dem Weisen nichts anhaben, für den es nur ein einziges Übel gibt: das Laster (hier: turpitudo), gegen das er aber aufgrund seiner Tugend – der Weisheit – gefeit ist.323 Ein Unrecht muss aus Senecas stoischer Perspektive also zu den indifferenten Dingen gehören, genauer: zu den zurückgesetzten indifferenten Dingen (wie Ansehensverlust, Armut, Krankheit und dergleichen), die für einen Menschen zwar abträglich sind, ihn aber nicht daran hindern, glückselig zu werden.324 In De constantia sapientis trifft Seneca darüber hinaus eine Unterscheidung, die für die Beantwortung der ersten Frage von Bedeutung ist. Er unterscheidet zwischen Unrecht (iniuria) und Beleidigung (contumelia), und sagt vom Unrecht, dass es seiner Natur nach schwerer ist (natura gravior est).325 Denn durch ein Unrecht wird ein Mensch verletzt (laedere), während eine Beleidigung ihn kränkt (offendere).326 Diese Unterscheidung ist erklärungsbedürftig. Pierre Grimal charakterisiert die hier genannte iniuria näher als das, was gegen geschriebenes Recht verstößt.327 Darum bezeichnet er sie auch als „tatsächliches Unrecht“ (tort réel).328 Die Beleidigung bestehe im Gegensatz dazu in einer „öffentlichen Bezeugung seiner Geringschätzung“ (un témoignage public de mépris) und verstoße an sich nicht gegen geschriebenes Recht, könne aber dagegen verstoßen.329 So gesehen wird im Grunde nicht der Mensch selbst bei einem Unrecht verletzt, wie Senecas Äußerung nahezulegen scheint; vielmehr sind es seine Rechte, die verletzt werden – er wird als Rechtssubjekt verletzt. Ein solches Vergehen ist seiner Natur nach verständlicherweise schwerer als eine Beleidigung (insofern diese keine rechtlichen s
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Vgl. Sen. dial. 4,1,3 (= de ira 2,1,3) und Sen. dial. 4,3,5 (= de ira 2,3,5). Vgl. auch Sen. dial. 2,9,3 (= const. sap. 9,3): […] [ira] excitat iniuriae species [...] („[...] Wut erregt die Erscheinung von einem Unrecht [...]“, eig. Übers.). Vgl. Sen. dial. 2,5,3 (= const. sap. 5,3). In Sen. benef. 4,15,1 bestimmt Seneca als Gegenstück zum Unrecht die Wohltat: Während sie ein an sich erstrebenswertes Verhalten ist (per se expetenda), sei das Unrecht ein an sich zu vermeidendes Verhalten (per se vitanda ac fugienda res est). Vgl. auch ebd., 5,7,6. Vgl. Sen. dial. 2,5,1 (= const. sap. 5,1). Vgl. ebd. Vgl. Grimal 1953, S. 44. Ähnlich Berno 2018, S. 108f. Vgl. Grimal 1953, S. 45. Vgl. ebd.
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Konsequenzen nach sich zieht). Der Unterschied zwischen Unrecht und Beleidigung ließe sich auch noch auf andere Weise erklären: Vielleicht wollte Seneca mit seiner Differenzierung zum Ausdruck bringen, dass ein Unrecht neben einer Kränkung immer auch eine physische Schädigung involviert, während eine Beleidigung nur kränkt. Seine Unterscheidung zwischen Unrecht und Beleidigung suggeriert, dass beide in irgendeiner Form wahrgenommen werden. Aus ihr geht aber nicht genügend hervor, wie sie genau wahrgenommen werden (ii). Kann man ein Unrecht sehen oder sieht man nur den physischen Schaden, den es zurücklässt? Sieht man eine Beleidigung, insofern sie durch eine Geste vermittelt wird, oder sieht man nur die Geste? Hört man eine Beleidigung, wenn jemand einem gegenüber zum Beispiel Schimpfwörter gebraucht, 330 oder hört man nur die damit verbundenen Laute?331 Zur letzten Frage (iii) sei zunächst bemerkt, dass Seneca im zweiten Buch seiner Schrift De ira an späterer Stelle eine Einteilung vornimmt. Er geht davon aus, dass es Dinge gibt, von denen wir generell kein Unrecht erleiden können, und Dinge, von denen wir ein Unrecht erleiden können.332 Zur ersten Gruppe zählt er leblose Gegenstände (quaedam sine sensu sunt),333 aber auch Tiere,334 Kinder335 und Götter.336 Von ihnen allen kann man kein Unrecht erleiden, weil sie es nicht wollen können (velle non possunt).337 Was die leblosen Dinge angeht, leuchtet das unmittelbar ein: Ein Zweig, der durch einen starken Windstoß von einem Baum gerissen wird, will uns nicht treffen. Das Gleiche gilt zum Beispiel für eine Lawine oder eine Laterne, gegen die man, den Blick in eine andere Richtung gewendet, läuft: Nichts davon will uns wehtun. Aber warum können Tiere und Kinder kein Unrecht wollen? Im Gegensatz zu leblosen Gegenständen bewegen sie sich doch aus eigenem Antrieb. Für Seneca ist der ausschlaggebende Punkt, dass ihre Bewegung ebenso wenig wie die lebloser Gegenstände auf einem Entschluss (consilium) beruht338 – in dieser Hinsicht gibt es zwischen ihnen keinen Unterschied. s
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Vgl. Sen. dial. 2,17,1 (= const. sap. 17,1) für im Hellenismus und in der Kaiserzeit gebräuchliche Schimpfwörter. Chrysipp hat, so Seneca, berichtet, dass sich jemand empört hat, weil ihn irgendjemand einen „Meerhammel“ (vervex marinus) genannt hatte. Seneca selbst hat erlebt (vidimus), wie Cornelius Fidus, der Schwiegersohn des Ovidius Naso, im Senat in Tränen ausbrach, nachdem ihn Corbulo einen „gerupften Strauß“ (struthocamelus depilatus) genannt hatte. Unter den analytischen Philosophen argumentiert in jüngerer Zeit Robert Audi dafür, dass es so etwas wie moralische Wahrnehmung gibt, vgl. Audi 2013 und Audi 2019. Vgl. Sen. dial. 4,26,1 (= de ira 2,26,1). Vgl. Sen. dial. 4,26,2 (= de ira 2,26,2). Vgl. Sen. dial. 4,26,4–5 (= de ira 2,26,4–5). Vgl. Sen. dial. 4,26,6 (= de ira 2,26,6). Vgl. Sen. dial. 4,27,1 (= de ira 2,27,1) und Sen. epist. 95,48. Vgl. Sen. dial. 4,26,4 und 27,1 (= de ira 2,26,4 und 27,1). Vgl. Sen. dial. 4,26,4 (= de ira 2,26,4).
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Tiere und Kinder wollen nicht etwas als etwas, sondern sie erstreben etwas, ohne eine begriffliche Vorstellung davon zu haben. Bei Göttern verhält sich die Sache wieder anders: Sie fassen laut Seneca Entschlüsse, ihre sanfte und friedliche Natur (natura mitis et placida) ist aber derart, dass ihr Entschluss niemals zu ihrem eigenen Nachteil oder zum Nachteil anderer ausfallen kann.339 Sie können sich niemals dazu entschließen, sich oder anderen ein Unrecht zu tun.340 Das Wesen, das ein Unrecht wollen kann, muss nach Seneca also – auch wenn er es nicht explizit sagt – ein erwachsener Mensch sein, der im Vollbesitz seiner kognitiven Fähigkeiten ist. Damit ist der Kern der Sache erreicht: Ein Unrecht kann für Seneca etwas sein, das vorhanden ist. Es ist ihm zufolge dann vorhanden, wenn es von einem erwachsenen Menschen, der im Vollbesitz seiner kognitiven Fähigkeiten ist, getan wird. Getan wird es bereits, sobald die Absicht (cogitatio), es zu tun, vorliegt: „[…] [W]er vorhat, jemandem Unrecht zu tun, der tut es bereits“ (iniuriam qui facturus est iam facit).341 Liegt jemand zum Beispiel bei seiner Frau, als sei er bei einer Fremden, ist er Seneca zufolge ein Ehebrecher, obwohl er eigentlich gar nicht bei einer fremden Frau liegt.342 Oder angenommen jemand verabreicht einer anderen Person Gift, in der Absicht, sie umzubringen – laut Seneca hat er auch dann ein Unrecht begangen, wenn das Gift nicht im Geringsten anschlägt.343 Ebenso sei die Person ein Straßenräuber, deren Messer nicht durch die Kleidung ihres Opfers dringt.344 Ein Unrecht bemisst sich für Seneca also nicht nach dem Erfolg der Tat. Es besteht ihm zufolge bereits davor (ante effectum operis), insofern die Absicht (propositum) dazu vorliegt. Versteht man das Unrecht als Rechtsverletzung, bedeutet dies, dass eine Person schon dann eine illegale Handlung begeht, wenn sie sie beabsichtigt. Dass jemand, der bei seiner Frau wie bei einer fremden Frau liegt, gegen geschriebenes Recht verstoßen soll, ist allerdings absurd. Ein Unrecht scheint daher nicht in jedem Fall eine Rechtsverletzung zu sein. Legt man das Verständnis von Unrecht als physischer Schädigung zugrunde, ergeben sich Verständnisprobleme. Denn wenn ein beabsichtigtes Unrecht bereits ein Unrecht ist, geht damit nicht unbedingt eine physische Schädigung einher. Das zeigen ja gerade die Beispiele vom s
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343 344
Vgl. Sen. dial. 4,27,1 (= de ira 2,27,1). Vgl. ebd. Naturphänomene wie eine ungestüme See, übermäßige Regenfälle oder ein hartnäckiger Winter können daher nicht auf die Götter zurückgeführt werden. Laut Seneca haben sie ihre eigenen Gesetze (suas ista leges habent) – vgl. Sen. dial. 4,27,2 (= de ira 2,27,2). Sen. dial. 3,3,1 (= de ira 1,3,1). Vgl. Sen. dial. 2,7,4 (= const. sap. 7,4). Man könnte sich bei diesem Fall fragen, ob der Mann wirklich die Absicht hat, Ehebruch zu begehen, wie Seneca zu glauben scheint, oder ob er sich nicht vielmehr einfach nur vorstellt, wie es wäre, bei einer fremden Frau zu liegen. Vgl. ebd. Vgl. ebd.
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Ehebruch, Giftanschlag und Straßenraub: Der beabsichtigte Ehebruch fügt niemandem einen physischen Schaden zu, das Gift schlägt nicht im Geringsten an, das Messer dringt nicht durch die Kleidung. Zudem ist Senecas in De ira getroffene Annahme, dass schon die bloße Absicht verletzen kann (laedere),345 nach diesem Unrechtsverständnis unbegreiflich. Die physische Schädigung kann somit kein Wesensmerkmal des Unrechts sein, weil ein Unrecht auch dann vorliegen kann, wenn niemand physisch geschädigt wurde. Mit den Beispielen vereinbar ist aber die Deutung des Unrechts als Kränkung: Ich bin gekränkt, wenn ich erfahre, dass meine Partnerin in Gedanken mit jemand anderem geschlafen hat, als sie mit mir geschlafen hat; ich bin gekränkt, wenn ich erfahre, dass man versucht hat, mich zu vergiften oder zu berauben. Aber wie unterscheidet sich ein Unrecht dann noch von einer Beleidigung, wenn beides nichts weiter als Kränkungen sind? Man könnte argumentieren, dass ein Unrecht im Vergleich zu einer Beleidigung eine schwerere psychische Verletzung darstellt. Ein Unrecht betrifft mich in irgendeiner Form existenziell, während eine Kränkung zwar unangenehm, aber weitaus weniger erschütternd ist.346
s
345
346
Vgl. Sen. dial. 3,3,1 (= de ira 1,3,1): Verum est irasci nos laesuris, sed ipsa cogitatione nos laedunt […] („Es ist in der Tat wahr, dass wir auf diejenigen wütend werden, die vorhaben uns zu verletzen, aber solche Leute verletzen uns ja gerade durch diese ihre Absicht […]“, Übers. Wildberger). Vgl. hierzu die Beispiele in Sen. dial. 5,28,4 (= de ira 3,28,4) und S. 216: sich jemandes Willen widersetzen/seinen Hoffnungen ein Ende machen (Verletzung) vs. sich seinem Willen entziehen/die Erfüllung seiner Hoffnungen aufschieben (Kränkung); jemandem etwas wegnehmen/rauben (Verletzung) vs. ihm etwas nicht geben/ihm etwas versagen (Kränkung); etwas gegen jemanden unternehmen (Verletzung) vs. etwas im eigenen Interesse tun (Kränkung).
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2.4.2 Erscheinung von einem Unrecht, Zustimmung und Wut Die Erscheinung von einem Unrecht, die durch eine Wahrnehmung unmittelbar in der Seele hervorgerufen wird, kann laut Seneca sofort einen unwillkürlichen Impuls aussenden (primus ictus/prima agitatio/primus motus).347 Insofern hat sie einen bewegenden Charakter – wie die altstoische phantasia hormêtikê.348 Seneca nennt den von der Unrechts-Erscheinung unmittelbar freigesetzten Impuls sinngemäß auch Voraffekt (principia proludentia affectibus/praeparatio affectus). 349 Das ist plausibel, bedenkt man, dass er vor einem Affekt – nämlich vor der Wut – auftritt.350 Im Grunde handelt es sich also um „Vorwut“, oder wie Seneca an einer s
347
348
349 350
Vgl. für den Ausdruck primus ictus Sen. dial. 4,2,2 (= de ira 2,2,2): [...] primus ille ictus animi […] nos post opinionem iniuriae movet. („[...] jener erste Impuls der Seele [...] bewegt uns nach der Erscheinung von einem Unrecht“, eig. Übers., als Hauptsatz wiedergegeben). Seneca scheint opinio hier und in Sen. dial. 4,4,2 (= de ira 2,4,2) als Synonym für species zu verwenden. Vgl. dazu auch Ramondetti 2006, S. 102: „Seneca ricorre in modo inequivocabile a opinio (gr. δόξα) come a un termine che può sostituire species (gr. φαντασία) in unione con la specificazione iniuriae.“ Vgl. für den Ausdruck prima agitatio Sen. dial. 4,3,5 (= de ira 2,3,5) und für den Ausdruck primus motus Sen. dial. 4,4,1 (= de ira 2,4,1). Nach dem Bericht von Gellius spricht Epiktet später von „heftigen und unerwarteten Bewegungen, die der Tätigkeit des Verstandes zuvorkommen“ (motus rapidi et inconsulti officium mentis atque rationis praevertentes, Gell. noct. Att. 19,1,17). Vgl. auch Bäumer 1982, S. 95: „Der ‚primus ictus‘ entspricht der ‚altstoischen‘ ὁρμή (impetus), die durch eine φαντασία (species) bewirkt wird“ (also nicht der ὁρμή, die durch eine Zustimmung bewirkt wird). Ähnlich argumentiert Malchow 1986, S. 52–57. Auch Wildberger 2006, S. 157 bringt Senecas impulsartige Erscheinung mit der φαντασία ὁρμητική in Verbindung. Vgl. Sen. dial. 4,2,5 (= de ira 2,2,5) und Sen. dial. 4,4,1 (= de ira 2,4,1). In der Forschung wird in diesem Zusammenhang insbesondere von dem griechischen Ausdruck προπάθεια Gebrauch gemacht, der erstmals bei Philon von Alexandria belegt ist (vgl. exemplarisch Phil. quaest. in Gen. 1,79, wo er von der Hoffnung sagt, sie sei eine προπάθειά τις τῆς χαρᾶς [der griechische Wortlaut des nur in Armenisch vollständig erhaltenen Textes geht auf Anton Melissa zurück, vgl. Harris 1886, S. 17]). Laut Graver 1999 kann Philon die Konzeption der προπάθεια trotz seines Besuches in Rom im Jahre 39 n. Chr. aber nicht von Seneca übernommen haben, da dessen Schrift De ira, die das meiste Material dazu bietet, allen Berechnungen zufolge frühestens 41 n. Chr. veröffentlicht wurde (vgl.zur Datierung der Schrift auch Monteleone 2014). Weil es bei Cicero außer Tusc. 3,83 keine Indizien gebe, sie bei Poseidonios aber einen anderen Charakter aufwiesen als bei Philon, schließt sie, dass die Konzeption der προπάθεια ihren Ursprung in einer älteren Phase der Stoa haben muss. An dieser Überzeugung hält sie auch später noch fest (vgl. Graver 2014a, S. 270, Fußn. 44). Sie ist nicht die Erste, die einen solchen Standpunkt vertritt. Schon Malchow vermutet im Anschluss an Huber 1973, S. 65 und Abel 1961, S. 794 sowie Abel 1967, S. 57, Fußn. 22, dass die Propathie-Lehre bereits in der älteren Stoa vorhanden war (vgl. Malchow 1986, S. 52–57); vgl. zu dieser Auffassung auch Rist 1989, S. 2000 und Stevens 2000, S. 159–
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Stelle sagt: um einen ersten Wutreiz (primum irritamentum irae).351 Bei der Erscheinung von einem Unrecht ist der Voraffekt unangenehm,352 theoretisch könnte er aber auch angenehm sein, sofern er von einer Erscheinung ausgeht, die keine Erscheinung von einem Unrecht ist.353 Seneca gibt hierfür kein Beispiel, aber man könnte sich etwa den Fall vorstellen, dass einem ein freundliches Gesicht erscheint. Da Voraffekte generell von keiner Zustimmung abhängen und somit nicht kontrollierbar sind (sie können allenfalls durch Gewohnheit und ständige Selbstbeobachtung abgeschwächt werden)354, widerfahren sie nicht nur der nichtweisen, sondern auch der weisen Person,355 und sind deshalb ebenso für sie angenehm oder s
351 352
353
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355
162. Sorabji 2000, S. 61–75 argumentiert dagegen, dass Seneca die Konzeption des Voraffekts eingeführt hat, um Chrysipp gegen Poseidonios’ Kritik zu schützen. Vgl. Sen. dial. 3,8,1 (= de ira 1,8,1). Epiktet bringt diesen Gedanken dadurch zum Ausdruck, dass er sagt, eine Erscheinung könne „beißen“ (δάκνειν; vgl. Epikt. diatr. 3,24,108). Abel drückt sich etwas missverständlich aus, wenn er anmerkt: „Sie [die species iniuriae/φαντασία τῆς ἀδικίας] ist mit einer unwillkürlichen Gefühlsreaktion verbunden, die, je nach Art des erregenden Moments, schmerzhaft oder lustvoll ist“ (Abel 1983, S. 80). Er will sicher sagen, dass die species bzw. φαντασία, je nach Art des erregenden Moments, schmerzhaft oder lustvoll ist, nicht aber die species iniuriae bzw. φαντασία τῆς ἀδικίας – sie scheint in jedem Fall schmerzvoll zu sein. Katja Maria Vogt ist der Auffassung, dass die ältere Stoa die schmerzhafte Seite der Wut nicht berücksichtigt hat (vgl. Vogt 2006, S. 57f., 60 und 62–64). Seneca thematisiere sie aber mit Blick auf die Erscheinung von einem Unrecht und dem durch sie ausgelösten Voraffekt zumindest indirekt (vgl. ebd., S. 70f.). Dem könnte man hinzufügen, dass für ihn auch das Vergehen der Wut schmerzvoll ist (alle Wut löst sich am Ende in Trauer auf – vgl. Sen. dial. 4,6,2 [= de ira 2,6,2] und S. 89 sowie Fußn. 266). Vgl. Sen. dial. 4,4,2 (= de ira 2,4,2). Vgl. auch Sen. epist. 11,1, wo es heißt, dass sie durch Fertigkeit gelindert, aber nicht überwunden werden können (lenitur arte, non vincitur). Vgl. Sen. dial. 2,10,4 (= const. sap. 10,4): Alia sunt quae sapientem feriunt, etiam si non pervertunt, ut dolor corporis et debilitas aut amicorum liberorumque amissio et patriae bello flagrantis calamitas: haec non nego sentire sapientem; nec enim lapidis illi duritiam ferrive asserimus („Es gibt andere Dinge, die die weise Person treffen, ohne sie indes außer Fassung zu bringen, z. B. Körperschmerz und Gebrechlichkeit oder Verlust von Freunden und Kindern oder die schwere Not des von Krieg heimgesuchten Vaterlandes: Das empfindet die weise Person, ich leugne es nicht, denn ich will ihr nicht die Härte von Stein oder Eisen zuschreiben“, Übers. Apelt, modifiziert). Vgl. auch Sen. dial. 3,16,7 (= de ira 1,16,7): [...] sentiet [sc. sapiens] levem quendam tenuemque motum [...] („Sie [die weise Person] wird eine gewisse leichte und schwache Bewegung verspüren“, Übers. Wildberger, modifiziert). Vgl. weiterhin Sen. dial. 3,16,7 (= de ira 1,16,7): Sentiet [sc. sapiens] [...] suspiciones quasdam et umbras affectuum, ipsis quidem carebit („Sie [die weise Person] wird [...] einen leisen Anhauch und gewissermaßen den Schatten eines Affektes spüren, von den Affekten selbst aber frei sein“, Übers. Wildberger). Vgl. schließlich Sen. dial. 4,2,2 (= de ira 2,2,2) und Sen. epist. 11,1 und 6.
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unangenehm. Die weise Person überwindet zwar jede Unannehmlichkeit, wie Seneca im 9. Brief sagt, empfindet sie aber dennoch.356 So kommt es, dass auch sie bereits auf einen Voraffekt in bestimmter Weise reagiert. Zu welchen Reaktionen es dabei kommen kann, legt Seneca vielerorts dar, vor allem in De ira 2,1–4 (= dial. 4,1–4). Auffällig ist aber, dass er dort kein Beispiel für eine Reaktion auf einen Voraffekt gibt, der durch eine Erscheinung von einem Unrecht hervorgerufen wird. Er nennt nur das Stirnrunzeln, zu dem es bei einem Voraffekt kommen kann, der das Potenzial hat, sich zu Trauer (tristitia) weiterzuentwickeln – und das Durchzucken, zu dem es bei einem Voraffekt kommen kann, der das Potenzial hat, zu Furcht (timor) zu werden.357 Auch fällt auf, dass Seneca die vielen Reaktionen, die er nennt, untereinander nicht genügend differenziert. In De ira 2,2 (= dial. 4,2) stellt er den Schwindel (vertigo), der auf den Blick in einen jähen Abgrund folgt, das Schaudern (horror), wenn man mit kaltem Wasser bespritzt wird, und das Zurückweichen (aspernatio) bei manchen Berührungen unterschiedslos neben das Aufrichten der Haare (surriguntur pili), wenn man schlechte Nachrichten erhält, und Schamesröte (rubor) bei obszönen Ausdrücken.358 Im 57. Brief stellt er denselben Schwindel in eine Reihe mit einem ernsten Gesicht, das man bei traurigen Anlässen unvermittelt macht:359 [...] huius [sc. ille, in quem fortuna ius perdidit] quoque ferietur animus, mutabitur color. Quaedam enim, mi Lucili, nulla effugere virtus potest; admonet illam natura mortalitatis suae. Itaque et vultum adducet ad tristitia et inhorrescet ad subita et caligabit, si vastam altitudinem in crepidine eius constitutus despexerit: non est hoc timor, sed naturalis affectio inexpugnabilis rationi. Itaque fortes quidam et paratissimi fundere suum sanguinem alienum videre non possunt ; quidam ad vulneris novi, quidam ad veteris et purulenti tractationem inspectionemque succidunt ac linquuntur animo; alii gladium facilius recipiunt quam vident. [...] [A]uch seine Seele [die Seele dessen, an dem die fortuna ihr Recht verloren hat] wird einen Eindruck empfinden, seine Farbe wird sich ändern. Manches nämlich, mein Lucilius, kann der Tugendhafte nicht fliehen: Es gemahnt ihn die Natur an seine Sterblichkeit. Daher wird er ein ernstes Gesicht annehmen bei traurigen Ereignissen und erschrecken bei überraschenden und Schwindel empfinden, wenn er in unergründliche Tiefe, an ihrem Rand stehend, hinabschaut: Nicht ist das Furcht, sondern eine natürliche Empfindung, die Vernunft nicht überwinden kann. Daher können manche tapferen und zum Vergießen ihres Blutes durchaus bereiten Männer fremdes Blut nicht sehen; manche, bei der Behandlung und Untersuchung s
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357 358
359
Vgl. Sen. epist. 9,3: […] sapiens vincit quidem incommodum omne sed sentit. Vgl. auch ebd., 72,5: Aliquo, inquam, incommodo afflatur [...] („Von irgendeiner Unannehmlichkeit, sage ich, wird sie angehaucht“, eig. Übers.). Vgl. Sen. dial. 4,2,5 (= de ira 2,2,5). Vgl. Sen. dial. 4,2,1 (= de ira 2,2,1). Für eine genauere Beschäftigung mit dem Phänomen des Errötens vgl. Sen. epist. 11 und S. 126. Sen. epist. 57,3–6, Übers. Rosenbach, modifiziert.
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einer frischen Wunde, manche bei der einer alten und eitrigen, brechen zusammen und werden ohnmächtig; andere nehmen leichter einen Schwertstreich hin, als sie ihn sehen.
Allen hier und zuvor genannten Reaktionen ist gemein, dass sie von keiner Zustimmung abhängen.360 Die einen scheinen auf den ersten Blick aber Reaktionen auf rein physische, die anderen dagegen Reaktionen auf psychophysische Widerfahrnisse zu sein.361 Wieder andere Reaktionen, die Seneca nennt,362 wie Erbleichen (pallor), hervordringende Tränen (lacrimae procidentes), die Erregung von Flüssigkeit im Schambereich (irritatio umoris obsceni), ein tiefer Seufzer (altum suspirium) und plötzlich geweitete Augen (oculi subito acriores) können je nach Kontext das eine oder das andere sein. So ist es zum Beispiel möglich, dass man aufgrund einer Magenverstimmung erbleicht; möglich ist aber auch, dass man beim Anlegen der Rüstung kurz vor einer Schlacht erbleicht.363 Augen können tränen, weil sie entzündet sind; sie können aber auch tränen, weil man etwas als schön empfindet. Flüssigkeiten im Schambereich sind vielleicht auf eine Geschlechtskrankheit zurückzuführen; vielleicht hat man es aber auch mit einem Präejakulat oder einer Lubrikation zu tun. Wer im Boxkampf einen Leberhaken bekommt, wird aus einem anderen Grund einen Seufzer ausstoßen als derjenige, der vor einem Berg an Arbeit steht. Geweitete Augen können das Ergebnis von Medikamenten- oder Drogenkonsum sein; denkbar ist aber auch, dass jemand die Augen weitet, weil er einen geliebten Menschen plötzlich leblos auf dem Boden liegen sieht oder weil er von seinen Freunden zu seinem Geburtstag mit einer Feier überrascht wird. Seneca selbst unterteilt die unwillkürlichen Reaktionen aber nirgends in solche, die das Ergebnis rein physischer Widerfahrnisse sind, und solche, die aus psychophysischen Widerfahrnissen resultieren. Wir dürfen aus dem Unterschied, den wir in ihnen sehen, nicht schließen, dass auch er einen solchen Unterschied
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Laut Holler ist das der eigentliche Grund, warum Seneca sie im selben Atemzug nennt (vgl. Holler 1934, S. 18f.). Ähnlich Inwood 2005, S. 54: „Shivering when splashed with cold water and a creepy feeling when touching certain objects seem to me to be strictly bodily reactions. But the bristling of our hair when frightened by bad news and blushing at improper language – these reactions clearly involve considerable cognitive and social sophistication.“ Den Schwindel verortet Inwood dazwischen: „Feeling dizzy when looking down from a height seems to fall between the two extremes“ (ebd.). Sorabji redet von physical initial shocks und mental initial shocks (vgl. Sorabji 2000, S. 68). Damit erweckt er allerdings den Eindruck, als sei der mentale Initialschock nicht körperlich. Senecas Beispiele sprechen jedoch eine andere Sprache. Die nachfolgenden Beispiele finden sich in dieser Reihenfolge in Sen. dial. 4,3,2 (= de ira 2,3,2). Vgl. Sen. dial. 4,3,3 (= de ira 2,3,3).
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machen wollte. Er spricht nicht, wie etwa James Scott behauptet, von zwei Impetus-Arten, die unterschiedliche moralische Relevanz haben.364 Zudem geht Seneca an keiner Stelle davon aus, dass die unwillkürlichen Reaktionen von etwas Irrationalem in der Seele hervorgerufen werden. Weder in dieser noch in jener Hinsicht kann er also von Poseidonios beeinflusst sein.365 Seine aus unserer Perspektive unzureichende Unterscheidung möglicher unwillkürlicher Reaktionen ist vielmehr eine Folge seines Leib-Seele-Dualismus: Sie scheinen für ihn nur deshalb aufzutreten, weil wir einen Körper haben. Ihre Ursache ist der Körper. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass er sie bisweilen schlicht als Regungen des Körpers und nicht etwa als seelisch-körperliche Reaktionen bezeichnet:366 Nam si quis pallorem et lacrimas procidentis et irritationem umoris obsceni altumve suspirium et oculos subito acriores aut quid his simile indicium affectus animique signum putat, fallitur nec intellegit corporis hos esse pulsus. Wenn nämlich jemand Erbleichen, das Hervordringen von Tränen, die Erregung von Flüssigkeiten im Schambereich, einen tiefen Seufzer, plötzlich geweitete Augen oder etwas Ähnliches für einen Hinweis auf einen Affekt und für Zeichen einer bestimmten seelischen Verfassung hält, dann irrt er sich und verkennt, dass dies Regungen des Körpers sind.
Dass unwillkürliche Reaktionen generell nichts weiter als Regungen des Körpers sind, mag merkwürdig erscheinen, vor allem wenn man wie Seneca annimmt, dass einigen von ihnen Erscheinungen – also mentale Ereignisse – vorausgehen. Aber wir finden bei ihm keine Hinweise darauf, dass sie einen anderen Ursprung haben könnten. Was auch immer uns widerfährt, sei es eine Erscheinung von einem Unrecht oder Spritzer kalten Wassers auf unserer Haut – wenn wir daraufhin eine unwillkürliche Reaktion zeigen, liegt das allein daran, dass wir einen Körper besitzen.367 s
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Vgl. Scott 1986, S. 97: „Seneca speaks of two types of impetus. Both are irrational and involuntary in origin, but one kind is generally described as bodily reaction that usually has little moral consequence. [...] The second type can lead to more serious ethical ramifications“ (orig. Herv. geändert). Ich würde Poseidonios’ Klassifikation der πάθη gerade nicht als Senecas „Hauptquelle der Inspiration“ für seine Annahme ansehen, dass wir auf bestimmte Ereignisse unwillkürlich reagieren, wie Rist 1989, S. 2002 vorschlägt. Sen. dial. 4,3,2 (= de ira 2,3,2), Übers. Wildberger, modifiziert, eig. Herv. Auch in den Epistulae morales charakterisiert Seneca Zittern, Schmerz und Erblassen uneingeschränkt als Empfindungen des Körpers (vgl. Sen. epist. 71,29 und S. 82). Senecas Leib-Seele-Dualismus impliziert im Übrigen nicht, dass die Seele immateriell ist, vgl. Sen. epist. 50,6: Quid enim est aliud animus quam quodam modo se habens spiritus („Was nämlich anderes ist die Seele als ein auf bestimmte Weise sich verhaltendes Pneuma?“, Übers. Rosenbach, modifiziert); vgl. auch Sen. epist. 106,4: [...] et hoc [sc. animus] corpus est („[...] auch sie [die Seele] ist ein Körper“, eig. Übers.). Das
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Eine weitere Besonderheit der unwillkürlichen Reaktionen ist die Tatsache, dass sie nicht nur in realen, sondern auch in fiktiven Situationen vorkommen. Sie treten selbst dort auf, wo voraffektauslösende Erscheinungen von etwas Nichtvorhandenem ausgehen, also von etwas, das nicht der Fall bzw. nicht mehr der Fall ist, wie etwa bei Theateraufführungen oder der Lektüre längst vergangener Ereignisse.368 Auch der Anblick eines auf der Bühne dargestellten Schiffbruches zieht bisweilen eine unmittelbare Reaktion nach sich, zum Beispiel Stirnrunzeln.369 Ähnliches geschieht, wenn man etwa liest, wie Hannibal nach der Schlacht von Cannae mit seinem Heer vor den Stadtmauern Roms liegt: Es durchzuckt einen, obwohl der Krieg der Römer gegen Hannibal längst der Vergangenheit angehört. Der durch eine Erscheinung von einem Unrecht unmittelbar ausgelöste Voraffekt, der zu einer ebenso unmittelbaren Reaktion führen kann, ist für Seneca aber noch keine Wut.370 Wut ist, wie er argumentiert, kein einfacher (simplex), sondern ein komplexer Antrieb (impetus compositus), weil sie mehrere Momente umfasst (plura continens)371 – genau wie eine Handlung nach seinen Überlegungen im 113. Brief und denen der älteren Stoiker mehrere Momente umfasst. Die verschiedenen Wutmomente beschreibt er auf dreifache Weise:372 (1) […] speciem capere acceptae iniuriae et ultionem eius concupiscere et utrumque coniungere, nec laedi se debuisse et vindicari debere, non est eius impetus qui sine voluntate nostra concitatur. […] eine Erscheinung von einem erlittenen Unrecht zu haben und eine Begierde nach Rache zu entwickeln und beides miteinander zu verbinden, dass man nicht hätte verletzt werden dürfen und dass das vergolten werden muss, so etwas kann ein Antrieb, der ohne unseren Willen erregt wird, nicht leisten. (2) […] intellexit aliquid, indignatus est, damnavit, ulciscitur. […] Man hat etwas erkannt; man hat sich empört; man hat jemanden verurteilt; man rächt sich.
s
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bedeutet, dass Seneca Leib-Seele-Dualist und Materialist ist. Beide Positionen sind durchaus kompatibel (wenn man beispielsweise voraussetzt, dass es eine Materie der Seele und eine Materie des Körpers gibt). Zum Unterschied zwischen Leib und Seele und ihrem Verhältnis bei den Stoikern allgemein vgl. Long 1982. Er argumentiert, dass sie nach stoischer Auffassung zwei getrennte, aber vollständig miteinander vermischte (blended) Substanzen sind. Vgl. Sen. dial. 4,2,3 (= de ira 2,2,3). Vgl. Sen. dial. 4,2,5 (= de ira 2,2,5), auch nachfolgend. Vgl. Sen. dial. 4,3,5 (= de ira 2,3,5). Vgl. Sen. dial. 4,1,4 (= de ira 2,1,4). Laut Inwood 2005, S. 55 spricht vieles dafür, dass Seneca der Erste war, der einfache von komplexen Antrieben unterschied. Sen. dial. 4,1,4 (= de ira 2,1,4), Übers. Wildberger, modifiziert.
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Darüber hinaus spricht Seneca (3) von drei Bewegungen (motus), aus denen sich sowohl die Wut als auch andere Affekte zusammensetzen.373 Die erste Bewegung – der Voraffekt – ist ihm zufolge, wie schon erläutert, unwillkürlich (non voluntarius). Die zweite Bewegung wird mit einem „nichtverbissenen“ Willen ausgeführt (cum voluntate non contumaci), „[...] etwa dass ich mich rächen muss, weil ich verletzt wurde [oporteat me vindicari cum laesus sim], oder dass der Mann da eine Strafe erleiden muss, weil er ein Verbrechen begangen hat [oporteat hunc poenas dare cum scelus fecerit]“.374 Bei der dritten Bewegung handelt es sich um den eigentlichen Affekt selbst, der ungestüm ist (impotens) und sich deshalb der Kontrolle der Vernunft entzieht (wörtlich: rationem evicit)375 – wie der exzessive Antrieb von Chrysipps Sprinter, dessentwegen dieser nicht auf Anhieb zum Stehen kommt, wenn er zum Stehen kommen will.376 s
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Seneca beschränkt die drei Bewegungen nicht auf die Wut. Das geht aus dem Satz hervor, mit dem er sie inhaltlich einleitet (vgl. Sen. dial. 4,4,1 [= de ira 2,4,1]): Et ut scias quemadmodum incipiant affectus aut crescant aut efferantur [...] („Und damit du weißt, wie Affekte einsetzen, anwachsen und ausbrechen [...]“, eig. Übers. und Herv.). Daran zeigt sich, dass Seneca mit seiner Schrift De ira auch einen Beitrag zum Verständnis von Affekten generell leisten will (contra Gartner 2015, S. 215, Fußn. 5). Sen. dial. 4,4,1 (= de ira 2,4,1), Übers. Wildberger, modifiziert. Kurz zuvor spricht Seneca auch davon, dass ein Affekt vorstürmt (excurrere; vgl. Sen. dial. 4,3,4 [= de ira 2,3,4]). Dass Seneca Chrysipps Sprinterbeispiel kannte, legt Sen. dial. 4,35,2 (= de ira 2,35,2) nahe: „Schließlich ist nur eine Geschwindigkeit akzeptabel, die dort zum Stehen kommt, wo sie soll, die nicht über den Haltepunkt, den man ihr bestimmt hat, hinausschießt und die aus dem Lauf wieder auf ein Schritttempo abgebremst werden kann“ (Übers. Wildberger). Für eine andere Interpretation der drei Affektbewegungen vgl. Fillion-Lahille 1984, S. 181, Graver 1999, S. 301, Fußn. 2 und Graver 2007, S. 125– 130. Beide vertreten den Standpunkt, dass die zweite Affektbewegung der eigentliche Affekt, die dritte dagegen die rohe Aggression (feritas) ist, die Seneca in Sen. dial. 4,5,1–5 (= de ira 2,5,1–5) thematisiert. Gegen diese Interpretation spricht, dass Affekte bei Seneca als contumaces und nie als non contumaces beschrieben werden (vgl. Fußn. 385 und Gartner 2015, S. 224). Graver, die sich dessen bewusst ist, bezieht non contumax darum zunächst auch nicht auf den Affekt, sondern auf die ihm zugrundeliegende Entscheidung (vgl. Graver 2007, S. 130). Trotzdem sei der Affekt aber auch selbst „noncontumacious“ – im Vergleich zur feritas (vgl. ebd.). Wenn die zweite Affektbewegung aber wirklich den eigentlichen Affekt darstellen soll, würde man, wie auch sonst in De ira, ein ausdrucksstärkeres Vokabular (wie eben contumax) erwarten. Außerdem spricht gegen Gravers und Fillion-Lahilles Interpretation, dass Wut und rohe Aggression laut Seneca wesensverschieden sind (vgl. Gartner 2015, S. 224). Es würde daher wenig Sinn ergeben, die Aggression als Bewegung der Wut aufzufassen. Anders als Graver denke ich auch nicht, dass Seneca vor Sen. dial. 4,4,1 (= de ira 2,4,1) nur von zwei Affektbewegungen, nämlich dem Affekt und Voraffekt, und nun auf einmal von dreien spricht (vgl. Graver 2007, S. 126). Die voluntas kommt hier nicht zum ersten Mal zur Sprache (vgl. S. 111 und Fußn. 389, 390 und 391).
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Angesichts dieser drei Erklärungen für die Affektentstehung im Allgemeinen bzw. Wutentstehung im Besonderen stellt sich die Frage nach deren Zusammenhang. Da Seneca ihn selbst nicht herstellt, soll im Folgenden ein eigener Versuch unternommen werden, die drei Erklärungen auf sinnvolle Weise zu verknüpfen. Ich beschränke mich dabei auf die Entstehung von Wut. Mit der Erscheinung von einem Unrecht377 wird unmittelbar ein unangenehmer Voraffekt freigesetzt, der eine erste unwillkürliche Körperreaktion hervorrufen kann (etwa eine veränderte Atmung oder knirschende Zähne). Die Entwicklung der Begierde nach Rache (1) schließt aber nicht direkt daran an. Bevor es dazu kommt, muss der phänomenale Gehalt der Erscheinung durch eine konstatierende Aussage wie „Ich bin verletzt worden“ (laesus sum) (3) artikuliert werden.378 Stimmt man ihr zu, erkennt man etwas als ein Unrecht (2) und hat die Meinung, dass man verletzt worden ist (in diesem Fall glaubt jemand [putare], er sei verletzt worden).379 Es spricht nichts dagegen, die Zustimmung zu ebenjener Aussage als Werturteil zu verstehen:380 Die Verletzung wird vom Akteur als Übel aufgefasst, obwohl sie nach allgemeinstoischer Auffassung eigentlich keines ist. Trifft diese Lesart zu, muss auch die so gebildete Meinung als wertend verstanden werden.381 Erst mit dieser wertenden Meinung beginnt die Entwicklung der Begierde nach Rache. Ähnlich wie im 113. Brief – nur etwas detaillierter – beschreibt Seneca von nun an einen dynamischen Prozess:382 Aus der sich entwickelnden Begierde nach Rache wird sukzessive eine voll entwickelte Begierde nach Rache. Aber nicht ohne weiteres. Dafür muss noch eine weitere konstatierende Aussage wie „Ich hätte nicht verletzt werden dürfen“ (1) getroffen werden, zu der man durch die vorhergehende wertende Meinung, dass man verletzt worden ist, veranlasst wird. Stimmt man dieser Aussage zu und fällt sozusagen ein zweites – allerdings kontrafaktisch formuliertes – falsches Werturteil, erhebt man auch sie in den Rang einer s
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Der Ursprung der Wut liegt in einer einzigen Erscheinung (vgl. auch Vogt 2006, S. 72), deren phänomenaler Gehalt unterschiedlich artikuliert wird. Ich schließe mich also auch bei Seneca einer grobkörnigen Lesart an (vgl. S. 38–42). Aus (3) geht noch eine andere mögliche konstatierende Aussage hervor: „Der Mann da hat ein Verbrechen begangen“. Sie bringt aber nur auf andere Weise zum Ausdruck, dass man verletzt worden ist. Deshalb greife ich sie im Folgenden nicht wieder auf. Vgl. Sen. dial. 4,3,4 (= de ira 2,3,4). Man erinnere sich daran, dass für Seneca im 89. Brief das erste Moment einer Handlung darin besteht, dass man richtig über den Wert der Dinge urteilt. Nicht lediglich der Umstand, dass ich verletzt worden bin, wird festgestellt (so wie wenn ich feststelle, dass meine Armbanduhr stehengeblieben ist), sondern dass die Verletzung an mir ein Übel ist. Deshalb denke ich nicht, dass man die Meinung, um die es hier geht, wie Jula Wildberger als „objektiv feststellende Meinung“ bezeichnen sollte (vgl. das Nachwort zu ihrer Übersetzung von Senecas Schrift De ira, S. 310). Vgl. auch Gartner 2015, S. 223 und Müller 2018, S. 438, der von einer „galoppierenden Ausdehnung der Leidenschaft im Geist des Akteurs“ spricht.
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wertenden Meinung (in diesem Fall glaubt jemand, er hätte nicht verletzt werden dürfen). Spätestens an dieser Stelle setzt die Empörung ein (2) und leistet der Entwicklung der Begierde nach Rache massiv Vorschub. 383 Der Handlungsantrieb wird um ein Vielfaches verstärkt, was sich auch in der Aussage niederschlägt, mit der die in der Entwicklung nunmehr fortgeschrittene Begierde nach Rache zum Ausdruck gebracht wird. Sie lautet zum Beispiel: „Das muss vergolten werden“ (debet vindicari) (1) oder „Ich muss mich rächen“ (oportet me vindicari) (3) oder „Der Mann da muss eine Strafe erleiden“ (oportet hunc poenas dare) (3). Die so oder ähnlich formulierte normative Aussage wird anschließend mit der wertenden Meinung, dass man verletzt worden ist, gerechtfertigt: Man muss sich rächen, weil man verletzt worden ist (3).384 Zwar sagt es Seneca nicht ausdrücklich, aber es ist anzunehmen, dass die normative Aussage aus seiner Sicht auch mit der wertenden Meinung, dass man nicht hätte verletzt werden dürfen, gerechtfertigt wird. Man sagt sich also, dass man sich rächen muss, weil man verletzt worden ist und weil man nicht hätte verletzt werden dürfen. Was daraufhin geschieht, ist für den weiteren Verlauf der Wutentstehung entscheidend: Ist die voluntas contumax, stimmt man der normativen Aussage, die mit der in der Entwicklung fortgeschrittenen Begierde nach Rache verbunden ist, nicht zu und verhindert so, dass sich die Wut voll entwickelt; ist die voluntas non contumax, stimmt man der normativen Aussage, die mit der in der Entwicklung fortgeschrittenen Begierde nach Rache verbunden ist, zu und gestattet so, dass sich die Wut voll entwickelt.385 s
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Auch für Stevens 2000, S. 158 setzt die Empörung erst nach der ersten Beurteilung der phantasia ein. Sie könnte aber auch eine unmittelbare Reaktion auf die Erscheinung von einem Unrecht sein. Verortet man sie dort, ist es die zweite wertende Meinung allein, die der Entwicklung der Begierde nach Rache massiv Vorschub leistet. Vgl. auch Gartner 2015, S. 221. Vogt versteht diese, wenn man so will, fehlerhafte Überlegung (dass man sich rächen muss, weil man verletzt worden ist) als eine komplexe Erscheinung (vgl. Vogt 2006, S. 71). Eigentlich hat contumax bei Seneca häufig eine negative Bedeutung: Affekte sind zum Beispiel contumaces, das heißt widerspenstig – vgl. exemplarisch Sen. dial. 12,17,1 (= ad Helv. 17,1) und TLL 4,0,798,52f.: [...] [dolor] ferox enim et adversus omne remedium contumax est („[...] der Kummer ist wild und widerspenstig gegen jedes Heilmittel“, eig. Übers.). Bisweilen verwendet Seneca contumax bzw. contumaciter aber auch im positiven Sinne – vgl. Sen. nat. 3, praef. 13 (TLL 4,0,798,57f.): quid est praecipuum? animus contra calamitates fortis et contumax [...] („Worauf kommt es an? Auf eine Seele, tapfer und trotzig gegen Schicksalsschläge [...]“, eig. Übers.); vgl. ferner Sen. epist. 108,7 (TLL 4,0,799,6): Si quid acriter contra mortem dictum est, si quid contra fortunam contumaciter, iuvat protinus quae audias, facere („Wenn ein Wort leidenschaftlich gegen den Tod gesprochen worden ist, wenn eines gegen das Schicksal trotzig, macht es Freude, sofort zu tun, was man hört“, Übers. Rosenbach); aus Sen. epist. 78,1 (TLL 4,0,798,83) geht schließlich hervor, dass man sich Krankheiten trotzig zur Wehr setzen kann (adversus morbos contumaciter gerere). Insofern erscheint es legitim, die voluntas contumax positiv und die voluntas non contumax negativ zu deuten.
Handlungspsychologie und Gefühlslehre bei Seneca
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Das Auftauchen der voluntas an dieser Stelle hat Anlass dazu gegeben, sie als eine autonome seelische Kraft zu deuten, die der in der Entwicklung begriffenen Begierde nach Rache Widerstand leistet.386 Seneca vermittelt aber den Eindruck, als wäre sie für ihn letztlich nichts anderes als eine Zustimmung bzw. das Zustimmungsvermögen. Zu Beginn des zweiten Buches von De ira fragt er, „[...] ob Wut sofort schon auf die Erscheinung selbst folgt und ohne Beteiligung des Geistes vorwärtsstürmt, oder ob diese Bewegung nur mit Zustimmung der Seele einsetzt“.387 Der zweite Teil der Frage, der Senecas eigene Position widerspiegelt, legt nahe, dass für ihn die Zustimmung die Hauptursache für die Entstehung von Wut ist – den Willen erwähnt er mit keinem Wort.388 Wenig später, wenn er seine Anfangsfrage beantwortet, sagt er aber, dass, „[...] eine Erscheinung von einem erlittenen Unrecht zu haben und einen Antrieb zu entwickeln und beides miteinander zu verbinden, [...] ein Antrieb, der ohne unseren Willen erregt wird [sine voluntate nostra], nicht leisten [kann]“.389 Hier wiederum scheint für ihn der Wille die Hauptursache für die Entstehung von Wut zu sein, wobei er die Zustimmung unerwähnt lässt.390 Einmal sagt Seneca von der Wut sogar in ein und demselben Satz, sie sei eine „[...] Erregung der Seele, die sich aufgrund von Wille und Urteil [voluntate et iudicio] weiter auf das Ziel der Rache zubewegt“391 – als verwendete er ein Hendiadyoin.392 Etwas mit einem nichtverbissenen Willen zu tun, scheint
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Vgl. Zöller 2003, S. 11, 26, 30, Fußn. 27, 87, 92, 133, 134 und 146. Vgl. Sen. dial. 4,1,3 (= de ira 2,1,3): [...] sed utrum speciem ipsam statim sequitur et non accedente animo excurrat, an illo assentiente moveatur quaerimus (Übers. Wildberger, modifiziert, eig. Herv.). Gleiches geht aus einer Aussage hervor, die er etwas später trifft (vgl. Sen. dial. 4,3,4 [= de ira 2,3,4]): Ira non moveri tantum debet sed excurrere; est enim impetus; numquam autem impetus sine assensu mentis est [...] („Wut muss nicht nur in Bewegung gebracht werden, sie muss vorwärtsstürmen. Sie ist nämlich ein Antrieb. Und einen Antrieb gibt es nie ohne Zustimmung des Verstandes“, Übers. Wildberger, modifiziert). Abgesehen davon, dass in Senecas Augen hier offenbar wieder die Zustimmung und nicht der Wille die Hauptursache für die Entstehung von Wut ist, sind noch zwei weitere Dinge zu bemerken: Zum einen begeht Seneca einen geringfügigen Widerspruch, denn in Sen. dial. 4,1,1 (= de ira 2,1,1) räumt er ein, dass es impetus gibt, die ohne Absicht entstehen, die also nicht von unserer Zustimmung abhängen; zum anderen ist es nun die mens und nicht der animus wie in Sen. dial. 4,1,3 (= de ira 2,1,3), mit der zugestimmt wird. Da Seneca den Übergang von dem einen zum anderen Begriff nicht eigens erläutert, ist anzunehmen, dass er sie synonym gebraucht. Vgl. ebd., Übers. Wildberger, modifiziert, eig. Herv. Vgl. auch Sen. dial. 3,8,1 (= de ira 1,8,1), wo Seneca sagt, dass einem Affekt aufgrund unseres Willens (voluntate nostra) – und nicht etwa aufgrund unserer Zustimmung – irgendwelche Befugnisse eingeräumt werden. Vgl. Sen. dial. 4,3,5 (= de ira 2,3,5), Übers. Wildberger, modifiziert, eig. Herv. Auch laut Malchow 1986, S. 46 handelt es sich um ein Hendiadyoin.
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Das handlungspsychologische Fundament
demnach nichts anderes zu bedeuten, als dass man eine nichtverbissene Zustimmung erteilt.393 Aber was ist eine nichtverbissene Zustimmung? In jedem Fall muss sie einem nichtweisen Geisteszustand entstammen, da sie dazu führt, dass die in der Entwicklung fortgeschrittene Begierde nach Rache zu einer voll entwickelten Begierde nach Rache wird. Nichtverbissen könnte sie sein, weil infolge der fehlenden Weisheit die Geisteskraft fehlt, sich der anbahnenden Wut zu widersetzen.394 Das wirkt aber so, als stünde es der nichtweisen Person nicht frei, die Wutentstehung aufzuhalten, was der gesamten Stoßrichtung von De ira 2,1–4 (= dial. 4,1–4) zuwiderläuft. Trotz ihres moralisch unvollkommenen Geisteszustandes kann sie Zustimmungen geben oder nicht geben und so die Wutentstehung be- oder entschleunigen. Ihre fehlende Weisheit hat aber zur Folge, dass sie nicht weiß, was gut und schlecht ist sowie was getan und unterlassen werden soll. Deswegen lässt sie sich schneller von einem Voraffekt irritieren und gibt Zustimmungen, die dessen Weiterentwicklung zu einem Affekt begünstigen.395 Stimmt man der normativen Aussage, dass man sich rächen soll, zu, fällt man ein falsches normatives Urteil und verurteilt den Delinquenten (2). Von diesem Moment an hat man die normative Meinung „Rächen!“.396 Der Affekt lenkt nun-
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Vgl. auch Abel 1983, S. 80, der lapidar anmerkt: „voluntas non contumax = συγκατάθεσις“. Dieselbe Auffassung vertritt Malchow 1986, S. 49: „[…] [D]er alter motus cum voluntate non contumaci (§ 1) [entspricht] der συγκατάθεσις […].“ Vgl. Cic. ac. 2,66, wo Cicero über sich sagt: non sum sapiens; itaque visis cedo nec possum resistere („Ich bin nicht weise; deshalb gebe ich Erscheinungen nach und vermag ihnen keinen Widerstand zu leisten“, Übers. Schäublin). Eine solche Lesart erinnert an Zöller 2003 (Stellen in Fußn. 386), ohne jedoch davon auszugehen, dass der Wille etwas anderes als das Zustimmungsvermögen ist. Ähnlich Vogt 2006, S. 70: „[…] [T]he fact that she [the agent] thinks in terms of what is right or appropriate (oportet) bears witness to the fact that her will is not ,insistent‘.“ Wie Therese Fuhrer herausgearbeitet hat, ist das Spontaneitätskriterium also dennoch nicht erfüllt, weil der Wille letztlich dem habitus animi unterstellt ist und deshalb nicht vollkommen frei ist (vgl. Fuhrer 2010, S. 82f. mit Rekurs auf Sen. epist. 95,57). Siehe hierzu auch meine Ausführungen zur Frage, ob man die altstoische synkatathesis als Willen verstehen kann (vgl. S. 46). Zur Frage nach dem propositionalen Gehalt der dritten Affektbewegung vgl. Kaufman 2014, S. 120–122. Kaufman argumentiert gegen Katja Maria Vogt, die den propositionalen Gehalt der dritten Affektbewegung mit „I have to take revenge because I have been offended“ wiedergibt (vgl. Vogt 2006, S. 71), und gegen Richard Sorabji, der meint, er müsse mit „I must be avenged, come what may“ wiedergegeben werden (vgl. Sorabji 2000, S. 62). Laut Kaufman muss die Überzeugung, die mit der dritten Affektbewegung korreliert, aber schlicht lauten: „I must be revenged“ (vgl. Kaufman 2014, S. 122). Wenn ein Affekt aber ein Antrieb ist – und das ist er Seneca zufolge –, und wir den Bericht von Stobaios ernst nehmen, wonach Zustimmungen auf Aussagen gerichtet sind, Antriebe aber auf Prädikate, die sprachlich unvollständige Gebilde sind (vgl. Stob.
Handlungspsychologie und Gefühlslehre bei Seneca
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mehr das Geschehen und die Vernunft kann für eine bestimmte Zeit nicht die Kontrolle zurückgewinnen (3).397 Ob sich die Begierde nach Rache dann direkt in einen Racheakt umsetzt, lässt Seneca jedoch offen. Schlussendlich wird die Rache am Delinquenten aber verübt (2) (sofern sich keine Hindernisse in den Weg stellen). Die Wutentstehung beruht für Seneca also auf mindestens drei Urteilen: auf einer Zustimmung zu einer faktisch formulierten konstatierenden Aussage, auf einer Zustimmung zu einer kontrafaktisch formulierten konstatierenden Aussage und auf einer Zustimmung zu einer normativen Aussage.398 Die altstoische Handlungspsychologie und Gefühlslehre sieht, unseren Quellen nach zu urteilen, dagegen insgesamt nur zwei Urteile vor, nämlich eine Zustimmung zu einer faktisch formulierten Aussage und eine Zustimmung zu einer normativen Aussage.399 s
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anthol. 2,88,4f. und S. 43 sowie Fußn. 45) – dann kann der propositionale Gehalt der dritten Affektbewegung eigentlich nicht in einer vollständigen Aussage bestehen. So gesehen lässt sich auch Kaufmans Vorschlag infrage stellen. Aus meiner Sicht dürfte ein selbstreferenzieller Befehl wie „Rache!“ den propositionalen Gehalt der in der dritten Affektbewegung gebildeten normativen Meinung am ehesten wiedergeben. In der Tragödie gelten wiederum andere Regeln. Wie zu sehen sein wird, sind die tragischen Persönlichkeiten, die sich in der Phase der dritten Affektbewegung befinden, durchaus fähig, mehr zu sagen. Vgl. Sen. dial. 3,8,1 (= de ira 1,8,1): faciet de cetero quantum volet, non quantum permiseris („Von da an wird er [der Affekt] so viel tun, wie er will, und nicht so viel, wie du ihm erlaubst“, Übers. Wildberger). Man kann hierin mit Asmis 2015, S. 231 durchaus einen zweiten Willensmoment sehen: Konnte das vorherige Wollen noch gesteuert werden, läuft das jetzige aus dem Ruder. Das vorherige Wollen ist für sie die in der Entwicklung begriffene, von der Erscheinung von einem Unrecht ausgehende Begierde nach Rache, die sie aber mit der voluntas non contumax identifiziert: „This [a conditional, „non-stubborn“ kind of willing or wish (voluntas)], I take it, is the formation of an impulsive presentation; and it is not yet joined by assent“ (ebd.). Ich stimme ihr darin zu, dass die in der Entwicklung begriffene Begierde nach Rache eine Art des Wollens ist und durch eine Zustimmung verhindert werden kann, weiche von ihrer Interpretation aber insofern ab, als ich nicht glaube, dass Seneca die voluntas non contumax für etwas anderes als eine nichtverbissene Zustimmung hält. Auf das zweite Urteil kommt Seneca später noch einmal kurz zurück (vgl. Sen. dial. 4,31,1f. [= de ira 2,31,1f.]). Dass nichtgenerische Affekte wie die Wut weitere Urteile involvieren können, ist aus Richard Sorabjis Sicht nichts Ungewöhnliches (vgl. Sorabji 1998, S. 149: „The nongeneric emotions may involve additional judgments of their own“). Für eine orthodoxe Lesart vgl. Vogt 2006, S. 72 („[…] what is tied together are in some sense two judgments, one stating ‚I have been unjustly harmed‘, the other ‚there must be retribution‘“) und Jula Wildbergers Nachwort zu ihrer Übersetzung von Senecas Schrift De ira, S. 310 („Bei dem Affekt Wut unterscheidet Seneca [...] zwischen den zwei Arten von Meinungen, die einen Affekt begründen: erstens der ‚objektiv‘ feststellenden Meinung, dass ein Unrecht geschehen ist, und zweitens der Meinung, dass Vergeltung für dieses Unrecht etwas einem Zugehöriges ist, dass man also auch etwas tun, sich empören und
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Das handlungspsychologische Fundament
Willensstärke und Willensschwäche
Man könnte die Verbissenheit oder Nichtverbissenheit des Willens bzw. der Zustimmung bei der Entstehung von Wut (oder eines anderen Affekts) als Willensstärke bzw. Willensschwäche interpretieren. Nach dieser Interpretation ist eine Person dann willensstark, wenn sie der normativen Aussage, die mit der in der Entwicklung fortgeschrittenen Begierde nach Rache verbunden ist, nicht zustimmt. Noch willensstärker wäre sie, wenn sie ihre Zustimmung schon der faktisch formulierten konstatierenden Aussage, dass sie verletzt worden ist, verwehrt, die sie im Anschluss an den von einer Erscheinung von einem Unrecht ausgelösten unangenehmen Voraffekt artikuliert – denn dann verhindert sie von vornherein, dass es zur Entwicklung der Begierde nach Rache kommt. So willensstark ist stoisch gesehen nur die weise Person, die sich zusätzlich noch durch eine weitere Eigenschaft auszeichnet: Konstanz. Die weise Person will, wie Seneca im 20. Brief behauptet, immer dasselbe und dasselbe nicht (semper idem velle atque idem nolle), und zwar immer das moralisch Richtige (recte) und niemals das moralisch Falsche.400 Ein Unrecht ist für sie aber weder das eine noch das andere. Entsprechend wird sie in einer Situation, in der sie zu einer Erscheinung von einem Unrecht gelangt, zwar den von dieser freigesetzten unangenehmen Voraffekt empfinden und eventuell auf die ein oder andere Weise darauf reagieren; aber sie wird es nicht zur Entwicklung der Begierde nach Rache kommen lassen, weil sie der faktisch formulierten konstatierenden Aussage, dass sie verletzt worden ist, nicht zustimmt. Die nichtweise Person scheint dagegen im höheren oder geringeren Maße willensschwach zu sein. Die hochgradig willensschwache nichtweise Person stimmt in einer Situation, in der sie zu einer Erscheinung von einem Unrecht gelangt, immer oder meistens allen mit ihr verbundenen Aussagen zu, weil sie sich von ihr und dem durch sie ausgelösten unangenehmen Voraffekt irritieren lässt. Sie stimmt also sowohl der faktisch formulierten konstatierenden Aussage zu, dass sie verletzt worden ist, als auch der kontrafaktisch formulierten, dass sie nicht hätte verletzt werden dürfen; aber auch der normativen Aussage, dass das Unrecht vergolten werden muss. Die weniger hochgradig willensschwache nichtweise Person lässt sich in einer Situation, in der sie zu einer Erscheinung von einem Unrecht gelangt, ebenfalls von dieser und dem durch sie ausgelösten unangenehmen Voraffekt irritieren – aber nicht im gleichen Maße wie die hochgradig willensschwache nichtweise Person: Oftmals stimmt sie nicht allen, sondern nur einigen mit ihr verbundenen Aussagen zu (zum Beispiel nur der faktisch formulierten konstatierenden Aussage, dass sie verletzt worden ist), zuweilen sogar gar keinen. Noch s
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eine Bewegung ausführen muss“). Auch Jörn Müller vertritt eine orthodoxe Lesart (vgl. Müller 2014, S. 72): „[...] [I]n order to be angry [...] one has to hold two opinions: [i] that one has suffered an injustice and [ii] that it is right or appropriate to take revenge for this injustice.“ Vgl. Sen. epist. 20,5.
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weniger willensschwach, aber dennoch nichtweise ist, wer in einer Situation, in der er zu einer Erscheinung von einem Unrecht gelangt, meistens, aber noch nicht immer, keinen mit ihr verbundenen Aussagen zustimmt. Auch diese Person lässt sich teilweise noch von ihrer Erscheinung und dem durch sie ausgelösten unangenehmen Voraffekt irritieren (selten stimmt so jemand etwa noch der faktisch formulierten konstatierenden Aussage zu, dass er verletzt worden ist). Mit Seneca lässt sich die nichtweise Person aber nicht nur dahingehend als willensschwach einstufen, dass sie falsche Urteile über ihre voraffektauslösenden Erscheinungen fällt und dadurch die Affektentstehung beschleunigt. Er beschreibt sie – und sich zugleich – auch als einen unsteten und schwimmenden Geist, der zwischen verschiedenen Entschlüssen hin und her schwankt. Dabei geht er offenbar nicht wie in De ira 2,1–4 (dial. 4,1–4) von einer affektiven Handlungssituation aus:401 Quid est hoc, Lucili, quod nos alio tendentes alio trahit et eo unde recedere cupimus impellit? Quid conluctatur cum animo nostro nec permittit nobis quicquam semel velle? Fluctuamur inter varia consilia; nihil absolute, nihil semper. ,Stultitia‘ inquis ,est cui nihihil constat, nihil diu placet.‘ Was ist es, Lucilius, das uns, obwohl einem Ziele zustrebend, anderswohin entführt und dorthin, von wo wir uns zu entfernen wünschen, treibt? Was ringt mit unserer Seele und gestattet uns nicht, ein einziges Mal etwas zu wollen? Wir schwanken zwischen unterschiedlichen Entschlüssen: nichts wollen wir uneingeschränkt, s
401
Sen. epist. 52,1f., Übers. Rosenbach, eig. Herv. Für das Schwanken der nichtweisen Person vgl. auch Sen. epist., 20,4: [...] nemo proponit sibi quid velit, nec si proposuit perseverat in eo, sed transilit; nec tantum mutat sed redit et in ea quae deseruit ac damnavit revolvitur („[...] niemand nimmt sich vor, was er will, und wenn er sich etwas vorgenommen hat, verharrt er nicht dabei, sondern verhält sich sprunghaft; und nicht nur ändert er, sondert macht kehrt und kommt auf das, was er verlassen und verurteilt hat, zurück“, Übers. Rosenbach). Vgl. ferner Sen. epist. 20,6: Nesciunt ergo homines quid velint nisi illo momento quo volunt; in totum nulli velle aut nolle decretum est; variatur cotidie iudicium et in contrarium vertitur [...] („Es wissen also die Menschen nicht, was sie wollen, außer in dem Augenblick, da sie es wollen: Aufs Ganze hat niemand über Wollen und Nichtwollen einen Beschluss gefasst. Geändert wird täglich das Urteil und in das Gegenteil gekehrt [...]“, Übers. Rosenbach). Vgl. außerdem Sen. epist. 35,4: mutatio voluntatis indicat animum natare, aliubi atque aliubi apparere, prout tulit ventus („Ein Wechsel des Willens zeigt an, dass die Seele schwimmt und bald hier und bald dort auftaucht, je nachdem wie der Wind weht“, eig. Übers.). Vgl. weiterhin Sen. epist. 74,11: Natat omne consilium nec implere nos ulla felicitas potest („Es schwankt jeder Entschluss und kein Glück kann uns erfüllen“, eig. Übers.). Vgl. schließlich Sen. epist. 120,20: Maximum indicium est malae mentis fluctuatio et inter simulationem virtutum amoremque vitiorum assidua iactatio („Wichtigster Hinweis auf einen schlechten Geist ist das Schwanken und der ständige Wechsel zwischen dem Vortäuschen von Tugenden und der Liebe zu Lastern“, Übers. Rosenbach).
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Der nichtweise Charaktertypus, als den Seneca sich und Lucilius in dieser Passage beschreibt, ist dadurch gekennzeichnet, dass er sich ein Ziel setzt und es verfolgt, es aber nicht erreicht, ja sich sogar davon entfernt und dorthin tendiert, von wo er eigentlich fortwollte. Obwohl so jemand einen Entschluss gefasst hat, hält er nicht lange daran fest. Er überwirft ihn sogleich wieder und ersetzt ihn durch einen anderen, für die Erreichung seines Ziels weniger förderlichen Entschluss, an dem er aber auch nicht lange festhält. Kehrt er dann zu seinem ursprünglichen Entschluss zurück, hält er wieder nicht lange daran fest. Die Ursache für dieses Hin-und-herSchwanken zwischen verschiedenen Entschlüssen scheint Seneca in einem nichtweisen Geisteszustand zu sehen: Deswegen halten er und Lucilius nicht kontinuierlich und bedingungslos an der Verfolgung eines konkreten Ziels fest, sondern verfolgen einmal dieses und dann wieder jenes Ziel.402 Die Konsequenz dieses Schwankens ist, dass ihre Handlungen in keinem stimmigen Verhältnis zueinander stehen.403 Seneca fordert Lucilius deshalb bisweilen dazu auf, sich in jeder Situation selbst gleich und derselbe zu sein (ipse ubique par sibi idemque esse).404 Er soll sein ganzes Leben nach einer einzigen Regel ausrichten (unam regulam prende), sodass alle seine Handlungen eine Färbung aufweisen (unus color).405 Wie Cicero macht Seneca ein widerspruchsfreies Handeln zu einer ethischen Grundmaxime.406 Die Frage, die sich unweigerlich stellt, ist: Lässt sich das von Seneca geschilderte Schwanken zwischen verschiedenen Entschlüssen ebenfalls als Willensschwäche interpretieren? Jörn Müller hat das altstoische Konzept von Willensschwäche unter anderem als ein Oszillationsmodell charakterisiert,407 dem zufolge nicht verschiedene Seelenteile miteinander in Konflikt geraten (was nach der orthodoxen stoischen Seelenlehre ausgeschlossen ist), sondern „[…] Urteile und Strebungen [sich] in rascher Folge abwechseln“.408 Er weist allerdings darauf hin, s
402
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Würden sie an der Verfolgung eines konkreten Zieles festhalten, hätten sie einen guten Willen (vgl. S. 186–189). Vgl. Sen. epist. 20,3: Widersprüchliches Verhalten (diversitas) sei Zeichen einer schwankenden Seele (signum vacillantis animi). Vgl. ebd., 20,2. Vgl. ebd., 20,2f. In ebd., 20,2 heißt es, die Philosophie fordere, dass ein jeder nach seinem Gesetz lebt (ut ad legem suam quisque vivat). Betrachtet man Stellen wie diese, verwundert es wenig, dass Seneca zu den Lieblingsschriftstellern Immanuel Kants gehörte (vgl. Kühn 2007, S. 67). Worin diese Regel bzw. dieses Gesetz, nach der bzw. dem man leben sollte, für Seneca bestanden haben könnte, wird auf den S. 174–180 erläutert. Vgl. Cic. off. 1,44. Zuerst in Müller 2010, S. 51–54. Er geht von einer einschlägigen Stelle bei Plutarch aus (vgl. Plut. de virt. mor. 446 F–447 A). Müller 2010, S. 51.
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dass sich dieses Modell innerhalb des altstoischen Systems gleich in mehrfacher Hinsicht als problematisch erweist. Erstens: Kommt es zu einem Affekt, verliert die Vernunft aus altstoischer Sicht vorübergehend ihre Macht, was zur Folge hat, dass man nicht mehr nach Belieben Zustimmungen geben kann. Die Vernunft ist der Tyrannei des Affekts vorerst ausgeliefert und kann sich nicht ohne weiteres davon befreien. Nicht minder problematisch ist laut Müller zweitens, dass die altstoische Handlungspsychologie eigentlich keinen Platz für ein Oszillieren im angegebenen Sinne lässt.409 Eine Zustimmung zu einer mit einer antreibenden Erscheinung verbundenen normativen Aussage führt den älteren Stoikern zufolge zu einem Antrieb, der – davon geht jedenfalls der überwiegende Teil der Forschung aus410 – notwendig und hinreichend für eine Handlung ist. Ein ständiger Wechsel zwischen verschiedenen Zustimmungen, der ohne praktische Auswirkung bleibt, scheint vor diesem Hintergrund ausgeschlossen zu sein. Müller gibt deshalb zu bedenken, dass es sich vielleicht doch eher um ein Modell handeln könnte, in dem keine „[...] wirklichen Zustimmungen gegeben werden (und somit auch keine für die Handlungen hinreichenden Impulse entstehen), sondern eher ein im Vorfeld der eigentlichen Entscheidung angesiedeltes indezisionistisches Schwanken stattfindet“.411 Entschlüsse werden nach diesem Modell – man könnte von einem Indezisionsmodell sprechen – also nur abwechselnd in Erwägung gezogen, ohne dass sie tatsächlich gefasst werden. Müller hält es aber für unzutreffend, in diesem Fall von Willensschwäche zu sprechen, und zwar sowohl von diachroner Willensschwäche, die voraussetzt, dass ein zuvor gefasster Entschluss überworfen wird, als auch von synchroner bzw. klarsichtiger Willensschwäche, die nur dann auftritt, wenn man gegen ein „gleichzeitig bewusstes gegenlautendes Urteil“ handelt.412 Denn das, was diese beiden grundlegenden Formen von Willensschwäche auszeichnet, ist der Umstand, dass ein Entschluss gefasst bzw. ein Urteil gefällt wird, was bei dem vom Indezisionsmodell beschriebenen Verhalten gerade nicht der Fall ist. Ein angemessenerer Ausdruck, um das hier vorliegende handlungspsychologische Defizit begrifflich zu fassen, ist für Müller daher derjenige der Wankelmütigkeit oder Entschlussschwäche.413 Beklagt Seneca im 52. Brief seine und Lucilius’ Unentschlossenheit? Die Lage wäre für beide weit weniger ernst, wenn es sich bei ihrem Schwanken nur um Unentschlossenheit handeln würde. Ihr Problem besteht nicht darin, dass sie sich unsicher sind, welches Ziel sie anstreben sollen, und ohne Ergebnis einmal dieses und dann wieder jenes in Betracht ziehen. Sie haben tatsächlich einen Entschluss gefasst und streben tatsächlich nach einem Ziel, kommen von ihrem Weg dorthin aber ab, weil sie es aufgrund ihrer fehlenden Weisheit nicht durchgehend zu fokussieren vermögen. Man kann hier somit durchaus von echter Willensschwäche s
409 410 411 412 413
Vgl. Müller 2010, S. 53. Vgl. S. 44, Fußn. 47. Müller 2010, S. 54. Vgl. ebd. und Müller 2009, S. 19. Vgl. Müller 2010, S. 54.
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sprechen, nämlich von diachroner Willensschwäche. Das oben geschilderte Verhalten einer nichtweisen Person, die sich von ihren Voraffekten irritieren lässt und falsche Urteile fällt, kann nach den vorangegangenen Ausführungen dagegen als synchrone Willensschwäche interpretiert werden. Das willensschwache Moment besteht hier darin, dass die nichtweise Person von ihrem Voraffekt beeinflusst falsche Urteile fällt, obwohl ihr beispielsweise bewusst ist, dass eine Verletzung (etwa physischer Art) eigentlich nicht schlecht ist.414 Ob für Seneca auch das Handeln im Affekt als diachrone und synchrone Willensschwäche aufgefasst werden kann, möchte ich nachfolgend anhand von drei seiner Tragödienfiguren untersuchen.415 2.5.1 Willensschwache Charaktere in Senecas Tragödien I: Medea Müller versucht in zwei späteren Aufsätzen das stoische Konzept von Willensschwäche durch eine eingehende philosophische Analyse von Senecas Medeaund Phaedrafigur transparent zu machen. 416 Auch in diesem Zusammenhang spricht er unter anderem wieder von einem Oszillationsmodell, welches das Verhalten beider Frauen, wie er argumentiert, theoretisch erklären kann. Medea trage zunächst lange Zeit einen inneren Konflikt mit sich aus, der darin besteht, dass sie zwischen ihrer Liebe für Jason und ihrer Wut auf ihn hin- und hergerissen ist.417 Einerseits sehne sie sich nach einer Wiedervereinigung; andererseits dränge sie ihre Wut dazu, sich an ihrem Ehemann für seinen Betrug zu rächen.418 Medeas Liebe zu Jason erkalte schließlich. Aber auch dann hört ihr Schwanken, so Müller, nicht auf.419 In der Schlussszene von Senecas Tragödie sei sie wieder hin- und s
414
415
416 417 418 419
Laut Gartner 2015, S. 222 handelt es sich dennoch nicht um synchrone Willensschwäche im strikten Sinne, weil der innere Konflikt nur einen Voraffekt und keinen Affekt involviert. Meines Erachtens liegt keine synchrone Willensschwäche im strikten Sinne vor, weil die nichtweise Person nicht wider besseres Wissen handelt, sondern nur wider besseres Halbwissen. Würde sie wirklich wissen, was gut und schlecht ist sowie was getan und unterlassen werden soll, würde sie auch dementsprechend handeln. Vgl. zu Senecas ethischem Intellektualismus S. 180–185. Die nachfolgenden drei Unterabschnitte können als Widerlegung von Gartners Annahme betrachtet werden, dass mit der Entstehung eines Affekts jeder psychische Konflikt endet (vgl. Gartner 2015, S. 227: „Once anger is present […], there is no more conflict“). Etwas widersprüchlich geht sie später selbst von „passion-passion conflicts“ bei Seneca aus, auch wenn sie sie nicht für genuin akratisch hält (vgl. ebd., S. 229f.) – genuin akratisch wären sie, wenn in ihnen die Vernunft mit einem Affekt konfligierte (vgl. ebd., S. 232). Wie zu sehen sein wird, zeigen Senecas Phaedra- und Thyestfigur aber durchaus, dass selbst unter kognitivistischen Prämissen ein solcher Konflikt möglich ist. Vgl. Müller 2014 und Müller 2018. Vgl. Müller 2014, S. 81. Auf der darauffolgenden Seite führt er einige Belegstellen an. Vgl. ebd., S. 82. Vgl. ebd., S. 83.
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hergerissen – diesmal jedoch zwischen ihrer Mutterliebe und ihrer Wut auf Jason.420 Wie aus der Szene hervorgeht, beschließt sie im ersten Moment, dass ihre Kinder für das Verbrechen des Vaters büßen müssen.421 Doch es ist vermutlich deren Anblick, der ihr Herz erweichen lässt, denn plötzlich trifft sie Entsetzen und lähmt ihre Glieder, ihre Brust bebt.422 Sie stellt fest: „Gewichen ist die Wut – die Gattin ist verscheucht, die Mutter kehrt zurück.“423 Für kurze Zeit geraten Jason und seine Machenschaften in Vergessenheit, und alles, was für Medea zählt, sind nur noch sie und ihre beiden Kinder. Die Idylle bricht vor ihren Augen aber endgültig in sich zusammen, als sie sich bewusst wird, dass ihr Verbannung und Flucht bevorstehen und dass man ihr ihre Kinder wegnehmen wird.424 Von neuem kocht die Wut auf Jason in ihr auf,425 und wenig später entlädt sie sich in der Ermordung des ersten Kindes.426 Sie hält danach noch kurz an, aber nachdem Medea das tote und das noch lebende Kind mit auf das Dach ihres Hauses genommen hat, empfindet sie plötzlich Reue: „Schon schwand die Wut. Die Tat bereu ich – welche Schmach! Was tat ich Arme! Arm? Auch wenn ich es bereu, ich tat es.“427 Als sie jedoch Jason erblickt, der sich mit einem Trupp Bewaffneter vor ihrem Haus eingefunden hat, weicht die Reue neuer Wut,428 die schließlich auch zur Ermordung des zweiten Kindes führt.429 Laut Müller lässt sich Medeas Hin- und Hergerissensein – ihr Oszillieren – nach dem altstoischen Vorbild einer monistischen Psychologie interpretieren: Was bei Medea immer wieder in Konflikt gerät, seien nicht verschiedene funktional selbstständige Seelenteile – nicht Vernunft auf der einen und Leidenschaft auf der
s
420 421 422 423 424 425 426 427
428
429
Vgl. Müller 2014, S. 83. Vgl. Sen. Med. 922–925. Vgl. ebd., 926f. Vgl. ebd., 927f., Übers. Häuptli, auf die ich auch im Folgenden zurückgreife. Vgl. Sen. Med. 947–951. Vgl. ebd., 951–953. Für den Mord am ersten Kind vgl. ebd., 969–971. Vgl. ebd., 989–991. Im Übrigen verhält sich Medea genauso, wie es Seneca in Sen. dial. 4,6,2 (= de ira 2,6,2) theoretisch darlegt. Dort behauptet er, dass sich alle Wut letztendlich in Traurigkeit (tristitia) auflöst, die entweder auf Reue oder eine Niederlage folgt (vgl. S. 89, Fußn. 266). Vgl. Sen. Med. 991f. Eigentlich sagt Medea, dass sie große Lust packt (voluptas magna), ihr zweites Kind zu töten, und das sogar wider Willen (invita). An dieser Ausdrucksweise fällt zweierlei auf: Sie suggeriert erstens, dass Lust auf die Zukunft ausgerichtet ist und nicht auf die Gegenwart, wie die älteren Stoiker meinen (vgl. S. 61); und zweitens vermittelt sie den Eindruck, dass Lust kein voluntarium vitium ist. Dass Medea Wut und nicht Lust erfasst, legt jedoch der Kontext nahe. Möglicherweise hatte Seneca poetische oder metrische Gründe für ihre Wortwahl. Vgl. Sen. Med. 1018f.
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anderen Seite –, sondern aufeinanderfolgende Zustände ein und desselben Geistes,430 die jeweils durch eine Zustimmung herbeigeführt werden. Affekt und Vernunft sind, um es mit Senecas eigenen Worten aus dem ersten Buch seiner Schrift De ira (dial. 3) auszudrücken, „[...] nicht an verschiedenen und getrennten Orten angesiedelt, sondern [...] Wandlungen der Seele zum Besseren beziehungsweise zum Schlechteren“ (affectus et ratio in melius peiusque mutatio animi est).431 Erneut weist Müller jedoch darauf hin, dass das Oszillationsmodell verschiedene Probleme mit sich bringt. Es setze in gewisser Weise voraus, dass Affekte grundsätzlich instabil sind.432 Dies vertrage sich aber nicht so recht mit der Annahme, dass ein Affekt nach einer Zustimmung für gewisse Zeit persistiert und die Vernunft an der Ausübung ihrer praktischen Funktion hindert. Eine Überlegung Senecas, auf die Müller an anderer Stelle sogar eingeht,433 könnte allerdings für Klärung sorgen. Im gerade schon zitierten ersten Buch seiner Schrift De ira führt Seneca einen Einwand unbekannter Provenienz ins Feld. Der Interlokutor stellt die rhetorische Frage, ob es nicht hin und wieder vorkomme, dass manche Leute in ihrer Wut keine Vergeltung üben und den Gegner unversehrt davonkommen lassen.434 Das sei doch, so lautet die dahinterstehende Botschaft, ein Beleg dafür, dass man Wut kontrollieren kann. Nein, meint Seneca, das ist ausgeschlossen, in diesem Fall kollidiert ein Affekt nur mit einem anderen und weicht zugunsten des anderen, zum Beispiel kann Wut mit Furcht kollidieren und von ihr verdrängt werden.435 Übertragen auf Medeas Hin- und Hergerissensein bedeutet das: Sie kann ihre Liebe zu Jason, ihre Mutterliebe und ihre Wut auf Jason zwar für sich genommen vorerst nicht mehr kontrollieren; ihre Vernunft ist aber insoweit intakt, als sie eine Zustimmung erteilen kann, die zu einem neuen Affekt führt – ihr Zustimmungsvermögen ist nicht vollständig blockiert. Der durch die Zustimmung verursachte neue Affekt verdrängt den alten und kann selbst wiederum durch einen Affekt verdrängt werden. Kommt es zu keinem neuen Affekt, persistiert der alte für eine Zeit lang, ohne dass die Vernunft etwas dagegen ausrichten könnte. Affekte sind so gesehen also gleichzeitig instabil und persistent. Das zweite Problem des Oszillationsmodells hat aus Müllers Sicht mit der altstoischen Annahme zu tun, dass Zustimmungen zu normativen Aussagen, die mit antreibenden Erscheinungen verbunden sind, stets für Handlungen notwendige und hinreichende Antriebe erzeugen. Beim Oszillieren scheine dies nicht der Fall zu sein – dagegen spreche die Unentschlossenheit (indecision), die ein Akteur dabei an den Tag legt.436 Müller sieht zwei Möglichkeiten, wie man das Problem lösen könnte: a) Es gibt praktische Zustimmungen, die keine Antriebe erzeugen; s
430 431 432 433 434 435 436
Vgl. Müller 2014, S. 84. Vgl. Sen. dial. 3,8,3 (= de ira 1,8,3), Übers. Wildberger, modifiziert. Vgl. Müller 2014, S. 85. Vgl. ebd., S. 82. Vgl. Sen. dial. 3,8,7 (= de ira 1,8,7). Vgl. ebd. Vgl. Müller 2014, S. 85.
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oder b) es gibt praktische Zustimmungen, die Antriebe erzeugen, die zu schwach sind, um eine Handlung zustande zu bringen.437 Er versucht beide Optionen miteinander zu verbinden, indem er auf das von den älteren Stoikern entwickelte Konzept der schwachen Zustimmung (ἡ ἀσθενὴς συγκατάθεσις/imbecilla assensio)438 zurückgreift, es aber auf eigene Weise interpretiert. Eine praktische Zustimmung ist ihm zufolge dann schwach, wenn sie entweder gar keinen Antrieb erzeugt oder einen Antrieb, der so schwach ist, dass er von einem anderen verdrängt werden kann.439 Die Schwäche der praktischen Zustimmung komme zustande, weil sie auf Überzeugungen fußt, die in keinem stimmigen Verhältnis zueinanderstehen.440 Man könnte fragen, ob das von Müller formulierte zweite Problem wirklich besteht. Was spricht dagegen, dass aus stoischer Sicht beim Oszillieren immer handlungswirksame Antriebe erzeugt werden? In Plutarchs Beschreibung der stoischen Affektpsychologie ist nur die Rede davon, dass Zustimmungen und Antriebe in kurzer Zeit (ἐν ὀλίγῳ) aufeinander folgen – er sagt nicht, wie Müller meint, dass sie keinerlei Handlungen nach sich ziehen.441 Wie ein handlungswirksames Oszillieren aussehen kann, veranschaulichen Seneca und Lucilius, die sich dazu entschließen, ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, und es so lange verfolgen, bis sie einen anderen, objektiv gesehen schlechteren Entschluss fassen, der sie von ihrem eigentlichen Ziel wieder wegführt.442 Zu Müllers zweitem Problem lässt sich noch mehr sagen. Er formuliert es im Kontext seiner philosophischen Analyse von Senecas Medeafigur. Deren Wesenszug liegt darin, dass sie von unterschiedlichen Affekten nacheinander beherrscht wird, die stets in einer Handlung münden: (1) Das Entsetzen, das sie vermutlich beim Anblick ihrer Kinder trifft, führt dazu, dass sie sie vorübergehend verschont, obwohl sie kurz zuvor beschlossen hat, sie als Strafe für Jasons Betrug zu ermorden. (2) Die kurz darauf wiederaufflammende Wut entlädt sich in der Ermordung des ersten Kindes. (3) Die Reue, die sie anschließend auf dem Dach ihres Hauses empfindet, bewirkt, dass sie das zweite Kind für kurze Zeit verschont. Und schließlich führt (4) die Wut, die beim Anblick des vor ihrem Haus stehenden Jasons wieder in ihr auflodert, zur Ermordung des zweiten Kindes. Folglich dürfte sich Müllers zweites Problem bei Medea nicht stellen: Medea bleibt in ihrer Affektbeherrschtheit nie tatenlos – entweder unterlässt sie etwas (sie verschont) oder sie tut etwas (sie tötet). Müllers zweites Problem enthält dennoch einen interessanten Punkt, nämlich die Vermutung, dass Antriebe nach Seneca und den älteren Stoikern zuweilen s
437 438 439 440 441
442
Vgl. Müller 2014, S. 85. Vgl. S. 44, Fußn. 48. Vgl. Müller 2014, S. 86. Vgl. ebd. Vgl. Plut. de virt. mor. 447 A und Müller 2014, S. 85: „Plutarch explicitly mentions that ,assents and impulses‘ (sunkatatheseis kai hormai) change very rapidly, without producing immediate action.“ Vgl. S. 115f.
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auch durch schwache Zustimmungen hervorgerufen werden können. Seneca hatte, wie ich versucht habe zu zeigen, etwas Derartiges im Sinn, als er in seiner Darstellung der drei Affektbewegungen die Entstehung eines Affekts mit einem nichtverbissenen Willen (voluntas non contumax) in Verbindung brachte.443 Er wollte damit nichts anderes sagen, als dass ein Affekt durch eine schwache Zustimmung initiiert wird, die das Resultat eines nichtweisen Geisteszustandes ist. Müllers Annahme, dass nur ein durch eine schwache Zustimmung hervorgerufener Affekt von einem anderen verdrängt werden kann,444 lässt sich textlich aber schwer belegen – davon ist weder in Senecas Erwiderung auf den Einwand in De ira 1,8,7 (= dial. 3,8,7) noch an anderer Stelle die Rede. Ebenso fraglich ist, ob Seneca zufolge nur ein Affekt, der durch eine starke Zustimmung hervorgerufen wurde, persistiert und die Vernunft an der Ausübung ihrer praktischen Funktion hindert.445 Versteht man den nichtverbissenen Willen als schwache Zustimmung, ist streng genommen sogar das Gegenteil der Fall. Denn wie Senecas drei Affektbewegungen verdeutlichen, ist der ungestüme, die Vernunft entmachtende Affekt gerade auf einen nichtverbissenen (schwachen) Willen/eine nichtverbissene (schwache) Zustimmung zurückzuführen und nicht auf einen verbissenen (starken) Willen/eine verbissene (starke) Zustimmung. Medeas Hin- und Hergerissensein zwischen verschiedenen Affekten als Willensschwäche im Sinne des Oszillationsmodells zu begreifen, erweist sich insgesamt betrachtet somit als weniger problematisch, als Müller meint. Eine nichtverbissene Zustimmung, die zu einem Affekt führt, kann durch eine andere zu einem Affekt führende nichtverbissene Zustimmung überworfen werden. Und in beiden Fällen bleibt der Affekt nicht ohne praktische Konsequenzen. 2.5.2 Willensschwache Charaktere in Senecas Tragödien II: Phaedra Genau wie Senecas Medea versteht Müller auch seine Phaedra als eine affektbeherrschte willensschwache Persönlichkeit, die von Anfang an aber nicht von ihrer Wut, sondern von ihrer rasenden Liebe (furor) zu ihrem Stiefsohn Hippolytus getrieben ist.446 Dem diametral entgegen stehe ihre vernünftige Einsicht (ratio) in die Schändlichkeit ihres Liebeswunsches. 447 Müller beschreibt Phaedras seelischen Konflikt auch noch mit anderen Worten, ohne damit aber einen sachlichen Unterschied andeuten zu wollen: Im Wesentlichen, sagt er, sei dieser Konflikt einer zwischen erotischer Leidenschaft (amor) und sittlicher Scham (pudor),448 wobei er wieder für eine orthodox stoische Interpretation desselben eintritt: Nicht s
443 444 445 446 447 448
Vgl. S. 112–115. Vgl. Müller 2014, S. 86. Vgl. ebd. Vgl. Müller 2018, S. 433. Vgl. ebd., S. 434. Vgl. ebd.
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getrennte, funktional selbstständige Seelenteile lägen bei Phaedra im Streit (was sich unter anderem daran zeige, dass sie ihrem Liebesrasen nicht bloß zuschreibt, die Vernunft besiegt zu haben);449 vielmehr sei ihr Geist im Zustand der Leidenschaft und könne sich nicht davon befreien. Die nachfolgenden Überlegungen orientieren sich wie zuvor an den Ergebnissen Müllers, weichen von ihm aber in einem wesentlichen Punkt ab: Ihnen liegt nicht die Überzeugung zugrunde, dass Phaedras Konflikt zwischen furor und ratio derselbe ist wie zwischen amor und pudor. Wie sich herausstellen wird, handelt es sich vielmehr um zwei unterschiedliche Konflikte, in die sie in zwei unterschiedlichen Situationen gerät. Ihren ersten inneren Konflikt (den zwischen furor und ratio) macht Phaedra während der ersten Unterredung mit ihrer Amme durch. Sichtlich besorgt schärft diese ihr ein, dass sie die frevelhaften Gedanken aus ihrem Herzen verscheuchen450 und die Liebesflammen löschen (extinguere)451 oder unterdrücken (compescere)452 soll. Doch resigniert stellt Phaedra fest:453 Quae memoras scio vera esse, nutrix; sed furor cogit sequi peiora. vadit animus in praeceps sciens remeatque frustra sana consilia appetens. Was du in Erinnerung rufst, weiß ich, ist wahr, Amme; aber Liebesraserei zwingt dazu, dem Schlechteren zu folgen. Mein Sinn geht wissentlich in den Abgrund und kehrt vergeblich um, vernünftige Entschlüsse erstrebend.
Vor dem Hintergrund von Senecas drei Affektbewegungen in De ira 2,4,1 (= dial. 4,4,1) und Chrysipps Sprinterbeispiel kann man gut nachvollziehen, in welcher Phase sich Phaedra befindet. Sie hat der mit einer antreibenden Erscheinung verbundenen normativen Aussage – etwa dass es richtig ist, Hippolytus zu begehren – zugestimmt und dadurch zugelassen, dass ihr Liebesverlangen über sie die Oberhand gewinnt. Um jeden Preis will sie es nun stillen (selbst wenn Hippolytus über die Meere oder durch Felsen und Ströme flieht, würde sie ihm folgen).454 Ihre Vernunft ist in ihrer praktischen Funktion eingeschränkt, sodass sie sich vorerst nicht mehr von dem affektuösen Zustand ihres Geistes befreien kann. Sie wird, wie sie selbst mit einem bildhaften Vergleich beschreibt, fortgerissen wie ein vom reißenden Strom überwältigtes Boot.455 Gleichzeitig – und das ist das wahrhaft Tragische s
449 450 451 452 453 454 455
Vgl. Müller 2018, S. 434. Vgl. Sen. Phaedr. 130. Vgl. ebd., 131. Vgl. ebd., 165. Ebd., 177–180, Übers. Thomann, auf die ich auch nachfolgend zurückgreife. Vgl. Sen. Phaedr. 483–525. Vgl. ebd., 183.
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– ist sie sich bewusst, dass sie ihren Stiefsohn nicht begehren sollte.456 Müller spricht in diesem Zusammenhang von einem Persistenzmodell, mit dem, wie er deutlich macht, synchrone bzw. klarsichtige Willensschwäche erklärt werden kann. 457 Ist Phaedras innerer Konflikt im Sinne dieses Modells zu verstehen? Zweifellos handelt sie wider besseres „Wissen“.458 Aber sie tut es nicht aus freien Stücken: Der Affekt der Liebesraserei zwingt sie dazu, dem Schlechteren zu folgen. Es ist nicht so, dass sie in einem nichtaffektiven oder voraffektiven Zustand „weiß“, dass sie Hippolytus nicht begehren sollte und sich trotzdem dazu entschließt, ihn zu begehren. Nur in diesem Fall würde man aber von synchroner Willensschwäche sprechen. Phaedras innerer Konflikt ist zwar auch synchron – sie tut etwas, von dem sie sich zugleich bewusst ist, dass sie es nicht tun sollte; er kommt aber überhaupt erst durch ihren Affekt zustande (für den sie wiederum selbst verantwortlich ist). In Anbetracht dessen erscheint es sinnvoll, zwischen einer affektiven und einer nichtaffektiven bzw. voraffektiven synchronen Willensschwäche zu unterscheiden, von denen im Grunde nur die letzteren beiden Formen Fälle genuiner synchroner Willensschwäche sind.459 Phaedra ist willensschwach im Sinne der affektiven synchronen Willensschwäche. In ihren zweiten inneren Konflikt (den zwischen pudor und amor) gerät Phaedra bei ihrem Aufeinandertreffen mit Hippolytus. Nach seinem ergebnislosen Gespräch mit der Amme bietet sich ihr die Gelegenheit, ihm ihre ominöse Liebe zu gestehen. Als sie jedoch zu einem Geständnis ansetzt, verschlägt es ihr die Sprache:460 Sed ora coeptis transitum verbis negant; vis magna vocem mittit et maior tenet. vos testor omnis, caelites, hoc quod volo me nolle. Aber mein Mund versagt den begonnenen Worten die Äußerung; eine große Gewalt lässt meine Stimme sich erheben, und eine größere hält sie zurück. Euch rufe ich alle zu Zeugen an, dass ich das, was ich will, nicht will.
Ähnliches widerfährt Phaedra, so scheint es, später noch einmal, diesmal aber mit Theseus. Die Szene beginnt damit, dass er aus der Unterwelt zurückkehrt und s
456 457 458
459 460
Auch Christopher Gill hebt diese Gleichzeitigkeit hervor (vgl. Gill 2009, S. 69). Vgl. Müller 2010, S. 57, Müller 2014, S. 77f. und Müller 2018, S. 443. Die Anführungszeichen sollen deutlich machen, dass es sich nicht um echtes Wissen handeln kann. Würde Phaedra über echtes Wissen verfügen, wäre sie gar nicht erst in einen Affekt geraten. Wissen heißt hier so viel wie „sich bewusst sein“. Als voraffektive synchrone Willensschwäche verstehe ich das Verhalten der nichtweisen Person, die sich von ihren Voraffekten irritieren lässt (vgl. S. 114f.). Sen. Phaedr. 601–604.
Handlungspsychologie und Gefühlslehre bei Seneca
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seine Gattin plötzlich mit einem Schwert in der Rechten vorfindet.461 Verdutzt fragt er sie, warum sie sich denn etwas antun will – jetzt, wo sie wieder vereint sind. Sie rückt lange nicht mit der Sprache heraus, gebraucht allerlei Ausreden, von denen manche nahezu sentenzhaften Charakter haben („Was du nicht willst, dass ein anderer verschweige, verschweige zuerst selbst“)462 . Theseus’ Androhung, dann eben ihrer Amme durch Schläge und Fesseln die Wahrheit zu entlocken,463 bringt sie schließlich doch noch zum Sprechen. Aber auch dann ringt sie sich nur eine schleierhafte Antwort ab: Statt Hippolytus’ Namen zu nennen, verweist sie lediglich auf sein Schwert und fügt verleumderisch hinzu, dass es das Schwert ihres Schänders (stuprator) sei, das er in der ganzen Aufregung zurückgelassen habe464 – es sei die Antwort auf Theseus’ Frage. Phaedra hält in beiden Fällen offensichtlich irgendetwas davon ab, ihr Anliegen vorzubringen, etwas, das mächtiger ist als sie. Aber was? Für Müller ist es keine konkurrierende Leidenschaft wie etwa Furcht oder Wut, „[...] sondern der in ihrem Geist verbliebene Rest sittlicher Scham (pudor), der ihrem verbrecherischen Verhalten in beiden Szenen subkutan entgegensteht“. 465 Gegen die Annahme, Phaedras pudor als „eine Art Gewissensinstanz“466 und nicht als Affekt zu deuten, spricht allerdings, dass Cicero ihn in seiner lateinischen Version der altstoischen Affektsystematik der Furcht unterordnet.467 Leider fehlt seine Definition dieser Affekt-Unterart468 – alle anderen Affekt-Unterarten, die er zuvor aufzählt, definiert er.469 Dennoch lässt sich einiges darüber sagen: pudor entspricht dem altgriechischen aischynê, 470 das in der von Diogenes Laertios, Stobaios und Ps.Andronicus überlieferten altstoischen Affektsystematik auftaucht,471 und ist abzugrenzen von der aidôs, die dem guten Gefühl der Vorsicht untergeordnet wird.472 Graver versucht den Unterschied zwischen ersterem und letzterem Gefühl im Englischen durch die Bezeichnungen ordinary shame und moral shame deutlich zu machen.473 Während die gewöhnliche Scham, wie sie argumentiert, die Furcht vor
s
461 462 463 464 465 466 467
468 469 470 471
472 473
Vgl. Sen. Phaedr. 864–868. Vgl. ebd., 875: Alium silere quod voles, primus sile. Vgl. ebd., 882–885. Vgl. ebd., 896f. Müller 2018, S. 441. Εbd. Vgl. S. 62 und Cic. Tusc. 4,16. Auch David Wray berücksichtigt diesen Punkt nicht in seinem Aufsatz „Seneca’s Shame“ (vgl. Wray 2015). Vgl. Cic. Tusc. 4,19. Vgl. ebd., 4,17–21. Vgl. Graver 2002, S. 144. Vgl. S. 62 sowie DL 7,112, Stob. anthol. 2,90,19–91,9 und SVF 3,409 (für Ps.-Andronicus). Vgl. S. 64 sowie DL 7,116 und SVF 3,432 (für Ps.-Andronicus). Vgl. Graver 2007, S. 208.
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üblem Ruf ist474 – einem externen und damit stoisch gesehen indifferenten Objekt –, sei die moralische Scham die Vorsicht vor möglichem Tadel eigener schlechter Handlungen in der Zukunft.475 Dieser Tadel, so könnte man noch hinzufügen, ist vielleicht selbst extern. Letztlich hat er aber immer etwas Internes und damit etwas, das aus stoischer Perspektive moralisch relevant ist, zum Gegenstand: die seelische Verfasstheit. Eine schlechte Handlung wirkt sich nicht nur negativ auf diese aus, sondern macht sie und ihre negativen Eigenschaften zugleich auch erkennbar für andere, und genau davor soll die moralische Scham bewahren. Graver unterstreicht zwar, dass moralische Scham als gutes Gefühl eigentlich nur vom Weisen empfunden werden kann.476 Am Beispiel Epiktets zeigt sie jedoch, dass selbst nichtweise Menschen fähig sind, moralische Scham zu empfinden, wenngleich sie bei ihnen womöglich noch nicht vollständig entwickelt ist oder sie sie absichtlich ignorieren.477 Sie helfe ihnen dabei, sich für die richtigen Handlungen zu entscheiden.478 Aber ist dieser Unterschied zwischen gewöhnlicher und moralischer Scham auch bei Seneca zu finden? Und welche Bedeutung hat Phaedras pudor, dessentwegen es ihr zweimal die Sprache verschlägt? Im 11. Brief berichtet Seneca, dass er mit einem Freund von Lucilius gesprochen hat, einem jungen Mann von guter Veranlagung (bonae indolis), wie er hervorhebt.479 Er lobt seinen Geist, seine Begabung und auch den Umstand, wie weit er schon vorangekommen ist auf dem Weg zur Weisheit. Dass er darauf noch weiter vorankommen wird, ist zu erwarten – das hat man an seiner Reaktion sehen können, die er zeigte, als er, plötzlich von ihm angesprochen, zu reden begann. Nur mit Mühe, erzählt Seneca, konnte Lucilius’ Freund seine Scham (verecundia) abschütteln und errötete. Eine solche Reaktion kommt ihm zufolge aufgrund der Neuigkeit einer Situation (novitas rei) zustande und sei nicht Folge einer schwachen seelischen Verfasstheit (infirmitas mentis). Deswegen zeigt sie nicht nur ein Jüngling, der die Weisheit noch nicht erlangt hat, sondern auch eine weise Person. Senecas Vergleich mit allerlei unwillkürlichen Reaktionen, wie etwa Schweißausbruch im Angesicht des Volkes, weichen Knien oder Zähneklappern, legt die Vermutung nahe, dass er die Scham (verecundia) als Voraffekt versteht und die von ihr hervorgerufene Schamesröte als eine unwillkürliche körperliche Reaktion darauf. Andererseits könnte es sich bei ihr, nimmt man Gravers Ausführungen in den Blick, aber auch um ein noch nicht voll ausgebildetes gutes Gefühl handeln. Dafür spricht, dass Seneca von ihr sagt, sie sei bei einem Jüngling ein gutes Zeichen s
474
475 476 477 478 479
So lauten auch die Definitionen bei Diogenes Laertios, Stobaios und Ps.-Andronicus. Vgl. DL 7,112, Stob. anthol. 2,92,3f. und Ps.-Andronicus (SVF 3,409): [...] αἰσχύνη δὲ φόβος ἀδοξίας [...]. Vgl. Graver 2007, S. 208. Vgl. auch S. 66 und Ps.-Andronicus (SVF 3,432). Vgl. Graver 2007, S. 208. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. hier und im Folgenden Sen. epist. 11,1f. und 5.
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(signum bonum). Als gutes Gefühl wäre sie jedoch von einer Zustimmung abhängig, was – wie die Vergleiche suggerieren – nicht der Fall zu sein scheint. Daher kann man nur zu dem Schluss kommen, dass die Scham (verecundia) für Seneca so etwas wie ein gutes Gefühl im Vorstadium sein muss (sozusagen eine proeupatheia). Warum er sie für gut hält, erläutert er nicht. In Anlehnung an Graver könnte man diese Lücke allerdings füllen, indem man sie als natürliche moralische Scham interpretiert:480 Lucilius’ Freund schämt sich vor Seneca, weil er für seine Worte nicht getadelt werden will; er will nichts Schlechtes tun und achtet aus diesem Grund umso mehr darauf, was er zu ihm sagt. Die verecundia kann laut Seneca aber auch eine widernatürliche Form annehmen. In diesem Fall spricht er von einer verkehrten Scham (perversa verecundia),481 und er gibt ehrlich zu, dass auch er sich noch nicht vollständig von ihr befreien konnte. Woran er das festmacht, kommt im 87. Brief zum Vorschein. Darin schildert er Lucilius, dass er seit zwei Tagen mit seinem Freund Maximus und einigen wenigen Sklaven auf Reisen ist. Sie sind in einem Bauernwagen unterwegs, der unter der Leitung eines zerlumpten Fuhrmanns (er trägt nicht einmal Schuhe) von zwei Maultieren gemächlich gezogen wird. Alles zeugt von einer ungemeinen Schlichtheit: Ein Strohsack dient Seneca als Liegemöglichkeit, von den beiden Reisemänteln, die er bei sich hat, verwendet er den einen als Unterlage, den anderen als Decke – und zum Frühstück gibt es Feigen und/oder Brot. Hin und wieder begegnet die Reisegruppe eleganteren Reisegesellschaften, und jedes Mal, wenn das geschieht, schämt sich Seneca dafür, in welchem Aufzug er unterwegs ist, und errötet unwillkürlich (invitus erubesco). Daran kann man sehen, schreibt er, dass das, was er für richtig hält, noch keinen festen und unerschütterlichen Platz in ihm eingenommen hat – dafür habe er bislang zu wenige Fortschritte gemacht (parum adhuc profeci). Ebenso wie die natürliche moralische Scham hängt auch die verkehrte Scham von keiner Zustimmung ab. Sie entsteht, ohne dass Seneca es will, und kann deswegen kein echtes Gefühl sein – zumindest aus seiner Sicht und der Sicht seiner stoischen Vorgänger. Im Unterschied zur natürlichen moralischen Scham ist die verkehrte Scham aber kein gutes Zeichen, denn sie bezieht sich auf indifferente Dinge, wie etwa einen Bauernwagen oder einen zerlumpten Fuhrmann.482 Seneca geht sogar so weit zu sagen: „Wer auf einem heruntergekommenen Wagen errötet, wird sich eines kostbaren rühmen“ (qui sordido vehiculo erubescit pretioso gloriabitur).483 Die verkehrte Scham ist also gewissermaßen die erste Ankündigung eines Lasters. Zwischen ihr und ihrem Gegenpart gibt es aber noch einen weiteren s
480
481 482
483
Das Adjektiv „natürlich“ soll anzeigen, dass Senecas verecundia im Gegensatz zur altstoischen aidôs von keiner Zustimmung abhängt. Vgl. hier und im Folgenden Sen. epist. 87,2–5. Die verkehrte Scham erinnert an Gravers ordinary shame, kann damit aber nicht gleichgesetzt werden, weil sie von keiner Zustimmung abhängt. Sen. epist. 87,4, Übers. Rosenbach.
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Unterschied: Während die natürliche moralische Scham auch von Weisen empfunden werden kann, verschwindet die verkehrte Scham offenbar, wenn man eifrig nach Weisheit strebt. Hätte Seneca mehr Fortschritte gemacht, wäre er bei seinen Begegnungen mit eleganteren Reisegesellschaften sicher auch nicht errötet. Somit kann er zwar nichts dagegen tun, dass er bei bestimmten Anlässen errötet; für den moralisch schlechten Geisteszustand, der ihn erröten lässt, ist er aber selbst verantwortlich, insofern er mehr dagegen hätte tun können.484 Ciceros lateinische Version der altstoischen Affektsystematik, Gravers Unterscheidung zwischen moralischer und gewöhnlicher Scham sowie Senecas eigene Ausführungen in seinen Epistulae morales führen mit Blick auf Phaedra nun zu einer entscheidenden Frage: Ist ihr pudor, der ihr erst gegenüber Hippolytus und dann gegenüber Theseus die Sprache verschlägt, ein gutes Gefühl oder ein Affekt? Oder ist er eine Vorstufe davon, im Sinne einer natürlichen moralischen Scham oder verkehrten Scham? Im ersten Gespräch mit ihrer Amme, kurz nachdem sie ihr ihre Ohnmacht offenbart hat, bemerkt Phaedra, dass ihr pudor noch nicht ganz aus ihrem Sinn gewichen ist.485 Sie versichert nachdrücklich: „Dass du befleckt werdest, mein Ruf, werde ich nicht zulassen“ (haud te, fama, maculari sinam).486 An dieser Aussage wird deutlich, dass Phaedra sich weniger um den ihre seelische Verfasstheit betreffenden Tadel kümmert, den sie ernten wird, wenn alle Öffentlichkeit von ihrer ruchlosen Liebe erfährt. Was sie beschäftigt, ist vielmehr etwas Indifferentes, nämlich ihr Ansehensverlust, den sie fälschlicherweise für ein wahrhaftes Übel hält. Folglich kann es sich bei ihrem pudor nicht um ein gutes Gefühl oder eine Vorstufe davon handeln. Angesichts seiner Stärke – er blockiert Phaedras Sprachvermögen – kann zudem bezweifelt werden, dass er nur eine verkehrte Scham darstellt, wie die Senecas, die er beim Zusammentreffen mit eleganteren Reisegesellschaften auf seinem Bauernwagen empfindet. Ein Voraffekt, so angenehm oder unangenehm er auch ist, kann schwerlich die Kraft haben, einen starken Affekt wie das Liebesrasen zu verdrängen – auch nicht vorübergehend. Es ist somit davon auszugehen, dass Phaedras pudor ein Affekt ist, genauer gesagt: eine besondere Art von Furcht. Mit Graver könnte man auch von einer gewöhnlichen Scham sprechen. In dem Moment, als Phaedra Hippolytus die ganze Wahrheit sagen will, kollidieren bei ihr also zwei Affekte – pudor und amor. Die Folge ist, dass sie die Worte, die sie ursprünglich sagen wollte, nicht über die Lippen bringt. Ihr Liebesrasen, das sie zu einem Geständnis drängt, bleibt praktisch unwirksam, weil sie s
484
485 486
Dietsche 2014, S. 246 übersieht diesen subtilen Unterschied in seiner Analyse des 87. Briefes. Er führt ihn als einen Beleg dafür an, dass das Erröten für Seneca „[...] nicht immer eine unwillkürliche und nicht zu verantwortende körperliche Reaktion ist“. Seneca sagt aber ausdrücklich invitus erubesco. Und trotzdem ist er, wie er zugibt, selbst schuld daran. Er ist sozusagen schuld daran, dass er unwillkürlich errötet. Vgl. Sen. Phaedr. 250. Εbd., 252, eig. Herv.
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einer anderen normativen Aussage (beispielsweise „Ansehensverlust ist zu meiden“), die mit einer anderen antreibenden Erscheinung verbunden ist, zustimmt und so den neuen Affekt der gewöhnlichen Scham in sich hervorruft. Anhand von Chrysipps Sprinterbeispiel lässt sich diese Affektkollision vielleicht noch besser veranschaulichen: Es ist so, als würde man losrennen wollen und sogleich daran gehindert werden, wobei man dazu sagen muss – um keine falsche Assoziation zu wecken –, dass man selbst der Hinderungsgrund ist und keine externe Gewalt (was die Sache wieder schwerer vorstellbar macht). Phaedra verlautbart das, was in ihr vorgeht sogar, indem sie ausruft, dass sie das, was sie will, nicht will. Deutet man ihren inneren Konflikt, wie es hier getan wurde, als eine Kollision zwischen zwei Affekten, könnte ihr Ausruf wie folgt interpretiert werden: Die kollidierenden Affekte spalten ihr Wollen, sodass sie zur selben Zeit gestehen und nicht gestehen will.487 Im Vergleich zu ihrem vorhergehenden inneren Konflikt wird sie nun also nicht von einem Affekt (furor) beherrscht, sondern von zweien (pudor und amor), die sich gegenseitig blockieren. Diese Blockade stört ihre Begierde nach Hippolytus vorübergehend, sodass sie nicht mehr wissentlich dem Schlechteren folgt; ihr affektives synchrones willensschwaches Handeln setzt zeitweilig aus. Warum kann sich Phaedras gewöhnliche Scham bei ihrer Begegnung mit Hippolytus aber dennoch nicht gegen ihr Liebesrasen durchsetzen? Mit einigen Umschweifen kommt es doch noch zum Liebesgeständnis. Zunächst gibt Phaedra nur zu, dass sie unsterblich verliebt ist, ohne aber zu sagen, in wen.488 Auf die anschließende Suggestivfrage ihres Angebeteten: „Du rasest doch wohl in reiner Liebe zu Theseus?“, antwortet sie anfangs nur indirekt. Sofort wird aber klar, was sie eigentlich sagen will: Ja, sie liebe Theseus’ frühere Züge, seinen Bart, den er gerade erst bekommen hatte, sein von Bändern zusammengehaltenes blondes Haar; den Theseus, dessen Gesicht die natürliche moralische Scham rot werden ließ und der so zarte und kräftige Arme hatte.489 Nach und nach kommt aber die unverhohlene Wahrheit ans Licht, da Phaedra den jungen Theseus langsam und zaghaft mit Hippolytus identifiziert („[...] und deiner Phöbe Antlitz oder meines Phöbus, und eher noch das deine – so, siehe, so war er [...]“490) und ihn schließlich in seiner Person aufgehen lässt („Es ist der ganze Vater in dir [...]“491). Genau genommen geht sie dabei sogar über eine bloße Identifikation hinaus, denn sie
s
487
488 489
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491
Ganz in diesem Sinne sagt sie etwas später zu Hippolytus: „[...] [Z]u sprechen verlangt und verdrießt mich“ (libet loqui pigetque; vgl. Sen. Phaedr. 637, eig. Herv.). Vgl. dazu auch Müller 2018, S. 444f. und ebd., S. 456, der Phaedras Ausruf mithilfe von Harry Frankfurts Unterscheidung eines mehrstufigen Willens erläutert. Vgl. Sen. Phaedr. 640–644. Vgl. ebd., 646–653. Hier ist ebenfalls von pudor die Rede und nicht etwa von verecundia, obwohl sie gemeint zu sein scheint. Vgl. ebd., 654f.: tuaeque Phoebes vultus aut Phoebi mei, | tuusve potius – talis, en talis fuit. Vgl. ebd., 658: est genitor in te totus [...].
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stellt fest, dass in Hippolytus noch mehr eine ungeschminkte Schönheit erstrahle.492 Eine Erklärung für die letztendliche Unterlegenheit von Phaedras pudor gegenüber ihrem Liebesrasen in der Szene mit Hippolytus könnte mithilfe einiger Bemerkungen Senecas aus dem ersten Buch seiner Schrift De ira gegeben werden. Er beschreibt die Wut dort als einen außerordentlich starken Affekt, der insbesondere am Anfang seines Auftretens eine ungeheure Kraft besitzt.493 Im Vergleich dazu haben die übrigen Affekte (ceteri affectus) aus seiner Sicht etwas Ruhiges und Friedliches an sich494 und können geheim gehalten und im Verborgenen genährt werden,495 wobei er diese Annahme jedoch gleich wieder durch eine Einschränkung abschwächt: Ihm sei durchaus bekannt, dass Affekte wie heftige sexuelle Liebe (libido), Furcht (metus) und Tollkühnheit (audacia) ebenfalls sehr stark sind und sich durch charakteristische Anzeichen bemerkbar machen.496 Dass auch Phaedras Liebesrasen, das mit der heftigen sexuellen Liebe zu identifizieren ist, hierzu gehört, steht außer Frage. Es ist den Affekten zuzuordnen, die nicht ganz so deutlich wie die Wut in Erscheinung treten, wegen ihrer Stärke aber trotzdem nicht völlig verborgen werden können. Eine Redepartie von Phaedras Amme unterstreicht dies. Sie beschreibt das Äußere ihrer Herrin nach ihrer ersten Unterredung mit den Worten: „Sie wird versengt durch stumme Glut, und selbst in seiner Verschlossenheit verrät sich, obschon es sich verbirgt, auf ihrem Antlitz das Liebesrasen; es bricht aus ihren Augen Feuer, und die matten Lider weisen das Licht zurück [...].“ 497 Gegen so einen starken Affekt vermag die gewöhnliche Scham nur wenig auszurichten. Sie kann ihn allenfalls temporär an seiner Entfaltung hindern. Letztendlich setzt sich Phaedras Liebesrasen durch und sie folgt weiter wissentlich dem Schlechteren. Warum gesteht Phaedra Theseus nach seiner Rückkehr aus der Unterwelt aber dann nicht, dass sie sich in seinen Sohn verliebt hat? Nach der vorangegangenen Erklärung müsste sie ihr Liebesrasen doch eigentlich wie bei Hippolytus schon nach kurzer Zeit zu einem Geständnis drängen. Stattdessen verleumdet sie ihren Stiefsohn und setzt dadurch seine Ermordung in Gang. Ist das nicht ein Beweis dafür, dass sich die gewöhnliche Scham zuweilen doch gegen einen starken Affekt wie das Liebesrasen durchsetzen kann? Wie soll das aber möglich sein, wenn sie s
492 493
494 495 496 497
Vgl. Sen. Phaedr. 657. Vgl. Sen. dial. 3,17,5 (= de ira 1,17,5): [...] incipit magno impetu, deinde deficit ante tempus fatigata („Wut beginnt mit einem gewaltigen Antrieb; dann – noch vor der Zeit ermüdet – schlafft sie ab“, Übers. Wildberger, modifiziert). Vgl. auch Sen. dial. 4,36,6 (= de ira 2,36,6) und Sen. dial. 5,1,3 (= de ira 3,1,3). Für eine eingehendere Auseinandersetzung mit der anfänglichen Wucht der Wut und ihrer Auswirkung auf die Wuttherapie vgl. S. 220–226. Vgl. Sen. dial. 3,1,1 (= de ira 1,1,1). Vgl. Sen. dial. 3,1,5 (= de ira 1,1,5). Vgl. Sen. dial. 3,1,7 (= de ira 1,1,7). Vgl. Sen. Phaedr. 362–365.
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zu den Affekten gehört, die ihrer Natur nach schwächer sind?498 Man könnte argumentieren, dass Hippolytus ihr eine nicht gerade sanfte Abfuhr erteilt hat: Sie habe das ganze weibliche Geschlecht an verbrecherischem Sinn übertroffen; sie sei noch viel schlimmer als ihre Mutter, die den Minotaurus geboren hat.499 Das hat Phaedra gekränkt und wütend gemacht. Gegenüber Theseus hält sie infolgedessen nicht mehr nur ihre gewöhnliche Scham davon ab, die Wahrheit offen auszusprechen; hinzu kommt auch noch ihre Wut auf Hippolytus, die sie dazu drängt, sich an ihm für seine harsche Zurückweisung zu rächen. Nicht die gewöhnliche Scham allein setzt Phaedras Liebesrasen also vorübergehend außer Kraft und verhindert damit ein Geständnis, sondern ihr gemeinsames Auftreten mit dem Affekt der Wut. Im Schlussteil des Stückes, nach Hippolytus’ bestialischem Tod, gesteht Phaedra Theseus und ganz Athen dann aber doch noch alles: dass sie sich in seinen Sohn verliebt hat (und nicht er sich in sie) und dass dessen Vergewaltigung an ihr erlogen war.500 Ihr Geständnis lässt erkennen, dass sich ihre rasende Liebe durchgesetzt hat. Sie ist letztlich auch der Grund, warum sie sich das Leben nimmt. So kann sie selbst im Hades wissentlich dem Schlechteren folgen501 – ein Bekenntnis, das ihr affektives synchrones willensschwaches Handeln offenbart. 2.5.3 Willensschwache Charaktere in Senecas Tragödien III: Thyest Medea und Phaedra scheinen nicht die einzigen Charaktere in Senecas Tragödien zu sein, die in einen inneren Konflikt geraten. Ein weiteres eindrucksvolles Beispiel ist sein Thyest. 502 Nach einiger Zeit in der Verbannung, die sein Bruder Atreus anordnete,503 entschließt er sich, zusammen mit seinen drei Söhnen wieder in seine Heimatstadt Mykene in der Argolis zurückzukehren. Von weitem sieht er schon die ihm vertrauten Häuser, Türme und Stadien und malt sich aus, wie ihm das Volk vor Freude über seine Rückkehr entgegeneilen wird.504 Dann realisiert
s
498
499 500 501 502 503
504
Zur Auffassung Senecas, dass die gewöhnliche Scham kein starker Affekt ist, vgl. auch Konstan 2015, S. 178. Vgl. Sen. Phaedr. 687–689. Vgl. ebd., 1191–1200. Vgl. ebd., 1176–1180; vgl. dazu auch Müller 2018, S. 450f. Contra Poe 1969, S. 360: „There is no inner conflict of character, but a conflict between two personalities, a good man and a bad man.“ Vgl. Sen. Thy. 220–244 für die Gründe, die zu Thyests Verbannung führten. Er soll mit Atreus’ Gattin Aeropa Ehebruch begangen haben, sodass Atreus sich nicht einmal sicher sein kann, ob seine Kinder überhaupt von ihm sind. Außerdem soll Thyest mit ihr den Widder mit dem goldenen Fell gestohlen haben. Dadurch habe er das Königshaus in Verwirrung gestürzt und das Vertrauen der Bürger in Atreus’ Herrschaft erschüttert. Vgl. ebd., 404–411f.
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Das handlungspsychologische Fundament
er jedoch, dass sicher auch Atreus darunter sein wird,505 zu dem er ein zwiegespaltenes Verhältnis hat. Denn einerseits ist gerade er dafür verantwortlich, dass Thyest und seine Söhne Zuflucht in Wäldern und Schluchten suchen mussten und gezwungen waren, dort wie Tiere zu leben.506 Andererseits ist Atreus sein Bruder, der noch dazu seit neuestem versöhnliche Töne anschlägt: Über seine Söhne Agamemnon und Menelaos ließ er verkünden, dass er den Streit beilegen und ihn zum Mitregenten machen wolle,507 sodass es ganz so aussieht, als stünde dem Königshaus eine neue – bessere – Zeit bevor. Das uneindeutige Verhalten des Bruders verunsichert Thyest. Ging er anfangs noch voller Elan und mit Zuversicht auf seine Heimatstadt zu, hemmt nun Widerwille seinen Schritt (moveo nolentem gradum).508 Sein Innerstes sträubt sich und heißt ihn zurückkehren. 509 Er ahnt, dass Atreus irgendetwas im Schilde führt. Als sein Sohn Tantalus das Zaudern seines Vaters bemerkt, fragt er ihn verwundert:510 Pigro (quid hoc est) genitor incessu stupet vultumque versat seque in incerto tenet. Zögernden Schrittes – was besagt dies? – hält mein Erzeuger inne, wendet sein Antlitz und verharrt unentschlossen.
Thyest beginnt darauf, das von ihm ins Auge gefasste Ziel ernsthaft infrage zu stellen: Warum in aller Welt sollte er nach Mykene zurückkehren und sich dort Gefahren aussetzen, die er längst überwunden hat? Das Leben in der Wildnis ist zwar auch nicht ungefährlich, aber er hat sich daran gewöhnt – es gefällt ihm sogar.511 Eigentlich spricht also alles dafür, die Rückkehraktion abzubrechen. Thyest bringt dies auch so zum Ausdruck, indem er zu sich sagt: „Wende den Schritt zurück, solange du kannst, und reiße dich los“ (reflecte gressum, dum licet, teque eripe).512 Es kommt aber nicht dazu. Er packt seine Söhne trotz aller Bedenken nicht an den Armen und kehrt um. Warum er das nicht tut, wird verständlicher, wenn man folgende Verlautbarung seines inneren Konflikts in den Blick nimmt:513 placet ire, pigris membra sed genibus labant, alioque quam quo nitor abductus feror.
s
505 506 507 508 509 510 511 512 513
Vgl. Sen. Thy. 412. Vgl. ebd., 413–415. Vgl. ebd., 294–299. Vgl. ebd., 420. Vgl. ebd., 419f. Ebd., 421f., Übersetzungen des Thyest hier und im Folgenden nach Thomann. Vgl. Sen. Thy. 427. Εbd., 428, Rechtschr. angepasst. Ebd., 436–439.
Handlungspsychologie und Gefühlslehre bei Seneca
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sic concitatam remige et velo ratem aestus resistens remigi et velo refert. Mich verlangt fortzugehen, doch wanken die Glieder, sind träge die Knie, und anderswohin, als ich strebe, werde ich zu gehen verführt. So trägt das von Ruderer und Segel getriebene Schiff die Strömung zurück, die Ruderer und Segel widerstrebt.
Eigentlich sehnt sich Thyest nach der Wildnis zurück, er stellt das Leben dort über das in Mykene. Zu Unrecht fürchte man ein hartes Los, wie er gegenüber Tantalus beteuert:514 Man schlage sich nicht mit Tributen der Völker den Bauch voll und durchzeche die Nächte, sondern speise und trinke schlicht auf nacktem Boden oder an schmalem Tisch;515 vor der bescheidenen, kaum sichtbaren Hütte zittere nicht unterwürfig die Bürgerschaft;516 am Bett hüte kein Wächter den Schlaf.517 Ein solches Leben in Armut und Verborgenheit verschaffe einem große Ruhe (magna quies). 518 Außer seiner Sehnsucht, in die Wildnis zurückzukehren, überkommt Thyest Furcht, ob der Bruder ihn und seine Söhne nicht doch in eine Falle locken will. Er weiß nicht genau, wie es um Atreus’ Absichten steht, aber er ist sich sicher, dass hinter seiner Bitte, mit ihm gemeinsam zu regieren, eine List steckt (errat hic aliquis dolus).519 Trotz dieser Gefühlslage zieht ihn irgendetwas nach Mykene, so sehr, dass seine Sehnsucht nach der Wildnis und seine Furcht vor Atreus’ Ränken nichts dagegen ausrichten können. Mit einem bildhaften Vergleich bekundet er seine Machtlosigkeit, einem Vergleich, der stark an den Phaedras erinnert, den sie im Gespräch mit ihrer Amme anstellt:520 Wie ein Schiff, dessen Besatzung vergeblich gegen die Strömung ankämpft, wird er fortgerissen. Auch er befindet sich also mitten in der dritten Affektbewegung, denkt man wieder an De ira 2,4,1 (= dial. 4,4,1). Über ihn hat ein Affekt die Oberhand gewonnen und hindert ihn daran, von seiner Vernunft uneingeschränkten Gebrauch zu machen. Was zieht ihn aber so sehr nach Mykene? Dass es reine Machtgier ist, erscheint unwahrscheinlich, denn Macht übt auf ihn offenbar keinen besonderen Reiz aus, hält man das, was er zu Tantalus sagt, nicht für bloße Heuchelei.521 Nahe liegt s
514 515 516 517 518 519
520 521
Vgl. Sen. Thy. 446. Vgl. ebd., 461f., 466f., 450f. und 452. Vgl. ebd., 455f. Vgl. ebd., 458. Vgl. ebd., 469. Vgl. ebd., 473. Einen genauen Grund für seine Furcht kann er aber nicht angeben (vgl. ebd., 434f.). Vgl. Sen. Phaedr. 183 und S. 123. Vor seiner Verbannung könnte er allerdings durchaus ein sehr machtorientierter Mensch gewesen sein. Und nicht nur das: Auch der Vorwurf des Ehebruchs und Diebstahls wirft kein besonders gutes Licht auf ihn. Vgl. dazu Lefèvre 1985, S. 1273f., der zeigt, dass nicht nur Atreus, sondern auch dem Chor ein negatives Bild von Thyest im Gedächtnis haftet. Ebenderselbe legt dar, dass Thyest nach seinem Wiedereintritt in die
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Das handlungspsychologische Fundament
zweifellos die Liebe zu seiner Heimat.522 So spricht er, als er sie aus der Ferne sieht, zuallererst von den ersehnten Häusern der Vaterstadt (optata patriae tecta) und vom Stück heimatlichen Bodens (tractum soli natalis) und erinnert sich nicht ohne einen gewissen Stolz daran, wie er in den Stadien mehrmals mit dem väterlichen Wagen die Siegespalme gewann.523 Zu den Faktoren, die Thyest unwiderstehlich nach Mykene ziehen, dürfte auch die Liebe zu seinem Bruder gehören, die er zwar nicht im Dialog mit Tantalus artikuliert, der er dafür aber an späterer Stelle Ausdruck verleiht. Nachdem er sich, ohne davon zu wissen, an seinen Söhnen satt gegessen hat, erkundigt er sich bei Atreus nach ihnen, weil er den Tag der Wiedervereinigung mit allen gemeinsam feiern will.524 Atreus tut verständnisvoll – endlich bietet sich ihm die Möglichkeit, das grausige Geheimnis zu lüften. Er fordert Thyest auf, noch einen Schluck von dem Wein zu nehmen, bei dem es sich in Wirklichkeit um das Blut seiner Kinder handelt; solange lasse er sie holen (bzw. ihre sterblichen Überreste).525 Doch noch bevor sie eintreffen, künden verschiedene Zeichen Unheilvolles an: Thyests Hand, in der er den Kelch hält, gehorcht ihm nicht mehr; der blutige Wein fließt ihm von den Lippen; der Tisch, an dem er sitzt, bewegt sich, als bebte die Erde; nur noch schwach flackert das Feuer vor sich hin; zuerst ist es halb Tag, halb Nacht, dann überzieht schwärzeste Finsternis die Welt.526 In diesem katastrophalen Moment fleht Thyest, man möge seinen Bruder und seine Söhne verschonen (fratri precor | natisque parcat).527 Der Sturm, falls es denn überhaupt einer ist, solle sich ganz auf seinem Haupt entladen.528 An diesen Worten wird deutlich, dass er nicht nur seine Söhne über alles liebt, sondern auch seinen Bruder – ansonsten wäre er nicht bereit, ebenso für ihn zu sterben. Diese Bereitschaft wirkt umso erstaunlicher angesichts der Tatsache, dass er von vornherein ausschließt, dass Atreus ihm gegenüber ähnlich gesinnt sein könnte:529 s
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Königsherrschaft wieder ganz der Alte wird (vgl. ebd., S. 1275f.). Er mache, wie Lefèvre zusammenfasst, insgesamt zwei Wandlungen durch: „einmal vom Frevler zum (scheinbar) Geläuterten, dann wieder vom (scheinbar) Geläuterten zum Frevler“ (ebd., S. 1279). Anders als Pöschl 1977, S. 229f. und anders als hier dargestellt, ist es Lefèvre zufolge aber Thyests Machtgier, die ihn wieder zurück nach Mykene führt: „Warum kehrte Thyestes zurück wenn nicht um der Herrschaft willen? Atreus hat sehr richtig erkannt, daß in jenem noch immer eine Spur des vetus regni furor lebendig ist“ (302). Auch James Romm schreibt Thyest ein „heimliches Verlangen“ nach der Königsherrschaft zu (vgl. Romm 2018, S. 219f.). Thyests Heimatliebe thematisiert auch Pöschl 1977, S. 230. Vgl. Sen. Thy. 404, 406 und 409f. Vgl. ebd., 973–975. Vgl. ebd., 978–983. Vgl. ebd., 985–995. Vgl. ebd., 995f. Es ist bemerkenswert, dass er seinen Bruder sogar zuerst nennt (vgl. Gigon 1938, S. 179). Vgl. Sen. Thy. 996f. Ebd., 476–482.
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Amat Thyesten frater? aetherias prius Perfundet Arctos pontus et Siculi rapax Consistet aestus unda et Ionio seges Matura pelago surget et lucem dabit Nox atra terris, ante cum flammis aquae, Cum morte vita, cum mari ventus fidem Foedusque iungent. Kann der Bruder einen Thyestes lieben? Eher wird die himmlischen Bären das Meer überströmen, wird die reißende Woge der sizilischen Brandung stillestehen und eine ausgereifte Saat sich aus dem jonischen Meer erheben, Licht spenden die schwarze Nacht auf Erden, zuvor mit dem Feuer Wasser, mit dem Tod das Leben, mit dem Meer der Wind Frieden und Vertrag schließen.
Der innere Konflikt, in den Thyest vor Mykene gerät, lässt sich somit als eine Kollision zwischen Sehnsucht nach einem Leben fern von jeglicher Zivilisation und Furcht vor Atreus’ Ränken auf der einen und Heimat- und Bruderliebe auf der anderen Seite deuten. Seine Heimat- und Bruderliebe ist so stark ausgeprägt, dass sie die beiden anderen Affekte an ihrer praktischen Umsetzung hindert. Er kehrt nicht in die Wildnis zurück, obwohl er eigentlich, wie er selbst sagt, dorthin zurückgehen will. Umgekehrt kann sich aber auch seine Heimat- und Bruderliebe vorerst nicht in die Tat umsetzen, weil sie von seiner Furcht und Sehnsucht gestört wird. Nicht ohne Grund überlässt er am Ende des Dialogs mit Tantalus seinen Söhnen die Entscheidung, was nun getan werden soll: „Voran denn. Dieses eine beteure ich, euer Vater: Ich folge euch, gehe nicht voran“ (eatur. unum genitor hoc testor tamen: | ego vos sequor, non duco).530 Thyest ist ähnlich gespalten wie Phaedra gegenüber Hippolytus und Theseus, nachdem dieser aus der Unterwelt zurückgekehrt ist. Ebenso wie sie kann er sich aufgrund seines inneren Konflikts einstweilen für keine der vorhandenen Handlungsoptionen entscheiden. Die bei ihm aufeinandertreffenden Affekte halten sich die Waage und hemmen ihn in seiner Entscheidungsfähigkeit. Letztendlich setzt sich aber doch seine Heimat- und Bruderliebe (wie Phaedras Liebesrasen) durch. Von diesen Affekten getrieben und sich bewusst, dass Atreus etwas gegen ihn im Schilde führt, folgt er seinen Söhnen nach Mykene – ein typischer Fall affektiver synchroner Willensschwäche.531
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Sen. Thy. 488f. (Interpunkt. sowie Groß- und Kleinschr. modifiziert). Für Analysen weiterer Szenen aus Senecas Thyest, insbesondere des Prologs, vor dem Hintergrund seiner in De ira entwickelten Affektpsychologie vgl. Staley 1981.
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Apathie vs. Metriopathie
Medea, Phaedra, Thyest – sie alle wären dazu in der Lage gewesen, Schlimmeres zu verhindern, wenn sie sich nicht ihren Affekten hingegeben hätten: Medeas Kinder wären immer noch am Leben, Phaedra hätte Hippolytus und sich selbst vor dem Tod bewahren können; auch Thyest hätte seine eigenen Söhne nicht verspeisen müssen. Das stoische Ideal der Apathie lag ihnen aber so fern wie vielen anderen Menschen in der Antike. So berichtet etwa der lateinische Schriftsteller Aulus Gellius, dass er einen Vortrag des ehemaligen römischen Konsuls Herodes Atticus besuchte,532 währenddessen er ihn eine Geschichte erzählen hörte: Eines Tages zog ein Thraker aus dem entfernten Ausland in eine kultivierte Gegend und kaufte sich dort ein Stück Land.533 Es war fruchtbar, Oliven und Wein gediehen darauf. Das Problem war nur, dass der Thraker von Baumpflege und Weinbau keine Ahnung hatte. Zufällig sah er, wie sein Nachbar mit geschickten Händen das wuchernde Dornengestrüpp in seinem Garten entfernte, die Eschen bis zum Wipfel hin lichtete, Weinrebentriebe herausriss sowie Obst- und Ölbäume beschnitt. Er nutzte die Gelegenheit und ging zu ihm. Auf seine Frage hin, warum er denn so viel Holz und Laub abschneide, erwiderte der Nachbar: damit alles sauber wird und die Ernte noch ergiebiger ausfällt. Der Thraker bedankte sich und ging wieder zurück auf sein Grundstück, in dem Glauben, er habe das Wesen der Landwirtschaft vollends erfasst. Und mit Sichel und Beil haute er alles, was Ertrag versprach, kurz und klein. Laut Herodes Atticus verhalten sich die Stoiker nun genau wie der Thraker: Anstatt Affekte wie Kummer (aegritudo), Begierde (cupiditas), Furcht (timor), Wut (ira) und Lust (voluptas) mit Verstand zu beschneiden, wollen sie sie ohne Sinn und Verstand einfach herausreißen. Damit würden sie das Leben aber eben nicht besser, sondern schlechter machen. Die philosophische Lehre, der Herodes Atticus womöglich anhing, ist die sogenannte Metriopathie. Als ihre Verfechter galten in der Antike und selbst noch im Spätmittelalter die Peripatetiker.534 Alle Schriften, in denen sie sie darlegen, sind jedoch verloren.535 Zu den wichtigsten Quellen gehören das vierte Buch von
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Vgl. Gell. noct. Att. 19,12,1. Vgl. hier und im Folgenden ebd., 19,12,3, 7–10 sowie Nickel 2014, S. 555, 557–559, auf dessen Übersetzung ich zurückgreife. Vgl. für das Spätmittelalter Th. v. Aqu. S. th. I-II, q.23, a.2, c.a. Richard Sorabji argumentiert allerdings, dass die Peripatetiker nicht die einzigen Philosophen in der Antike waren, die für das Ideal der Metriopathie eintraten (vgl. Sorabji 2000, S. 196). Auch Vertreter der frühen Akademie, wie zum Beispiel Krantor von Soloi, und einige Mittelplatoniker seien darunter gewesen; wahrscheinlich gehörte auch Senecas Lehrer Sotion dazu. Selbst einige Epikureer zeigen, so Sorabji, eine Tendenz zu dieser Lehre. Vgl. Jula Wildbergers Nachwort zu ihrer Übersetzung von Senecas Schrift De ira, S. 312. Alexander von Aphrodisias führt in seinem Essay „dass die Tugend für die Glückseligkeit nicht genügt“ (Ὅτι οὐκ αὐτάρκης ἡ ἀρετὴ πρὸς εὐδαιμονίαν) zwar alle mög-
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Ciceros Tusculanae Disputationes, das erste Buch von Senecas Schrift De ira (dial. 3) sowie der 85. und 116. Brief seiner Epistulae morales ad Lucilium.536 Das zuletzt genannte Werk rückt in der nachfolgenden Untersuchung, nachdem die einschlägigen Stellen in den Tusculanen analysiert worden sind, als Erstes in den Vordergrund. Der Grund dafür ist, dass Seneca nur hier bestimmte Gedanken und Überlegungen eindeutig Peripatetikern zuschreibt. An den einschlägigen Stellen s
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lichen Argumente gegen die sogenannte Suffizienzthese an, aber keines bringt den Gedanken ins Spiel, dass man die Affekte mäßigen muss und nicht eliminieren darf (Alex. Aphr. mant. § 20 159,15–168,20). Für eine Zusammenstellung der vorhandenen Fragmente peripatetischer Philosophie vgl. Sharples 2010, S. 134–149. Wertvolle Informationen zu einzelnen Peripatetikern und ihren Lehren finden sich bei Wehrli 1983 sowie Kupreeva 2018 und Schramm 2018. Bei Aristoteles gibt es einige Anhaltspunkte in der Nikomachischen Ethik und Rhetorik, die für die peripatetische Metriopathie aufschlussreich sind (einen hilfreichen Überblick gibt Catherine Newmark 2008, S. 42–49). Ob Cicero und Seneca allerdings mit Aristoteles’ Schriften oder denen seiner Nachfolger arbeiteten, kann nicht genau gesagt werden. Die Forschung neigt zu der Ansicht, dass Seneca generell nur aus zweiter Hand zitierte. Setaioli 1988, S. 143 nimmt an, dass Seneca auf eine Sekundärquelle zurückgriff, die einen entschieden stoischen Grundzug aufwies. Graver 2007, S. 243, Fußn. 59 vermutet, dass Seneca die Nikomachische Ethik nur vom Hörensagen kannte. Auch Cicero arbeitete wahrscheinlich eher nicht mit Primärquellen, sondern mit doxographischen Handbüchern, herumgehenden Vorlesungsnachschriften und Exzerpten (vgl. Görler 1989, S. 255; Gill 2012, S. 34; dass Aristoteles’ Topik in der Bibliothek seines Landhauses in Tusculum stand [vgl. Cic. top. 1,1], dürfte literarische Fiktion sein). Man könnte sich fragen, warum die beiden Römer womöglich vor allem mit Sekundärquellen arbeiteten. Mit der Eroberung Athens durch Sulla im Jahre 86 v. Chr. gelangten die aristotelischen Manuskripte nach Rom (vgl. Flashar 22013, S. 64, auch nachfolgend). Sulla vermachte sie seinem Sohn Faustus, der einen griechischen Gelehrten namens Tyrannion – mit dem Cicero sogar befreundet war – mit ihrer Sichtung und Ordnung beauftragte. Nach dieser Vorarbeit erstellte dann Andronikos von Rhodos um ca. 40 v. Chr. unter Hinzunahme weiteren Materials eine Gesamtausgabe, die jedoch Aristoteles’ Dialoge nicht enthielt – wozu es auch keinen triftigen Grund gab, wenn die Dialoge damals ohnehin allgemein zugänglich waren. Theoretisch müssten Cicero und Seneca also zu Aristoteles’ Pragmatien und seinen exoterischen Schriften Zugang gehabt haben (Cicero hat vielleicht Andronikos’ Gesamtausgabe nicht mehr erlebt, aber über Tyrannion hätte er sicher schon vorher aristotelische Manuskripte einsehen können). Ihr mögliches fehlendes Interesse an Primärquellen könnte damit zu tun gehabt haben, dass sie sich nicht als Interpreten verstanden. Ihnen ging es um Sachargumente und nicht um eine möglichst präzise Rekonstruktion und Deutung philosophischer Positionen. Die Informationen im dritten Buch der Tusculanen (vgl. Cic. Tusc. 3,22 und 74) und in Philod. de ira 31–34 sind für eine Rekonstruktion der peripatetischen Metriopathie meines Erachtens zu spärlich. Zu spät bin ich auf die Stellen aufmerksam geworden, die Machek 2018, S. 387–390 zusammengetragen hat. Seine Rekonstuktion der peripatetischen Metriopathie stimmt aber im Wesentlichen mit meiner überein (s. unten Kap. 2.6.1–3). Nur den Nützlichkeitsaspekt scheint er mir zu wenig zu beachten.
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in De ira, die auf peripatetisches Gedankengut hinweisen könnten, nennt er keine Namen.537 Über eine Analyse der beiden genannten Briefe ist leichter zu klären, ob Seneca in De ira peripatetische Annahmen referiert oder nicht. Die Klärung dieser Frage ist im Folgenden aber nicht das vordergründige Ziel. Es geht vor allem darum, die wesentlichen Punkte der uns durch Cicero und Seneca überlieferten peripatetischen Affektenlehre zu rekonstruieren, um so nachvollziehen zu können, wogegen genau sich Senecas Kritik richtet.538 Wie zu sehen sein wird, ist diese zum Teil erst vor dem Hintergrund seiner Theorie der Affekt- bzw. Wutentstehung aus De ira 2,1–4 (dial. 4,1–4) sowie der altstoischen Handlungspsychologie und Affektenlehre vollkommen verständlich. 2.6.1 Die peripatetische Metriopathie in der Darstellung Ciceros Nach Cicero waren die Peripatetiker der Auffassung, dass die Seele notwendigerweise in Leidenschaft gerät (perturbari animos necesse dicunt esse).539 Affekte s
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Ich meine diejenigen Passagen, in denen Seneca den Fragen nachgeht, ob Wut naturgemäß (vgl. Sen. dial. 3,5,2–6,5 [= de ira 1,5,2–6,5]) oder nützlich ist (Sen. dial. 3,7,1– 21,4 [= de ira 1,7,1–21,4]). Im Rahmen der Beantwortung letzterer Frage zitiert er einmal angeblich Aristoteles: ‚Ira‘ inquit Aristoteles ‚necessaria est, nec quicquam sine illa expugnari potest, nisi illa implet animum et spiritum accendit; utendum autem illa est non ut duce sed ut milite‘ („Wut ist notwendig, behauptet Aristoteles, und es kann nichts ohne sie erstürmt werden, wenn sie nicht die Seele erfüllt und in ihr Begeisterung entfacht, wobei von ihr Gebrauch zu machen ist nicht in der Rolle des Feldherrn, sondern in der des Soldaten“, Sen. dial. 3,9,2 [= de ira 1,9,2], Übers. Wildberger). Inwood zufolge sollte man dieses „Zitat“ angesichts Senecas Neigung zur Prosopopoiie nicht nur nicht Aristoteles, sondern auch keinem späteren Peripatetiker zuschreiben (vgl. Inwood 2014a, S. 98). Ein andermal scheint Seneca Aristoteles zu paraphrasieren: Aristoteles ait affectus quosdam, si quis illis bene utatur, pro armis esse („Aristoteles behauptet, dass gewisse Affekte, wenn man von ihnen guten Gebrauch macht, die Funktion von Waffen haben können“, Sen. dial. 3,17,1 [= de ira 1,17,1], Übers. Wildberger). Zwei Annahmen schreibt Seneca Theophrast, dem Schüler des Aristoteles und späteren Schulleiter des Peripatos, zu – zum einen die Annahme, dass gute Männer über Unrecht an ihren Angehörigen wütend werden (vgl. Sen. dial. 3,12,3 [= de ira 1,12,3]); zum anderen die Annahme, dass ein guter Mann auf schlechte Menschen unmöglich nicht wütend werden kann (vgl. Sen. dial. 3,14,1 [= de ira 1,14,1]). Das alles ist meines Erachtens aber zu wenig, um daraus eine konkrete Position zu rekonstruieren. Auf Ciceros stoisch geprägte Kritik werde ich hier nicht näher eingehen, weil er nicht im Mittelpunkt meiner Arbeit steht. Vgl. dazu Graver 2002, S. 167–171. Vgl. Cic. Tusc. 4,38. Vgl. auch Cic. ac. 1,38–39, wo Varro sagt, dass den „Alten“ (antiqui) zufolge Leid, Begierde, Furcht und Lust naturgegeben sind (naturales esse) und unabhängig von der Vernunft entstehen (rationis expertes). Vgl. dazu Aristot. EN 1106a2–4: ὀργιζόμεθα μὲν καὶ φοβούμεθα ἀπροαιρέτως, αἱ δ’ ἀρεταὶ προαιρέσεις τινὲς ἢ οὐκ ἄνευ προαιρέσεως („Wir sind wütend und fürchten uns ohne vorhergehenden
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seien natürlich (naturalis esse),540 weil man nicht kontrollieren kann, ob man sie hat oder nicht hat („natürlich“ heißt in diesem Zusammenhang also so viel wie „naturgegeben“)541. Die Peripatetiker scheinen darüber hinaus genau wie die Stoiker angenommen zu haben, dass Affekte eine Eigendynamik entwickeln können. Denn laut Cicero stellten sie die moralische Forderung auf, dass man bei ihnen ein mittleres Maß einhalten soll. 542 So könnten Affekte ihr destruktives Potenzial nicht entfalten und erwiesen sich sogar als nützlich. Ein mittleres Maß bei den Affekten einzuhalten, sei aber nicht immer, sondern nur meistenteils das Beste:543 Haec […] ita disputant, ut resecanda esse fateantur, evelli penitus dicant nec posse nec opus esse et in omnibus fere rebus mediocritatem esse optumam existiment. In ihrer Erörterung geben sie […] zu, man müsse sie [die Leidenschaften] beschneiden, sie allerdings ganz herauszureißen sei, so sagen sie, nicht möglich und nicht nötig, und nach ihrer Auffassung sei in fast allen Dingen das Mittelmaß das Beste.
Der Gedanke, dass auf ein mittleres Maß beschränkte Leidenschaften in fast allen Dingen das Beste sind – den Cicero durch die Verbindung „Mittelmaß“ und „das Beste“ ins Lächerliche zu ziehen versucht544 –, lässt sich auf zwei unterschiedliche Weisen interpretieren. Einerseits könnte man ihn so verstehen, dass aus Sicht der Peripatetiker zuweilen nicht das Maß, sondern auch das Übermaß das Beste sein kann. Wann dies allerdings der Fall sein könnte, erfahren wir nicht. Eine andere Interpretationsmöglichkeit ergibt sich aus dem zweiten Buch von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik. Der Gründervater des Peripatos argumentiert dort, dass nicht jede Handlung und jeder Affekt eine Mitte zulässt (οὐ πᾶσα δ’ ἐπιδέχεται πρᾶξις οὐδὲ πᾶν πάθος τὴν μεσότητα).545 Es gebe vielmehr Handlungen und Affekte, die s
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Entschluss, die Tugenden aber sind Entschlüsse oder zumindest nicht ohne Entschluss“, eig. Übers.). Vgl. Cic. Tusc. 4,43. In diesem Sinne ist auch Ciceros kritische Anmerkung ebd., 3,74 zu verstehen: Quae si naturales sunt [sc. mediocritates], quid opus est consolatione? Natura enim ipsa terminabit modum […] („Wenn sie [die gemäßigten Schmerzen] natürlich sind, wozu bedarf es dann des Trostes? Denn die Natur selbst wird das Maß bestimmen […]“, Übers. Kirfel, modifiziert). Vgl. Cic. Tusc. 4,38: […] adhibent modum quendam, quem ultra progredi non oporteat („[…] sie legen ein bestimmtes Maß fest, über das hinaus man nicht vordringen dürfe“, Übers. Kirfel, modifiziert). Cic. Tusc. 4,46, Übers. Kirfel, modifiziert, eig. Herv. Nach dem Motto: Die Peripatetiker halten fast immer etwas Mittelmäßiges für das Beste! Dass Cicero den Ausdruck mediocritas in diesem pejorativen Sinne versteht, belegt unter anderem Cic. de orat. 1,117. Seine Dialogfigur Crassus führt den Emporkömmling C. Coelius dort als Beispiel dafür an, dass bereits ein Mittelmaß im Reden (in dicendo mediocritas) höchste Ehre einbringen kann. Vgl. Aristot. EN 1107a8f.
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in sich schlecht sind.546 Aufseiten der Handlungen gehören dazu etwa Ehebruch, Diebstahl und Mord; aufseiten der Affekte Schadenfreude, Schamlosigkeit und Neid.547 Damit ist schon das nächste Problem berührt: Aristoteles spricht interessanterweise nicht von einem mittleren Maß, sondern von einer Mitte (μέσον/μεσότης), genauer gesagt: von einer Mitte in Bezug auf uns (πρὸς ἡμᾶς) – einer personenund umstandsgebundenen Mitte –, die, wenn sie bei Affekten und Handlungen mit einer gewissen Regelmäßigkeit getroffen wird, das Wesensmerkmal der ethischen Tugend ist.548 Kann diese Mitte aber, wie von den Peripatetikern offenbar beabsichtigt, auch als mittleres Maß verstanden werden? In der Forschung spricht man sich seit langer Zeit gegen eine solche Deutungsmöglichkeit aus.549 Das Argument lautet dabei wie folgt: Die Einhaltung der Mitte bei Affekten und Handlungen laufe Aristoteles zufolge nicht darauf hinaus, dass der Affekt oder die Handlung selbst jederzeit ein moderates Niveau haben. Es könne durchaus Situationen geben, in denen die Einhaltung der Mitte zu einem starken Affekt und/oder einer heftigen Handlung führt – in einer lebensgefährlichen Situation zum Beispiel zu großer Furcht und Weglaufen.550 Einmal, im vierten Kapitel des zweiten Buches der Nikomachischen Ethik, drückt sich Aristoteles jedoch so aus, dass man seine Konzeption der Mitte auch als mittleres Maß verstehen könnte. Vielleicht ließen sich die Kritiker der Peripatetiker – vielleicht sogar sie selbst – durch Stellen wie diese in die Irre führen. Aristoteles fragt an besagter Stelle, was die ethische Tugend ist, und kommt zu dem Ergebnis, dass sie kein Affekt (πάθος) und auch kein Vermögen (δύναμις), sondern eine Disposition (ἕξις) ist.551 Die ethische Tugend disponiere einen Akteur dazu, sich zum Beispiel gegenüber Affekten wie dem Zorn (τὸ ὀργισθῆναι) richtig zu verhalten.552 Das Verhalten sei dann richtig, wenn der Zorn weder stark (σφοδρῶς) noch schwach (ἀνειμένως), sondern gemäßigt (μέσως) ist.553 Die Einhaltung der Mitte hat so gesehen durchaus den Charakter eines mittleren Maßes. Ob und inwiefern gemäßigte Affekte auch etwas Nützliches an sich haben können, wird von Aristoteles aber nicht explizit behandelt, jedenfalls nicht in den uns erhaltenen Schriften. Cicero vernachlässigt in seiner Darstellung die von den Peripatetikern angeblich für den Großteil der Fälle geforderte Einhaltung des mittleren Maßes. Er neigt s
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Vgl. Aristot. EN 1107a13. Vgl. ebd., 1107a10–12. Vgl. ebd., 1106b36–1107a8. Vgl. Annas 1993, S. 61, Graver 2002, S. 163f., Wolf 2006, S. 90 und Gill 2012, S. 41. Vgl. Wolf 32013, S. 75. Vgl. auch Aristot. EN 1116a8f., wo er die Handlungen der Tapferen als Handlungen von großer Intensität beschreibt: Οἱ δ’ ἀνδρεῖοι ἐν τοῖς ἔργοις ὀξεῖς […] („Die Tapferen dagegen sind heftig in ihren Taten […]“, Übers. Wolf, eig. Herv.). Vgl. Aristot. EN 1106a11f. Vgl. ebd., 1105b25–27. Vgl. ebd., 1105b27f.
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dazu, in undifferenzierter Weise davon zu sprechen, dass sie Affekte für etwas Nützliches halten. So sei Wut (iracundia/ira)554 – ob es sich um gemäßigte oder exzessive Wut handelt, bleibt unklar – für sie der Wetzstein der Tapferkeit (cos fortitudinis).555 Angriffe auf einen Feind oder schlechten Mitbürger seien mit Wut viel heftiger als ohne. Ohne Wut würden sie kraftlos sein und der nötigen Energie entbehren. Aus der nüchternen Einsicht „Es ist gerecht, dass dieser Kampf stattfindet, es gehört sich, für die Gesetze, für die Freiheit, für das Vaterland zu kämpfen“ könne keine erfolgversprechende Motivation erwachsen.556 In der Tat dürfte s
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Cicero scheint ira und iracundia in Cic. Tusc. 4,43 synonym zu verwenden. Das ist merkwürdig, vor allem wenn man bedenkt, dass er beide Ausdrücke zuvor voneinander unterscheidet – vgl. ebd., 4,27, wo er die iracundia als die Disposition zur Wut, die ira aber als den aktuell auftretenden Affekt charakterisiert: Quae [sc. iracundia] ab ira differt, estque aliud iracundum esse, aliud iratum, ut differt anxietas ab angore (neque enim omnes anxii), qui anguntur aliquando, nec, qui anxii, semper anguntur), ut inter ebrietatem interest, aliudque est amatorem esse, aliud amantem („Er [der Jähzorn] unterscheidet sich von der Wut, und es ist etwas anderes, jähzornig zu sein, etwas anderes, wütend zu sein, wie sich auch die Ängstlichkeit von der Angst unterscheidet (denn nicht alle sind ängstlich, die sich einmal ängstigen, und die, die ängstlich sind, empfinden nicht dauernd Angst), wie auch ein Unterschied besteht zwischen der Trunkenheit und der Trunksucht, zwischen dem Schürzenjäger und dem Liebenden“, Übers. Kirfel, modifiziert). Auch in Cic. Tusc. 3,11 hat iracundia die Bedeutung von ira (iracundia ulciscendi libido). Bei Seneca ist dasselbe Kuriosum zu beobachten: Zunächst unterscheidet er noch die ira von der iracundia im gleichen Sinne wie Cicero (er verwendet sogar beinahe dieselben Beispiele) – vgl. Sen. dial. 3,4,1 (= de ira 1,4,1): Quo distet [sc. ira] ab iracundia apparet: quo ebrius ab ebrioso et timens a timido. Iratus potest non esse iracundus: iracundus potest aliquando iratus non esse („Wodurch sie [die Wut] sich vom Jähzorn unterscheidet, ist klar: durch das, wodurch sich auch der Betrunkene vom Trinker und einer, der Angst hat, vom Ängstlichen unterscheidet. Wer wütend ist, ist nicht unbedingt ein jähzorniger Mensch, und ein Jähzorniger kann auch einmal nicht wütend sein“, Übers. Wildberger, modifiziert). Später scheint der inhaltliche Unterschied zwischen ira und iracundia für Seneca aber nicht mehr von Bedeutung zu sein. Vgl. etwa Sen. dial. 4,31,1 (= de ira 2,31,1), wo er, obwohl er seinen früheren Gedanken nur wiederholt (ut dixi), von der iracundia und nicht wie in Sen. dial. 4,1,3 (= de ira 2,1,3) von der ira sagt, sie entstehe durch die Erscheinung von einem Unrecht. Auch im dritten Buch von De ira scheint er beide Ausdrücke eher synonym zu gebrauchen (vgl. etwa Sen. dial. 5,39,1 [= de ira 3,39,1]). Vgl. Cic. Tusc. 4,43. Die Ansicht, dass Wut der Wetzstein der Tapferkeit sei, wurde laut Cicero bereits von den alten Akademikern vertreten (vgl. Cic. ac. 2,135). Vor allem Krantor von Soloi dürfte er dabei im Blick gehabt haben. Vgl. Cic. Tusc. 4,43, Übers. Kirfel. Ein ähnliches Argument findet sich bei Philod. de ira 31,24–32: ἔνιοι γοῦν τῶν Περιπατητικῶν [...] ἐκτέμνειν τὰ νεῦρα τῆς ψυχῆς φασι τοὺς τὴν ὀργὴν καὶ τὸν θυμὸν αὐτῆς ἐξαιροῦντας, ὧν χωρὶς οὔτε κόλασιν οὔτ’ ἄμυναν εἶναι [...] („Einige Peripatetiker sagen nun, dass diejenigen, die die Wut und den Zorn aus der Seele entfernen, die Sehnen aus ihr herausschneiden, ohne die es, wie sie sagen, weder Bestrafung noch Verteidigung gibt“, eig. Übers.).
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kein Zweifel daran bestehen, dass sowohl durch gemäßigte (sofern man einräumt, dass sich Wut überhaupt mäßigen lässt) als auch durch exzessive Wut motivierte Angriffe heftiger sind als Angriffe, in die Wut überhaupt nicht hineinspielt. Aber welche Wut betrachteten die Peripatetiker als nützlicher? Cicero gibt darauf keine Antwort. Etwas konkreter wird er bei zwei anderen Fällen von Wut.557 Strengere Befehle könne es aus peripatetischer Sicht ohne eine „gewisse Heftigkeit der Wut“ (aliqua acerbitate iracundiae) nicht geben. Auch würden die Peripatetiker nur Redner anerkennen, die sowohl in der Rolle des Verteidigers als auch in der des Anklägers von den „Stacheln der Wut“ (aculeis iracundiae) getrieben werden, selbst wenn sie in Wirklichkeit gar nicht wütend sind und nur so tun als ob – andernfalls könnten sie das Publikum nicht von ihrem Standpunkt überzeugen.558 Bei diesen Fällen, beim ersten noch mehr als beim zweiten, meint man schon deutlicher herauszuhören, dass es offenbar gemäßigte Wut ist, die hier nach peripatetischer Auffassung angestrebt werden sollte. Auch andere Begierden außer der Wut hätten die Peripatetiker als nutzbringend erachtet.559 Das Problem ist aber wieder dasselbe wie zuvor: Aus Ciceros Darstellung geht nicht klar hervor, ob es um Begierden geht, die, sofern sie gemäßigt sind, sich als nützlich erweisen, oder um Begierden, die diese Eigenschaft auch dann haben, wenn sie das Maß überschreiten. Das Beispiel, das Cicero in diesem Zusammenhang anführt und das wahrscheinlich auch die Peripatetiker verwendeten, ist brennender Ehrgeiz (flagrans cupiditas).560 Brennender Ehrgeiz – flagrans könnte auf eine Exzessivität hindeuten – sei nützlich, wie einige bekannte Beispiele aus der antiken Militär-, Rhetorik- und Philosophiegeschichte belegen würden. So hätten Themistokles die militärischen Erfolge des Miltiades dazu angespornt, ebenso erfolgreich zu sein. Demosthenes habe es nicht ertragen, dass die Handwerker, die schon vor Tagesanbruch mit ihrer Arbeit begannen, fleißiger waren als er. Schließlich sei es so, dass die führenden Philosophen auf ihrer Suche nach Wahrheit niemals so weit vorangekommen wären, wenn sie nicht ein brennender Ehrgeiz angetrieben hätte – er sei es gewesen, der Pythagoras, Demokrit und Platon zu Forschungszwecken sogar in die entlegensten Regionen der Welt führte.561 s
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Vgl. Cic. Tusc. 4,43. Vgl. auch Aristot. rhet. 1356a14f.: διὰ δὲ τῶν ἀκροατῶν, ὅταν εἰς πάθος ὑπὸ τοῦ λόγου προαχθῶσιν („Durch die Hörer (erfolgt die Überzeugung), wenn sie durch die Rede in einen emotionalen Zustand versetzt werden […]“, Übers. Rapp). Vgl. Cic. Tusc. 4,44. Cicero definiert Wut als Begierde, denjenigen zu bestrafen, der ein Unrecht getan zu haben scheint (ira sit libido poeniendi eius qui videatur laesisse iniuria, vgl. ebd., 4,21). Auch Seneca definiert die Wut unter Verweis auf Poseidonios auf diese Weise – vgl. Lact. ira 17,13 (= Sen. dial. 3,2,3b = de ira 1,2,3b): Ira est […] cupiditas puniendi eius a quo te inique putes laesum („Wut ist […] die Begierde, denjenigen zu bestrafen, von dem du dich zu Unrecht verletzt glaubst“, eig. Übers.). Vgl. hier und im Folgenden Cic. Tusc. 4,44. Vgl. auch Cic. fin. 5,50.
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Selbst Kummer (aegritudo) hat laut Cicero für die Peripatetiker etwas Nützliches an sich, wobei aber wieder unklar bleibt, um was für einen Kummer es sich handelt – geht es um einen gemäßigten oder einen exzessiven Kummer? Cicero sagt nur vage, dass die Nützlichkeit des Kummers für die Peripatetiker unter anderem darin bestehe, in Menschen, die ein Unrecht begangen haben, ein schlechtes Gewissen (conscientia) hervorzurufen, das sie eher davon abhält, erneut eine Unrechtstat zu begehen, als wenn sie gar keinen Kummer empfänden (bei völliger Kummerlosigkeit wären sie sich keiner Schuld bewusst und hätten somit auch keinen Anreiz, ihr Verhalten zu ändern).562 Ist es aber so, dass je stärker der Kummer ist, desto größer auch das schlechte Gewissen ist und man so noch mehr davor zurückschreckt, erneut eine Unrechtstat zu begehen? Insofern wäre auch ein exzessiver Kummer nützlich, ja sogar noch nützlicher als ein gemäßigter. Ob die Peripatetiker allerdings in diese Richtung argumentierten, lässt sich Ciceros Bericht nicht entnehmen. Ihm entnehmen lässt sich dafür, dass sie neben dem schlechten Gewissen konsequent auch andere Arten von Kummer wie etwa Mitleid (misericordia), Neid (aemulari), Missgunst (obtrectare) und Furcht (metus) für nützlich hielten.563 Mitleid stachele dazu an, das Leid anderer mindern zu wollen.564 Neid und Missgunst, die entstehen, wenn ein anderer etwas erreicht hat, was man selbst nicht bzw. auch erreicht hat, würden dagegen dazu anspornen, dasselbe wie der andere oder mehr erreichen zu wollen.565 Furcht sorge schließlich dafür, dass wir in verschiedenen Bereichen des Lebens gewissenhaft sind.566 Dank ihr würden wir genauer darauf achten, was nach den Gesetzen erlaubt ist und was nicht, weil wir uns davor fürchten, bestraft zu werden. Aber in welchen Modi diese besonderen Arten von Kummer aus peripatetischer Sicht im Einzelnen nützlich sind, ob größeres Mitleid den Drang, das Leid anderer mindern zu wollen, verstärkt, ob größerer Neid und größere Missgunst uns mehr erreichen lassen, oder ob uns umgekehrt exzessive Furcht vor Bestrafung eher scheu und schreckhaft macht als gewissenhaft und damit eher kontraproduktiv ist – darüber erteilt uns Cicero keine Auskunft. Warum vernachlässigt er die von den Peripatetikern angeblich für den Großteil der Fälle geforderte Einhaltung des mittleren Maßes? Es ist schwer vorstellbar, dass Cicero diesen Punkt einfach vergessen hat. Näher liegt, dass er eine rhetorische Strategie verfolgt, die zum Ziel hat, bei seiner Leserschaft noch schneller eine ablehnende Reaktion gegenüber der peripatetischen Lehre von der Metriopathie auszulösen. Dafür spricht zum einen der gelegentliche Gebrauch des Ausdrucks s
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Vgl. Cic. Tusc. 4,45. Vgl. ebd., 4,46. Für die Peripatetiker war Furcht eine Unterart von Kummer. Vgl. Aspas. ad Aristot. EN 45,23f. (= Sharples 2010, 16 Aa): Ἄξιον δὲ ἀπορῆσαι, τί δήποτε τὸν μὲν φόβον παρειλήφασιν [sc. οἱ ἐκ τῆς Στοᾶς] ὡς πάθος γενικόν, καίπερ εἶδος λύπης ὄντα („Es lohnt sich zu fragen, warum sie [die Stoiker] die Furcht eigentlich als einen generischen Affekt betrachten, obwohl sie eine Unterart von Kummer ist“, eig. Übers.). Vgl. Cic. Tusc. 4,46. Vgl. ebd. Vgl. ebd.
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Das handlungspsychologische Fundament
mediocritas anstelle von modus – viele würden sofort zustimmen, dass das Maß etwas Gutes ist, viel weniger aber, dass das Mittelmaß etwas Gutes ist. Zum anderen ist Ciceros undifferenzierte Redeweise hier geltend zu machen: Er ist sich sicherlich bewusst, dass die Behauptung, Wut, Ehrgeiz und Kummer seien nützlich, viel stärker, provokanter und verblüffender ist als die Behauptung, gemäßigte Wut, gemäßigter Ehrgeiz und gemäßigter Kummer seien nützlich. 2.6.2 Die peripatetische Metriopathie in der Darstellung Senecas Seneca fasst die wesentlichen Punkte der peripatetischen Affektenlehre ähnlich wie Cicero zusammen. Er kommt auf das Thema unter anderem im 85. Brief zu sprechen. Dort wird es relevant, weil ihn Lucilius angeblich dazu aufgefordert hat, einen Überblick über die Argumente (interrogationes) zu geben, die entweder das Ergebnis stoischer Denkarbeit sind oder von Gegnern der Stoiker entwickelt wurden, um sie dem Spott preiszugeben.567 Nachdem Seneca seinem Freund erklärt hat, dass er eigentlich keinen Gefallen an solchen Beweisverfahren findet, stellt er ihm dennoch folgenden typisch stoischen Kettenschluss vor:568 Qui prudens est et temperans est; qui temperans est, et constans; qui constans est imperturbatus est; qui imperturbatus est sine tristitia est; qui sine tristitia est beatus est; ergo prudens beatus est, et prudentia ad beatam vitam satis est. Wer klug ist, ist auch selbstbeherrscht; wer selbstbeherrscht ist, ist auch beständig; wer beständig ist, ist ungestört; wer ungestört ist, ist ohne Traurigkeit; wer ohne Traurigkeit ist, ist glückselig; also ist der Kluge glückselig, und Klugheit ist zum glückseligen Leben genug.
Einige Peripatetiker wollten, so Seneca, die in diesem Argument enthaltenen Ausdrücke „ungestört“, „beständig“ und „ohne Traurigkeit“ weniger streng deuten. „Ungestört“ meine ihnen zufolge nicht, dass jemand nie gestört ist, sondern nur, dass er sich selten und in Maßen aus der Ruhe bringen lässt (raro perturbatur et modice).569 Ebenso meine „ohne Traurigkeit“ nicht, dass jemand gänzlich frei von Trauer ist, sondern nur, dass er nicht allzu häufig und allzu sehr (nec frequens nimiusve) in Trauer verfällt.570 Wenn wir Senecas Bericht Glauben schenken dürfen, war nach peripatetischer Auffassung also bereits derjenige glückselig, der sich kaum und in Maßen aus der Ruhe bringen lässt, kaum und in Maßen in Trauer verfällt etc. Damit käme ein neuer Aspekt der peripatetischen Affektenlehre zum s
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Vgl. Sen. epist. 85,3. Εbd., 85,2, Übers. Rosenbach, modifiziert. Vgl. Sen. epist. 85,3. Vgl. ebd. Das Gleiche gilt sicherlich auch für den Ausdruck „beständig“, den Seneca hier nicht erneut anführt.
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Vorschein, auf den Cicero nicht eingeht: Für Glückseligkeit bedarf es keiner Apathie; es genügt die Reduzierung eines Affekts auf ein mittleres Maß.571 Begründet hätten die Peripatetiker ihren Standpunkt damit, dass die Apathie die menschliche Natur verleugnet (humanam naturam negare).572 Warum sie sie außerdem abgelehnt haben könnten, geht aus ihrer Kritik an einem weiteren stoischen Kettenschluss hervor, der wie folgt lautet:573 ‚Qui fortis est sine timore est; qui sine timore est sine tristitia est; qui sine tristitia est beatus est.‘ ‚Wer tapfer ist, ist ohne Furcht; wer ohne Furcht ist, ist ohne Traurigkeit; wer ohne Traurigkeit ist, ist glückselig.‘
Wie Seneca berichtet, brachten die Peripatetiker ihre Kritik am stoischen ApathieIdeal diesmal nicht durch eine Umdeutung von Wörtern zum Ausdruck.574 Stattdessen stellten sie die Plausibilität der ersten Prämisse infrage. Ihnen leuchtete nicht ein, warum der Tapfere völlig frei von Furcht sein sollte. Ein Mensch, der ganz ohne Furcht ist, gleiche nach ihrer Meinung eher einem Wahnsinnigen und Verrückten als einem Tapferen (istuc dementis alienatique, non fortis est). 575 Seneca schickt nicht sofort eine Begründung für diese Annahme hinterher. Aus einem Einwand, den er wenig später ins Feld führt, lässt sich aber erschließen, was die Peripatetiker gemeint haben könnten:576 ‚Ut vobis‘ inquit ‚videtur, praebebit se periculis fortis.‘
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Wie Cicero spricht auch Seneca hin und wieder spöttelnd von einem Mittelmaß (mediocritas), vgl. etwa Sen. epist. 85,9. Vgl. ebd., 85,3. Ebd., 85,24. Übers. Rosenbach, modifiziert. Aus irgendeinem Grund unterschlägt Seneca die Schlussfolgerung, vielleicht weil sie zu offensichtlich ist oder weil sie für seine Belange weniger wichtig ist. Sie könnte parallel zu dem vorherigen Kettenschluss gelautet haben: „Also ist der Tapfere glückselig, und Tapferkeit zum glückseligen Leben genug.“ Dass es hier wieder um die Peripatetiker geht, ergibt sich aus dem Kontext. Seneca erwähnt sie hier aber nicht namentlich. Vgl. Sen. epist. 85,24. Vgl. auch Aristot. EN 1115b24–28: τῶν δ’ ὑπερβαλλόντων ὁ μὲν τῇ ἀφοβίᾳ ἀνώνυμος (εἴρηται δ’ ἡμῖν ἐν τοῖς πρότερον ὅτι πολλά ἐστιν ἀνώνυμα), εἴη δ’ ἄν τις μαινόμενος ἢ ἀνάλγητος, εἰ μηδὲν φοβοῖτο, μήτε σεισμὸν μήτε κύματα, καθάπερ φασὶ τοὺς Κελτούς [...] („Von denen, die über die Mitte hinausgehen, hat der übermäßige Furchtlose keinen Namen; wir haben früher schon gesagt, dass viele Dispositionen namenlos sind. Er möge irgendwie wahnsinnig oder unempfindlich heißen, wenn er gar nichts fürchtet, weder Erdbeben noch stürmische See, wie man es von den Kelten sagt“, Übers. Wolf). Sen. epist. 85,26, Übers. Apelt, modifiziert.
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Das handlungspsychologische Fundament ‚Nach eurer Auffassung‘, entgegnet man, ‚wird sich der Tapfere der Gefahr in die Arme werfen.‘
Der dahinter stehende Gedankengang war wohl folgender: Wenn der Tapfere völlig frei von Furcht wäre, könnte er Gefahrensituationen nicht richtig einschätzen. Er hätte keinen Indikator, der ihm anzeigt, dass eine Gefahr bevorsteht. Und so würde er sich zwangsläufig unvorsichtig verhalten und wie ein Wahnsinniger und Verrückter blindlings ins Verderben stürzen. Daher kann es nicht sein, dass er sich gar nicht fürchtet; er fürchtet sich, allerdings – und das muss dazu gesagt werden – nur in Maßen (moderatissime timet).577 Denn nur wenn er sich in Maßen fürchtet, kann er auf bevorstehende Gefahren aufmerksam werden und entsprechend tugendhaft handeln. Fürchtete er sich zu sehr, würde er vielleicht auf bevorstehende Gefahren aufmerksam werden, er könnte dann aber nicht mehr tugendhaft handeln. Die übermäßige Furcht würde ihn handlungsunfähig machen, indem sie ihn entweder lähmt oder dazu zwingt, die Flucht zu ergreifen. Nicht Furchtlosigkeit, sondern gemäßigte Furcht ist also nützlich. So oder ähnlich könnten die Peripatetiker argumentiert haben. Nach den Angaben Senecas im 85. Brief zogen sie die Reduzierung eines Affekts auf ein mittleres Maß der Affektfreiheit also aus zwei Gründen vor: Erstens trägt sie der menschlichen Natur Rechnung und verleugnet sie nicht, und zweitens sind gemäßigte Affekte nützlich – Furcht zum Beispiel macht uns im gemäßigten Zustand auf bevorstehende Gefahren aufmerksam und verhindert dadurch, dass wir uns blindlings in sie stürzen und unser Leben riskieren; gleichzeitig ermöglicht gemäßigte Furcht tugendhaftes Handeln. Im 116. Brief führt Seneca das Thema der Metriopathie über eine häufig diskutierte Frage und nicht über eine Analyse von stoischen Kettenschlüssen ein. Die Frage lautet: „Ist es besser, gemäßigte Affekte zu haben oder gar keine?“578 Als überzeugter Stoiker bezieht er sogleich Position und spricht sich dafür aus, sie vollkommen zu vertreiben und nicht nur zu mäßigen, wie die Peripatetiker fordern (nostri illos expellunt, Peripatetici temperant).579 Anders als im 85. Brief (und anders als Cicero) setzt er sich anschließend aber weniger mit ihrer Annahme auseinander, dass gemäßigte Affekte nützlich sind, sondern geht eher auf ihre Annahme ein, dass Affekte natürlich sind. Dabei führt er unter anderem einen zweiteiligen Einwand an, den wahrscheinlich Lucilius gegen ihn erhebt (darauf deutet jedenfalls das inquis hin),580 der aber dennoch von peripatetischem Einfluss zeugt und daher Aufschluss darüber gibt, was die Peripatetiker über die Natürlichkeit der Affekte gedacht haben könnten. s
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Vgl. Sen. epist. 85,24. Der Superlativ von moderate zeigt Senecas Spott. Vgl. ebd., 116,1: Utrum satius sit modicos habere affectus an nullos saepe quaesitum est (Übers. Rosenbach, modifiziert, als direkte Frage wiedergegeben). Vgl. Sen. epist. 116,1. Vgl. ebd., 116,2.
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Es ist natürlich (naturale est), so beginnt der Einwand, Sehnsucht nach dem Freund (desiderio amici) zu haben.581 Aber wie ist diese Aussage zu verstehen? Da sich im Text keine weiteren Erläuterungen finden, bieten sich mindestens drei verschiedene Deutungsmöglichkeiten an, denen jeweils ein anderes Verständnis von „natürlich“ zugrunde liegt. Wenn „natürlich“ die Bedeutung „naturgegeben“ hat, dann hat die Aussage den Sinn, dass man sich nicht aussuchen kann, ob man Sehnsucht nach dem Freund hat oder nicht – die Sehnsucht entsteht unwillkürlich, sobald der Freund nicht da ist, und verschwindet, wenn er sich wieder in unserer Nähe befindet und wir Zeit mit ihm verbringen können. Die Aussage könnte aber auch so zu verstehen sein, dass es in der Natur des Menschen liegt (man könnte vielleicht auch sagen: der menschlichen Natur gemäß ist), Sehnsucht nach dem Freund zu empfinden – der Mensch ist nun einmal ein emotionales und soziales Wesen. Schließlich könnte der Ausdruck „natürlich“ aber auch auf das Wesen der Freundschaft abheben, und zwar in dem Sinne, dass es zur Natur der Freundschaft gehört, dass sich Freunde nacheinander sehnen – ein Freund, nach dem man sich nicht sehnt, ist allenfalls ein Bekannter, aber unmöglich ein Freund. Wie auch immer „natürlich“ in diesem Zusammenhang genau zu verstehen ist, die peripatetische Botschaft an Seneca ist unmissverständlich: Er soll den Tränen, die bei Abwesenheit des Freundes berechtigterweise fließen (iuste cadere), ihr Recht zu fließen, nicht absprechen – weil die Tränen so oder so fließen (erste Begründungsmöglichkeit), weil der Mensch ein emotionales und soziales Wesen ist, das sich nur verwirklichen kann, wenn es Gefühle haben und in Gemeinschaft mit anderen leben darf (zweite Begründungsmöglichkeit), oder weil es der Idee von Freundschaft zuwider wäre, bei Abwesenheit des Freundes nicht zu weinen (dritte Begründungsmöglichkeit). Der Einwand hat noch einen zweiten, sehr knappen und komplizierten Teil. Es sei natürlich (naturale est), von den Meinungen der Menschen berührt zu werden. Hat jemand eine negative Meinung von mir und erfahre ich direkt oder indirekt davon, sei es natürlich, dass ich von ihr in negativer Weise berührt werde: Die üble Meinung betrübt mich (contristari). Der Ausdruck „natürlich“ wird hier offenbar wieder in der Bedeutung „naturgegeben“ verwendet, sodass die Position auch folgendermaßen wiedergegeben werden könnte: Es ist naturgegeben, von den Meinungen der Menschen berührt zu werden; folglich ist es naturgegeben, von negativen Meinungen negativ berührt zu werden. Erfährt man direkt oder indirekt von einer üblen Meinung über die eigene Person, ruft dies unwillkürlich Betrübnis hervor. Lucilius (bzw. der Interlokutor) stellt Seneca im Anschluss daran die kritische Frage: „Warum willst du mir die so ehrenwerte Furcht vor übler Meinung nicht gestatten?“582 Leider erfahren wir von Seneca nicht, in welcher Hinsicht die Furcht für seinen Dialogpartner ehrenwert ist. Dessen Gedanke könnte insbesondere vor dem Hintergrund der Ausgangsfrage des 116. Briefes s
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Vgl. zu diesem Einwand Sen. epist. 116,2. Übers. Apelt, modifiziert.
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(„Ist es besser, gemäßigte Affekte zu haben oder gar keine?“) jedoch gelautet haben, dass nicht Furchtlosigkeit, sondern gemäßigte Furcht vor übler Meinung ehrenwert ist, weil sie nützlich ist. Als nützlich könnte sie aus dem Grund aufgefasst worden sein, weil sie eine Person dazu motiviert, sich besser zu betragen, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass in Zukunft weniger Menschen eine üble Meinung von ihr haben werden – aber auch um der Betrübnis präventiv entgegenzuwirken, die durch die üble Meinung unwillkürlich in ihr hervorgerufen würde. Seneca scheint auf die peripatetische Auffassung von der Natürlichkeit der Affekte auch im ersten Buch seiner Schrift De ira (dial. 3,5,2–6,5) im Zusammenhang mit dem Affekt der Wut einzugehen. Man kann aber nicht mit Gewissheit sagen, ob es sich dabei um eine peripatetische Annahme handelt, denn Seneca nennt weder den Urheber der Annahme, gegen die er argumentiert, noch formuliert er sie explizit. Sie findet sich etwas versteckt in einer indirekten Frage, die er kurz vor Beginn seiner Gegenrede stellt: „Jetzt möchte ich fragen, ob Wut naturgemäß ist […]“ (nunc quaeramus an ira secundum naturam sit).583 Die Annahme könnte ursprünglich etwas präziser gelautet haben: „Wut ist der menschlichen Natur gemäß“ (secundum humanam naturam) – das geht mehr oder weniger aus Senecas anschließender Argumentation hervor. Er argumentiert so, als ob der Mensch und die Wut völlige Gegensätze wären:584 An secundum naturam sit manifestum erit, si hominem inspexerimus. Quo quid est mitius, dum in recto animi habitus est ? quid autem ira crudelius est? Quid homine aliorum amantius? Homo in adiutorium mutuum genitus est, ira in exitium; hic congregari vult, illa discedere, hic prodesse, illa nocere, hic etiam ignotis succurrere, illa etiam carissimos petere; hic aliorum commodis vel inpendere se paratus est, illa in periculum, dummodo deducat, descendere. Ob Wut naturgemäß ist, wird evident werden, wenn wir uns den Menschen genauer ansehen: Was ist sanfter als ein Mensch, solange sein Geisteszustand in Ordnung ist? Was umgekehrt grausamer als die Wut? Wo findet man mehr Nächstenliebe als beim Menschen? Wo mehr Feindseligkeit als bei der Wut? Der Mensch ist zu gegenseitiger Unterstützung geboren, Wut führt zu gegenseitiger Zerstörung; er möchte Vereinigung, sie die Trennung; er will nützen, sie schaden; er sogar unbekannten Personen zu Hilfe eilen, sie sogar über die Liebsten herfallen; er ist bereit, wenn nötig, sich selbst zu opfern, damit andere einen Vorteil haben, sie geht jede Gefahr ein, wenn sie nur andere mit ins Unglück reißt.
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Sen. dial. 3,5,1 (= de ira 1,5,1), Übers. Wildberger, modifiziert, eig. Herv. Sen. dial. 3,5,2–3 (= de ira 1,5,2–3), Übers. Wildberger, modifiziert. Vgl. auch Sen. dial. 3,5,2 (= de ira 1,5,2), wo Seneca im zweiten Satz sagt, dass es keineswegs der Natur des Menschen gemäß ist (minime secundum eius [sc. hominis] naturam est), eine unbändige Begierde wie die Wut in seiner Brust zu haben.
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Dass Seneca hier eine peripatetische Position angreift, könnte man mit Blick auf den 85. Brief vermuten, wo er den Grund angibt, warum die Peripatetiker das stoische Ideal der Apathie ablehnten. Wie schon erwähnt, sollen sie es abgelehnt haben, weil es die menschliche Natur verleugnet (humanam naturam negare).585 Das bedeutet positiv formuliert, dass die Peripatetiker die Ansicht vertreten haben könnten, Affekte seien der menschlichen Natur gemäß. Und wenn sie konsequent waren, dann müssten sie auch die Ansicht vertreten haben, dass Wut – ein Affekt – der menschlichen Natur gemäß ist.586 Auch auf die peripatetische Auffassung, dass Affekte etwas Nützliches an sich haben können, scheint Seneca in De ira einzugehen. Er erwähnt die Peripatetiker an den entscheidenden Stellen aber wieder nicht namentlich. Die Einwände, die er anführt, legen aber nahe, dass es um ihre Position geht. Genau wie in Ciceros Darstellung wird die motivierende Kraft der Wut (ira) hervorgehoben:587 Extollit animos et incitat, nec quicquam sine illa magnificum in bello fortitudo gerit, nisi hinc flamma subdita est et hic stimulus peragitavit misitque in pericula audaces. Sie erhebt die Seele und stachelt sie an, und ohne sie vollbringt die Tapferkeit im Krieg keine Großtat, wenn hier nicht eine Anfeuerung gegeben ist und dieser Anreiz die Wagemutigen erregt und sie in die Gefahr schickt.
Ferner wird – ebenfalls wie bei Cicero – die moralische Forderung nach einem mittleren Maß laut:588
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Vgl. Sen. epist. 85,3. Aus Senecas Kritik geht sogar hervor, wie die Peripatetiker unter anderem zu dieser Überzeugung gelangt sein könnten: Sie scheinen erstens wie Cicero und Seneca angenommen zu haben, dass Wut ein Verlangen nach Rache ist (vgl. auch Aristot. rhet. 1378a32–34). Zweitens nahmen sie wohl an, dass das Verlangen nach Rache der menschlichen Natur gemäß ist – und daraus folgerten sie offenbar, dass auch Wut der menschlichen Natur gemäß ist. Eine solche Argumentation wird insbesondere aus Sen. dial. 3,6,4–5 (= de ira 1,6,4–5) ersichtlich, wo Seneca die zweite Annahme der Peripatetiker ablehnt und deshalb auch ihren Schluss nicht akzeptieren kann: Non est […] natura hominis poenae appetens; ideo ne ira quidem secundum naturam hominis, quia poenae appetens est („Von Natur […] verlangt der Mensch nicht nach Rache; daher ist auch die Wut nicht der Natur des Menschen gemäß, denn gerade sie verlangt ja nach Rache“, Übers. Apelt, modifiziert). Sen. dial. 3,7,1 (= de ira 1,7,1), Übers. Rosenbach, modifiziert. Vgl. auch Sen. dial. 3,13,3 (= de ira 1,13,3): ,Utilis‘ inquit ,ira est, quia pugnaciores facit‘ („Nützlich, heißt es, ist die Wut, weil sie kämpferischer macht“, eig. Übers.). Sen. dial. 3,7,1–2 (= de ira 1,7,1–2), Übers. Apelt, modifiziert.
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Das handlungspsychologische Fundament Optimum itaque quidam putant temperare iram, non tollere, eoque detracto quod exundat ad salutarem modum cogere, id vero retinere sine quo languebit actio et vis ac vigor animi resolvetur. Daher halten es bestimmte Leute für das Beste, die Wut zu mäßigen, nicht aber zu tilgen, und sie nach Abzug des Überschüssigen auf ein gesundes Maß zu beschränken, immer aber so viel beizubehalten, als hinreicht, um die Handlung nicht erlahmen und Kraft und Frische der Seele nicht verschwinden zu lassen.
Wut sei nötig, um in bestimmten Situationen, wie etwa im Krieg, zum Handeln motiviert zu werden.589 Da sie jedoch eine Eigendynamik mit möglicherweise fatalen Konsequenzen entwickeln kann – so könnte der Gedanke gelautet haben –, soll ihre Stärke auf ein mittleres Maß reduziert werden. Durch dessen Einhaltung sei es einerseits möglich, die motivationale Kraft der Wut aufrechtzuerhalten; andererseits verhindere man so, dass sie in unkontrollierbare Exzessivität ausartet. Gemäßigte Wut wäre demnach also die nützlichste Wut.590 2.6.3 Senecas Kritik an der peripatetischen Metriopathie Seneca bestreitet gar nicht, dass Affekte „[…] aus einer Art von gleichsam natürlicher Quelle stammen“ (a quodam quasi naturali fluere principio).591 Er verweist zunächst darauf, dass uns die Natur die Selbstsorge (cura nobis) übertragen592 und dass sie den lebensnotwendigen Vorgängen die Lust (voluptas) beigemischt hat, damit sie diese durch ihr Hinzutreten angenehmer macht.593 Mit der Selbstsorge verbindet Seneca die altstoische Idee eines auf Selbsterhaltung ausgerichteten ersten Antriebes, den ein Lebewesen gleich von Geburt an hat.594 Unter Lust versteht s
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Vgl. auch Sen. dial. 3,9,2 (= de ira 1,9,2). Ob das Zitat dort wirklich von Aristoteles stammt, kann bezweifelt werden. Vermutlich gebraucht Seneca dessen Namen hier als Platzhalter für alle Peripatetiker. Vgl. auch Sen. dial. 3,10,4 (= de ira 1,10,4): ,Ita‘ inquit ,utilis affectus est, si modicus est‘ („Der Affekt, heißt es, ist dann nützlich, wenn er gemäßigt ist“, eig. Übers.). Sen. epist. 116,3, Übers. Rosenbach. Auch Machek 2018 betont diesen Aspekt in Senecas Affektenlehre. Vgl. auch Sen. epist. 14,1: Fateor insitam esse nobis corporis nostri caritatem […] („Ich gestehe, dass uns die Liebe zu unserem Körper angeboren ist […]“, eig. Übers.). Vgl. ferner Sen. epist. 36,8, wo Seneca sagt, die Liebe zu sich selbst (amor sui) sei der Seele inhärent. Auch aus ebd., 82,15; ebd., 121,17 und Sen. benef. 4,17,2 geht hervor, dass uns die Selbstliebe eingepflanzt ist. Neben der selbstreferenziellen oder personalen Oikeiôsis kennt Seneca auch die nach außen gerichtete oder soziale Oikeiôsis, vgl. Sen. epist. 95,52: Natura […] nobis amorem indidit mutuum et sociabiles fecit („Die Natur […] hat uns die gegenseitige Liebe eingepflanzt und uns sozial gemacht“, eig. Übers.). Vgl. Sen. epist. 116,3. Vgl. S. 58.
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er hier offensichtlich keinen Affekt, sondern so etwas wie eine körperliche Empfindung, die sich etwa dann einstellt, wenn man etwas isst oder trinkt, das einem schmeckt. In diesem natürlichen Urzustand ist weder die Sorge um sich selbst noch die rein körperliche Lust verwerflich. Beides könnte jedoch zum Ausgangspunkt von moralischen Fehltritten und Lastern werden – die Sorge um sich selbst, wenn man sich ihr zu sehr hingibt (huic ubi nimium indulseris), und die rein körperliche Lust, wenn sie in eigenem Recht kommt (suo veniat iure),595 also über die Bedeutung einer angenehmen Begleiterscheinung hinauswächst. Insofern haben Affekte eine natürliche Quelle;596 sie selbst sind aber erst zu solchen geworden und nicht schon von Anfang an dagewesen. Aus Senecas Sicht ist das etwas anderes als zu sagen, dass sie natürlich sind, wie die Peripatetiker behaupten. Er wendet sich noch auf andere Weise gegen ihre These von der Natürlichkeit der Affekte. Wie schon im vorhergehenden Unterabschnitt zum Teil deutlich geworden ist, argumentiert er im ersten Buch von De ira am Beispiel der Wut teilweise so, als wären die Wut und der Mensch zwei völlig gegensätzliche Dinge. Während der Mensch von Natur aus friedlich ist, seine Nächsten liebt und sogar unbekannten Personen zu Hilfe eilt, ist die Wut wild, feindselig und fällt ohne Rücksicht auf Verluste über alles und jeden her.597 Wer behauptet, dass sie natürlich ist, bringt somit zwei Begriffe zusammen, die sich eigentlich gegenseitig ausschließen. Zum anderen versucht Seneca ein vermutlich ebenfalls von den Peripatetikern stammendes, von ihm allerdings nicht eigens ausformuliertes Argument zu widerlegen, das wie folgt gelautet haben könnte: „Der Mensch trachtet von Natur aus nach Rache (poena); und da die Wut ein Verlangen nach Rache ist, ist sie für den Menschen natürlich.“598 Seine Strategie scheint darin zu bestehen, die erste Prämisse infrage zu stellen. Dass Menschen, die ein Verbrechen begangen haben, der Strafe (castigatio) bedürfen, stellt er nicht in Abrede.599 Strafe ist aber etwas anderes als Rache. Im Gegensatz zur Rache „[…] schadet [sie] ja nicht, sondern heilt durch etwas, das wie ein Schädigen aussieht“ (non enim nocet sed medetur specie nocendi).600 Ist Strafe für Seneca also natürlich? Ausdrücklich sagt er dies nicht; seine Argumentation wird jedoch erst dann vollkommen verständlich, wenn man es annimmt. s
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Vgl. Sen. epist. 116,3. Es ist bemerkenswert, dass Seneca hier nicht auf die von ihm im 92. Brief erwähnten irrationalen Teile des Hegemonikons eingeht (vgl. S. 79). Dies kann als eine weitere Bestätigung angesehen werden, dass er hinsichtlich seiner Seelen- und Emotionslehre orthodox ist und nicht Platons oder Poseidonios’ psychologischen Dualismus übernimmt. Vgl. Sen. dial. 3,5,2 (= de ira 1,5,2) und S. 148. Vgl. Sen. dial. 3,6,4 (= de ira 1,6,4) und S. 149, Fußn. 586. Vgl. Sen. dial. 3,6,1 (= de ira 1,6,1): ‚Quid ergo? Non aliquando castigatio necessaria est?‘ Quidni? („,Ja, wie? Ist nicht auch manchmal Strafe notwendig?‘ Keine Frage!“, Übers. Wildberger, modifiziert). Sen. dial. 3,6,1 (= de ira 1,6,1), Übers. Wildberger.
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Das handlungspsychologische Fundament
Auch am Beispiel des Arztes (medicus) einerseits und des Gesetzeshüters und Staatslenkers (legum praeses civitatisque) andererseits will Seneca zeigen, dass Strafe keine Rache ist.601 Beide Funktionsträger, die er in diesem Kontext als Idealgestalten versteht, greifen auf weichere und härtere „Strafmaßnahmen“ bei Patienten bzw. Tätern zurück, verfolgen aber stets das Ziel, ihnen zur Genesung zu verhelfen. Der Arzt versucht es bei leichteren Erkrankungen zunächst mit geringfügigen Änderungen des Tagesablaufes, indem er einen Ernährungs- und Aktivitätenplan aufstellt. Hat er damit keinen Erfolg, geht er über zur nächsten Maßnahme: der quantitativen Beschränkung. Hilft dies nicht, entzieht er dem Patienten einiges und schränkt anderes ein. Misslingt auch diese Maßnahme, bleiben drei letzte Möglichkeiten: Der Arzt setzt auf Fasten, um den Körper des Betroffenen zu entschlacken; danach lässt er ihn zur Ader, und „[…] sollte ein Körperteil den umliegenden, mit ihm verbundenen Teilen schaden und die Krankheit verbreiten, schreitet er zur Operation oder Amputation.“ An alledem wird laut Seneca ersichtlich, dass sich der Arzt an dem Patienten nicht rächen und ihm einen Schaden zufügen will – auch wenn insbesondere die letzte Maßnahme den Eindruck erwecken mag, dass jemand physisch verletzt wird. Der Gesetzeshüter und Staatslenker geht ebenfalls nach einem solchen Mehrschrittmodell vor.602 Liegt ein geringes Vergehen vor, versucht er mit nicht allzu strengen Worten förderlich auf die Anlagen (ingenia) des Täters einzuwirken und ihn davon zu überzeugen, von nun an das Richtige zu tun. Erreicht er damit nichts, wird er strenger im Ton und ermahnt. Erst wenn auch dies zu nichts führt, ergreift er Strafmaßnahmen (poenae).603 Seine Reaktion passt er an das jeweilige Vergehen an: Je schwerer es ist, desto schwerer fällt sein Strafmaß aus. Im äußersten Fall verhängt er die Todesstrafe. Dazu darf er sich aber nur dann entschließen, wenn der Tod „[…] auch im Interesse des Verurteilten selbst liegt,“ 604 womit Seneca offenbar sagen will, dass der Schwerverbrecher einzig und allein noch durch seine Hinrichtung der Gesellschaft nützen kann, weil die Hinrichtung eine Abschreckungsfunktion erfüllt.605 Wie dem Arzt geht es also auch dem Gesetzeshüter und Staatslenker keineswegs um Rache und Schädigung; für ihn steht stets das Heil im Vordergrund – selbst bei der Todesstrafe. Denn deren abschreckende Wirkung motiviert andere dazu, ihre Vergehen in Zukunft zu unterlassen. Mit Blick auf das zu widerlegende peripatetische Argument lässt sich somit festhalten, dass der Mensch Seneca zufolge von Natur aus nicht nach Rache und Schädigung s
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604 605
Vgl. hier und im Folgenden Sen. dial. 3,6,2f. (= de ira 1,6,2f.), Übers. Wildberger. Vgl. im Folgenden Sen. dial. 3,6,3 (= de ira 1,6,3). Senecas Verwendung des Ausdruckes poena ist in diesem Kontext unter argumentationstheoretischen Gesichtspunkten ungünstig, weil er ihn geläufig mit der Wut assoziiert. Hier will er aber gerade zeigen, dass die Handlungen des Gesetzeshüters und Staatslenkers in der Regel nichts mit Wut zu tun haben. Um Verwirrungen zu vermeiden, übersetze ich poena an dieser Stelle anders als zuvor. Übers. Wildberger. Vgl. Sen. dial. 3,6,4 (= de ira 1,6,4) und Sen. dial. 3,19,8 (= de ira 1,19,8).
Handlungspsychologie und Gefühlslehre bei Seneca
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trachtet, sondern allenfalls nach Strafe, weil er im Kern ein friedliches und soziales Wesen ist. Die Wut trachte aber von Natur aus nach Rache und Schädigung. Also kann sie nichts Natürliches sein. Abgesehen von den geschilderten Einwänden gegen die These von der Natürlichkeit der Affekte lassen sich in Senecas Kritik an der peripatetischen Metriopathie noch zwei weitere grundsätzliche Argumentationslinien erkennen. Die eine hat primär ein handlungspsychologisches Motiv. Im Grunde ist die Metriopathie wegen des mit Affekten einhergehenden Kontrollverlustes praktisch unmöglich. Wer einen Affekt erst einmal zugelassen hat, kann ihn nicht in einem gemäßigten Zustand halten, weil er sich vorerst der Kontrolle entzieht. Und für sich genommen hat er wegen seiner Exzessivität nichts Nützliches an sich606 (man erinnere sich an Chrysipps Sprinter, der nicht gleich stehenbleiben kann, wenn er stehenbleiben will, oder an die dritte Affektbewegung aus De ira 2,4,1 [dial. 4,4,1], bei der ein Akteur etwas tut, nicht falls es richtig ist, sondern um jeden Preis). Die Vernunft ist im Falle des Affektausbruches in ihrer praktischen Funktion eingeschränkt, sodass man den affektuösen Zustand, in dem sie sich befindet, nicht sogleich beenden kann. Dabei kommt es nicht darauf an, wie stark der Affekt ist: „[…] Wie geringfügig immer er ist, zu gehorchen weiß er nicht. Wie der Vernunft kein Tier gehorcht, nicht ein wildes, nicht ein gezähmtes und sanftes – ihr Wesen ist nämlich taub gegen gutes Zureden –, so folgen nicht, gehorchen nicht die Affekte, wie geringfügig immer sie sind.“607 Seneca verdeutlicht den mit ihnen einhergehenden Kontrollverlust auch durch verschiedene bildhafte Vergleiche. Einen Affekt zuzulassen ist so, wie in die Tiefe zu springen – man fällt unweigerlich nach unten, ob man will oder nicht.608 Die Affektfreisetzung ist ebenso gut mit einer ausweglosen Kriegssituation vergleichbar: Sobald der Feind „[…] durch die Stadttore gedrun-
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Für Senecas Position zur Nützlichkeit von Affekten vgl. insbesondere Sen. dial. 3,9,4 (= de ira 1,9,4): Hic erit utilis miles qui scit parere consilio; affectus quidem tam mali ministri quam duces sunt („Und ein nützlicher Soldat wird nur derjenige sein, der einen Plan befolgen kann. Affekte jedenfalls sind ebenso schlecht im Dienen wie im Führen“, Übers. Wildberger). Vgl. auch Sen. dial. 3,17,1 (= de ira 1,17,1), wo Seneca gegen „Aristoteles“ argumentiert und feststellt, dass man Affekte nicht einfach wie Kriegsgerät aufnehmen und wieder wegstellen kann – träfe das nämlich zu, wären sie in der Tat nützlich. Aber wie er betont, kämpfen sie ganz allein, sie „[…] nehmen in Besitz, statt besessen zu werden“ (habent, non habentur, Übers. Wildberger). Vgl. Sen. epist. 85,8: quantuscumque est, parere nescit, consilium non accipit. Quemadmodum rationi nullum animal optemperat, non ferum, non domesticum et mite (natura enim illorum est surda suadenti), sic non sequitur, non audiunt affectus, quantulicumque sunt (Übers. Rosenbach, modifiziert). Vgl. Sen. dial. 3,7,4 (= de ira 1,7,4).
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Das handlungspsychologische Fundament
gen ist, lässt er sich von seinen Gefangenen kein Maß mehr setzen [modum a captivis non accipit]“.609 Schließlich vergleicht Seneca einen Affekt mit einem Wildbach, dessen starker Strom die in ihm Befindlichen mit sich reißt, ohne dass sie etwas dagegen ausrichten könnten.610 Die andere grundsätzliche Argumentationslinie Senecas gegen die Metriopathie der Peripatetiker hebt primär auf den moralischen Aspekt ab, den Affekte ihm und allen anderen Stoikern zufolge haben. Ihr vermehrtes Auftreten kann zur Entstehung von Lastern führen.611 Wut entwickelt sich zum Beispiel irgendwann zu Grausamkeit (feritas/crudelitas), die aufgrund ihrer Unheilbarkeit das Handeln nachhaltig negativ bestimmt.612 Zudem sind Affekte schlecht, weil sie die Seelenruhe stören und der Erlangung von Glückseligkeit im Weg stehen. Zu sagen, man solle bei Affekten ein mittleres Maß einhalten, ist im Prinzip so wie zu sagen, man solle bei etwas Schlechtem ein mittleres Maß einhalten, und das ist absurd.613 s
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Vgl. Sen. dial. 3,8,2 (= de ira 1,8,2), Übers. Wildberger. Vgl. Sen. epist. 85,4. Vgl. für dieses Bild auch S. 123 und 133. Vgl. ebd., 75,12: Affectus sunt motus animi improbabiles, subiti et concitati, qui frequentes neglectique fecere morbum, sicut destillatio una nec adhuc in morem adducta tussim facit, assidua et vetus pthisin („Affekte sind verwerfliche Bewegungen der Seele, plötzliche und stürmische, die bei häufiger Wiederholung und Vernachlässigung Krankheit verursachen, so wie ein noch nicht zur Gewohnheit gewordener Katarrh Husten verursacht, ein beständiger und verfestigter [dagegen] Schwindsucht“, eig. Übers.). Vgl. Sen. epist. 85,10: [...] ab his enim [sc. affectibus] ad illa [sc. avaritia, crudelitas, impotentia, impietas] transitur („[...] denn von diesen [den Affekten] führt der Weg zu jenen [den Lastern der Habsucht, Grausamkeit, Zügellosigkeit, Ruchlosigkeit]“, eig. Übers.). Vgl. außerdem Sen. epist. 85,15: Quod si recipitur, usu frequenti timor transibit in vitium [...] („Denn wenn sie zugelassen wird, wird die Furcht bei häufiger Wiederholung dieses Vorgangs in ein Laster übergehen [...]“, eig. Übers.). Vgl. schließlich Sen. epist. 110,10, wo Seneca sagt, dass es der Anfang aller Übel ist (initium omnium malorum est), sich der Lust (voluptas) hinzugeben. Vgl. Sen. dial. 4,5,3 (= de ira 2,5,3): Origo huius mali [sc. feritatis] ab ira est, quae ubi frequenti exercitatione et satietate in oblivionem clementiae venit et omne foedus humanum eiecit animo, novissime in crudelitatem transit („[...] der Ursprung dieses Übels [der Grausamkeit] liegt in der Wut; wenn diese sich durch regelmäßige Praxis und Übersättigung zum vollkommenen Vergessen jeglicher Milde gesteigert und alle menschlichen Bindungen aus der Seele vertrieben hat, dann geht sie schließlich in Grausamkeit über“, Übers. Wildberger, modifiziert). Für die Unheilbarkeit der Grausamkeit vgl. Sen. dial. 4,5,5 (= de ira 2,5,5). Vgl. Sen. dial. 3,10,4 (= de ira 1,10,4): [...] modicus affectus nihil aliud quam malum modicum est („[...] ein gemäßigter Affekt ist nichts anderes als ein gemäßigtes Übel“, eig. Übers.). Vgl. auch Sen. dial. 5,42,1 (= de ira 3,42,1): [...] quod enim malae rei temperamentum est? („[...] was gibt es bei einer schlechten Sache für Mäßigung?“, Übers. Rosenbach). Cicero will anscheinend etwas Ähnliches sagen, wenn er in den Tusculanae Disputationes die rhetorische Frage stellt (vgl. Cic. Tusc. 4,57): Mediocritates autem malorum quis laudare recte possit? („Wer aber könnte mit Recht das Mittelmaß bei den Übeln loben?“, Übers. Kirfel).
Handlungspsychologie und Gefühlslehre bei Seneca
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Denn das Ziel besteht nicht darin, gemäßigt schlecht, sondern gar nicht schlecht zu sein. Man will ja schließlich auch nicht ein wenig krank, sondern gar nicht krank sein. „Nicht besteht gute Gesundheit bei einer mäßigen Erkrankung“,614 unterstreicht Seneca. Aus allen diesen Gründen plädiert er für die Apathie – ein Ideal, für das auch Cicero (bzw. „M“) über die gesamten Tusculanen hinweg eintritt.615 Um zu handeln, bedarf es keiner Affekte, die Vernunft allein genügt, 616 insbesondere die vollkommene, zur Tugend ausgereifte Vernunft, die jegliches Schwanken zwischen verschiedenen Entschlüssen abgelegt hat:617 Nam cum iudicavit aliquid faciendum, in eo perseverat; nihil enim melius inventura est se ipsa quo mutetur; ideo stat semel constitutis. Denn wenn sie ihr Urteil gefällt und entschieden hat, was getan werden muss, dann bleibt sie dabei. Sie wird nämlich nichts Besseres finden als sich selbst, wodurch sie zu einer Änderung veranlasst werden könnte. Deswegen bleibt sie bei dem, was sie einmal beschlossen hat.
Die Zustimmung der Vernunft gilt ausnahmslos propositionalen Erscheinungsgehalten, die mit der stoischen Güterlehre vereinbar sind. Auf diese Weise erzeugt die Vernunft stets einen nichtexzessiven Antrieb,618 den sie von Anfang an kontrollieren kann. Und nur weil sie imstande ist, ihn die ganze Zeit über zu kontrollieren, kann er auch nützlich sein. Beispielsweise ist lediglich ein affektfreier Richter imstande, genau abzuschätzen, welche Strafe für einen Delinquenten angemessen ist.619 Würde er wütend werden oder unter den Einfluss eines anderen Affekts geraten, verlöre er die Kontrolle über seinen Antrieb und könnte seine Arbeit nicht mehr pflichtgemäß verrichten.
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Vgl. Sen. epist. 85,4: non est bona valetudo mediocritas morbi (Übers. Rosenbach). Vgl. auch Sen. epist. 116,1: Ego non video quomodo salubris esse aut utilis possit ulla mediocritas morbi („Ich sehe nicht, inwiefern irgendein Mittelmaß einer Krankheit heilsam oder nützlich sein kann“, eig. Übers.). In die gleiche Kerbe schlägt Cicero (bzw. „M“) in Cic. Tusc. 3,22. Vgl. ebd., 1,119; 3,13; 4,57. Vgl. Sen. dial. 3,17,2 (= de ira 1,17,2): [...] satis est per se ipsa ratio [...]. Sen. dial. 3,17,3 (= de ira 1,17,3), Übers. Wildberger, modifiziert. So verstehe ich Seneca, wenn er sagt (vgl. Sen. epist. 85,10): Sola virtus habet [...] temperamentum („Allein die Tugend bringt Mäßigung mit sich“, eig. Übers.). Vgl. auch Sen. dial. 7,13,5 (= vit. beat. 13,5): [...] in virtute non est verendum ne quid nimium sit, quia in ipsa est modus [...] („Bei der Tugend ist nicht zu befürchten, dass sie etwas Übermäßiges ist, weil in ihr selbst das Maß liegt“, eig. Übers.). Vgl. Sen. dial. 3,19,5–8 (= de ira 1,19,5–8).
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Das handlungspsychologische Fundament
Schlussfolgerungen und Ausblick
Ausgehend vom 89. Brief habe ich im zurückliegenden Teil dieser Arbeit gezeigt, dass Senecas Ethik ein handlungspsychologisches Fundament aufweist, das er von den älteren Stoikern übernimmt und teilweise modifiziert. Trotz der relativ schmalen textlichen Basis hat sich herausgestellt, dass er ebenso wie sie eine Handlung in verschiedene Momente einteilt: (1) Eine vernunftbegabte Person gelangt über eine Wahrnehmung zu einer Erscheinung von irgendeiner Sache, die sie dazu antreibt, etwas zu tun. (2) Diese antreibende Erscheinung entwickelt sich bei ihr dann und nur dann zu einem voll ausgeprägten Antrieb, wenn sie einer mit ihr verbundenen normativen Aussage zustimmt. (3) Hat sie einer solchen Aussage zugestimmt, handelt sie mehr oder weniger unmittelbar (sofern nichts dazwischenkommt). Senecas handlungspsychologische Überlegungen weisen im Vergleich zu denen der älteren Stoa aber auch einige Unterschiede auf. So spricht er nirgends von einer kataleptischen oder nichtkataleptischen (antreibenden) Erscheinung. Außerdem kann man aus seinen Ausführungen nicht eindeutig schließen, dass der Antrieb immer notwendig und hinreichend für eine Handlung ist: Der 89. Brief und De ira 2,4,1 (= dial. 4,4,1) legen nahe, dass ein nichtexzessiver Antrieb zurückgehalten werden kann. Dem 113. Brief lässt sich lediglich entnehmen, dass Antrieb und Handlung eng beieinanderliegen. Gleiches scheint für das Verhältnis zwischen Wut und ihrer Umsetzung in einen Racheakt zu gelten: Wut und Rache liegen eng beieinander – Seneca sagt aber nicht ausdrücklich, dass Wut unmittelbar zur Rache führt, wenn sich keine Hindernisse in den Weg stellen. Auf die Frage nach der Ursache für den antreibenden Charakter mancher Erscheinungen geben weder die älteren Stoiker noch Seneca eine direkte Antwort. Nach Auffassung beider können wir aufgrund unseres Hegemonikons wahrnehmen, Erscheinungen haben, zustimmen und Antriebe entwickeln. Während die Zustimmung in unserer Hand liegt und somit auch der Antrieb, der kausal von ihr abhängt, kann dasselbe nicht von unseren Wahrnehmungen und den durch sie hervorgerufenen Erscheinungen gesagt werden: Sie entstehen einfach so (vorausgesetzt, man befindet sich im Wachzustand). Wie aber kommt es, dass manche Erscheinungen antreiben? Eine platonische (und auch aristotelische) Erklärung könnte lauten: weil es etwas Irrationales in der Seele gibt. Die älteren Stoiker können diese Erklärung jedoch nicht geben, weil sie nicht davon ausgehen, dass das Hegemonikon etwas Irrationales in sich hat. Seneca unterteilt es zwar in platonischer Façon in einen rationalen und einen zweigeteilten irrationalen Teil – dahinter steht aber kein theoretisches Projekt. Er will veranschaulichen, dass die Epikureer die Glücksquelle nicht in der ratio sehen. Zugleich ist sein Rückgriff auf die platonische Psychologie ein rhetorischer Schachzug: Er will so deutlich machen, dass
Schlussfolgerungen und Ausblick
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die Epikureer mit ihrer Glücksauffassung allein dastehen – nicht einmal Platon macht das Glück von den irrationalen Seelenteilen abhängig, obwohl er deren Existenz akzeptiere. Dass Seneca Platons Dreiteilung der Seele übernommen und sie, wie angeblich Poseidonios, zur Grundlage seiner Handlungspsychologie und Gefühlslehre gemacht hat, ist damit aber nicht gezeigt. Wie würden die älteren Stoiker und Seneca also die Frage nach der Ursache für den antreibenden Charakter mancher Erscheinungen beantworten? Senecas Leib-Seele-Dualismus und seine dadurch bedingte Reduzierung emotionaler Regungen auf Empfindungen des Körpers lässt es plausibel erscheinen, dass er – und vielleicht auch die älteren Stoiker – den Körper dafür verantwortlich machten. Handlungspsychologische Grundannahmen sind sowohl bei den älteren Stoikern als auch bei Seneca ein integraler Bestandteil der Gefühlslehre. Die wesentlichen Momente einer Handlung sind beiden zufolge mit denen eines Affekts identisch. Der Affektantrieb unterscheidet sich vom gewöhnlichen Handlungsantrieb aber grundsätzlich darin, dass er exzessiv ist. Senecas Leistung besteht in diesem Kontext nicht nur darin, dass er am Beispiel der Wut eingehend erläutert, wie ein Affekt und damit eine verwerfliche Handlung entsteht; er schildert auch, wann eine Handlung moralisch korrekt verläuft: Im 89. Brief spricht er davon, dass man nur dann vollends mit sich übereinstimmt, wenn man stets richtig über den Wert der Dinge urteilt, einen geordneten und maßvollen Antrieb entwickelt und schließlich die äußere Handlung mit dem Antrieb in Einklang bringt. Er gibt somit deutlich zu verstehen, dass es in moralischer Hinsicht zwei mögliche Handlungsverläufe gibt – einen idealen und einen aberrativen. Eine weitere Leistung Senecas lässt sich daran festmachen, dass er der einzige uns bekannte antike Philosoph ist, der einen Affekt minutiös in seine einzelnen Bestandteile zerlegt. Er kann damit zu Recht als ein – wenn nicht sogar der – Vordenker heutiger sogenannter Komponententheorien der Gefühle bezeichnet werden. Kritisierbar an seiner Affektenlehre ist, dass er physische Widerfahrnisse nicht klar von psychophysischen Widerfahrnissen abgrenzt, wie es sein Vorgänger Poseidonios getan haben soll. Aber dies ist nicht weiter verwunderlich. Die Annahme, dass bestimmte, aus unserer Sicht emotionale Empfindungen und Reaktionen ihren Ursprung auch in der Seele haben, würde ihn schnell in die Nähe des psychologischen Dualismus bringen, zu dem er sich aber nirgends offen bekennt. Auf der anderen Seite kann man Seneca zur Last legen, dass er zwischen den einzelnen Wutmomenten im zweiten Buch seiner Schrift De ira keinen hinreichend einleuchtenden Zusammenhang herstellt. Ein diesbezüglicher Klärungsversuch wurde unternommen. Aus philosophiegeschichtlicher Perspektive besonders interessant ist Senecas Willensbegriff. Der Wille scheint für ihn bei der Entstehung von Affekten eine kausale Funktion zu erfüllen: Sie entstehen erst dann, wenn man gegenüber seinen Erscheinungen einen nichtverbissenen Willen an den Tag legt und falsche Urteile fällt. Gleichzeitig ist ein Affekt ein voluntarium vitium animi: Man kann zulassen oder verhindern, dass er entsteht, auch wenn die fehlende Weisheit das Treffen der
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Das handlungspsychologische Fundament
richtigen Entscheidung erschwert. Hinter der voluntas ein eigenständiges, von anderen seelischen Vermögen und Akten unabhängiges psychologisches Prinzip zu vermuten, würde aber zu weit gehen. Bei genauerer Betrachtung setzt sie Seneca mit dem Zustimmungsvermögen der ratio gleich. Insofern verlässt er den von der älteren Stoa geschaffenen (handlungs)psychologischen Rahmen nicht und führt genauso wenig wie sie ein Dezisionsvermögen im engeren Sinne in die Philosophie ein.620 Zusätzlich zu jener Gleichsetzung von voluntas und synkatathesis ist anzumerken, dass er den Willen in seiner psychologischen Analyse von Handlungen nicht präzise genug verortet, was ein Voluntarist sicher getan hätte. Warum thematisiert er ihn nicht, wenn er wie im 113. Brief das Zustandekommen einer Handlung beschreibt, in die weder ein Voraffekt noch ein Affekt involviert ist, obwohl er selbst an anderer Stelle unterstreicht, dass eine Handlung von einem Willen ausgeht?621 Die unpräzise Verortung des Willens ist auch in seiner Darstellung der drei Affektbewegungen augenfällig, die den Eindruck erweckt, als trete der Wille erst dann so richtig auf den Plan, wenn es um die Zustimmung zu einer normativen Aussage geht. Ein Voluntarist hätte gewiss betont, dass der Wille schon früher zum Einsatz kommt, nämlich schon bei der Zustimmung zu einer faktisch formulierten konstatierenden Aussage, die gleich im Anschluss an eine Erscheinung gebildet wird. Trotz dieser kritischen Beobachtungen ist hervorzuheben, dass Seneca der erste und einzige uns bekannte Stoiker ist, der ausdrücklich der voluntas einen Platz in der Affektentstehung und damit zugleich im Handlungsaufbau zuweist. Ein Affekt entsteht Seneca zufolge aufgrund eines nichtverbissenen Willens. Es wurde der Versuch unternommen, diese Charakterisierung als eine Form von Willensschwäche zu interpretieren. Willensschwäche bedeutet demnach so viel wie Vernunftschwäche: Weil der nichtweisen Person das Wissen fehlt, was gut und schlecht ist sowie was getan und unterlassen werden soll, ist sie prädisponiert, sich von ihren Voraffekten irritieren zu lassen und deren Weiterentwicklung zu Affekten zu beschleunigen. Anhand einer Stelle aus dem 52. Brief wurde zudem dafür argumentiert, dass Willensschwäche aus Senecas Sicht noch eine weitere Bedeutung haben kann: Er scheint darunter auch so etwas wie die mangelnde Willenskraft oder Ausdauerfähigkeit zu verstehen, an einem einmal gesteckten Ziel festzuhalten. Statt es unaufhaltsam zu verfolgen, schwankt ein nichtweiser Akteur zwischen unterschiedlichen Entschlüssen und kommt so immer wieder von seinem Weg ab. Beide Verhaltensweisen lassen sich den Modellen der diachronen und
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Die Abhängigkeit des Zustimmungsvermögens von der ratio hat wie in der altstoischen Handlungspsychologie eine freiheitsmindernde Auswirkung: Je nachdem, wie weit wir auf dem Weg zur Tugend gekommen sind, so stimmen wir auch zu (vgl. S. 112 und S. 114f.). Vgl. Sen. epist. 95,57: Actio recta non erit nisi recta fuerit voluntas; ab hac enim est actio („Das Handeln wird nicht richtig sein, wenn nicht richtig ist der Wille; davon nämlich geht die Handlung aus“, Übers. Rosenbach).
Schlussfolgerungen und Ausblick
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synchronen Willensschwäche zuordnen: Die nichtweise Person, die sich von ihrem Voraffekt irritieren lässt, ist synchron willensschwach, insofern sie sich bewusst ist, was wirklich gut und schlecht ist sowie was sie tun und unterlassen soll, von ihrem Voraffekt beeinflusst aber trotzdem nicht dementsprechend urteilt. Die zwischen unterschiedlichen Entschlüssen schwankende nichtweise Person ist wiederum diachron willensschwach, weil sie einem Ziel zustrebt, dieses aufgrund ihrer fehlenden Weisheit aber nicht zu fokussieren vermag und einen für seine Erreichung weniger förderlichen Entschluss fasst. Diese Form von Willensschwäche verdeutlicht, dass Seneca den Willen sowohl als rationales, auf Ziele hin ausgerichtetes Streben als auch als Antriebskraft begreift. Damit erfüllt sein Willensbegriff ein Kriterium mehr für einen philosophischen Willensbegriff im engeren Sinne als das altstoische Konzept der Zustimmung: Die älteren Stoiker charakterisieren die Zustimmung nirgends als Garanten dafür, an einem einmal gesteckten Ziel festzuhalten. Worin sich willensschwaches Handeln für Seneca in affektiven Handlungssituationen äußert, wurde an seiner Medea-, Phaedra- und Thyestfigur veranschaulicht. Hier war die Idee, Medeas Hin- und Hergerissensein zwischen verschiedenen Affekten als diachrone Willensschwäche zu verstehen. Auch wenn sie affektbeherrscht und die praktische Funktion ihrer Vernunft beeinträchtigt ist, erteilt sie schwache affektgenerierende Zustimmungen, die ihre früher erteilten schwachen affektgenerierenden Zustimmungen überwerfen. Beispielsweise stimmt sie der normativen Aussage zu, dass sie ihre Kinder verschonen soll, und empfindet Liebe für sie; dann stimmt sie der normativen Aussage zu, dass sie sich an Jason rächen soll, und empfindet Wut auf ihn. Das letztere Urteil macht das vorhergehende hinfällig, da Medeas Liebe von ihrer Wut gänzlich verdrängt wird. Phaedra und Thyest wurden auf der anderen Seite als Fälle affektiver synchroner Willensschwäche vorgestellt. Phaedras Liebe zu Hippolytus ist so stark, dass sie ihm überallhin folgen würde – selbst in den Hades –, obwohl ihr bewusst ist, dass sie ihn nicht begehren sollte. Ihr Liebesrasen wird zwar zeitweilig von anderen Affekten blockiert, setzt sich letztendlich aber durch. Ähnlich verhält es sich bei Thyest: Er liebt seine Heimat und seinen Bruder so sehr, dass er seinen Söhnen nach Mykene folgt, obwohl ihm bewusst ist, dass sein Bruder etwas gegen ihn im Schilde führt. Auch sein Verlangen wird zeitweilig von anderen Affekten blockiert, setzt sich letztendlich aber durch. Die verheerenden Konsequenzen, die das affektbeherrschte Verhalten der drei Dramenfiguren nach sich zieht, machen begreiflich, warum Seneca, wie in der Debatte mit den Peripatetikern, für das Ideal der Apathie eintritt. Die Debatte selbst weist Ähnlichkeiten zu der in der Philosophie der Neuzeit diskutierten Frage auf, was uns eigentlich zum Handeln und insbesondere zum moralischen Handeln motiviert.622 Nach dem zu urteilen, was uns Cicero und Seneca überliefern, woll-
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Vgl. Demmerling/Landweer 2007, S. 3.
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Das handlungspsychologische Fundament
ten die Peripatetiker die Affekte nicht ganz tilgen, zum einen weil sie zur menschlichen Natur gehören, zum anderen weil sie sich im gemäßigten Zustand als nützlich erweisen (in Gefechtssituationen motivieren sie zum Beispiel zum Angriff). Die Stoiker plädierten indes für eine vollständige Befreiung des Menschen von den Affekten. Seneca verteidigt seine Schule in diesem Punkt, indem er eine negative und eine positive Begründung gibt. Die negative lautet, dass Affekte eben nicht natürlich sind, sondern allenfalls einen natürlichen Ursprung haben, und dass das sanfte, friedliche und soziale Wesen, das der Mensch von Natur aus hat, gegen ihre Natürlichkeit spricht. Außerdem solle man sich von Affekten wegen des mit ihnen einhergehenden Kontrollverlustes befreien, und wegen ihrer lastergenerierenden und damit unglückskonstitutiven Wirkung. Positiv begründet Seneca die Apathie damit, dass die Vernunft – insbesondere die zur Tugend ausgereifte Vernunft – zur Motivation genügt, unabhängig davon, in welcher Situation man sich befindet und welche Funktion man gerade ausübt. Ein Richter kann in einer Gerichtsverhandlung ebenso allein auf Grundlage seiner Vernunft handeln wie ein Soldat im Krieg. Gegenüber affektbeherrschtem Handeln hat affektfreies Handeln sogar den Vorteil, dass der Antrieb die ganze Zeit über kontrolliert und nach Belieben gesteuert werden kann. Wer hat nun recht – die Peripatetiker oder Seneca? Von einem unparteiischen Standpunkt aus betrachtet wirkt es bisweilen so, als redeten beide Parteien aneinander vorbei. Der Grund dafür könnte in einem unterschiedlichen Affektverständnis liegen. Das, was die Peripatetiker als Affekt bezeichnen, so scheint es, würde Seneca als Voraffekt bezeichnen. Trifft diese Annahme zu, ergäbe sich zumindest eine leichte Annäherung beider Positionen: Für die Peripatetiker sind Affekte natürlich, für Seneca Voraffekte (aus seiner Sicht bleibt nicht einmal die weise Person von ihnen verschont). Ein Unterschied zeigt sich aber nach wie vor: Die Peripatetiker wollen Affekte auf ein mittleres Maß reduzieren, damit diese, wie zu vermuten steht, ihre exzessive Eigendynamik nicht entfalten, und um eine Quelle für Handlungsmotivationen zu haben. Seneca meint dagegen, dass es am leichtesten und besten ist, den Voraffekt auf der Stelle abzuwehren (spernere) und sich ihm von Beginn an zu widersetzen (repugnare).623 Er will also keineswegs ein gewisses motivierendes Potenzial aufrechterhalten. Die Gefahr, dass sich der Voraffekt zu einem Affekt weiterentwickelt, ist zu groß. Mit diesen zusammenfassenden Erläuterungen sind die Voraussetzungen für einen Perspektivenwechsel geschaffen. Im Zentrum des zweiten Hauptkapitels dieser Arbeit steht weniger das handlungspsychologische Fundament von Senecas Ethik als vielmehr seine Ethik selbst. Es geht von nun an nicht um eine theoretische Analyse der einzelnen Momente, in die er und seine stoischen Vorgänger eine Handlung bzw. einen Affekt unterteilten, sondern um die Frage, wie beschaffen die einzelnen Handlungsmomente sein müssen, damit ein Mensch tugendhaft und glückselig werden kann. s
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Vgl. Sen. dial. 3,8,1 (= de ira 1,8,1); vgl. auch Sen. epist. 85,9 und 116,3.
III
Die Ethik
1
Das Telos
1.1
Der Tugenderwerb als moralisches Ziel und seine Effekte
Seneca ist der Auffassung, dass der Mensch viele Eigenschaften mit anderen Entitäten teilt. Wie Pflanzen und Tiere verfügt er über einen Körper (corpus).1 Mit vielen Tieren hat er darüber hinaus den Antrieb (impetus), die gewollte Bewegung (motus voluntarius) und die Stimme (vox) gemeinsam.2 Zudem besitzen alle Tiere, der Mensch eingeschlossen, von Geburt an eine Wahrnehmung ihrer eigenen körperlichen Konstitution (constitutionis suae sensus) – kein Tier muss erst lernen, wie es seine Gliedmaßen einzusetzen hat (vorausgesetzt, es hat welche); es bewegt sie sogleich geschickt und gewandt, als sei es dazu ausgebildet worden.3 Ein weiteres bei allen Tieren zu beobachtendes Phänomen ist, dass ihrer Wahrnehmung ihrer körperlichen Konstitution eine Sorge darum entspringt, und Seneca erklärt auch wie: Jedes Tier „[...] bemerkt, aus Fleisch zu bestehen; daher bemerkt es, was das Fleisch schneiden, brennen, vernichten kann [...]“.4 Obwohl der Mensch also viele Gemeinsamkeiten mit anderen Entitäten hat, zeichnet er sich doch durch eine Sache aus: Er verfügt über Vernunft (ratio), deren Vollkommenheit sein charakteristisches Gut ist (proprium bonum).5 Laut Seneca ist die Vollkommenheit der Vernunft im Falle des Menschen aber nicht schon mit ihrer biologischen Ausbildung gegeben: „Gelehrig hat uns die Natur hervorgebracht und Vernunft verliehen, unvollkommene, aber die vervollkommnet werden kann.“6 Er gebraucht auch das Bild von Samen (semina), die Gott in den Menschenleib gepflanzt hat, und s
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Vgl. Sen. epist. 76,9. Vgl. ebd. „Gewollt“ (voluntarium) ist hier offenbar aristotelisch zu verstehen, in dem Sinne, dass ein Lebewesen das Prinzip seiner Bewegung in sich hat (vgl. Aristot. EN 1111a22–1111b3 und Aristot. an. 432a15–433b30), denn es gibt, so Seneca, auch Tiere, die vom Zwang getrieben werden (necessitate impelluntur, vgl. Sen. epist. 121,7). Vgl. ebd., 121,5f. und ebd., 121,12. Vgl. ebd., 121,21: Sentit se carne constare; itaque sentit quid sit quo secari caro, quo uri, quo obteri possit [...] (Übers. Rosenbach, modifiziert). Vgl. Sen. epist. 76,9f. und 124,8f. Den älteren Stoikern zufolge ist die Vernunft ab dem 14. Lebensjahr biologisch vollständig entwickelt (vgl. S. 45, Fußn. 50). Vgl. Sen. epist. 49,11: Dociles natura nos editit, et rationem dedit imperfectam, sed quae perfici posset (Übers. Rosenbach, eig. Herv.). Vgl. auch Sen. epist. 90,44, 46; 92,27 sowie Cic. fin. 5,59.
162
Die Ethik
versucht auf diese Weise zu verstehen zu geben, dass die Vernunft etwas Unfertiges und Unvollkommenes ist, das aber entwicklungsfähig und perfektionierbar ist.7 Dem erwachsenen Menschen obliegt es also selbst, ob und inwieweit er seine biologisch ausgebildete Vernunft moralisch perfektioniert, oder um es im Bild der Samen auszudrücken:8 [...] quae si bonus cultor excipit, similia origini prodeunt et paria iis ex quibus orta sunt surgunt: si malus, non aliter quam humus sterilis ac palustris necat ac deinde creat purgamenta pro frugibus. [...] [W]enn ein guter Gärtner sie aufnimmt, gehen sie dem Ursprung ähnlich auf und wachsen denen gleich, von denen sie abstammen; wenn ein schlechter Gärtner – nicht anders als ein unfruchtbarer und sumpfiger Boden lässt er sie absterben und bringt sodann Unkraut hervor statt Früchten.
Gibt ein erwachsener Mensch demnach Acht auf seine Vernunft und kultiviert sie, kann er es dahin bringen, dass sie eines Tages so vollkommen wie diejenige Gottes bzw. der Natur ist, die sie ihm verliehen haben.9 Das moralische Ziel, seine Vernunft zu vervollkommnen10 (ein Ziel, das alle erreichen können)11, das heißt, sie zu einer ratio perfecta zu machen – was gleichbedeutend damit ist, die Tugend s
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Vgl. Sen. epist. 73,16: Semina in corporibus humanis divina dispersa sunt [...] („Die Samen im Körper des Menschen – vom Gott sind sie ausgestreut [...]“, Übers. Rosenbach). Sen. epist. 73,16, Übers. Rosenbach, modifiziert. Ihre Vernunft ist vollkommen, unsere nur der Vervollkommnung fähig (vgl. Sen. epist. 92,27). An einigen Stellen schärft Seneca Lucilius auch ein, sich einen moralisch guten Charakter anzueignen. Vgl. ebd., 17,1: [...] ad bonam mentem magno cursu ac totis viribus tende [...] („Strebe unaufhaltsam und mit allen Kräften nach einem moralisch guten Charakter!“, eig. Übers.). Vgl. außerdem Sen. epist. 23,1, wo er ihn ermahnt, weiter an diesem zu arbeiten (exhortor ad bonam mentem), und ebd., 53,9: Omnia impedimenta dimitte et vaca bonae menti („Entledige dich aller Hindernisse und mache dich frei für den moralisch guten Charakter“, eig. Übers.). Der moralisch gute Charakter scheint für Seneca aber nicht genau dasselbe zu sein wie die vollendete Vernunft: Es ist möglich, einen moralisch guten Charakter zu haben, der noch nicht vollkommen ist (bona mens necdum adhuc perfecta, Sen. epist. 28,6). Demnach ist er eine Vorstufe der vollendeten Vernunft. Vgl. Sen. benef. 3,18,2: Nulli praeclusa virtus est; omnibus patet, omnes admittit, omnes invitat [...] („Niemandem ist die Tugend verschlossen; allen ist sie zugänglich, alle lässt sie zu, alle lädt sie ein [...]“, Übers. Rosenbach, modifiziert). Die Tugend ist dem Sklaven, Freigelassenen und Verbannten genauso zugänglich wie dem römischen Ritter und König (vgl. Sen. epist. 31,11 und Sen. benef. 3,18,2). Dieser egalitäre Aspekt von Senecas Ethik stellt eine Abkehr von traditionellen römischen Werten dar (vgl. Smith 2014, S. 355).
Das Telos
163
(virtus) zu erwerben12 –, hat für Seneca noch weitere Effekte als den, sich Gott bzw. der Natur anzugleichen.13 Wer die Tugend erwirbt, entzieht sich mit seinem „besseren Teil“, 14 nämlich der Vernunft, der Einflusssphäre der fortuna 15 und wappnet sich so gegen ihre Angriffe.16 Der Körper, also der „schlechtere Teil“ – zuweilen auch verächtlich als „Körperchen“ (corpusculum) bezeichnet17 – bleibt
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Vgl. Sen. epist. 76,10: Haec ratio perfecta virtus vocatur eademque honestum est [....] („Die vollendete Vernunft wird Tugend genannt und moralisch gut“, eig. Übers.). Vgl. auch Cic. Tusc. 5,39, wo es heißt, die perfecta mens sei absoluta ratio und virtus. Dass Seneca den Tugenderwerb als Angleichung an Gott versteht, geht unter anderem aus Sen. epist. 31,8f. hervor: Hoc est summum bonum; quod si occupas, incipis deorum socius esse, non supplex („Das ist das höchste Gut: Wenn du es ergreifst, beginnst du der Götter Gefährte zu sein, nicht ihr demütig Unterworfener“, Übers. Rosenbach). Die Person, die ihre Seele zu einem animus rectus, bonus, magnus ausgebildet hat, gleicht Gott sogar so sehr, dass Seneca sagt, Gott weile in ihrem Körper (vgl. Sen. epist. 31,11). Die Idee, den Tugenderwerb als Angleichung an Gott zu verstehen, geht auf Platon zurück (vgl. exemplarisch Plat. Tht. 176a–c). Für eine Nebeneinanderstellung der platonischen und stoisch-senecanischen Homoiôsis-Lehre vgl. Russell 2004, der mithilfe dieser eine neue Perspektive auf jene gewinnen will. Seneca redet häufig vom „besseren Teil“ (pars melior) bzw. „besten Teil“ (optima pars), wenn er von der Vernunft (vgl. Sen. epist. 23,6; 65,18; 71,32; 74,16; 78,10; 82,1) bzw. von der Seele/dem Verstand (animus/mens) spricht (vgl. Sen. nat. 1,1,14 und Sen. benef. 3,20,1). Dahinter verbirgt sich keine Seelenteilungslehre platonischen oder aristotelischen Typs, sondern ein Leib-Seele-Dualismus – allerdings ein weicher und kein harter Leib-Seele-Dualismus (vgl. Sen. epist. 50,6 und 106,4 sowie S. 106, Fußn. 367). Vgl. Sen. epist. 36,5: In mores fortuna ius non habet („Gegenüber dem Charakter hat die fortuna kein Recht“, Übers. Rosenbach, modifiziert). Vgl. auch Sen. epist. 39,3: ponet [sc. felix] se extra ius dictionemque fortunae („[...] er [der Glückliche] versetzt sich außerhalb des Rechtes und der Botmäßigkeit der fortuna [...]“, Übers. Rosenbach, modifiziert). Vgl. Sen. dial. 12,13,2 (= ad Helv. 13,2): Cum semel animum virtus induravit, undique invulnerabilem praestat („Wenn die Tugend einmal die Seele gehärtet hat, macht sie sie rundum unverwundbar“, Übers. Rosenbach, modifiziert). Von „Angriffen der fortuna“ ist hier deshalb die Rede, weil Seneca das Verhältnis zwischen Mensch und fortuna oftmals als einen Kampf versteht, vgl. Sen. epist. 51,8: Fortuna mecum bellum gerit [...] („Die fortuna führt mit mir Krieg [...]“, eig. Übers.). Vgl. auch Sen. epist. 64,4, wo Seneca, angestachelt von der Lektüre einer Schrift des Sextius, ausrufen möchte: Quid cessas, fortuna? congredere: paratum vides („Was zögerst du, fortuna? Nimm den Kampf auf: Du siehst mich bereit“, eig. Übers.). Zur Kriegsmetaphorik bei Seneca vgl. Sommer 2001, insbesondere S. 72–77. Vgl. exemplarisch Sen. epist. 23,6: Corpusculum quoque, etiam si nihil fieri sine illo potest, magis necessariam rem crede quam magnam [...] („Auch das Körperchen, selbst wenn nichts ohne es geschehen kann, halte mehr für eine notwendige Sache als für eine große“, eig. Übers.). Seneca formuliert seine Verachtung für den Körper auch direkter (vgl. etwa Sen. epist. 65,16 und Sen. dial. 6,24,5 [= ad Marc. 24,5]). Zu seiner Gering-
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Die Ethik
der fortuna dagegen immer ausgeliefert,18 was auf die Tugend jedoch keinerlei Auswirkung hat:19 Körperliche Entstellung kann sie in ihrem Wert nicht herabsetzen, körperliche Schönheit nicht vollkommener machen;20 in einem kranken Körper ist sie nicht tadelnswerter, in einem gesunden nicht lobenswerter.21 Sie bleibt vielmehr stets gleich: „An [ihr] ändern die jeweiligen Umstände nichts: Harte und schwierige Umstände machen sie nicht schlechter, heitere und erfreuliche nicht besser.“22 Und sie bleibt nicht nur bei ein und derselben Person stets gleich, sie ist bei allen generell die gleiche. Seneca stellt in diesem Zusammenhang einmal eine Art Gedankenexperiment an und schreibt Lucilius:23
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schätzung des Körpers, die ganz in der platonischen Traditionslinie steht, vgl. insbesondere Smith 2014, S. 354–356. Der Gebrauch des Diminutivs zur Verlautbarung einer Verachtung ist im Übrigen auch typisch für Epiktet, der häufig von σωμάτιον anstatt von σῶμα spricht. Vgl. Sen. epist. 65,21: Quicquid in me potest iniuriam pati hoc est [corpus]: in hoc obnoxio domicilio animus liber habitat („Was immer an mir Unbill leiden kann, ist er [der Körper]: In dieser [der fortuna] ausgelieferten Behausung wohnt eine freie Seele“, eig. Übers.). Vgl. auch Sen. dial. 6,10,6 (= ad Marc. 10,6): Corporibus nostris impotenter contumeliose crudeliter abutetur [sc. fortuna] […] („Unsere Leiber wird sie [die fortuna] unbeherrscht, schmählich, grausam missbrauchen“, Übers. Rosenbach). Es ist nicht ganz klar, ob gesundheitsbedingte psychische Beeinträchtigungen für Seneca zum Verlust der Tugend führen können. Einmal sagt er, dass sich der moralisch vollkommen gute Charakter niemals verändert (numquam enim recta mens vertitur, Sen. dial. 7,7,4 [= vit. beat. 7,4]). An anderer Stelle merkt er an, dass die Tugend die Seele rundum unverletzbar macht (vgl. Sen. dial. 12,13,2 [= ad Helv. 13,2] und Fußn. 16). In Sen. benef. 7,16,5 führt er eine Frage an, die offenbar für Diskussion sorgte: Muss man einem Weisen, der einem eine Wohltat erweist, seine Wohltat erwidern, wenn er seine Weisheit verliert? Senecas Antwort fällt positiv aus, schließlich würde man ja auch einem Freund eine Wohltat vergelten, wenn er krank werden würde (vgl. ebd.). Hier geht er davon aus, dass selbst die weise Person ihre Weisheit verlieren kann (sie kann sie aber nie so verlieren, dass davon gar nichts übrig bleibt – sie kann nie so unmenschlich werden wie Apollodoros oder Phalaris [vgl. ebd., 7,19,5]; dasselbe gilt laut Seneca schon für die Person, die auch nur irgendwann einmal nach Weisheit gestrebt hat [vgl. ebd., 7,19,6]). Unter den älteren Stoikern gab es unterschiedliche Meinungen zur Unverlierbarkeit der Tugend (vgl. S. 65, Fußn. 138). Vgl. zu der Auffassung, dass ein schönerer Körper die Tugend noch vollkommener macht, Sen. epist. 66,2 und Verg. Aen. 5,344. Vgl. Sen. epist. 66,22: [...] aeque laudabilis virtus est in corpore valido ac libero posita quam in morbido ac vincto („[...] gleichermaßen lobenswert ist die Tugend, in einen gesunden und freien Körper gesetzt, wie in einen kranken und gefesselten“, Übers. Rosenbach, modifiziert). Vgl. Sen. epist. 66,15: Virtutem materia non mutat: nec peiorem facit dura ac difficilis nec meliorem hilaris et laeta [...] (Übers. Apelt, Rechtschr. angepasst). Sen. epist. 66,22, Übers. Apelt, modifiziert.
Das Telos
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Agedum pone ex alia parte virum bonum divitiis abundantem, ex altera nihil habentem, sed in se omnia: uterque aeque vir bonus erit, etiam si fortuna dispari utetur. Wohlan, stelle auf die eine Seite einen tugendhaften, in der Fülle des Reichtums lebenden Mann, auf die andere einen, der ohne jede äußere Habe alles in sich hat: Beide werden gleich tugendhaft sein trotz aller Verschiedenheit ihrer äußeren Lage.
Nicht einmal zwischen der Tugend eines Menschen und derjenigen Gottes24 gibt es einen Unterschied: Ein tugendhafter Mensch ist genauso tugendhaft wie Gott, auch wenn Gott unsterblich ist25 und die Tugend von Natur aus hat.26 Obwohl die Tugend für Seneca gegen äußere Einwirkungen immun ist, ist sie dennoch nicht ohne Wirkung nach außen. So wirkt sie verschönernd auf das Aussehen: „Sie ist selbst ihr größter Schmuck, und sie heiligt ihren Körper“ (ipsa magnum sui decus est et corpus suum consecrat).27 Als Seneca einmal seinen ehemaligen Studienfreund Claranus nach vielen Jahren wiedersieht und von seiner gebrechlichen Gestalt Notiz nimmt, stellt er im nächsten Moment fest, dass dessen seelische Schönheit sein in Mitleidenschaft gezogenes Äußeres übertüncht: „Anders jedenfalls begann ich unseren Claranus28 zu sehen: Wohlgestaltet scheint er mir und so aufrecht körperlich wie geistig“ (Aliter certe Claranum nostrum coepi intueri: formosus mihi videtur et tam rectus corpore quam est animo).29 Claranus ist für Seneca ein Musterbeispiel dafür, „[...] dass nicht durch die Entstellung des Körpers die Seele entstellt wird, sondern durch Schönheit der Seele der Körper geschmückt“ (ut scire possemus non deformitate corporis foedari animum, sed pulchritudine animi corpus ornari).30 Die positive Außenwirkung der Tugend ist für ihn aber natürlich nicht auf das Aussehen beschränkt:31 Quidquid attigit in similitudinem sui adducit et tinguit; actiones, amicitias, interdum domos totas quas intravit disposuitque condecorat; quidquid tractavit, id amabile, conspicuum, mirabile facit. Was immer sie anrührt, macht sie sich ähnlich und durchdringt sie: Handlungen, Freundschaften, bisweilen auch ganze Familien, in die sie eingetreten ist und die
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Wenn Seneca von Gott spricht, meint er in erster Linie Jupiter (vgl. Sen. epist. 73,13f.). Vgl. ebd., 53,11; ebd., 73,13; ebd., 124,14 und Sen. dial. 2,8,2 (= const. sap. 8,2). Vgl. Sen. epist. 124,14. Insofern übertrifft der Tugendhafte sogar Gott, denn er hat die Tugend aus eigener Kraft erworben (vgl. ebd., 53,11). Ebd., 66,2, eig. Übers. Hachmann 2006, S. 23 leitet aus der Redeweise „unser Claranus“ ab, dass Claranus Stoiker war. Ansonsten ist über ihn nichts bekannt. Sen. epist. 66,2, Übers. Rosenbach. Sen. epist. 66,4, Übers. Rosenbach. Sen. epist. 66,8, Übers. Rosenbach.
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Die Ethik sie geordnet hat, veredelt sie. Was immer sie in die Hand nimmt, das macht sie liebenswert, ansehnlich, bewunderungswürdig.
Will man die Autarkie und die Außenwirkung der Tugend in einem Wort zusammenfassen, könnte man auch von der Semipermeabilität der Tugend sprechen, weil sie nur in eine Richtung „durchlässig“ ist: Die äußeren Umstände können nichts an ihr ändern, sie ändert aber etwas an den äußeren Umständen; sie selbst wird durch nichts schlechter, macht aber alles besser. Durch die Tugend gleicht sich der Mensch also Gott bzw. der Natur an; sie macht ihn hinsichtlich seiner Vernunft unabhängig von der fortuna und wirkt sich zugleich positiv auf sein Aussehen sowie seine äußeren Lebensumstände aus. Die Tugend hat sogar noch weitere positive Effekte, von denen einer eng mit ihrer Autarkie zusammenhängt: Wer sie erwirbt, erlangt zugleich wahre Freiheit,32 und zwar sowohl im negativen wie im positiven Sinne. Da die weise Person keinem propositionalen Erscheinungsgehalt mehr zustimmt, der unvereinbar mit der stoischen Güterlehre ist, befreit sie sich restlos von allen Affekten und wird deswegen zu nichts mehr gezwungen (cogere) und an nichts mehr gehindert (prohibere); sie tut nichts mehr gegen ihre subjektive Ansicht und ihren Willen (nihil contra opinionem ac voluntatem).33 Zugleich gewinnt sie die vollkommene Gewalt über sich selbst (maxima potestas in se ipsum).34 Das sich ihrer Tugend zu verdankende Bewusstsein, dass sie nichts und niemand mehr aus dem Konzept bringen kann – dass sie die fortuna besiegt hat35 –, versetzt sie zudem in den Zustand wahrhafter Glückseligkeit (felicitas/beatitudo/beata vita)36 und verschafft ihr nie versiegende Freude (gaudium),37 Unbekümmertheit (securitas) und fortwährende innere Ruhe s
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37
Vgl. Sen. epist. 17,6, wo die Rede von einer perpetua libertas ist. Vgl. auch ebd., 37,4: [...] sapientia, quae sola libertas est. In ebd., 75,18 spricht Seneca von einer absoluta libertas. Vgl. Sen. dial. 7,16,2 (= vit. beat. 16,2). Vgl. Sen. epist. 75,18. Vgl. ebd., 71,30: Sapiens quidem vincit virtute fortunam [...] („Die weise Person freilich besiegt mit ihrer Tugend die fortuna [...]“, eig. Übers.). Die Glückseligkeit geht Seneca zufolge aus der Tugend hervor (vgl. Sen. epist. 92,24): [...] beata [...] vita [...] ex virtute est. Man könnte sich fragen, wie dieses Hervorgehen konkret zu verstehen ist. Ich nehme hier an, dass die Glückseligkeit so wie die Freude aus dem Bewusstsein der eigenen Tugend entsteht (vgl. dazu ebd., 59,16 sowie S. 91 und Fußn. 284). Vgl. S. 92 und Fußn. 285 sowie S. 93 und Fußn. 290; vgl. außerdem Sen. epist. 27,3: Sola virtus praestat gaudium perpetuum, securum („Allein die Tugend gewährt dauernde, kummerlose Freude“, eig. Übers.). In Sen. dial. 7,22,3 (= vit. beat. 22,3) heißt es, die laetitia sei beständig (perpetua) und erwachse aus der Tugend (ex virtute nascens). Obwohl sie nach der altstoischen Affektlehre genau wie die voluptas für einen Affekt steht, verwendet sie Seneca hier als ein Synonym für gaudium. Elizabeth Asmis weist darauf hin, dass schon die älteren Stoiker die Freude als ein Produkt der
Das Telos
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(perpetua tranquillitas).38 Wer die Tugend erwirbt, wird also nicht nur mit ihr beschenkt, sondern bekommt gleich ein ganzes Bündel an Gütern. 1.2
Das Ideal der Selbstübereinstimmung
Was heißt es vor dem Hintergrund des Tugenderwerbs und seiner Effekte für Seneca aber, mit sich selbst in Übereinstimmung zu sein (sibi ipse consentire)? Was versteht er unter diesem Ideal, das – denkt man zurück an den 89. Brief – nur dann vollends erreicht werden kann, wenn man stets richtig über den Wert der Dinge urteilt, einen geordneten und maßvollen Antrieb entwickelt und schließlich die äußere Handlung mit dem Antrieb in Einklang bringt?39 Die älteren Stoiker machten, den Quellen nach zu urteilen, vor allem die Natur (φύσις) zur Bezugsgröße moralisch korrekten Handelns. Nach Stobaios bestand das Ideal (τέλος) § § §
für Zenon darin, „übereinstimmend zu leben“ (τὸ ὁμολογουμένως ζῆν), für Kleanthes darin, „in Übereinstimmung mit der Natur zu leben“ (τὸ ὁμολογουμένως τῇ φύσει ζῆν), und für Chrysipp darin, „gemäß der Erfahrung der Dinge zu leben, die von Natur aus geschehen“ (ζῆν κατ’ ἐμπειρίαν τῶν φύσει συμβαινόντων).40
Diogenes Laertios’ Bericht legt jedoch nahe, dass schon Zenon das Ideal als „in Übereinstimmung mit der Natur zu leben“ bestimmte und nicht erst Kleanthes.41 Insofern ist nur Chrysipps Telos-Formel als „neu“ zu beurteilen. Diogenes Laertios überliefert zudem, dass Kleanthes unter dem in seiner Telos-Formel fallenden Begriff der Natur die allgemeine bzw. kosmische Natur verstand (φύσις κοινή/φύσις τῶν ὅλων).42 Chrysipp habe diese Bedeutung akzeptiert, s
38
39 40 41
42
Tugend ansahen (vgl. DL 7,98 und Asmis 1990, S. 233). Nur Seneca verstehe die aus der Tugend erwachsene Freude aber als eine ununterbrochene Freude (vgl. ebd.). Vgl. Sen. epist. 92,3: Quid est beata vita? securitas et perpetua tranquillitas („Was ist das glückliche Leben? Unbekümmertheit und fortwährende innere Ruhe“, eig. Übers.). Vgl. Sen epist. 89,14–16 und S. 25. Vgl. Stob. anthol. 2,75,11f., eig. Übers. Vgl. DL 7,87 (Übers. Apelt, modifiziert): „Zenon erklärte in seinem Buch ‚Über die Natur des Menschen‘ als Erster das mit der Natur im Einklang stehende Leben als Endziel“ (τὸ ὁμολογουμένως τῇ φύσει ζῆν). Zum Verhältnis von Zenons kürzerer und längerer Telos-Formel vgl. Striker 1996, S. 231. Nach Diogenes Laertios bestimmten die Mittelstoiker Poseidonios und Hekaton das Ideal ebenso wie Zenon und Kleanthes (vgl. DL 7,87). Zu Poseidonios’ Kritik an Chrysipps Telos-Formel vgl. Gal. PHP 5,6,9–14 und Rieth 1934, S. 34–44. Vgl. DL 7,88.
168
Die Ethik
sie aber nicht als die einzige angesehen: Er wollte den Naturbegriff in seiner TelosFormel offenbar nicht nur auf die kosmische, sondern auch auf die menschliche Natur (φύσις ἀνθρωπίνη) bezogen wissen.43 Laut Chrysipp sollte man also gemäß der Erfahrung der Dinge leben, die sowohl aufgrund der kosmischen als auch aufgrund der menschlichen Natur geschehen.44 Was aufgrund der kosmischen Natur geschieht, ist leicht vorstellbar: Dazu dürften alle Formen von Naturvorkommnissen zählen, die stoisch gesehen Teil einer vernünftigen Gesamtordnung sind – die Bewegung der Himmelskörper, die Jahres- und Tageszeiten etc.45 Was geschieht für Chrysipp aber aufgrund der menschlichen Natur? Zum einen scheint er damit auf alles vom Menschen ausgehende vernünftige Handeln abzuheben, zu dem dieser ab einem bestimmten Alter fähig ist.46 Auf der anderen Seite ist anzunehmen, dass Chrysipp den auf Selbsterhaltung ausgerichteten natürlichen Antrieb, den Lebewesen von Geburt an haben, als Produkt der menschlichen Natur auffasste.47 Interpretiert man seine Telos-Formel auch auf diese Weise, hat man einen guten Ausgangspunkt, von dem aus sich die Telos-Formeln dreier weiterer älterer Stoiker erschließen lassen: § §
§
Diogenes von Babylon soll das Telos als „verständig sein in der Wahl und Ablehnung der naturgemäßen Dinge“ definiert haben (εὐλογιστεῖν ἐν τῇ τῶν κατὰ φύσιν ἐκλογῇ καὶ ἀπεκλογῇ).48 Für Archedemos von Tarsos bestand es wohl unter anderem darin, so zu leben, „dass man die wichtigsten und hauptsächlichsten naturgemäßen Dinge wählt, ohne imstande zu sein, damit aufzuhören“ (εἶναι τὸ τέλος ἐκλεγόμενον τὰ κατὰ φύσιν μέγιστα καὶ κυριώτατα, οὐχ οἷόν τε ὄντα ὑπερβαίνειν).49 Antipatros von Tarsos soll das Telos schließlich als ein Leben bestimmt haben, in dem man „das Naturgemäße und das Naturwidrige kontinuierlich wählt bzw. ablehnt“ (ζῆν ἐκλεγομένους μὲν τὰ κατὰ
s
43 44 45
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49
Vgl. DL 7,89. Striker 1996, S. 224 bezieht den Naturbegriff in Chrysipps Telos-Formel nur auf die kosmische bzw. „universelle“ Natur. Vgl. auch Long 1967, S. 63f.: „I take it [τὰ φύσει συμβαίνοντα] to mean ‚natural events‘, which are not distinct from φύσις itself, but represent φύσις broken down into particular processes. […] The experience of such events gives insight into κοινὴ φύσις.“ Vgl. DL 7,88, wo es heißt, dass unsere Naturen Teil der alles durchdringenden vernünftigen kosmischen Natur sind. Für Chrysipps Oikeiôsislehre vgl. S. 58. Vgl. Stob. anthol. 2,76,9f. (= SVF 3,2. Diogenes Babylonius 44), hier und nachfolgend eig. Übers. Vgl. SVF 3,5. Archedemus Tarsensis 21 (= Clem. Strom. 2 Cap. 21,129,3f.). Archedemos und Diogenes waren Schüler von Zenon von Tarsos, dem Nachfolger Chrysipps (vgl. Rieth 1934, S. 14, Fußn. 3).
Das Telos
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φύσιν, ἀπεκλεγομένους δὲ τὰ παρὰ φύσιν διηνεκῶς).50 Eine andere Formulierung seiner Telos-Formel hat angeblich gelautet: „kontinuierlich und unentwegt alles bei sich zu tun, um die Dinge zu erlangen, die naturgemäß eine vorrangige Stellung haben“ (πᾶν τὸ καθ’ αὑτὸν ποεῖν διηνεκῶς καὶ ἀπαραβάτως πρὸς τὸ τυγχάνειν τῶν προηγουμένων κατὰ φύσιν).51 Im Zentrum dieser Formeln steht der Gedanke, dass man das, was naturgemäß ist, wählen, und das, was naturwidrig ist, ablehnen soll.52 Es bietet sich an, den hier auftretenden Begriff der Natur als den der menschlichen zu interpetieren. „Menschliche Natur“ könnte in diesem Kontext bedeuten, dass der Mensch neben anderen Lebewesen einen auf Selbsterhaltung ausgerichteten natürlichen Antrieb hat. Er soll das wählen, was zu seiner Selbsterhaltung beiträgt und damit seinen Selbsterhaltungstrieb befriedigt (etwa Süßwasser trinken); was jedoch nicht dazu beiträgt und somit seinem Selbsterhaltungstrieb zuwider ist, soll er ablehnen (etwa Salzwasser trinken). Die richtige Wahl oder Ablehnung solcher und anderer indifferenter Dinge konstituiert ein tugendhaftes Leben – oder macht es aus.53 Dass es s
50
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53
Stob. anthol. 2,76,11–13. (= SVF 3,3. Antipater Tarsensis 57; aus irgendeinem Grund druckt v. Arnim das am Ende des Satzes stehende διηνεκῶς nicht). Für eine ähnliche Version vgl. ebd., 3,3. Antipater Tarsensis 58 (= Clem. Strom. 2 Cap. 21,129,2f.). Stob. anthol. 2,76,13–15. Pohlenz und Long erklären den Umstand, dass Antipatros von Tarsos zwei Telos-Formeln zugeschrieben werden, damit, dass er seine ursprüngliche Formel nach einer Kritik von Karneades änderte (vgl. Pohlenz 51978, S. 188; Pohlenz 51980, S. 95 und Long 1967, S. 76). Für Karneades’ Kritik an Antipatros’ erster Formel vgl. ebd., S. 76f.; für seine Kritik an dessen zweiter Formel vgl. ebd., S. 80f. Archedemos von Tarsos wird ebenfalls eine zweite Telos-Formel zugeschrieben, der zufolge man so leben soll, dass man alle Pflichten erfüllt (πάντα τὰ καθὴκοντα ἐπιτελοῦντας ζῆν, vgl. Stob. anthol. 2,76,10f. und DL 7,88). Long vertritt den Standpunkt, dass Archedemos nicht eine akademische Kritik zur Änderung seiner Formel bewogen hat; er schließt sich Pohlenz an und sieht darin einen Einfluss des Mittelstoikers Panaitios (vgl. Long 1967, S. 88f. und Pohlenz 51978, S. 189). Long argumentiert unter Verweis auf Epikt. diatr. 2,6,9 und Cic. fin. 3,31, dass bereits Chrysipps Telos-Formel den Gedanken der Wahl impliziert: „[…] Chrysippus himself intended his definition of the telos to refer to moral choice, but in the wording of this gave priority to the experience of nature from which principles of choice and rejection develop“ (Long 1967, S. 68f.). Darum sind die indifferenten Dinge auch die materia virtutis (vgl. Wildberger 2014, S. 316 und Fußn. 54 [sie verweist auf Chrysipp als den Urheber dieses Ausdrucks] sowie Sen. epist. 66,15; 71,21; 85,39; Sen. dial. 7,21,4; 22,1 [= vit. beat. 21,4; 22,1]; Sen. dial. 12,6,2 [= ad Helv. 6,2] und Sen. benef. 4,19,4). Für den Punkt, dass es sich bei dem, was hier als naturgemäß bezeichnet wird, um Indifferentes handelt, vgl. Wildberger 2014, S. 315: „The things in accordance with nature in these definitions are indifferents, not goods.“ Wahl und Ablehnung beziehen sich auf Indifferentes (vgl. Annas 1993, S. 167 und Inwood 1985, S. 239, der dies allerdings nur für die Wahl feststellt). Vgl. zum stoischen Konzept der Wahl bei Seneca S. 176, Fußn. 95.
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Die Ethik
auf die richtige Wahl oder Ablehnung ankommt, weist zugleich auf einen anderen Aspekt der menschlichen Natur hin, nämlich die Vernunft. Das zu wählen/abzulehnen, was zur Selbsterhaltung beiträgt/nicht beiträgt, ist eine vernunftgemäße Wahl/Ablehnung. Vernunftwidrig wäre, etwas zu wählen, das nicht zur Selbsterhaltung beiträgt, oder etwas abzulehnen, das dazu beiträgt. Die vernunftgemäße Wahl/Ablehnung wäre aber auch der kosmischen Natur gemäß, die stets vernünftig wählt/ablehnt. Ich glaube, dass Diogenes, Archedemos und Antipatros den Naturbegriff in ihren Telos-Formeln bewusst vage gelassen haben, um diese drei Bedeutungen – Natur als Selbsterhaltungstrieb, als Vernunft und als Kosmos – abzudecken. Das schließt natürlich nicht aus, dass sie ihn in Schriften, die uns nicht erhalten sind, präziser bestimmt haben. Seneca reiht sich in die stoische Tradition ein, das Telos zu formulieren. Auch sein Naturbegriff lässt sich nicht auf eine Bedeutung herunterbrechen. Einerseits scheint er unter „Natur“ die kosmische Natur zu verstehen. Im 45. Brief konstatiert er, dass glückselig nur sein kann, „[...] wer die Natur zur Lehrerin nimmt, sich nach ihren Gesetzen einrichtet, so lebt, wie sie es vorgeschrieben hat“ (qui natura magistra utitur, ad illius leges componitur, sic vivit, quomodo illa praescripsit).54 In dieser Bemerkung könnte mit natura allerdings ebenso die menschliche Natur gemeint sein, sowohl was ihren Vernunftaspekt als auch was den in ihr angelegten Selbsterhaltungstrieb angeht. Einen ähnlich vagen Naturbegriff verwendet Seneca im 66. Brief. Dort stellt er die Frage, was das höchste Gut des Menschen ist und antwortet darauf: „sich nach dem Willen der Natur zu richten“ (ex naturae voluntate se gerere).55 Er charakterisiert die präskriptive Funktion der Natur hier als einen Willen, dem man folgen soll. Ob dieser Wille aber derjenige der kosmischen oder menschlichen Natur ist, bleibt ungewiss. Daher könnte man von beidem ausgehen.56 Im Satz zuvor sagt Seneca von der Vernunft (ratio), sie sei die Nachahmung der Natur (naturae imitatio). Das Verständnis dieser Aussage hängt davon ab, wie man den Genitiv interpretiert – als genitivus subiectivus oder obiectivus. Ist die Vernunft aus Senecas Sicht der Natur nachgeahmt oder ahmt sie die Natur nach? Beides könnte zutreffen. So stammt nach seiner Auffassung unsere Vernunft von der kosmischen Natur (bzw. Gott) ab,57 die (bzw. der) von der Vernunft bestimmt ist (universa autem natura rationalis est),58 und ist deswegen wie die Natur- bzw. Gottesvernunft eine Ordnungsinstanz und ein intelligentes Prinzip. Die Vernunft ist uns aber auch verliehen worden, um die Natur nachzuahmen, die in diesem Zusammenhang wieder als kosmische Natur aufzufassen sein dürfte. Die Nachahmung ließe sich als Imitation ihres geregelten und in sich stimmigen Ablaufes ausbuchstabieren. Ein an der kosmischen Natur orientiertes Verhalten s
54 55 56 57 58
Sen. epist. 45,9, Übers. Rosenbach, modifiziert. Sen. epist. 66,39 (eig. Übers.). Contra Hachmann 2006, S. 167, der unter naturae voluntas nur den Willen der kosmischen Natur versteht. Vgl. Sen epist. 92,1 und S. 79. Vgl. Sen. epist. 124,14.
Das Telos
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zeigt keine Unregelmäßigkeiten auf, es hat durchweg die gleiche Färbung (unus color) und ist „aus einem Guss“ (una forma percussa)59 – wie die Vorgänge in der kosmischen Natur selbst:60 […] nubilo serena succedunt; turbantur maria cum quieverunt; flant in vicem venti; noctem dies sequitur; pars caeli consurgit, pars mergitur [...]. [...] [A]uf Nebelwetter folgt heiterer Himmel; aufgewühlt werden die Meere, nachdem sie still gelegen haben; es wehen im Wechsel die Winde; auf die Nacht folgt der Tag; ein Teil des Himmels steigt auf, ein Teil geht unter [...].
Neben der kosmischen Natur spricht Seneca in seinen Telos-Formeln aber auch mehr oder weniger explizit die menschliche Natur an – sowohl als allgemeine als auch als individuelle.61 Die allgemeine menschliche Natur ist nicht nur durch Vernunft gekennzeichnet, sondern auch durch den auf Selbsterhaltung ausgerichteten natürlichen Antrieb: Wenn man Hunger hat, muss man etwas essen (sonst verhungert man); wenn man Durst hat, muss man etwas trinken (sonst verdurstet man).62 In Übereinstimmung mit der allgemeinen menschlichen Natur zu leben, bedeutet also, so viel zu essen und zu trinken, wie nötig ist, um sich zu erhalten und nicht zu verhungern oder zu verdursten. Was darüber hinausgeht, ist widerrufbar und nicht notwendig (precarium esse, non necessarium) – und je nachdem, wie weit es darüber hinausgeht, sogar widernatürlich. Wenn man eines feinen Weizenbrotes oder in Schnee gehüllten Wassers bedarf, um satt zu werden bzw. den Durst zu löschen, ist das widernatürlich. An manchen Stellen betont Seneca, dass man gemäß der eigenen Natur leben soll. Im 41. Brief spricht er von einem Vernunftgebot: „Was aber ist es, was von ihm [dem Menschen] diese Vernunft verlangt? Ein sehr leichtes Verhalten: gemäß der eigenen Natur zu leben [secundum naturam suam vivere].“63 In De vita beata ist die eigene Natur Teil der ersten Definition des höchsten Gutes, hinter dem sich in der Schrift je nach Kontext die Tugend oder die Glückseligkeit verbirgt: 64 s
59
60 61
62 63 64
Vgl. Sen. epist. 20,2 und 34,4. Vgl. auch Sen. dial. 5,6,1 (= de ira 3,6,1), wo Seneca eine erhabene Seele (sublimis animus) mit dem oberen Teil des Himmels vergleicht: Beide sind ruhig und frei von jeglicher Störung. Sen. epist. 107,8, Übers. Rosenbach. Auf diese beiden Bedeutungen von Senecas Naturbegriff haben schon Elizabeth Asmis (vgl. Asmis 1990, S. 228), auf deren Aufsatz ich weiter unten noch genauer eingehen werde, und Christina Kreuzwieser hingewiesen, wobei Letztere dessen individualtheoretischen Aspekt noch mehr herausgearbeitet hat (vgl. Kreuzwieser 2016 und Röttig 2019). Vgl. hier und im Folgenden Sen. epist. 119,2f. Vgl. ebd., 41,9, Übers. Rosenbach, Interpunkt. verändert. Nach meiner Zählung gibt Seneca insgesamt neun Definitionen des höchsten Gutes (für die zweite, dritte und vierte vgl. Sen. dial. 7,4,2; für die fünfte vgl. ebd., 7,4,3; für die sechste vgl. ebd., 7,5,3, und für die siebte, achte und neunte vgl. ebd., 7,6,2 [= vit. beat.
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Die Ethik
„Glücklich also ist ein Leben in Übereinstimmung mit der eigenen Natur“ (beata est ergo vita conveniens naturae suae).65 Seneca spezifiziert nicht näher, was er unter natura sua versteht, er formuliert lediglich Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um die Glückseligkeit zu erlangen: geistige Gesundheit, Tapferkeit und Durchsetzungskraft, Leidensfähigkeit, die Bereitschaft, sich in die äußeren Umstände zu fügen; nicht mit Ängstlichkeit vermischte Achtsamkeit, was den eigenen Körper und die ihn betreffenden Dinge angeht, und angemessene Urteilsfähigkeit, die darin besteht, den Dingen den Wert zuzuschreiben, den sie tatsächlich haben.66 Daraus geht aber nicht eindeutig hervor, was natura sua an dieser Stelle bedeuten soll.67 Schon Elizabeth Asmis hat in ihrem Aufsatz Seneca’s On the Happy Life and Stoic Individualism auf diese Uneindeutigkeit hingewiesen.68 Gleichwohl behauptet sie, dass natura sua für Seneca grundsätzlich zwei Bedeutungen hat, die auch an genannter Stelle in De vita beata zum Tragen kommen könnten: Mit dem Ausdruck bezeichne er zugleich die eigene allgemeine und die eigene individuelle menschliche Natur.69 Zur Begründung, dass natura sua auch für die eigene individuelle menschliche Natur stehen könnte, verweist sie vor allem auf Stellen in Senecas anderen Prosaschriften.70 Insbesondere in De tranquillitate animi kommt ihrer Meinung nach die individualtheoretische Bedeutung des Ausdrucks zum Vorschein, eine Schrift, die zu einem späteren Zeitpunkt noch stärker in den Fokus dieser Arbeit rückt.71 So viel sei aber vorab gesagt: Asmis geht recht in der Annahme, dass Seneca dort die individuelle menschliche Natur thematisiert. Er tut s
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4,2f.; 5,3 und 6,2]. Vgl. auch Asmis 1990, S. 230f., die allerdings nur sechs Definitionen zählt. Sen. dial. 7,3,3 (= vit. beat. 3,3), eig. Übers. Im Satz zuvor thematisiert Seneca die kosmische Natur: Interim, quod inter omnis Stoicos convenit, rerum naturae assentior; ab illa non deerrare et ad illius legem exemplumque formari sapientia est („Vorerst – worin unter allen Stoikern Einstimmigkeit herrscht – pflichte ich der Natur bei; von ihr nicht abzuweichen und nach ihrem Gesetz und Vorbild sich sein Leben zu ordnen ist Weisheit“, Übers. Rosenbach). Das ergo, das die Definition von Glückseligkeit mit der Definition von Weisheit verbindet, ergibt nicht auf Anhieb Sinn: Weisheit ist das Leben in Übereinstimmung mit der kosmischen Natur, also ist Glückseligkeit das Leben in Übereinstimmung mit der eigenen Natur. Um die Verbindung zu verstehen, muss man Zusatzprämissen einführen: Für Seneca geht Glückseligkeit aus der Tugend hervor (vgl. S. 166, Fußn. 36); außerdem ist die eigene Natur in seinen Augen wie die kosmische durch Vernunft gekennzeichnet. Unter diesen Voraussetzungen folgt die Definition von Glückseligkeit gewissermaßen aus der Definition von Weisheit. Vgl. Sen. dial. 7,3,3 (= vit. beat. 3,3). Dem Kontext könnte man entnehmen, dass es um die eigene vollendete Vernunft gehen muss (vgl. Fußn. 65). Vgl. Asmis 1990, S. 226 und 228. Vgl. ebd., S. 228. Vgl. ebd., S. 228, Fußn. 32. Vgl. S. 201–208.
Das Telos
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dies im Rahmen seiner Vorstellung der vor einem Voraffekt einzusetzenden Technik der Selbsteinschätzung. Bei der Selbsteinschätzung72 ergründet man unter anderem, wie die eigene individuelle geistige und körperliche Natur beschaffen ist, und setzt das Ergebnis, zu dem man dabei kommt, in Beziehung zu dem, was man vorhat zu tun. Passen die geplante Tätigkeit und die eigene individuelle geistige und körperliche Natur zueinander, kann sie getrost in Angriff genommen werden. Passen sie nicht zusammen, sollte man etwas tun, das sich eher für die eigene individuelle geistige bzw. körperliche Natur eignet. In Übereinstimmung mit der eigenen Natur zu leben, bedeutet demnach, etwas zu tun, das der eigenen individuellen geistigen und körperlichen Natur entspricht.73 Nach der genaueren Analyse des Naturbegriffs bei Seneca und den früheren Stoikern kann man nun erneut die Frage stellen, was es für ihn heißt, „mit sich selbst übereinzustimmen“. Wofür steht „selbst“ in dieser Junktur? Bezeichnet es ein Selbst, das mehr meint als die eigene allgemeine und individuelle menschliche Natur? Wenn nicht – auf welchen Teilaspekt bzw. welche Teilaspekte der menschlichen Natur bezieht es sich dann? Gegen die Auffassung, Seneca habe dem Selbst einen eigenen ontologischen Status eingeräumt, hat in jüngerer Zeit Brad Inwood argumentiert.74 Inwood richtet sich dabei gegen Michel Foucault, bei dem immer wieder Anklänge an eine solche Position zu vernehmen sind, und spricht sich für eine ontologisch minimalistische Deutung reflexiver Pronomina im Werk Senecas aus.75 Nach seiner Deutung ist der darin häufig wiederkehrende Bezug auf sich selbst in der Regel nur eine andere Redeweise, um auf einen konkreten Aspekt der allgemeinen menschlichen Natur zu rekurrieren, nämlich die Vernunft.76 „Mit sich selbst übereinstimmen“ heißt demnach nichts anderes als „mit seiner eigenen Vernunft übereinstimmen“ und ist somit gleichbedeutend mit dem Ideal, tugendhaft zu werden. Inwoods Deutungsvorschlag erscheint mehr als legitim, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass Seneca die Selbstübereinstimmung im 89. Brief von der moralischen Gutheit einzelner Handlungsmomente abhängig macht. Man muss dennoch hinzufügen, dass für ihn auch die individuelle und nicht nur die allgemeine menschliche Natur beim Handeln berücksichtigt werden muss – und s
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Vgl. hier und im Folgenden Sen. dial. 9,6,1–3 (= de tran. an. 6,1–3) und S. 205. Dieser individualtheoretische Aspekt der menschlichen Natur wird bereits in Ciceros mehr oder weniger panaitianisch geprägter quattuor-personae-Theorie offenbar (vgl. Cic. off. 1,107–116). Kreuzwieser 2016, Kap. 2 nimmt – allerdings ohne eingehende Erläuterungen – an, dass sie einen Einfluss auf Senecas Verständnis von natura ausübte. Vgl. Inwood 2009 (= Inwood 2005, S. 322–352). Vgl. Inwood 2009, S. 40, 53, 61 und 63. Innovativ an Senecas Rede vom Selbst sei, so Inwood, dessen Verwurzelung im literarischen Selbstverständnis des Autors: Seneca wolle sich selbst als unabhängigen Denker behaupten, er mache sich selbst oftmals zum Anschauungsobjekt; zudem verstärke seine Verwendung der Dialogtechnik den Eindruck, das Selbst habe in seinen Schriften eine besondere und im Vergleich zu früheren Philosophen andere Bedeutung (vgl. ebd., S. 63).
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Die Ethik
die allgemeine nicht nur hinsichtlich ihres Vernunftaspekts. Das Ideal der Selbstübereinstimmung dürfte daher auch die Bedeutung einer Übereinstimmung mit der individuellen geistigen und körperlichen sowie der allgemeinen menschlichen Natur im Sinne des in ihr angelegten Selbsterhaltungstriebes haben, auch wenn diese beiden (bzw. drei) Aspekte bei Seneca häufig nicht im Vordergrund stehen. 2
Das iudicium
Das erste Handlungsmoment eines idealen Handlungsverlaufes besteht nach dem 89. Brief darin, richtig über den Wert der Dinge zu urteilen. Ist das Werturteil falsch, beginnt der Affektentstehungsprozess.77 Um es gar nicht erst dazu kommen zu lassen, muss man also richtige Werturteile fällen. Aber wie lässt sich das bewerkstelligen? Dafür ist es zuallererst nötig, bestimmte Kerngehalte der stoischen Philosophie zu kennen. Diese werden nachfolgend erörtert. Anschließend wird gefragt, ob das Wissen um sie für den Tugenderwerb hinreicht. 2.1
Decreta und praecepta: Orientierungspunkte richtiger Urteile
Wer tugendhaft werden und damit in den Genuss aller in Abschnitt III 1.1 geschilderten Güter 78 kommen will, deren Besitz von nun an unter dem Oberbegriff menschliche Vollkommenheit zusammengefasst wird, muss laut Seneca Philosophie betreiben. Sie ist der Weg, der zur Tugend führt, ohne sie ist die Seele krank.79 Ihre Inhalte sind ihm zufolge in zweifacher Weise aufbereitet: Auf der einen Seite besteht sie aus Grundsätzen oder Prinzipien (decreta/scita/placita),80 auf der anderen aus auf diesen gründenden Vorschriften (praecepta).81 Er spricht auch von s
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Vgl. S. 109. Angleichung an Gott und Natur, geistige Unabhängigkeit von der fortuna, positive Auswirkung auf Aussehen und äußere Lebensumstände, Freiheit im positiven wie negativen Sinne, Glückseligkeit und andauernde Freude. Wie in diesem Unterabschnitt zu sehen sein wird, ist es legitim von Gütern zu sprechen, weil diese Dinge aus der Tugend hervorgehen. Vgl. Sen. epist. 89,5: [...] illa [sc. philosophia] venit, ad hanc [sc. sapientiam] itur („[...] jene [die Philosophie] ist auf dem Weg, diese [die Weisheit] ist das Ziel“, Übers. Rosenbach, modifiziert). Für den Punkt, dass die Seele ohne die Philosophie krank ist, vgl. Sen. epist. 15,1. Vgl. ebd., 95,10. Die Griechen sprachen, wie Seneca überliefert, von den δόγματα (vgl. ebd.: [...] Graeci vocant dogmata [...]). Den griechischen Ausdruck für praecepta überliefert uns Seneca nicht (vgl. Kidd 1978, S. 251). Bellincioni 1979, S. 128 notiert: „= λόγοι ὑποθετικοί o παραινετικοί“. Ihre Abhängigkeit von Grundsätzen zeigt sich in Vergleichen, die Seneca anstellt: Sie hängen so von ihnen ab wie die Körperglieder (membra) von den Elementen (elementa) –
Das iudicium
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zwei Teilgebieten der Philosophie (partes philosophiae),82 von denen er allerdings nur dasjenige benennt, das sich mit den Vorschriften befasst: Die Griechen hätten vom „paränetischen“ (paraeneticen) und die Römer vom „präzeptiven“ (praeceptivam) Teil der Philosophie gesprochen.83 Der aus Grundsätzen bestehende Teil wird in der Forschung geläufig in Anlehnung an den griechischen Ausdruck als der „dogmatische“ bezeichnet.84 Bei Grundsätzen und Vorschriften handelt es sich um im philosophischen System verankerte Kerngehalte,85 die sich jedoch in ihrer Form voneinander unterscheiden: Während die Grundsätze allgemein gehalten sind, beziehen Vorschriften stets bestimmte Kontexte ein.86 Im Gegensatz zu den Grundsätzen richten sie sich nicht uneingeschränkt an alle mündigen Menschen, sondern legen beispielsweise fest, wie sich ein Ehemann gegenüber seiner Frau, ein Vater gegenüber seinen Kindern und ein Herr gegenüber seinen Sklaven verhalten soll.87 Aufgrund dieser kontextuellen Anreicherung ihres Gehalts erleichtern sie situatives Handeln mehr als die allgemeiner gehaltenen Grundsätze.88 Seneca berichtet, dass einige Philosophen nur die Paränetik gutgeheißen hätten, weil sie die einzige philosophische Teildisziplin sei, die das Nützlichkeitskriterium erfülle.89 Andere Philosophen hielten sie hingegen wohl für überflüssig, wie der ältere Stoiker Ariston von Chios. Aus dessen Sicht, so überliefert Seneca, s
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diese sind ursächlich für jene (vgl. Sen. epist. 95,12; für einen weiteren bildhaften Vergleich vgl. ebd., 95,59). Bei Cicero leiten sich die praecepta aus dem Bereich der angemessenen Handlungen (officia) ab (vgl. Cic. off. 3,5). Vgl. exemplarisch Sen. epist. 94,1–5. Vgl. ebd., 95,1. Sextus Empiricus spricht später vom ὁ παραινετικὸς καὶ ὑποθετικὸς τόπος (vgl. Sext. Emp. adv. math. 7,12). Vgl. etwa Hadot 1969, S. 9. Seit Kidds Artikel „Moral Actions and Rules in Stoic Ethics“ (vgl. Kidd 1978) neigt man dazu, praecepta und/oder decreta als Regeln zu interpretieren (vgl. Mitsis 1993 und Annas 1993, S. 94–108). Zur Kritik an einer solchen Interpretation vgl. Schafer 2009, passim. Kritisch äußert sich auch Inwood 2005, S. 108. Für ihn ist die Interpretation der praecepta als Regeln zulässig, solange man darunter flexible Regeln versteht, die je nach Situation angepasst werden können (contra Ioppolo 2000, S. 36: „[…] [I] precetti non si configurano […] come regole più flessibili e concrete, passibili di essere trasgredite in circostanze particolari“). Die decreta definiert Inwood wie folgt: „[...] [They] are by and large general theses in Stoic physics and ethics and not [...] substantive rules“ (Inwood 2005, S. 121). Vgl. Sen. epist. 94,31: Quid enim interest inter decreta philosophiae et praecepta nisi quod illa generalia praecepta sunt, haec specialia? Utraque res praecipit, sed altera in totum, particulatim altera („Was nämlich ist der Unterschied zwischen den Grundsätzen der Philosophie und Vorschriften, außer dass jene allgemeine Vorschriften sind, diese besondere? Beide schreiben vor, die einen umfassend, punktuell die anderen“, Übers. Rosenbach, modifiziert). Vgl. Sen. epist. 94,1. Vgl. auch Ioppolo 2000, S. 26. Vgl. Sen. epist. 94,1.
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Die Ethik
schreibt sich derjenige, der die philosophischen Grundsätze (decreta philosophiae) richtig verstanden und gelernt hat, von allein vor, wie er sich im Einzelfall verhalten soll – wer weiß, wie man lebt, weiß auch, wie man mit Frau und Kindern lebt.90 Kleanthes soll wiederum einen Mittelweg eingeschlagen haben, den auch Seneca für den einzig gangbaren hält: Die Paränetik ist nutzbringend, aber nur, wenn sie an ein System philosophischer Grundsätze – eine Dogmatik – rückgebunden ist.91 Für die Person, die die Tugend erwerben will (der bzw. die sogenannte proficiens),92 bedeutet Kleanthes’ und Senecas Mittelweg, dass sie für die Erreichung ihres Ziels sowohl auf den dogmatischen als auch auf den paränetischen Teil der Philosophie angewiesen ist.93 Sie muss bestimmte, auf sie zugeschnittene Vorschriften kennen. Vor allem aber muss sie lernen, was gut und schlecht ist,94 das heißt, sie muss den axiologischen Grundsatz kennen, dass nur die Tugend (bzw. das, was an ihr teilhat95/aus ihr hervorgeht96) wahrhaft gut und nur das Laster (bzw. s
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Vgl. Sen. epist. 94,2f. Für weitere Kritikpunkte Aristons an der Paränetik vgl. ebd., 94,5–17. Vgl. ebd., 94,4. In Sen. dial. 2,19,4 (= const. sap. 19,4) wird der/die proficiens auch als affectator sapientiae bezeichnet; in Sen. dial. 7,16,3 (= vit. beat. 16,3) als is qui ad virtutem tendit, und in Sen. dial. 9,4,2 (= de tran. an. 4,2) als studiosus virtutis. Vgl. auch Kidd 1978, S. 255: „[...] [A] closer inspection of Seneca’s Letters seems to suggest that the two should be complementary for the progressor“, und Sellars 22009, S. 78: „Seneca’s conclusion, then, is that both doctrines and precepts are necessary for the acquisition of wisdom (sapientia, σοφία).“ Vgl. schließlich Schafer 2009, S. 54: „[...] [T]he letters divide moral philosophy into praecepta and decreta, affirming that the former are important and useful but insufficient for producing virtue.“ Vgl. Sen. epist. 95,35: Si volumus habere obligatos et malis quibus iam tenentur, avellere, discant quid malum, quid bonum sit [...] („Wenn wir die Menschen moralisch gebunden sehen und von den Übeln, die sie noch im Griff halten, befreien wollen, müssen sie lernen, was schlecht, was gut ist [...]“, Übers. Rosenbach, modifiziert). Vgl. Sen. epist. 31,5 und S. 180. Vgl. darüber hinaus Sen. epist. 76,17: [...] quidquid illum [sc. animum] confirmat, extollit, amplificat, bonum est; [...] id unum bonum est quo melior animus efficitur („[...] was immer sie [die Seele] stärkt, erhebt, erhöht, ist ein Gut; [...] allein das [ist] ein Gut, wodurch die Seele besser wird“, Übers. Rosenbach, modifiziert). Auch der psychische Vorgang der Wahl (electio) ist für Seneca etwas, das an der Tugend teilhat (vgl. Sen. epist. 92,12): [...] non est bonum per se munda vestis, sed mundae vestis electio quia non in re bonum est, sed in electione quali [...] („[...] ein reines Gewand [ist] nicht an sich ein Gut, sondern eines reinen Gewandes Wahl, weil das Gut nicht in der Sache besteht, sondern in der Art der Wahl [...]“, Übers. Rosenbach). Hieran wird zugleich erkennbar, dass sich die Wahl auf Indifferentes bezieht. Vgl. Sen. epist. 76,16: Dicimus et illa bona esse quae a virtute profecta contractaque sunt, id est opera eius omnia [...] („Wir sagen auch, dass die Dinge Güter sind, die aus der Tugend hervorgehen und von ihr bewirkt sind, das heißt alle ihre Werke [...]“, eig. Übers.). Zu ihren Werken gehören aus Senecas Sicht die tugendhaften Handlungen, vgl.
Das iudicium
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das, was an ihm teilhat/aus ihm hervorgeht) 97 wahrhaft schlecht ist. 98 Dieser Grundsatz, der für Seneca der zentralste aller decreta zu sein scheint,99 verspricht in zweierlei Richtung Orientierung: Er hilft dabei, (1) wahre von eingebildeten Gütern und (2) wahre von eingebildeten Übeln zu unterscheiden, und ermöglicht dadurch, richtige Werturteile zu fällen.100 Ad 1: Wahre und eingebildete Güter (bona vera/opinione bona) teilen Seneca zufolge lediglich den Namen (bona), nicht aber das Wesen (proprietas) miteinander.101 Das, was die breite Masse (populus) „gut“ nennt – wie zum Beispiel Reichtum, Ämter, Gesundheit, Kraft und Macht102 –, ist gerade nicht das, was wahrhaft gut ist.103 Die wahren Güter befinden sich in uns, nämlich in unserer Seele (in s
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Sen. epist. 102,19: [...] omnis autem virtutis actio bonum est („[...] jede Handlung der Tugend aber ist ein Gut“, eig. Übers.). Ich gehe davon aus, dass für Seneca auch das, was am Laster teilhat, wahrhaft schlecht ist. Zwar findet sich hierfür kein eindeutiger Beleg, aber seine Annahme, dass Affekte auf Dauer zu Lastern führen (vgl. S. 154 und Fußn. 611 und 612), lässt darauf schließen. Außerdem ergibt sich dieser Punkt wie auch der, dass das, was aus dem Laster hervorgeht, wahrhaft schlecht ist (ein Punkt, für den ich ebenfalls keinen Beleg finden konnte), ex negativo aus der Annahme, dass das, was an der Tugend teilhat/aus ihr hervorgeht, wahrhaft gut ist. Vgl. Sen. epist. 76,19: Der Tugendhafte (vir bonus) beachtet bei jeder Handlung seines Lebens (in omni actu vitae) zwei Grundsätze: nec aliud malum quam turpe [...] („Es gibt kein anderes Gut als das moralisch Gute, und es gibt kein anderes Übel als das Unmoralische [...]“, eig. Übers.). Der erste Teilsatz wurde in Handschriften hinzugefügt, die aus der Zeit nach dem 11. Jahrhundert stammen. Schon zwei Zeilen später steht im Text aber auch ein in älteren Textzeugen zu findender ähnlicher Satz: [...] unum est bonum virtus [...] („[...] einziges Gut ist die Tugend [...]“, eig. Übers.). Vgl. zudem Sen. epist. 67,10: Cito hoc potest tradi et paucissimis verbis: unum bonum esse virtutem [...] („Ohne Umschweife kann dies vermittelt werden und mit ganz wenigen Worten: einziges Gut ist die Tugend“, eig. Übers.); Sen. epist. 87,25: [...] idem est honestum et bonum („[...] dasselbe ist das moralisch Gute und das Gute“, eig. Übers.), und Sen. benef. 5,12,5: Unum est aput nos bonum, honestum („Das einzige Gut ist bei uns das moralisch Gute“, eig. Übers.). Dass es sich um ein decretum handelt, lässt sich aus Sen. epist. 94,8 schließen. Dass der axiologische Grundsatz für Seneca das zentralste decretum ist, zeigt die Regelmäßigkeit, mit der er ihn insbesondere in den Epistulae morales zur Sprache bringt. Er bezeichnet ihn meines Wissens aber nirgends wörtlich als decretum. An einer Stelle verwendet er dafür die Ausdrücke „Regel“ (regula) und „Gesetz“ (lex), die allerdings eine sehr ähnliche Bedeutung haben (vgl. Sen. benef. 7,2,2). Für die Notwendigkeit von decreta für richtige Urteile vgl. Sen. epist. 95,62f.: […] necessaria sunt decreta quae dant animis inflexibile iudicium („[...] Grundsätze [sind] erforderlich, die uns eine unbeirrbare Urteilsfähigkeit verleihen“, Übers. Gunermann et al.). Vgl. Sen. epist. 74,16f. Vgl. ebd., 94,8. Der populus ist kein geeigneter Wertmaßstab (vgl. ebd., 44,6).
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animo),104 und außerhalb der Einflusssphäre der fortuna. Die eingebildeten Güter liegen dagegen – genau umgekehrt – außerhalb von uns (extra nos)105 und innerhalb der Einflusssphäre der fortuna.106 Wegen dieses Bedeutungsunterschiedes rät Seneca dazu, im Hinblick auf die eingebildeten Güter am besten gar nicht von Gütern zu sprechen. Stattdessen soll man den Ausdruck „Annehmlichkeiten“ (commoda) oder den altstoischen Terminus technicus „Bevorzugtes“ (producta) verwenden107 – eines von mehreren lateinischen Äquivalenten für das griechische proêgmena.108 Ad 2: Genauso wenig wie das wahrhaft gut ist, was die breite Masse für gut hält, so wenig ist das wahrhaft schlecht, was sie für schlecht hält. Bei eingebildeten Übeln, wie etwa Krankheit, handelt es sich eigentlich um Unannehmlichkeiten (incommoda), die außerhalb unserer Einflusssphäre liegen (extra nos) und darum Sache der fortuna sind. 109 Die wahren Übel befinden sich dagegen in unserer Seele. Allerdings nimmt Seneca nicht an, dass die wahren Übel wie die wahren Güter gegen äußere Einflüsse immun sind. Zwischenmenschliche Gespräche wie die, die er in brieflicher Form mit Lucilius führt, können dazu beitragen, dass man von seinen Lastern befreit wird – vorausgesetzt, man will von ihnen befreit werden110 und sie haben sich nicht so verfestigt, dass sie durch nichts wieder behoben werden können.111 Bleibt der axiologische Grundsatz unbekannt, fehlt auch jeglicher Orientierungspunkt, an dem das eigene moralische Handeln ausgerichtet werden kann. Grundsätze sind für die Zielsetzung unverzichtbar.112 Zwar kann man auch einmal
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Vgl. Sen. epist. 76,16f. Vgl. ebd., 74,17. Darum bezeichnet Seneca die eingebildeten Güter zuweilen auch als „Güter für den Tag“ (in diem bona, vgl. ebd., 95,43 und 98,1). Vgl. ebd., 74,17. Vgl. S. 58, Fußn. 105. Vgl. Sen. epist. 92,16: Commoda sunt in vita et incommoda, utraque extra nos („Es gibt angenehme und unangenehme Dinge im Leben, beide befinden sich außerhalb von uns“, eig. Übers.). So lässt sich der Ausspruch der Amme gegenüber Phaedra deuten, vgl. Sen. Phaedr. 249: [...] pars sanitatis velle sanari fuit („[...] ein Teil der Gesundung war noch immer, geheilt werden zu wollen“, Übers. Thomann). Auch bei Cicero ist dieser Gedanke zu finden, vgl. Cic. Tusc. 3,13: […] sanabimur, si volemus („Wir werden geheilt werden, wenn wir wollen“, Übers. Kirfel). Vgl. Sen. epist. 39,4: [...] desinit esse remedio locus ubi quae fuerant vitia mores sunt („Für Heilung bleibt kein Raum, wo Sitte geworden ist, was ehedem Laster war“, eig. Übers.). Vgl. Sen. epist. 95,46: Vita sine proposito vaga est; quod si utique proponendum est, incipiunt necessaria esse decreta („Ein Leben ohne Ziel ist unstet; und wenn man sich dieses nun also auf jeden Fall setzen muss, beginnen Grundsätze unerlässlich zu werden“, Übers. Gunermann et al., modifiziert).
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zufällig gut handeln, aber: „Wer nur durch Zufall gut ist, der verspricht keine unbedingte Dauer eines solchen Verhaltens“ (non promittet se talem in perpetuum qui bonus casu est).113 Damit ist nicht nur gemeint, dass niemand dauerhaft zufällig gut handelt (genauso wenig wie jemand auf Dauer im Glücksspiel gewinnt), sondern auch, dass niemand durch zufällig gutes Handeln tugendhaft und menschlich vollkommen werden kann.114 Seneca verdeutlicht den Gedanken, dass die Kenntnis des axiologischen Grundsatzes für ein dauerhaft gutes Handeln notwendig ist, auch an zwei prägnanten Beispielen. Ein Maler, mag er auch alle Farben bereit haben, wird schwerlich ein Kunstwerk schaffen, wenn er nicht weiß, was er malen soll.115 Ähnlich verhält es sich mit einem Bogenschützen: Sein Pfeil wird schwerlich ins Ziel treffen, wenn er nicht weiß, wohin er ihn entsenden soll.116 Beide können ihr Ziel natürlich zufällig erreichen; weder wird aber der Maler, der nicht weiß, was er malen soll, dauerhaft Kunstwerke schaffen, noch der Bogenschütze, der nicht weiß, wohin er seinen Pfeil entsenden soll, dauerhaft ins Ziel treffen. In demselben Sinne muss eine Person, die dauerhaft gut handeln will, den axiologischen Grundsatz kennen.117 Nur so kann sie zur Tugend und mit ihr zur menschlichen Vollkommenheit gelangen. Der axiologische Grundsatz ermöglicht also das Fällen von richtigen Werturteilen. Zugleich weiß die Person, die ihn kennt, ganz allgemein, was sie tun und lassen soll, sodass sie auch einen Maßstab für ihre normativen Urteile hat: Wenn nur die Tugend und das, was an ihr teilhat/aus ihr hervorgeht, gut ist, soll man das tun, was dazu beiträgt, dass man die Tugend erwirbt; wenn nur das Laster und das, was an ihm teilhat/aus ihm hervorgeht, schlecht ist, soll man das vermeiden, was lasterhaft macht. Die Person, die den axiologischen Grundsatz kennt, weiß aber noch nicht, was sie konkret tun soll. Dafür müssen Vorschriften her. Eine Vorschrift hat in ihrer Grundstruktur die Form eines hypothetischen Imperativs: „[...] s
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Sen. epist. 95,39, Übers. Apelt. Vgl. für den zweiten Punkt auch Sen. epist. 123,16. Er formuliert dort mehrere Grundannahmen, die, wie er meint, auswendig gelernt werden sollten (vgl. ebd., 123,17). Eine von ihnen besagt, dass niemand zufällig gut ist, sondern die Tugend erlernen muss (nemo est casu bonus: discenda virtus est). Vgl. ebd., 71,2. Vgl. ebd., 71,3. Schon Aristoteles verwendete in einem ganz ähnlichen Zusammenhang das Beispiel des Bogenschützen. Vgl. Aristot. EN 1094a22–24: ἆρ’ oὖν καὶ πρὸς τὸν βίον ἡ γνῶσις αὐτοῦ [sc. τοῦ ἀρίστου] μεγάλην ἔχει ῥοπήν, καὶ καθάπερ τοξόται σκοπὸν ἔχοντες μᾶλλον ἂν τυγχάνοιμεν τοῦ δέοντος; („Hat nun nicht auch für die Lebensführung seine Erkenntnis [die des obersten Gutes] ein entscheidendes Gewicht, und können wir dann nicht wie Bogenschützen, die ihr Ziel haben, leichter das Richtige treffen?“, Übers. Dirlmeier, modifiziert). Vgl. Sen. epist. 71,3: [...] errant consilia nostra, quia non habent quo derigantur („Unsere Entschlüsse irren, weil sie kein [Ziel] haben, auf das sie ausgerichtet werden“, eig. Übers.).
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Die Ethik
[J]enes wirst du tun, wenn du besonnen sein willst [...]“ (illa facies si voles temperans esse).118 Das Du ist dabei in jedem Fall ein Träger sozialer Rollen, von denen abhängt, welche Vorschrift greift: Der Ehemann muss etwas anderes tun, wenn er besonnen sein will, als ein Vater oder ein Herr – er muss seiner Frau zum Beispiel treu bleiben (ein Vater muss dagegen bei Missgeschicken seiner Kinder, ein Herr bei Missgeschicken seiner Sklaven die Ruhe bewahren). Im Prinzip lassen Vorschriften noch mehr kontextuellen Gehalt zu.119 Ihre wesentliche Funktion sollte aber soweit deutlich geworden sein: Sie sind dazu da, die in Grundsätzen formulierten theoretischeren Sachverhalte praktisch anwendbarer zu machen und das Fällen von richtigen normativen Urteilen zu erleichtern. Ohne Vorschriften bliebe ungewiss, was ich konkret tun soll, um beispielsweise dem axiologischen Grundsatz entsprechend zu handeln. Ich wüsste nur, dass ich die Tugend erwerben und das Laster vermeiden soll, nicht aber, dass dieses oder jenes in meinem Fall zum Tugenderwerb/zur Lastervermeidung beiträgt. Laut Ariston von Chios käme man allerdings ohne weiteres vom Inhalt des Grundsatzes auf den Inhalt der Vorschrift. 2.2
Wissen und Tugend
Doch genügt das Wissen um den axiologischen Grundsatz und bestimmte Vorschriften auch dafür, dauerhaft richtige Urteile zu fällen und gut zu handeln? Oder anders formuliert: Ist das Wissen um den axiologischen Grundsatz und bestimmte Vorschriften notwendig und hinreichend, um tugendhaft und damit menschlich vollkommen zu werden? Im 31. Brief vergewissert Seneca seinen Freund Lucilius, dass er sich glücklich machen wird, wenn er erkennt (intellegere), dass nur das gut ist, was mit der Tugend vermischt ist (quibus admixta virtus est), und schlecht nur das, was mit dem Laster in Verbindung steht (quibus malitia coniuncta est).120 In eine ähnliche Richtung geht der 32. Brief: Seneca wünscht Lucilius dort zum Abschluss die Weisheit und erklärt ihm, dass die wahren Güter (vera bona), also die Tugenden, in den Besitz übergehen, sobald man sie erkannt hat (simul intellecta sunt possidentur).121 Auch im 78. Brief sind gleichartige Anklänge zu vernehmen: s
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Sen. epist. 95,66, Übers. Rosenbach, modifiziert, eig. Herv. Ariston hat dies zum Anlass genommen, um eine Kritik an der Paränetik zu äußern (vgl. Sen. epist. 94,14–16): Es sei eine unerfüllbare Aufgabe, jedem einzelnen Vorschriften zu machen, weil der kontextuelle Gehalt, mit dem man eine Vorschrift anreichern kann, unerschöpflich ist. Um alle möglichen Kontexte zu erfassen, bräuchte es unendlich viele Vorschriften. Deswegen solle man die Paränetik aus der Philosophie verbannen. Seneca setzt dem entgegen, dass es nicht darum geht, jeden Kontext zu erfassen, sondern nur die wichtigsten (vgl. ebd., 94,35). Nach seiner Auffassung gibt es daher keinen Grund, die Paränetik aus der Philosophie zu verbannen. Vgl. ebd., 31,5. Vgl. ebd., 32,5.
Das iudicium
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Dort versichert Seneca, dass wir aufhören werden, den Tod zu fürchten, „[...] wenn wir die Grenzen des Guten und Schlechten erkannt haben [...]“ (si fines bonorum ac malorum cognoverimus).122 Schließlich erfahren wir aus dem 88. Brief, dass sich die Seele durch eine Sache vervollkommnet, nämlich durch das unwandelbare Wissen um Gut und Schlecht (scientia bonorum ac malorum immutabili).123 Das Wissen um bestimmte Vorschriften wird von Seneca in diesen Briefen nicht zur Sprache gebracht. Trotzdem lässt sich die Frage stellen, ob aus seinen Äußerungen zu schließen ist, dass er ein ethischer Intellektualist ist. Der ethische Intellektualismus, wie ihn am prominentesten Platons Sokratesfigur in den frühen Dialogen repräsentiert,124 umfasst gemeinhin zwei Kernthesen: erstens die Wissensthese, die besagt, dass Tugend Wissen ist, und zweitens die Handlungsthese, der zufolge das Wissen vom Guten (Tugendhaften) notwendig und hinreichend dafür ist, das Gute auch zu tun.125 Die Wissensthese lässt nach Auffassung Friedemann Buddensieks die Annahme zu, „[...] dass auf Seiten des Handelnden weitere Faktoren für gutes Handeln hinzukommen müssen [...]“126, während die Handlungsthese diese Möglichkeit ausschließe.127 Jörn Müller will dagegen die Handlungsthese schon in die Wissensthese integriert wissen: „Die These vom Tugendwissen besagt […] nicht mehr und nicht weniger, als dass der Besitz praktischen Wissens nicht nur notwendig, sondern für sich schon hinreichend für die Ausübung guter Handlungen ist, sofern man äußere Einschränkungen der Handlungsfreiheit einmal abrechnet.“128 Buddensieks und Müllers Charakterisierung des ethischen Intellektualismus unterscheiden sich voneinander. Im Gegensatz zu Müller scheint es Buddensiek für möglich zu halten, dass ein ethischer Intellektualist um das Gute weiß, es aber nicht tut. Warum ist das vom Handeln losgelöste Wissen dann aber noch Wissen und nicht bloßes Meinen? Müller vermeidet dieses Problem, da er Tugendwissen von vornherein an Tugendhandeln bindet. Es kann demnach kein Tugendwissen geben, das nicht in die Tat umgesetzt wird. Ich werde mich im Folgenden an dieser Version des ethischen Intellektualismus orientieren. Angesichts einiger oder vielleicht sogar aller zuvor angeführten Äußerungen Senecas besteht die Tendenz, ihn zu einem ethischen Intellektualisten zu erklären. s
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Sen. epist. 78,25, eig. Übers. Vgl. Sen. epist. 88,28, eig. Übers. Vgl. zum ethischen Intellektualismus bei Platon insbesondere v. Ackeren 2003, der argumentiert, dass der Zusammenhang von Tugend und Wissen nicht nur in den frühen, sondern auch in den mittleren und späten Dialogen vorzufinden ist. Vgl. Buddensiek 2016, S. 15. Ebd. Vgl. ebd. Müller 2009, S. 65. Mit Müller könnte man eine weitere Kernthese des ethischen Intellektualismus geltend machen, nämlich die, dass niemand willentlich (ἑκών) Schlechtes tut (vgl. ebd.). Laut Buddensiek schließt die Handlungsthese diese These ein (vgl. Buddensiek 2016, S. 15).
182
Die Ethik
Man kann sie so auslegen, dass (i) die Tugend für ihn Wissen ist und (ii) das Wissen darum, dass nur die Tugend wirklich gut ist und nur das Laster wirklich schlecht,129 notwendig und hinreichend ist, um die Tugend zu erwerben und damit menschlich vollkommen zu werden. Da Seneca die Tugend häufig auch als ein bestmögliches Verhalten im Umgang mit dem Schicksal charakterisiert, könnte man den zweiten Punkt ebenso gut in folgende Worte fassen: Das Wissen darum, dass nur die Tugend wirklich gut ist und nur das Laster wirklich schlecht, ist notwendig und hinreichend für ein bestmögliches Verhalten im Umgang mit dem Schicksal. Spätestens mit dieser Formulierung hat man eine Entsprechung für die Handlungsthese des ethischen Intellektualismus. Aber sind die Dinge auch wirklich so, wie sie auf den ersten Blick zu sein scheinen? Für Seneca ist die Tugend bzw. Weisheit, die er oftmals stellvertretend für sie anführt, zweifellos Wissen, und zwar ein umfassendes Wissen – kein alles umfassendes: „Denn nicht weiß die weise Person alles“,130 ebenso wenig ein technisches: Wer weise ist, weiß nicht zwangsläufig, wie man Häuser baut, Eisenwerkzeuge herstellt, Eisen- und Kupferfundstätten erschließt, webt, den Acker bestellt oder bäckt131 – solche Fertigkeiten (artes) hat der Mensch aufgrund seines Scharfsinns (sagacitas).132 Die Weisheit zeigt vielmehr, (1) was Übel sind und was Übel zu sein scheinen (quae sint mala, quae videantur), (2) sie vermittelt die Kenntnis der gesamten Natur und ihrer selbst (totius naturae notitia ac sui), (3) sie gibt Auskunft über das Wesen und die Beschaffenheit der Götter (quid sint di qualesque), (4) sie kommt auf die Anfangsgründe der Dinge (initia rerum) zurück und die dem ewigen Weltganzen innewohnende Vernunft (aeterna ratio toti indita), (5) sie verschreibt sich der Erforschung der Seele und der körperlichen und unkörperlichen Dinge, (6) und sie deckt die Doppeldeutigkeiten im Leben und in der Rede auf.133
s
129
130 131 132
133
Nach dem 31., 78. und 88. Brief scheint es so zu sein, dass die Erkenntnis beider Teile des axiologischen Grundsatzes zur Tugend und damit zur Glückseligkeit führt. Nach dem 32. Brief scheint dagegen schon die Erkenntnis des ersten Teils zu diesem Ergebnis zu führen. Wenn Seneca Tugendwissen holistisch auffasst, wie ich nachfolgend nahelegen möchte, ist das Problem aber behoben. Denn dann ist klar, dass nicht nur einzelne Aspekte gewusst werden. Vgl. Sen. epist. 109,5: [...] non enim omnia sapiens scit [...] (eig. Übers.). Vgl. Sen. epist. 90,7, 11, 12, 20, 21 und 22. Vgl. ebd., 90,11. Zur Frage, was der stoische Weise weiß, vgl. auch Kerferd 1978 und Horn 2006. Vgl. Sen. epist. 90,28f.
Das iudicium
183
Weisheit haben laut Seneca manche als das Wissen von den göttlichen und menschlichen Dingen definiert (divinorum et humanorum scientia), und auch er akzeptiert diese Definition.134 Zu den menschlichen Dingen dürfte er in Anbetracht des zuvor Gesagten den axiologischen Grundsatz rechnen, mit dem sich unterscheiden lässt, was wahre und scheinbare Güter und was wahre und scheinbare Übel sind (1) – und bestimmte Vorschriften sowie die Doppeldeutigkeiten im Leben und in der Rede (6); zu den göttlichen Dingen dagegen die gesamte Natur und die Weisheit selbst (2), das Wesen und die Beschaffenheit der Götter (3), die Anfangsgründe der Natur und die dem ewigen Weltganzen innewohnende Vernunft (4). Weiterhin könnte Seneca zu den göttlichen Dingen das Schicksal (fatum) zählen: Der Weise (vir bonus) wird das, was ihm zustößt, mit Gleichmut ertragen, weil er, wie er an einer Stelle sagt, wissen wird, „[...] dass es ihm aufgrund des göttlichen Gesetzes zugestoßen ist, nach dem alles seinen Gang geht“.135 Die Seele sowie die körperlichen und unkörperlichen Dinge (5) könnten dagegen sowohl im Bereich der menschlichen als auch im Bereich der göttlichen Dinge angesiedelt werden, denn Seneca geht es meistens um die Seele des Menschen, die wegen der in ihr enthaltenen Vernunft zugleich göttlich ist; außerdem vertritt er die Position, dass der göttliche und menschliche animus aus Pneuma besteht, also etwas Körperliches ist; dessen sprachlich ausdrückbare Denkinhalte – die sogenannten lekta – sind wiederum unkörperlich. 136 Als unkörperlich gelten bei seinen stoischen s
134
135
136
Vgl. Sen. epist. 89,5. Für manche besteht Weisheit dagegen darin, die göttlichen und menschlichen Dinge und deren Ursachen zu kennen (sapientia est nosse divina et humana et horum causas, vgl. ebd.). Wer genau diesen Zusatz macht, verschweigt Seneca. Cicero (bzw. „M“) macht ihn beispielsweise (vgl. Cic. Tusc. 4,57; 5,7; in Cic. off. 2,5 verwendet er die Formel unter Berufung auf die „alten Philosophen“ [veteres philosophi]). Seneca hält den Zusatz für überflüssig, weil die Ursachen der göttlichen und menschlichen Dinge ein Teil der göttlichen und menschlichen Dinge sind (vgl. Sen. epist. 89,5). Zum Ursprung der Formel vgl. Männlein-Robert 2002. Sie kann überzeugend nachweisen, dass Platon sie einem ursprünglich poetologischen Kontext entnommen und philosophisch angepasst hat. Die verbreitete Zuweisung der Formel an die Stoa, gegen die sie vehement argumentiert, ist auch in jüngerer Zeit noch anzutreffen (vgl. Brouwer 2014, S. 9–18; für einen Überblick über ältere Forschungspositionen, die den Ursprung der Formel ausnahmslos in der Stoa verorten, vgl. Ganss 1952, S. 12f.). Seneca sieht die Aufgabe der Philosophie der kürzeren Definition der Weisheit entsprechend darin, die Wahrheit über die göttlichen und menschlichen Dinge ausfindig zu machen (huius [sc. philosophia] opus unum est de divinis humanisque verum invenire, vgl. Sen. epist. 90,3). Vgl. ebd., 76,23: [...] sciet [vir bonus] enim id accidisse lege divina qua universa procedunt (Übers. Rosenbach, modifiziert, eig. Herv.). Für die lekta des menschlichen animus vgl. WaPh S. 251,1 s. v. „lekton“ (Johannes Brachtendorf) und Sen. epist. 117,13, wo Seneca sagt (Übers. Gunermann et al., modifiziert): „So sehe ich, wie Cato spazieren geht. Diesen Vorgang zeigte sinnliche Wahrnehmung an. Die Seele stimmte zu. Ein Körper ist das, was ich sehe, auf den ich Augen und Seele richtete. Dann sage ich ‚Cato geht spazieren.‘ Nicht der Körper ist es, sagt
184
Die Ethik
Vorgängern auch die Zeit, der Ort und das Leere.137 Aber Seneca führt diese Dinge bis auf die Zeit nirgends von sich aus als Beispiele für incorporalia an.138 Garantiert der Besitz dieses holistischen Tugendwissens nun, dass man sich stets tugendhaft verhält und so glücklich und menschlich vollkommen wird? Das legen die oben referierten Briefpassagen ja nahe. Die Beantwortung dieser Frage hängt im Grunde von der Antwort auf die fundamentalere Frage ab, was Seneca unter Wissen versteht. Zu wissen (scire) heißt für ihn nicht, irgendwelche schlauen Sprüche von Zenon oder Kleanthes wiederholen zu können – es ist mehr, als sich bloß erinnert zu haben (meminisse); Wissen besteht vielmehr darin, „sich alles zu eigen zu machen“ (sua facere quaeque).139 Dies ist ein Prozess. Er vollzieht sich, indem man nicht nur etwas lernt, sondern das Gelernte auch einübt. Etwas, das nur gelernt wurde, ist flüchtig und kann schnell wieder verloren gehen, wenn es nicht erprobt wird (in opere temptanda sunt).140 So verhält es sich auch mit der Glückseligkeit: Glücklich ist nicht, wer etwas versteht, sondern wer es tut (non est beatus qui scit illa, sed facit).141 Die Tugend wird nur dem Menschen zuteil, „[...] s
137
138
139 140
141
man, über den ich jetzt spreche, sondern eine mögliche Mitteilung über einen Körper [enuntiativum quiddam de corpore], das andere ‚Ausgesprochenes‘ [effatum], wieder andere ‚Geäußertes‘ [enuntiatum] und noch andere ‚Gesagtes‘ [dictum] nennen.“ Das Leere umgibt den Kosmos und kann von Körpern besetzt werden, ist aktuell aber nicht von ihnen besetzt (vgl. DL 7,140). Für prägnante Erläuterungen der vier incorporalia vgl. Dienstbeck 2015, S. 71–75 und Schriefl 2019, S. 99–101. In Sen. epist. 58,14 unterteilt er das Seiende in körperlich und unkörperlich, geht dann aber nur auf das Körperliche näher ein. Leere (inane) und Zeit (tempus) charakterisiert er zwar im selben Brief später im Zusammenhang mit Platons „sechster Gattung des Seienden“ als quae quasi sunt (vgl. ebd., 58,22); hieraus lässt sich aber schwerlich ein stoischer Standpunkt ableiten (nach Seneca hat Platon alles, was ist, in sechs modi eingeteilt [vgl. ebd., 58,16]; laut Bickel 1960 folgt er hier weitgehend dem Timaios; BoysStones 2013 interpretiert den Brief als anti-dialektische Polemik gegen Platon). Auch in Sen. epist. 89,16 geht Seneca nur auf das Körperliche ein, obwohl sich die Naturphilosophie ihm zufolge mit dem Körperlichen und dem Unkörperlichen beschäftigt. Für die Bezeichnung der Zeit als etwas Unkörperliches (res incorporalis) vgl. Sen. dial. 10,8,1 (= brev. vit. 8,1). Vgl. Sen. epist. 33,8f. Vgl. ebd., 75,7: Non enim, ut cetera, memoriae tradidisse satis est: in opere temptanda sunt („Nicht nämlich, wie sonst, ist es dem Gedächtnis anvertraut zu haben genug: durch die Tat muss es sich bewähren“, Übers. Rosenbach). Sen. epist. 75,7. Das zweite qui findet sich nur in Handschriften, die jünger als das 11. Jahrhundert sind (vgl. hier und im Folgenden den kritischen Apparat bei Reynolds zu der Stelle). Hense will es beibehalten und verweist auf Sen. epist. 87,13 und 87,39. Neben diesem textkritischen Problem gibt noch ein inhaltliches: Es ist nicht ganz klar, was Seneca mit illa meint. Außerdem ist anzumerken, dass ich das scit hier schwächer lese. Man könnte es auch mit „weiß“ übersetzen – dann müsste man allerdings deutlich machen, dass es sich nicht um dieselbe Form von Wissen handeln kann wie beispielsweise in ebd., 76,23 (vgl. Fußn. 135).
Das iudicium
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der informiert, gründlich unterrichtet und durch ständige Übung [assidua exercitatione] zur Höhe geführt worden ist“142 – sie wird ihm nicht zuteil, wenn er nur informiert und gründlich unterrichtet worden ist. Ähnlich hebt Seneca hervor, dass ein Teil der Tugend in der Lehre und ein Teil in der Übung besteht (pars virtutis disciplina constat, pars exercitatione).143 Auch an seinem Mußebegriff (otium) lässt sich ablesen, dass es nicht genügt, sich etwas nur über das Denken erschlossen zu haben: Die „Tugend“, die sich an die Muße wegwirft, ohne Taten folgen zu lassen (in otium sine actu proiecta virtus), ist ein unvollkommenes und kraftloses Gut.144 Die Erkenntnisse, zu denen man in der Muße gekommen ist, müssen praktisch erprobt werden. Zu guter Letzt zeigt Senecas Philosophieverständnis, dass es nicht genügt, etwas nur gelernt zu haben. Er versteht die Philosophie zwar auch als disciplina: Durch sie lernt man, was zu tun und zu lassen ist (agenda et omittenda demonstrat),145 wie man beispielsweise Wohltaten (beneficia) empfangen und erwidern soll.146 In erster Linie ist die Philosophie aber eine praktische Tätigkeit, ein ständiges Bemühen darum, die Tugend zu erwerben – eine, wie er sagt, „dem geistigen Heil dienende Betätigung“ (studium salutare).147 Sie ist, um eine heute geläufige Bezeichnung zu verwenden, von der aber schon er Gebrauch macht,148 ebenso eine Lebenskunst.149 Wissen kann für Seneca demzufolge nicht schon darin bestehen, dass man etwas gelernt hat, ohne Taten folgen zu lassen – in diesem Fall hätte man sich das Gelernte nicht zu eigen gemacht. Wenn eine Person über Tugendwissen verfügt und somit um den axiologischen Grundsatz, bestimmte Vorschriften und andere menschliche und göttliche Dinge weiß, dann wird sie auch dementsprechend handeln – und zwar immer (es würde sich hierbei um eine weise Person handeln). Ein solcher Standpunkt macht Seneca zum ethischen Intellektualisten.150 Will man also tugendhaft werden, muss man sich die Kerngehalte der stoischen Philosophie s
142 143 144 145 146 147
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150
Vgl. Sen. epist. 90,46, Übers. Rosenbach, modifiziert, eig. Herv. Vgl. Sen. epist. 94,47. Vgl. Sen. dial. 8,6,2f. (= de ot. 6,2f.), auch für den nachfolgenden Satz. Vgl. Sen. epist. 16,3. Vgl. ebd., 73,7. Vgl. ebd., 72,3: Tempus quidem nullum est parum idoneum studio salutari („Keine Zeit ist doch zu wenig geeignet für die dem geistigen Heil dienende Betätigung“, eig. Übers.). Er spricht von einer ars vitae, bezieht sich damit aber eher auf die Weisheit (vgl. Sen. epist. 95,7f. und 117,12). An einer Stelle sagt er jedoch, es sei eine Kunst, gut zu werden (ars est bonum fieri, vgl. ebd., 90,45), womit er zweifellos den Lebenskunstaspekt der Philosophie anspricht. Vgl. Hadot 1981, Horn 1998 und Ernst 2016b. Letzterer fasst das Verständnis der Philosophie als Lebenskunst in vier Kerngedanken zusammen (vgl. Ernst 2016c, S. 302– 308): Erstens habe die Praxis bei ihr Vorrang vor der Theorie, zweitens beschränke sie sich nicht auf die Disziplinen der praktischen Philosophie, drittens sei sie ein holistisches Projekt und viertens eine Kunst (im Sinne einer τέχνη). Vgl. für Senecas ethischen Intellektualismus auch Wildberger 2014, S. 309f.
186
Die Ethik
zu eigen machen. Wie ich versucht habe zu zeigen, ist es dafür unter anderem nötig, den axiologischen Grundsatz und bestimmte Vorschriften zu kennen. Im kommenden Abschnitt möchte ich die praktische Seite des Tugenderwerbs genauer in den Blick nehmen, von der abhängt, ob das Gelernte auch zu Wissen wird. 3
Der impetus
Das zweite Handlungsmoment eines idealen Handlungsverlaufes besteht nach dem 89. Brief darin, einen geordneten und maßvollen Antrieb zu entwickeln. Seneca scheint anzunehmen, dass die Entstehung eines solchen Antriebs vom Fällen richtiger Urteile abhängt (falsche Urteile führen zu Affekten). Im Folgenden gehe ich näher auf sein Konzept des guten Willens ein und interpretiere den guten Willen als einen geordneten und maßvollen Antrieb. 3.1
Der gute Wille
Die Kenntnis des axiologischen Grundsatzes und bestimmter Vorschriften ist für den moralischen Fortschritt unabdingbar. Doch wie zu sehen war, garantiert sie allein noch nicht den Tugenderwerb. Dafür muss sie zu Wissen werden, was nur geschehen kann, wenn sie praktisch erprobt wird. Die praktische Erprobung setzt aber voraus, dass man gut werden will.151 Es bedarf eines guten Willens (bona/benigna voluntas), um nach Maßgabe des axiologischen Grundsatzes und bestimmter Vorschriften zu handeln:152 Quid est beata vita? securitas et perpetua tranquillitas. Hanc dabit animi magnitudo, dabit constantia bene iudicati tenax. Ad haec quomodo pervenitur? si veritas tota perspecta est; si servatus est in rebus agendis ordo, modus, decor, innoxia voluntas ac benigna, intenta rationi nec umquam ab illa recedens, amabilis simul mirabilisque. Was ist das glückliche Leben? Sorgenlosigkeit und beständige innere Ruhe. Das wird dir geben die Geistesgröße, wird dir geben die Beständigkeit, die an dem gut Beurteilten festhält. Wie gelangt man dahin? Wenn man die Wahrheit vollkommen
s
151
152
Vgl. Sen. epist. 34,3: [...] pars magna bonitatis est velle fieri bonum („[...] ein großer Teil der moralischen Güte besteht darin, gut werden zu wollen“, eig. Übers.). Vgl. ferner Sen. epist. 71,36: [...] magna pars est profectus velle proficere („[...] ein großer Teil des Fortschritts ist, fortschreiten zu wollen“, eig. Übers.). Vgl. schließlich Sen. epist. 80,4: Quid tibi opus est ut sis bonus? Velle („Was ist für dich erforderlich, um tugendhaft zu sein? Es zu wollen“, eig. Übers.). Sen. epist. 92,3, Übers. Rosenbach, modifiziert.
Der impetus
187
durchschaut hat; wenn man bei seinen Handlungen bewahrt hat Ordnung, Maß, Anstand, reinen und guten Willen, bedacht auf Vernunft und niemals sich von ihr zurückziehend, liebenswert zugleich und bewunderungswürdig.
Die weise Person hat die Wahrheit vollkommen durchschaut: Sie weiß um die göttlichen und menschlichen Dinge und handelt diesem Wissen stets entsprechend – darum ist ihr Wille auch immer gut. Das schließt jedoch nicht aus, dass die moralisch fortschreitende Person die Wahrheit zumindest ansatzweise durchschauen kann. Wäre sie zu so einer Erkenntnisleistung nicht imstande, blieben ihr das moralische Ziel und die konkreten Hinweise für seine Umsetzung unbekannt. Unter solchen Umständen wäre moralischer Fortschritt ausgeschlossen. Aus Senecas brieflichem Umgang mit Lucilius lässt sich folgern, dass er der moralisch fortschreitenden Person die basale Fähigkeit zuspricht, sich moralische Gehalte zu vergegenwärtigen.153 Will sie diese nun auch praktisch umsetzen, muss sie das wollen, was ihr ihre Vernunft in Form des axiologischen Grundsatzes und bestimmter Vorschriften vorlegt.154 Berücksichtigt sie beides und fällt richtige Urteile, hat sie einen guten Willen, der sich aber aufgrund ihrer fehlenden Weisheit wieder von ihrer Vernunft abwenden kann. Ob er sich davon abwendet, liegt ganz bei ihr: Hält sie an ihren richtigen Urteilen fest, bleibt ihr Wille ein guter Wille; fällt sie dagegen falsche Urteile, tritt an die Stelle ihres guten Willens schnell ein Affekt, also ein schlechter Wille. Die prinzipielle Kontrollierbarkeit des guten Willens seitens der moralisch fortschreitenden Person spricht dafür, ihn als einen geordneten und maßvollen Antrieb aufzufassen.155 Solange der gute Wille an dem von der Vernunft Erkannten festhält, ist er auch ein starker Wille. Wenn er jedoch wieder davon abrückt und sich in den Bann der äußeren Dinge ziehen lässt, verliert er seine Güte und zeigt seine Schwäche.156 Dass der gute Wille ein starker Wille ist, wird durch Senecas eigene Sprache deutlich. So spricht er bisweilen von einer starken und beständigen Intention (magna
s
153
154 155
156
Vgl. exemplarisch Sen. epist. 23,6, wo der moralisch fortschreitende Seneca zu dem moralisch fortschreitenden Lucilius sagt: „[…] [S]chaue auf das wahre Gut [ad verum bonum specta]“ (eig. Übers.). Daran wird ersichtlich, dass der gute Wille im Zusammenspiel mit der Vernunft moralischen Fortschritt ermöglicht, nicht allein (vgl. auch Pohlenz 51978, S. 319). Ein Affekt ist dagegen vorerst nicht kontrollierbar; man kann, wenn man ihn hat, nicht einfach seine falschen Urteile durch richtige revidieren und sich so von ihm befreien. Im Falle des guten Willens können die richtigen Urteile aber durch falsche ersetzt und er dadurch aufgehoben werden. Ich habe zwar argumentiert, dass Affekte nach Senecas Auffassung von anderen Affekten durch das Fällen anderer falscher Urteile verdrängt werden können (vgl. S. 120 und 159). Dies kann aber schwerlich so ausgelegt werden, dass Affekte doch gewissermaßen kontrollierbar sind. Kontrollierbarkeit heißt, dass ich jederzeit über das Fortbestehen und die Beendigung einer Sache bestimmen kann. Beide Optionen lässt ein guter Wille zu, nicht aber ein Affekt. Vgl. S. 115f.
188
Die Ethik
et assidua intentio);157 auch von einer angestrengten und beständigen Sorge (intenta et assidua cura) ist die Rede.158 Außerdem scheint der gute Wille für ihn etwas zu sein, das an die Stelle eines früheren – schlechteren – Willens treten kann. Erkennbar wird dies daran, dass er sich und andere moralisch Fortschreitende bisweilen dazu auffordert, eine Willensänderung vorzunehmen: Wir sollen aufhören zu wollen, was wir gewollt haben (desinamus quod voluimus velle).159 Der gute Wille ist so gesehen ein Wille zweiter Ordnung:160 Mit ihm soll die Handlungswirksamkeit des bisher an den Tag gelegten schlechten Willens außer Kraft gesetzt werden, indem man nicht länger an seinen falschen Urteilen festhält und richtige fällt.161 Ist aber daraus, dass der gute Wille an die Stelle eines schlechteren Willens treten kann, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass er nicht naturgegeben ist? Ist er etwas, das man sich – wenn überhaupt – erst im Laufe seines Lebens aneignet? Die Frage lässt sich einmal vom 121. Brief her angehen. Alle Lebewesen trügen, wie Seneca dort sinngemäß behauptet, in allen Dingen Sorge um sich selbst.162 Er bezieht die Selbstsorge dabei einerseits auf die körperliche Konstitution (constitutio): Ein frisch aus dem Mutterleib gekommenes oder aus dem Ei geschlüpftes Jungtier meidet aus Sorge um das eigene körperliche Wohlergehen instantan lebensbedrohliche Situationen, auch wenn es noch keinerlei Verständnis davon hat, was eine lebensbedrohliche Situation ist.163 Andererseits macht sich der Mensch ab einem bestimmten Alter zusätzlich zu seiner körperlichen Konstitution mit seiner vernünftigen Seite vertraut.164 Seneca sagt aber nicht, dass so wie aus der Vertrautheit mit der eigenen körperlichen Konstitution auf natürliche Weise eine Sorge darum erwächst, aus der Vertrautheit mit der eigenen geistigen Konstitution auf natürliche Weise eine Sorge hierum erwächst – im Sinne einer Neigung zur Tugend.165 Der gute Wille könnte demnach etwas sein, das man sich aneignet, nichts, das man schon in irgendeiner Form hat und das nur durch schlechte äußere Einflüsse fehlgeleitet ist.166 Dem entgegen steht allerdings Senecas im 81. Brief s
157 158 159 160
161
162 163 164 165 166
Vgl. Sen. epist. 76,15 und ebd., 84,11. Vgl. Sen. dial. 9,17,12 (= de tran. an. 17,12). Vgl. auch Sen. epist. 124,14. Vgl. ebd., 61,1. Für die Idee, dass es einen Willen erster und zweiter Ordnung gibt, vgl. Frankfurt 1971. Schon Brad Inwood hat Senecas Willensbegriff auf diese Weise zu deuten versucht (vgl. S. 20 und Inwood 2005, S. 132–156). Bei einem Affekt lässt sich dies wegen seiner Exzessivität aber nicht sofort erreichen. Dafür muss man abwarten, bis er nicht mehr ganz so stark ist (vgl. dazu S. 220–226 und 237f.). Sen. epist. 121,17. Vgl. ebd., 121,18. Vgl. ebd., 121,14. Vgl. für eine solche Neigung etwa Muson. Ruf. F 3,9,8f. (ὄρεξις καὶ οἰκείωσις φύσει πρὸς ἀρετήν οὐ μόνον γίνεται τοῖς ἀνδράσιν, ἀλλὰ καὶ γυναιξίν). Die Idee eines Wollens, das sich an sich auf etwas Gutes richtet, durch falsche Überzeugungen aber davon abgebracht werden kann, findet sich in Ansätzen bereits bei Platon (vgl. Plat. Gorg. 466a–468e).
Der impetus
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getroffene Annahme, dass das Wollen nicht gelernt wird (velle non discitur).167 Sie kann so interpretiert werden, dass jede Art von Wollen schon von Natur aus vorhanden ist, sowohl dasjenige, das sich auf den Erhalt der körperlichen Konstitution, als auch dasjenige, das sich auf das geistige Wohlergehen richtet. Das Wollen (welcher Art auch immer) wird hiernach nicht als neue Fähigkeit im Laufe des Lebens hinzugewonnen. Vermutlich trägt man Seneca am ehesten Rechnung, wenn man seine Position wie folgt zusammenfasst: Ein grundsätzlicher Wille zur Selbsterhaltung und zum Guten ist jedem Menschen eingepflanzt; durch schlechte äußere Einflüsse kann sich seine intentionale Struktur aber verändern; ist dies geschehen, muss er eigenhändig umgelenkt werden, zurück zu seinem eigentlichen Ziel – im Sinne einer kognitiven Neuausrichtung. Die Person, der die vernünftige Umlenkung durch das Fällen richtiger Urteile gelingt, kommt dem Ziel, die Tugend zu erwerben, schrittweise näher (habet aliquis bonam voluntam, habet profectum)168 – bis sie es irgendwann erreicht. Mit der Erreichung dieses Ziels verfestigt sich ihr guter Wille zum habitus.169 Legt man hier den 20. Brief zugrunde, in dem Seneca den Willen mit der Weisheit in Verbindung bringt,170 könnte man auch sagen, dass der gute Wille mit dem Tugenderwerb unabänderlich auf das moralisch Gute ausgerichtet ist und es konstant in die Tat umsetzt. Allerdings kann es der moralisch fortschreitenden Person, bevor es dazu kommt, auch an gutem Willen fehlen (wenn sie sich beispielsweise durch den Tod eines Familienangehörigen beirren lässt und falsche Urteile fällt). Die Konsequenz ist laut Seneca, dass sie sich wieder vom Ziel des Tugenderwerbs entfernt:171 [...] si quicquam ex studio et fideli intentione laxaverint [sc. imperfecta], retro eundum est. Nemo profectum ibi invenit ubi reliquerat. [...] [W]enn [Unvollendetes] etwas in dem Eifer und der dauerhaften Intention nachlässt, muss Rückschritt die Folge sein. Niemand findet Fortschritt dort, wo er aufgegeben hatte. s
167
168 169
170 171
Vgl. Sen. epist. 81,13. Seneca führt dort aus, dass der Fehler der nichtweisen Person beim Erweisen von Wohltaten nicht auf ihren Willen, sondern auf ein Wissensdefizit zurückzuführen ist (scientia illi potius quam voluntas desit, vgl. hierzu S. 302f.). Es mangelt ihr nicht an Willen, sondern an Wissen. Nun könnte es aber natürlich sein, dass es ihr auch an Willen mangelt. Den Willen, so scheint Seneca sagen zu wollen, eignet man sich aber nicht so wie Wissen an – er kommt nicht durch bloßes Lernen zustande. Er ist irgendwie schon da. Vgl. Sen. epist. 73,9. Vgl. ebd., 16,6: Contine illum [sc. impetum animi] et constitue, ut habitus animi fiat quod est impetus („Halte ihn [den Antrieb der Seele] fest und fixiere ihn, damit ein Habitus der Seele wird, was jetzt Antrieb ist“, eig. Übers.). Vgl. Sen. epist. 20,5. Ebd., 71,35, Übers. Rosenbach, modifiziert.
190
Die Ethik
Zwar gehört auch die Person, die guten Willens ist und nach der Tugend strebt, für Seneca immer noch zu den Nichtweisen bzw. Toren (stulti)172 – sie hat die Tugend ja noch nicht erworben. Er bekräftigt aber, dass sie „[...] durch einen großen Abstand von ihnen [den stulti] getrennt [ist]“ (magno tamen intervallo ab illis diducitur).173 Auch wenn die wegen ihres guten Willens moralisch fortschreitende Person für ihn also immer noch eine nichtweise und nicht etwa eine beinahe weise Person ist, lässt diese Bemerkung doch erkennen, dass er moralischen Fortschritt wertschätzt. Auf den ersten Blick könnte man daher meinen, dass er sich darin von den älteren Stoikern unterscheidet, die moralischen Fortschritt eher nüchtern betrachteten, worauf mehrere prominente Analogien hindeuten. So heißt es, dass ein Taucher, der nur eine Armlänge von der Wasseroberfläche entfernt ist, genauso wenig Luft holen kann wie einer, der sich viel weiter unten in der Tiefe befindet, und dass ein kleiner Hund, der kurz davor ist, seine Augen zu öffnen, nicht mehr sieht als ein frisch geborener Welpe.174 Mit der Tugend verhält es sich nun genauso: „[...] [E]iner, der ein Stück auf dem Weg zur Haltung der Tugend vorangekommen ist, [steckt] nicht weniger im Elend als derjenige, der überhaupt nicht vorwärts gekommen ist.“175 Seneca würde diesen Analogien zustimmen, weil er die Tugend ebenso für nicht gradualisierbar hält – sie wird mit einem Mal erworben und nicht Stück für Stück.176 Bedeutet der nüchterne Blick der älteren Stoiker auf moralische Fortschritte aber, dass sie sie für wertlos hielten? Unterscheidet sich Seneca von ihnen also in der Wertschätzung moralischer Fortschritte, sodass man Grund zur Annahme hätte, dass er in dieser Hinsicht vom altstoischen Rigorismus abrückt?177 Diogenes Laertios überliefert, dass die älteren Stoiker den bevorzugten Dingen einen Wert (ἀξία) zuschrieben.178 Für sie hat das einen Wert, was einen Beitrag zu einem übereinstimmenden Leben leistet (πρὸς τὸν ὁμολογούμενον βίον); desgleichen ist für sie eine Kraft und Nutzbarkeit von Wert, die zu einem naturgemäßen
s
172 173 174 175 176
177
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Vgl. Sen. epist. 75,8: [...] qui proficit, in numero quidem stultorum est [...]. Ebd., eig. Übers. Vgl. Cic. fin. 3,48. Vgl. ebd.: [...] qui processit aliquantum ad virtutis habitum nihilo minus in miseria est quam ille, qui nihil processit (Übers. Merklin). Die Peripatetiker sollen den moralischen Fortschritt dagegen als etwas verstanden haben, das zwischen Tugend und Laster liegt (προκοπὴ μεταξὺ ἀρετῆς καὶ κακίας, vgl. DL 7,127). Horn 2013, S. 91 vertritt diese Position: „Seneca gehört zu den Autoren, die den Rigorismus der hellenistischen Philosophen mit Blick auf den moralischen Fortschritt aufweichen. Er erkennt Fortschritte auch dann als relevant an, wenn jemand noch unterwegs zur vollen ‚Weisheit‘ ist und insofern noch als Fortschreitende(r) (proficiens), nicht als Weiser (sapiens) gelten muss.“ Vgl. DL 7,105. Ich danke Brad Inwood für diesen Hinweis.
Der impetus
191
Leben beiträgt.179 Auf dem geistigen Gebiet gehören zu den Dingen, die einen Wert haben, die gute natürliche Anlage (εὐφυΐα), die Kunstfertigkeit (τέχνη) und der moralische Fortschritt (προκοπή).180 Letzterer hat also auch für die älteren Stoiker einen Wert. Es wäre somit nicht richtig zu sagen, dass Seneca den altstoischen Rigorismus in Bezug darauf aufweicht.181 Ein Unterschied zu den älteren Stoikern zeigt sich dennoch: Seneca zufolge ist es genau genommen der hinter dem moralischen Fortschritt stehende gute Wille, der einen Wert hat, nicht der moralische Fortschritt selbst.182 3.2
Das Gewollte (voluntarium)
Laut Seneca ist nichts moralisch gut (wörtlich: „ehrenvoll“), was ungern und unter Zwang geschieht (nihil honestum est quod ab invito, quod a coacto fit).183 Jeder Zusatz von Trägheit, Klage, Zögerung und Furcht nimmt einer Handlung ihren moralischen Wert. 184 Es ist sogar das Wesensmerkmal der Torheit (stultitiae proprium), „[...] zögernd und widerspenstig zu tun, was man tut [ignave et contumaciter facere quae faciat], den Körper anderswohin in Bewegung zu setzen als die Seele und sich so voneinander divergierenden Bewegungen auseinanderziehen zu lassen“.185 Das moralisch Gute ist vielmehr gewollt (omne honestum voluntarium est).186 „Gewollt“ muss für Seneca positiv formuliert also bedeuten, dass man etwas gerne, aus eigenem Antrieb und entschlossen tut.187 Diese Bedeutung von
s
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180 181
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Vgl. DL 7,105. Obwohl unsere Glückseligkeit nicht davon abhängt, ob uns bevorzugte Dinge zuteilwerden oder nicht, erleichtern sie das Leben doch gewissermaßen. Das erkannten schon die älteren Stoiker und konnten ihnen deshalb nicht jeglichen Wert absprechen. Auch Seneca teilt diese Auffassung (vgl. Sen. dial. 7,22,4 [= vit. beat. 22,4]). Vgl. DL 7,106. Die Stelle bei Diogenes Laertios verdeutlicht zugleich, dass nicht erst Panaitios die Möglichkeit der προκοπή akzeptiert hat, wie Michael Erler meint (vgl. Erler 1999, S. 548). Meines Wissens schreibt er nirgends dem moralischen Fortschritt als solchem einen Wert zu. Vgl. Sen. epist. 66,16 sowie ebd., 82,18: [...] nihil honeste fit nisi cui totus animus incubuit atque affuit, cui nulla parte sui repugnavit („[...] von einer moralisch guten Handlung kann nur da die Rede sein, wo man mit ganzer Seele daran geht und dabei ist, dem man mit keinem Teil seiner selbst widerstrebt“, Übers. Rosenbach, modifiziert). Zur Übersetzung von honestum mit „moralisch“ bzw. „moralisch gut“ vgl. auch Annas 1993, S. 121, Fußn. 243 und beispielsweise Cic. fin. 1,61. Vgl. Sen. epist. 66,16. Vgl. ebd., 74,32, Übers. Apelt, modifiziert. Vgl. auch Sen. epist. 82,18. Vgl. ebd., 66,16. Man könnte sich fragen, ob auch der den Menschen und Tieren gemeinsame motus voluntarius so zu interpretieren ist (vgl. S. 161). Mir scheint dieser jedoch eher für die
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Die Ethik
„gewollt“ unterscheidet sich vom Gewollten eines Affekts, der deshalb gewollt* ist, weil seine Entstehung von einer Zustimmung abhängt, die in der Regel gegeben oder nicht gegeben werden kann.188 Etwas gewollt* zu tun, muss nicht bedeuten, dass es gewollt ist (ich könnte den mit einer Erscheinung von einem Unrecht verbundenen Aussagen ungern und zögerlich zustimmen, würde ihnen aber dennoch zustimmen). Umgekehrt ist ein gewolltes Tun zugleich auch gewollt*, da Handlungen nicht anders zustande kommen können als durch Zustimmungen. Eine Verbindung zwischen dem guten Willen und dem Gewollten wird von Seneca nicht eigens hergestellt. Deshalb nehme ich an, dass das Gewollte eine weitere Bedingung moralischen Fortschritts ist. Der Tugenderwerb soll nicht nur angegangen, sondern gerne, aus eigenem Antrieb und entschlossen angegangen werden. Dieser Aspekt muss beim Fällen richtiger Urteile berücksichtigt werden.189 Entsprechend seiner Bindung des moralisch Guten an das Gewollte empfiehlt Seneca, niemals etwas Externes als ein Übel (malum) anzusehen, so unangenehm (incommodum) es auch erscheinen mag.190 Das würde ein gewolltes Handeln nur erschweren, das aber gerade die Voraussetzung für ein moralisch gutes Handeln ist. Wenn man mit etwas Externem konfrontiert wird, soll man es am besten einfach wollen – sich ihm fügen –, selbst wenn es sich dabei um den eigenen Tod handelt. Auf diese Weise verliert es (a) seinen unausweichlichen Charakter: „Was für den Widerstrebenden unausweichlich sein wird, ist für den Wollenden nicht unausweichlich“ (quicquid necesse futurum est repugnanti, id volenti necessitas non est).191 Auf der anderen Seite (b) macht die gewollte Fügung in die äußeren Umstände moralisch gutes Handeln möglich. Seneca verleiht dem ersten Punkt am Beispiel eines Befehls noch eine weitere Nuance: Wer einen Befehl gern (libens) entgegennimmt, dem bleibt der bitterste Teil der Knechtschaft (pars acerbissima servitutis) erspart, nämlich zu tun, was er s
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grundsätzliche Fähigkeit zu stehen, sich aus eigenem Antrieb zu bewegen. Das voluntarium, das hier thematisiert wird, hat einen spezifischeren, moralischen Sinn – es geht nicht nur darum, sich aus eigenem Antrieb zu bewegen, sondern es gerne und entschlossen zu tun. Im Prinzip könnte man also von einem weiteren und einem engeren Sinn von „gewollt“ sprechen. Hier und im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird die engere Bedeutung im Fokus stehen. Vgl. S. 96. Ich spreche hier von gewollt*, um den Unterschied zum vorherigen Sinn von voluntarium sichtbar zu machen. Auch eine Verbindung zwischen dem guten Willen und dem Gewollten* wird von Seneca nicht eigens hergestellt. Es ist aber anzunehmen, dass der gute Wille gewollt* ist, wenn er ein geordneter und maßvoller Antrieb ist. Vgl. für diesen Punkt auch mein Schlusskapitel (S. 337–339). Vgl. Sen. epist. 66,17: Itaque qui honeste aliquid facturus est, quidquid opponitur, id etiam si incommodum putat, malum non putet [...] („Wer also moralisch handeln will, der darf, was auch immer sich ihm entgegenstellt, zwar als unangenehm empfinden, aber nicht für ein Übel halten [...]“, Übers. Apelt, modifiziert). Sen. epist. 61,3 (eig. Übers.).
Der impetus
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nicht will (facere quod nolit).192 Befehle werden „[…] umso drückender empfunden, je widerstrebender man sie hinnimmt“ (imperia graviora sentit quo contumacius patitur).193 Die externen Dinge zu wollen, bewirkt also nicht nur, dass sie aus subjektiver Perspektive ihren unausweichlichen Charakter verlieren, sondern auch, dass sie nicht mehr als aufoktroyiert wahrgenommen werden. Der Gedankengang, den Seneca in seinem Beispiel von der freudigen Befehlsannahme entwickelt, lässt sich in seinem Sinne noch fortsetzen, um ebenso den zweiten soeben gemachten Punkt wieder aufzunehmen: Wer etwas tut, das er nicht tun will – wie einen Befehl entgegenzunehmen, den er nicht entgegennehmen will –, der kann auch nicht moralisch gut handeln. Es ist sogar ein schlechter Soldat, wie er an einer Stelle anmerkt, wer seinem Feldherrn seufzend folgt (malus miles est qui imperatorem gemens sequitur).194 Wie man sich den externen Dingen gegenüber verhalten sollte, zeigt sich Seneca zufolge in einem Gebet des Kleanthes, das er im 107. Brief in seiner eigenen Übersetzung wiedergibt. In ihm sieht er seine Idee repräsentiert, dass das moralisch Gute zugleich etwas Gewolltes ist:195
s
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Vgl. Sen. epist. 61,3. Auch in ebd., 122,19 scheint er Gleiches sagen zu wollen. Dort schreibt er: „Wenn man ihr [der Natur] folgt, ist alles leicht und mühelos; wenn man sich ihr widersetzt, ist das Leben nicht anders, als wollte man gegen die Strömung rudern“ (Übers. Rosenbach). Diese Analogie und die vom Befehl haben viel Ähnlichkeit mit der Hund-Wagen-Analogie, deren Urheber nach Hippolytus von Rom Zenon und Chrysipp sind (vgl. Hippol. haer. 1,21,2 [= LS 62 A = SVF 2,975 = DG 571,11–16]; Bobzien 1998a, S. 354–357 argumentiert dagegen, dass die Hund-Wagen-Analogie auf die römische Stoa, in erster Linie auf Epiktet, zurückgeht [contra Sharples 2005]). Wie der Hund, der nicht mit dem Wagen mitlaufen will, wider Willen mit ihm mitlaufen muss, so muss auch der Soldat, der dem Befehl nicht folgen will, dem Befehl, und derjenige, der der Natur nicht folgen will, der Natur wider Willen Folge leisten. Sen. dial. 5,16,1 (= de ira 3,16,1), Übers. Wildberger, modifiziert. Vgl. Sen. epist. 107,9. Ebd., 107,11, Übers. Rosenbach, modifiziert. Der griechische Wortlaut des Gebets ist uns in dem Handbüchlein erhalten, das Arrian von den Vorträgen Epiktets zusammengestellt hat (vgl. Epikt. ench. 53). Es ist das erste von insgesamt vier Exzerpten, von denen das zweite aus einer unbekannten Tragödie des Euripides (vgl. Nauck TGF 965, S. 672 [= SVF 1,527]), das dritte aus Platons Kriton (vgl. Plat. Crit. 43d) und das vierte aus Platons Apologie stammt (vgl. Plat. apol. 30c–d) – die letzteren beiden Exzerpte gibt Arrian aber nicht wörtlich wieder. Der bei Seneca zu findende fünfte Vers fehlt jedoch in Epikt. ench. 53. Daraus haben einige geschlossen, dass ihn Arrian weggelassen hat, er aber im ursprünglichen Gebet des Kleanthes enthalten war – andere, dass ihn Seneca selbst hinzugefügt hat (vgl. Reynolds’ Bemerkung zu Sen. epist. 107,11: alii Cleanthi tribuunt, alii Senecae). Dass der Autor des Gebets Kleanthes ist, bezeugt Seneca selbst (vgl. ebd., 107,10) und außerdem Arrian in Epikt. diatr. 4,4,34. Vgl. zu Senecas Übertragung der ursprünglich griechischen Verse auch Perkams 2005, S. 72– 75.
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Die Ethik Duc, o parens celsique dominator poli, quocumque placuit: nulla parendi mora est; assum impiger. Fac nolle, comitabor gemens malusque patiar facere quod licuit bono. Ducunt volentem fata, nolentem trahunt. Führe, o Vater und Herrscher des hohen Himmels, wohin immer du willst: Ich zögere nicht zu gehorchen; da bin ich, unverdrossen. Gesetzt, ich wollte nicht – folgen werde ich dir seufzend und als Schlechter erleiden, was zu tun mir als Guter freistand. Den, der will, führt das Schicksal, den der nicht will, schleift es mit sich.
So wie Kleanthes in seinem Gebet spricht, so sollen wir leben und sprechen.196 Die Seele ist groß (hic est magnus animus), die sich dem Schicksal entschlossen (paratus) und unverdrossen (impiger) – es wollend – übergibt (se ei tradere). Klein und verkommen (pusillus et degener) ist dagegen derjenige, der gegen es ankämpft (obluctatur), es also nicht will. Ob er sich ihm übergibt oder nicht, steht dabei nicht zur Debatte, das muss er so oder so, weil sich das Schicksal nicht abwenden lässt. Es geht ausschließlich darum, wie er es tut – danach bestimmt sich die moralische Qualität seiner Handlung. Beispielhaft im Umgang mit den externen Dingen ist aus Senecas Sicht das Verhalten der Weisen. Denn genau sie gehören zu jenen, die nicht von der fortuna mitgeschleift werden, sondern ihr gerne folgen und mit ihr Schritt halten (non trahuntur a fortuna, sequuntur illam et aequant gradus).197 Könnten sie die Dinge, die ihnen widerfahren werden, voraussehen, würden sie ihnen sogar gerne entgegengehen.198 Um deutlich zu machen, was er damit meint, zitiert Seneca aus dem Gedächtnis den kynischen Philosophen und seinen Zeitgenossen Demetrios.199 Er soll gesagt haben, dass er den Göttern nur eine einzige Sache vorgeworfen hat: dass sie ihn immer vor vollendete Tatsachen stellen und ihm nicht schon vorher ihren Willen kundtun. Täten sie dies, könnte er ihnen das, was er ihnen ohnehin gerne übergeben würde, schon gerne anbieten und so im Prinzip noch beispielhafter handeln. Wüsste er, dass sie ihm seine Kinder nehmen wollen, würde er ihnen sagen: „Für euch habe ich sie großgezogen.“ Wüsste er, dass sie ein Teil seines Körpers wollen, würde er ihnen sagen: „Nehmt ruhig.“ Auch wenn er wüsste, dass sie ihm nach dem Leben trachten, würde er ihnen klar machen, dass er keinerlei Bedenken trägt, es herzugeben. s
196 197
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Vgl. Sen. epist. 107,12, auch im Folgenden. Vgl. Sen. dial. 1,5,4 (= de prov. 5,4). Eigentlich stehen bei den Verben im Lateinischen keine Adverbien. Ich verwende im Deutschen dennoch jeweils eines, weil ich glaube, dass Senecas Gedanke so deutlicher wird. So interpretiere ich Senecas lakonische Äußerung: […] si scissent, antecessissent („Wenn sie [die Weisen] sie [die fortuna] gekannt hätten, wären sie ihr entgegengegangen“, Sen. dial. 1,5,4f. [= de prov. 5,4f.], eig. Übers.). Vgl. hier und im Folgenden Sen. dial. 1,5,5f. (= de prov. 5,5f.).
Der impetus
3.3
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Schlechte impetus vermeiden oder heilen – die remedia
Die Kenntnis des axiologischen Grundsatzes und bestimmter Vorschriften, ein guter Wille und gewolltes Handeln sind für Seneca notwendige Voraussetzungen für die Erlangung der Tugend. Bis es zum Tugenderwerb kommt, können wir aber, weil wir ja noch nicht tugendhaft sind, scheitern und in Affekte geraten. Solange das geschieht, bewegen wir uns vom Ziel des Tugenderwerbs weg. Affekte stören die Seelenruhe und führen auf Dauer zu Lastern.200 Die praktische Konsequenz lautet deshalb, dass wir keine Affekte haben dürfen. Doch wie lässt sich das erreichen? Seneca bietet uns hierfür verschiedene „Hilfsmittel“ oder „Heilmittel“ (remedia) an, mit denen wir bei uns selbst oder bei unseren Mitmenschen entweder die Entstehung von Affekten von vornherein verhindern oder die Wirkung bereits ausgebrochener Affekte lindern können.201 Ich möchte die ersteren „affektpräventive Techniken“ und die letzteren „affekttherapeutische Techniken“ nennen. Einige affektpräventive Techniken finden Seneca zufolge schon in der Erziehung Anwendung (mehr dazu im nächsten Unterabschnitt). Gewöhnlich sind die von ihm vorgestellten affektpräventiven und affekttherapeutischen Techniken aber für erwachsene (nichtweise) Menschen gedacht, die im Vollbesitz ihrer kognitiven Fähigkeiten sind (siehe Unterabschnitte 3.3.2 bis 3.3.8). Der theoretische Hintergrund für ihre Anwendung scheint das Modell der drei Affektbewegungen zu sein, wie sich aus Senecas Schrift De ira schließen lässt.202 Es macht verständlich, in welchem Moment welche Technik zum Einsatz kommen soll. s
200 201
202
Vgl. für den letzteren Punkt S. 154, Fußn. 611 und 612. Mit Blick auf den Affekt der Wut vgl. Sen. dial. 4,18,1 (= de ira 2,18,1): Duo [sc. remedia] autem, ut opinor, sunt: ne incidamus in iram, et ne in ira peccemus („Zwei [Hilfsmittel] aber gibt es, wie ich meine: damit wir nicht in Wut geraten, und damit wir im Zustand der Wut nichts moralisch Falsches tun“, eig. Übers.). Vgl. darüber hinaus – ebenfalls in Bezug auf die Wut – Sen. dial. 5,5,2 (= de ira 3,5,2): Sed cum primum sit non irasci, secundum desinere, tertium alienae quoque irae mederi, dicam primum quemadmodum in iram non incidamus, deinde quemadmodum nos ab illa liberemus, novissime quemadmodum irascentem retineamus placemusque et ad sanitatem reducamus („Weil es aber zuerst gilt, nicht in Wut zu geraten, dann [falls man doch in sie geraten sollte], sich von ihr zu lösen, und schließlich auch fremde Wut zu heilen, werde ich zuerst sagen, wie wir nicht in Wut geraten, danach, wie wir uns von ihr befreien, und schließlich, wie wir einen Wütenden zurückhalten, beruhigen und zur geistigen Gesundheit zurückführen können“, eig. Übers.). Für den unter den Stoikern getroffenen Unterschied zwischen affektpräventiven und affekttherapeutischen Techniken vgl. auch Inwood/Donini 2002, S. 712: „So far as the treatment of passions is concerned, the Stoics seem to have identified two basic methods: prevention, i.e., stopping passions from arising; and actual therapy, i.e., treating a symptom which has already appeared.“ Dass er sein Modell der drei Affektbewegungen (vgl. Sen. dial. 4,4,1 [= de ira 2,4,1]) als theoretischen Hintergrund für die von ihm vorgestellten affektpräventiven und affekttherapeutischen Techniken versteht, wird in De ira insbesondere daran deutlich, dass er es entwickelt, ehe er sie vorstellt.
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Die Ethik
Dem Modell der drei Affektbewegungen entsprechend lassen sich die zur Selbstanwendung und teilweise auch zur Fremdanwendung vorgesehenen affektpräventiven Techniken nochmals unterteilen – in solche, die einzusetzen sind, noch bevor es zur Auslösung eines Voraffektes durch eine Erscheinung gekommen ist (Typ 1), und solche, die einzusetzen sind, nachdem es zur Auslösung eines Voraffektes durch eine Erscheinung gekommen ist (Typ 2). Die affektpräventiven Techniken ersteren Typs haben zum Teil den Zweck, die Entstehung von starken Voraffekten unwahrscheinlicher zu machen und auf diese Weise affektpräventiv zu wirken (denn wenn ein Voraffekt nicht ganz so stark ausfällt, dann scheint auch die Versuchung geringer zu sein, der im Anschluss an sein Aufkommen faktisch formulierten konstatierenden Aussage zuzustimmen). Die affektpräventiven Techniken letzteren Typs sollen dagegen dabei behilflich sein, den Aussagen, die mit einer voraffektauslösenden Erscheinung verbunden sind, nicht zuzustimmen, um so die Entwicklung eines Voraffekts zu einem Affekt zu unterbinden.203 Beide Typen affektpräventiver Techniken haben für Seneca gegenüber den affekttherapeutischen Techniken Vorrang: Einen Affekt nicht zur Entstehung kommen zu lassen, bedeutet immer zugleich auch, etwas zu vermeiden, das schlecht für den eigenen oder fremden Geist ist. Sollte ein Affekt aber doch ausbrechen, kommen die affekttherapeutischen Techniken zum Tragen. Sie sind weniger zur Selbst- als zur Fremdanwendung vorgesehen, was einen einfachen Grund hat: Bricht bei uns selbst ein Affekt aus, werden wir von seiner Exzessivität zunächst fortgerissen. In diesem Zustand ist unsere Vernunft in ihrer praktischen Funktion eingeschränkt, sodass wir aus eigener Kraft nur schwer Maßnahmen gegen ihn einleiten können. Sind wir selbst jedoch nicht von einem Affekt betroffen, sondern eine andere Person, können wir ihr ohne Probleme helfen, da unsere Vernunft ja voll funktionsfähig ist. Viele der affektpräventiven und affekttherapeutischen Techniken, die Seneca vorstellt, dienen der Vermeidung und Befreiung von Wut. Er schließt aber nicht aus, dass einige von ihnen mutatis mutandis auch in anderen affektiven Konfliktlagen angewandt werden können.204 Ziel ist es im Folgenden, auf Grundlage seiner Schriften einen Katalog der wichtigsten affektpräventiven und affekttherapeutischen Techniken anzufertigen, in dem sie jeweils unter Berücksichtigung ihres Objekts – der eigenen oder der anderen Person – und des Moments ihrer Anwen-
s
203
204
Man könnte hier natürlich fragen, welcher dieser Aussagen die Zustimmung verweigert werden soll – der faktisch formulierten konstatierenden, der kontrafaktisch formulierten konstatierenden oder der normativen Aussage (vgl. S. 109f.)? Ich denke, dass die Zustimmung so früh wie möglich verweigert werden sollte. Bestenfalls stimmt man schon der faktisch formulierten konstatierenden Aussage nicht zu, um die Entwicklung eines Affekts gar nicht erst in Gang zu setzen. Ich verstehe „affektiv“ hier in einem weiten Sinne als Ausdruck, der alle Affektstadien umfasst.
Der impetus
197
dung vorgestellt werden. Bei den affekttherapeutischen Techniken wird dabei (sofern nicht eigens explizit gemacht) stets ein Stadium der Affektbeherrschtheit vorausgesetzt, das ihre Anwendung sinnvoll erscheinen lässt. 3.3.1 Formung und Formbarkeit der individuellen geistigen Natur Um schon frühzeitig Vorsichtsmaßnahmen gegen Affekte zu treffen, empfiehlt sich aus Senecas Sicht eine gut durchdachte Erziehung (educatio),205 die auf die natürlichen, angeborenen Charaktereigenschaften des Heranwachsenden abgestimmt ist. Er vertritt dabei wie alle Stoiker eine materielle Theorie der Seele. Auch er geht davon aus, dass die Seele aus Pneuma (spiritus) besteht.206 In einem Punkt scheint er aber von den älteren Stoikern abzuweichen: Während sie annahmen, dass sich das Pneuma der Seele aus zwei Elementen (στοιχεῖα) zusammensetzt, nämlich Feuer und Luft,207 ist er der Überzeugung, dass sie aus vier Elementen (elementa) besteht: Feuer, Wasser, Luft und Erde208 – denselben Elementen, die nach allgemeinstoischer Auffassung die gesamte Welt konstituieren.209 Orthodox ist wiederum, dass Seneca jedem dieser Elemente eine bestimmte Kraft (potestas) zuschreibt: Feuer ist heiß, Wasser feucht, Luft kalt und Erde trocken.210 s
205 206 207
208 209
210
Vgl. Sen. dial. 4,18,2 (= de ira 2,18,2). Vgl. Sen. epist. 50,6 und S. 106, Fußn. 367. Vgl. Gal. PHP 5,3,8 (= LS 47 H). Nach Cicero vertritt insbesondere der Mittelstoiker Panaitios diese Auffassung ([animus] ex inflammata anima constat, ut potissimum videri video Panaetio, Cic. Tusc. 1,42). Zenon ist ihm zufolge der Ansicht, dass (ausschließlich?) Feuer die Substanz (genus) der Seele ist (Zeno id dixit esse ignem, Cic. fin. 4,12). Vgl. Sen. dial. 4,19,1f. (= de ira 2,19,1f.). Vgl. exemplarisch Areios Didymos bei Stob. anthol. 1,129,2–6 (= LS 47 A 1f.) und Cic. fin. 4,12 (Cicero nennt die vier Elemente aber nicht beim Namen). Dass Senecas Zuordnung der potestates zu den Elementen dergestalt war, ergibt sich, wenn man der Manuskriptfamilie γ folgt (vgl. Reynolds’ kritischen Apparat zu Sen. dial. 4,19,1). Reynolds nimmt deren Lesart jedoch nicht in seinen Text auf, wahrscheinlich weil γ als stark verderbt und interpoliert gilt (vgl. S. xvi in seiner Ausgabe von Senecas Dialogi). Er druckt: Nam cum elementa sint quattuor, ignis aquae aëris terrae, potestates his sunt, fervida frigida arida atque umida („Denn da es vier Elemente gibt – Feuer, Wasser, Luft und Erde –, gibt es auch gleich viele Kräfte – die glühend heiße, die kalte, die trockene und die feuchte“, Übers. Wildberger). Nach Reynolds’ Text ist für Seneca also Feuer heiß, Wasser kalt, Luft trocken und Erde feucht. Von den älteren Stoikern heißt es dagegen, sie bezeichneten Wasser als feucht, Luft als kalt und Erde als trocken (vgl. DL 7,137 [= LS 47 B]; für die Bezeichnung der Luft als kalt vgl. auch Gal. PHP 5,3,8 [= LS 47 H]). Da es aus meiner Sicht keinen guten Grund gibt, warum Seneca hier etwas anderes behaupten sollte als die älteren Stoiker, schlage ich vor, der Lesart von γ zu folgen, auch wenn γ als weniger zuverlässig gilt. Jula Wildberger hält an Reynolds Text fest, obwohl sie der Ansicht ist, dass für Seneca wie für die älteren
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Die Ethik
Außerdem denkt er ebenso wie die älteren Stoiker, dass die Elemente in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen auftreten können, die festlegen, von welcher Eigenart Orte (loca), Lebewesen (animalia), Körper (corpora) oder Charaktertypen (mores) sind.211 So wie es von Natur aus heiße, feuchte, kalte und trockene Gegenden gibt, so gibt es von Natur aus unter Tieren und Menschen heiße, feuchte, kalte und trockene Charaktertypen. 212 Überwiegt in der Seele eines Menschen etwa das heiße Element, neigt er zum Jähzorn, weil Feuer hoch aktiv (actuosus) und hartnäckig (pertinax) ist; überwiegt das kalte Element, ist er eher ängstlich, weil Kälte träge (pigrum) und starr (contractum) ist.213 Zwar kann man an der natürlichen Elementkonstellation des menschlichen Geistes214 für sich genommen nichts mehr ändern – sie liegt mit der Geburt vor.215 Es ist aber möglich, sie frühzeitig zu erkennen und Einfluss auf dasjenige Charakterelement zu nehmen, das zu stark ausgeprägt ist. Einem von Natur aus feurigen und dadurch hoch aktiven und hartnäckigen Charakter soll zum Beispiel kein Wein gegeben werden,216 denn das hätte zur Folge, dass seine Hitze gesteigert und die durch sie hervorgerufenen Eigenschaften verstärkt würden.217 Anstrengende Aufgaben können die charakterliche Hitze senken.218 Allerdings sollten sie nicht s
211
212 213 214
215 216 217
218
Stoiker Feuer heiß, Wasser feucht, Luft kalt und Erde trocken war (vgl. Wildberger 2006, S. 61). Nach ihrer Erklärung passt Senecas Aufzählung der potestates nicht zu seiner Aufzählung der Elemente, weil er bei den Elementen direkt aufeinanderfolgende Reime vermeiden, wegen ihrer Formschönheit aber dennoch nicht die Reihenfolge der potestates aufgeben wollte, die eine Alliteration, eine Assonanz und einen Dikretikus ergebe (vgl. ebd., Fußn. 367). Eine wahrscheinlichere Erklärung, wenn man γ nicht folgen will, ist meines Erachtens, dass Seneca ein Fehler unterlaufen ist, den ein späterer Korrektor beheben wollte. Vgl. Sen. dial. 4,19,1 (= de ira 2,19,1). Dass die Temperamente ihren Ursprung in den natürlichen Eigenschaften der Seele haben, ist eine Überzeugung, die Galen später mit Vehemenz vertritt (vgl. Gal. QAM). Vgl. Sen. dial. 4,19,1f. (= de ira 2,19,1f.). Vgl. Sen. dial. 4,19,2 (= de ira 2,19,2). Christina Kreuzwieser nennt diese Konstellation „besondere Natur des Einzelnen“ (vgl. Kreuzwieser 2016, S. 115). Sie grenzt sie von der allgemeinen menschlichen Natur ab, die alle Menschen wegen ihrer Vernunft teilen (vgl. ebd., S. 1f.). Vgl. Sen. dial. 4,20,2 (= de ira 2,20,2). Vgl. ebd. Vgl. Sen. dial. 4,19,5 (= de ira 2,19,5): Vinum incendit iras, quia calorem auget [...] („Wein feuert Wutaffekte an, da er die Hitze steigert“, Übers. Wildberger). Seneca beruft sich in diesem Zusammenhang auf Platon, dessen Figur des Atheners im zweiten Buch der Nomoi den als Frage formulierten Vorschlag macht (vgl. Plat. leg. 2,666a1– 6, Übers. Schleiermacher): „Wie wäre es, wenn wir ein Gesetz aufstellten, dass zunächst Knaben bis zu achtzehn Jahren den Wein ganz und gar nicht kosten sollen, indem wir sie lehren, dass sie nicht zu dem Feuer, welches bereits in ihrem Körper und ihrer Seele glüht, noch neues Feuer hinzuleiten dürfen [...]?“ Vgl. Sen. dial. 4,20,3 (= de ira 2,20,3).
Der impetus
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zu anstrengend sein, damit die Hitze nicht gelöscht wird, die im reduzierten Zustand für Seneca durchaus eine Gabe darstellt.219 Auch Spiele (lusus) sind im Falle des feurigen Charakters von großem Nutzen, da maßvolles Vergnügen entspannt und ausgeglichen macht und insofern abkühlt.220 Ein anderes Mischungsverhältnis der Charakterelemente bedarf wieder einer anderen Erziehungsmethode. Ein von Natur aus kalter Charakter etwa, der wegen des in ihm überwiegenden kalten Elements eher träge und starr ist, muss weichgemacht und angewärmt werden, indem man ihn in Heiterkeit (laetitia) versetzt.221 Wie diese Fälle zeigen, besteht die große Kunst der Erziehung für Seneca darin, das individuelle Mischungsverhältnis der Charakterelemente zu erkennen und daran das Erziehungskonzept anzupassen. Eine weitere Herausforderung entsteht bei der Schwächung bzw. Stärkung eines Charakterelements. Wird ein zu stark ausgeprägtes Charakterelement zu wenig geschwächt oder ein zu schwach ausgeprägtes zu wenig gestärkt, riskiert man, dass ein Kind im Laufe seines Lebens eher bestimmte Laster entwickelt: Ein zu geringfügig reduzierter Überfluss an Feuer erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Ausbildung von Jähzorn; bei einem zu geringfügig reduzierten Überfluss an Feuchtem, Trockenem oder Kaltem sind trägere Laster (inertiora vitia) zu befürchten.222 Gleichzeitig darf ein zu stark ausgeprägtes Charakterelement nicht zu sehr geschwächt und ein zu schwach ausgeprägtes nicht zu sehr gestärkt werden – das würde nur zu einer Verschiebung des Überflusses bzw. Mangels führen. Die Formung der individuellen geistigen Natur kommt als affektpräventive Technik laut Seneca aber nur in der Erziehung in Betracht.223 Im Erwachsenenalter verliert sie ihre Bedeutung: „Was uns betrifft, so kann das, was uns bei unserer Geburt mitgegeben wurde, sowie unsere Erziehung nicht mehr zu neuen Lastern
s
219 220 221
222 223
Vgl. Sen. dial. 4,21,1 (= de ira 2,21,1). Vgl. Sen. dial. 4,20,3 (= de ira 2,20,3). Vgl. Sen. dial. 4,20,4 (= de ira 2,20,4). Die laetitia kann hier kein gutes Gefühl im stoischen Sinne sein, da es um Kinder geht, deren Vernunft noch nicht weit genug entwickelt ist, um einen moralischen Charakter haben zu können. Vgl. ebd. Vgl. Sen. dial. 4,22,1 (= de ira 2,22,1): Sed haec ad liberos nostros pertinent [...] („Das bisher Gesagte kann natürlich nur unsere Kinder betreffen“, Übers. Wildberger). Der Ausdruck der „individuellen geistigen Natur“ ist an Asmis 1990, S. 228 angelehnt, die allerdings nur von „individual nature“ spricht; Kreuzwieser 2016 zieht es vor, von „besonderer Natur“ zu sprechen (vgl. ebd., S. 198, Fußn. 214), ohne jedoch (wie Asmis) hinreichend zwischen einer besonderen geistigen und einer besonderen körperlichen Natur zu unterscheiden. Nur an einer Stelle scheint Kreuzwieser eine solche Differenzierung vorzunehmen, wenn sie sagt, der Mensch müsse sich laut Seneca richtig zu seiner „animalischen natura“ verhalten, zu der alle besonderen körperlichen und geistigen Eigenschaften gehörten, „[...] die abzüglich der ratio übrig bleiben“ (vgl. ebd., S. 57).
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führen oder Gegenstand von Unterweisung sein.“224 Seneca scheint damit zweierlei sagen zu wollen: (1) Die Erziehung ist bei Erwachsenen abgeschlossen, deswegen kann sie sich auch nicht mehr nachteilig auf deren individuelle geistige Natur auswirken. Und (2) Alle Fehler, die dabei gemacht wurden, und ihre Folgen können nicht mehr korrigiert werden.225 Die individuelle geistige Natur hat im Erwachsenenalter eine feste Form angenommen. Dass sich ihre Flexibilität einstellt, lässt sich gut anhand des 52. Briefes nachvollziehen. In Anlehnung an Epikur spricht Seneca dort von drei Typen moralisch Fortschreitender, die sich hinsichtlich ihrer individuellen geistigen Natur (ingenium) voneinander unterscheiden. Zum einen gibt es erwachsene Menschen, die aus eigenem Antrieb tugendhaft werden; zum anderen solche, die es nicht allein schaffen, sondern jemanden benötigen, der eine Vorbildfunktion einnimmt. 226 Epikur führte wohl Metrodor als Beispiel für einen Vertreter des zweiten Typs an. Seneca meint, er und Lucilius könnten froh sein, wenn auch sie ihm zugeordnet werden. Zum dritten Typ moralisch Fortschreitender gehören schließlich erwachsene Menschen, denen ein Vorbild allein nicht genügt – sie benötigen jemanden, der sie zum Rechten zwingt. Epikur nannte hier wohl Hermarch als Beispiel.227 Nach Seneca hat er sowohl ihn als auch Metrodor für die Zielerreichung gelobt, Hermarch aber noch etwas mehr, weil er einen „schwierigeren Stoff“ (difficilior materia) überwinden musste.228 Um Lucilius noch deutlicher vor Augen zu führen, wie die individuelle geistige Natur den Prozess der moralischen Entwicklung mitbestimmt,229 stellt Seneca zusätzlich eine Analogie her.230 Im Prinzip ist die Weisheit wie ein Haus und der natürliche Charakter wie die Bedingungen, unter denen es gebaut wird. Der eine findet einen soliden Boden vor, auf dem er problemlos bauen kann; der andere muss sich mit einem weichen und morastigen zufriedengeben, der für den Baus
224
225 226 227 228
229
230
Vgl. Sen. dial. 4,22,1 (= de ira 2,22,1): [...] in nobis quidem sors nascendi et educatio nec vitii locum nec iam praecepti habet [...] (Übers. Wildberger). Vgl. auch Malchow 1986, S. 230, der die Textstelle ähnlich interpretiert. Vgl. Sen. epist. 52,3. Vgl. ebd., 52,4. Vgl. ebd. Es ist nicht ganz verständlich, warum Epikur die Vertreter des ersten Typs dann am meisten gelobt haben soll (vgl. ebd., 52,3): [...] hos maxime laudat quibus ex se impetus fuit, qui se ipsi protulerunt [...] („[...] sie lobt er am meisten, die einen eigenen Antrieb hatten, die sich selbst vorangebracht haben [...]“, Übers. Rosenbach). Eigentlich verdienten sie doch am wenigsten Lob, weil ihre Natur von allen die regierbarste war. Vermutlich meinte Epikur eher, dass sie mit ihrer Natur am meisten Glück hatten. Für diese Deutung spricht Sen. epist. 52,4: Itaque alteri magis gratulatur [sc. Epicurus], alterum magis suspicit („Daher hat er [Epikur] den einen mehr beglückwünscht, den anderen mehr anerkannt [...]“, Übers. Rosenbach, eig. Herv.). Vgl. Kreuzwieser 2016, S. 107: „Das ingenium wird hier als ein die sittliche Entwicklung determinierender Faktor ausgewiesen.“ Vgl. ab hier Sen. epist. 52,5.
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prozess viel zusätzliche Mühe bedeutet. Am Ende weisen die Häuser keinen qualitativen Unterschied auf – beide sind gleich hoch und gleich prächtig. Der Weg bis zu ihrer Fertigstellung gestaltete sich für den Baumeister, der auf einem weichen Boden bauen musste, aber schwieriger. Daher gebührt ihm mehr Anerkennung. 231 Der andere Baumeister kann sich dagegen glücklicher schätzen, weil seine Ausgangslage günstiger war. Senecas Darstellung der dreigegliederten Typologie Epikurs und seine Baumeisteranalogie geben zu erkennen, dass die individuelle geistige Natur mit Erreichen des Erwachsenenalters zu einer festen Größe im moralischen Entwicklungsprozess wird. In dieser Lebensphase kann sie nicht mehr verändert werden, man kann sich ihr gegenüber nur in bestimmter Weise verhalten. Die Epikureer Hermarch und Metrodor und im übertragenen Sinne auch der weniger begünstigte Baumeister sind Beispiele für erwachsene Menschen, die sich ihrer individuellen geistigen Natur gegenüber richtig verhalten haben: Sie konnten sie überwinden und trotz ihres erschwerenden Einflusses ihr Ziel erreichen. 3.3.2 Affektpräventive Techniken für den Moment vor einem Voraffekt 3.3.2.1 Selbsteinschätzung Bei Hermarch, Metrodor und im übertragenen Sinne ebenso bei dem weniger begünstigten Baumeister lässt Seneca offen, auf welchem Wege sie genau mit ihrer individuellen geistigen Natur fertiggeworden sind (wir erfahren nur, dass sie mit ihr fertiggeworden sind). Ausgeschlossen ist, dass sie direkt auf sie einwirkten und die Zusammenstellung ihrer Elemente veränderten – Seneca geht ja davon aus, dass die individuelle geistige Natur im Erwachsenenalter eine feste Form annimmt und von da an nicht mehr verändert werden kann. Es muss aus seiner Sicht also einen anderen Weg gegeben haben, einen, der nicht auf ihre materielle Umformung abzielte. Wie er ausgesehen haben könnte, lässt sich aus dem neunten sogenannten Dialogus herausarbeiten, der den Titel „Über die Seelenruhe“ (De tranquillitate animi) trägt. Anders als sonst lässt Seneca den Adressaten der Schrift zu Beginn selbst zu Wort kommen. 232 Serenus, dem fernerhin De constantia sapientis und wahrscheinlich auch De otio gewidmet ist,233 tritt mit einem persönlichen Anliegen an Seneca heran und bittet ihn um Hilfe. Er habe bei sich durch Selbstbefragung einige Laster (vitia) entdeckt, von denen die einen unmittelbar einsichtig sind (in aperto posita), die anderen verborgen und entlegen (obscuriora et in recessu), und s
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Vgl. Sen. epist. 52,6, auch im Folgenden. Für die Annahme, dass es sich dabei um einen Brief handelt, gibt es keine formalen Indizien (vgl. Mutschler 2014, S. 154). Vgl. ebd., S. 153.
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wieder andere einen intervallartigen Charakter haben (ex intervallis redeuntia).234 Die letzteren empfindet er als besonders lästig und vergleicht sie mit Feinden, die nur bei Gelegenheit und vereinzelt angreifen, sodass man weder gerüstet ist wie im Krieg noch sicher wie im Frieden.235 Auch wenn Serenus’ Lage nicht ernst ist, macht er sich dennoch Sorgen, dass sich sein psychischer Zustand verschlimmern könnte,236 und darum will er unbedingt etwas unternehmen. Wie er offen zugibt, fällt es ihm schwer, in Worte zu fassen, was ihm genau zu schaffen macht.237 Am ehesten könne er von einer Schwäche der Seele (infirmitas animi) sprechen, die sich darin äußert, dass sie in zwei Richtungen schwankt (inter utrumque dubii): Weder sei sie zum Rechten entschlossen noch gebe sie sich dem Verkehrten hin (nec ad recta fortiter nec ad prava vergentis).238 Weil Serenus es nicht besser ausdrücken kann, versucht er sein Problem anhand von drei Themen aus seinem eigenen Leben zu erläutern. Seneca kann dann selbst versuchen, es begrifflich auf den Punkt zu bringen. Zuerst spricht Serenus über seine Einstellung zum Thema Sparsamkeit (parsimonia).239 Er schätze sich als außerordentlich sparsamen Menschen ein. Ihm gefalle kein prächtig hergerichtetes Lager, kein elegantes Gewand aus einem Zierkasten, das mit künstlichen Mitteln zum Glänzen gebracht wurde; keine aufwendige und exotische Mahlzeit – sondern eine, die sich schnell zubereiten lässt und aus leicht zu beschaffenden Zutaten besteht. Auch gefalle ihm ein einfacher Diener, ebenso das schwere Silberbesteck des bäuerlichen Vaters und ein schnörkelloser, ausschließlich zum Gebrauch bestimmter Holztisch. Trotz dieser Affinität zur Sparsamkeit übt der Prunk einiger Dinge eine große Anziehungskraft auf ihn aus (praestringit animum).240 Zu ihnen gehören die stattlichen Einrichtungen, in denen junge Sklaven für ihren zukünftigen Dienst ausgebildet werden; außerdem seien da noch die schmuckvoll gekleidete Dienerschaft und das Haus, das innen und außen mit Kostbarkeiten übersät ist. Wenn er all das sieht, kehre er zwar nicht schlechter, aber trauriger nach Hause zurück.241 Dort bewege er sich dann nicht mehr so selbstbewusst; seine Umgebung komme ihm auf einmal armselig
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Vgl. Sen. dial. 9,1,1 (= de tran. an. 1,1). Vgl. Sen. dial. 9,1,1f. (= de tran. an. 1,1f.). Vgl. Sen. dial. 9,1,3 (= de tran. an. 1,3). Vgl. Sen. dial. 9,1,4 (= de tran. an. 1,4). Vgl. ebd. Etwas später spricht Serenus von einer Schwäche des gutgesinnten Charakters (bonae mentis infirmitas) und von einem Hin-und-Herschwanken (fluctuatio; vgl. Sen. dial. 9,1,15 und 17 [= de tran. an. 1,15 und 17]). Vgl. hier und im Folgenden Sen. dial. 9,1,5–7 (= de tran. an. 1,5–7). Vgl. hier und im Folgenden Sen. dial. 9,1,8 (= de tran. an. 1,8). Vgl. Sen. dial. 9,1,9 (= de tran. an. 1,9).
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vor.242 Und leise beginne der Zweifel an ihm zu nagen, ob der ganze Prunk nicht eigentlich doch besser als Sparsamkeit ist.243 Anschließend kommt Serenus auf seine Lebensform zu sprechen.244 Ihm gefalle es, politisch aktiv zu sein und Ämter zu übernehmen, um Freunden, Verwandten, Bürgern, ja allen Menschen dienlicher sein zu können (dazu hätten sogar Zenon, Kleanthes und Chrysipp aufgefordert, obwohl sie einer philosophischen Tätigkeit den Vorzug gegeben haben)245. Sobald ihn dabei aber etwas erschüttert, eine Sache zu langsam vorangeht oder zu viel Zeit in Anspruch nimmt, ziehe er sich aus der Politik zurück und wende sich der Muße zu (ad otium convertor). In dieser Phase vertiefe er sich, abgeschottet vom Rest der Welt, ganz in sich selbst, indem er liest und anderen geistigen Aktivitäten nachgeht, bis ihm eine kraftvolle Lektüre wieder zu neuem Mut verhilft. Dann wolle er sofort wieder politisch aktiv sein und eile auf das Forum, um den Leuten zu helfen, egal ob sie davon Nutzen haben oder nicht. Zuletzt beschreibt Serenus eingehender, wie er es mit dem wissenschaftlichen Arbeiten hält (in studiis).246 Eigentlich plädiere er für eine Vorgehensweise, bei der das Problem und nicht die Sprache im Mittelpunkt steht. Es solle nur so viel gesagt werden, wie erforderlich ist, und kein Wort mehr.247 Andererseits, wenn ihm einmal ein Gedanke kommt, der ihn fasziniert, lasse er sich hinreißen zu gewagten und schillernden Formulierungen. Seine Sprache sei dann nicht mehr dem Problem unterstellt, sondern ganz und gar Ausdruck seiner Inspiration. Er spreche dann eine höhere Sprache, wie ein Dichter. Wider Erwarten versucht Seneca Serenus’ psychisches Problem nicht theoretisch zu erfassen und begrifflich dingfest zu machen. Er denkt lediglich darüber nach (und hat, wie er bekanntgibt, schon länger darüber nachgedacht), womit er es vergleichen könnte. 248 Das Fehlen einer eingehenden theoretischen Analyse mag mehrere Gründe haben. Vermutlich weiß Seneca, dass Serenus kein Philosoph ist und will ihn deshalb nicht überfordern. Mit Vergleichen kann er komplexe Sachverhalte schnell verständlich machen, ebenso dürfte er sich ihrer psychologischen Wirkung bewusst sein: Sie machen Eindruck, im positiven wie im negativen Sinne. Im vorliegenden Fall stellt Seneca eine Parallele zur Medizin her: Serenus’
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Vgl. Sen. dial. 9,1,9 (= de tran. an. 1,9). Wörtlich erfassen ihn leiser Biss und Zweifel (tacitusque morsus subit et dubitatio, vgl. ebd. Vgl. hier und im Folgenden Sen. dial. 9,1,10–12 (= de tran. an. 1,10–12). Zur politischen Inaktivität Zenons, Kleanthes’ und Chrysipps vgl. auch Sen. dial. 8,6,5 (= Sen. de ot. 6,5). Vgl. hier und im Folgenden Sen. dial. 9,1,13f. (= de tran. an. 1,13f.). Serenus scheint zu denken, dass man so keine Bücher schreibt, die auch noch in weiter Zukunft bekannt sind. Außerdem ist aus seinen Worten herauszuhören, dass er eine solche Arbeitsweise für weniger mühevoll hält. Vgl. hier und im Folgenden Sen. dial. 9,2,1 (= de tran. an. 2,1).
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Geisteszustand (affectus animi) ist mit dem Gesundheitszustand von Patienten vergleichbar, die eine lange und schwere Krankheit überstanden haben, aber trotzdem hin und wieder von leichten Fieberanfällen und anderen geringfügigen Krankheitsattacken heimgesucht werden. In einem weiteren, noch bildhafteren Vergleich, der wiederum zur Veranschaulichung dieses Vergleiches dient, erklärt er, der Körper ebenjener Patienten sei wie das Meer nach einem Sturm: ruhig, und doch zeigt es ab und zu noch ein gewisses Zittern (quidam tremor). Obwohl Seneca Serenus’ geistige Verfassung nicht theoretisch analysiert, könnte man dies dennoch tun. Serenus’ „Erfahrungsberichte“ legen den Schluss nahe, dass er nicht affektbeherrscht ist. Sein Schwanken kommt nicht dadurch zustande, dass er wie etwa Senecas Medea-, Phaedra- und Thyestfigur zwischen verschiedenen Affekten hin- und hergerissen ist (darum sagt er auch selbst, sein Schwanken sei nicht gefährlich und arte ins Stürmische aus, sondern habe eher etwas von einer Seekrankheit) 249 . Es ähnelt vielmehr jenem Schwanken, das Seneca in den Briefen bei sich und Lucilius diagnostiziert und ist daher als ein Fall diachroner Willensschwäche anzusehen.250 Das Urteil, das Serenus in Bezug auf die Sparsamkeit gefällt hat, ist nicht fest. Daher gerät er beim Anblick prunkvoller Dinge bisweilen ins Zweifeln und nimmt wieder Abstand davon. Mit der Zeit hält er aber wieder daran fest – vorübergehend. Dieses Schwanken zwischen verschiedenen Urteilen ist ferner bei seiner Lebensform zu beobachten. Grundsätzlich hält er es für eine gute Sache, politisch aktiv zu sein. Aber auch dieses Urteil ist nicht fest: Stößt er während seiner politischen Arbeit auf ein Hindernis, legt er sie nieder und sucht Zuflucht in der Muße. Allerdings hält er eine Tätigkeit, die ganz in der Muße aufgeht, auch nicht lange durch, weil er sie ebenso wenig für uneingeschränkt gut hält – schon eine kräftigere Lektüre bewegt ihn dazu, wieder politisch aktiv zu werden und damit das zu tun, was er von vornherein tun wollte, was er dann aber auch nicht durchgängig tut. Schließlich macht sich Serenus’ Urteilsschwankung bemerkbar, wenn er wissenschaftlich arbeitet. Er spricht sich klar für eine problemorientierte Vorgehensweise aus. Ganz überzeugt ist er davon jedoch nicht: Ein faszinierender Gedanke verleitet ihn dazu, sein Urteil zugunsten eines anderen mit dem ursprünglichen nicht zusammenstimmenden aufzugeben. Sobald die Faszination abgeklungen ist, kehrt er aber zu jenem zurück, bis ein neuer faszinierender Gedanke ihn wieder davon abbringt. Was kann Serenus tun, damit er nicht mehr in seinem Urteil schwankt? Was kann er tun, damit sich bei ihm eine anhaltende Ruhe (tranquillitas) einstellt?251 s
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Vgl. Sen. dial. 9,1,17 (= de tran. an. 1,17). Vgl. S. 115–118. Das ist die zentrale Frage von De tranquillitate animi. Vgl. Sen. dial. 9,2,4f. (= de tran. an. 2,4f.): Quomodo ad hanc [sc. tranquillitatem] perveniri possit in universum quaeramus („Wie man zu ihr [der Seelenruhe] gelangen kann, lass uns insgesamt fragen“, eig. Übers.). Dass es um anhaltende Seelenruhe geht, wird in Sen. dial. 9,2,4 (= de tran. an. 2,4) ersichtlich: Ergo quaerimus quomodo animus semper aequali secundoque cursu eat propitiusque sibi sit […] („Also fragen wir, wie die Seele stets in
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Da sein Schwanken kein Hin- und Hergerissensein zwischen verschiedenen Affekten ist, muss er laut Seneca auch keinen Gebrauch von „härteren“ – affekttherapeutischen – Techniken machen (illis durioribus), das heißt, er muss nicht etwa gegen sich Widerstand leisten, auf sich wütend werden oder sich hart zusetzen.252 Es genügt, wenn er auf „leichtere“ Techniken zurückgreift. Mit ihnen kann er sein Schwanken beenden und zugleich vermeiden, in Affekte zu geraten.253 Seneca macht ihm dabei folgenden Vorschlag: Er stellt ihm die „leichteren“ Techniken vor, die, wie er hinzufügt, für die Allgemeinheit bestimmt und nicht nur speziell auf ihn zugeschnitten sind, und Serenus nimmt sich davon einfach so viele er will (sumes tu ex publico remedio quantum voles).254 Unter ihnen finden sich solche, die sowohl Serenus’ individuelle geistige Natur als auch die eines jeden anderen erwachsenen Menschen einbeziehen. *** Nachdem sich Seneca mit der Frage beschäftigt hat, ob es besser ist, in die Politik zu gehen oder sich aus ihr zurückzuziehen (er spricht sich, gegen Athenodorus argumentierend,255 für eine Reduzierung der Verpflichtungen im Falle von Rückschlägen und nicht für einen vollständigen Rückzug aus)256, verlagert er den Fokus hin zu einer grundsätzlicheren „leichteren“ Technik.257 Er unterstreicht, dass es vor allem nötig ist, sich selbst einzuschätzen (se ipsum aestimare).258 Denn meistens machen wir uns vor, mehr zu können, als wir eigentlich können (fere plus nobis videmur posse quam possumus),259 mit der Folge, dass wir etwas tun, das unseren Geist in Unruhe versetzt. Durch die Selbsteinschätzung sollen wir im Vorhinein herausfinden, was wir können, und es mit unseren Tätigkeiten (negotia) vergleichen.260 Das kann zum einen hinsichtlich der individuellen geistigen Natur s
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gleichmäßigem und günstigem Lauf gehen könne, mit sich selber einig sei […]“, Übers. Rosenbach). Zum Ziel der anhaltenden Seelenruhe vgl. auch Mutschler 2014, S. 157. Vgl. Sen. dial. 9,2,2 (= de tran. an. 2,2). Dass die „leichteren“ Techniken nicht nur die Urteilsschwankung beenden können, sondern zugleich eine affektpräventive Wirkung haben, ist meines Erachtens naheliegend. Wer an einem nach stoischem Maßstab richtigen Urteil festhält, der läuft auch nicht Gefahr, sich zu fürchten, wütend, traurig usw. zu werden. Vgl. Sen. dial. 9,2,5 (= de tran. an. 2,5). Für Athenodorus’ Position in dieser Thematik vgl. Sen. dial. 9,3,1–8 (= de tran. an. 3,1–8). Wahrscheinlich handelt es sich bei ihm um Octavians Lehrer Athenodoros Calvus (vgl. Otto Apelt, Seneca, Philosophische Schriften, S. 231, Anm. 9 und Mutschler 2014, S. 157). Vgl. Sen. dial. 9,4,1f. (= de tran. an. 4,1f.). Zuvor gibt Seneca eine allgemeinere Beschreibung von Leuten, denen es psychologisch gesehen ähnlich geht wie Serenus (vgl. Sen. dial. 9,2,6–14 [= de tran. an. 2,6–14]). Vgl. Sen. dial. 9,6,2 (= de tran. an. 6,2). Vgl. ebd. Vgl. Sen. dial. 9,6,1 und 3f. (= de tran. an. 6,1 und 3f.).
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geschehen:261 Bei manchen reicht zum Beispiel das rednerische Talent nicht aus, um den Beruf des Politikers auszuüben; andere sind dafür zu schüchtern; wieder andere sind zu eigensinnig für eine Tätigkeit am kaiserlichen Hof oder können keine gesellschaftlichen Aufgaben übernehmen, weil sie zu Wutausbrüchen, unüberlegten Äußerungen, Spott und gefährlichen Witzen neigen. Das Gleiche gilt für erwachsene Menschen mit einer wilden und ungeduldigen Natur (ferox impatiensque natura). Darüber hinaus dient die Selbsteinschätzung dazu, die individuelle körperliche Natur und die damit verbundenen Kräfte im Hinblick auf die Tätigkeiten zu ergründen: Für manche Verpflichtungen ist der eigene Körper zu schwach,262 und so wird man, wenn man ihnen trotzdem nachkommt, früher oder später zwangsläufig zu Boden gedrückt.263 Im Handelnden muss stets mehr Kraft sein, als seine Beschäftigung erfordert.264 Schließlich gehört zur Selbsteinschätzung, das Können in einem materiellen Sinne zu berücksichtigen und es in Relation zu den Tätigkeiten zu setzen: Oftmals erlaubt es das persönliche Vermögen (patrimonium) nicht, sich etwas Bestimmtes zu leisten.265 Wie Seneca angekündigt hat, überlässt er es Serenus, ob er von der Selbsteinschätzung Gebrauch machen will oder nicht. Er bietet sie ihm nur als eine von vielen anderen „leichteren“ Techniken an, die er im weiteren Verlauf der Schrift vorstellt und von denen einige auch noch in den kommenden Unterabschnitten behandelt werden. Dennoch wäre es interessant zu fragen, welchen Nutzen die Selbsteinschätzung speziell Serenus bringen könnte. Kann er mit ihrer Hilfe seine Urteilsschwankung in Sachen Sparsamkeit, Lebensform und wissenschaftliche Arbeitsweise beenden? Hierauf lässt sich in allen drei Fällen eine positive Antwort geben. Durch die Technik der Selbsteinschätzung könnte Serenus klar werden, dass er für die Seelenruhe kein generelles Urteil darüber zu fällen braucht, ob Sparsamkeit oder Prunk besser ist (sein Schwanken scheint zu entstehen, weil er glaubt, das tun zu müssen). Worauf es ankommt, ist vielmehr, dass er seine momentane materielle Situation mit dem abgleicht, was er tun will. Er muss lediglich ein angemessenes situatives Urteil fällen. Verfügt er über die entsprechenden Ressourcen, kann er sich, so trivial das klingen mag, auch mehr leisten. Ansonsten wäre es angebracht, dass er seine Ausgaben reduziert.266 Auch bei der Wahl seiner
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Vgl. hier und im Folgenden Sen. dial. 9,6,2 (= de tran. an. 6,2). Vgl. ebd. Vgl. Sen. dial. 9,6,3f. (= de tran. an. 6,3f.). Vgl. Sen. dial. 9,6,3 (= de tran. an. 6,3). Vgl. Sen. dial. 9,6,2 (= de tran. an. 6,2). Andere „leichtere“ Techniken, mit denen sich Serenus von seinem Schwanken zwischen Sparsamkeit und Prunk befreien könnte, stellt Seneca in Sen. dial. 9,8,1–9 (= de tran. an. 8,1–9) vor: Man muss daran denken (cogitandum est), dass der Schmerz, nicht zu haben, viel leichter ist als der, zu verlieren (vgl. Sen. dial. 9,8,2 [= de tran. an. 8,2]). Außerdem bietet man der fortuna weniger Angriffsfläche, wenn man weniger besitzt
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Lebensform dürfte Serenus die Technik der Selbsteinschätzung gegen sein Schwanken helfen. Durch ihren Einsatz könnte er verstehen, dass er für die Seelenruhe kein generelles Urteil darüber fällen muss, ob ein politisch aktives Leben oder ein Leben in Muße besser ist. Vielmehr ist es nötig, ein angemessenes situatives Urteil zu fällen, bei dem er diesmal seine individuelle geistige Natur berücksichtigt: „Zu bedenken ist, ob dein Wesen [natura] zu tätigem Leben oder mußevollen Studien und Betrachtungen befähigter ist, und in die Richtung musst du dich wenden, in die dich die Kraft deiner Begabung [ingenium] trägt.“267 Deshalb hat der berühmte attische Rhetor Isokrates den Ephoros von der Agora geführt – er hielt ihn für fähiger, monumentale Geschichtswerke zu verfassen als politische Reden zu halten.268 Mit Blick auf Serenus bedeutet dies: Hat er Eigenschaften an sich, die nicht zu einer politischen Tätigkeit passen – zum Beispiel Schüchternheit, Eigensinnigkeit, rhetorisches Unvermögen –, wäre ein Leben in Muße für ihn geeigneter.269 Im entgegengesetzten Fall, wenn er beispielsweise nicht an geistigen Aktivitäten interessiert ist, dafür aber auf Leute zugehen, verhandeln und reden kann, läge es für ihn näher, den Weg eines politisch aktiven Lebens einzuschlagen. Außer seiner individuellen geistigen Natur sollte Serenus auch seine individuelle körperliche Natur in sein Urteil über die für ihn richtige Lebensform einbeziehen: Verfügt er über eine eher schwache Konstitution, eignet er sich weniger für eine politische Tätigkeit und mehr für ein Leben in Muße; körperliche Robustheit spräche dagegen eher für eine politische Tätigkeit, aber nicht unbedingt gegen ein Leben in Muße.270 s
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(vgl. Sen. dial. 9,8,9 [= de tran. an. 8,9]) – wer viel besitzt, kann schließlich mehr verlieren. Dieser Satz (Übers. Rosenbach, modifiziert) findet sich in den Handschriften von De tranquillitate animi und in Reynolds Ausgabe in Abschnitt 7,2. Schon vor längerer Zeit wurde aber erkannt, dass er nicht hierhin gehört. Wohin er und die Worte bis labor est transponiert werden müssen, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden (vgl. den kritischen Apparat von Reynolds zu der Stelle). Otto Apelt folgt in seiner Ausgabe (Otto Apelt, Seneca, Philosophische Schriften) dem Vorschlag von Gertz, die Passage hinter pressit officio einzufügen (vgl. Sen. dial. 9,6,2 [= de tran. an. 6,2]). Heinz Gunermann und Manfred Rosenbach folgen dagegen Albertini und setzen sie hinter libertatis evitet (vgl. ebd.). Vgl. hierzu Sen. dial. 9,7,2 (= de tran. an. 7,2) und Fußn. 267. Vgl. Sen. dial. 9,6,2 (= de tran. an. 6,2): […] omnibus his utilior negotio quies est; ferox impatiensque natura irritamenta nociturae libertatis evitet („[…] für alle diese Menschen [die schüchternen, eigensinnigen, zu Wutausbrüchen, unüberlegten Äußerungen, Spott und gefährlichen Witzen neigenden] ist Ruhe nützlicher als das Staatsgeschäft; eine wilde und ungeduldige Natur sollte die Reizungen einer Schaden bringenden Freiheit vermeiden“, eig. Übers.). Eine andere „leichtere“ Technik, Serenus von seinem Schwanken zwischen einem politischen Leben und einem Leben in Muße zu befreien, bestünde darin, ihm zu erklären, dass er sich nicht für das eine oder das andere entscheiden muss. Er kann politisch aktiv sein und sich hin und wieder der Muße hingeben. Letzteres sollte er sogar tun: „Denn
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Schließlich dürfte Serenus die Selbsteinschätzung ebenso bei seiner schwankenden wissenschaftlichen Arbeitsweise behilflich sein. Ihre Anwendung könnte ihm zu der Einsicht verhelfen, dass er kein generelles Urteil darüber fällen muss, ob eine streng problemorientierte oder eine von der Inspiration getragene Arbeitsweise besser ist. Entscheidend ist vielmehr wieder, dass er ein angemessenes situatives Urteil fällt, bei dem er seine individuelle geistige Natur berücksichtigt.271 Was liegt ihm mehr – das Analytische oder das Assoziative? Je nachdem, zu welchem Ergebnis er hier kommt, so sollte er auch wissenschaftlich arbeiten.272 Die Selbsteinschätzung ist also eine „leichtere“ bzw. affektpräventive Technik, die einzusetzen ist, noch bevor eine Erscheinung einen Voraffekt ausgelöst hat. Für eine gelungene Anwendung muss die moralisch fortschreitende Person ihre individuelle Natur mit ihren Tätigkeiten abgleichen, auf dieser Grundlage ein angemessenes situatives Urteil fällen und danach handeln. 3.3.2.2 Die bewusste Vorwegnahme zukünftiger ,Übel‘ Eine weitere vor einem Voraffekt einzusetzende affektpräventive Technik, die man auf sich selbst anwenden kann, ist die bewusste Vorwegnahme zukünftiger Übel, die praemeditatio futurorum malorum.273 Bei dieser Technik stellt man sich vor, dass etwas Schlimmes tatsächlich eintritt. Nach Ciceros Darstellung im dritten Buch der Tusculanae Disputationes scheint es sich dabei um eine Erfindung der Kyrenaiker zu handeln.274 Sie seien der Auffassung gewesen, dass Kummer (aegritudo) nicht durch jedes Übel, sondern nur durch ein unverhofftes (insperatum) und unerwartetes (necopinatum) hervorgerufen wird.275 Will man ihn vermeiden, müsse man sich also auf kommende Übel vorbereiten. Folgt man Ciceros Ausführungen weiter, erfährt man außerdem, dass die Epikureer diese Technik s
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wer viel unternimmt, bietet der fortuna oft Einfluss auf seine Person […]“ (vgl. Sen. dial. 9,13,2 [= de tran. an. 13,2], Übers. Rosenbach). Außerdem stumpfen andauernde Anstrengungen die Seele ab und machen sie schlaff (vgl. Sen. dial. 9,17,5f. [= de tran. an. 17,5f.]). Die individuelle körperliche Natur hat, denke ich, wenig Einfluss darauf, wie man wissenschaftlich arbeitet. Eine andere „leichtere Technik“, mit der sich Serenus von seiner schwankenden wissenschaftlichen Arbeitsweise befreien könnte, lässt sich De tranquillitate animi nicht abgewinnen. In Sen. dial. 9,9,4–7 (= de tran. an. 9,4–7) gibt Seneca allenfalls ein paar allgemeine Ratschläge zum Umgang mit wissenschaftlichen Büchern: Es ist ertragreicher, wenige zu lesen als durch viele hindurchzuirren; ferner ist es nicht zweckmäßig, sie sich nur anzuschaffen, um sie zur Schau zu stellen. Vgl. für den Ausdruck Cic. Tusc. 3,29. Vgl. ebd., 3,28. Dass ausgerechnet eine hedonistische Philosophenschule die praemeditatio erfunden haben soll, mag merkwürdig erscheinen. Die quellengeschichtliche Forschung bestätigt diese Zuordnung aber eher (vgl. Wacht 1998, S. 527f.). Vgl. Cic. Tusc. 3,28, 31 und 52.
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ablehnten,276 während die Stoiker sie übernahmen – schon Chrysipp soll davon ausgegangen sein, dass etwas Unvorhergesehenes heftiger trifft.277 Im stoischen Sinne dürfte man sie streng genommen aber nicht als eine bewusste Vorwegnahme zukünftiger Übel bezeichnen, da die Stoiker darunter ausschließlich Laster (und das, was an ihnen teilhat/aus ihnen hervorgeht) verstanden. Aus stoischer Sicht wäre es richtiger, von der bewussten Vorwegnahme möglicher unangenehmer Ereignisse oder Schicksalsschläge zu sprechen, die nach ihrem Wertmaßstab nur etwas zurückgesetztes Indifferentes und keine Übel darstellen. Auch Seneca kennt die praemeditatio und empfiehlt, meist unterschwellig, ihre Anwendung. 278 Er glaubt, dass man sich mit ihrer Hilfe gegen den Schockmoment eines unerwarteten Ereignisses schützen kann: 279 Quidquid enim [si] fieri potest quasi futurum sit prospiciendo malorum omnium impetus molliet, qui ad praeparatos expectantesque nihil afferunt novi, securis et beata tantum sperantibus graves veniunt. Was immer nämlich geschehen kann – dadurch, dass er [der weiß, dass der Tod eine Bedingung des Lebens ist] es als gleichsam bevorstehend betrachtet, schwächt er alle Schicksalsschläge, die den darauf Gefassten und Wartenden nichts Neues bringen können, denen jedoch, die sich sicher fühlen und Glückliches nur erwarten, mit ganzem Gewicht begegnen.
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Vgl. Cic. Tusc. 3,32. Vgl. ebd., 3,52. Um einige aussagekräftige Stellen neben denen, die nachfolgend angeführt werden, zu nennen: vgl. Sen. dial. 5,37,3 (= de ira 3,37,3): Praesume animo multa tibi esse patienda [...]. Fortis est animus ad quae praeparatus venit („Nimm gedanklich vorweg, dass du vieles erleiden musst [...]. Stark ist die Seele bei den Dingen, zu denen sie vorbereitet kommt“, eig. Übers.). Vgl. zudem Sen. dial. 12,5,3 (= ad Helv. 5,3): Illis gravis est [sc. fortuna] quibus repentina est: facile eam sustinet qui semper expectat („Für jene ist die fortuna schwer, für die sie überraschend kommt; leicht hält sie auf, wer sie stets erwartet hat“, Übers. Rosenbach). Vgl. ferner Sen. epist. 18,6: In ipsa securitate animus ad difficilia se preparet et contra iniurias fortunae inter beneficia firmetur („Gerade in der Sorgenlosigkeit bereite sich die Seele auf Schwereres vor und stärke sich gegen Ungerechtigkeiten der fortuna inmitten ihrer Wohltaten“, Übers. Rosenbach). Vgl. schließlich Sen. epist. 24,15: quicquid fieri potest, quasi futurum cogitemus („Was geschehen kann, stellen wir uns sozusagen als bevorstehend vor“, Übers. Rosenbach). Sen. dial. 9,11,6f. (= de tran. an. 11,6f.) und Sen. epist. 91,8f., Übers. Rosenbach, modifiziert. Ähnlich wie Chrysipp denkt er, dass Neues belastender ist (vgl. Sen. epist. 107,4). Wie Sen. dial. 9,11,6f. (= de tran. an. 11,6f.) zeigt, verwendet selbst Seneca den Ausdruck mala nicht immer im strikt stoischen Sinne. Um Missverständnisse zu vermeiden, habe ich malorum omnium impetus mit „Schicksalsschlägen“ übersetzt. An einer späteren Stelle desselben Werkes spricht er etwas präziser von den aliena mala – den äußeren Übeln –, die man betrachten solle, bevor sie Wirklichkeit werden (vgl. Sen. dial. 9,11,8 [= de tran. an. 11,8]).
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Die Ethik [...] nec quantum frequenter evenit sed quantum plurimum potest evenire praesumamus animo, si nolumus opprimi nec illis inusitatis velut novis obstupefieri; in plenum cogitanda fortuna est. [...] und nicht wie oft etwas geschieht, sondern in welchem Umfang es geschehen kann, wollen wir in Gedanken vorwegnehmen, wenn wir es nicht wollen, überwältigt und von ungewöhnlichen, gleichsam nie dagewesenen Schlägen betäubt zu werden: In seiner vollen Wucht muss man die fortuna bedenken.
Die Anwendung der praemeditatio soll Seneca zufolge vor allem zu der Erkenntnis (intellegere) führen, dass das, wovor man sich fürchtet, unerheblich (non magnum) oder nicht von Dauer ist (non longum).280 Diese Erkenntnis bewirkt, dass Schicksalsschläge weniger schwer treffen.281 Zwar sagt Seneca es nirgends explizit, aber theoretisch ließe sich mithilfe der praemeditatio auch einsehen, dass das, was man begehrt, was einem Lust bereitet und worüber man trauert, unerheblich oder nicht von Dauer ist. Das Resultat könnte hier ähnlich wie zuvor lauten: Die dabei gewonnene Erkenntnis hat den Effekt, dass die Voraffekte der Begierde, der Lust und des Kummers weniger stark ausfallen.282 Es mag merkwürdig erscheinen, dass eine Erkenntnis etwas abschwächt, an dessen Entstehung die ratio nicht aktiv beteiligt ist, wie es beim Voraffekt der Fall ist. Die Annahme, dass eine kognitive Veränderung zu einer Veränderung in der Befindlichkeit bzw. Wahrnehmung führen kann, ist aber nichts Ungewöhnliches – sie findet sich auch in modernen psychotherapeutischen Ansätzen wieder.283 s
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Vgl. Sen. epist. 24,2. Vgl. auch Armisen-Marchetti 1986, S. 193 und Armisen-Marchetti 1998, S. 110, die davon spricht, dass der Zweck der praemeditatio ist, die Gegenstände der Imagination als indifferent zu beurteilen. Senecas Formulierung des Prämeditationsziels hat einen epikureischen Beiklang (vgl. S. 228 und Fußn. 389), was damit zusammenhängen könnte, dass er in den ersten 30 Epistulae morales Epikur eher als Gewährsmann denn als Kontrahenten betrachtet. Vgl. Sen. dial. 6,9,2 (= ad Marc. 9,2): [...] quae multo ante provisa languidius incurrunt („[...] was lange vorher vorausgesehen ist, greift uns weniger heftig an“, Übers. Rosenbach). Vgl. auch Sen. nat. 6,3,2: levius accident familiaria, at ex insolito formido maior est („Was man kennt, trifft leichter, während bei Ungewohntem die Angst größer ist“, Übers. Schönberger, modifiziert). Vgl. ferner Sen. epist. 76,34: Praecogitati mali mollis ictus venit („Der Schlag eines vorausbedachten ‚Übels‘ ist weich“, eig. Übers.). Vgl. schließlich Sen. epist. 78,29: Quidquid expectatum est diu, levius accedit („Was man lange erwartet hat, kommt leichter“, eig. Übers.). Dass sich Voraffekte abschwächen lassen, geht aus Sen. dial. 4,4,2 (= de ira 2,4,2) hervor. Die Erkenntnis, dass etwas unerheblich oder nicht von Dauer ist, kann aber auch affekttherapeutisch wirken. Vgl. dazu Wacht 1998, S. 513: „Die praemeditatio […] sichert nicht nur die ἀπάθεια beim tatsächlichen Eintritt künftiger schlimmer Ereignisse, sondern […] sie wirkt in die Gegenwart, indem sie den auf die Zukunft gerichteten Affekt der Angst beseitigt.“ Insofern wäre die praemeditatio als eine hybride Technik einzustufen (zur Verwendung von exempla als hybride Technik vgl. S. 252–277). Vgl. Ernst 2016a, S. 23 und Gill 2016, S. 158.
Der impetus
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Laut Seneca müssen alle Schicksalsschläge vorausbedacht werden: „Man muss [...] alles bedenken und die Seele gegen alles, was da kommen kann, feien.“284 Man muss sie feien gegen Verbannung, Krankheit, Krieg, Schiffbruch etc.285 Manches lässt sich im Vorhinein auch praktisch erproben, zum Beispiel Armut, indem man in einem Feldbett schläft, einen kurzen Mantel trägt oder hartes und schmutziges Brot isst.286 Angesichts dieses praktischen Aspektes ist die praemeditatio also eigentlich noch mehr als nur ein exercice spirituel.287 Der Tod kann zu ihrem Gegenstand werden, insofern man ununterbrochen an ihn denkt (semper cogitare).288 Einmal demonstriert Seneca eindrucksvoll, wie die Vergegenwärtigung der eigenen Sterblichkeit im Einzelnen aussehen kann. Das Textbeispiel ist zugleich ein Beleg dafür, dass die praemeditatio auch auf andere bzw. von anderen auf die eigene Person angewandt werden kann:289 Dic mihi dormituro ,potes non expergisci‘, dic experrecto ,potes non dormire amplius‘. Dic exeunti ,potes non reverti‘; dic redeunti ,potes non exire‘. Sage mir, wenn ich im Begriffe bin einzuschlafen: ‚Möglicherweise wachst du nicht auf‘; sage mir, wenn ich aufgewacht bin: ‚Möglicherweise kommst du nicht wieder zum Schlafen.‘ Sage mir, wenn ich ausgehe: ‚Möglicherweise kehrst du nicht zurück‘; sage mir, wenn ich zurückkehre: ‚Möglicherweise gehst du nicht wieder aus.‘
Selbst erfahrenen Leuten kann es jedoch passieren, dass sie mögliche Schicksalsschläge übersehen und infolgedessen von ihrem Eintreten unangenehm überrascht werden. So soll es Liberalis, wie Seneca berichtet, ergangen sein.290 Obwohl er regelmäßig prämeditierte, dachte er nicht daran, dass es jederzeit zu Bränden kommen kann. Die Nachricht, dass seine geliebte Vaterstadt und römische Kolonie Lugdunum (heute: Lyon) von einem Feuer ausgelöscht wurde, sorgte bei ihm deshalb für tiefe Bestürzung. Interessant ist, dass ihm Seneca keine Vorwürfe macht, denn eigentlich hätte Liberalis ja vorausbedenken können und sollen, dass seine Vaterstadt einem Brand zum Opfer fallen könnte. Stattdessen zeigt er sich ihm s
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Vgl. Sen. epist. 91,7f.: Cogitanda [...] sunt omnia et animus adversus ea quae possunt evenire firmandus (Übers. Apelt, modifiziert). Vgl. Sen. epist. 91,8. Vgl. ebd., 18,7. Vgl. für diese Charakterisierung Hadot 1981, S. 13–15. Armisen-Marchetti 1986 und Armisen-Marchetti 1998 nimmt seinen Gedanken auf und untersucht unter anderem die Rolle der Imagination in der praemeditatio. Vgl. Sen. epist. 30,18: [...] tu tamen mortem ut numquam timeas semper cogita („Doch du denke immer an den Tod, damit du ihn niemals fürchtest“, eig. Übers.). Seneca zitiert auch Epikur (vgl. Sen. epist. 26,8), auf den der Ausspruch zurückgehen soll: Meditare mortem (vgl. ebenso Us. Epic. 205). Wer des Todes gedenkt, für den sind Kerker, Gefangenschaft und Riegel nicht schlimm (vgl. Sen. epist. 26,10). Ebd., 49,10, Übers. Rosenbach, modifiziert. Vgl. im Folgenden Sen. epist. 91,1–3.
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gegenüber verständnisvoll: Ein solches Ereignis ist beispiellos, noch nie hat es einen so verheerenden Brand gegeben – kein Wunder, dass man darauf nicht vorbereitet ist.291 Trotzdem lautet die praktische Konsequenz, die Seneca aus diesem Vorfall zieht, nicht: Es kann schon einmal passieren, dass wir einen Schicksalsschlag nicht vorausbedenken, sondern: Nie darf uns etwas unvorhergesehen treffen!292 Alle Möglichkeiten müssen mental vorweggenommen und bedacht werden (in omnia praemittendus animus cogitandumque), und nicht nur das, was zu geschehen pflegt.293 Sonst besteht die Gefahr, dass wir wie Liberalis eines Tages unangenehm überrascht werden. Als Vorbild dient Seneca auch in diesem Kontext wieder die weise Person: Sie hat die praemeditatio so eingeübt, dass sie immer auf alles vorbereitet ist.294 Egal was ihr zustößt, sie sagt sich stets: „Ich wusste es“ (sciebam).295 Warum man von dieser Technik Gebrauch machen sollte, wird vor dem Hintergrund von Senecas Vorstellung, wie wir die Welt wahrnehmen, umso verständlicher. Jede Situation erscheint veränderlich (omnem condicionem versabilem esse):296 Mitten im Genuss entsteht Leid, im tiefsten Frieden bricht Krieg aus, der Freund wird zum Feind.297 Was uns im einen Moment gegeben wurde, wird uns im nächsten wieder genommen. Dass uns dies so erscheint, hängt mit unserem Charakterzustand zusammen. Als Nichtweise können wir meistens nicht nachvollziehen, warum ein bestimmtes Ereignis eintritt. Die Weisen wissen aber, dass es dafür immer einen vernünftigen Grund gibt. Diese unterschiedliche, charakterbedingte Wahrnehmung der Welt spiegelt sich in den Begriffen wider, die Seneca für das Schicksal verwendet: Als fortuna ist es wechselhaft, als fatum steht es für die von Gott geschaffene feste Naturordnung.298 Nur die Weisheit macht das fatum in der fortuna uneingeschränkt sichtbar. Solange sie aber nicht erworben worden ist und der Weltverlauf willkürlich erscheint, ist die praemeditatio eine unentbehrliche Waffe, um sich vor allzu starken Voraffekten zu schützen. s
291
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Weniger nachsichtig zeigt sich Seneca gegenüber Marullus, der über den Tod seines kleinen Sohnes trauert. Er hält dessen Trauer für töricht, denn im Gegensatz zu einem so verheerenden Brand wie in Lugdunum sei der Umstand, dass Menschen sterben, für sie unmittelbar einsichtig (vgl. Sen. epist. 99,1 und 8f.). Vgl. ebd., 91,4. Vgl. ebd. Vgl. auch Cic. Tusc. 4,37: Der Weise ist so wach in seiner Seele (semper animo sic excubat), dass ihm überhaupt nichts Unerwartetes widerfahren kann. Sen. epist. 76,35. Vgl. Sen. dial. 9,11,10 (= de tran. an. 11,10). Vgl. Sen. epist. 91,5. Oftmals verwendet Seneca beide Begriffe aber synonym (vgl. Fischer 2008, S. 52–54). Elizabeth Asmis hebt die Darstellung des fatum als fortuna als Senecas Neuerung innerhalb der stoischen Philosophie hervor (vgl. Asmis 2009, S. 117). Zur eigentlichen Identität von fortuna und fatum vgl. auch Hachmann 2000, S. 295–303 und Wildberger 2006, S. 48.
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3.3.3 Affektpräventive Techniken für den Moment nach einem Voraffekt 3.3.3.1 Zurückhaltung und angemessene Auslegung von Taten Für Seneca ist es das Beste (optimum est), wenn man gleich im Anschluss an die erste Empfindung eines „Übels“299 (ad primum mali sensum) mit der Selbstheilung (mederi sibi) beginnt300 – eine Aussage, die der Interpretation bedarf. „Ein ‚Übel‘ zu empfinden“, scheint eine Umschreibung dafür zu sein, einen unangenehmen Voraffekt zu haben, der durch eine Erscheinung (zum Beispiel von einem Unrecht) ausgelöst worden ist. Davon kann man ausgehen, weil sich beide Punkte in einen Zusammenhang bringen lassen: In einer Erscheinung liegt etwas, das als ein ,Übel‘ erkannt wird (zum Beispiel als ein Unrecht), und damit einher geht die Empfindung dieses ,Übels‘, die der unangenehme Voraffekt ist. Weil der Voraffekt aber nur zu den Mitursachen eines Affekts gehört,301 ihn also noch nicht hervorruft, ist es „das Beste“, genau jetzt mit der Selbstheilung zu beginnen, das heißt, verschiedene Techniken anzuwenden, um die Entwicklung des Voraffekts zu einem Affekt aufzuhalten. Voraussetzung ist dabei, dass man sich seines affektiv gefärbten mentalen Zustandes bewusst wird. Das ist aber, so Seneca, ein leichtes Unterfangen: „Und es ist einfach, seine eigenen Affekte zu ertappen, wenn sie gerade im Entstehen sind.“302 Einfach ist es deshalb, weil sie sich durch „Vorzeichen“ (praenuntia) zu erkennen geben, ähnlich wie eine Krankheit oder ein Unwetter.303 Ein an Epilepsie s
299
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303
Ich setze ,Übel‘ in Anführungszeichen, weil Seneca hier nur ein scheinbares und kein wahrhaftes Übel im Sinn haben kann. Vgl. Sen. dial. 5,10,2 (= de ira 3,10,2). Für die Wut vgl. Sen. dial. 4,22,2 (= de ira 2,22,2), auch wenn diese Stelle in mindestens vierfacher Hinsicht problematisch ist. Erstens spricht Seneca von einer causa und nicht etwa von einer causa adiuvans et proxima (vgl. S. 42) – er kann sie aber nur in diesem Sinne verstehen, denn ein Ergebnis der ersten Sektionen des zweiten Buches von De ira war ja, dass Wut nicht schon unmittelbar auf die Erscheinung von einem Unrecht folgt. Zweitens thematisiert er die Voraffekte an dieser Stelle nicht. Drittens spricht er nicht von einer species iniuriae, sondern von einer opinio iniuriae. Meine Vermutung ist, dass er opinio wieder als Synonym für species gebraucht: Wenn man eine Meinung hat, dann glaubt man bereits etwas; an besagter Stelle geht es aber um den Moment, bevor man sich eine Meinung gebildet hat (für den Umstand, dass Seneca opinio und species bisweilen synonym verwendet vgl. S. 102 und Fußn. 347). Viertens und letztens scheint Seneca mit iracundia in diesem Zusammenhang nicht die Disposition zur Wut (also Jähzornigkeit) zu meinen, sondern die Wut (ira) selbst. Für die Beobachtung, dass er beide Begriffe im zweiten und dritten Buch seiner Schrift De ira häufig synonym gebraucht, obwohl er sie im ersten Buch unterschieden hat, vgl. S. 141, Fußn. 554. Vgl. Sen. dial. 5,10,2 (= de ira 3,10,2): Facile est autem affectus suos, cum primum oriuntur, deprehendere [...] (Übers. Wildberger). Vgl. Sen. dial. 5,10,2f. (= de ira 3,10,2f.).
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Die Ethik
Erkrankter etwa bemerkt, dass ein Anfall bevorsteht, wenn die „oberen Körperregionen“304 (summa) erkalten, seine Augen und Muskeln zu zucken beginnen, sein Gedächtnis nachlässt und sein Kopf sich hin und her bewegt305 – Symptome, die ebenso von Außenstehenden wahrgenommen werden können. Auf die Vorzeichen eines Unwetters geht Seneca nicht weiter ein. Man kann sich aber gut vorstellen, was er damit meinen könnte: dunkle Wolken am Himmel oder die bekannte Ruhe vor dem Sturm. Im Anschluss an diese Vergleiche kommt Seneca nur sporadisch auf die Vorzeichen der Affekte zurück. Er sagt lediglich, dass sich Wut oder erotische Leidenschaft (amor) durch Vorzeichen ankündigen, nicht aber führt er aus, wie diese Vorzeichen im Einzelnen beschaffen sind.306 Der Parallelität wegen müsste man annehmen, dass sich Affekte so ankündigen, wie sich etwa ein Sturm ankündigt. Aber was sind die dunklen Wolken in ihrem Fall? Es erscheint plausibel, darin die Voraffekte und die auf sie folgenden Körperreaktionen zu vermuten. Furcht kann sich zum Beispiel dadurch ankündigen, dass uns etwas widerfährt, das uns den Atem stocken lässt; Trauer dadurch, dass uns etwas widerfährt, das uns die Stirn zusammenziehen lässt.307 Dies sind Zeichen, die auf ein künftiges Ereignis hindeuten (sie legen nahe, dass der Ausbruch von Furcht oder Trauer bevorsteht), genauso wie die Muskelzuckungen des an Epilepsie Erkrankten und die dunklen Wolken auf ein künftiges Ereignis hindeuten (sie legen nahe, dass ein Anfall bzw. ein Unwetter bevorsteht). Hat man also das Vorzeichen eines Affekts bei sich bemerkt, unter dem ich nichts anderes als den Voraffekt und die auf ihn folgende Körperreaktion verstehe,308 kann man mit der Anwendung affektpräventiver Techniken beginnen. Eine Möglichkeit besteht darin – und hier dürfte Seneca vor allem die Wut im Blick haben –, das Sprechen weitestgehend einzustellen309 und den entstehenden Antrieb zurückzuhalten (inhibere impetum).310 Die Entwicklung des Voraffekts zu einem Affekt kann auch dadurch unterbunden werden, dass man der voraffektauslösenden Erscheinung nicht leichthin Glauben schenkt (non facile credendum est).311 Leichtgläubigkeit (credulitas) richtet Seneca zufolge das meiste Unheil an, s
304 305 306 307
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Ich greife hier wieder auf die Übersetzung von Wildberger zurück. Vgl. Sen. dial. 5,10,3 (= de ira 3,10,3). Vgl. Sen. dial. 5,10,2f. (= de ira 3,10,2f.). Vgl. Sen. dial. 4,2,5 (= de ira 2,2,5) und S. 104. Streng genommen sagt er jedoch nicht, dass die Voraffekte von Furcht und Trauer die Ankündigungen von Furcht und Trauer sind. Auch Malchow ist der Ansicht, dass Seneca mit den Vorzeichen der Affekte die Voraffekte meint (vgl. Malchow 1986, S. 435 und 465). Dieser Technik soll sich auch Sokrates bedient haben (vgl. Sen. dial. 5,13,3 [= de ira 3,13,3]). Vgl. Sen. dial. 5,10,1f. (= de ira 3,10,1f.). Dass es sich hier um einen entstehenden Antrieb handeln muss, macht der Kontext deutlich. Vgl. Sen. dial. 4,22,2 (= de ira 2,22,2).
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denn schnell ist da, wo ein Verdacht ist, auch eine „Argumentationskette“ (argumentatio),312 die bei der Wut lauten könnte: Man ist verletzt worden, man hätte nicht verletzt werden dürfen, man muss sich rächen.313 Der Glaube, man sei verletzt worden, der sich konkret darin äußern kann, dass man glaubt, jemand habe unfreundlich gegrüßt oder sich rasch von einem Kuss zurückgezogen314 – dieser Glaube ist dabei entscheidend, denn er setzt die Entwicklung der Begierde nach Rache überhaupt erst in Gang.315 Darum gilt es, etwas gegen die Leichtgläubigkeit zu unternehmen. Seneca empfiehlt, Urteile zurückhaltend zu fällen, indem man sich Bedenkzeit gibt (dandum semper est tempus)316 und währenddessen versucht unbefangen zu bleiben und die Dinge zum Guten auszulegen (simplicitate opus est et benigna rerum aestimatione).317 Zur positiven Auslegung in der Bedenkzeit gehört auch, dass man Entschuldigungsgründe für das Handeln der anderen Person anführt. Sie können schon allein deren Menschsein betreffen: „Dass man ein Mensch ist, stellt eine noch größere und gerechtere Entschuldigung dar, als dass man ein Kind ist“ (maior est excusatio et iustior hominem esse quam puerum).318 Kinder sind unschuldig, weil ihre kognitiven Fähigkeiten noch nicht voll entwickelt sind.319 Aber warum denkt Seneca, dass jemand allein schon aufgrund seines Menschseins entschuldigt werden kann? Und warum ist dieser Entschuldigungsgrund noch größer und gerechter als der, dass man ein Kind ist? Der Mensch ist nach seiner Auffassung ein Mängelwesen: Sowohl seine Seele als auch sein Körper sind anfällig für eine Vielzahl von Krankheiten (morbi).320 Dafür kann er nichts, deswegen ist es auch nicht gerechtfertigt, jemandem etwas übelzunehmen, denn vielleicht tut er das, was er tut, infolge einer körperlichen oder geistigen Krankheit.321 Größer ist der Entschuldigungsgrund, s
312 313 314 315 316 317 318 319 320
321
Vgl. Sen. dial. 4,24,1 (= de ira 2,24,1). Vgl. S. 109. Vgl. Sen. dial. 4,24,1f. (= de ira 2,24,1f.). Vgl. S. 109. Vgl. Sen. dial. 4,22,2 (= de ira 2,22,2). Vgl. Sen. dial. 4,24,2 (= de ira 2,24,2). Sen. dial. 4,10,2f. (= de ira 2,10,2f.), Übers. Wildberger, modifiziert. Vgl. Sen. dial. 4,10,2 (= de ira 2,10,2). Vgl. Sen. dial. 4,10,3 (= de ira 2,10,3). Was geistige Krankheiten sind, definiert Seneca an dieser Stelle nicht, dafür aber im 106. Brief. Dort heißt es, sie seien „[...] verhärtete Laster [indurata vitia], die in einen unheilbaren Zustand übergegangen sind [in statum inemendabilem adducta]“ (vgl. Sen. epist. 106,6, Übers. Rosenbach, modifiziert). Zu ihnen rechnet er Habsucht (avaritia), Grausamkeit (crudelitas), Bosheit und alle ihre Erscheinungsformen (malitia et species eius omnes), Bösartigkeit (malignitas), Neid (invidia) und Hochmut (superbia; vgl. Sen. epist. 106,6f.). Für weitere Mängel des Menschen vgl. ebd., 124,22f. Einmal postuliert Seneca, dass der Mensch nicht nur anfällig für geistige Krankheiten ist, sondern sie sogar der menschlichen Natur immanent sind (vgl. Sen. dial. 5,26,3f. [= de ira 3,26,3f.]). Mit dieser Hyperbel will er offenbar die Illegitimität, jemandem etwas übelzunehmen, steigern.
216
Die Ethik
dass man ein Mensch ist, weil er sich auf jeden Angehörigen der Gattung Mensch bezieht und nicht nur auf eine bestimmte Altersgruppe; gerechter, weil er alle Menschen gleichermaßen entschuldigt und nicht den einen mehr als den anderen. Die Berücksichtigung der menschlichen Unvollkommenheit erleichtert es ungemein, Taten zu entschuldigen. Und wenn man diese entschuldigt, dann gibt es auch keinen Grund mehr, wütend zu werden. Die Erscheinung von einem Unrecht und der auf sie folgende Voraffekt verpuffen. Es lassen sich noch andere, spezifischere Entschuldigungsgründe für das Handeln der anderen anführen. So unterschiedlich Akteure sein können, so unterschiedlich können auch die ihr Verhalten entschuldigenden Gründe ausfallen. Bei Kindern soll eben das Alter und die damit verbundene kognitive Unreife eine Entschuldigung sein,322 bei Frauen ihr Geschlecht (sexus)323 – eine Aussage, die aus heutiger Sicht sofort diskriminierend wirkt, der hier aber eigentlich eine positive Absicht zugrunde liegt.324 Das Verhalten von Fremden ist damit zu entschuldigen, dass man selbst in einem freien Land lebt und sie womöglich anderes gewohnt sind; das von Freunden damit, dass sie etwas getan haben, das sie nicht tun wollten; das von Feinden damit, dass sie das getan haben, was sie tun mussten.325 Selbst wenn die weisesten Männer (sapentissimi viri) durch einen dummen Zufall zu einer etwas hitzigeren Tat getrieben würden, könnten wir diese entschuldigen, denn: „Es gibt niemanden, der so gewissenhaft wäre, dass nicht auch seine Sorgfalt sich ab und an selbst vergessen würde.“326 Bisweilen muss man die Taten anderer nicht einmal positiv, sondern einfach nur korrekt auslegen. Dazu gehört, einen entscheidenden Unterschied zu beachten:
s
322 323
324
325 326
Vgl. Sen. dial. 5,24,3 (= de ira 3,24,3). Vgl. ebd. Vgl. auch Sen. dial. 4,30,1 (= de ira 2,30,1): Mulier est: errat („Es handelt sich um eine Frau: Sie weiß es nicht besser“, Übers. Wildberger). Die Aussage hätte der antiken Leserschaft sicher eingeleuchtet. Seneca kann kein Frauenfeind gewesen sein, immerhin hat er zwei seiner Trostschriften ausschließlich Frauen gewidmet. Wenn man die an seine Mutter Helvia nicht hinzunehmen will, dann ist es zumindest eine, die an Marcia, in der er auch ein sehr positives Frauenbild zeichnet (vgl. Sen. dial. 6,16,1 [= ad Marc. 16,1]). Für sein Verhältnis zu Frauen vgl. ReydamsSchils 2018, S. 152 und Manning 1973, der zahlreiche Stellen anführt, die zeigen, dass „weiblich“ (muliebris) bei Seneca und Cicero mit einem moralisch schlechten und „männlich“ (virilis) mit einem moralisch guten Verhalten in Verbindung gebracht wird. Trotz einiger Kritik an seinem Aufsatz verfolgt Harich-Schwarzbauer 1993 doch dieselbe Linie, wenn sie bei Seneca (unter anderem in seiner Sprache) eine Inferiorität des Weiblichen und der Frau erkennt. Meines Erachtens hat diese „Gender-Gap“ jedoch nichts mit Misogynie, sondern mit römischen Wertvorstellungen zu tun, die Senecas Philosophie entscheidend mitprägten. Vgl. Sen. dial. 5,24,3f. (= de ira 3,24,3f.). Vgl. Sen. dial. 5,24,4f. (= de ira 3,24,4f.), Übers. Wildberger. Für weitere spezifischere Entschuldigungsgründe vgl. Sen. dial. 4,30,1f. (= de ira 2,30,1f.).
Der impetus
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den zwischen einer Verletzung (laedere) und einer Kränkung (offendere).327 Zu einer Verletzung kommt es, wenn jemand meinem Willen hinderlich ist (aliquis voluntati meae obstet), mich beraubt, meinen Hoffnungen ein Ende macht oder etwas gegen mich unternimmt, zum Beispiel weil er mich hasst.328 Eine Kränkung wird dagegen häufig schon dann empfunden, wenn sich jemand unserem Willen entzieht, uns etwas nicht gibt, die Erfüllung unserer Hoffnungen aufschiebt oder aus Eigeninteresse handelt, zum Beispiel weil er eine andere Person liebt. Eine Kränkung impliziert laut Seneca aber nicht zwangsläufig auch eine Verletzung. Trotzdem neigen wir dazu, in jeder Kränkung eine Verletzung zu sehen. Dadurch steigern wir unser Unrechtsempfinden und schaffen uns umso mehr einen Anlass zur Wut. Die Kränkung nicht zu etwas zu machen, das sie nicht ist, kann die gedankliche Argumentationskette (man ist verletzt worden, man hätte nicht verletzt werden dürfen, man muss sich rächen) mithin ebenso kappen und den Wutentstehungsprozess im Anfangsstadium beenden. 3.3.3.2 Die Prüfung der intentionalen Objekte Ein weiterer Fehler, der neben der Leichtgläubigkeit dazu beiträgt, dass wir in Affekte geraten, ist laut Seneca, dass wir das, worauf wir wütend werden (irascimur iis), oder das, wovon die Wut ihren Anfang nimmt (initia), nicht untersuchen.329 In jeder Situation ist zu prüfen, was genau vorliegt, um den Dingen ihr „Getöse“ (tumultus) zu nehmen.330 Denn wenn man das, wovon die Wut ihren Anfang nimmt, untersucht, kann man oftmals feststellen, dass es nicht gravierend (levia) und harmlos (innoxia) ist.331 Was hier untersucht werden soll, scheint das intentionale Objekt der wertenden Meinung zu sein, die man im Anschluss an eine voraffektauslösende Erscheinung gebildet hat.332 Wird die wertende Meinung an das wahre Wesen ihres intentionalen Objekts angepasst, nimmt der Voraffekt nicht weiter Fahrt auf. Zu den typischen nicht gravierenden und harmlosen Anlässen von Wut rechnet Seneca Wohltaten (beneficia).333 Warum geraten darüber aber so viele in Wut? s
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328 329 330
331 332 333
Vgl. Sen. dial. 5,28,4 (= de ira 3,28,4). Für Senecas Differenzierung zwischen einer Verletzung und einer Kränkung vgl. auch S. 97–101. Vgl. für diesen und den nächsten Satz Sen. dial. 5,28,4 (= de ira 3,28,4). Vgl. Sen. dial. 4,26,1 und 5,30,1 (= de ira 2,26,1 und 3,30,1). Vgl. Sen. epist. 24,12: Illud autem ante omnia memento, demere rebus tumultum ac videre quid in quaque re sit („Denke aber vor allem daran, den Dingen ihr Getöse zu nehmen und zu sehen, was in jedem Fall vorliegt“, Übers. Rosenbach, modifiziert). Vgl. Sen. dial. 5,30,1 (= de ira 3,30,1). Vgl. auch Sen. dial. 5,32,3 (= de ira 3,32,3). Vgl. S. 109. Vgl. Sen. dial. 5,30,2 (= de ira 3,30,2): […] in quibus [sc. beneficia] frequentissima, certe acerbissima iracundiae materia est (Wohltaten seien „[...] der häufigste und auf jeden Fall der bitterste Gegenstand von Wut [...]“, Übers. Wildberger, modifiziert).
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Das Problem ist zum einen, dass sie die Materie der Wohltat (materia beneficii) – „[...] das, was vor die Augen kommt, was übergeben und besessen wird [...]“ – für die Wohltat selbst halten.334 Sie machen eine Wohltat von deren Quantität abhängig. Bilden sie die wertende Meinung, dass zu wenig getan oder gegeben wurde, schaffen sie sich unnötigerweise einen Ausgangspunkt für Wut.335 Die eigentliche Wohltat lässt sich aber nicht, wie Seneca in seiner Schrift „Über die Wohltaten“ (De beneficiis) auf charakteristische Weise sagt, „mit der Hand berühren“ (non potest beneficium manu tangi) – sie ist eine Einstellungssache (res animo geritur); was sie ausmacht, ist der Wille der Person, die sie erweist (ipsa tribuentis voluntas).336 Sie will etwas Gutes tun und eine Freude bereiten.337 Eine Wohltat kann also gar keinen Anlass zur Wut bieten, weil sie nicht gravierend und harmlos, ja sogar gut ist. Auf der anderen Seite geraten viele über die ihnen erwiesenen Wohltaten in Wut, weil sie das, was sie bekommen haben, mit dem vergleichen, was andere bekommen haben, und die wertende Meinung bilden, dass sie weniger als die anderen bekommen haben.338 Der Umstand, dass ein anderer mehr als man selbst bekommen hat, ist aber nicht gravierend und harmlos, zumal man selbst ja nicht nichts bekommen hat, und darüber kann man sich doch freuen. Auch in diesem Fall gibt es also keinen Anlass zur Wut. Die Prüfung der intentionalen Objekte kann sich ebenso präventiv auf die Entstehung von Furcht auswirken. Welche Gestalt der Prüfungsvorgang dabei annehmen kann, verdeutlicht folgende Textpassage:339 Pauper fiam: inter plures ero. Exul fiam: ibi me natum putabo quo mittar. Alligabor: quid enim? nunc solutus sum? ad hoc me natura grave corporis mei pondus adstrinxit. Moriar: hoc dicis, desinam aegrotare posse, desinam alligari posse, desinam mori posse. Ich soll arm werden? Dann werde ich die Mehrzahl zu meinen Genossen haben. Ich soll verbannt werden? Ich werde den Ort meiner Verbannung als meine Heimat betrachten. Ich soll mich in Ketten legen lassen? Was hat es damit auf sich? Bin ich denn jetzt frei? Hat doch die Natur mich an das schwere Gewicht meines Leibes gefesselt. Ich soll sterben? Was heißt das anderes als, ich werde nicht mehr krank
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Vgl. Sen. benef. 1,5,2, Übers. Rosenbach. Vgl. Sen. dial. 5,30,2 (= de ira 3,30,2), Übers. Wildberger. Vgl. Sen. benef. 1,5,2. Vgl. ebd., 1,6,1: Quid est ergo beneficium? Benivola actio tribuens gaudium capiensque tribuendo in id, quod facit prona et sponte sua parata („Was also ist eine Wohltat? Eine wohlwollende Handlung, die Freude schenkt und empfängt, dadurch, dass sie schenkt, zu dem, was sie tut, geneigt und aus eigenem Antrieb bereit“, Übers. Rosenbach). Vgl. Sen. dial. 5,30,2 (= de ira 3,30,2), Übers. Wildberger. Sen. epist. 24,17, Übers. Apelt.
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sein können, werde nicht mehr gefesselt werden können, nicht mehr sterben können.
Wieder geht es darum, den nicht gravierenden und harmlosen Charakter dessen herauszustellen, worauf sich unsere wertenden Meinungen richten, und dadurch diese selbst zu ändern. Armut ist nichts Außergewöhnliches: Viele Menschen sind arm. Das Gleiche gilt für Verbannung: Letztlich ist sie nichts anderes als ein Wechsel des Wohnorts, und wo man wohnt, da ist man eben zu Hause. Auch bedeutet Gefangenschaft keinen tiefen Einschnitt in das eigene Leben, weil schon der Umstand, dass man einen Leib hat, Gefangenschaft ist. Ebenso wenig stellt der Tod etwas Schlimmes dar, denn er bringt Befreiung.340 3.3.3.3 Das seelische Gerichtetsein auf sich selbst Im 56. Brief der Epistulae morales schildert Seneca seinen Aufenthalt in dem luxuriösen Badeort Baiae. Er ist in einer Wohnung direkt über einer Badeanstalt untergekommen und von allen Seiten umrauscht ihn Lärm: Leute geben bei sportlichen Betätigungen Laute von sich, Massagegeräusche sind zu hören, Ballspieler zählen laut ihre Bälle; hinzu kommen Streitigkeiten, von Sprüngen aufspritzendes Wasser und Stimmen verschiedenster Art.341 Lucilius wirft im Rahmen des 56. Briefes ein, dass jemand, der sich in so einer Umgebung aufhält, entweder eisern
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Eine ähnliche Prüfung der Bewusstseinsgegenstände wird später auch von Epiktet als affektpräventive Technik vorgestellt. Ihm zufolge besteht sie darin, sich von einer Erscheinung und ihrem Inhalt zu distanzieren und kritische Fragen an sie zu richten (vgl. Epikt. diatr. 2,18,24f.): ἔκδεξαί με μικρόν, φαντασία· ἄφες ἴδω τίς εἶ καὶ περὶ τίνος, ἄφες σε δοκιμάσω („Warte einen Augenblick auf mich, Erscheinung; lass mich sehen, wer du bist und wovon du eine Erscheinung bist; lass mich dich prüfen“, Übers. Nickel, Epiktet/Teles/Musonius Rufus, modifiziert, eig. Herv.). Den Prüfungsvorgang beschreibt Epiktet allerdings etwas anders als Seneca. Es geht darum herauszufinden, ob der Inhalt der Erscheinung auf etwas außerhalb oder innerhalb des Einflussbereiches der Prohairesis verweist (ἀπροαίρετον/προαιρετικόν). Liegt es außerhalb, kann es weder ein Gut noch ein Übel sein; liegt es innerhalb, kann es ein Gut oder ein Übel sein. Epiktet gibt für beide Fälle Beispiele (vgl. im Folgenden Epikt. diatr. 3,8,2–4). Angenommen jemandes Sohn ist tot; dann sollte man zu der Feststellung gelangen, dass dies außerhalb der Prohairesis liegt und darum kein Übel sein kann. Zur selben Feststellung sollte man gelangen, wenn etwa der Vater jenes toten Sohnes den und den enterbt oder der Kaiser jemanden verurteilt. Wenn dagegen jemandem etwas Kummer bereitet, dann sollte man zu der Feststellung gelangen, dass das Haben von Kummer innerhalb der Einflusssphäre der Prohairesis liegt und ein Übel ist. Hat jemand etwas tapfer ertragen, sollte man zu der Feststellung gelangen, dass dies innerhalb der Einflusssphäre der Prohairesis liegt und ein Gut ist. Vgl. Sen. epist. 56,1–3.
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oder taub sein muss.342 Seneca scheint eher der eiserne Typ zu sein, denn er lässt sich von alldem nicht beirren – nicht einmal von den Stimmen, die, wie er schreibt, wegen ihrer sprachlichen Komponente unsere Aufmerksamkeit naturgemäß eher auf sich ziehen als bloß an unsere Ohren schlagende Geräusche.343 Die Ablenkung vermeidet er, indem er seine Seele zwingt, bloß auf sich selbst gerichtet zu sein (animum enim cogo sibi intentum esse).344 Sinnvoll ist diese Technik jedoch nur dann, wenn die Seele selbst nicht in Aufruhr ist, wenn sie weder Affekte noch Laster plagen – wäre dies der Fall, würde man sich nur einer anderen Art von Lärm zuwenden.345 Das seelische Gerichtetsein auf sich selbst entspricht einer affektpräventiven Technik. Da man darauf zurückgreift, nachdem man bereits durch etwas von außen affiziert worden ist, könnte es genauer als eine nach einem Voraffekt einzusetzende affektpräventive Technik aufgefasst werden: Die sinnliche (in Senecas Fall: auditive) Wahrnehmung bestimmter Geräusche oder Stimmen hinterlässt eine voraffektauslösende Erscheinung in der Seele, deren phänomenalen Gehalt man als Unrecht deuten könnte (man will in Ruhe Urlaub machen oder sich seinen Studien widmen und dann nimmt jemand keine Rücksicht darauf). Indem eine Person ihre Seele also vor äußeren Einflüssen abschottet und sich nur auf sich selbst konzentriert, kann sie die Entwicklung eines Voraffektes zu einem Affekt verhindern. 3.3.4 Therapie von Wut Wut ist aus Senecas Sicht ein besonders starker Affekt. Sie beginnt mit einem gewaltigen Antrieb (incipit magno impetu/graves habet impetus primos)346 und entwickelt sich nicht sukzessive (non paulatim procedit), sondern setzt plötzlich (repens) ein und ist sofort voll da (universa vis huius est/tota est).347 Danach flaut sie wieder ab (deinde deficit)348: „Wild ist sie nur am Anfang, nicht viel anders als
s
342 343
344
345 346 347 348
Vgl. Sen. epist. 56,3. Vgl. ebd., 56,3f. Die Geräusche differenziert Seneca hinsichtlich ihres Ablenkungsgrades nochmals: Für ihn sind nicht durchgängig ertönende Geräusche ablenkender als durchgängig ertönende (vgl. ebd., 56,4). Vgl. ebd., 56,5. Natürlich hätte er auch einfach den Ort verlassen und einen ruhigeren aufsuchen können. Aber er wollte sich erproben und üben (vgl. ebd., 56,15). Vgl. ebd., 56,5–8. Vgl. Sen. dial. 3,17,5 und 4,29,1 (= de ira 1,17,5 und 2,29,1). Vgl. Sen. dial. 4,36,6 und 5,1,3 (= de ira 2,36,6 und 3,1,3). Vgl. Sen. dial. 3,17,5 (= de ira 1,17,5).
Der impetus
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Winde, die sich am Boden erheben: Über Flüssen oder Sümpfen entstanden, wehen sie heftig, aber nicht beharrlich.“349 Wie schnell die Wut aus Senecas Sicht wieder abflaut, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. In Sen. dial. 3,17,5 (= de ira 1,17,5) heißt es, dass sie sich schon in dem Moment, wenn es um die Vollstreckung des Urteils geht, wieder auflöst. Wenn das allerdings jedes Mal so wäre, müsste man sie gar nicht therapieren; außerdem bliebe sie folgenlos, was im diametralen Gegensatz zu den zahlreichen Beschreibungen ihrer verheerenden Konsequenzen stünde, die sich in De ira finden. Ich glaube, dass Seneca die Kurzlebigkeit der Wut bisweilen deshalb so betont, weil er den Kontrast zur vollendeten Vernunft herstellen will. Im Vergleich zu ihr – einer stets konstanten Größe – schwankt die Wut stark: Kaum ist sie entstanden, fällt sie wieder in sich zusammen. Senecas Charakterisierung des Wutverlaufs lässt erkennen, dass für ihn auch die tatsächlich auftretende und nicht nur die entstehende Wut verschiedene Momente hat. Diese stehen jedoch für verschiedene Stärkegrade, während diejenigen der Wutentstehung bestimmte mentale Vorgänge kennzeichnen, die zum Wutausbruch führen. Die Wuttherapie hat sich an den verschiedenen Stärkegraden der Wut zu orientieren, nur dann kann sie gelingen. Andernfalls bleiben die wuttherapeutischen Techniken wirkungslos. Frische Wut würde sie „mit sich reißen“ (secum ferre).350 Ist die eigene Wut wie zu Beginn ihres Ausbruches – wenn sie die Vernunft besiegt – besonders heftig, muss man ihr weichen (cedere ei debemus), bis sich der erste Sturm (tempestas prima) gelegt hat; sobald sie nachlässt, muss sie aber „zurückgestoßen“ und „zurückgetrieben“ werden (reverberanda et agenda retro est).351 Eine andere auf sich selbst anwendbare wuttherapeutische Technik, die Seneca vorstellt, ist die Verzögerung (mora/dilatio).352 Sie hat gegenüber dem Zurückstoßen und Zurücktreiben den Nachteil, dass sie nur langsam wirkt (sie ist ein lentum remedium).353 Daher soll man auf sie lieber als Letztes zurückgreifen (ad quod novissime descendendum est).354 Aber inwiefern wirkt die Verzögerung nur langsam? Dafür müsste man ihre Funktionsweise kennen, die nicht leicht zu fassen ist. Seneca beschreibt sie als:355
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349
350
351 352 353 354 355
Vgl. Sen. dial. 3,17,4 (= de ira 1,17,4): […] violentisque principiis utitur, non aliter quam qui a terra venti surgunt et fluminibus paludibusque concepti sine pertinacia vehementes sunt […] (Übers. Wildberger). Vgl. Sen. dial. 5,1,1 (= de ira 3,1,1). Seneca könnte diese Überlegung von Chrysipp übernommen haben, der verboten haben soll, ein remedium auf frische seelische Schwellungen anzuwenden (vgl. Cic. Tusc. 4,63). Vgl. Sen. dial. 5,1,1 (= de ira 3,1,1). Vgl. Sen. dial. 4,29,1, 5,1,2 und 5,12,4 (= de ira 2,29,1, 3,1,2 und 3,12,4). Vgl. Sen. dial. 5,1,2 (= de ira 3,1,2). Vgl. Sen. dial. 5,1,2f. (= de ira 3,1,2f.). Sen. dial. 5,12,4 (= de ira 3,12,4), Übers. Wildberger, modifiziert.
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Die Ethik [...] maximum remedium irae [...], ut primus eius fervor relanguescat et caligo quae premit mentem aut residat aut minus densa sit. […] hervorragendes Heilmittel gegen die Wut, damit ihr erstes Kochen absinken und der finstere Nebel, der den Geist umnachtet, sich setzen oder doch wenigstens auflockern kann.
Diese Beschreibung verrät aber nichts über die Funktionsweise der Verzögerung, sondern allenfalls etwas über das Ergebnis, das durch ihre Anwendung erzielt werden kann. Zudem ist sie problematisch, weil sie Senecas Aufforderung, dass man der Wut nach ihrem Ausbruch weichen muss, widerspricht: Sie suggeriert, dass man doch gegen die Wut vorgehen kann, wenn sie besonders heftig ist. Der Widerspruch ließe sich auflösen, indem man entweder das Müssen schwächer interpretiert (nicht im Sinne eines Nicht-anders-Könnens: Man muss der Wut, wenn sie besonders heftig ist, weichen, kann aber auch, sofern möglich, etwas gegen sie unternehmen) – oder unterstellt, Seneca beziehe sich mit „der erste Sturm“ (tempestas prima) und „das erste Kochen“ (primus fervor) nicht auf dieselbe Hochphase der Wut. Nach dieser Lesart steht „der erste Sturm der Wut“ für den Moment direkt nach ihrem Ausbruch, „das erste Kochen“ dagegen für den darauffolgenden Moment, wenn die Wut schon etwas von ihrer Kraft verloren hat, aber immer noch stark ausgeprägt ist. Die ähnliche Bedeutung beider Junkturen spricht eher für den ersteren Weg, den Widerspruch aufzulösen. Im dritten Buch von De ira führt Seneca aber eine Platon-Anekdote an, die nahelegt, den Widerspruch auf letztere Weise aufzulösen. Sie gibt zugleich Aufschluss darüber, wie die Verzögerung funktioniert und warum sie nur langsam wirkt.356 Platon soll von sich einmal keine Frist erwirkt haben können (non potuit impetrare a se Plato tempus) und sei auf einen Sklaven wütend geworden. Er habe ihm befohlen, die Tunika auszuziehen und den Rücken zu ihm zu kehren. Anschließend habe Platon die Peitsche in die Hand genommen und gerade zuschlagen wollen, da soll er erkannt haben, dass er wütend war (intellexit irasci se), woraufhin er die Hand mit der Peitsche einfach in der Luft schweben ließ und wie versteinert stehen blieb. Irgendwann sei ein Freund vorbeigekommen und habe ihm die Frage gestellt, was er denn da tue. Offenbar nur die Lippen bewegend soll er ihm geantwortet haben, dass er an einem wütenden Menschen die gerechte Strafe vollzieht.
s
356
Vgl. für die im Folgenden wiedergegebene Platon-Anekdote Sen. dial. 5,12,5 (= de ira 3,12,5). Seneca erzählt dieselbe Anekdote schon in Sen. dial. 3,15,3 (= de ira 1,15,3), aber über Sokrates. Sie findet sich mit Platon als Protagonisten auch bei Plut. adv. Col. 2 und DL 3,38 (hier ist es aber nicht sein Neffe Speusipp, sondern Xenokrates, der die Auspeitschung an seiner statt ausführt). Bei Cicero (vgl. Cic. rep. 1,59 und Cic. Tusc. 4,78) verbietet sich der Pythagoreer Archytas von Tarent wegen seiner Wut seinen Sklaven auszupeitschen.
Der impetus
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Dass Platon nicht direkt nach Ausbruch seiner Wut mit dem Verzögern beginnt, wird daran deutlich, dass er zuerst seinem Sklaven befiehlt, seine Tunika auszuziehen und ihm seinen Rücken darzubieten. Diese Phase könnte für den ersten Sturm der Wut stehen, in der sie am stärksten ist und den Geist ganz in Beschlag nimmt. Hier kann Platon nicht anders, als ihr zu weichen, und er scheint sich dessen nicht einmal bewusst zu sein.357 Danach, wenn er die Peitsche in die Hand nimmt und zuschlagen will, geht seine Wut von einem Sturm über in ein Kochen. Erst jetzt wird ihm bewusst, dass er wütend ist – vorher war er sozusagen blind vor Wut. In diesem Moment beginnt er mit der Verzögerung und lässt die Peitsche wie versteinert in der Luft schweben. Dabei verhält er sich nicht völlig passiv, er weicht der Wut nicht nur. Vielmehr macht er aktiv etwas gegen sie. Zwar stößt und treibt er sie nicht zurück, aber er hält sie auf, blockiert sie gewissermaßen.358 Er entzieht sich selbst, so Seneca, die Gewalt über sein Gesinde (auferre sibi in suos potestatem) und hindert seine Wut auf diese Weise daran, weiterhin praktisch wirksam zu sein.359 Das macht er solange, bis sie sich gelegt hat – was eine Weile dauern kann. Genau darum ist die Verzögerung auch nur eine langsam wirkende affekttherapeutische Technik. Bei der Therapie fremder Wut ist es ebenso wie bei der Therapie der eigenen Wut von entscheidender Bedeutung, die verschiedene Stärkegrade des Affekts zu berücksichtigen. Es führt zu nichts, auf frische fremde Wut (prima [aliena] ira) mit besänftigenden Worten oder auf irgendeine andere Art und Weise einzuwirken – sie ist taub und besinnungslos (surda est et amens).360 Man muss ihr Zeit geben.361 Außerdem ist es bei der Therapie fremder Wut wie bei einigen affektpräventiven Techniken362 angebracht, auf den individuellen Charakter (mores) der anderen Person zu achten:363
s
357
358 359 360 361
362 363
Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zu Senecas Phaedrafigur, deren Liebesraserei sie dazu zwingt, wissentlich in den Abgrund zu gehen (vgl. Sen. Phaedr. 177–180 und S. 123). Es handelt sich nicht um ein Maßhalten, wie Malchow 1986, S. 452 meint. Vgl. Sen. dial. 5,12,6 (= de ira 3,12,6). Vgl. Sen. dial. 5,39,2 (= de ira 3,39,2). Vgl. ebd.: […] dabimus illi [sc. primae irae] spatium („[…] wir werden ihr [der frischen Wut] Zeit geben“, eig. Übers.). Vgl. S. 197–201 und 201–208. Sen. dial. 5,1,2 (= de ira 3,1,2), Übers. Wildberger. Courtil 2015, S. 311f. bestimmt die Berücksichtigung der Individualität als eines der Grundprinzipien der senecanischen Therapie. Zwar sagt es Seneca nicht explizit, aber die Erforderlichkeit, auf den individuellen Charakter zu achten, dürfte aus seiner Sicht sicher auch für die Therapie der eigenen Wut gelten: Der individuelle Charakter der einen ist derart, dass sie mehr Erfolg haben, wenn sie ihre Wut zurückstoßen und zurücktreiben; der der anderen ist derart, dass sie mehr Erfolg haben, wenn sie sie verzögern.
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Die Ethik quosdam enim preces vincunt, quidam insultant instantque summissis, quosdam terrendo placabimus; alios obiurgatio, alios confessio, alios pudor coepto deiecit, alios mora [...]. Manche lassen sich nämlich durch Bitten umstimmen, manche triumphieren und stoßen nach, wenn man sich ihnen unterordnet, und manche werden wir beruhigen, indem wir sie einschüchtern. Die einen bringt eine Zurechtweisung, andere ein Geständnis, andere ihr Schamgefühl von ihrem Vorhaben ab, wieder andere Verzögerung […].
Ist der Sturm der fremden Wut vorüber, kann deren Therapie beginnen (remedia in remissionibus prosunt).364 Eine Möglichkeit, die andere Person von ihrer Wut zu befreien, besteht darin, sich als Mitbetroffene(n) auszugeben und so zu tun, als würde man ebenfalls wütend werden (simulare iram).365 Die vorgespielte Wut soll aber nicht der wütenden Person gelten (das würde sie nur noch mehr erregen),366 sondern dem, worauf sich ihre Wut bezieht, also deren intentionalen Objekt. Sie wird dann denken, dass sie eine(n) Gleichgesinnte(n) hat, mit dem/der sie sich über dieselbe Sache entrüsten kann. Das hätte den positiven Effekt, dass sie eher auf das hören wird, was man ihr sagt.367 Eine weitere therapeutische Maßnahme besteht darin, die wütende Person hinzuhalten. Seneca geht wie bei der Therapie der eigenen Wut davon aus, dass durch ein Verzögern der Rache auch die Begierde nach ihr verloren geht. Unklar bleibt aber, wie die Verzögerung im Falle der fremden Wut genau zu deuten ist. Eine plausible Annahme wäre, dass es jemandem so lange physisch unmöglich gemacht wird, sich zu rächen, bis er sich nicht mehr rächen will. Man kann die Wut der anderen Person aber auch aktiv stören, indem man ihr etwa Scham (pudor) oder Furcht (metus) einflößt.368 Befindet sich die therapierende Person in einer Machtposition, kann sie ebenso diese dafür einsetzen. Wie man sich das vorzustellen hat, macht Seneca anhand eines Vorfalls deutlich, der sich zwischen dem Kaiser Augustus und seinem Angestellten und Freund Publius Vedius Pollio ereignet haben soll.369 Vedius habe den Kaiser einmal zum Essen eingeladen. Als sie zusammensaßen, sei einem seiner Sklaven ein Kristalls
364 365 366
367
368 369
Vgl. Sen. dial. 5,39,2 (= de ira 3,39,2). Vgl. Sen. dial. 5,39,3 (= de ira 3,39,3). Vgl. Sen. dial. 5,40,2 (= de ira 3,40,2): Castigare vero irascentem et ultro obirasci incitare est […] („Einen Wütenden allerdings zu bestrafen oder gar seinerseits auf ihn wütend zu werden, das würde ihn nur noch mehr erregen“, Übers. Wildberger, modifiziert). Mir scheint, dass letzterer Punkt sowohl für den Fall gilt, wenn man tatsächlich auf ihn wütend wird, als auch für den Fall, wenn man nur so tut, als würde man wütend auf ihn werden. Vgl. Sen. dial. 5,39,3 (= de ira 3,39,3): Man gewinnt so „mehr Einfluss auf die Überlegungen“ (plus auctoritatis in consiliis habere, Übers. Wildberger). Vgl. Sen. dial. 5,39,4 (= de ira 3,39,4). Vgl. für diese Erzählung Sen. dial. 5,40,2–4 (= de ira 3,40,2–4).
Der impetus
225
gefäß zerbrochen. Angeblich geriet Vedius daraufhin in Wut und wollte den Sklaven den Muränen zum Fraß vorwerfen. Augustus habe das aber nicht zugelassen und seine Macht eingesetzt. Er soll den Befehl erteilt haben, den Sklaven gehen zu lassen, alle Kristallgefäße zu zerbrechen und das Fischbecken zuzuschütten. – Hier wird die Wut des anderen hart bearbeitet (male tractare) und durch die Einflößung von Furcht geradezu zerschmettert.370 Alle diese eher nonverbalen wuttherapeutischen Techniken sind anzuwenden, kurz nachdem die fremde Wut ihren Zenit überschritten hat. Hat sie sich noch weiter abgeschwächt (si infirmior), kann man verbal mehr erreichen. Beispielsweise ist es möglich, das Gespräch auf etwas Angenehmes oder Neues und Ungewöhnliches zu bringen, um die Neugierde der wütenden Person zu wecken und sie so abzulenken (cupiditate cognoscendi avocare).371 Zur Veranschaulichung führt Seneca die Geschichte von einem Arzt und einer Prinzessin an: Während er ihr mit einem Schwamm eine wohltuende Tinktur auf die geschwollene Brust tupfte, nahm er mit einem darin versteckten Messer einen operativen Eingriff vor.372 Die Prinzessin hätte den Schmerz nicht ertragen, wenn sie nicht abgelenkt worden wäre. Das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, ist aber nicht die einzige Möglichkeit, fremde schon schwächere Wut mit Worten zu therapieren. Man kann der wütenden Person auch etwas sagen, das sie und ihre individuelle Biographie betrifft, die man dafür natürlich einigermaßen kennen müsste.373 Einer Person, die weise werden will, muss man zum Beispiel sagen: „Willst du wirklich die Gesundheit deiner Seele aufs Spiel setzen?“, einem Politiker dagegen: „Achte auf deine Wählerstimmen.“ Die Bitten, die Zurechtweisung und das Geständnis, die Seneca zu Beginn des dritten Buches von De ira erwähnt, könnten ebenso zu den eher verbalen wuttherapeutischen Techniken gerechnet werden, die einzusetzen sind, wenn sich die fremde Wut noch weiter abgeschwächt hat. Die Zurechtweisung scheint für Seneca aber auch eine Technik zu sein, um entstehende fremde Wut zu beenden.374 s
370
371 372 373
374
Vgl. Sen. dial. 5,40,5 (= de ira 3,40,5). An dieser Stelle sagt Seneca nicht, dass Augustus Vedius mit seiner Aktion auch Scham einflößen wollte. Das mag daran liegen, dass Vedius ein schamloser Mensch war (vgl. für seine crudelitas Sen. clem. 1,18,2). Vgl. Sen. dial. 5,39,4 (= de ira 3,39,4). Vgl. ebd. So interpretiere ich Sen. dial. 5,40,1 (= de ira 3,40,1): „Dem einen wirst du sagen […], dem anderen […], dem Dritten […]“ (eig. Übers.). Im Folgenden wähle ich zwei eigene Beispiele, die Senecas Punkt meines Erachtens noch deutlicher machen. Vgl. Sen. dial. 5,13,3f. (= de ira 3,13,3f.). Seneca erzählt dort eine Anekdote über Sokrates, bei dem es ein Vorzeichen von Wut (irae signum) gewesen sein soll (für signum in der Bedeutung von praenuntium vgl. Sen. dial. 5,10,2f. [= de ira 3,10,2f.]), wenn er seine Stimme senkte und weniger sagte. Wer ihn gut kannte, hätte seinen Gemütszustand sofort bemerkt und ihn überführen können. Angeblich wurde er in dieser Hinsicht auch gern überführt: Er habe seinen Freunden das Recht gegeben, ihn zurechtzuweisen (obiurgare). Und so fordert Seneca dazu auf, dass auch wir dies tun sollen: „Wir sollten
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Die Ethik
Alles in allem betrachtet kann man festhalten, dass Seneca, so wie er für die Momente der entstehenden Wut verschiedene Techniken anbietet, um ihren Ausbruch zu verhindern, auch für die Momente der tatsächlich auftretenden eigenen und fremden Wut verschiedene Techniken anbietet, um ihre Stärke noch schneller zu reduzieren – bis auf den allerersten Moment, wenn die Wut gerade ausgebrochen und zu stark ist, als dass man sie aufhalten könnte: Da bleibt einem nichts anderes übrig, als ihr zu weichen. Die Orientierung an den verschiedenen Momenten tatsächlich auftretender Wut ist bei der Therapie fremder Wut noch ausgeprägter als bei der Therapie der eigenen Wut: Je nachdem, wie sehr die fremde Wut die fremde Vernunft in Beschlag nimmt, empfiehlt sich der Einsatz von eher nonverbalen oder eher verbalen wuttherapeutischen Techniken. Die Berücksichtigung der einzelnen Wutmomente ist aber hier wie dort förderlich, um den „gewaltigen Antrieb“ rasch wieder unter Kontrolle zu bringen und moralischen Fortschritt von neuem zu ermöglichen. 3.3.5 Therapie von Furcht Die Befreiung von Furcht375 gelingt nach Senecas Auffassung am ehesten dann, wenn man bei ihren Gründen (causae) ansetzt. Einige Gründe für Furcht sind echt, andere scheinen Gründe zu sein (alias esse, alias videri).376 Für die echten oder faktischen Gründe gibt Seneca kein Beispiel, zu den kontrafaktischen rechnet er den Tod. Er ist deshalb ein kontrafaktischer Grund für Furcht, weil diese auf einer falschen Meinung von ihm beruht: „Nicht fürchten wir den Tod, sondern die Vorstellung vom Tod [...]“ (non mortem timemus, sed cogitationem mortis).377 Wenn wir uns also von unserer Furcht vor dem Tod befreien wollen, müssen wir unsere Meinung von ihm ändern; wir müssen uns bewusst machen, was der Tod in Wirk-
s
375
376 377
unsere besten Freunde bitten, dass sie gerade und vor allem dann frei und offen mit uns sprechen, wenn wir das am wenigsten hinnehmen können, und dass sie unserer [entstehenden] Wut nicht beipflichten [nec assentiatur irae nostrae]“ (Übers. Wildberger; Senecas Appell passt inhaltlich nur dann ganz zur Sokrates-Anekdote, wenn man die Wut hier als entstehende und nicht als voll ausgeprägte Wut begreift). Seneca trifft nirgends eine explizite Unterscheidung zwischen der Befreiung von Furcht bei sich und bei anderen. Deshalb treffe auch ich sie hier nicht. Es spricht aus meiner Sicht aber nichts dagegen, dass die von ihm vorgeschlagenen furchttherapeutischen Techniken mutatis mutandis sowohl auf sich selbst als auch auf andere angewandt werden können. Vgl. Sen. epist. 30,17. Ebd., Übers. Rosenbach, modifiziert. An anderen Stellen spricht Seneca in einem ähnlichen Zusammenhang auch von einer Meinung (opinio) und nicht von einer Vorstellung (vgl. hierzu S. 93, Fußn. 292). Ich werde im Folgenden auf diesen Begriff zurückgreifen.
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lichkeit ist. Gewissermaßen haben wir es also auch hier mit einer Prüfung der intentionalen Objekte zu tun,378 diesmal findet sie jedoch in einem anderen Affektstadium statt. Im 30. Brief soll uns Aufidius Bassus, ein bekannter Historiker der frühen Kaiserzeit,379 demonstrieren, wie wir uns von der Furcht vor dem Tod befreien können.380 Seneca beschreibt Bassus als einen sehr alten und gebrechlichen Mann. Er ist so alt und gebrechlich, dass sein baldiger Tod gewiss ist.381 In andere, nicht altersbedingte Todesarten mischen sich noch Hoffnung: Eine Krankheit endet bisweilen, ein Brand wird gelöscht, das Meer, das das eigene Schiff zum Sinken gebracht hat, spült einen wieder an Land.382 Hier aber gibt es keine Hoffnung mehr: „Nichts hat, was er hoffen kann, wen das Alter zum Tode führt.“383 Die meisten Menschen würden sich in so einer Situation fürchten. Bassus hingegen lebt furchtlos, als überlebe er sich selbst; er hält das natürliche Verlangen nach der Weiterexistenz seiner eigenen Person weise im Zaum (sapienter ferre desiderium sui).384 Seinen Freunden erzählt er, wie wir von Seneca erfahren, warum er furchtlos ist. Immer wieder betont er, dass es am sterbenden Menschen selbst liegt, wie ihm der Tod erscheint. Erscheint er ihm unangenehm und furchterregend, ist es dessen eigener Fehler (morientis vitium esse). 385 Man muss sich daher darum bemühen, seine Meinung über den Tod richtigzustellen. Als jemand, der Epikurs Vorschriften Folge leistet (Epicuri praeceptis obsequens),386 argumentiert Bassus verständlicherweise diesen entsprechend, dass der Tod eine Auslöschung der Empfindung ist.387 Ohne Empfindungsvermögen kann man weder Schmerzen haben noch sonst irgendein Übel erleiden. Insofern kann der Tod nicht schlimm sein. Wenn er aber nicht schlimm ist, warum sollte man sich dann vor ihm fürchten?388 Sich vor dem Tod zu fürchten würde bedeuten, dass s
378 379 380 381 382 383 384 385
386 387
388
Vgl. S. 217–219. Vgl. die erste Anmerkung von Manfred Rosenbach zum 30. Brief in seiner Ausgabe von Senecas philosophischen Schriften (Bd. 3) und Quint. inst. 10,103. Das Motiv des Greisen, der vorbildlich mit dem Alter umgeht, findet sich auch in Ciceros Schrift Cato maior de senectute. Vgl. Sen. epist. 30,1–3. Vgl. ebd., 30,4. Vgl. ebd., Übers. Rosenbach, modifiziert. Vgl. Sen. epist. 30,5. Vgl. ebd. Vgl. auch ebd., 30,16: Illud quidem aiebat tormentum nostra nos sentire opera […] („Jene Qual freilich – sagte er – empfinden wir durch unsere eigene Schuld […]“, Übers. Rosenbach). Vgl. Sen. epist. 30,14. Vgl. hier und im nachfolgenden Satz ebd., 30,6; Epik. kyr. dox 2 (= DL 10,139) und Epik. Men. 124f. Vgl. den etwas kryptischen Satz in Sen. epist. 30,6f.: „Also, sagt er [Bassus], der Tod steht so sehr außerhalb alles Leidens, dass er auch außerhalb jeder Furcht vor Leiden steht“ (Übers. Rosenbach). Ein echter Grund für Furcht (siehe oben) könnte demzufolge
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man sich vor etwas fürchtet, das nicht schlimm ist, und das wäre töricht. Das Sterben wiederum kann mit Schmerz verbunden sein, dessen ist sich Bassus in Senecas Darstellung bewusst. Auch in diesem Zusammenhang macht er sich eine Annahme Epikurs zu eigen. Er geht davon aus, dass kein starker Schmerz lange währt (nullum enim dolorem longum esse qui magnus est).389 Empfindet eine sterbende Person also starken Schmerz, empfindet sie ihn nicht lange, weil dann der Tod eintritt und mit ihm das Empfindungsvermögen ausgelöscht wird – ein Gedanke, in dem erheblicher Trost liegt.390 Denn wenn es wirklich so ist, dass kein starker Schmerz lange währt, ist das Sterben weniger schlimm und bietet somit einen geringfügigeren Anlass für Furcht. Die anderen beiden Argumente, die Seneca Bassus in den Mund legt, lassen weniger eindeutig epikureisches Gedankengut erkennen. Das erste beruht auf der Prämisse, dass der Tod eine natürliche Bedingung des Lebens ist.391 Mit der Geburt ist auch er gewiss: Nach der Jugend kommt das Alter, und im Idealfall folgt der Tod auf das Alter.392 Wieso sollte man sich also vor etwas fürchten, an dem man ohnehin nichts ändern kann? Was sich nicht ändern lässt, das kann kein Übel sein.393 Im zweiten Argument nimmt Bassus weniger den Tod und das Sterben in den Blick als vielmehr die Todesursachen. 394 Bisweilen fürchten wir uns vor ihnen, insbesondere dann, wenn irgendeine zu nahen scheint (cum aliqua causa moriendi videtur accedere). In diesem Fall sollen wir bedenken (consideremus), dass eine andere Todesursache, vor der wir uns nicht fürchten, die uns also nicht als solche und nicht als schlecht erscheint, viel näher sein kann: Beispielsweise wird jemand von einem anderen mit dem Tod bedroht, stirbt dann aber an seiner schlechten Verdauung. Bassus will damit zum Ausdruck bringen, dass es eigentlich keinen Grund gibt, eine absehbare Lebensgefahr für ein Übel zu halten, da der Tod überall lauert. Wenn der Tod aber überall lauert, müsste man sich vor allem fürchten und das ist absurd.
s
389
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393
394
etwas sein, von dem man wirklich etwas erleiden kann, zum Beispiel von einer herannahenden Schneelawine. Vgl. Sen. epist. 30,14 und Epik. kyr. dox. 4 (= DL 10,140). Zur Kritik dieses Hauptlehrsatzes vgl. Cic. fin. 2,93–95 und Cic. Tusc. 2,44f. Vgl. Sen. epist. 30,14. Vgl. hier und im Folgenden ebd., 30,10f. Zur topischen Verwendung dieses und weiterer Trostargumente vgl. Zimmermann 2008. Pythagoras soll die Lebensalter nach den Jahreszeiten eingeteilt haben: Dem Knabenalter entspreche der Frühling, der Jugend der Sommer, dem Mannesalter der Herbst und dem Greisenalter der Winter (vgl. DL 8,10). Vgl. auch Cic. Tusc. 1,119 (Übers. Kirfel): „Kann aber das, was für alle notwendig ist, für einen einzelnen ein Unglück sein?“ (quod autem omnibus necesse est, idne miserum esse uni potest?). Vgl. hier und im Folgenden Sen. epist. 30,16f.
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Solche Argumentationsweisen können bewirken, dass jemand seine falschen (wertenden) Meinungen über den Tod und das, was mit ihm zusammenhängt, aufgibt und sich auf diese Weise von seiner Todesfurcht befreit. Man könnte aus jenen Argumentationsweisen sogar Rückschlüsse auf den Inhalt dieser falschen (wertenden) Meinungen ziehen. Was denkt eine Person, die man davon überzeugen muss, dass der Tod eine Auslöschung der Empfindung ist und dass starke Schmerzen beim Sterben nicht lange währen? Vermutlich: „Tot zu sein ist schlecht“, und: „Es ist ein Übel zu sterben, weil man dabei Schmerzen empfindet.“ Bei der Person, der man klar machen muss, dass der Tod eine natürliche Bedingung des Lebens ist, könnte man dagegen annehmen, dass sie sich ihrer Sterblichkeit nicht bewusst ist – sie lebt, als müsste sie niemals sterben. So gesehen hätte sie gar keine Meinung. Aber sobald sie sich ihrer Sterblichkeit bewusst wird, könnte sie die wertende Meinung bilden, dass die begrenzte Lebenszeit ein Übel ist, und hier wäre es angebracht, mit der Natürlichkeit der Begrenzung zu argumentieren. Die wertende Meinung der Person, die man davon überzeugen muss, dass der Tod überall lauert, könnte schließlich lauten: „Was zum Tod führt, ist ein Übel.“ *** Neben dem 30. Brief beschäftigt sich Seneca insbesondere im sechsten Buch der „Naturwissenschaftlichen Untersuchungen“ (Naturales quaestiones) mit Möglichkeiten, Furcht zu therapieren.395 Ein mehrere Tage währendes heftiges Erdbeben,396 das sich wahrscheinlich im Februar 62 in Kampanien ereignete397 und „der gesamten Welt Gesprächsstoff bot“,398 bewog ihn dazu, es zu schreiben. Das Erdbeben hat einige Menschen tief schockiert und in Furcht vor weiteren Erdbeben zurückgelassen.399 Ihnen will Seneca helfen: „Wir müssen für die Verängstigten Trost suchen und sie von ihrer tiefen Furcht befreien“ (quaerenda sunt trepidis solacia, et demendus ingens timor).400 Wovor sich diese Menschen fürchten, ist genau genommen nicht das Erdbeben an sich, sondern s
395
396 397 398 399
400
In jüngerer Zeit haben sich vor allem Brad Inwood und Gareth Williams mit dem sechsten Buch (und mit allen anderen Büchern) der Naturales quaestiones befasst (vgl. Inwood 2005, S. 178–185 und Willams 2012, S. 213–257). Inwood bezeichnet das sechste Buch als das geschliffenste und kraftvollste der gesamten Schrift („the most polished and effective book in the entire Naturales Quaestiones“, Inwood 2005, S. 184). Vgl. Sen. nat. 6,31,1. Vgl. Inwood 2005, S. 178 und Williams 2012, S. 213 sowie Anm. 2. Vgl. Sen. nat. 6,25,3f. Vgl. Sen. nat. 6,1,3. Die Furcht, um die es sich hier handelt, ist also keine Furcht, die während eines Erdbebens empfunden wird, sondern eine Furcht, die in Bezug auf ein zukünftiges Erbeben empfunden wird. Vielleicht würde Seneca ein tatsächlich stattfindendes Erdbeben als echten Grund für Furcht betrachten. Ebd., 6,1,4, Übers. Schönberger, mit der ich auch im Folgenden arbeite.
230
Die Ethik
(1) (2) (3) (4)
dass sie bei einem weiteren Erdbeben sterben werden,401 dass bei einem weiteren Erdbeben etwas zerstört wird, dass sie bei einem weiteren Erdbeben verletzt werden, dass die Götter ihnen Böses wollen und ein weiteres Erdbeben verursachen.
Daraus lässt sich ableiten, dass ihre Furcht vor Erdbeben auf einer oder mehreren von vier wertenden Meinungen beruht: (1*) „Der Erdbebentod ist ein Übel“, (2*) „Die von einem Erdbeben angerichtete Zerstörung ist ein Übel“, (3*) „Bei einem Erdbeben verletzt zu werden, ist ein Übel“, (4*) „Dass die Götter uns Böses wollen und Erdbeben verursachen, ist ein Übel“. Seneca versucht mit bestimmten Trostmitteln (solacia/remedia)402 die sich Fürchtenden zu einer Änderung ihrer wertenden Meinung(en) zu bewegen. Ändern sie diese, so scheint sein Gedanke zu sein, verlieren sie auch ihre Furcht. Als Erstes wendet er sich gegen die wertende Meinung, dass der Erdbebentod ein Übel ist (1*):403 Nihil [...] interest utrum me lapis unus elidat an monte toto premar; utrum supra me domus unius onus veniat et sub exiguo eius cumulo ac pulvere exspirem, an totus caput meum terrarum orbis abscondat; in luce hunc et in aperto spiritum reddam, an in vasto terrarum dehiscentium sinu; solus in illud profundum, an cum magno comitatu populorum concadentium ferar. Es ist […] ganz gleich, ob mich nur ein Stein zerschmettert oder ein ganzer Berg zerquetscht, ob über mich die Last nur eines Hauses kommt und ich unter seinem kleinen Staubhügel ersticke oder ob die ganze Erde mein Haupt verschüttet, ob ich im Licht und im Freien meinen Atem aushauche oder in der ungeheuren Kluft der sich spaltenden Erde, ob ich allein in diese Tiefe stürze oder im großen Geleit mitfallender Völkerscharen.
Der Tod unterscheidet sich demnach niemals – er ist überall identisch –, obwohl verschiedene Wege zu ihm führen. Der Erdbebentod kann daher nicht schlimmer s
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Sie fürchten sich vor einer bestimmten Todesart (genus mortis, vgl. Sen. nat. 6,1,8). Er changiert zwischen beiden Ausdrücken. Man könnte sich fragen, worin sie sich für ihn unterscheiden. Meine Vermutung ist, dass er remedia als Oberbegriff für alle affektpräventiven und affekttherapeutischen Techniken verwendet, während er von solacia vor allem dann spricht, wenn es um die Therapie von Furcht und Kummer geht – noch mehr, wenn es um die Therapie von Kummer geht (vgl. hierzu die Stellenangaben in Delatte/Evrard et al. 1981, S. 658f. und 704). Sen. nat. 6,1,9.
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sein als ein Tod, den man unter anderen Umständen findet. Die sich fürchtende Person, die denkt, der Erdbebentod sei ein Übel, wird dadurch vielleicht nicht von ihrer wertenden Meinung abgebracht; im Idealfall wird sie sich vor dem Erdbebentod aber weniger fürchten als vor einem anderen Tod. Daraufhin zieht Seneca in stoischer Façon das Schicksal als Trostmittel heran. Diesmal wendet er sich primär gegen die wertende Meinung, dass Zerstörung ein Übel ist (2*). Nicht nur Menschen als körperliche Wesen, sondern Städte, Landstriche, Küsten, das Meer, kurzum: Die gesamte externe Welt steht unter der Zwingherrschaft des Schicksals (in servitutem fati venit). 404 Was es heute verschont hat, kann es morgen schon zerstören. Und doch versprechen wir uns bleibende materielle Güter (bona fortunae) und glauben, dass das materielle Glück (felicitas) Bestand haben wird.405 In diesem Irrglauben haben sich auch jene befunden, die Kampanien verlassen und geschworen haben, nie wieder zurückzukehren.406 Sie hätten nicht bedacht, dass sie auch an dem Ort, an den sie sich geflüchtet haben, vor dem Schicksal nicht sicher sind.407 Worin sollte in alldem aber der Trost liegen? Seneca ist sich klar, dass seine Ausführungen das Potenzial haben, die Furcht vor Erdbeben sogar noch zu verstärken: Wenn man glaubt, dass überall Erdbeben geschehen können, wird man umso mehr mit einer durch sie herbeigeführten Zerstörung rechnen und sich deswegen umso mehr fürchten.408 Dennoch bleibt er bei seiner Überzeugung, dass die Allgegenwart des Schicksals Trost spendet409 – ohne dies jedoch genauer zu erläutern. Ein Anhaltspunkt, warum er davon überzeugt ist, lässt sich dem Vergil-Zitat entnehmen, das er anführt. Was für die Trojaner gilt, das gilt für die gesamte Menschheit: „Eines nur rettet Besiegte, auf keine Rettung zu hoffen“ (una salus victis nullam sperare salutem).410 Mit diesem Zitat will Seneca suggerieren, dass die Akzeptanz eines allgegenwärtigen Schicksals zur Befreiung von der Erdbebenfurcht verhilft. Wenn ein Erdbeben überall stattfinden und Zerstörung anrichten kann und man „auf keine Rettung zu hoffen“ braucht, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als diese Gewissheit zu akzeptieren. Man könnte sie natürlich trotzdem nicht akzeptieren, aber das wäre irrational und töricht. Die Aufgabe der wertenden Meinung, dass die von einem Erdbeben ange-
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Vgl. Sen. nat. 6,1,14. Vgl. ebd., 6,1,14f. Es ist bemerkenswert, dass Seneca felicitas nicht nur in einer positiven Bedeutung verwendet. Vgl. ebd., 6,1,10. Vgl. ebd., 6,1,15. Vgl. ebd., 6,2,1. Vgl. ebd. Sen. nat. 6,2,2f. und Verg. Aen. 2,354.
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richtete Zerstörung ein Übel ist, soll also durch die Betonung seiner Unvermeidlichkeit erreicht werden. Senecas Grundüberzeugung ist offenbar, dass Gewissheiten beruhigend wirken.411 Wie früher erwähnt, unterliegen wir aus Senecas Sicht qua unseres Körpers den Gesetzen des Schicksals.412 Wir sind, um es mit seinen Worten auszudrücken, unbedeutende und schwächliche Körperchen (nugatoria esse nos et imbecilla corpuscula).413 Als solche sind wir anfällig für die unbedeutendsten Dinge. Diese Tatsache macht Seneca zu einem weiteren Trostmittel und entwickelt daraus ein Argument, mit dem er sich gegen die der Erdbebenfurcht zugrunde liegende wertende Meinung richtet, dass es ein Übel ist, bei einem Erdbeben verletzt zu werden (3*). Es hat die Form einer reductio ad absurdum und kann folgendermaßen wiedergegeben werden: (i) Wir fürchten uns vor Erdbeben, weil wir die Verletzungen, die unserem Körper dabei zugefügt werden, für ein Übel halten. (ii) Unser Körper kann aber von allem verletzt werden. (c) Also müssen wir uns vor allem fürchten. Ähnlich, aber nicht ganz so subtil ließ Seneca schon Bassus argumentieren. Ein weiterer Unterschied zur Bassus-Episode ist, dass er nun die Absurdität der Konsequenz herauszustellen versucht: Wenn man sich vor einem Erdbeben fürchtet, muss man sich auch vor einem Schnupfen fürchten, wenn vor dem Meer, dann auch vor einem Schluck Wasser – ja sogar vor einem Wassertropfen muss man sich dann fürchten, denn er kann uns genauso töten.414 Um die absurde Konsequenz, sich vor allem fürchten zu müssen, zu vermeiden, soll man lieber gar nichts fürchten. Konkret bedeutet das: Man darf weder ein Erdbeben noch irgendetwas anderes, das verletzen kann, für ein Übel halten.
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Vgl. auch S. 228 und Fußn. 393. Ähnlich argumentiert Wessels 2016, S. 223f.: „Die einzige Gewissheit, die der verunsicherte Mensch seiner Verunsicherung entgegensetzen kann, ist demnach die Gewissheit, dass es absolute Sicherheit schlichtweg nicht geben kann.“ Zur Verbindung von Furcht und Hoffnung bei Seneca vgl. Wacht 1998, S. 532–534. Vgl. S. 163f. In den Stellen, auf die ich dort verwiesen habe, wird das Schicksal allerdings als fortuna bezeichnet – als wechselhafter Weltverlauf. Der Grund dafür ist der ethische Kontext: Um uns dem willkürlich erscheinenden Walten der fortuna zu entziehen, müssen wir die Tugend erwerben. Unser Körper wird dann zwar weiterhin ihrem Einfluss ausgesetzt sein, nicht aber unsere Seele. In physikalischen Zusammenhängen wie hier in den Naturales quaestiones zieht Seneca die Verwendung des Ausdrucks fatum vor (vgl. Fischer 2008, S. 55). Zu seiner Differenzierung zwischen fortuna und fatum trotz häufigen synonymen Gebrauchs vgl. S. 212. Vgl. Sen. nat. 6,2,3. Vgl. ebd., 6,2,4f.
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Das hieran anschließende Argument, das Seneca als Trostmittel gegen die Erdbebenfurcht anführt,415 dürfte als das am wenigsten wirkungsvolle im sechsten Buch der Naturales quaestiones angesehen werden. Es betrifft die Art und Weise, wie man bei einem Erdbeben stirbt, und ist so gesehen wieder ein Angriff auf die wertende Meinung, dass der Erdbebentod ein Übel ist (1*). Letztlich geschieht dabei nichts anderes, als dass sich die Erde auf uns legt. Davon abgesehen, dass dies sowieso irgendwann geschieht – warum sollte das Sterben auf der Erdoberfläche leichter fallen? Seneca formuliert seinen Gedanken auch umgekehrt: Warum sollte das Sterben unter der Erdoberfläche schwerer fallen? Darin stecken nicht mehr Übel als in einem gewöhnlichen Tod (vulgaris mors). Im Gegenteil: Es gibt viel gemeinere Arten zu sterben.416 Zum Schluss stellt Seneca weniger ein Trostargument als vielmehr eine Maßnahme vor, mit der man sich von seiner Erdbebenfurcht befreien kann. Viele Menschen verfügen über kein Wissen über die Ursachen von Erdbeben, sondern haben die wertende (falsche) Meinung, dass die Götter ihnen Böses wollen (4*). Aber das trifft nicht zu: Die Vorgänge bei einem Erbeben haben ihre eigenen Ursachen (suas ista causas habent).417 Die Erschütterungen sind „[...] nicht befohlen, sondern es sind Störungen aufgrund bestimmter Mängel wie bei unserem Körper, und gerade wenn die Welt Gewalt auszuüben scheint, geschieht ihr Gewalt“.418 Die Ursachen für Erdbeben liegen also in der Erde und sind nicht auf irgendwelche Befehle der Götter zurückzuführen. Das kommt einer modernen naturwissenschaftlichen Auffassung nahe, erweist sich innerhalb des stoischen Systems aber als problematisch. Denn gerade bekräftigte Seneca noch, die gesamte externe Welt stehe unter der Zwingherrschaft des Schicksals, das die Stoiker gewöhnlich mit
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Vgl. hier und im Folgenden Sen. nat. 6,2,7–9. Vgl. ebd., 6,2,7. Am Ende fügt er hinzu, dass es während eines Erdbebens ungemein tröstet zu sehen, dass auch der Boden sterblich ist (vgl. ebd., 6,2,9). Damit soll vermutlich ebenfalls die wertende Meinung, dass der Erdbebentod ein Übel ist, angegriffen werden. Wenn alles um einen herum stirbt, spielt es keine Rolle mehr, wie man stirbt. Vgl. ebd., 6,3,1. Ähnliches sagt Seneca über andere Naturphänomene: vgl. Sen. dial. 4,27,1f. (= de ira 2,27,1f.) und S. 100, Fußn. 340. Für eine genauere Analyse von Senecas Naturgesetzbegriff vgl. Inwood 2005, S. 224–248. Inwood arbeitet insgesamt fünf Grundbedeutungen heraus (ebd., S. 239 fasst er sie zusammen). Eine besteht ihm zufolge darin, dass Naturphänomene ihre eigenen Ursachen haben (in seiner Aufzählung ist es die dritte Grundbedeutung). Naturgesetze sind demnach Beschreibungen gleichförmiger Prozesse bzw. Prinzipien, die diese Prozesse determinieren; sie zeichnen sich durch Beständigkeit (fixity) und Unwillkürlichkeit (non-arbitrariness) aus und sind daher zugleich zuverlässig (vgl. ebd., S. 231). Vgl. Sen. nat. 6,3,1: [...] nec ex imperio saeviunt, sed quibusdam vitiis ut corpora nostra turbantur, et tunc cum facere videntur iniuriam, accipiunt.
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Die Ethik
Gott419 oder einer seiner verschiedenen Personifizierungen gleichsetzen420 (meistens wird das Schicksal mit Zeus421 bzw. Jupiter422 identifiziert). Wie passt dazu die Annahme, dass bestimmte Ursachen in den Dingen selbst liegen und deren Veränderungen bedingen? Seneca will in jedem Fall die Verantwortung für Naturkatastrophen von den Göttern abwenden;423 gleichzeitig beruft er sich auf die Allgegenwart des Schicksals. Daraus könnte man folgern, dass er das Schicksal hier aus furchttherapeutischen Gründen nicht mit Gott bzw. den Göttern gleichsetzen will.424 Dass alle externen Dinge dem Schicksal unterstehen und die Ursachen ihrer Veränderung in ihnen selbst liegen, ist innersystematisch gesehen dagegen eine weniger problematische Annahme, denn Seneca äußert sich nirgends so, als wolle er dem Schicksal die Teilhabe an Naturkatastrophen absprechen. Außerdem ist es gut vorstellbar, dass die Ursachen für Veränderungen in den externen Dingen liegen und zugleich Glieder in der Kausalkette des Schicksals sind.425 Gegen die wertende Meinung, dass die Götter uns Böses wollen und darum Erdbeben hervorrufen, gibt es nur ein Heilmittel: die Aneignung von Wissen.426 s
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Vgl. etwa LS 54 B (= Cic. nat. 1,39) und LS 55 N 4 (= Alex. Aphr. fat. 192,27f.). Für verschiedene römische Personifizierungen vgl. Sen. benef. 4,8,1. Vgl. LS 55 R (= Plut. de Stoic. rep. 1056 C). Vgl. Cic. fat. 45, F 3 (= Aug. civ. 5,8). Er könnte hier wieder auf epikureisches Gedankengut zurückgreifen, vgl. Lucr. 2,1090– 1104. In eher theoretischen Kontexten identifiziert er das Schicksal mit Gott, vgl. Sen. benef. 4,7,2: Hunc eundem [sc. deum] et fatum si dixeris, non mentieris; nam quom fatum nihil aliud sit quam series implexa causarum, ille est prima omnium causa, ex qua ceterae pendent („Wenn du denselben [Gott] auch als Schicksal bezeichnest, wirst du nicht lügen; denn weil das Schicksal nichts anderes ist als eine in sich verknüpfte Folge von Ursachen, ist er die erste Ursache von allem, von der die übrigen abhängen“, Übers. Rosenbach, modifiziert). Nach Maßgabe dieses Zitats ist Gott insofern Schicksal, als er die Schicksalskette initiiert. Ähnlich heißt es in Sen. prov. 5,8, dass Gott die Schicksalsbeschlüsse schreibt und sie dann selbst befolgt. Somit wäre er in der Tat für Naturkatastrophen verantwortlich. Für weitere Belege für Senecas Gleichsetzung des Schicksals mit Gott vgl. Sen. benef. 4,8,3 und Sen. nat. 2,45,1f. Zu Senecas ebd., 6,3,1 anzutreffendem unorthodoxen Naturverständnis vgl. Rosenmeyer 2000, S. 111–116 und Reydams-Schils 2010, S. 209–2011. Beide berücksichtigen allerdings den therapeutischen Kontext nicht zur Genüge. Er erklärt, warum Seneca sich unstoisch äußert. Neben dem Aberglauben, dass Erdbeben eine Art göttlicher Strafe sind, wird Seneca zufolge die Furcht vor Erdbeben dadurch begünstigt, dass wir Erdbeben nicht gewohnt sind (vgl. Sen. nat. 6,3,2). Dagegen kann man etwas tun, indem man die Natur mit der Vernunft und nicht bloß mit den Augen auffasst, indem man bedenkt, was sie zu tun vermag (vgl. ebd.). Mit diesen Worten spricht Seneca zweifellos die bewusste Vorwegnahme zukünftiger ,Übel‘ an, eine Technik, mit der ich mich eingehend an anderer Stelle beschäftigt habe (S. 208–212). Daher gehe ich hier nicht auf sie ein. Vgl. Sen. nat. 6,3,4: Et cum timendi sit causa nescire, non est tanti scire, ne timeas? („[...] und da der Grund unserer Furcht in der Unkenntnis liegt, ist es denn da nicht sehr der Mühe wert, sich Wissen zu erwerben, um nicht zu fürchten?“).
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Das Wissen, um das es hierbei geht, ist eines von den tatsächlichen Ursachen (causae) für Erdbeben.427 Bisher hat Seneca nur gesagt, dass diese in der Erde liegen müssen; nun geht er ins Detail. Wie sich herausstellt, ist das Detail jedoch selbst umstritten:428 Causam qua terra concutitur alii in aqua esse, alii in ignibus, alii in ipsa terra, alii in spiritu putaverunt, alii in pluribus, alii in omnibus his. quidam liquere ipsis aliquam ex istis causam esse dixerunt, sed non liquere quae esset. Einige meinten, die Ursache der Erdbeben liege im Wasser, andere, sie liege im Feuer, wieder andere suchten sie in der Erde selbst, andere in der Luft, manche in mehreren dieser Ursachen, wieder andere in allen zusammen. Einige sagten, sie wüssten zwar, eine dieser Ursachen müsste es sein, doch sei ihnen nicht klar, welche.
Seneca neigt zu der Position, die die Luft als Ursache für Erdbeben ansieht.429 Für die Therapie scheint aus seiner Sicht aber nicht entscheidend zu sein, sich darauf festzulegen. Das Wissen, dass eines der vier Elemente oder eine Kombination aus ihnen die Ursache ist, genügt, um die wertende Meinung, dass uns die Götter Böses wollen, und die daran geknüpfte Furcht vor Erdbeben zu beseitigen.430 Im Anschluss an seine Untersuchung über die Positionen zur Ursache/zu den Ursachen von Erdbeben stellt Seneca nochmals Möglichkeiten vor, wie sich die Furcht vor dem Erdbebentod therapieren lässt.431
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Vgl. Sen. nat. 6,3,4: quanto satius est causas inquirere, et quidem toto in hoc intentum animo („Wieviel besser ist es doch, die Ursachen zu erforschen, und zwar mit voller Anspannung der Seele“, Übers. modifiziert). Vgl. auch ebd., 6,4,1. Ebd., 6,5,1f. Vgl. ebd., 6,18,1, 21,1 und 24,1. Zur therapeutischen Methode der Mehrfacherklärung vgl. Erler 2014, Erler 2018 und Erler 2020, S. 129–155. Er hat herausgearbeitet, dass es sich hierbei um eine aus dem forensischen Kontext stammende rhetorische Strategie handelt, die im Grunde eine persuasio bzw. peithô ist. Ihre Verwendung könne bis zu Platon zurückverfolgt werden. Danach wurde sie, wie Erler zeigt, von Epikur, Lukrez, Cicero, Sextus Empiricus, Marc Aurel und Boethius gebraucht. Seneca scheint sie ebenfalls zu kennen und anzuwenden (vgl. hierzu auch S. 242). Vgl. Sen. nat. ab 6,32,1. Zu ihnen gehört die Geringschätzung des eigenen Lebens (wer nicht glaubt, dass sein Leben viel wert sei, verliert auch die Furcht davor, es zu verlieren, vgl. ebd., 6,32,4). Außerdem gehört die kontinuierliche Bereitwilligkeit, sein Leben herzugeben, dazu (vgl. ebd., 6,32,5–7), die von der Sache her die Geringschätzung des eigenen Lebens voraussetzt. Weitere Möglichkeiten, sich von der Furcht vor Erdbeben zu befreien, bestehen in der Akzeptanz, dass der Tod ohnehin unausweichlich ist (vgl. ebd., 6,32,8; diese Tatsache bezeichnet Seneca etwas später als Naturgesetz, als naturae lex [vgl. ebd., 6,32,12]) und dass es keinen Unterschied macht, ob man früher
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Mit allen diesen Trostmitteln und denen, die Seneca Bassus verkünden lässt, kann man sich von bestimmten Arten von Furcht befreien. Es kommt dafür darauf an, die wertenden Meinungen ausfindig zu machen und sie unter Bezugnahme auf ihr jeweiliges intentionales Objekt (zum Beispiel den Tod oder eine bestimmte Todesart) als falsch herauszustellen. Die Auffindung und Widerlegung von normativen Meinungen (wie etwa „Fürchten!“)432 spielt für Seneca dabei offenbar keine Rolle. Daraus lässt sich schließen, dass er ausschließlich den Angriff auf wertende Meinungen für furchttherapeutisch wirksam hält. Dieser Angriff muss zudem nicht immer auf demselben Weg geschehen und es muss nicht immer ein stoischer sein: Senecas therapeutisches Vorgehen zeigt, dass selbst epikureische Argumentationsweisen legitim sind, solange sie der Affektbefreiung dienen. Für die Verfolgung eines stoischen Ziels bedarf es also nicht zwangsläufig einer stoischen Argumentation. Darum verliert Seneca, wenn er in einem therapeutischen Kontext unstoisch argumentiert, auch nicht seinen Status als Stoiker.433 3.3.6 Therapie von Kummer Wie bei der Furcht- und teilweise bei der Wuttherapie steht für Seneca auch bei der Therapie von Kummer das intentionale Objekt des Affekts im Vordergrund. Das offenbaren seine Konsolationsschriften. Er passt seine Techniken zur Bewältigung fremden Kummers434 dort von vornherein an das an, was den Adressat*innen zusetzt: Polybius’ Bruder ist gestorben, Helvias Sohn – Seneca – muss in der s
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434
oder später stirbt (vgl. ebd., 6,32,9–12). Diese beiden Techniken zielen womöglich gegen die wertenden Meinungen, dass es gut ist, dem Tod zu entkommen, und dass es schlecht ist, frühzeitig zu sterben. Vgl. S. 112 und Fußn. 396. Vgl. zu Senecas Verhältnis zu Epikur und den Epikureern Graver 2016 und Graver 2020. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass seine Affirmation epikureischer Dogmen ihn nicht dazu verpflichtet, Partei für die Schule zu ergreifen. Kaufman 2014, S. 131 gelangt zu einer ähnlichen Feststellung im Hinblick auf die Therapie von Affekten. Wildberger 2014a schließt sich diesem Lager an, beschäftigt sich aber damit, wie Seneca als philosophisches Ich mit epikureischen Dogmen umgeht. Sie hat herausgearbeitet, dass er sie sich in den Epistulae morales zunächst zu eigen macht und sich dann immer weiter von ihnen entfernt (für Erklärungen, warum er sie sich zunächst zu eigen macht, vgl. Boys-Stones 2013, S. 132, der argumentiert, Seneca wolle Lucilius mit der Philosophie vertraut machen und greife dafür auf die besonders eingängige epikureische Philosophie zurück; mit Griffin 2007, S. 90f. ist Senecas Vorgehen in den frühen Briefen so zu erklären, dass er Lucilius’ Interesse an Epikur bedienen will – ein Interesse, das er fingiere –, um ihn dann schrittweise zum Stoizismus zu bekehren). Stellen, in denen Seneca explizit der Frage nachgeht, wie man sich selbst von Kummer befreien kann, sind mir nicht bekannt. Man kann die Konsolationsschrift an seine Mutter Helvia allerdings so lesen, dass er mit ihr auch sich selbst trösten wollte (vgl. auch Wiener 2008, S. 74f.). Insofern sind die dort angewandten Techniken zur Bewältigung
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Verbannung leben,435 und Marcia hat ihren Sohn Metilius verloren. Genau auf diese Affektgründe konzentriert sich Senecas stoisches Projekt, sie alle von ihrem Kummer zu befreien.436 Allerdings sollte man vor Therapiebeginn darauf achten, wie stark der Kummer der anderen Person ist. So schreibt Seneca an seine Mutter Helvia: „Deinem Kummer, solange er noch frisch wütete, durfte ich – das wusste ich – nicht entgegentreten, damit ihn nicht gerade die Trostworte reizten und entflammten [...].“437 Mit der Zeit verliert der Kummer jedoch an Stärke, was aber nicht bedeutet, dass er nicht noch lange sehr stark ausgeprägt sein kann – Marcia leidet zum Beispiel schon das dritte Jahr an einem heftigen Kummer.438 Und irgendwann löst er sich von allein auf.439 Diese Tatsache soll aber nicht dazu einladen, nichts gegen den Kummer zu unternehmen. Seneca hält es für schändlich, ihn allmählich abklingen
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fremden Kummers zugleich Techniken zur Bewältigung eigenen Kummers. Eine Trostschrift, die primär die Linderung des eigenen Kummers zum Ziel hatte, ist die uns nicht erhaltene Ciceros, die er anlässlich des Todes seiner Tochter Tullia verfasste (vgl. Cic. div. 2,3). Cicero unterstreicht aber, dass seine Consolatio auch anderen nutzen dürfte. Die genauen Hintergründe kann man bei Cassius Dio 60,8,4–6 nachlesen: Messalina, die Frau des Kaisers Claudius, war erbost über ihre Nichte Julia Livilla, weil sie ihr keine Ehrerbietungen erwies und ihr auch nicht schmeichelte. Außerdem war sie eifersüchtig, denn Julia Livilla war sehr schön und verbrachte viel Zeit mit Claudius. Deswegen erfand Messalina verschiedene Anschuldigungen gegen sie. Sie warf ihr unter anderem vor, Ehebruch mit Seneca begangen zu haben. Sie bezahlte das mit dem Leben, er musste ins Exil nach Korsika gehen. Vgl. auch Griffin 1976, S. 59f., die Senecas Verbannung auf das Ende des Jahres 41 datiert. Dass das übergeordnete Ziel aller drei Konsolationsschriften die Befreiung von Kummer ist, bezeugen Sen. dial. 11,7,4 (= ad Polyb. 7,4), Sen. dial. 12,4,1 (= ad Helv. 4,1) und Sen. dial. 6,1,5 (= ad Marc. 1,5). Vgl. Sen. dial. 12,1,2 (= ad Helv. 1,2): [...] dolori tuo, dum recens saeviret, sciebam occurrendum non esse ne illum ipsa solacia irritarent et accenderent [...] (Übers. Rosenbach). Vgl. Sen. dial. 6,1,7 (= ad Marc. 1,7): „Das dritte Jahr schon ist vergangen, ohne dass inzwischen etwas von jener ersten Kraft nachgelassen hat [nihil ex primo illo impetu cecidit] […]“ (Übers. Rosenbach, modifiziert). Seneca meint hier meines Erachtens nicht, dass Marcias Kummer auch nach drei Jahren so stark ist wie kurz nach seinem Ausbruch – wäre das der Fall, könnte er mit affekttherapeutischen Techniken nicht nur nichts dagegen ausrichten, sondern würde ihn sogar noch verschlimmern, wie aus der eben zitierten Stelle aus der Konsolationsschrift an Helvia hervorgeht. Daher nehme ich an, dass er die Hochphase des Kummers meint, die an den Ausbruch anschließt – ähnlich wie bei der Wut, wenn sie von einem Sturm übergeht in ein Kochen (vgl. S. 221f.). Vgl. Sen. epist. 63,12: [...] finem dolendi etiam qui consilio non fecerat, tempore invenit („Ein Ende des Kummers führt auch für den, der es nicht beabsichtigt hatte, die Zeit herbei“, eig. Übers.).
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zu lassen, ein kluger Mensch lässt am besten sobald wie möglich davon ab.440 Sobald die lähmende Wirkung des Kummers nachlässt, lohnt es sich damit zu beginnen, etwas gegen ihn zu tun. Das verdeutlicht: Die Therapie von Kummer hat sich wie die Therapie von Wut an verschiedenen Affektphasen zu orientieren. Dasselbe ist sicherlich für die Therapie von Furcht anzunehmen, auch wenn Seneca dies nicht ausdrücklich sagt.441 Sein Vorgehen bei Helvia und Marcia, deren Kummer sie nicht mehr paralysiert, ihnen aber immer noch zu schaffen macht, lässt sich wieder als ein Angriff auf bestimmte wertende Meinungen charakterisieren. Anders als in der Furchttherapie bekräftigt er seine Grundüberzeugung, dass ein Affekt auf mindestens einer wertenden Meinung beruht, diesmal sogar durch ein Argument:442 Den Trauernden plagt die Sehnsucht nach dem, den er liebt (movet lugentem desiderium eius quem dilexit); wenn aber jemand lebt und nur abwesend (nicht verbannt) ist oder abwesend sein wird (nicht verbannt werden wird),443 dann trauern wir nicht, obwohl wir uns dann nicht an ihm erfreuen können; also ist das, was uns quält, eine opinio – die Trauer bleibt aus, weil die bloße Abwesenheit der geliebten Person nicht als ein Übel gedeutet wird; ihr Tod (oder ihre Verbannung) wird dagegen als Übel gedeutet, darum trauern wir in diesem Fall auch. Vor dem Hintergrund des Modells der drei Affektbewegungen wäre aber auch ohne dieses Argument klar, dass Kummer auf mindestens einer wertenden Meinung beruhen muss. Im Folgenden möchte ich herausarbeiten, welche wertenden Meinungen aus Senecas Sicht Helvias und Marcias Kummer aufrechterhalten und wie er diese Meinungen im Einzelnen angreift. Dafür werde ich mich zuerst der Konsolationsschrift an Helvia und dann der an Marcia zuwenden. Von vornherein sei gesagt, dass Seneca in seinem therapeutischen Vorgehen, wie schon bei der Furchttherapie zum Teil deutlich geworden ist, häufiger auf andere Verständnisse von Gut und Schlecht und nicht ausschließlich auf die stoische Axiologie zurückgreift. Näheres wird sich aus der Untersuchung in den nächsten beiden Unterabschnitten ergeben.
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Vgl. Sen. epist. 63,12. Sein argumentatives Ankämpfen gegen die Furcht suggeriert, dass die Furcht, die er im Blick hat, nicht allzu heftig sein kann. Vgl. Sen. dial. 6,19,1 (= ad Marc. 19,1). Im Originaltext wird die Verbannung eigentlich nicht berücksichtigt. Weil im Folgenden aber auch die Konsolationsschrift an Helvia Gegenstand der Untersuchung ist, halte ich es für richtig, die Verbannung mit in das Argument aufzunehmen.
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3.3.6.1 Kummertherapie in der Konsolationsschrift an Helvia Seneca will seiner Mutter, wie er selbst sagt, all das vorhalten, wovon ihr Kummer erregt wird (quibus excitetur ingeram).444 Er will dessen Gründe zur Sprache bringen, auch wenn er damit riskiert, alte Wunden wieder aufzureißen.445 Einen Grund für Helvias Kummer sieht er in der wertenden Meinung, dass er in einer unglücklichen Lage ist. Deshalb macht er sich auf, ihr zu zeigen, dass dies nicht zutrifft: „Besiegen aber werde ich ihn [den Kummer], [...] wenn ich darlege, nichts leide ich, dessentwegen ich unglücklich genannt werden könnte, geschweige denn, dessentwegen ich auch diejenigen unglücklich mache, mit denen ich verwandt bin [...].“446 In seiner Darlegung schlägt er zunächst epikureische Töne an: Die Natur hat dafür gesorgt, dass zum guten Leben kein großer Aufwand nötig ist.447 Das bedeutet, er kann auch in der Verbannung, wo er unter spärlichsten Verhältnissen lebt, gut leben. Darüber hinaus versichert er Helvia, dass er in sicheren Händen ist: Er hat sich weisen Männern anvertraut und ist in ein „fremdes Lager“ geflohen (in aliena castra confugi) – womit er zweifellos auf andere Stoiker anspielt.448 Durch die Lektüre ihrer Werke wird er mit dem nötigen Rüstzeug gegen die fortuna ausgestattet und verbessert dadurch seine Lage (das Rüstzeug besteht in zwei vor einem Voraffekt einzusetzenden affektpräventiven Techniken: der bewussten Vorwegnahme eines zukünftigen „Übels“ und dem Vorbehalt gegen externe
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Vgl. Sen. dial. 12,2,1f. (= ad Helv. 2,1f.). Vgl. ebd. Vgl. Sen. dial. 12,4,1 (= ad Helv. 4,1), Übers. Rosenbach, modifiziert. Daraufhin will Seneca Helvia einsichtig machen, dass sie kein schweres Schicksal zu tragen hat (gravis fortuna), ein Schicksal, „das ganz von dem seinen abhänge“ (vgl. Sen. dial. 12,4,1 [= ad Helv. 4,1]). Meines Erachtens bringt er damit keinen neuen Punkt zum Ausdruck. Er meint ja, seine Verbannung könne niemanden aus seiner Familie unglücklich machen. Daraus folgt mehr oder weniger, dass niemand seinetwegen ein schweres Schicksal tragen kann. Ich werde diesen Punkt daher nicht weiter verfolgen. Vgl. Sen. dial. 12,5,1 (= ad Helv. 5,1) und das dritte Heilmittel der Tetrapharmakos: „Nicht furchteinflößend ist der Gott, unverdächtig ist der Tod, das Gute ist leicht zu besorgen und das Furchtbare gut auszuhalten“ („ἄφοβον ὁ Θεός, ἀν[ύποπτον ὁ θάνατος, κ(αὶ) τἀγαθὸν μὲν εὔκτητ(ον), τὸ δὲ δεινὸν εὐεκκ(α)[ρτέρητον“, Philod. adv. [sophistas] col. 4,10–14, S. 87 Ed. Sbordone, eig. Übers.). Der Gedanke, dass das Gute leicht zu besorgen ist, findet sich auch bei Lukrez (vgl. Lucr. 3,23): omnia suppeditat […] natura („Alles stellt die Natur zur Verfügung“, eig. Übers.). Vgl. Sen. dial. 12,5,2 (= ad Helv. 5,2). Senecas Wortwahl mag hier verwundern – wenn er sich selbst als Stoiker betrachtet, warum sollte er dann in ein fremdes Lager fliehen? Eigentlich sucht er doch Zuflucht in seinem eigenen Lager. Ich denke, dass er so zu verstehen geben will, dass er sich als Nichtweiser unter Weisen aufhält. Da er hinter ihrem moralischen Geisteszustand zurücksteht, ist er sozusagen ein Fremder unter Gleichen.
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Dinge).449 Die Tatsache, dass zum guten Leben kein großer Aufwand nötig ist und dass er in sicheren Händen ist, soll Helvia dazu bewegen, ihre wertende Meinung aufzugeben, dass ihr Sohn in einer unglücklichen Lage ist. Einen weiteren Grund für Helvias Kummer scheint Seneca in der wertenden Meinung zu sehen, dass Verbannung (exilium) und das, was sie mit sich bringt – wie etwa Armut, Entehrung und Verachtung –, Übel sind.450 Auch hier setzt er alles daran, um sie vom Gegenteil zu überzeugen. In einem ersten Schritt nimmt er die Verbannung in den Blick und versucht ihr wahres Wesen zum Vorschein zu bringen. Allem voran stellt er fest, dass diese lediglich ein Ortswechsel ist (loci commutatio).451 Damit ersetzt er einen negativ konnotierten Ausdruck durch einen neutralen und senkt auf diese Weise den Alarmierungseffekt. Er weiß allerdings, dass die bloße Verwendung eines anderen Ausdrucks Helvia nicht schon davon überzeugen wird, dass die Verbannung kein Übel ist. Das wäre zu leicht, dann könnte man jemanden ja zum Beispiel auch davon überzeugen, dass der Tod kein Übel ist, indem man in seiner Gegenwart nicht vom Tod selbst, sondern etwa von der Trennung der Seele vom Körper spricht. Seneca muss mehr tun, als lediglich neutralere Ausdrücke zu verwenden. Seine eigentliche Überzeugungsstrategie beinhaltet im Kern vier Argumente. Zuerst argumentiert er, es sei eine ganz normale Sache, dass Menschen nicht in ihrer Heimat leben – sie wandern von irgendwoher aus irgendwelchen Gründen irgendwohin.452 Selbst nach Korsika sind viele gekommen, obwohl die Insel nach Senecas Schilderung nackt, felsig, an Lebensmitteln dürftig, unwirtlich, schaurig und klimatisch unstetig ist.453 Er ist also nur einer unter vielen, die ihre Heimat s
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Vgl. Sen. dial. 12,5,3f. (= ad Helv. 5,3f.). Beim Vorbehalt (exceptio/ὑπεξαίρεσις) gegen externe Dinge akzeptiert man etwas bevorzugtes Indifferentes (zum Beispiel Reichtum oder Ämter) unter der Bedingung, dass es einem jederzeit wieder genommen werden kann. Die weise Person trifft keine Entscheidung ohne Vorbehalt (vgl. Sen. benef. 4,34,4f.). Für eine gründliche Analyse dieses stoischen Konzepts vgl. Brennan 2000. Vgl. Sen. dial. 12,6,1 (= ad Helv. 6,1). Diese wertende Meinung ist von der vorherigen, könnte man einwenden, nicht völlig verschieden – eigentlich ist sie sogar eng mit ihr verknüpft: Seneca befindet sich in einer unglücklichen Lage, weil ihm verschiedene Übel widerfahren (Verbannung und das, was sie mit sich bringt), sodass man sagen könnte, er greift hier nur Aspekte ein und derselben wertenden Meinung an und nicht zwei distinkte wertende Meinungen. Die Frage ist aber, ob diese beiden wertenden Meinungen auch in Helvias Geist derart verknüpft sind. Es ist durchaus denkbar, dass sie das eine und das andere denkt, ohne die Verbindung zwischen beidem zu sehen. Wegen dieser Ungewissheit ziehe ich es vor, von zwei unterschiedlichen wertenden Meinungen zu sprechen. Vgl. ebd. Vgl. Sen. dial. 12,6,2–5 (= ad Helv. 6,2–5). Vgl. Sen. dial. 12,6,5 (= ad Helv. 6,5). Seneca könnte hier eine allgemein verbreitete Vorstellung, wonach niemand in eine klimatisch sowie landschaftlich und landwirtschaftlich unattraktive Gegend ziehen würde, für seine Zwecke umgestalten. Vgl. Tac. Germ. 2 (Übers. Fuhrmann): „Wer hätte auch – abgesehen von den Gefahren des
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verlassen haben, und muss sein Dasein auf Korsika nicht als Einsiedler fristen. Daher ist sein Ortswechsel kein Übel. Das zweite Argument gründet auf der Prämisse, dass der menschlichen Seele eine Art natürlicher Antrieb innewohnt, den Wohnort zu wechseln (inesse quandam irritationem animis commutandi sedes et transferendi domicilia).454 Wenn die Verbannung nun ein Ortswechsel ist, dann folgt gewissermaßen (auch wenn Seneca das nicht explizit sagt), dass auch sie auf einen natürlichen Antrieb zurückgeht – so unplausibel das auf den ersten Blick auch erscheinen mag.455 Folglich ist sie kein Übel. Die letzten beiden seiner Argumente haben zum einen die uns umgebende kosmische Natur und zum anderen die Tugend zum Thema. Zwei Ansichten berühmter römischer Persönlichkeiten dienen ihm dabei als Aufhänger. Die erste ist die des Universalgelehrten Varro, der gemeint haben soll: „Wohin immer wir kommen, sind wir auf dieselbe Natur angewiesen“ (quocumque venimus eadem rerum natura utendum est).456 Die zweite Ansicht ist die des Politikers und Caesarmörders Brutus. Für ihn sei es genug gewesen, „[...] dass es denen, die in die Verbannung gehen, erlaubt ist, ihre Tugend mitzunehmen“ (quod licet in exilium euntibus virtutes suas secum ferre).457 Senecas beiden Argumente knüpfen an diese beiden Ansichten an. Im Prinzip liegt ihnen derselbe Gedanke zugrunde: Es gibt etwas, das man überall besitzt – die kosmische Natur und die Tugend (die streng genommen aber erst erworben werden muss, um sie überall zu besitzen). Die kosmische Natur kann von jedem beliebigen Ort aus betrachtet werden;458 der Ortswechsel versperrt nicht die Sicht darauf; daher ist er kein Übel. Das Argument, in dem die Tugend der Dreh- und Angelpunkt ist, lässt sich vom Grundaufbau her ähnlich s
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schrecklichen und unbekannten Meeres – Asien oder Afrika oder Italien verlassen und Germanien aufsuchen wollen, landschaftlich ohne Reiz, rau im Klima, trostlos für den Bebauer wie für den Beschauer, es müsste denn seine Heimat sein?“ Vgl. Sen. dial. 12,6,6 (= ad Helv. 6,6). Diese Prämisse scheint bis einschließlich Sen. dial. 12,7,8 (= ad Helv. 7,8) im Hintergrund zu stehen. Ursache besagten Antriebes ist laut Seneca die Abstammung der menschlichen Seele vom Himmelsgeist (caelesti spiritus), der stets in Bewegung ist (vgl. Sen. dial. 12,6,7 [= ad Helv. 6,7]). Hilfreich ist, wenn man den Begriff der Verbannung wie Seneca in einem weiten Sinne versteht. Für ihn wird schon dann jemand verbannt, wenn er seine Heimat wegen eines Krieges oder einer Seuche verlassen muss (vgl. Sen. dial. 12,7,4–6 [= ad Helv. 7,4–6]). Dass unter solchen Umständen der natürliche Antrieb einsetzt, den Wohnort zu wechseln, ist klar. Sen. dial. 12,8,1 (= ad Helv. 8,1), Übers. Rosenbach. Sen. dial. 12,8,1f. (= ad Helv. 8,1f.), Übers. Rosenbach, modifiziert. Vielleicht hat sich Brutus in seiner Schrift über die Tugend (De virtute) so oder ähnlich geäußert. Seneca referiert darauf an späterer Stelle (vgl. Sen. dial. 12,9,4 [= ad Helv. 9,4]). Vgl. für Brutus’ Schrift auch Cic. Tusc. 5,1. Vgl. Sen. dial. 12,8,5f. (= ad Helv. 8,5f.). Seneca denkt hier nicht an jeden beliebigen Ort auf der Welt (wie Höhlen oder Schluchten), sondern an solche Orte, an die Menschen damals gewöhnlich verbannt wurden (wie bestimmte Inseln oder Länder).
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wiedergeben: Von der Tugend kann man überall profitieren; der Ortswechsel ändert nichts daran; also ist er kein Übel. Seneca bietet aber auch noch eine andere Variante dieses Arguments an: Von der Tugend kann man überall profitieren; sie macht den neuen Wohnort zu einem schöneren Ort; also ist der Ortswechsel kein Übel.459 Letztendlich ist es für ihn irrelevant, welches der vier Argumente Helvia überzeugt. Wichtig ist nur, dass sie aufhört zu glauben, die Verbannung sei ein Übel.460 Das vierte, tugendspezifische Argument ist in persuasiver Hinsicht dabei am problematischsten, weil Seneca, wie er selbst zugibt, die Tugend noch nicht erworben hat.461 Dass Verbannung ein Übel darstellt, ist aber, wie gesagt, nur ein Aspekt von Helvias wertender, ihren Kummer aufrechterhaltender Meinung. Diese schließt zudem ein, dass die Dinge, die eine Verbannung mit sich bringt, Übel sind (wie Armut, Entehrung und Verachtung). Und so muss Seneca Helvia auch in dieser Hinsicht vom Gegenteil überzeugen. Es ist bemerkenswert, dass er von vornherein wieder einen anderen Ausdruck als den wählt, von dem Helvia Gebrauch macht. Bei der Armut (paupertas), der Entehrung (ignominia) und der Verachtung (contemptus) handelt es sich lediglich um Unannehmlichkeiten (incommoda),462 oder stoisch ausgedrückt: um zurückgesetzte indifferente Dinge. Die andere Ausdruckswahl hat wie zuvor den Zweck, den Alarmierungseffekt zu senken; zugleich ist sie ein Zugeständnis, dass eine Verbannung nichts völlig Harmloses ist.463 Und ebenfalls wie zuvor leitet Seneca durch die Verwendung eines anderen Ausdruckes seinen Überzeugungsversuch nur ein und beendet ihn nicht schon. Für die Widerlegung des Punktes, dass die Armut ein Übel ist, greift er offenbar auf denselben Ausspruch Epikurs zurück, mit dem er auch versucht hat zu zeigen, dass er sich in keiner unglücklichen Lage befindet: „Wie wenig nämlich ist es, was für den Lebensunterhalt eines Menschen notwendig ist.“464 Unter Lebensunterhalt (tutela) fasst er neben Bekleidung und Behausung die Nahrungsmittelversorgung. 465 Man braucht nicht aufwendig die Meere nach Muscheln zu
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Ich beziehe mich hier vor allem auf Sen. dial. 12,9,3 (= ad Helv. 9,3). Auch hier (und weiter unten, S. 245) lässt sich die Verwendung der therapeutischen Methode der Mehrfacherklärung wieder besonders gut erkennen (vgl. hierzu S. 235 und Fußn. 430). Vgl. Sen. dial. 12,5,2 (= ad Helv. 5,2). Vgl. Sen. dial. 12,6,1 (= ad Helv. 6,1). Vgl. ebd. Vgl. Sen. dial. 12,10,1 (= ad Helv. 10,1), Übers. Rosenbach. Vgl. Sen. dial. 12,11,1–3 (= ad Helv. 11,1–3), wo er auf die Bekleidung und Behausung zu sprechen kommt. Ich veranschauliche nachfolgend nur an Senecas Beispiel der Nahrungsmittelversorgung, warum Armut aus seiner Sicht kein Übel ist. Dasselbe für die Bekleidung und Behausung zu tun, spare ich mir, weil die Argumente sehr ähnlich aufgebaut wären.
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durchsuchen oder Tiere hinzuschlachten.466 Die Natur hat auch in unserer unmittelbaren Umgebung ausreichend Nahrungsmittel zur Verfügung gestellt.467 Seneca zieht daraus die Schlussfolgerung, dass diejenige Armut, die eine Verbannung mit sich bringt, nicht nur kein Übel, sondern nicht einmal eine Unannehmlichkeit ist: „Nichts Unangenehmes hat die Armut des Verbannten also an sich“ (nullum ergo paupertas exulis incommodum habet).468 Denn eine Verbannung versperrt einem Menschen nicht den Zugriff auf Nahrungsmittel.469 Gegen den Punkt, dass die Entehrung ein Übel ist, argumentiert Seneca in erster Linie von einer allgemeineren Warte aus. Er reagiert auf einen Interlokutor, der einwendet, etwas sei erträglich (wie zum Beispiel ein Ortswechsel), wenn es für sich allein kommt, aber nicht, wenn es in Verbindung mit etwas anderem auftritt (zum Beispiel Entehrung).470 Senecas Standpunkt lautet: „[…] [W]enn du gegen einen beliebigen Teilangriff der fortuna genug Kraft hast, wirst du sie ebenso gegen alle Angriffe haben.“471 Diese These lässt sich auf zwei unterschiedliche Weisen interpretieren. Sie kann einerseits den Sinn haben, dass selbst die nichtweise Person alle Angriffe der fortuna abwehren kann, wenn sie genug Kraft hat, einen einzigen abzuwehren.472 Andererseits kann man die These aber auch so verstehen, dass die Kraft, einen einzigen und damit zugleich alle Angriffe der fortuna abwehren zu können, nur diejenige Person besitzt, die schon zur Weisheit gelangt ist. Für letztere Interpretation spricht die Bemerkung, die Seneca gleich im Anschluss an die soeben zitierte macht: „Wenn die Tugend einmal die Seele gefestigt hat, macht sie sie rundum unverwundbar.“473 Gegenüber Helvia gibt er früher aber offen zu, dass er selbst nicht weise ist.474 Wie soll er sie also davon überzeugen, dass die auf die Verbannung (bzw. auf den Ortswechsel) folgende Entehrung kein Übel s
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Vgl. Sen. dial. 12,10,2 (= ad Helv. 10,2). Was außerdem im nahrungsmitteltechnischen Sinne nicht notwendig für den Lebensunterhalt ist bzw. was dafür ausreicht, zählt Seneca im Anschluss auf (vgl. Sen. dial. 12,10,3–10 [= ad Helv. 10,3–10]). Vgl. Sen. dial. 12,10,5 (= ad Helv. 10,5). Sen. dial. 12,10,11 (= ad Helv. 10,11), Übers. Rosenbach. Vgl. Sen. dial. 12,10,11 (= ad Helv. 10,11). Auf die Spitze treibt es Seneca in Sen. dial. 12,12,7 (= ad Helv. 12,7), wo er unter Berufung auf Menenius Agrippa, Atilius Regulus und die Töchter Scipios behauptet, Armut sei angesehen (gratiosa paupertas). Hieran lässt sich erkennen, wie problemlos ein epikureisches Dogma an den mos maiorum anschließen kann. Vgl. Sen. dial. 12,13,1 (= ad Helv. 13,1). Vgl. Sen. dial. 12,13,2 (= ad Helv. 13,2): […] si contra unam quamlibet partem fortunae satis tibi roboris est, idem adversus omnis erit (Übers. Rosenbach). Trotzdem wäre sie nicht weise, weil sie die Angriffe der fortuna zum Beispiel zögerlich oder widerstrebend abwehrt. Vgl. Sen. dial. 12,13,2 (= ad Helv. 13,2): Cum semel animum virtus induravit, undique invulnerabilem praestat (Übers. Rosenbach, modifiziert). Später führt Seneca weise Männer an (Sokrates und den jüngeren Cato), denen die Entehrung nichts habe anhaben können (vgl. Sen. dial. 12,13,4f. [= ad Helv. 13,4f.]). Vgl. Fußn. 461.
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ist, wenn ihm die Kraft, ihr mentalen Widerstand zu leisten, als Nichtweisem überhaupt nicht zukommt? Die erste Interpretation erscheint daher vorziehenswert: Helvia braucht nicht zu denken, dass die Entehrung ein Übel – zumindest für Seneca – darstellt, weil er (obwohl er nicht weise ist) die Kraft hat, der Verbannung mentalen Widerstand zu leisten. Und wenn er die Kraft hat, ihr mentalen Widerstand zu leisten, dann kann er auch der Entehrung mentalen Widerstand leisten.475 Gegen den letzten Teilaspekt von Helvias wertender Meinung – dass die Verachtung ein Übel ist – bringt Seneca zwei Argumente vor. Das erste basiert auf der Prämisse, dass niemand von einem anderen verachtet werden kann, wenn er vorher nicht von sich selbst verachtet worden ist.476 Seneca führt Aristeides, den er mit Phokion verwechselt,477 als exemplum für jemanden an, der sich selbst nicht verachtet hat und deswegen auch von niemand anderem verachtet werden konnte. Aristeides (Phokion) sei auf dem Weg zu seiner Hinrichtung mitten ins Gesicht gespuckt worden. Eben weil er sich nicht selbst verachtet hat, soll er die Geste nicht als verachtende Geste beurteilt, sondern zu dem ihn begleitenden Beamten gesagt haben: „Mahne den da später, nicht so unverschämt zu küssen.“478 Die fehlende Selbstverachtung – man kann Senecas Punkt sogar noch stärker machen: die Selbstachtung – macht also jede Verachtung, die der eigenen Person entgegengebracht wird, zunichte.
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Ein anderes, weniger im Mittelpunkt stehendes Argument scheint im exemplum des Sokrates versteckt zu sein (vgl. Sen. dial. 12,13,4 [= ad Helv. 13,4]). Es ähnelt meines Erachtens entfernt der zweiten Variante des zuvor genannten vierten, tugendspezifischen Arguments gegen Helvias Annahme, die Verbannung sei ein Übel: Die Tugend bewirkt, dass entehrende Orte nicht mehr entehrend sind; Gefängnisse oder Orte der Verbannung sind entehrende Orte; also bewirkt die Tugend, dass Gefängnisse oder Orte der Verbannung keine entehrenden Orte mehr sind. Vgl. Sen. dial. 12,13,6 (= ad Helv. 13,6): Nemo ab alio contemnitur, nisi a se ante contemptus est. Streng genommen heißt es: „Niemand wird von jemand anderem verachtet, wenn er vorher nicht von sich selbst verachtet worden ist“ (eig. Übers.), und nicht: „Niemand kann von jemandem verachtet werden, wenn er vorher nicht von sich selbst verachtet worden ist.“ Ich habe mich hier bewusst nicht an die indikativische Form gehalten, weil ich denke, dass das Argument so verständlicher wird. Vgl. Sen. dial. 12,13,7 (= ad Helv. 13,7) und Plut. Phok. 36,1f. (gefunden über Anm. 26 im zweiten Band von Manfred Rosenbachs Ausgabe von Senecas philosophischen Schriften, S. 371). Sen. dial. 12,13,7 (= ad Helv. 13,7), Übers. Rosenbach. Solche Beispiele gibt es bei Seneca häufiger. So erzählt er in De ira, dass Cato dem Jüngeren einmal in der Badeanstalt ins Gesicht geschlagen und ihm ein andermal vor Gericht ins Gesicht gespuckt wurde (vgl. Sen. dial. 4,32,2 und 5,38,2 [= de ira 2,32,2 und 3,38,2]). Beide Male soll er vorbildlich reagiert haben: Dem Schläger entgegnete er, dass er sich nicht daran erinnern kann, geschlagen worden zu sein, dem Spucker, dass es nicht stimmt, dass aus seinem Mund nie etwas Anständiges herauskommt.
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Das zweite Argument gegen die Deutung der Verachtung als Übel lässt sich wie folgt zusammenfassen:479 Wenn ein Mann vor seiner Verbannung bedeutend war, wenn er ein magnus vir war, wird er auch danach bedeutend sein; wenn er seine Bedeutung aber behält, wird er nicht verachtet; also ist die Verachtung für einen bedeutenden Mann kein Übel. In diesem Argument bleibt unklar, was „bedeutend“ bedeuten soll. Seneca hat sicherlich das herkömmliche Verständnis „Ansehen“ im Sinn. Demnach kann eine Verbannung allein nicht bewirken, dass man unbeliebter wird. Ohne sich selbst als bedeutenden Mann hervorzutun, will er Helvia so davon überzeugen, dass ihn auch nach seiner Rückkehr aus der Verbannung niemand verachten wird. Ob jedoch dieses Argument oder das vorherige sie überzeugt, ist irrelevant – Hauptsache, sie wird überzeugt. Indem Seneca gegen Helvias wertende Meinung argumentiert, er sei in einer unglücklichen Lage, und dasselbe in Bezug auf jeden einzelnen Aspekt ihrer wertenden Meinung tut, die Verbannung selbst und ihre Konsequenzen seien Übel, leistet er einen entscheidenden Beitrag zur Eliminierung ihres Kummers. Man kann nicht mit Gewissheit sagen, ob Helvia mit der Verwerfung der beiden genannten wertenden Meinungen auch ihren Kummer besiegt (dafür müsste man wissen, ob sie noch weitere wertende Meinungen hat).480 Fernab davon ist festzustellen, dass Seneca an keiner Stelle in der Konsolationsschrift eine normative Meinung Helvias (wie etwa „Trauern!“) attackiert. Daraus könnte man wieder schließen, dass für ihn nur der Angriff auf wertende Meinungen einen Affekt wie etwa Kummer beenden kann. Interessant an seinem Vorgehen ist insbesondere, wie er sie attackiert. Anstatt stets die Rolle des strikten Stoikers einzunehmen und zum Beispiel zu argumentieren, dass die Verbannung nicht unglücklich machen kann, weil sie kein Übel ist, schlägt er einen versierteren Weg ein. Er führt nur solche Trostargumente an, mit denen Helvia als philosophische Laiin etwas anfangen kann.481 Sie zeigen teils epikureische Einflüsse, teils bedienen sie sich am geläufigen Verständnis von Gut und Schlecht, und teils haben sie einen stärker stoischen Charakter. Seneca deswegen seinen Status als Stoiker abzuerkennen, s
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Vgl. im Folgenden Sen. dial. 12,13,8 (= ad Helv. 13,8). In Sen. dial. 12,14,1 (= ad Helv. 14,1) vermutet Seneca, dass ein weiterer Grund (causa) für Helvias unablässige Tränen die wertende Meinung sein könnte, sie habe eine Art von Schutz verloren. Schnell schließt er diese Möglichkeit aber aus: Helvias Zuneigung zu ihren Söhnen sei nie von dem Nutzen abhängig gewesen, den sie von ihnen hatte (vgl. Sen. dial. 12,14,2f. [= ad Helv. 14,2f.]). In Sen. dial. 6,19,2 (= ad Marc. 19,2) stellt Seneca im Übrigen eine ähnliche Vermutung an: „Es bewegt auch dies den Trauernden: Nicht wird es den geben, der mich verteidigt, der mich vor Missachtung bewahrt“ (Übers. Rosenbach). Auch bei Marcia schließt er aus, dass dieser Grund für ihren Kummer infrage kommt (vgl. Sen. dial. 6,19,3 [= ad Marc. 19,3]). Das soll nicht heißen, dass sie eine ungebildete Frau war. Vgl. Sen. dial. 12,17,3 (= ad Helv. 17,3, Übers. Rosenbach): „[…] [S]oweit es dir meines Vaters altertümliche Strenge gestattet hat, hast du alle guten Wissenschaften zwar nicht gründlich erfasst, jedoch wenigstens berührt.“
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würde aber zu weit gehen. Es ist die Sensibilität für Helvias Person, die ihn dazu bewegt, während ihrer Therapierung nicht immer stoisch zu argumentieren. Nur wenn er auf ihre Person achtet, kann er die Erfolgschancen erhöhen, sie von ihrem Kummer zu befreien.482 Damit geht er über den therapeutischen Pragmatismus Chrysipps hinaus, der empfohlen haben soll, erst nach der Bekämpfung der normativen Meinung die stoische Güterlehre ins Spiel zu bringen.483 Für Seneca kann man auch während des Vorgehens gegen wertende Meinungen die stoische Güterlehre außer Acht lassen, solange es der Affektbefreiung dienlich ist. 3.3.6.2 Kummertherapie in der Konsolationsschrift an Marcia Auch in der Konsolationsschrift an Marcia widmet sich Seneca dem Kampf gegen wertende, kummernährende Meinungen. Marcia trauert um ihren verstorbenen Sohn Metilius, und er vermutet, dass zwei konkrete wertende Meinungen dafür verantwortlich sein könnten: (1) „Metilius’ Ableben ist ein Übel“ (wertende Meinung1), und (2) „Der Umstand, dass Metilius nicht lange gelebt hat, ist ein Übel“ (wertende Meinung2).484 Seneca greift sie nacheinander an, immer mit dem Ziel vor Augen, sie als falsch herauszustellen. Wie im vorigen Unterabschnitt sollen seine Argumente aus dem Haupttext herausgearbeitet und analysiert werden. Senecas eigenem Vorgehen entsprechend werden dabei zunächst jene in den Fokus rücken, die er gegen Marcias wertende Meinung1 vorbringt. Zuerst versucht er diese ad absurdum zu führen: „Wenn dies, dass er gestorben ist [dich plagt], hättest du schon immer trauern müssen; stets nämlich wusstest du, er werde sterben.“485 Senecas Argument ist extrem verkürzt und schwer verständlich. Warum hätte Marcia schon immer trauern müssen, wenn der Gegenstand ihres Kummers das Ableben ihres Sohnes ist? Der grundlegende Gedankengang ist wohl wie folgt zu rekonstruieren: s
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Für die Rücksichtnahme auf die individuelle geistige Natur und die Biographie der zu therapierenden affektbeherrschten Person vgl. S. 224f. Vgl. Inwood/Donini 2002, S. 713f. Kleanthes muss noch weniger pragmatisch gewesen sein, denn Cicero kritisiert ihn für seine Auffassung, dass man eine Person allein schon dann von ihrem Kummer befreien kann, wenn man ihr erklärt, nichts sei wirklich schlecht, außer es ist moralisch verwerflich (turpe; vgl. Cic. Tusc. 3,77). Vgl. Sen. dial. 6,19,3 (= ad Marc. 19,3): Quid igitur te, Marcia, movet? Utrum quod filius tuus decessit an quod non diu vixit? („Was also plagt dich, Marcia? Dass dein Sohn gestorben ist oder dass er nicht lange gelebt hat?“, eig. Übers.). Vgl. Sen. dial. 6,19,3f. (= ad Marc. 19,3f.): Si quod decessit, semper debuisti dolere; semper enim scisti moriturum (Übers. Rosenbach).
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(i) (ii) (iii) (iv) (v)
Dass Menschen sterblich sind, ist eine unveränderliche Tatsache. Metilius ist ein Mensch. Dass Metilius sterblich ist, ist eine unveränderliche Tatsache. Marcia sind (i), (ii) und (iii) bekannt. Wenn sich ihr Kummer auf Metilius’ Sterblichkeit bezieht, dann wird sie so lange traurig sein, wie Menschen sterblich sein werden. (vi) Ihr Kummer bezieht sich darauf. (c) Also wird sie so lange traurig sein, wie Menschen sterblich sein werden. Das bedeutet: Sie wird immer traurig sein. Was Seneca jedoch unzureichend beachtet, ist, dass sich Marcias Kummer darauf bezieht, dass Metilius gestorben ist. Der zuvor geschilderte Gedankengang trifft auf diesen Fall gar nicht zu. Dennoch überträgt ihn Seneca darauf und übersieht damit den entscheidenden Unterschied zwischen Sterblichkeit und Sterben, den man als den zwischen einer Disposition und einem Prozess spezifizieren könnte. Sein Argument verliert infolgedessen an Überzeugungskraft und dürfte Marcia nur schwerlich von ihrer wertenden Meinung1 abbringen. Das nächste Argument, das er dagegen anführt, erinnert an einen von Platons Kritikpunkten an der Dichtung im dritten Buch der Politeia.486 Marcia soll nicht dasjenige Bild vom Tod haben, das die Dichter zeichnen: „[...] [K]eine Finsternis bedroht den Toten, kein Kerker; weder Flüsse, von Feuer brennend, noch der Strom ‚Vergessen‘ [oblivionem] noch Gerichtshöfe und Angeklagte und bei dieser so lockeren Freiheit andererseits irgendwelche Tyrannen.“487 Mit solchen nichtigen Schreckbildern ängstigen uns die Dichter Seneca zufolge (vanis nos agitavere terroribus).488 Sie sind aber nichts anderes als Märchen (fabulas esse) und entsprechen nicht der Wahrheit.489 Marcia hat daher keinerlei Grund dazu, den Tod überhaupt und insbesondere den des Metilius für ein Übel zu halten, weil er mit den dichterischen Beschreibungen nichts zu tun hat. Metilius widerfährt nichts dergleichen. Anschließend schlägt Seneca eine dezidiert philosophische Argumentation ein:490 Gutes und Schlechtes seien an eine Art von Materie gebunden (mala enim bonaque circa aliquam versantur materiam); der Tod ist aber nicht an eine Art von Materie gebunden; daher kann er nichts Gutes oder Schlechtes sein. Seneca charakterisiert ihn – jedenfalls an dieser Stelle – als die Auflösung aller Existenz. Tot zu sein ist wie ungeboren zu sein. Wenn man also jemandes Tod betrauert, ist das so, wie wenn man einen Ungeborenen betrauert. Der Ungeborene und der Tote zeichnen sich dadurch aus, dass sie nichts sind – weder Körper noch Seele. Andernorts legt sich Seneca in der Frage nach einem Leben nach dem Tod weniger s
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Vgl. Plat. rep. 386b–387c. Vgl. Sen. dial. 6,19,4 (= ad Marc. 19,4), Übers. Rosenbach. Vgl. Sen. dial. 6,19,4f. (= ad Marc. 19,4f.). Vgl. Sen. dial. 6,19,4 (= ad Marc. 19,4). Vgl. im Folgenden Sen. dial. 6,19,5f. (= ad Marc. 19,5f.).
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fest. Im 65. Brief vertritt er die hypothetische Position, dass der Tod entweder ein Ende oder ein Übergang ist (aut finis aut transitus).491 Auch in anderen Passagen stellt er allenfalls hypothetische Überlegungen an: Wenn die Seele den Körper überlebt, kann sie durch nichts mehr zugrunde gerichtet werden.492 Bisweilen gesteht Seneca allerdings zu, dass etwas von uns nach dem Tod weiterexistiert: „Entweder wird er [gemeint ist der magnus animus] zu einem besseren Dasein freigelassen, um erleuchteter und ruhiger in göttlichen Sphären zu weilen, oder er wird auf jeden Fall von jeder Unbill frei sein, wenn er wieder mit der Natur vermischt werden und ins Ganze zurückkehren wird.“493 Die beiden Disjunkte stellen hier zwei postmortale geistige Daseinsformen gegenüber. Dass es ein Leben nach dem Tod gibt, bestätigt Seneca noch deutlicher im 36. Brief: „[...] [D]er Tod, den wir fürchten und abweisen, unterbricht das Leben, raubt es uns aber nicht“ (mors, quam pertimescimus ac recusamus, intermittit vitam, non eripit).494 Fast prophetisch fügt er hinzu: „Es wird der Tag kommen, der uns wieder ans Licht führt“ [...] (veniet iterum, qui nos in lucem reponat dies).495 Alles befindet sich in einem Kreislauf; nichts vergeht endgültig, es hört lediglich auf (desinunt ista, non pereunt)496 und kommt verändert (mutari) wieder zurück.497 Betrachtet man diese Äußerungen,498 drängt sich die Frage auf, warum Seneca manchmal so argumentiert, als gäbe es kein Leben nach dem Tod – wie unter anderem bei Marcia –, und manchmal so, als gäbe es eines. Was auch immer er tut, er hat jedes Mal ein effektives Argument gegen die wertende Meinung1 zur Hand: Wenn der Tod nichts ist, dann kann von ihm auch nichts Negatives ausgehen; ist er die Loslösung der s
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Vgl. Sen. epist. 65,24. Dieser Gedanke findet sich schon in Platons Apologie. Vgl. Plat. apol. 40c5–9, wo Sokrates sagt: δυοῖν γὰρ θάτερόν ἐστιν τὸ τεθνάναι· ἢ γὰρ οἷον μηδὲν εἶναι μηδὲ αἴσθησιν μηδεμίαν μηδενὸς ἔχειν τὸν τεθνεῶτα, ἢ κατὰ τὰ λεγόμενα μεταβολή τις τυγχάνει οὖσα καὶ μετοίκησις τῇ ψυχῇ τοῦ τόπου τοῦ ἐνθένδε εἰς ἄλλον τόπον („Das Totsein ist eines von zwei Dingen: Entweder so etwas wie nicht sein und als Toter keinerlei Empfindung von etwas haben, oder es ist, wie man sagt, eine Art Veränderung und zwar eine Übersiedlung der Seele von hier an einen anderen Ort“, Übers. Heitsch). Auch Cicero beruft sich auf diese Stelle (vgl. Cic. Tusc. 1,97). Vgl. Sen. epist. 57,9. Vgl. ebd., 71,16: [...] aut in meliorem emittitur [sc. magnus animus] vitam lucidius tranquilliusque inter divina mansurus aut certe sine ullo futurus incommodo, si naturae remiscebitur et revertetur in totum (Übers. Fink). Sen. epist. 36,10, Übers. Apelt. Sen. epist. 36,10, Übers. Apelt, modifiziert. Reynolds druckt venient und nicht veniet. Grammatisch ist daran nichts auszusetzen, da dies ebenso gut ein Nominativ Plural sein kann („Tage“). Aber warum haben alle anderen kritischen Editionen (Haase, Hense und Gummere) veniet? In Reynolds kritischem Apparat findet sich dazu keine Anmerkung. Daraus dürfte zu schließen sein, dass es sich um einen Schreibfehler handelt. Vgl. Sen. epist. 36,10. Vgl. ebd., 36,11. Man könnte noch weitere hinzunehmen, etwa ebd., 93,10 und insbesondere ebd., 102,23–30.
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Seele vom Körper, dann überlebt der bessere Teil, dem die fortuna nichts mehr anhaben kann; ist er entweder das eine oder das andere, gilt entweder die eine oder die andere Erklärung.499 Die letzte Überzeugungsstrategie, mit der Seneca versucht, Marcia von ihrer wertenden Meinung1 abzubringen, ist wieder anders beschaffen. Im Grunde besteht sie darin, Metilius’ Tod und den Tod generell in ein positives Licht zu rücken, wobei Seneca mit dem konkreten Fall beginnt. Metilius müsse sich nicht mehr mit den Nachteilen des Lebens herumplagen:500 non paupertatis metu, non divitiarum cura, non libidinis per voluptatem animos carpentis stimulis incessitur, non invidia felicitatis alienae tangitur, non suae premitur, ne conviciis quidem ullis verecundae aures verberantur; nulla publica clades prospicitur, nulla privata; non sollicitus futuri pendet [et] ex eventu semper †in certiora dependenti†. Tandem ibi constitit unde nil eum pellat, ubi nihil terreat. Nicht die Furcht vor Armut, nicht die Sorge um Reichtum, nicht die Stachel der Gier, durch Lust die Seelen verderbend, greifen ihn an; nicht der Neid auf fremdes Glück berührt, nicht der auf seines bedrückt ihn; nicht einmal irgendwelche Streitereien schlagen an seine ehrwürdigen Ohren. Um kein Unglück der Allgemeinheit sorgt er sich, um kein persönliches. Nicht ist er – in Unruhe um die Zukunft – abhängig vom wechselhaften Schicksal, das immer nur das Unsichere verheißt. Schließlich: Dort steht er, von wo ihn nichts vertreibt, wo ihn nichts erschreckt.
Seneca bewegt sich daraufhin in seinen Betrachtungen weg vom konkreten Tod des Metilius hin zum Tod im Allgemeinen. Sein Ziel ist aber dasselbe wie zuvor: ihn in ein positives Licht zu rücken – aus therapeutischen Gründen, nicht aus Todesverliebtheit. Der Tod befreit den Sklaven, sei es mit der Zustimmung seines Herrn oder ohne; er löst die Ketten des Gefangenen, führt aus dem Kerker; er zeigt dem Verbannten, dass es unwichtig ist, an welchem Ort er lebt, und dem, der weniger als andere hat, dass es unwichtig ist, wie viel er hat – denn der Tod macht alles gleich.501 Ein weiterer positiver Aspekt des Todes ist, dass man ihn wählen kann. Die Befreiung, sofern es eine ist, tritt nicht zwangsläufig passiv ein, sondern kann auch aktiv erreicht werden: „[…] [E]r [der Tod] ist es, der jedem offensteht“
s
499
500 501
Ähnlich argumentiert Cicero im ersten Buch seiner Tusculanen (vgl. etwa Cic. Tusc. 1,24f. und 117f.; im Prinzip liegt der Gedanke, dass der Tod weder als Übergang noch als Ende ein Übel ist, aber dem gesamten ersten Buch zugrunde). Zu Senecas unterschiedlichen Äußerungen zum Fortbestand der Seele nach dem Tod vgl. auch Smith 2014, S. 357–360, der in ihnen ebenfalls ein therapeutisches Motiv sieht: „His main point concerning death is simply this: whether the soul survives or not, we are freed from the suffering that is attendant on our bodily existence“ (ebd., S. 360). Sen. dial. 6,19,6 (= ad Marc. 19,6), Übers. Rosenbach, modifiziert. Vgl. Sen. dial. 6,20,2 (= ad Marc. 20,2).
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Die Ethik
(haec est quae nulli non patuit).502 Dieses Freiheitsmoment nimmt dem Tod seine schreckliche Gestalt. Aber was will Seneca Marcia damit sagen? Er erwähnt ihren Vater in diesem Kontext, Aulus Cremutius Cordus, der sich nach Senecas Darstellung zu Tode hungerte, weil er keine Hoffnung mehr hatte, dass der Prozess, den Seianus gegen ihn wegen Beleidigung seiner Person in Gang setzte, einen für ihn günstigen Ausgang nehmen wird. 503 Lautet Senecas Botschaft an Marcia also: Wenn er sie nicht überzeugen kann und auch alle anderen kummertherapeutischen Techniken bei ihr nicht fruchten, kann sie immer noch einen Weg wählen, der sie mit Gewissheit von ihrem Kummer befreit? Der Tod wäre in diesem Sinne die Ultima Ratio aller Kummer-, ja aller Affekttherapie überhaupt. Mit der Anführung verschiedener exempla leitet Seneca den Angriff auf Marcias wertende Meinung2 ein, der zufolge der Umstand, dass Metilius nicht lange gelebt hat, ein Übel ist.504 Im ersten Manöver, das er nach diesem exempla-Teil gegen jene unternimmt, hebt er auf die Vergänglichkeit alles Menschlichen ab: „Alles Menschliche ist kurz und hinfällig und von der endlosen Zeit keinen Teil einnehmend“ (omnia humana brevia et caduca sunt et infiniti temporis nullam partem occupantia).505 Vergleicht man unsere Lebenszeit graphisch mit der kosmischen, ist sie kleiner als ein Punkt (minorem portionem aetas nostra quam puncti habet).506 So betrachtet ergibt es wenig Sinn, eine längere Lebenszeit von einer kürzeren zu unterscheiden, denn warum sollte man etwas so Kleines noch weiter unterteilen? Seneca scheint auf diese Weise Marcia die Grundlage für ihre wertende Meinung2 entziehen zu wollen: Wird sie sich der mangelnden Sinnhaftigkeit bewusst, die Lebenszeit nach Kürze oder Länge einzuteilen, wird sie weniger geneigt sein, in der Lebenszeit einen Wert zu sehen. Im nächsten, stärker stoisch geprägten Argumentationsgang gegen Marcias wertende Meinung2 bringt Seneca das Schicksal ins Spiel. Metilius hat solange gelebt, wie er leben sollte (vixit enim quantum debuit vivere).507 Seine Lebenszeit war von vornherein festgelegt, wie die jedes anderen Lebewesens – eine für alle Lebewesen einheitliche Lebenszeit gibt es nicht. Und diese für ihn festgelegte s
502
503 504
505 506
507
Vgl. Sen. dial. 6,20,2 (= ad Marc. 20,2), Übers. Rosenbach. In Sen. dial. 6,20,3 (= ad Marc. 20,3) schreibt Seneca, es sei möglich, mit einem einzigen Schritt zur Freiheit hinüberzutreten. Vgl. zudem Sen. dial. 5,15,3 (= de ira 3,15,3), wo es heißt, der Weg zur Freiheit stehe offen (aperta libertati via). Derselbe Gedanke ist später bei Epiktet anzutreffen. Seine charakteristische Formulierung lautet: „Die Tür steht offen“ (ἤνοικται ἡ θύρα, Epikt. diatr. 1,9,21; vgl. auch ebd., 3,8,6). Vgl. Sen. dial. 6,20,4; 22,4 und 6f. (= ad Marc. 20,4; 22,4 und 6f.). Vgl. Sen. dial. 6,20,4 (= ad Marc. 20,4). Für eine eingehende Untersuchung dieser exempla vgl. S. 276–278. Vgl. Sen. dial. 6,21,1f. (= ad Marc. 21,1f.), Übers. Rosenbach. Vgl. Sen. dial. 6,21,2 (= ad Marc. 21,2). Für einen ähnlichen Gedanken vgl. Cic. Tusc. 1,94: Vergleicht man unsere Lebenszeit mit der Ewigkeit, wirkt unser Leben wie das eines Eintagstierchens. Vgl. hier und im Folgenden Sen. dial. 6,21,4–6 (= ad Marc. 21,4–6).
Der impetus
251
Grenze hätte er durch nichts verrücken können. Es ergibt somit wenig Sinn zu sagen, dass er zu früh gestorben ist oder hätte länger leben können, dass sein Leben abgebrochen ist oder sich der Zufall (casus) eingemischt hat. Das Schicksal schließt jegliche Kontingenz aus und ändert nichts an seinem für alle Zeit feststehenden Plan: „[…] [E]s geht auf seinem Weg […], weder fügt es etwas hinzu noch nimmt es von dem Versprochenen einmal etwas weg“ (eunt via sua fata nec adiciunt quicquam nec ex promisso semel demunt).508 Seneca versucht Marcia so verständlich zu machen, dass ihr der Grund fehlt, um an ihrer wertenden Meinung2 festzuhalten. Der Umstand, dass Metilius nicht lange gelebt hat, kann kein Übel sein, weil das voraussetzen würde, dass er länger hätte leben können. Diese Möglichkeit hat aber niemals bestanden. Zuletzt geht es Seneca in seiner Argumentation gegen Marcias wertende Meinung2 wieder darum, Metilius’ Tod in ein positives Licht zu rücken. Der Grundgedanke ist nun aber nicht, dass sich Metilius nicht mehr mit den aktuellen Nachteilen des Lebens herumplagen muss, sondern dass der Tod ihn vor der Erfahrung künftiger Nachteile bewahren wird: „Woher denn weißt du, ob länger zu leben ihm förderlich sein konnte oder ob ihm mit diesem Tod nicht gedient ist?“509 Alles Menschliche gleitet und fließt (labant humana ac fluunt)510 – natürlich nur aus Sicht des Unwissenden; die weise Person weiß, dass sich hinter der scheinbaren Kontingenz eine feste Ordnung verbirgt (Seneca verschweigt dies hier aber aus therapeutischen Gründen). Im einen Moment befindet man sich auf dem Gipfel materiellen Glücks, im nächsten kann davon schon nichts mehr übrig sein. Metilius hätte nicht auf Dauer Krankheiten entgehen können, sein Körper wäre nicht immer so schön gewesen, wie er zuletzt war, und auch von vielen anderen Widrigkeiten wäre er längerfristig nicht verschont geblieben (wie etwa von Brand, Einsturz, Schiffbruch, dem Metzeln der Ärzte, Exil und Kerker).511 Seneca geht sogar noch einen Schritt weiter: Zwischen den Zeilen deutet er an, dass wahrscheinlich nicht einmal Metilius von Lastern unberührt geblieben wäre.512 Deswegen muss man, wie Seneca überspitzt formuliert, den „Glücklichsten“ den Tod
s
508 509
510 511 512
Sen. dial. 6,21,6 (= ad Marc. 21,6), Übers. Rosenbach. Vgl. Sen. dial. 6,22,1 (= ad Marc. 22,1), Übers. Rosenbach, modifiziert. Dieser konsolatorische Grundgedanke verbirgt sich auch hinter den exempla, die Seneca in Sen. dial. 6,20,4–6 (= ad Marc. 20,4–6) anführt (vgl. dazu S. 276–278). Auch bei Cicero ist er zu finden (vgl. Cic. de orat. 3,1–8; Cic. fam. 4,5). Sein vermehrtes Auftreten lässt auf einen Topos schließen. Vgl. Sen. dial. 6,22,1 (= ad Marc. 22,1). Vgl. Sen. dial. 6,22,2 (= ad Marc. 22,2). Vgl. ebd.: […] neque enim recta ingenia qualem in adulescentia spem sui fecerant usque in senectutem pertulerunt, sed interversa plerumque sunt […] („[…] nicht nämlich haben aufrechte Charaktere so, wie sie in der Jugend zu Hoffnung auf ihre Person Anlass gegeben hatten, sie auch bis ins Alter hinübergebracht, sondern verwandelt haben sie sich meist […]“, Übers. Rosenbach).
252
Die Ethik
wünschen (ideoque felicissimis optanda mors).513 Seine Botschaft im Hinblick auf Metilius lautet also: Er ist zum bestmöglichen Zeitpunkt gestorben. Marcia geht somit nicht recht in der Annahme, dass der Umstand, dass er nicht lange gelebt hat, ein Übel ist. Ganz im Gegenteil: Metilius’ Todeszeitpunkt hätte nicht besser kommen können.514 Rückblickend ist festzustellen, dass Seneca ein weiteres Mal nicht durchgehend vom Standpunkt eines strikten Stoikers argumentiert. Ihm geht es nicht darum, hervorzuheben, dass Metilius’ Ableben und seine kurze Lebenszeit nur zurückgesetzte indifferente Dinge sind, die keinen Einfluss auf unsere Glückseligkeit haben. Er schlägt vielmehr wieder einen versierteren Weg ein. Die von ihm vorgebrachten Argumente weisen unterschiedliche Prägungen auf: Teils macht er Gebrauch von der reductio ad absurdum, teils übt er Kritik an den Dichtern für das falsche Bild, das sie vom Tod vermitteln; teils argumentiert er so, als wäre der Tod das Ende, teils stellt er ihn als eine Befreiung, teils als eine Bewahrung vor Unzuträglichem dar. Schließlich macht er auch das Leben zum Thema: Einerseits ist es ein kosmisch zu unbedeutendes Ereignis, andererseits hat das Schicksal festgelegt, wie lange jedes Leben dauert. Auf diesen unterschiedlichen Wegen versucht er Marcia zur Aufgabe ihrer beiden wertenden Meinungen zu bewegen, ein Schritt, der sie – das scheint seine Hoffnung zu sein – von ihrem Kummer befreien wird. Hier zeigt sich somit abermals, dass Seneca nicht unbedingt stoisch argumentieren muss, um ein stoisches Ziel zu verfolgen, und auch nicht schon allein aufgrund seiner unstoischen Argumentationsweise seinen Status als Stoiker verliert: In therapeutischen Angelegenheiten ist für ihn der Effekt wichtiger als die Wege, die zu ihm führen. Eine normative Meinung (wie etwa „Trauern!“) greift er auch diesmal nicht an, obwohl Marcia sie hat.515 Daraus lässt sich wieder schließen, dass für ihn letztlich nur das Vorgehen gegen wertende Meinungen einen Affekt wie etwa Kummer beenden kann. 3.3.7 Hybride Techniken: Der Gebrauch von exempla 3.3.7.1 Kurzer Forschungsüberblick und eigener Ansatz Die exempla in den lateinischen Werken der späten Republik und frühen Kaiserzeit stehen schon lange im Blickpunkt der Forschung. Es gibt verschiedene Ansätze, sich ihnen zu nähern. Henriette van der Blom bringt die exempla in ihrer s
513 514
515
Vgl. Sen. dial. 6,22,1 (= ad Marc. 22,1). Vgl. die von Plutarch überlieferte Gnome Menanders: ὃν οἱ θεοὶ φιλοῦσιν ἀποθνῄσκει νέος („Wen die Götter lieben, der stirbt jung“, Plut. cons. ad Apoll. 34, eig. Übers.). Vgl. Sen. dial. 6,1,7 (= ad Marc. 1,7): […] renovat se et corroborat cotidie luctus […] eoque adductus est ut putet turpe desinere („[…] [E]s erneuert sich und gewinnt an Stärke täglich die Trauer […]; dahin hat sie sich führen lassen, dass sie es für schändlich hält, aufzuhören“, Übers. Rosenbach).
Der impetus
253
Monographie „Cicero’s Role Models. The Political Strategy of a Newcomer“ mit dem mos maiorum (der Sitte der Vorfahren) in Verbindung, der für die Römer eine normative Funktion erfüllte: Viele Regeln des politischen Systems und Rechtswesens hatten ihn statt Gesetze und Statuten zur Grundlage,516 und seinetwegen fühlten sich die Römer verantwortlich, ihre Vormachtstellung im Mittelmeerraum zu sichern – schließlich hätten ihre Vorfahren diese auf Wunsch der Götter hin aufgebaut.517 Um auf die Entscheidungen und Taten (res gestae) der Vorfahren als Bestandteile des mos maiorum zu rekurrieren, etablierten sich sowohl in der Schrift- als auch in der Denkmalkultur moralisierende historische exempla.518 Wie van der Blom zeigt, setzt sie Cicero, sich ihrer Verankerung im kollektiven Gedächtnis der römischen Gesellschaft bewusst, regelmäßig und meisterhaft ein, mit der Absicht, zur Nachahmung anzuregen, Argumente zu stützen, Autorität zu verleihen und auf Mängel aufmerksam zu machen.519 William Turpin wählt einen anderen Zugang. In seinem Fachartikel „Tacitus, Stoic exempla and the praecipuum munus annalium“ stellt er, ohne ein festes Schema entwickeln zu wollen, sechs grundsätzliche funktionale und inhaltliche Aspekte von exempla heraus, die aus seiner Sicht sowohl für die Stoiker als auch für Tacitus wichtig waren,520 und geht dann bei beiden näher auf sie ein. Laut Turpin dienen exempla erstens der moralischen Inspiration (moral inspiration), das heißt, sie sollen in jemandem den Wunsch erwecken, gut zu sein521 – die moralische Inspiration ist in ihrem Fall nicht minder effektiv als die dogmatischer Argumente oder Vorschriften (praecepta). Zweitens müssen die in den exempla auftretenden Personen nicht zwangsläufig vollkommen sein oder gemeinhin als bewundernswert gelten, sie können auch unabhängig davon moralisch inspirieren. Drittens kann nicht nur die Exemplifizierung guten Verhaltens, sondern auch die schlechten Verhaltens im moralischen Sinne nützlich sein: Während jene zur Nachahmung anregt, hat diese eine abschreckende Wirkung. Viertens sind viele exempla thematisch auf den Tod und den Umgang mit ihm ausgerichtet. Fünftens eignen sie sich zur moralischen Reflexion, und sechstens und letztens können sie anderen dabei behilflich sein, selbst zu positiven exempla zu werden. Ein festes Schema zur Analyse von exempla, die römische Autoren häufig in einer Liste anführen, stellt dagegen Matthew Roller vor. Anhand dreier solcher Listen aus Senecas Schrift De ira will er exemplarisch zeigen, dass viele von ihnen a) ein einrahmendes Argument (framing argument) stützen, modifizieren oder unterminieren; b) unter einer moralischen Kategorie (moral category) stehen, c) eine s
516 517 518
519 520 521
Vgl. van der Blom 2010, S. 12. Vgl. ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 14f. Van der Blom grenzt sie unter anderem von juristischen exempla ab, in denen die Rhetorik von Argumentationen in Gerichtsprozessen und Urteilssprüche in Kriminalfällen thematisiert werden (vgl. ebd., S. 15). Vgl. ebd., S. 18, 19, 20 und 22. Vgl. für diese sechs Aspekte Turpin 2008, S. 365. Ich danke William Turpin für diese zusätzliche Erläuterung.
254
Die Ethik
interne Dynamik aufweisen und d) einen veranschaulichenden (illustrative) und/oder auffordernden (injunctive) Charakter haben (Roller spricht in diesem Zusammenhang von ihrem „rhetorischen Modus“). 522 Unter einem einrahmenden Argument versteht er zum Beispiel: „Wut kann verhindert werden und damit auch der Schaden, der entsteht, wenn man sie zulässt.“523 Einrahmend ist es deshalb, weil eine exempla-Liste auf ihm aufbaut. Eine moralische Kategorie ist Roller zufolge eine Generalisierung, die ähnliche moralische Aspekte aller in der Liste enthaltenen exempla zusammenfasst. Sie kann auch zweigeteilt sein, zum Beispiel: „(1) Herrscher, die ihre Wut zulassen, tun dies auf ihre Kosten und auf die Kosten der anderen, (2) Menschen, deren Wut von Furcht verdrängt wird.“524 Dass die exempla einer Liste eine Dynamik haben, bedeute einmal, dass sie mehr oder weniger relevant für ein einrahmendes Argument sein können, und, dass sie miteinander „interagieren“.525 Das, was sie veranschaulichen sollen, ist der Inhalt einer moralischen Kategorie, und oftmals bieten sie Modelle moralischer Handlungen an, die die Rezipient*innen nachahmen oder vermeiden sollten – oder zumindest moralische Standards, die sie sich zu eigen machen können, wenn sie die Handlungen anderer bewerten.526 Im Folgenden soll es nicht darum gehen, die von Seneca angeführten exempla mit dem mos maiorum in Verbindung zu bringen oder ein festes Schema für sie zu erstellen. Der Schwerpunkt wird vielmehr auf einem ihrer moralischen Aspekte liegen. Alle drei soeben in den Fokus gerückten Ansätze attestieren, dass exempla in irgendeiner Weise zum Handeln auffordern: Man soll das exemplifizierte Verhalten entweder imitieren oder vermeiden.527 Aber was genau soll imitiert oder vermieden werden? Bei Seneca zeigen die exempla oft, dass jemand einen Affekt nicht zum Ausbruch kommen lassen oder sich davon befreit hat – dieses Verhalten ist nachahmenswert. Er führt aber auch exempla an, die zeigen, welche verheerenden Konsequenzen jemandes Affektausbruch nach sich zieht. Ihre appellative Funktion besteht darin, den Rezipient*innen zu vermitteln, dass sie nicht den gleichen Fehler begehen sollen. Diese Merkmale machen den Gebrauch von exempla – ob wir sie nun uns selbst oder anderen, oder andere uns vor Augen führen528 – zu einer affektpräventiven bzw. affekttherapeutischen Technik. Im Unterschied zu den schon vorgestellten Techniken ist die Besonderheit diesmal, dass ein und die-
s
522 523
524
525 526 527 528
Vgl. Roller 2015, S. 83. Vgl. ebd., S. 87. Streng genommen handelt es sich dabei eigentlich um eine Annahme. Für ein Argument wäre noch eine Begründung und eine Schlussfolgerung erforderlich. Vgl. ebd. und Sen. dial. 5,13,7 (= de ira 3,13,7, die Stelle wird auf S. 258 wörtlich zitiert). Vgl. Roller 2015, S. 82. Vgl. ebd., S. 83. Zu wenig beachtet wird dieser Aspekt von Mayer 2008. Dass sie „vor Augen geführt werden“ (ponere ante oculos/ostendere), geht aus Sen. dial. 6,2,2 (= ad. Marc. 2,2) und Sen. epist. 11,10 hervor.
Der impetus
255
selbe Technik, je nachdem wie sie inhaltlich bestückt ist, sowohl eine affektpräventive als auch eine affekttherapeutische Wirkung erzielen kann. Aus diesem Grund hat sie gewissermaßen einen hybriden Charakter. In den kommenden beiden Unterabschnitten rückt jeweils eine ihrer beiden Ausprägungen in den Mittelpunkt. 3.3.7.2 Der Gebrauch von exempla als affektpräventive Technik Zum Thema Affektprävention gehören insbesondere die exempla, die Seneca in der Mitte des dritten Buches seiner Schrift De ira (dial. 5) anführt.529 Dies lässt sich teils aus ihrem Inhalt schließen, teils aber auch aus dem Kontext, in dem sie stehen. In kontextueller Hinsicht von Bedeutung ist dabei einmal das fünfte Kapitel des dritten Buches, wo Seneca vorstellt, welches Projekt er darin verfolgt:530 Sed cum primum sit non irasci, secundum desinere, tertium alienae quoque irae mederi, dicam primum quemadmodum in iram non incidamus, deinde quemadmodum nos ab illa liberemus, novissime quemadmodum irascentem retineamus placemusque et ad sanitatem reducamus. Aber da es das Erste ist, nicht wütend zu werden, das Zweite, damit aufzuhören, das Dritte, auch fremde Wut zu therapieren, werde ich zuerst sagen, wie wir nicht in Wut geraten, zweitens, wie wir uns von ihr befreien, schließlich, wie wir einen Wütenden zurückhalten, beruhigen und zu geistiger Gesundheit zurückführen.
Über die Wutprävention (Projektziel [= PZ] 1) hat Seneca zu diesem Zeitpunkt schon einiges gesagt – vor allem über diejenige, die den Moment betrifft, nachdem eine Erscheinung von einem Unrecht bereits Vorwut ausgelöst hat.531 Offenkun-
s
529 530
531
Vgl. Sen. dial. 5,14,1–23,8 (= de ira 3,14,1–23,8). Sen. dial. 5,5,2 (= de ira 3,5,2), Übers. Rosenbach. Dieses Projekt ist gewissermaßen die Fortführung desjenigen Projekts, mit dem Seneca in der Mitte des zweiten Buches begonnen hat. Vgl. Sen. dial. 4,18,1 (= de ira 2,18,1): Quoniam quae de ira quaeruntur tractavimus, accedamus ad remedia eius. Duo autem, ut opinor, sunt: ne incidamus in iram, et ne in ira peccemus („Da wir das, was mit Blick auf die Wut gefragt wird, behandelt haben, wollen wir nun zu ihren remedia kommen. Zwei aber gibt es, wie ich meine: damit wir nicht in Wut geraten und damit wir im Zustand der Wut nichts moralisch Falsches tun“, eig. Übers.). Neu ist das Interesse an der Therapie fremder Wut; zudem fällt auf, dass die in der Erziehung anzuwendenden wutpräventiven Techniken (vgl. Sen. dial. 4,19,1–21,11 [= de ira 2,19,1–21,11] und S. 197–201) im dritten Buch von De ira keine Rolle mehr spielen. Im zweiten Buch führt er die Urteilszurückhaltung und die angemessene Auslegung von Taten ein (vgl. Sen. dial. 4,22,2 und 24,2 [= de ira 2,22,2 und 24,2] und S. 213– 217).
256
Die Ethik
dig hält er es aber für nötig, noch mehr darüber zu sagen. Mit Blick auf die Therapie eigener Wut (PZ 2) weiß der Rezipient bzw. die Rezipientin532 bisher nur, dass die Verzögerung 533 und das Zurückstoßen und Zurücktreiben 534 mögliche Techniken sind, von denen die erstere besonders langsam wirkt und deshalb am besten so spät wie möglich einzusetzen ist. Mit der Therapie fremder Wut (PZ 3) beginnt Seneca erst am Ende des dritten Buches.535 Nach der oben zitierten Darstellung seines Vorhabens zu urteilen, müssen die exempla thematisch also entweder zum PZ 1 oder zum PZ 2 gehören. Bevor Seneca die exempla aufzählt, stellt er zunächst eine ganze Reihe von auf sich selbst anzuwendenden remedia vor.536 Weil nicht immer klar zu erkennen ist, in welchem Affektstadium die jeweilige Maßnahme einzuleiten ist, mache ich im Folgenden jedes Mal einen Vorschlag. Tabelle 5: remedia in De ira 3,5,3–13,1 und ihre Anwendungsmomente
remedium
Stelle
Affektstadium
Wut richtig bewerten
ab 5,3
vor dem Voraffekt
nicht zu viele Aufgaben übernehmen
ab 6,3
vor dem Voraffekt
in Gemeinschaft von besonders friedlichen Menschen leben
ab 8,1
vor dem Voraffekt
sich aus Streiten heraushalten
8,8
vor dem Voraffekt
die Seele nicht allzu sehr belasten
ab 9,1
vor dem Voraffekt
den Körper nicht allzu sehr belasten
ab 9,3
vor dem Voraffekt
aufkommende Wut zurückhalten
ab 10,1
nach dem Voraffekt
s
532
533 534 535 536
Zwar ist De ira an einen Mann, nämlich Senecas Bruder Novatus, adressiert; die Schrift wurde aber nicht nur exklusiv für ihn, sondern für ein breiteres Publikum verfasst. Dieses dürfte zweifellos zum Großteil aus Männern bestanden haben. Der Umstand, dass zwei von Senecas Schriften (Sen. dial. 6 [= ad Marc.] und Sen. dial. 12 [= ad Helv.]) an Frauen gerichtet sind, erhöht jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass De ira auch von Frauen gelesen wurde – zumal jene beiden Schriften als älter gelten. Für die Datierung der drei Schriften vgl. Monteleone 2014, S. 127 und Vogt [2007] 2016, S. 3f. (De ira), Sauer 2014b, S. 135 (ad Marc.) und Sauer 2014a, S. 171 (ad. Helv.). Vgl. Sen. dial. 4,29,1; 5,1,2 (= de ira 2,29,1; 3,1,2) und S. 221–223. Vgl. Sen. dial. 5,1,1 (= de ira 3,1,1) und S. 221. Vgl. Sen. dial. 5,39,1–40,5 (= de ira 3,39,1–40,5). Einige von ihnen wurden schon ausführlicher besprochen. Ich nenne sie trotzdem noch einmal, weil so verständlich wird, wie sich Senecas Auflistung verschiedener exempla in seine Untersuchung im dritten Buch von De ira fügt.
257
Der impetus seine Schwächen erkennen
10,4
vor dem Voraffekt
nicht neugierig sein
11,1
vor dem Voraffekt
die Dinge mit Humor nehmen
11,2f.
nach dem Voraffekt
ein scheinbares Unrecht mit Fassung tragen
ab 11,3
nach dem Voraffekt
sich nicht selbst Anlässe zur Wut schaffen
12,1
nach dem Voraffekt
sich Gedanken über die Motive des Täters und seine Person machen537
ab 12,2
nach dem Voraffekt
Verzögerung
ab 12,4
nach Affektausbruch/nach dem Voraffekt
aufkommende Wut verstecken
ab 13,1
nach dem Voraffekt
Die letzten Techniken, die Seneca vor der Überleitung zu den exempla vorstellt, dienen der Wutprävention bei anderen. Zu ihnen gehören die Zurechtweisung (ab 13,3; nach dem Voraffekt) und die Maßnahme, andere rechtzeitig von Festen fortzuschaffen, mit dem Ziel, ein Fehlverhalten im Zustand der Trunkenheit zu verhindern (13,5; vor dem Voraffekt). Senecas Blickrichtung geht aber nicht nur vom sozialen Umfeld zum Betroffenen, sondern auch vom Betroffenen zum sozialen Umfeld. So empfiehlt er, dass jemand, der schon schlechte Erfahrungen mit seiner Unbeherrschtheit gemacht hat, anderen im Vorhinein befehlen soll, ihm im „Krankheitsfall“ nicht zu gehorchen (13,5; vor dem Voraffekt). Streng genommen handelt es sich hierbei aber nicht um Wutprävention, sondern darum, andere vor der eigenen Wut zu schützen. Senecas Auflistung aller dieser Techniken lässt darauf schließen, dass er bisher fast nur sein erstes Projektziel – zu sagen, wie wir nicht in Wut geraten – behandelt hat. Da er im Anschluss an 13,5 keine Zäsur setzt und dann die Therapie der eigenen Wut zum Schwerpunkt macht,538 könnte das, was nun im Text folgt, weiterhin zur Wutprävention gehören. In kontextueller Hinsicht von Bedeutung für die These, dass die exempla im dritten Buch etwas mit Affekt- bzw. Wutprävention zu tun haben, sind vor allem die Worte, die Seneca ihnen unmittelbar voranstellt. Am besten ist es, wie er sagt,
s
537 538
Vgl. hierzu auch Sen. dial. 4,30,1f. (= de ira 2,30,1f.). Die Techniken zur Therapie fremder Wut werden dagegen durch eine solche Zäsur eingeleitet (vgl. Sen. dial. 5,39,1 [= de ira 3,39,1]).
258
Die Ethik
im Vorhinein Hindernisse für bekannte moralische Fehltritte aufzustellen (optimum est notis vitiis impedimenta prospicere)539 – eine Aussage, die sich als Anspielung auf noch vor der Vorwut einzusetzende wutpräventive Techniken deuten lässt. Die Seele muss in so eine Verfassung gebracht werden (ita componere animum), „[…] dass sie, selbst wenn schwerste und plötzliche Vorfälle sie heftig schütteln, die Wut entweder gar nicht erst spürt oder sie tief ins Innere zurückzieht und nicht eingesteht, wie sehr sie diese Sache verletzt, wenn doch einmal wegen der Ungeheuerlichkeit eines völlig unerwarteten Unrechts Wut aufgekommen ist“.540 Mit den vor der Vorwut einzusetzenden wutpräventiven Techniken kann man seine Seele also gegen künftige mentale Einwirkungen von außen stärken – sogar so sehr, dass eine Erscheinung von einem Unrecht auch einmal keine Vorwut auslöst. Sollte dies aber doch geschehen, darf man sich der Vorwut nicht hingeben und glauben, man sei verletzt worden, sondern muss sie in sich einschließen. Nach der zuletzt zitierten Anmerkung bringt Seneca die exempla ins Spiel:541 Id fieri posse apparebit, si pauca ex turba ingenti exempla protulero, ex quibus utrumque discere licet, quantum mali habeat ira ubi hominum praepotentium potestate tota utitur, quantum sibi imperare possit ubi metu maiore compressa est. Dass das möglich ist, wird sich zeigen, wenn ich aus der ungeheuren Menge der exempla einige wenige vorgebracht habe, von denen man beides lernen kann, sowohl wie viel Schlechtes an der Wut ist, wenn sie sich der Macht eines übermächtigen Menschen bedienen kann, als auch wie vieles sie sich selbst auferlegen kann, wenn sie von einer noch größeren Furcht zurückgehalten wird.
Die Verbindung zum zuvor Gesagten ist durch den Einstieg „Dass das möglich ist“ hergestellt. Aber die Möglichkeit welcher Sache will Seneca an einigen exempla veranschaulichen? Worauf bezieht sich das „das“ (id)? Es könnte den gesamten vorhergehenden Satz umfassen. Nach dieser Lesart sollen die exempla zeigen, dass es möglich ist, im Vorhinein Hindernisse für bekannte moralische Fehltritte aufzustellen und die Seele in so eine Verfassung zu bringen, dass sie die Vorwut entweder nicht empfindet oder, wenn sie sie empfindet, sie in sich einschließt und dadurch verhindert, dass sie sich zu Wut entwickelt. Andererseits könnte sich das „das“ ebenso gut auf diesen letzten Punkt beziehen: dass es möglich ist, Vorwut in sich einzuschließen und nicht zu Wut werden zu lassen. Dass Seneca mit dem „das“ auf diesen Teilaspekt Bezug nimmt und nicht auf den gesamten vorhergehenden Satz, bestätigt der Inhalt einiger exempla, wie zu sehen sein wird. Zusätzlich kann man, wie er fortfährt, zweierlei von den exempla lernen: s
539 540
541
Vgl. Sen. dial. 5,13,6 (= de ira 3,13,6). Vgl. ebd.: […] ut etiam gravissimis rebus subitisque concussus iram aut non sentiat aut magnitudine inopinatae iniuriae exortam in altum retrahat nec dolorem suum profiteatur (Übers. Wildberger, modifiziert). Sen. dial. 5,13,7 (= de ira 3,13,7), Übers. Wildberger, modifiziert.
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zum einen, dass die Wut von Königen besonders schlimm ist, weil sie im Gegensatz zu anderen Menschen noch über Macht verfügen, und zum anderen, dass entstehende Wut mit Furcht kollidieren und von ihr verdrängt werden kann.542 Der Zusammenhang zwischen diesen beiden Annahmen und derjenigen, dass es möglich ist, Vorwut in sich einzuschließen, ist nicht sogleich einsichtig. Nahe liegt, dass Seneca mit ihnen allen einen wutpräventiven Appell zum Ausdruck bringen will: Indem er anhand einiger exempla zeigt, dass es möglich ist, Vorwut in sich einzuschließen, ruft er gleichzeitig dazu auf, nicht in Wut zu geraten. Dieselbe Aufforderung ist mit den exempla verbunden, mit denen er zu zeigen beabsichtigt, dass die Wut von Königen besonders schlimm ist und dass entstehende Wut von Furcht verdrängt werden kann: Man soll nicht in Wut geraten, sonst tut man so abscheuliche und unnütze Dinge wie viele Könige; man soll nicht in Wut geraten, selbst wenn dies nur dadurch geschehen kann, dass man sich unter die Herrschaft eines anderen, aber weniger gefährlichen Affektes begibt. Der Unterschied bei alldem ist lediglich inhaltlicher Art – jedes exemplum soll mindestens eine der drei genannten Annahmen veranschaulichen; die appellative Botschaft ist jedes Mal dieselbe. Welches exemplum bzw. welche exempla welche Annahme veranschaulichen soll(en) und wie die appellative Botschaft im Einzelfall lauten könnte, möchte ich nun mit einer Analyse der von Seneca im dritten Buch seiner Schrift De ira angeführten exempla selbst deutlich machen. *** In den ersten beiden exempla ist der Protagonist ein Untergebener. Zuerst geht es um Praexaspes,543 der den Perserkönig Kambyses, zu dem er angeblich ein freundschaftliches Verhältnis pflegte, einmal ermahnt haben soll, dass es sich für einen König nicht gehört, im Vollrausch zu sein. Um ihm zu beweisen, dass er sich selbst in diesem Zustand beherrschen kann, habe Kambyses noch mehr getrunken und dem Sohn des Praexaspes aus einiger Entfernung mit einem Pfeil ins Herz geschossen. Danach habe Kambyses angeordnet, die Brust des Jungen zu öffnen. Auf die mitten im Herzen steckende Spitze weisend soll er Praexaspes gefragt haben, ob er nun von seiner Beherrschtheit überzeugt sei, woraufhin der angeblich erwiderte, dass nicht einmal Apollon hätte besser treffen können. Seneca kritisiert diese Schmeichelei scharf: Den Pfeil zu loben ist ein schlimmeres Verbrechen, als ihn abzuschießen.544 Seine Kritik, so verständlich sie für sich genommen auch erscheinen mag, steht jedoch im Gegensatz zu dem, was er
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Vgl. zu diesem Gedanken auch Sen. dial. 3,8,7 (= de ira 1,8,7). Seine erschütternde Geschichte erzählen Seneca (vgl. Sen. dial. 5,14,1f. [= de ira 3,14,1f.]) und Herodot (vgl. Hdt. 3,34,1–35,4). Ich greife hier auf Senecas Version zurück. Vgl. Sen. dial. 5,14,4 (= de ira 3,14,4).
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an Praexaspes’ Verhalten eigentlich veranschaulichen will,545 nämlich „[…] dass es möglich ist, Wut zu unterdrücken“ (iram supprimi posse)546 – genauer gesagt: Vorwut.547 Praexaspes habe kein böses Wort zu Kambyses gesagt, obwohl ihn der Anblick seines toten Sohnes schwer getroffen hat (sein eigenes Herz sei dabei durchbohrt worden).548 Weil er nicht in Wut geraten ist, konnte er Seneca zufolge das tun, was ein Vater eben tut, und was er nicht hätte tun dürfen, wenn er in Wut geraten wäre – vermutlich meint er damit, dass er seinen Sohn bestatten konnte.549 Der hinter diesem exemplum stehende affektpräventive Appell könnte angesichts all dessen lauten, dass man die Vorwut genau wie Praexaspes in sich einschließen soll, selbst wenn man sich in so einer Situation wie der seinen befindet – aber ohne dabei eine Schandtat zu goutieren. Das würde nur dazu führen, dass man selbst eine Schandtat begeht, die aus Senecas Sicht sogar noch schlimmer ist als die des Kambyses. Das zweite exemplum ähnelt in seiner Struktur dem ersten: Ein gut gemeinter Ratschlag eines Untergebenen bewegt einen König zu einer Gewalttat.550 Doch anders als zuvor legt Seneca nicht dar, worin genau der Ratschlag bestand,551 sondern kommt gleich zu dessen verheerenden Konsequenzen: Aus Rache für seine Respektlosigkeit setzt ein König Harpagos seine eigenen Kinder zum Verzehr s
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Auch Roller macht auf diese Inkonsistenz aufmerksam (vgl. Roller 2015, S. 88). Er bietet zwei Erklärungen für sie an (vgl. ebd., S. 89): (1) Seneca inszeniere sich selbst als jemanden, der aufgrund eines bestimmten Verhaltens (Schmeichelei) Vorwut empfindet, diese dann aber in sich einschließt und nicht zu Wut werden lässt – was dazu führt, dass er sein ursprüngliches Beweisziel erst aus dem Blick verliert, dann aber wieder ansteuert (Roller unterscheidet allerdings Vorwut nicht von Wut, wie es hier getan wird); und (2) Durch die ausdrückliche Verurteilung von Praexaspes’ Schmeichelei will Seneca den Appell aussenden, dass man niemals einem Herrscher schmeicheln sollte, wenn er einem so etwas antut wie das, was Kambyses Praexaspes angetan hat. Sen. dial. 5,14,4f. (= de ira 3,14,4f.), eig. Übers. Man könnte den Fall des Praexaspes auch mit Senecas Annahme in Verbindung bringen, dass Wut mit Furcht kollidieren und von ihr verdrängt werden kann. Seneca deutet aber nirgends an, dass sich Praexaspes davor fürchtete, er könne den Gewalttaten des Perserkönigs so wie sein Sohn zum Opfer zu fallen (anders Hdt. 3,35,4). Vgl. Sen. dial. 5,14,5 (= de ira 3,14,5). Vgl. Sen. dial. 5,14,5f. (= de ira 3,14,5f.). Dieselbe Vermutung äußert Malchow 1986, S. 474. Seneca spricht etwas vage vom „König der Perser“ (rex Persarum, Sen. dial. 5,15,1 [= de ira 3,15,1]). Laut Herodot, der die zuverlässigere Quelle darstellen dürfte, handelt es sich um den Mederkönig Astyages (vgl. Hdt. 1,108–119). Legt man Herodots Schilderungen zugrunde, war Astyages über keinen Ratschlag erbost. Dass Harpagos den Sohn von Astyages’ Tochter Mandane nicht tötete, obwohl er es ihm befohlen hatte, war der Auslöser seiner Gewalttat. Harpagos gab den Sohn einem Rinderhirten, mit der Anweisung, ihn in den Bergen auszusetzen und zu warten, bis er gestorben ist. Der Rinderhirte tauschte ihn aber gegen seinen eigenen Sohn aus, der bei der Geburt gestorben war, sodass er am Ende überleben konnte.
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vor.552 Der erquickt sich an ihnen, in dem Glauben, eine wohlschmeckende Speise zu sich zu nehmen. Das Geheimnis wird wie in Senecas Thyest erst gelüftet, nachdem sich der Betroffene satt gegessen hat.553 Der König lässt die Köpfe der Kinder hereinbringen und fragt scheinheilig, ob Harpagos denn gut bewirtet worden sei. Der antwortet: „Bei einem König […] ist jedes Mahl ein Genuss.“554 Seneca dient dieses exemplum wieder als ein Beleg für seine Annahme, dass es möglich ist, Vorwut nicht zu Wut werden zu lassen:555 „Ich möchte im Moment nur folgenden Schluss ziehen, dass es möglich ist, selbst die aus ungeheurem Leid entstehende Wut nicht zu zeigen und sie zu zwingen, Worte zu sagen, die ihr widersprechen.“556 Harpagos kann das von seiner Erscheinung verursachte schmerzvolle Vorwutgefühl zurückhalten (doloris refrenatio).557 Für Seneca ist das eine notwendige Maßnahme, da Harpagos so die weitere Demütigung vermeidet, auch noch das, was er von seinen Kindern übriggelassen hat, essen zu müssen558 – mit dem Wissen, dass sie es sind. Der affektpräventive Appell könnte in seinem Fall ähnlich lauten wie in dem des Praexaspes: Man soll es Harpagos gleichtun und die Vorwut in sich einschließen, selbst wenn man sich in einer Situation wie der seinen befindet. Es fällt aber auf, dass Seneca Harpagos’ Schmeichelei – die er sogar als solche bezeichnet559 –, nicht kritisiert.560 Vielleicht versteht er sie anders als bei Praexaspes nur als am königlichen Hof gebräuchliche Floskel, die nicht unbedingt ein Ausdruck von Charakterlosigkeit ist. Eine andere aus meiner Sicht eher zutreffende Erklärung könnte dagegen lauten, dass Seneca in seinen Ausführungen nicht ein weiteres Mal vom Weg abkommen will. Darum kaschiert er seine Empörung diesmal und konzentriert sich auf das Wesentliche. Eigentlich hält er Harpagos’ Schmeichelei aber für nicht weniger schändlich. s
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Bei Herodot lässt Astyages „nur“ Harpagos’ Sohn und nicht mehrere seiner Kinder schlachten und ihm zum Verzehr vorsetzen (vgl. Hdt. 1,119,3). Auch Staley zieht eine Parallele zwischen dem Harpagos-Beispiel und Senecas Thyest (vgl. Staley 1981, S. 235f.). Vgl. Sen. dial. 5,15,1f. (= de ira 3,15,1f.), Übers. Wildberger. Ebenso wenig wie bei Praexaspes deutet er an, dass Harpagos sich in irgendeiner Weise fürchtet (auch bei Herodot finden sich keine Indizien dafür). Für eine Verbindung von Harpagos’ Reaktion auf die Gewalttat des Königs mit der Annahme, dass Wut mit Furcht kollidieren und von ihr verdrängt werden kann, fehlt somit die textliche Grundlage. Staley nimmt dennoch an, dass Harpagos sein Entsetzen über das Geschehene nicht zum Ausdruck bringt, weil er sich fürchtet (vgl. Staley 1981, S. 236). Vgl. Sen. dial. 5,15,2f. (= de ira 3,15,2f.): […] hoc interim colligo, posse etiam ex ingentibus malis nascentem iram abscondi et ad verba contraria sibi cogi (Übers. Wildberger, modifiziert). Vgl. Sen. dial. 5,15,3 (= de ira 3,15,3). Ich interpretiere dolor in diesem Zusammenhang nicht als voll ausgeprägten Affekt. Vgl. Sen. dial. 5,15,1f. (= de ira 3,15,1f.). Vgl. Sen. dial. 5,15,1 (= de ira 3,15,1). Vgl. auch Roller 2015, S. 88f.
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Bei den vorherigen beiden exempla liegt Senecas Augenmerk auf dem Verhalten von Untergebenen ihren Königen gegenüber. Die Könige selbst spielen für ihn dabei eine eher untergeordnete Rolle. Trotzdem stützt er, indem er ihre Racheakte unverblümt schildert, indirekt auch seine Annahme, dass ihre Wut besonders schlimm ist, auch wenn dies nicht sein primäres Ziel darstellt. In den exempla, die Seneca im Anschluss anführt, stehen die Könige aber im Zentrum. Er beginnt mit der Exemplifizierung der Wut der Perserkönige Dareios und Xerxes.561 Beide reagierten nach seiner Darstellung mit Wut auf die Bitte eines ihrer Landsmänner, sie mögen ihm doch wenigstens einen Sohn lassen und nicht mit in den Krieg nehmen. Sie hätten ihn gefragt, an welchen Sohn er denke, und diesen daraufhin auf brutalste Weise getötet. Dass Wut nur unter persischen Königen vorkommt, schließt Seneca aber sogleich aus: Alexander der Große habe seinen Freund Kleitos (besser bekannt als „Kleitos der Schwarze“)562 beim Festmahl mit einem Speer durchbohrt,563 weil dieser ihm nicht genügend geschmeichelt hatte; Lysimachos, ebenfalls ein Freund von Alexander und späterer Diadoche, habe er im Wutrausch einem Löwen zum Fraß vorgeworfen.564 Die exempla wütender Könige beschränken sich aber nicht auf das Ausland, sie sind auch in Rom vorzufinden.565 Seneca beschreibt, wie der Diktator Lucius Sulla mithilfe seines Handlangers Catilina, der in der Catilinarischen Verschwörung die Macht in Rom an sich reißen wollte, den Politiker Marcus Marius Gratidianus niedermetzelte.566 Der römische Kaiser Caligula (den er in De ira stets „Gaius Caesar“ [C. Caesar] nennt und der nicht mit dem Diktator Gaius Julius Caesar zu verwechseln ist) ist ein noch aktuelleres, in diese Reihe gehörendes Beispiel.567 Caligulas Wut gehe sogar über die gewöhnliche Brutalität hinaus und sei daher genau genommen schon Grausamkeit (crudelitas).568 Wie Seneca erzählt, ließ er Sextus Papinius und andere römische Senatoren und Ritter zum Vergnügen (animi causa) auspeitschen und foltern.569 s
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Vgl. Sen. dial. 5,16,3f. (= de ira 3,16,3f.). Vgl. DNP 2,574 s. v. „Kleitos der Schwarze“ (Ernst Badian). Vgl. Sen. dial. 5,23,1 (= de ira 3,23,1). Vgl. Sen. dial. 5,17,2–4 (= de ira 3,17,2–4). Laut Seneca konnte er sich retten, verhielt sich dann jedoch selbst nicht besser: Wutentbrannt verstümmelte er seinen Freund Telesphoros aus Rhodos wohl so sehr, dass er nicht wiederzuerkennen war. Schon Cicero stellt exempla von Menschen unterschiedlicher Nationalitäten nebeneinander (vgl. Cic. rep. 1,5f.; Cic. off. 2,25–29, 3,97–101). Vgl. Sen. dial. 5,18,1f. (= de ira 3,18,1f.). Marcus Marius’ cognomen „Gratidianus“ habe ich mit Wildberger ergänzt (vgl. Anm. 108 ihrer Ausgabe von Senecas De ira). Vgl. Sen. dial. 5,18,3 (= de ira 3,18,3). Das „C.“ in C. Caesar steht für „Caius“ und bezeichnete ursprünglich sowohl einen K- als auch einen G-Laut; der Buchstabe „G“ wurde erst spät in das lateinische Alphabet aufgenommen (vgl. Der neue Georges s. v. C und Caius). Vgl. Sen. dial. 5,19,1 (= de ira 3,19,1). Vgl. Sen. dial. 5,18,3 (= de ira 3,18,3). Für weitere Gräueltaten Caligulas vgl. Sen. dial. 5,18,4 und 19,3–5 (= de ira 3,18,4 und 19,3–5). Bei ihnen sagt Seneca allerdings nicht
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Das Thema der Grausamkeit führt ihn zurück zu den Perserkönigen. Einem von ihnen bereitete es scheinbar Spaß, einem ganzen Volk in Syrien die Nasen abzuschneiden.570 Dann greift Seneca, als ob er mit seiner Aufzählung wieder von vorn anfangen und nur die Protagonisten austauschen will, zunächst wieder auf exempla wütender Perserkönige zurück. Kambyses571 sei auf die Äthiopier wütend geworden und kurzerhand mit ganzen Heerscharen durch unwegsames Gelände zu ihnen gezogen, weil sie sich von ihm nicht versklaven lassen wollten. Vor lauter Wut vergaß er, so Seneca, ausreichend Nahrungsmittel mitzunehmen. Infolgedessen hätten seine Soldaten irgendwann solchen Hunger gelitten, dass sie sich gegenseitig töteten und aufaßen. Noch absurder ist das exemplum von Kambyses’ Vater Kyros.572 Vor seinem Überfall auf Babylon soll der Strom des Gyndes eines seiner Wagenpferde mit sich gerissen haben. Angeblich geriet er darüber so in Wut, dass er viel Zeit und Mühe aufwandte, den Fluss in doppelt so viele Kanäle aufzuteilen. Die Gelegenheit, einen noch unvorbereiteten Feind anzugreifen, habe er so verpasst und den Kampfeswillen seiner Soldaten geschwächt. Anstatt wie im ersten Durchlauf seiner Aufzählung mit wütenden griechischen Königen fortzufahren, geht Seneca nun aber gleich über zu einem römischen exemplum aus jüngerer Vergangenheit.573 Der Grund dafür dürfte inhaltlicher Natur sein: Genau wie Kyros sei auch Gaius Caesar, also Caligula, auf einen unbelebten Gegenstand wütend geworden, allerdings nicht auf einen Fluss, sondern auf eine Villa im Gebiet von Herculaneum – die Villa, in der mutmaßlich seine Mutter Agrippina die Ältere festgehalten wurde. Die Konsequenz war Seneca zufolge, dass er das Gebäude abreißen ließ. Diese lange und detailreiche Liste von exempla dient ihm offenbar dazu, seine Annahme zu veranschaulichen, dass die Wut von Königen besonders schlimm ist: In ihrer Wut töten, foltern und verletzen sie Menschen, von denen sie sich aus trivialen Gründen provoziert fühlen; sie lassen sich hinreißen zu Unternehmungen mit katastrophalen Folgen, oder sie tun etwas, das niemandem nutzt. Auch die grausamen Könige veranschaulichen diese Annahme, denn sie tun im Prinzip nichts anderes – eigentlich sogar noch Schlimmeres, bedenkt man, dass sie sich s
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ausdrücklich, dass jener sie zum Vergnügen beging. Sein Konzept der Grausamkeit findet sich am ausführlichsten in Sen. dial. 4,5,1–5 (= de ira 2,5,1–5). Grausamkeit hängt eng mit der Wut zusammen – sie hat ihren Ursprung in ihr (origo huius mali ab ira est): Wer regelmäßig in Wut gerät, löscht irgendwann das Menschliche in sich aus und wird grausam. Dennoch ist Grausamkeit laut Seneca nicht dasselbe wie Wut, vor allem aus zwei Gründen: (1) Der Grausame wird nicht durch die Erscheinung von einem Unrecht zu seiner Tat veranlasst, und (2) das Ziel seines Strebens ist Lust und nicht Rache. Vgl. Sen. dial. 5,20,1 (= de ira 3,20,1). Um wen es sich dabei genau handelt, sagt Seneca nicht. Vgl. hier und im Folgenden Sen. dial. 5,20,2–4 (= de ira 3,20,2–4). Vgl. Sen. dial. 5,21,1–5 (= de ira 3,21,1–5). Vgl. Sen. dial. 5,21,5 (= de ira 3,21,5).
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nicht einmal provoziert fühlen und ausschließlich auf Lust aus sind. Im Endeffekt veranschaulicht Seneca ebenfalls seine Annahme, dass Wut mit Furcht kollidieren und von ihr verdrängt werden kann: Wer sich oder anderen exempla der geschilderten Art vor Augen führt, will sich oder andere davon abschrecken, in Wut zu geraten. Aber warum wählt er hier Könige und zuvor Untergebene als Protagonisten? Und warum entscheidet er sich für genau diese Reihenfolge? Schließlich könnte man fragen, warum er zuerst seine Annahme veranschaulicht, dass es möglich ist, Vorwut nicht zu Wut werden zu lassen, und anschließend exempla für seine anderen beiden Annahmen anführt. Bei genauerer Überlegung leuchtet seine Vorgehensweise ein. Wut kann nur vermieden werden, wenn es möglich ist, sie zu vermeiden. Deswegen ist es sinnvoll, zunächst die Möglichkeit ihrer Vermeidung zu belegen.574 Und wer könnte sich als exemplum besser dafür eignen als jemand, der nicht aus der breiten Masse heraussticht? Jeder gewöhnliche Mensch, so scheint Seneca sagen zu wollen – selbst der schnöde Untergebene eines Königs –, kann Wut vermeiden. Hätte er jedoch, angenommen, die Könige ausgewählt, um die Möglichkeit der Wutvermeidung zu exemplifizieren, hätte der Eindruck entstehen können, dass gerade nicht jeder gewöhnliche Mensch in der Lage ist, Wut zu vermeiden, sondern beispielsweise nur die Mächtigen. Der Übergang von den exempla für die Möglichkeit der Wutvermeidung zu denen für die Schlechtheit der Wut ist ebenso nachvollziehbar. Die bloße Möglichkeit, Wut vermeiden zu können, motiviert allenfalls – wenn überhaupt – geringfügig dazu, sie tatsächlich zu vermeiden. Durch die Hervorkehrung ihrer negativen Seite versucht Seneca diesem Defizit entgegenzuwirken. Er macht von einer Form des Motivierens Gebrauch, die auch heutzutage allgemein verbreitet ist. Um nur ein einfaches Beispiel aus einem anderen Kontext zu nennen: Wenn wir wollen, dass irgendjemand auf ein bestimmtes Genussmittel verzichtet, sagen wir häufig: „Das erregt die und die Krankheit.“ Seneca versucht seinem Appell, die Wut zu vermeiden, im Rückgriff auf negative exempla mehr motivierende Strahlkraft zu verleihen – und Könige eignen sich besonders gut als Negativbeispiele. Die Destruktivität der Wut lässt sich mit ihnen noch steigern: Ein wütender König verfügt im Vergleich zu seinen Untergebenen über viel mehr Macht und kann deshalb umso mehr Schaden anrichten. Er will sich nicht nur um jeden Preis rächen, er wird es sehr wahrscheinlich auch, weil es ihm seine Position gestattet.575 Ob Seneca mit den wütenden Königen gleichzeitig auch seine dritte Annahme veranschaulichen wollte, dass Wut mit Furcht kollidieren und von ihr verdrängt werden kann, ist nicht leicht auszumachen. Sollte dies aber, wie hier vorgeschlagen, s
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Ähnlich argumentiert Seneca schon zu Beginn des zweiten Buches von De ira (vgl. Sen. dial. 4,1,1 und 2,1 [= de ira 2,1,1 und 2,1]). Allerdings gereicht ihm das zum Nachteil, wie Seneca hervorhebt (vgl. Sen. dial. 5,16,2 [= de ira 3,16,2]): [...] nec diu potest quae multorum malo exercetur potentia stare [...] („[...] nicht lange kann die Macht, die zum Leidwesen vieler ausgeübt wird, bestehen [...]“, Übers. Wildberger, modifiziert).
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zutreffen, ist nachvollziehbar, was er sich dabei gedacht haben könnte: Der Furcht geht im stoischen Denken stets eine Erscheinung von einem Übel voraus.576 Als dieses Übel könnte man das beschriebene unmenschliche Verhalten der nichtrömischen und römischen Könige ausdeuten. Könige sind auch die tragenden Elemente der exempla, mit denen Seneca seine Liste im dritten Buch von De ira abschließt. Diesmal will er an ihnen jedoch nicht veranschaulichen, dass ihre Wut besonders schlimm ist:577 Et haec cogitanda sunt exempla quae vites, et illa ex contrario quae sequaris, moderata, lenia, quibus nec ad irascendum causa defuit nec ad ulciscendum potestas. Man muss sowohl die exempla bedenken, die du nicht nachahmen, als auch umgekehrt die, die du nachahmen solltest – die von gefassten, nachgiebigen Menschen erzählen, denen weder ein Grund zum Wütendwerden fehlte noch die Macht, sich zu rächen.
Die Protagonisten der nachahmenswerten exempla,578 die Seneca daraufhin anführt, sind: Antigonos (ein anderer Diadoche, der nach dem Tod Alexanders des Großen einen Anspruch auf dessen Reich erhob),579 Philipp II (der König von Makedonien und Vater Alexanders des Großen) und Augustus (der erste römische Kaiser). Sie alle hatten Seneca zufolge einen Grund, wütend zu werden, und – weil sie Könige waren – auch die Macht, sich zu rächen. Antigonos habe gehört, wie zwei seiner Soldaten direkt vor seinem Zelt schlecht über ihn redeten.580 Er hätte einen Grund gehabt, wütend zu werden, und sich sofort an ihnen rächen können; stattdessen soll er zu ihnen gesagt haben: „Geht weiter weg, damit der König euch nicht hört.“581 Ähnlich gelassen habe Philipp II reagiert. Wie Seneca schildert, empfing er eine Gesandtschaft aus Athen und fragte sie, was er den Athenern denn Gutes tun könne.582 Demochares, einer der Gesandten, antwortete ihm wohl: „dich aufhängen“.583 Philipp, der einen Grund gehabt hätte, über Demochares in Wut zu geraten und sich ohne Umstände hätte rächen können, sei aber ruhig geblieben und habe ihn unversehrt gehen lassen.584 Augustus habe sich schließlich nicht anders verhalten. Der Geschichtsschreiber Timagenes redete angeblich despektierlich s
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Vgl. S. 55. Sen. dial. 5,22,1f. (= de ira 3,22,1f.), Übers. Wildberger, modifiziert. Die exempla von Praexaspes und Harpagos sind auch nachahmenswert – aber nur eingeschränkt: Beide schmeicheln ihrem König. Vgl. die Anm. 116 in Jula Wildbergers Ausgabe von Senecas De ira. Vgl. Sen. dial. 5,22,2 (= de ira 3,22,2). Vgl. Sen. dial. 5,22,2f. (= de ira 3,22,2f.), Übers. Wildberger. Für weitere exempla mit Antigonos in der Hauptrolle, die aber nichts wesentlich Neues zutage fördern, vgl. Sen. dial. 5,22,3–5 (= de ira 3,22,3–5). Vgl. Sen. dial. 5,23,2 (= de ira 3,23,2). Vgl. Sen. dial. 5,23,2f. (= de ira 3,23,2f.), Übers. Wildberger. Vgl. Sen. dial. 5,23,3 (= de ira 3,23,3).
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über ihn, seine Frau und sein Haus.585 Obwohl Augustus ihn dafür ermahnt habe, soll er nicht damit aufgehört, ja sogar gewagt haben, Bücher zu verbrennen, in denen er die Taten des Kaisers einst noch gepriesen hatte.586 Auch Augustus hätte also einen Grund gehabt, wütend zu werden, und die Macht, sich zu rächen. Aber nichts dergleichen sei geschehen.587 Danach beendet Seneca seine Aufzählung nachahmenswerter exempla und zieht eine praktische Schlussfolgerung: Immer wenn wir provoziert werden, sollten wir uns fragen, ob wir mächtiger als Antigonos, Philipp oder Augustus sind.588 Damit will er sagen: Wenn sie schon nicht in Wut gerieten, obwohl sie sich leicht hätten rächen können, weil sie als Könige über ungeheure Macht verfügten, dann wird es uns umso leichter fallen, nicht in Wut zu geraten, weil wir über weit weniger Macht verfügen.589 Aber wie verhalten sich diese exempla zu Senecas drei Annahmen? Sie veranschaulichen weder, dass die Wut von Königen besonders schlimm ist, noch, dass Wut mit Furcht kollidieren und von ihr verdrängt werden kann. Vielmehr zeigen sie, denke ich, dass es möglich ist, Wut aus eigener Willenskraft zu vermeiden – und zwar selbst für Menschen, die viel Macht besitzen und alle Fäden in der Hand haben, um sich zu rächen. Zudem ist festzustellen, dass Seneca diesmal keinerlei Kritik an den Protagonisten übt. Sein wutpräventiver Appell könnte deshalb uneingeschränkt lauten: In Fällen, in denen Leute die eigene oder ihr nahestehende Personen in irgendeiner Form beleidigen, solle man die Wut genau wie die genannten drei Könige in sich einschließen.590 Seinen wutpräventiven Appell stützt er zusätzlich durch ein argumentum a fortiori. Dadurch verleiht er ihm noch mehr motivierende Strahlkraft, die bei den exempla mit Praexaspes und Harpagos wenig bis gar nicht ausgeprägt war und in den negativen exempla über die Schilderung der Destruktivität der Wut erreicht werden sollte. Die uneingeschränkt nachahmenswerten exempla der Könige bilden somit den kulminierenden Abschluss einer Liste, die vielleicht nicht auf den ersten Blick, aber doch bei näherem Hinsehen alles andere als unstrukturiert wirkt.
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Vgl. Sen. dial. 5,23,4 (= de ira 3,23,4). Vgl. Sen. dial. 5,23,5f. (= de ira 3,23,5f.) und Sen. d. Ält. contr. 10,5,22. Vgl. Sen. dial. 5,23,7 (= de ira 3,23,7). Vgl. für Augustus’ im Alter einsetzende clementia auch Sen. clem. 1,9,1–11,1. Vgl. Sen. dial. 5,24,1 (= de ira 3,24,1). Seneca nennt Antigonos’ Namen nicht; vom Prinzip her muss er ihn aber mitmeinen. Technisch ausgedrückt handelt es sich hierbei um ein argumentum a fortiori (vgl. Roller 2015, S. 87). Interessant ist, dass die Taten, auf die die Könige vorbildlich reagieren, weit weniger blutrünstig sind als die, mit denen Praexaspes und Harpagos konfrontiert werden. Was hätten jene wohl getan, wenn einer der Ihren so brutal getötet worden wäre?
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3.3.7.3 Der Gebrauch von exempla als affekttherapeutische Technik Mit dem Anführen von exempla will Seneca aber nicht nur erreichen, dass jemand nicht in einen bestimmten Affekt gerät; er zieht sie auch dann heran, wenn es schon zum Affektausbruch gekommen ist. In seiner Konsolationsschrift an Marcia lässt sich dies besonders gut beobachten. Marcia, eine Frau von großer Gesinnung (magnitudo animi)591 und einem für die „alte Zeit“ typischen Charakter,592 ist in tiefen Kummer (dolor/tristitia/maeror/aegritudo)593 über den Tod ihres Sohnes Metilius verfallen.594 Das natürliche Heilmittel der Zeit (naturale remedium temporis) hat auch nach drei Jahren nichts gegen ihn ausrichten können; ebenso sind alle menschlichen Bemühungen, die zu seiner Therapierung unternommen wurden, fehlgeschlagen.595 Trotzdem ist Seneca davon überzeugt, dass Marcia kein hoffnungsloser Fall ist, und so macht er es sich zur Aufgabe, gegen ihren Kummer anzukämpfen (ego confligere cum tuo maerore constitui).596 Wie er selbst zugesteht, ist diese Aufgabe aber alles andere als einfach: Ein Kummer, der über einen so langen Zeitraum anhält, hat sich in der Seele festgesetzt.597 Eine Besserung
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Für Seneca zeigt sich diese daran, dass sie das Geschichtswerk ihres verstorbenen Vaters Aulus Cremutius Cordus, das auf Seianus’ Bestreben hin zum Großteil verbrannt worden war, wieder unter die Leute brachte (vgl. Sen. dial. 6,1,3–5 [= ad Marc. 1,3– 5]). Wie sie das genau gemacht hat, bleibt allerdings unklar. Für ein eher stoisches Verständnis der magnitudo animi vgl. Sen. dial. 3,20,6 (= de ira 1,20,6), wo sie Seneca als einen unerschütterlichen (inconcussam intellego), gleichbleibenden und stabilen (parem firmamque) Geisteszustand definiert, der schlechten Charakteren nicht innewohnen kann. Bei ihr liegt die Betonung darauf, dass man Schicksalsschlägen gegenüber innerlich gefestigt ist. Diese Idee findet sich schon bei Aristoteles, der jemanden, der viele und große Unglücksfälle erträgt, als stolz (γεννάδας) und großgesinnt (μεγαλόψυχος) bezeichnet (vgl. Aristot. EN 1100b28–33). Cicero (bzw. „M“) sagt über die magnitudo animi, sie sei die Begleiterin der Tapferkeit (fortitudini comites, vgl. Cic. Tusc. 2,32). Damit legt er ihr eine ähnliche Bedeutung wie Seneca bei. Ihre vermehrte Thematisierung in den Schriften beider römischer Autoren könnte damit zu tun haben, dass sie ein „römischer Lebenswert“ war (vgl. Abel 1967, S. 28). Vgl. Sen. dial. 6,1,1 (= ad Marc. 1,1). Vgl. nacheinander Sen. dial. 6,1,1 und 8 (= ad Marc. 1,1 und 8), Sen. dial. 6,1,5 (= ad Marc. 1,5) und Sen. dial. 6,26,2 (= ad Marc. 26,2; diese Stelle gefunden über Delatte/Evrard et al. 1981 s. v. aegritudo). Für Angaben zur Person des Metilius vgl. Sen. dial. 6,19,1–3 (= ad Marc. 19,1–3). Der Zuspruch von Freunden, die Autorität bedeutender und verwandter Männer, und die wissenschaftliche Betätigung (vgl. Sen. dial. 6,1,6 [= ad Marc. 1,6]). Vgl. Sen. dial. 6,1,5 (= ad Marc. 1,5). Vgl. Sen. dial. 6,1,8 (= ad Marc. 1,8).
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kann darum nur mit „härteren“ Techniken erzielt werden,598 zu denen er das Anführen von exempla zählt.599 Er wählt zwei aus, die aus seiner Sicht hervorragend zu Marcia passen: das der Octavia, der Schwester des Kaisers Augustus, und das der Livia, seiner Gattin.600 Sie passen deshalb gut zu ihr, weil es sich um imponierende exempla handelt und Marcia imponierende exempla bewundert, und weil sie von zwei Frauen erzählen, die beide in demselben Jahrhundert geboren sind601 und beide einen Sohn im jungen Alter verloren haben.602 Hinzu kommt, dass Marcia mit Livia sogar befreundet
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Vgl. Sen. dial. 6,1,8 (= ad Marc. 1,8): Non possum nunc per obsequium nec molliter aggredi tam durum dolorem: frangendus est („Nicht kann ich mich nun mit Nachsicht und behutsam so hartnäckigem Kummer nähern: Er muss zerschmettert werden“, eig. Übers.). Seneca spricht nicht explizit von „härteren“ Techniken, sondern spielt nur auf sie an. Für seine Unterscheidung zwischen „härteren“ und „leichteren“ Techniken vgl. insbesondere Sen. dial. 9,2,2 (= de tran. an. 2,2) und S. 204f. Harich-Schwarzbauer 1993, S. 150 erklärt Senecas Entscheidung, mit der Anführung von exempla zu beginnen, mit Marcias Geschlecht: Weil sie eine Frau ist, kann sie nicht mit Vernunft belehrt werden. Diese Interpretation geht am eigentlichen Punkt vorbei. Marcia ist nicht wegen ihres Geschlechts nicht unmittelbar für eine Vernunftargumentation zugänglich, sondern wegen ihres starken affektuösen Zustands (vgl. auch Wiener 2008, S. 78). Vgl. Sen. dial. 6,2,3 (= ad Marc. 2,3). Gemeint ist das erste Jh. v. Chr. Octavia lebte von 70 bis 11 v. Chr. und Livia von 58 v. Chr. bis 29 n. Chr. (vgl. Griffin 1976, S. 397). Vgl. Sen. dial. 6,2,2f. (= ad Marc. 2,2f.). Der erste Punkt ist nur in der Textausgabe von René Waltz zu finden. Dort beginnt der Satz in Sen. dial. 6,2,2 (= ad Marc. 2,2) mit dem Ablativus absolutus ad speciosa [sc. exempla] stupenti und verläuft weiter mit duo tibi ponam ante oculos maxima et sexus et saeculi tui exempla („Weil du imponierende [exempla] bewunderst, möchte ich dir zwei bedeutende deines Geschlechts und deines Jahrhunderts vor Augen führen [...]“, eig. Übers.). In der Ausgabe von Reynolds beginnt der Satz an ebenjener Stelle gleich mit duo tibi usw. Er übernimmt die Konjektur stupentibus von Gertz und stellt ad speciosa stupentibus an das Ende des vorhergehenden Satzes: Scio a praeceptis incipere omnis qui monere aliquem volunt, in exemplis desinere. Mutari hunc interim morem expedit; aliter enim cum alio agendum est: quosdam ratio ducit, quibusdam nomina clara opponenda sunt et auctoritas quae liberum non relinquat animum ad speciosa stupentibus („Ich [Seneca] weiß, jeder, der einen anderen ermahnen will, beginnt mit Vorschriften und endet mit exempla. Bisweilen ist es hilfreich, anders vorzugehen; denn jeder benötigt seine eigene Behandlung: Manche Leute lassen sich durch Vernunft leiten, manche brauchen bekannte Namen und eine Autorität, die ihre Seele nicht unberührt zurücklässt, wenn sie Glänzendes bewundern“, eig. Übers.). Gegen Reynolds’ Lesart spricht allerdings, dass die Handschriften ARV übereinstimmend stupenti haben (vgl. seinen kritischen Apparat und S. xx seiner Ausgabe der Dialogi). Daher scheint es angebracht, Waltz’ Lesart in die Interpretation miteinzubeziehen. Manning äußert sich in seinem Kommentar nicht zu den Unterschieden in den Textausgaben (vgl. Manning 1981, S. 36).
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gewesen ist.603 Es gibt also gleich mehrere Verbindungen zwischen diesen exempla und der Person, an die sie sich richten – anders als in De ira.604 Dass Seneca genau diese exempla verwendet, offenbart zweierlei: Zum einen berücksichtigt er die individuelle geistige Natur seiner „Patientin“ (er passt sein Vorgehen an Marcias Vorlieben an)605 und folgt damit einem Ratschlag, den er selbst immer wieder gibt; zum anderen tut er etwas, das er am Ende von De ira andeutungsweise empfiehlt, nämlich Rücksicht zu nehmen auf die Biographie der zu therapierenden affektbeherrschten Person.606 Zuerst führt Seneca Marcia das exemplum der Octavia vor Augen. Nach einer kurzen Lobrede auf ihren verstorbenen Sohn Marcellus beschreibt er, wie sie mit seinem Tod umgegangen ist: Der Gedanke, dass Marcellus nicht mehr lebt, sei ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen (intenta in unam rem et toto animo affixa). Sie habe geseufzt und geweint, jegliche Form von Trost zurückgewiesen, Gelegenheiten zur Ablenkung nicht wahrgenommen, alle Mütter gehasst und sich gegenüber ihrem sozialen Umfeld verschlossen. Ihr ganzes Leben sei eine einzige Trauerfeier gewesen – selbst mit ihren anderen Kindern an ihrer Seite habe sie sich verwaist gefühlt. Ihr Kummer habe sie nicht mehr losgelassen und all ihr Handeln beherrscht.607 Von hier aus geht Seneca nahtlos über zum exemplum der Livia. Wieder äußert er sich zunächst lobend über ihren verstorbenen Sohn. Anders als zuvor gibt er dann jedoch ein paar Hintergrundinformationen zu dessen Tod: Drusus sei mit seinem Heer durch Germanien gezogen und dabei ums Leben gekommen – und er beschreibt auch, was danach passiert ist: Man habe den Leichnam in einer Art Triumphzug, an dem wohl auch die Mutter Livia teilnahm, nach Rom überführt.608 Livia sei währenddessen in tiefen Kummer versunken, doch dann soll sich ihre Gefühlslage geändert haben: „[…] [S]obald sie ihn aber beigesetzt hatte, legte sie zugleich ihn und ihren Kummer zur Ruhe, und nicht mehr trauerte sie, als es der Anstand erforderte, da der Kaiser noch lebte, oder als billig war, da der andere s
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Vgl. Sen. dial. 6,4,2 (= ad Marc. 4,2): […] quam familiariter coluisti […] („[…] die [Julia Augusta] du [Marcia] freundschaftlich verehrt hast […]“, eig. Übers.). Julia Augusta war der Name, den Livia nach Augustus’ Tod erhielt (vgl. Anm. 6 im ersten Band von Manfred Rosenbachs Ausgabe von Senecas philosophischen Schriften, S. 406). Nichts deutet auf Verbindungen zwischen den exempla in Sen. dial. 5,14,1–23,8 (= de ira 3,14,1–23,8) und Novatus hin. Vgl. auch Roller 2015, S. 85, der mit Bezug auf die exempla in Sen. dial. 3,11,5–7 (= de ira 1,11,5–7) schreibt: „Nothing in the text suggests that Novatus commands, has commanded, or imminently will command an army; hence these exemplary generals do not seem to provide immediately resonant, compelling models for how Novatus himself should act […].“ Diese Erkenntnis hat natürlich nur vor dem Hintergrund der Textausgabe von René Waltz irgendeinen Wert. Vgl. Sen. dial. 5,40,1 (= de ira 3,40,1) und S. 225. Vgl. Sen. dial. 6,2,3–5 (= ad Marc. 2,3–5). Vgl. Sen. dial. 6,3,1f. (= ad Marc. 3,1f.).
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Die Ethik
Sohn noch lebte“609 – und das obwohl, ja eigentlich sogar gerade weil sie nicht mehr aufgehört hat, an Drusus zu denken und offen über ihn zu sprechen, und diese Praxis scheinbar sogar ihr ganzes Leben vollzog (cum memoria illius vixit).610 s
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Vgl. Sen. dial. 6,3,2 (= ad Marc. 3,2): [...] ut primum tamen intulit tumulo, simul et illum et dolorem suum posuit, nec plus doluit quam aut honestum erat Caesare aut aequum salvo (Übers. Rosenbach). Ich folge hier einer Konjektur von Gertz, die René Waltz in seiner Ausgabe der Dialogi übernimmt, Reynolds in seiner Ausgabe dagegen nicht – er nennt sie auch nicht in seinem kritischen Apparat, zumindest nicht expressis verbis, dafür aber eine spätere Konjektur von Gertz: aequom salvo (Livia trauerte nicht mehr, „[…] als billig war, weil Tiberius [ihr anderer Sohn] noch lebte“, eig. Übers.). Reynolds druckt: […] nec plus doluit quam aut honestum erat Caesare aut aequum salvo. Bei dieser Textvariante bleibt jedoch unklar, wer mit salvo gemeint ist – der Subjektsablativ fehlt. Manning äußert sich in seinem Kommentar nicht zu diesem textkritischen Problem (vgl. Manning 1981, S. 42). Die zitierte Stelle mag darüber hinaus in inhaltlicher Hinsicht problematisch erscheinen. Es klingt so, als würde Seneca sagen wollen, Livia habe gut daran getan, ihren Kummer auf ein mittleres Maß zu reduzieren, und darum solle auch Marcia ihren Kummer auf ein mittleres Maß reduzieren. Zeigt das nicht, dass er die Metriopathie doch befürwortet? Ich glaube nein. Livias Verhalten lässt sich so deuten, dass sie lediglich den Vorstellungen der römischen pietas gemäß handelte, denen zufolge es sich gehörte, beim Tod eines Angehörigen für eine bestimmte Zeit zu trauern (vgl. Hadot 1969, S. 134 und insbesondere Shelton 1995, S. 174 und 185) – ob nun vor dem eigenen Gatten, dem noch lebenden Sohn oder jemand anderem. Das muss nicht bedeuten, dass sie tatsächlich noch trauerte. In der Konsolationsschrift an Marcia gibt es noch weitere Stellen, die so klingen, als würde Seneca die Metriopathie doch nicht vollständig ablehnen. Melanie Stowell trägt sie zusammen (vgl. Stowell 1999, S. 49f.) und argumentiert unter Berücksichtigung des Forschungsstandes (vgl. ebd., S. 51–53) für eine stoisch orthodoxe Auslegung im Sinne der Apathie (in jüngerer Zeit verfolgt auch Machek 2018 eine solche Argumentationslinie, ohne sich jedoch auf Stowells Beitrag zu beziehen). Stowell gibt zu bedenken, dass Senecas eingangs formulierte Bekundungen, mit Marcias Kummer kämpfen zu wollen, im Kontrast zu der Annahme stehen, er wolle Marcias Kummer lediglich auf ein mittleres Maß reduzieren (vgl. ebd., S. 57f.). Außerdem macht sie darauf aufmerksam, dass seine Ausdrücke für „Mäßigung“ keine exklusiv peripatetische Bedeutung haben (vgl. ebd., S. 58f.). Ihr eigener Ansatz besteht darin, die von Seneca bei den exempla und praecepta thematisierten emotionalen Reaktionen als Voraffekte zu interpretieren und nicht, wie es viele vor ihr getan haben, als gemäßigte Affekte (vgl. ebd., S. 60 und 90–95). So interessant ihr Ansatz auch ist, sie geht meines Erachtens einen Schritt zu weit, wenn sie selbst Livias Reaktion auf den Tod ihres Sohnes Drusus als Voraffekt versteht (vgl. ebd., S. 100f.). Deren primus fervor (vgl. Sen. dial. 6,4,2 [= ad Marc. 4,2]) zeigt nicht an, dass sie „Vorkummer“ empfindet, sondern, dass der Kummer bei ihr schon ausgebrochen und besonders stark ausgeprägt ist – Seneca verwendet hier die gleiche Terminologie wie bei der Wut (vgl. Sen. dial. 5,12,4 [= de ira 3,12,4] und S. 222). Vgl. Sen. dial. 6,3,2 (= ad Marc. 3,2).
Der impetus
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Nachdem Seneca beide exempla angeführt hat, tut er erst so, als würde er die Entscheidung, welches von ihnen sich Marcia zu eigen machen soll, ganz ihr überlassen (elige itaque – quasi ein rhetorischer Imperativ).611 Unmittelbar darauf leistet er jedoch Überzeugungsarbeit und schildert, was passiert, wenn sie sich so wie Octavia verhält, und was passiert, wenn sie sich so wie Livia verhält. Die Konsequenzen sind in beiden Fällen klar: Wird Marcia zur Octavia und erneuert ihren Kummer unablässig, wird sie ihres Lebens nicht mehr froh; der Kummer – und nicht sie – wird ihr Handeln beherrschen. Wird sie dagegen zur Livia und befreit sich von ihrem Kummer, macht das ihren Sohn zwar nicht wieder lebendig, aber sie erlangt ihre Handlungsfähigkeit und einstige Würde zurück und kann sich sowohl um sich selbst als auch um andere kümmern.612 Aus Senecas Sicht besteht kein Zweifel daran, dass Marcia an Livias exemplum mehr Gefallen findet: Es, und nicht etwa das der Octavia, ruft dazu auf, den gleichen Entschluss zu fassen (illa te ad suum consilium vocat).613 Ihm nachzueifern, ist die einzige rationale Option. Dieser Feststellung verleiht er auf zwei Wegen noch mehr motivierende Strahlkraft. Auf der einen Seite unterstreicht er, dass sich Marcia nicht wie Livia von einem Moment auf den anderen von ihrem Kummer befreien muss: „Und nicht will ich dich auf allzu strenge Vorschriften verweisen, dass ich in übermenschlicher Weise Menschliches zu ertragen dich anhalte, dass ich am Tag der Beisetzung selber die Augen der Mutter trockne.“614 Seneca heißt Marcia nicht, ihren Kummer auf ein mittleres Maß zu reduzieren (aus Gründen der Nützlichkeit oder weil es natürlich ist, Kummer im gemäßigten Zustand zu empfinden); er will, dass sie sich ganz von ihm befreit. Aber er vermittelt ihr, dass s
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Vgl. Sen. dial. 6,3,3 (= ad Marc. 3,3). Vgl. Sen. dial. 6,3,4 (= ad Marc. 3,4). Auch hier gebraucht Seneca eine Formulierung, die man im Sinne der Metriopathie auslegen könnte: [...] est enim quaedam et dolendi modestia („[...] es gibt nämlich auch beim Kummer eine gewisse modestia“, eig. Übers.). Was bedeutet modestia hier? Sagt Seneca, dass sich Kummer auf ein mittleres Maß reduzieren lässt? Karlhans Abel merkt nüchtern an: „[...] dolendi modestia [...] = Metriopathie [...]“ (vgl. Abel 1967, S. 34). Dazu zwei Anmerkungen – erstens: Seneca verwendet diesen Ausdruck nirgends, um die peripatetische Lehre von der Metriopathie entweder zu charakterisieren oder zu kritisieren; und zweitens: Sogar wenn modestia an dieser Stelle mit „Mäßigung“ zu übersetzen ist, muss es nicht die Mäßigung sein, die die Peripatetiker nach seiner und Ciceros Darstellung guthießen. Nicht umsonst spricht er von einer „gewissen“ modestia. Meines Erachtens will Seneca sagen, dass jemand selbst im Kummer ab einem bestimmten Moment für affekttherapeutische Techniken empfänglich ist. So gesehen müsste man modestia mit „bereitwilliger Gehorsam“ übersetzen (vgl. Der neue Georges s. v. modestia). Vgl. Sen. dial. 6,4,2 (= ad Marc. 4,2). Vgl. Sen. dial. 6,4,1 (= ad Marc. 4,1): Nec te ad fortiora ducam praecepta, ut inhumano ferre humana iubeam modo, ut ipso funebri die oculos matris exsiccem (Übers. Rosenbach, modifiziert). Eine solche strengere (stoische) Vorschrift könnte vielleicht gelautet haben: „Hat eine Mutter ihr Kind verloren und leidet Kummer, muss sie alles daran setzen, sich sofort wieder davon zu befreien.“
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Die Ethik
dies nicht schlagartig geschehen muss, sondern auch sukzessive geschehen kann. So kommt er dem möglichen Einwand ihrerseits zuvor, dass die Nachahmung von Livias exemplum ihre Kräfte übersteigen würde.615 Marcia muss Livias Verhalten nicht eins zu eins übernehmen; es genügt völlig, wenn sie es ihr annähernd gleichtut. Auf der anderen Seite versucht Seneca, Marcia von der Notwendigkeit, nach Maßgabe Livias zu handeln, durch die Herstellung einer Parallele zu überzeugen: Als sich Livia in der Hochphase ihres Kummers (in primo fervore), also noch vor Drusus’ Bestattung, an den Philosophen Areios Didymos wandte, habe er ihr mit seinem Rat geholfen – mehr als das römische Volk, mehr als ihr Gatte Augustus und mehr als ihr lebender Sohn Tiberius;616 und so wird auch er – Seneca – mit seinem Rat Marcia mehr als alle anderen helfen, wenn sie sich in ihrem starken Kummer an ihn wendet.617 Wahrscheinlich um ihr glaubhafter zu machen, dass Areios Livia wirklich philosophisch therapierte, „zitiert“ er (ob er wirklich zitiert, ist fraglich)618 einen Auszug aus Areios’ Konsolationsschrift und kreiert damit gewissermaßen eine Consolatio in einer Consolatio.619 Der eigentliche Grund für dieses Vorgehen dürfte aber sein, dass er eine therapeutische Erfolgsgeschichte s
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Ähnlich geht Seneca im 63. Brief vor, aber ohne auf exempla zu rekurrieren: Lucilius’ Freund Flaccus ist gestorben und er drückt ihm sein Beileid aus. Zugleich nimmt er den Vorfall zum Anlass, um ihm ein paar Ratschläge zum Umgang mit Kummer (dolor) zu erteilen. Lucilius soll nicht mehr als angemessen trauern (plus tamen aequo dolere te nolo, Sen. epist. 63,1) – eine Aussage, die vor dem Hintergrund der stoischen Apathie überraschen mag. Denn eigentlich müsste Seneca ihn doch dazu bringen, sich ganz von seinem Kummer zu befreien. Weil er sich aber der moralischen Unvollkommenheit seines Freundes bewusst ist, der genauso wenig wie er selbst die Weisheit erlangt hat, weiß er, dass die instantane Überwindung der Trauer in dieser Situation zu viel verlangt wäre. An sich hat sie aber Priorität (vgl. ebd.): Illud, ut non doleas, vix audebo exigere; et esse melius scio („Jenes, dass du keinen Kummer empfindest, werde ich kaum zu fordern wagen; und doch, weiß ich, wäre es besser“, eig. Übers.). Vgl. Sen. dial. 6,4,2 (= ad Marc. 4,2). Areios Didymos war der Freund und Berater von Kaiser Augustus, vgl. Goulet 1989, S. 345 s. v. „Areios Didymos (Arius Didyme)“ (Brad Inwood). Seneca identifiziert sich nicht explizit mit Areios, aber er identifiziert Marcia mit Livia (vgl. Sen. dial. 6,6,1 [= ad Marc. 6,1]): Tuum illic, Marcia, negotium actum, tibi Areus assedit […] („Um deine Not, Marcia, hat es sich dort gehandelt, neben dir hat Areios gesessen“, Übers. Rosenbach, modifiziert). Grollios 1956, S. 27 hält es für wahrscheinlich, dass Seneca Areios nur imitiert. Er weist auf die Art und Weise hin, wie Seneca den Auszug aus dessen Trostschrift präsentiert: Hic, ut opinor, aditus illi fuit […] („Das, meine ich, war der Zugang für ihn [gemeint ist der Zugang zu Marcia] […]“, Übers. Rosenbach, eig. Herv.). Abel 1967, S. 17 vertritt die gleiche Position wie Grollios: „[Das] ut opinor, im eigentlichen Sinn genommen, besagt, daß Seneca nicht wortwörtlich ein ihm vorliegendes Stück reproduziert und auch nicht in freier Wiedergabe referiert unter Beibehaltung der direkten Form, sondern daß er sich die Worte des Areus von seiner Phantasie eingeben läßt.“ Vgl. Shelton 1995, S. 179 und 181.
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erzählen will: Areios rät Livia, sich ihren Freunden nicht zu verschließen und sie abzuweisen – sie setzt seinen Ratschlag in die Tat um.620 Er bemängelt, dass sie mit Drusus nicht in Gedanken zusammenlebt und sich an die freundlichen Begegnungen, die gegenseitigen Liebkosungen und an die Fortschritte seiner Studien erinnert – sie beherzigt es.621 Und er schärft ihr ein, dass es etwas Großes ist, sich bei einem Unglück stark zu zeigen – sie ist stark und lässt von ihrem Kummer ab.622 Genauso kann auch Marcias Geschichte zu einer Erfolgsgeschichte werden, wenn sie auf Seneca hört und Livias exemplum nachahmt. An späterer Stelle führt Seneca noch eine ganze exempla-Liste an,623 und er teilt auch mit, zu welchem Zweck er dies tut:624 Quosdam […] referam, […] ut scias fuisse multos qui lenirent aspera placide ferendo. Einige möchte ich […] aufführen […], […] damit du weißt, gegeben hat es viele, die Hartes durch geduldiges Ertragen linderten.
Die Vorführung von Personen, die „Hartes durch geduldiges Ertragen linderten“, dient ihm natürlich nicht nur zu Informationszwecken, wie das „damit du weißt“ (ut scias) vermuten lassen könnte. Er will Marcia nicht lediglich darüber informieren, dass viele Hartes durch geduldiges Ertragen linderten, sondern sie dazu motivieren, ebenfalls Hartes durch geduldiges Ertragen zu lindern. Aber was ist mit dieser Phrase gemeint? „Hart“ (asper) ist offenbar der Schicksalsschlag, der die Protagonisten der hiesigen exempla trifft.625 Sie alle haben eines oder mehrere ihrer Kinder verloren: Der Diktator Lucius Sulla und der Priester Pulvillus einen Sohn,626 Aemilius Paulus und Lucius Bibulus gleich mehrere Söhne;627 Gaius Julius Caesar habe seine Tochter verloren, Kaiser Augustus alle seine Kinder und
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Vgl. Sen. dial. 6,5,1, 3,2 (= ad Marc. 5,1, 3,2). Sen. dial. 6,5,4, 3,2 (= ad Marc. 5,4, 3,2). Vgl. Sen. dial. 6,5,5, 3,2 (= ad Marc. 5,5, 3,2). Vgl. Sen. dial. 6,12,6–16,4 (= ad Marc. 12,6–16,4). Sen. dial. 6,12,5 (= ad Marc. 12,5), Übers. Rosenbach, modifiziert. Unter Stoikern war es geläufig, etwas zurückgesetztes Indifferentes als „hart“ zu bezeichnen (vgl. Cic. fin. 5,93). Vgl. Sen. dial. 6,12,6, 13,1 (= ad Marc. 12,6, 13,1). Vgl. Sen. dial. 6,13,3, 14,2 (= ad Marc. 13,3, 14,2). Aemilius Paulus war ein bekannter römischer Feldherr, der 168 v. Chr. den Makedonenkönig Perseus bei Pydna besiegte; Lucius Bibulus war 51 v. Chr. Prokonsul von Syrien (vgl. den ersten Band der SenecaAusgabe von Manfred Rosenbach, S. 412, Anm. 12 und 14).
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Kaiser Tiberius einen Sohn;628 Cornelia, die Mutter der Gracchen, habe zwölf Kinder geboren und genauso viele beerdigt,629 während die Mutter des Livius Drusus ihren Sohn entbehren musste.630 Die Linderung (lenire) des Schicksalsschlages kann nicht wie bei der bewussten Vorwegnahme zukünftiger ,Übel‘ zu verstehen sein – die soeben genannten Personen haben sich nicht mental darauf vorbereitet, eines oder mehrere Kinder zu verlieren, mit dem Ergebnis, dass der Voraffekt, der ihnen widerfahren ist, nachdem sie tatsächlich eines oder mehrere Kinder verloren hatten, weniger stark war. Der Verlust ist bei allen bereits eingetreten. Die Linderung muss sich somit auf ihn, oder besser gesagt, auf den an ihn geknüpften Kummer beziehen. Das wirft aber eine neue Frage auf: Was bedeutet es für Seneca, Kummer zu lindern? Schwerlich verbindet er damit die Reduzierung desselben auf ein mittleres Maß. Kummer zu lindern, scheint ihm zufolge zu bedeuten, so lange etwas gegen ihn zu tun, bis er verschwindet. Diese Interpretation ergibt sich zumindest im Licht seiner Schrift De ira, wie ich nachfolgend kurz zeigen möchte. Was ihn dazu veranlasst hat, De ira zu verfassen, beschreibt Seneca am Anfang seiner Schrift folgendermaßen: „Du wolltest von mir, dass ich über Möglichkeiten zur Linderung von Wut schreibe, Novatus […]“ (exegisti a me, Novate, ut scriberem quemadmodum posset ira leniri).631 Zu Beginn des dritten Buches bringt er abermals dessen Anliegen zur Sprache, diesmal mit anderen Worten und noch ausführlicher: „Jetzt will ich das versuchen, was du dir ganz besonders gewünscht hast, Novatus, die Wut aus den Seelen zu entfernen oder sie doch wenigstens zu bremsen und ihren Antrieb einzudämmen.“632 Es fällt auf, dass sich Novatus nach der zweiten Beschreibung seines Anliegens vom Wortlaut her nicht wünscht, die Wut zu lindern. Es steht aber nichts im Weg, den zweiten Teilsatz der zweiten Beschreibung in diesem Sinne zu verstehen: Sein Wunsch, Möglichkeiten zur Lins
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Vgl. Sen. dial. 6,14,3 und 15,2f. (= ad Marc. 14,3 und 15,2f.). Auch in seiner Konsolationsschrift an Polybius führt Seneca Augustus und Tiberius als exempla für Leute an, denen der Tod ihrer Familienangehörigen nichts anhaben konnte (vgl. Sen. dial. 11,15,3, 5 [= ad Polyb. 15,3, 5]). Nebenbei sei erwähnt, dass der nachmalige Kaiser Tiberius nicht der Sohn von Augustus und Livia war; er ging aus Livias Ehe mit Tiberius Claudius Nero hervor (vgl. DNP 7,366f. s. v. „L. Drusilla = Iulia Augusta“). Vgl. Sen. dial. 6,16,3 (= ad Marc. 16,3). Seneca übertreibt hier – von Cornelias zwölf Kindern überlebten insgesamt drei ihre Kindheit: Tiberius, Gaius und Sempronia (vgl. Manning, S. 90 und DNP 3,166 s. v. „Cornelia“ [Helena Stegmann]). Dass Cornelia nicht alle Kinder früh wieder verloren hat, weiß Seneca eigentlich (vgl. Sen. dial. 12,16,6 [= ad Helv. 16,6], wo er allerdings Sempronia vergisst). Vgl. Sen. dial. 6,16,4 (= ad Marc. 16,4). Livius Drusus war der Urgroßvater von Livia, der Gattin des Kaisers Augustus (vgl. Otto Apelt, Seneca, Philosophische Schriften, S. 264, Anm. 27). Vgl. Sen. dial. 3,1,1 (= de ira 1,1,1), Übers. Wildberger, eig. Herv. Vgl. Sen. dial. 5,1,1 (= de ira 3,1,1): Quod maxime desiderasti, Novate, nunc facere temptabimus, iram excidere animis aut certe refrenare et impetus eius inhibere (Übers. Wildberger, modifiziert).
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derung von Wut aufgezeigt zu bekommen, ist sein Wunsch, Möglichkeiten aufgezeigt zu bekommen, wie man sie bremsen und ihren Antrieb eindämmen kann. Akzeptiert man diese Identifikation, kann man ebenso gut sagen, dass sich Novatus von Seneca zu Beginn von Buch 3 wünscht, die Wut zu eliminieren oder sie wenigstens zu lindern. Das „wenigstens“ (certe) lässt darauf schließen, dass er sich von ihm nicht die Vorstellung zweier separater Möglichkeiten wünscht – die der Eliminierung von Wut einerseits und die ihrer Linderung andererseits. Die Eliminierung der Wut scheint für ihn (und auch für Seneca) vielmehr das übergeordnete Ziel zu sein, dem die Linderung der Wut untergeordnet ist. Mit anderen Worten: Die Linderung der Wut soll in seiner Sichtweise (und auch in der Senecas) letztendlich in ihrer Eliminierung münden. Stoisch gesehen ist nur die Eliminierung des Affekts eine echte Linderung. Die Protagonisten der exempla, die sich in der Mitte der Konsolationsschrift an Marcia finden lassen, haben ihren Kummer demzufolge so lange durch geduldiges Ertragen gelindert, bis er sich aufgelöst hat. Teilweise hat das nicht einmal viel Zeit in Anspruch genommen: Lucius Bibulus soll noch an dem Tag, als er die Botschaft vom Tod seiner beiden Söhne erhalten hat, wieder seinen amtlichen Verpflichtungen nachgegangen sein; Gaius Julius Caesar habe seine Amtspflichten als Imperator drei Tage nach dem Verlust seiner Tochter wieder aufgenommen – er habe seinen Kummer so schnell besiegt, wie er in allen Bereichen schnell zu siegen pflegte (tam cito dolorem vicit quam omnia solebat).633 Mit diesen exempla für die rasche Linderung von Kummer erinnert Seneca Marcia zum einen erneut daran, dass es für sie höchste Zeit ist, sich von ihrem Kummer zu befreien; zum anderen erhöht er so den Druck, dies möglichst bald zu tun. Bemerkenswerterweise hebt er nicht wie bei dem exemplum der Livia eigens hervor, dass Marcia sich nicht von jetzt auf gleich von ihrem Kummer befreien muss. Karlhans Abel geht meines Erachtens recht in der Annahme, dass hier erziehungspsychologische Überlegungen im Hintergrund stehen. 634 Seneca will Marcia langsam an das Ziel der vollständigen Befreiung von Kummer heranführen. Die Strategie ist aber nicht, Marcia zunächst glauben zu machen, dass sie nichts weiter zu tun braucht, als ihren Kummer auf ein mittleres Maß zu reduzieren, und ihr danach das wahre, viel schwierigere Ziel zu enthüllen, auf das sich ihre Bemühungen richten sollen. Der Gedanke ist vielmehr, vorweg klarzustellen, dass die Freiheit von Kummer ein realistisches Ziel ist – es muss nicht in einem einzigen Kraftakt erreicht werden. Hat Seneca das Marcia einmal verständlich gemacht, muss er auch nicht mehr befürchten, dass sie sich überfordert fühlt, wenn er es ihr gegenüber in irgendeiner Form thematisiert. ***
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Vgl. Sen. dial. 6,14,2f. (= ad Marc. 14,2f.). Vgl. Abel 1967, S. 22.
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Von allen in diesem und im vorangegangenen Unterabschnitt vorgestellten exempla heben sich diejenigen ab, die Seneca zum Ende seiner Konsolationsschrift an Marcia anführt. Bisher stellten sie vor allem ein Verhalten dar, das es nachzuahmen oder nicht nachzuahmen galt: (1) Die zentralen Figuren gerieten in einer bestimmten Situation entweder nicht in einen Affekt (Praexaspes und Harpagos sowie Antigonos, Philipp II und Augustus), oder (2) sie gerieten in einen Affekt und richteten großen Schaden an (die vielen Könige aus den nichtrömischen Ländern und aus Rom selbst), oder (3) sie befreiten sich von einem Affekt (Livia sowie die Männer und Frauen aus der soeben besprochenen exempla-Liste). Mit den exempla des ersten und zweiten Typs verband Seneca einen affektpräventiven Appell; mit denen des dritten Typs einen affekttherapeutischen. An seiner grundlegenden Zielsetzung ändert sich nun nichts: Er will etwas gegen Affektivität unternehmen.635 Aber diesmal versucht er mithilfe von exempla nicht zu erreichen, dass die affektiv betroffene Person – Marcia – diese nachahmt oder von ihnen abgeschreckt wird, sondern geht mit deren Hilfe gegen wertende Meinungen vor, von denen er glaubt, dass jene sie hat. Seneca scheint dabei anzunehmen, dass Marcia, wenn sie die besagten Meinungen aufgibt, auch nicht mehr von dem entsprechenden Affekt beherrscht wird. Die beiden wertenden Meinungen, die sie aus seiner Sicht haben könnte, sind, wie früher schon erwähnt: „Metilius’ Ableben ist ein Übel“ (wertende Meinung1), und: „Der Umstand, dass Metilius nicht lange gelebt hat, ist ein Übel“ (wertende Meinung2).636 Es ist deutlich zu erkennen, dass er beide Meinungen als falsch herauszustellen versucht. Die exempla sollen die wertende Meinung2 unterminieren, was die Worte, die er ihnen voranschickt, zeigen: „Bedenke, wie viel Gutes ein rechtzeitiger Tod hat, und wie vielen, länger gelebt zu haben, geschadet hat“ (cogita quantum boni opportuna mors habeat, quam multis diutis vixisse nocuerit).637 Seneca versucht Marcias wertende Meinung2 also mithilfe von exempla zu widerlegen, die genau das Gegenteil dessen beweisen sollen, was sie besagt: Ein frühzeitiger Tod kann wegen der vielen Vorteile, die er mit sich bringt, auch rechtzeitig sein.638 Als Erstes bringt Seneca das exemplum des Gnaeus Pompeius an, des großen Widersachers von Gaius Julius Caesar während der römischen Bürgerkriege.639 s
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Ich verstehe „Affektivität“ in diesem Zusammenhang in einem weiten Sinne als Oberbegriff für alle Momente eines Affekts. Vgl. Sen. dial. 6,19,3 (= ad Marc. 19,3) und S. 246. Vgl. Sen. dial. 6,20,4 (= ad Marc. 20,4), Übers. Rosenbach, modifiziert. Schon Cicero führt exempla an, um zu zeigen, dass es besser sein kann, früher zu sterben, weil einem dann vieles erspart bleibt (Cic. Tusc. 1,85f.). Vgl. im Folgenden Sen. dial. 6,20,4 (= ad Marc. 20,4). Vgl. auch Cic. Tusc. 1,86.
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Hätte ihn die Krankheit, die ihn in Neapel befiel, dahingerafft, wäre er als der Römer Erster (populi Romani princeps) gestorben. Nicht hätte er miterleben müssen, wie seine Legionen vor seinen eigenen Augen niedergemetzelt werden, wie gerade der Feldherr (er selbst) die Schlacht von Pharsalos überlebt, die er gegen Caesar 48 v. Chr. verlor,640 und wie der ptolemäische General Achillas an der ägyptischen Küste seinem Leben ein Ende setzt.641 Desgleichen wäre Cicero viel erspart geblieben,642 wenn ihn Catilinas Dolche 63 v. Chr. erwischt hätten643 – zum Beispiel die Versteigerung von Pompeius’ Eigentum vor dem Tempel des Jupiter Stator in Rom.644 Selbst wenn er zusammen mit seiner Tochter Tullia 45 v. Chr. beerdigt worden wäre,645 hätte er „glücklicher“ sterben können (etiamtunc felix mori potuit). So musste er gleich mehrerer Männer gewahr werden, die wie Catilina waren.646 Abschließend führt Seneca den jüngeren Cato (Cato Uticensis) als exemplum für jemanden an, dem sein Leben, weil es länger dauerte, mehr Nachteile als Vorteile einbrachte.647 Hätte diesen bei seiner Rückreise von Zypern nach Rom das Meer verschlungen,648 hätte er nicht vor Gaius Julius Caesar fliehen und sich Gnaeus Pompeius anschließen müssen, dem er ursprünglich gar nicht wohlgesonnen war. Übertragen auf Metilius bedeutet das:649 Auch er hatte keinen Nachteil davon, dass er im jungen Alter gestorben ist, im Gegenteil sogar – er ist „glücklicher“ gestorben und hat vieles nicht miterleben müssen, das ihm zu schaffen gemacht s
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647 648
649
Vgl. Manning 1981, S. 115f. und DNP 9,753f. s. v. „Pharsalos“ (Herwig Kramolisch). Vgl. Manning 1981, S. 116. Vgl. im Folgenden Sen. dial. 6,20,5 (= ad Marc. 20,5). Für die Jahreszahl vgl. Manning 1981, S. 117. Seneca drückt sich an dieser Stelle für unser Empfinden extrem kryptisch aus. Wörtlich sagt er, dass Cicero die „Lanze bei der Versteigerung konsularischer Beute“ (hastam consularia spolia vendentem, Übers. Rosenbach) nicht hätte mitansehen müssen, wenn er rechtzeitig gestorben wäre. Für die Annahme, dass er die Versteigerung von Pompeius’ Eigentum vor dem Tempel des Jupiter Stator meint, spricht zum einen, dass Pompeius selbst mehrmals Konsul war (vgl. DNP 10,100 und 104 s. v. „P. Magnus, Cn.“ [Wolfgang Will]); zum anderen berichtet Cicero von diesem Ereignis (vgl. Cic. Phil. 2,64). Die von Seneca erwähnte Lanze (hasta) war das Symbol einer öffentlichen Auktion (vgl. Anm. 72 der hier verwendeten Ausgabe der Philippischen Reden). Für die Jahreszahl vgl. Manning 1981, S. 117. Sicherlich hat Seneca hier das aus Octavian, Marcus Antonius und Marcus Aemilius Lepidus bestehende zweite Triumvirat und dessen Proskriptionen im Sinn, die auf der Grundlage der lex Titia am 27.11.43 v. Chr. erlassen wurden (vgl. DNP 10,443 s. v. „Proskriptionen“ [Loretana de Libero]). Vgl. hier und im Folgenden Sen. dial. 6,20,6 (= ad Marc. 20,6). Cato wurde 58 v. Chr. nach Zypern entsandt, um an der Annexion Zyperns als quaestor pro praetore mitzuwirken, Krongüter zugunsten des Staatsschatzes zu veräußern und Verbannte nach Byzantion zurückzuführen (vgl. DNP 10,159 s. v. „P. Cato [Uticensis], M.“ [Thomas Frigo]). Vgl. im Folgenden Sen. dial. 6,20,6 (= ad Marc. 20,6).
278
Die Ethik
hätte. Sieht Marcia das ein, so scheint Seneca zu glauben, gibt sie ihre wertende Meinung2 auf und entzieht ihrem Kummer damit eine Grundlage, weiterhin über sie zu herrschen. 3.3.8 Weitere Techniken: Die Selbstprüfung Eine von Seneca vorgestellte Technik scheint ganz anderer Art zu sein als alle diejenigen, die bisher Gegenstand der Untersuchung waren. Die Technik, von der die Rede ist und die nun in den Blickpunkt rückt, ist die sogenannte Selbstprüfung, die Seneca am ausführlichsten in De ira 3,36 (= dial. 5,36) behandelt. Was von ihr von vornherein sicher gesagt werden kann, ist, dass man sich bei ihrer Anwendung auf die eigene und nicht eine andere Person bezieht. Was genau tut man aber, wenn man sich selbst prüft? Und was will man dadurch erreichen? Wie bei den exempla in der Mitte des dritten Buches650 ist es hilfreich, den engeren und weiteren innertextlichen Zusammenhang zu berücksichtigen, in dem die Präsentation der Technik steht, bevor sie selbst genauer analysiert wird. James Ker merkt in seinem Aufsatz „Seneca on self-examination: ‚On Anger‘ 3.36“ zu Recht an, dass ein Schwerpunkt im dritten Buch von De ira auf der Therapie von Wut liegt und sich die Deutung der Selbstprüfung daran orientieren sollte.651 Das ist ohne Zweifel zutreffend, aber ergänzungsbedürftig. Die Therapie von Wut ist nur eines der Projektziele, das Seneca im dritten Buch verfolgt und das er eigens formuliert. Obwohl die entsprechende Textstelle schon mehrfach zitiert worden ist, soll sie dennoch kurz referiert werden. Seneca nimmt sich in De ira 3,5,2 drei Dinge vor: Er will zeigen, (1) wie wir nicht in Wut geraten, (2) wie man sich selbst und (3) wie man eine andere Person von Wut befreien kann. Fast das gesamte restliche dritte Buch lässt sich vor diesem Hintergrund lesen. Nach seiner Vorstellung verschiedener exempla (3,14,1– 24,2) – die, wie ich versucht habe zu zeigen, eine affektpräventive Funktion haben und somit zum PZ 1 gehören – geht er über zur Darlegung weiterer Techniken, von denen einige in dieser Arbeit schon besprochen wurden. Da nicht immer klar ersichtlich ist, in welchem Affektstadium sie jeweils anzuwenden sind, mache ich wie früher jedes Mal einen Vorschlag. Der überwiegende Teil der hier vorgestellten Techniken ist dem PZ 1 zuzuordnen. Alle Techniken scheinen diesmal aber primär für die Selbstanwendung vorgesehen zu sein.
s
650 651
Vgl. S. 255–257. Vgl. Ker 2009, S. 163.
279
Der impetus Tabelle 6: remedia in De ira 3,24,2–36,1 und ihre Anwendungsmomente
remedium
Stelle(n)
Affektstadium
Entschuldigungsgründe anführen
24,3f.; 25,2; 26,3f.; 27,2
nach dem Voraffekt
sich bewusst machen, dass auch die Mächtigen nicht vom Schicksal verschont sind
25,1
nach Affektausbruch652
sich ein Beispiel an der Figur des Weisen nehmen, der der fortuna auf vortreffliche Weise entgegentritt
25,3f.
nach dem Voraffekt
Unrechtstaten anderer vernachlässigen zugunsten einer Fokussierung auf den eigenen moralischen Geisteszustand
26,5
nach dem Voraffekt
Unrecht heilen, statt sich zu rächen
27,1
nach dem Voraffekt
sich klarmachen, dass Rache vergeblich ist und dass Wut zwangsläufig zu einem friedlosen Leben führt
27,3; 27,4– 28,1
nach dem Voraffekt
sinnvollen Tätigkeiten nachgehen, statt sich zu rächen653
28,2f.
nach dem Voraffekt
Beachtung des Unterschieds zwischen einer Verletzung und einer Kränkung
28,4
nach dem Voraffekt
Beachtung, dass manche Recht und Moral auf ihrer Seite haben, wenn sie sich uns entgegenstellen
28,5f.
nach dem Voraffekt
Beachtung des Unterschieds zwischen Nichtkönnen und Nichtwollen
29,1f.
nach dem Voraffekt
Untersuchung dessen, wovon die Wut ihren Anfang nimmt
30,1–3; 32,3; 33,1– 4; 34,1–3
nach dem Voraffekt
s
652
653
Darauf, dass es sich um eine selbstreferenzielle affekttherapeutische Technik handelt, lässt das Beispiel schließen, das Seneca gibt: Ein Vater beweint den Tod seines Sohnes weniger, wenn er sieht, dass auch vom Königspalast Leichenzüge ihren Ausgang nehmen. In dieser Technik ist unter anderem die Möglichkeit enthalten, ein Unrecht zu heilen, oder wie Seneca sich ausdrückt: „Feinde sanfter zu stimmen“ (inimicos mitigare, Übers. Wildberger).
280
Die Ethik
Vergleiche mit anderen vermeiden
30,3–31,3
nach dem Voraffekt
Urteilszurückhaltung bis zur Rückgewinnung der geistigen Klarheit
32,1f.
nach dem Voraffekt
Abhärtung der Sinne durch eine Veränderung der Denkweise
35,1–3 (für das Hören); 35,4–36,1 (für das Sehen)
vor dem Voraffekt
Bei der Betrachtung aller dieser Techniken kann man feststellen, dass Seneca im Hinblick auf den Anwendungsmoment weniger changiert als bei jenen, die er vor der exempla-Sektion anführt. Das Ausbleiben jeglicher Rückbesinnung auf die Projektziele hat aber zur Folge, dass man allein aufgrund des inneren Kontextes des dritten Buches nicht entscheiden kann, ob die Selbstprüfung eine affektpräventive oder eine affekttherapeutische Technik ist. Ein Verständnis, wie sie funktioniert, ergibt sich nur, wenn man untersucht, wie sie Seneca beschreibt – ohne dabei jedoch sein erstes und zweites Projektziel aus den Augen zu verlieren. Um dies angemessen tun zu können, sei die relevante Textstelle in Gänze zitiert. Nach der Aufforderung, die Sinne durch ein verändertes Denken widerstandsfähig zu machen, schreibt Seneca:654 (1) natura patientes sunt, si animus illos desiit corrumpere, qui cotidie ad rationem reddendam vocandus est. Faciebat hoc Sextius, ut consummato die, cum se ad nocturnam quietem recepisset, interrogaret animum suum: ,quod hodie malum tuum sanasti? Cui vitio obstitisti? Qua parte melior es?‘ (2) Desinet ira et moderatior erit quae sciet sibi cotidie ad iudicem esse veniendum. Quicquam ergo pulchrius hac consuetudine excutiendi totum diem? Qualis ille somnus post recognitionem sui sequitur, quam tranquillus, quam altus ac liber, cum aut laudatus est animus aut admonitus et speculator sui censorque secretus cognovit de moribus suis! (3) Utor hac potestate et cotidie apud me causam dico. Cum sublatum e conspectu lumen est et conticuit uxor moris iam mei conscia, totum diem meum scrutor factaque ac dicta
s
654
Sen. dial. 5,36,1–4 (= de ira 3,36,1–4). Übers. Wildberger, modifiziert. Mir scheint 37,1f. inhaltlich auch noch zur Selbstprüfung zu gehören. Danach stellt Seneca eine weitere auf sich selbst gerichtete, nach einem Voraffekt einzusetzende affektpräventive Technik vor: den Humor (37,3) – auf den er bereits zuvor eingegangen ist (vgl. 11,2f. und die Tabelle auf S. 257). Zur Bedeutung des Humors insbesondere in seiner Apocolocynthosis vgl. Nussbaum 2009. Nach einer kurzen Thematisierung der praemeditatio (37,3; Selbstanwendung, vor einem Voraffekt) und einer Technik, die man als „richtige Einschätzung unbedeutender bzw. selbstverständlicher Dinge“ bezeichnen könnte (37,4f., Selbstanwendung, nach einem Voraffekt), kommt Seneca auf den Humor zurück (38,1f.).
Der impetus
281
mea remetior; nihil mihi ipse abscondo, nihil transeo. Quare enim quicquam ex erroribus meis timeam, cum possim dicere: ,vide ne istud amplius facias, nunc tibi ignosco. (4) In illa disputatione pugnacius locutus es: noli postea congredi cum imperitis; nolunt discere qui numquam didicerunt. Illum liberius admonuisti quam debebas, itaque non emendasti sed offendisti: de cetero vide, [ne] non tantum an verum sit quod dicis, sed an ille cui dicitur veri patiens sit: admoneri bonus gaudet, pessimus quisque rectorem asperrime patitur […]. (1) Und überhaupt muss man seine Seele täglich Rechenschaft ablegen lassen. Das machte auch Sextius immer. Nach vollendetem Tagewerk, wenn er sich zur Nachtruhe zurückgezogen hatte, fragte er seine Seele: ‚Welches deiner Übel hast du heute geheilt? Welchem moralischen Fehltritt hast du dich entgegengestellt? An welchem Teil bist du besser geworden?‘ (2) Wut, die weiß, dass sie täglich vor den Richter treten muss, wird aufhören und sanfter werden. Kann man sich etwas Schöneres, Edleres vorstellen als diese Gewohnheit, seinen ganzen Tag unter die Lupe zu nehmen? Was ist das für ein herrlicher Schlaf nach einer solchen Selbstinspektion [post recognitionem sui]! Wie entspannt ist er, wie tief und befreit, wenn die Seele entweder ihr Lob oder ihre Ermahnung empfangen hat, wenn sie sich selbst observiert und im Stillen die Ermittlung gegen ihren Charakter abgeschlossen hat! (3) Ich mache Gebrauch von dieser Möglichkeit und verantworte mich jeden Tag vor mir selbst. Wenn das Licht aus dem Raum getragen worden ist und meine Frau nichts mehr sagt – sie ist nämlich schon mit meiner Gewohnheit vertraut –, dann durchforste ich meinen gesamten Tag und gehe meine Taten und Worte noch einmal durch. Ich verhehle mir nichts und übergehe auch nichts. Warum sollte ich mich auch vor irgendeinem meiner Fehler fürchten? Ich kann doch sagen: ‚Sieh zu, dass du das nicht mehr tust. Dieses Mal verzeihe ich dir noch. (4) Bei der Diskussion da hast du dich zu sehr ereifert: Lass dich von nun an nicht mehr mit denen ein, die keine Ahnung haben. Leute, die noch nie etwas gelernt haben, wollen nichts lernen. Bei dieser Ermahnung hast du dir zu viele Freiheiten herausgenommen und den anderen daher nicht gebessert, sondern verärgert: Achte in Zukunft nicht nur darauf, ob das, was du sagst, wahr ist, sondern auch darauf, ob derjenige, dem du es sagst, die Wahrheit ertragen kann. Ein guter Mensch freut sich über Ermahnung, die Schlechtesten reagieren besonders abweisend auf jemanden, der sie anleiten will […].
Für Michel Foucault ist Senecas allabendliche Praxis eine Gewissensprüfung (l’examen de conscience/examination of conscience)655 und hat im Wesentlichen vier Merkmale: Das Subjekt erinnert sich an eine vergessene Wahrheit (a) – es hat vergessen, was es tun soll (b); mit der Vergegenwärtigung der begangenen Fehler setzt es seine begangenen Taten ins Verhältnis zu dem, was es hätte tun sollen (c); dabei stellt es selbst die Verbindung zwischen den zu regulierenden Handlungen
s
655
Vgl. Foucault 1984, S. 84 und Foucault 1988, S. 33.
282
Die Ethik
und den Handlungsnormen her (d).656 Im letzten Moment sieht Foucault einen wesentlichen Unterschied zum platonischen und christlichen Gewissensbegriff.657 Er führt nicht weiter aus, worin genau er seines Erachtens besteht, aber vermutlich hatte er im Sinn, dass Platon unter „Gewissen“ lediglich den Umstand versteht, sich einer Sache bewusst zu sein,658 während beispielsweise Augustinus sämtliche moralischen Regeln wie etwas Gottgegebenes in das Gewissen verlegt und dieses selbst agieren lässt: Entweder reagiert es auf bereits vollzogene Normverstöße oder beurteilt moralisches Handeln im Vorhinein.659 Nach diesem Modell ist das Gewissen im Menschen und nicht der Mensch selbst die aktive Prüfungsinstanz. Gleichzeitig kann es christlich gesehen durch die aufrichtige Konfession der Sünden und die erlangte Vergebung bereinigt und so von einem schlechten Gewissen wieder zu einem guten werden.660 Angesichts all dessen stellt sich die Frage, warum Foucault überhaupt von einer Gewissensprüfung spricht, zumal Seneca in der oben zitierten Passage den Gewissensbegriff gar nicht verwendet.661 Eine andere begriffliche Wahl könnte den Unterschied auf sachlicher Ebene noch mehr unterstreichen. Ein treffenderer Begriff für Senecas allabendliche Praxis scheint derjenige der Selbstprüfung zu sein, womit nichts anderes gemeint ist, als dass man sich selbst befragt, von sich selbst befragt wird und sich vor sich selbst verantworten muss – man ist sozusagen Prüfer, Geprüfter und Richter zugleich –, wobei der Ausdruck „selbst“ lediglich das Selbstverhältnis anzeigt und nicht für eine ausgeklügelte Konzeption des Selbst im Sinne eines geteilten oder separaten Selbst steht.662 Die Selbstprüfung steht unter der Leitfrage, welche kürzlich begangenen Handlungen zur moralischen Selbstverbesserung bzw. Selbstverschlechterung beigetragen haben. Im Prozess ihrer Beantwortung wird die von Foucault angesprochene vergessene moralische Wahrheit wiederentdeckt (a/b). Die Selbstbefragung geht zudem mit einer Rechenschaftlegung vor sich selbst einher (rationem reddere): Man gibt sich Rechenschaft darüber, was man den zurückliegenden Tag über gesagt und getan hat. An diesem Punkt der Selbstprüfung kommen Foucaults Merkmale (c) und (d) zum Tragen: Die sich selbst prüfende Person gleicht das frühere Fehlverhalten mit einem moralischen Ideal ab und zieht daraus für sich die entsprechenden Rückschlüsse.
s
656 657 658 659 660 661
662
Vgl. Foucault 1988, S. 34. Vgl. ebd. Vgl. WaPh 417 s. v. „syneidêsis“ (Sabine Harwardt). Vgl. AL 1224f. s. v. „conscientia“ (Cornelius Mayer). Vgl. ebd., 1225 s. v. „conscientia“ (Cornelius Mayer). Zu Senecas Verwendung des Ausdrucks conscientia vgl. Molenaar 1969. Schon er weist darauf hin, dass das Wort in der Schlüsselpassage fehlt (vgl. ebd., S. 179). Vgl. Inwood 2009, S. 55: „[…] [T]here is no sense of a divided or detached self in this practice […].“
Der impetus
283
Vor allem an Sextius, der in Senecas Darstellung wie der Erfinder der Selbstprüfung erscheint,663 wird deutlich, dass mit ihr ein moralisches Anliegen verbunden ist, das Seneca ganz und gar stoisch auslegt: Der Begriff der Wut fällt gleich im Anschluss an Sextius’ an sich selbst gerichtete Fragen, welches Übel man geheilt, welchen moralischen Fehltritt man vermieden habe und an welchem Teil man besser geworden ist. Seneca ist davon überzeugt, dass Fälle von Wut und anderen moralischen Fehltritten, die im Nachhinein bei klarem Verstand noch einmal analysiert werden, nicht genauso wieder auftreten und bestenfalls vollkommen ausbleiben. Denn das aus der Selbstprüfung gewonnene Wissen kann in Zukunft abgerufen und nutzbar gemacht werden,664 sobald man in eine Situation gerät, die derjenigen, in die man zuvor geraten ist, ähnelt. Angenommen einer Person ist im Nachhinein vollends klar geworden, worin der Anlass ihrer Wut bestand, und dass er keineswegs so schlimm war, wie er ihr ehemals erschienen war. Beim nächsten Mal wird sie mit diesem Wissen mögliche Anlässe für Wut umso schneller erkennen und angemessener darauf reagieren können, indem sie zum Beispiel deren nicht gravierenden und harmlosen Charakter herauszustellen versucht. Ein weiterer positiver Aspekt des aus der Selbstprüfung gewonnenen Wissens ist nach Senecas Auffassung seine beruhigende Wirkung: Man hat Gewissheit über die vielen begangenen Taten des zurückliegenden Tages erlangt, die zuvor nur Elemente einer undifferenzierten und darum beunruhigenden Menge waren; man hat Gewissheit darüber, wie es im Einzelnen zum Wutausbruch oder einem anderen moralischen Fehltritt kommen konnte, und kann darum viel besser schlafen. Foucaults Analyse der Selbstprüfung ist so betrachtet zumindest dahingehend kritikwürdig, dass sie sich ausschließlich auf den Entstehungsprozess besagten Selbstwissens fokussiert. Viel entscheidender ist jedoch dessen praktischer Charakter. Aber wie passen Senecas Ausführungen in De ira 3,36 zu seinen ersten beiden Projektzielen? Wie nun deutlich geworden sein dürfte, wird die Selbstprüfung nicht vor einem Voraffekt durchgeführt, um diesen weniger heftig ausfallen zu lassen und so von Anfang an die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass er sich zu einem Affekt weiterentwickelt – noch danach, um eben diese Affektentwicklung zu unterbinden (insofern ist sie nicht dem PZ 1 zuzuordnen). Ebenso wenig dient s
663
664
Es wurde immer wieder vermutet, dass die bei Seneca thematisierte und mit Sextius in Verbindung gebrachte Selbstprüfung pythagoreischen Ursprungs ist (vgl. Pohlenz 5 1978, S. 317, Foucault 1984, S. 84, Foucault 2019, S. 197, Sellars 2014, S. 100, Sellars 2016, S. 116). Diese Annahme ist in jüngerer Zeit vermehrt infrage gestellt worden, mit der Begründung, in den Quellen zu Pythagoras’ Leben fänden sich nur Hinweise auf eine Mnemotechnik und nicht auf eine Technik, die der moralischen Selbstverbesserung dient (vgl. Inwood 2009, S. 56, der auch auf Burkert 1972, S. 213, Fußn. 19 und Cooper/Procopé 1995, S. 110 verweist). Allerdings führen James Ker und John Sellars Belege an, die wiederum diese Position fragwürdig erscheinen lassen (vgl. Ker 2009, S. 169f. und 174f. und Sellars 2016, S. 116), und somit Anlass geben, zu der ursprünglichen Annahme zurückzukehren. Vgl. Sen. epist. 83,2.
284
Die Ethik
sie dem Zweck, dass man sich selbst von einem Affekt befreit (auch die Zuordnung zum PZ 2 fällt somit weg). Haben wir es also mit einer Technik sui generis zu tun, die wie ein Fremdkörper im dritten Buch von De ira sitzt? Diese Frage lässt sich sowohl bejahen als auch verneinen. Die Selbstprüfung ist eine Technik eigener Art, aber sie fügt sich problemlos in den innertextlichen Zusammenhang. Das Wissen, zu dem man während ihrer Durchführung gelangt, hilft dabei, in Zukunft nicht wieder in einen Affekt zu geraten – man versteht, warum man in einen Affekt geraten ist und kann sich dieses Wissen nutzbar machen. Seneca bedient mit seinem Rückgriff auf die Selbstprüfung somit sein erstes Projektziel: Die Selbstprüfung ist eine Technik der Affektvermeidung, genauer gesagt: eine Technik der vorausschauenden Affektvermeidung. In dieser Hinsicht ähnelt sie der praemeditatio futurorum malorum. 4
Die actio
In den zurückliegenden beiden Unterabschnitten (III 2: „Das iudicium“, III 3: „Der impetus“) wurde der Versuch unternommen, aufzuzeigen, welche Bedingungen Seneca zufolge erfüllt sein müssen, um die Tugend zu erwerben. Sie handelten mit anderen Worten von einer Darlegung der Wege, die ein Mensch aus seiner Sicht beschreiten muss, damit er mit sich selbst übereinstimmt. Nicht nur die für richtige Urteile maßgebende Kenntnis des axiologischen Grundsatzes und bestimmter Vorschriften ist dafür erforderlich, sondern auch ein guter Wille, gewolltes Handeln und die Anwendung affektpräventiver und affekttherapeutischer Techniken.665 Diese unterschiedlichen Bedingungen für den Tugenderwerb lassen sich untereinander nochmals ordnen. Im Prinzip setzt die Anwendung der remedia die Kenntnis des axiologischen Grundsatzes und bestimmter Vorschriften sowie einen guten Willen voraus: Wem unbekannt bleibt, dass Affekte schlecht sind, der wird auch nichts gegen sie unternehmen; ohne die Kenntnis bestimmter Vorschriften wäre für eine Person unter anderem unklar, auf welche affektpräventiven und affekttherapeutischen Techniken sie konkret zurückgreifen sollte (auf welche sollte sie zum Beispiel zurückgreifen, wenn sie ein Ehemann ist?);666 ganz außer Acht lassen wird jemand deren Verwendung, wenn er keinen guten Willen zeigt, das
s
665
666
Zu den affektpräventiven und affekttherapeutischen Techniken rechne ich hier implizit auch die hybriden Techniken, die beide Funktionen aufweisen können, und die Selbstprüfung, die nach meiner Darstellung eine vorausschauende affektpräventive Technik ist. Vorschriften beziehen bestimmte Kontexte ein und erleichtern dadurch situatives Handeln (vgl. S. 175). Dieser Gedanke lässt sich ebenso auf die affektpräventiven und affekttherapeutischen Techniken übertragen. Eine Vorschrift könnte zum Beispiel lauten, dass ein Ehemann am besten von der affektpräventiven Technik Gebrauch machen soll, bei der man Entschuldigungsgründe für das Verhalten anderer anführt.
Die actio
285
heißt, wenn er keine moralischen Fortschritte machen will. Das Gewollte ist dagegen weniger eine Voraussetzung für die Anwendung affektpräventiver und affekttherapeutischer Techniken, sondern beschreibt eher, wie diese vonstatten gehen muss, um sich moralisch gut zu verhalten – nämlich gerne, aus eigenem Antrieb und entschlossen. Empfindet man beispielsweise einen Voraffekt, sollte man gerne, aus eigenem Antrieb und entschlossen dafür sorgen, dass er sich nicht zu einem Affekt weiterentwickelt. Es steht zu vermuten, dass die gewollte Anwendung affektpräventiver und affekttherapeutischer Techniken die Erzeugung geordneter und maßvoller Antriebe fördern soll, die sich, weil sie nichtexzessiv sind, kontrollieren lassen.667 Der letzte Schritt zum moralisch einwandfreien Handlungsverlauf fehlt aber noch: Die Kontrolle über den eigenen Antrieb ist nur dann von Nutzen, wenn er, wie Seneca im 89. Brief ausführt, zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort und auf die richtige Weise in die äußere Handlung umgesetzt wird.668 Seneca mag hier an jede mögliche Handlung denken: Der geordnete und maßvolle Antrieb, ein wissenschaftliches Buch zu lesen, wird nur dann angemessen in eine äußere Handlung umgesetzt, wenn es zum Beispiel in der Bibliothek, zu den Bibliothekszeiten (nicht etwa während eines darin stattfindenden Abendvortrages) und ruhig für sich (und nicht lautstark) gelesen wird. Sein eigentliches Interesse gilt aber der richtigen Umsetzung eines geordneten und maßvollen Antriebes in eine Wohltat (beneficium) – ein Punkt, der einer genaueren Untersuchung bedarf. Doch zuvor sei es erlaubt, zwei grundlegenderen Fragen nachzugehen: (1) Was ist eigentlich eine Wohltat und was gehört zu ihr? Und (2) wozu soll sie erwiesen werden? Nach der Beantwortung dieser beiden Fragen komme ich zum ursprünglichen Punkt zurück. 4.1
Die wesentlichen Merkmale einer Wohltat
Seneca definiert an keiner Stelle in seiner Schrift „Über die Wohltaten“ (De beneficiis) einheitlich und vollständig, was eine Wohltat ist. Es sind eher verstreute Anmerkungen, die er zu ihrem Wesen macht. Allgemein charakterisiert er sie als eine Einstellungssache (res animo): Sie ist unkörperlich (incorporale est) und s
667
668
„Geordnet und maßvoll“ muss dabei nicht heißen, dass die aus einem solchen Antrieb hervorgehende Handlung mit halber Kraft begangen wird. Seneca macht dies am Beispiel der Tugenden – die ja gewissermaßen der Garant kontrollierbarer Antriebe sind – in Sen. dial. 7,25,6–8 (= vit. beat. 25,6–8) deutlich: Es gibt Tugenden, die eher eine anspornende Natur haben, wie etwa die Duldsamkeit (patientia), die Tapferkeit (fortitudo) und die Beharrlichkeit (perseverantia) – wer geduldig, tapfer und beharrlich ist, hat wegen des Kampfes gegen etwas Widriges einen höheren psychischen (und sicherlich auch körperlichen) Kraftaufwand. Andere Tugenden wie etwa Freigebigkeit (liberalitas), Selbstbeherrschung (temperantia) und Sanftmut (mansuetudo) hätten dagegen eher eine zügelnde Natur – bei ihnen bremse man sich, um nicht zu weit zu gehen. Vgl. S. 25.
286
Die Ethik
kann nicht mit der Hand berührt werden.669 Von der Wohltat zu unterscheiden ist ihre Materie (materia beneficii), also das, was durch die Wohltat übermittelt wird.670 Die Materie der Wohltat, so scheint Seneca sagen zu wollen, ist keine geistige, sondern eine körperliche Sache. Die Unterscheidung zwischen einer Wohltat und ihrer Materie lässt sich folgendermaßen noch plausibler machen:671 Angenommen eine Person gibt einer anderen in einer Notsituation Gold – dann ist die (richtige) Einstellung, mit der sie ihr das Gold übergibt, nach Senecas Verständnis die Wohltat, das übergebene Gold dagegen die Materie der Wohltat.672 Dass eine Wohltat eine Einstellungssache und ihre Materie eine körperliche Sache ist, bringt bestimmte Implikationen mit sich: Die Materie einer Wohltat kann weggenommen werden, hierhin und dorthin gelangen und den Herren wechseln, während mit einer Wohltat so etwas nicht geschehen kann.673 Eine Wohltat bleibt auch dann bestehen, wenn ihre Materie verloren geht.674 Ein einleuchtendes Beispiel, das Seneca gibt, um diesen Gedanken zu veranschaulichen, ist das vom Freikauf eines Freundes aus der Gefangenschaft: Wenn ich einen Freund von Seeräubern freigekauft habe, er dann aber von einem anderen Feind gefangen genommen wird, bleibt meine früher erwiesene Wohltat trotzdem bestehen, auch wenn ihre Materie – die Handlungsfreiheit des Freundes – inzwischen wieder verloren gegangen ist.675 Dass eine Wohltat im Gegensatz zu ihrer Materie dem Schicksal nicht ausgesetzt ist, ist offenbar der Grund, warum Seneca sie für gut, ihre Materie jedoch für indifferent hält.676 Mit diesem starken Dualismus geht er zweifellos über Ciceros Wohltatsverständnis hinaus.677
s
669 670
671 672
673 674 675
676
677
Vgl. Sen. benef. 1,5,2 und 6,2,2 sowie S. 218. Vgl. Sen. benef. 1,5,2; 6,2,2 und 6,2,1: [...] aliud est beneficium ipsum, aliud, quod ad unumquemque nostrum beneficio pervenit („[...] eine Sache [ist] die Wohltat selbst, eine andere, was zu einem jeden von uns durch eine Wohltat gelangt“, Übers. Rosenbach). Ich orientiere mich hier an Sen. benef. 1,5,2. Entsprechend macht man an der Einstellung und nicht an der Materie oder am Ergebnis einer Handlung fest, ob eine Wohltat oder ein Unrecht vorliegt (vgl. ebd., 6,8,3). Vgl. ebd., 6,2,2. Vgl. ebd., 1,5,3 und 6,2,2. Vgl. ebd., 1,5,4, wo Seneca noch ein Beispiel gibt. Handlungsfreiheit als körperliche Sache zu bezeichnen, dürfte unproblematisch sein, denn sie steht für die ungezwungene Bewegung des Leibes. Merkwürdig wäre, wenn man sagte, sie sei berührbar. Vgl. ebd., 1,6,2 (Übers. Rosenbach, als Hauptsatz): „[...] [E]ine Wohltat ist jedenfalls gut, das aber, was gemacht oder gegeben wird, ist weder gut noch schlecht [beneficium utique bonum est, id autem, quod fit aut datur, nec bonum nec malum est].“ Für Cicero kann sich Wohltätigkeit (beneficentia) darin äußern, dass man entweder ohne finanzielle Mittel oder mit finanziellen Mitteln wohltätig ist, wobei er die nichtgeldbasierte Form für ehrenvoller hält (vgl. Cic. off. 2,52–54). Für die jüngste Studie zu seiner und Senecas Konzeption der Wohltaten vgl. Junghanß 2017, S. 35–184, deren Fokus jedoch ein anderer als derjenige dieser Arbeit ist (vgl. S. 290, Fußn. 697).
Die actio
287
Natürlich stellt sich die Frage nach den konkreten, wesentlichen Merkmalen einer Wohltat. Wenn eine Wohltat eine Sache der Einstellung ist, was gehört aus Senecas Sicht dann alles zu ihr dazu? Eines der wichtigsten Merkmale einer Wohltat ist ihm zufolge der sie hervorbringende Wille678 – sie erfolgt aus einem Willen heraus (ex voluntate).679 Genauer ist es der Willenszustand, der für eine Wohltat ausschlaggebend ist: „[...] [W]eder ist Gold noch Silber, noch irgendetwas von den Dingen, die für die wichtigsten gehalten werden, eine Wohltat, sondern eben gerade der Wille dessen, der gewährt.“680 Es ist ein ganz bestimmter, nicht irgendein Wille, aus dem heraus eine Wohltat erwiesen wird. Ihr liegt, wie Seneca einmal sagt, ein guter Wille zugrunde (non est beneficium, nisi a bona voluntate proficiscitur).681 Bisweilen sagt er auch, die Wohltat bestehe in einem rechten Willen (recta voluntas).682 Wie das Verhältnis des guten und rechten Willens zum geordneten und maßvollen Antrieb beschaffen ist, wird von Seneca aber nicht aufgeklärt. Grundsätzlich spricht nichts dagegen, den guten und rechten Willen als einen geordneten und maßvollen Antrieb aufzufassen.683 Ferner merkt Seneca an, dass eine Wohltat durch eine „freundschaftliche und gütige Überlegung“ (amica et benigna cogitatio) zustande kommt. 684 Dass der gute und rechte Wille zu einer freundschaftlichen und gütigen Überlegung führt, auf die wiederum die Wohltat folgt (wenn nichts dazwischenkommt), ist allerdings eine Annahme, die Seneca so nicht trifft und die deshalb nur eine interpretatorische Vermutung bleiben kann. Er lässt offen, wie der gute und rechte Wille und s
678
679 680
681 682 683 684
Vgl. auch Inwood 2005, S. 93 („[...] [Seneca insists] on the central importance of voluntas as the crucial factor in the assessment of benefits and gratitude“) sowie Junghanß 2017b, S. 224 und Fußn. 37 Vgl. Sen. benef. 3,21,2. Vgl. ebd., 1,5,2: [...] nec aurum, nec argentum nec quicquam eorum, quae pro maximis accipiuntur, beneficium est, sed ipsa tribuentis voluntas (Übers. Rosenbach, Satzb. verändert). Vgl. Sen. benef. 6,9,3. Vgl. etwa ebd., 1,6,3 und 15,6. Vgl. S. 187. Vgl. Sen. benef. 6,7,2 (eig. Übers.). Dass eine Überlegung Bestandteil einer Wohltat ist, wird auch in Sen. benef. 1,15,6 ersichtlich: Non est beneficium, cui deest pars optima, datum esse iudicio; alioqui pecunia ingens, si non ratione nec recta voluntate donata est, non magis beneficium est quam thesaurus („Nicht ist eine Wohltat, dem der beste Teil fehlt, zustande gekommen zu sein durch ein Urteil; andernfalls ist ein riesiges Kapital, wenn es nicht mit Überlegung und dem rechten Willen geschenkt worden ist, nicht mehr eine Wohltat als ein gefundener Schatz“, Übers. Rosenbach, modifiziert). Es gibt noch andere Stellen, in denen es sich anböte, ratio mit „Überlegung“ zu übersetzen. Vgl. Sen. benef. 4,10,2: Nihil enim sine ratione faciendum est; non est autem beneficium, nisi quod ratione datur, quoniam ratio omnis honesti comes est („Denn nichts darf man ohne Überlegung tun; nicht ist etwas aber eine Wohltat, wenn es nicht mit Überlegung zuwege gebracht wird, da ja die Überlegung Begleiterin alles moralisch Guten ist“, eig. Übers.; Rosenbach übersetzt ratio hier etwas karg mit „Vernunft“).
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die freundschaftliche und gütige Überlegung beim Erweisen einer Wohltat zusammenwirken. Auch der Bezug zu den dabei gefällten Urteilen fehlt:685 Seneca stellt keinen Zusammenhang zwischen ihnen und dem guten und rechten Willen her. Seinen Äußerungen lässt sich lediglich entnehmen, dass eine Person, die wohltätig ist, selbst urteilt (ego iudico) und darüber die Verfügungsgewalt hat (in beneficio tota potestas mea est).686 Niemand anderes – kein externer Richter – übernimmt diese Aufgabe für sie. Es ist an ihr, zu vergleichen (inter se comparare), wie viel sie einer anderen Person genutzt und wie viel sie ihr geschadet hat, und dann selbst zu entscheiden (pronuntiare), ob sie ihr noch mehr schuldet oder die andere Person ihr noch mehr schuldet.687 Nach Maßgabe dieses Gedankenganges könnte das Urteil im Anschluss an die freundschaftliche und gütige Überlegung gefällt werden. Ein weiteres wesentliches Merkmal einer Wohltat ist laut Seneca Wissen: „Nicht ist eine Wohltat, [...] wenn, wer sie erwiesen hat, das nicht zur Kenntnis nimmt.“688 Die Unwissenheit um die eigene „Wohltat“ hat zur Folge, dass wir demjenigen, der nicht wusste, dass er uns eine „Wohltat“ erweist, nichts schulden.689 Die moralische Verpflichtung, eine Wohltat zu erwidern, fällt in diesem Fall weg. Der Unwissende hat uns dann nur einen materiellen Nutzen erwiesen (wobei Seneca auch eine Wohltat als nützlichen Dienst [opera utilis] bezeichnet;690 dieser ist jedoch nicht das, was die Wohltat ausmacht, sondern eher als zusätzlicher Gewinn und willkommenes Nebenprodukt zu verstehen). Das Wissen beschränkt sich nach Seneca aber nicht auf die faktischen Umstände (wie etwa den Umstand, dass man eine Wohltat erweist); er zeigt auch ein reges Interesse für
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Auf richtige Urteile kommt es bei Wohltaten an, „[...] nicht nämlich kann jemandem am Herzen liegen, was zufällig [forte] und unüberlegt [temere] gegeben worden ist“ (vgl. Sen. benef. 1,15,1, Übers. Rosenbach). Vgl. auch Sen. benef. 1,15,6: Man soll sich von niemandem eine Wohltat wünschen, dessen Urteil wertlos (vile) ist (wenngleich man sie von dieser Person annehmen darf – aber wie von der fortuna [vgl. ebd.]). Vgl. ebd., 6,6,2. Vgl. auch Cic. off. 1,48, dem zufolge das Erweisen einer Wohltat in unserer Macht steht (in nostra potestate). Vgl. Sen. benef. 6,6,1. Vgl. ebd., 6,9,3: Non est beneficium [...], nisi illud accognoscit, qui dedit (Übers. Rosenbach). Vgl. Sen. benef. 6,9,3. Ich verwende hier deshalb Anführungszeichen, weil das Kriterium, das eine Wohltat zu einer solchen macht, gerade fehlt. Wenn Wissen ein wesentliches Merkmal einer Wohltat ist, ergibt es wenig Sinn zu sagen, „jemand wisse nicht um seine Wohltat“. Vgl. ebd., 4,29,2. In ebd., 5,20,4 führt Seneca einen interessanten Einwand unbekannter Provenienz ins Feld, der infrage stellt, dass eine Wohltat ein nützlicher Dienst ist: Wenn ich jemandes Vater tot in der Einöde finde und ihn bestatte, nütze ich doch eigentlich niemandem damit. Senecas Erwiderung scheint zu lauten: Man habe vielleicht nicht dem Vater, dafür aber dem Sohn genützt, weil man für ihn eine feierliche und notwendige Pflicht erfüllt hat (officium sollemne et necessarium, vgl. ebd., 5,20,5).
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normative Umstände – Umstände, die der Fall sein sollen.691 So muss man dem 89. Brief zufolge wissen, wann, wo und wie eine Wohltat erwiesen werden soll; die Lektüre von De beneficiis fördert zudem zutage, dass ebenso das Wissen, wer schenken soll, und wem, warum und was geschenkt werden soll, für die angemessene Erweisung einer Wohltat erforderlich ist.692 Der zur Erwiderung verpflichtende Charakter einer Wohltat deutet darauf hin, dass sie nicht im luftleeren Raum stattfindet. Eine Wohltat ist laut Seneca ein soziales Verhalten (socialis res).693 Das heißt zum einen, dass sie sich auf andere Menschen richtet;694 zum anderen zeigt sich ihr soziales Wesensmerkmal eben daran, dass sie „[...] ein Band auf Gegenseitigkeit [ist] [...] und zwei Menschen miteinander verbindet“ (beneficium commune vinculum est et inter se duos alligat):695 Eine Person erweist einer anderen eine Wohltat; wenn die andere Person diese entgegennimmt, verpflichtet sie sich, sie zu erwidern; sobald sie sie erwidert hat, beginnt der Kreislauf entweder von vorn oder er schließt sich und beginnt in einer
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Schon Aristoteles hat eine ganze Reihe faktischer Umstände erarbeitet: Das Wer (τίς), das Was (τί), das In-Bezug-Worauf (περὶ τί), das In-welchem-Bereich (ἐν τίνι), das Womit (τίνι), das Worum-Willen (ἕνεκα τίνος) und das Wie (πῶς; vgl. Aristot. EN 1111a2–6) – wer auch nur einen dieser Umstände nicht kennt, handelt unwillentlich (ἄκων; vgl. ebd., 1111a16f.). Aristoteles zeigt aber auch ein Interesse für normative Umstände: Affekte zu empfinden, „[...] wann man soll [ὅτε δεῖ], bei welchen Anlässen [ἐφ’ οἷς] und welchen Menschen gegenüber [πρὸς οὓς], zu welchem Zweck [οὗ ἕνεκα] und wie man soll [ὡς δεῖ], ist das Mittlere und Beste, und dies macht die Tugend aus“ (vgl. ebd., 1106b21–23, Übers. Wolf, eig. Herv.). Vgl. Sen. benef. 2,16,1: Nihil enim per se quemquam decet; refert, qui det, cui, quando, quare, ubi, et cetera, sine quibus facti ratio non constabit („Nichts nämlich gehört sich an und für sich für einen Menschen; es kommt darauf an, wer gibt, wem, wann, warum, wo, und auf weitere Gesichtspunkte, ohne die ein vernünftiges Urteil über eine Handlung nicht zustande kommen wird“, Übers. Rosenbach, eig. Herv.). Zum normativen Wer vgl. auch Sen. benef. 1,12,3: Sit in beneficio sensus communis; tempus, locum observet, personas [...] („Bei einer Wohltat komme der gesunde Menschenverstand zur Geltung; man beachte den Zeitpunkt, den Ort, die Person [personae]“, Übers. Rosenbach, modifiziert). Dass sich die wohltätige Person auch darüber im Klaren ist, was sie schenken soll, lässt sich nicht mit einem griffigen Zitat belegen. Viele von Senecas Überlegungen lassen aber darauf schließen (vgl. dazu S. 304, 308 und 311). Vgl. Sen. benef. 5,11,5. Sie kann sich auf einen oder mehrere Menschen richten. Allerdings gilt, dass man einer Person nur dann etwas schuldet, wenn sie einem persönlich eine Wohltat erweist (vgl. ebd., 6,18,1–20,2). Erweist sie sie vielen, dann schuldet ihr nicht jeder Einzelne von diesen etwas, sondern zum Beispiel das Vaterland (vgl. ebd., 6,19,4). Dieser Punkt wird im Zusammenhang mit der Wohltatserwiderung und der Umstandskategorie des Wem wiederaufgenommen (vgl. S. 321). Sen. benef. 6,41,2, Übers. Rosenbach.
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neuen Personenkonstellation.696 Ob nun dieses oder jenes geschieht – der Zusammenhalt der Gesellschaft wird gefestigt,697 denn beide Male treten Menschen miteinander in Kontakt und tun etwas füreinander. Einige der genannten wesentlichen Merkmale einer Wohltat finden sich bei Seneca auch in rudimentären Definitionen wieder, die er für sie gibt. So bestimmt er sie (A) als „[…] wohlwollende Handlung, die Freude schenkt und empfängt, dadurch, dass sie schenkt, zu dem, was sie tut, geneigt und aus eigenem Antrieb bereit“ (benivola actio tribuens gaudium capiensque tribuendo in id, quod facit prona et sponte sua parata).698 An anderer Stelle postuliert er (B), dass zwei Dinge zusammenkommen müssen, um eine Wohltat zu bilden (duae res coire debent, quae beneficium efficiant): erstens (B¢) die Bedeutung der Sache (rei magnitudo)699 – ein Konzept, das er in der folgenden Textpassage näher erläutert:700 […] quaedam [sc. operae] enim sunt infra huius nominis mensuram. Quis beneficium dixit quadram panis aut stipem aeris abiecti aut ignis accendendi factam potestatem? et interdum ista plus prosunt quam maxima; sed tamen vilitas sua illis, etiam ubi temporis necessitate facta sunt necessaria, detrahit pretium. […] [M]anche [Dienste] befinden sich nämlich unterhalb des Maßes für diese Bezeichnung. Wer hat als Wohltat bezeichnet eine Scheibe Brot oder das Almosen eines weggeworfenen Dreiers oder die Möglichkeit, Feuer anzuzünden? Und bisweilen nützt dergleichen mehr als die größte Wohltat; aber trotzdem nimmt ihnen ihr geringer Preis ihren Wert, auch wenn sie durch des Augenblicks Zwang notwendig sind.
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Seneca scheint anzunehmen, dass ein in derselben Personenkonstellation immer wieder von vorn beginnender Kreislauf der Wohltatserweisung, -entgegennahme und -erwiderung Freundschaft stiftet, vgl. Sen. benef. 2,18,5: [...] debeo enim, cum reddidi, rursus incipere, manetque amicitia [...] („[...] ich muss nämlich, wenn ich erwidert habe, von neuem beginnen, und es bleibt die Freundschaft [...]“, Übers. Rosenbach). Bereits Cicero nahm an, dass das gegenseitige Erweisen und Empfangen von Wohltaten Freundschaft stiften kann (vgl. Cic. off. 1,56 und Junghanß 2017a, S. 64f.) So verstehe ich Seneca, wenn er in Sen. benef. 1,4,2 sagt, Wohltaten seien ein Sachverhalt, „[...] der die menschliche Gesellschaft am meisten zusammenhält [...]“ (res, quae maxime humanam societatem alligat, Übers. Rosenbach). Griffin 2013 liest „Über die Wohltaten“ primär unter diesem Aspekt und bezieht dabei die römische Gesellschaft mit ein. Auch Antje Junghanß legt ihren Schwerpunkt darauf (vgl. Junghanß 2017a, S. 14 und 116–184). Vgl. zur gemeinschaftsstiftenden Funktion von Wohltaten auch Cic. off. 1,22, 56 und Junghanß 2017a, S. 44–104. Sen. benef. 1,6,1, Übers. Rosenbach. Vgl. Sen. benef. 4,29,2. Ebd., Übers. Rosenbach, modifiziert (ich habe unter anderem vilitas mit „geringer Preis“ und nicht wie Rosenbach mit „Nützlichkeit“ übersetzt, eine Übersetzung, die Anlass zur Vermutung gibt, dass er vilitas mit utilitas verwechselt hat).
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Die zweite, aus Senecas Perspektive noch wichtigere res (B¢¢), die gegeben sein muss, um von einer Wohltat sprechen zu können, ist:701 […] ut eius causa faciam, ad quem volam pervenire beneficium, dignumque eum iudicem et libens id tribuam percipiensque ex munere meo gaudium, quorum nihil est in istis, de quibus loquebamur; non enim tamquam dignis tribuimus, sed neglenter tamquam parva, et non homini damus, sed humanitati. […] dass ich um dessentwillen handele, in dessen Hände ich die Wohltat gelangen lassen will, ihn für würdig halte, ihm das gern schenke und aus meinem Geschenk Freude gewinne – wovon es nichts gibt bei dem, über das wir sprachen; nicht nämlich übergaben wir ihnen jenes, weil sie es wert waren, sondern nachlässig – als wäre es etwas Unbedeutendes –, und wir geben es nicht einem konkreten Menschen, sondern der Menschlichkeit.
Diese rudimentären Definitionen machen deutlich, dass eine Wohltat gewollt wird – also aus eigenem Antrieb (sua sponte) (A) und gerne (prona/libens) (A/B¢¢) geschieht –, und dass sie aus einem guten Willen hervorgeht (benivola) (A). Zudem wird der Grund ersichtlich, warum sie erwiesen wird: Man tut etwas um der Person willen, die sie empfangen soll (B¢¢).702 Die exklusive Fokussierung auf den anderen Menschen lässt eine Wohltat als altruistisches Verhalten erscheinen. Seneca vertritt häufig auch die Ansicht, dass eine Wohltat um ihrer selbst willen ausgeführt wird: Man gibt, um zu geben.703 Er begründet deren Selbstzweckhaftigkeit damit, dass auch das moralisch Gute aus keinem anderen Grund verfolgt wird: „Wenn das moralisch Gute um seiner selbst willen zu erstreben ist,704 eine Wohltat aber etwas moralisch Gutes ist, kann es dafür keine andere Bedingung geben, weil
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Sen. benef. 4,29,3, Übers. Rosenbach, modifiziert. Vgl. auch Sen. benef. 2,31,2 (wer sich vornimmt, eine Wohltat zu erweisen, will dem einen Nutzen einbringen, dem er sie erweist, und ihm eine Freude bereiten). Vgl. ferner ebd., 5,11,4, wo es heißt, bei einer Wohltat vergesse jemand bisweilen sein eigenes Interesse, um einem anderen zu nützen (aliquis, ut alteri prodesset, utilitatis interim suae oblitus es) – wobei diese Äußerung weniger aussagekräftig ist, da das Vergessen des eigenen Interesses durch das Wörtchen „bisweilen“ (interim) nicht verabsolutiert wird. Auch in ebd., 5,11,6 sagt Seneca (Übers. Rosenbach): „Eine Wohltat ist, was einer nicht um seinetwillen erweist, sondern um dessentwillen, dem er sie erweist […].“ Vgl. Sen. benef. 1,2,3: Ego illut dedi, ut darem. Nemo beneficia in calendario scribit nec avarus exactor ad horam et diem appellat („Ich habe das gegeben, um zu geben. Niemand schreibt seine Wohltaten in das Schuldverzeichnis, noch fordert er als habsüchtiger Eintreiber auf Stunde und Tag zur Zahlung auf“, Übers. Rosenbach). Weitere Stellen, in denen deutlich wird, dass das richtige Erweisen einer Wohltat für Seneca selbstzweckhaft ist, sind Sen. benef. 4,15,1 und 4 sowie ebd., 4,25,1–3. Vgl. zu diesem Punkt auch ebd., 4,16,2, 17,2f. und 18,1.
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ihr Wesen das gleiche ist.“705 Wer eine Wohltat aus einem anderen Grund erweist, erweist eigentlich keine Wohltat.706 Die Selbstzweckhaftigkeit einer Wohltat und ihr altruistischer Charakter stehen einander aber nicht entgegen; sie sollen vielmehr anzeigen, dass eine Wohltat keine eigennützigen Motive hat. Wohltätiges Handeln – ob es nun in Perfektion von der weisen oder in unvollkommener Form von der nichtweisen Person ausgeht707 – ist von Senecas Standpunkt aus gesehen nicht auf den eigenen Vorteil bedacht. Aus seinen beiden rudimentären Wohltatsdefinitionen geht zudem ein charakteristisches Merkmal einer Wohltat hervor, nämlich dass sie Freude bereitet – zum einen der Person, die sie erweist (A/B¢¢),708 und zum anderen der Person, die sie empfängt (A).709 Die Freude der wohltaterweisenden und -empfangenden Person gilt dabei nicht der Materie der Wohltat: X freut sich nicht darüber, dass X Y Gold schenkt, und Y nicht darüber, dass Y von X Gold empfängt. Vielmehr gilt die Freude beider Xʼ Wohltat selbst: Dass X Y eine Wohltat erweist, erfreut X und Y („[…] [die Wohltat] schenkt und empfängt [Freude], dadurch, dass sie schenkt […]“). Dies entspricht der altstoischen und auch Senecas Gefühlslehre, der zufolge ein gutes Gefühl immer auf etwas wahrhaft Gutes (also auf die Tugend und das, was an ihr teilhat – in diesem Fall: die Wohltat) gerichtet ist und niemals auf etwas Indifferentes. Wenn sich X und Y über die Materie von Xʼ Wohltat – über das Gold – „freuten“, empfänden sie Lust. B¢ lässt zu guter Letzt noch eine notwendige Bedingung für eine Wohltat erkennen: „die Bedeutung der Sache“. Es erfordert mehr Aufwand für das Erweisen einer Wohltat, als jemandem lediglich eine Scheibe Brot, ein Geldstück oder die Möglichkeit, Feuer anzuzünden, zu geben. Das sind menschliche Gesten, die man beiläufig zeigt, obwohl sie für die nutznießende Person von größerem Nutzen sein können als eine Wohltat. Diese Überlegung mag verblüffen: Heißt das, dass eine s
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Vgl. Sen. benef. 4,1,3: Si honestum per se expetendum est, beneficium autem honestum est, non potest alia eius condicio esse, cum eadem natura sit (Übers. Rosenbach, modifiziert). Vgl. etwa Sen. benef. 4,14,1: […] qui beneficium ut reciperet dedit, non dedit („[…] wer eine Wohltat erwiesen hat, um eine zu empfangen, hat keine erwiesen“, eig. Übers.). Viele Stoiker bezeichneten moralisch gutes Handeln, das aus der Disposition der Weisheit heraus getan wird, als κατόρθωμα – als moralisch vollkommenes Handeln. Das Handeln, das für sich genommen zwar moralisch gut ist, aber nicht unbedingt der Disposition der Weisheit entspringt, nannten sie dagegen καθῆκον – angemessen (ein κατόρθωμα ist auch ein καθῆκον, aber nicht jedes καθῆκον ist ein κατόρθωμα). Vgl. hierzu insbesondere Forschner 2018, S. 210f. Cicero übersetzt κατόρθωμα später mit recte/rectum factum bzw. officium perfectum (vgl. Cic. fin. 3,24 und Cic. off. 1,8) und καθῆκον mit officium bzw. officium medium (sofern es angemessen, aber moralisch unvollkommen ist, vgl. Cic. fin. 3,20 und Cic. off. 1,8). Vgl. auch Sen. benef. 4,15,2. Seneca geht hier offenbar von einer Freude aus, die nicht nur den Weisen zuteilwerden kann.
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Wohltat doch einen gewissen materiellen Mindeststandard erfüllen muss? Träfe dies zu, könnte sie nicht mehr als eine reine Einstellungssache betrachtet werden. Seneca scheint eher zu meinen, dass die psychische Kraft, die man in eine Wohltat investiert, höher als in den genannten Beispielen ausfallen muss. Einem Obdachlosen im Vorbeigehen eine Münze hinzuwerfen, die man gerade zufällig in der Hosentasche hatte, ist zu wenig, um als Wohltat gelten zu können. Eine Wohltat wäre aus Senecas Sicht vermutlich, alles in der Macht Stehende zu tun, dass ein Obdachloser wieder ein Dach über dem Kopf findet. Was für Seneca keine Wohltat ist bzw. ausschließt, dass etwas eine Wohltat sein kann, folgt im Prinzip ex negativo aus dem bisher Gesagten. Dennoch formuliert er hin und wieder auch ausdrücklich Ausschlusskriterien. In Sachen Beschaffenheit des Willens merkt er an, dass jemand keine Wohltat erwiesen zu haben scheint, der aufgrund böser Absicht nützlich war (non videtur dedisse beneficium, qui a malo animo profuit).710 Der dabei zustande gekommene Nutzen ist eine Leistung des Schicksals (casus enim beneficium est).711 Ebenso wenig ist es möglich, eine Wohltat wider Willen (invitus) zu erweisen.712 Hingegen kann eine Person einer anderen bisweilen auch gegen ihren Willen helfen,713 aber nur solange sie sie nicht wie ein Gewaltherrscher zur Entgegennahme ihrer Wohltat zwingt.714 Für eine Wohltat muss also nur die gebende Seite nicht wider Willen handeln. Wann handelt Seneca zufolge aber jemand nicht wider Willen? Oder positiv gefragt: Wann, denkt er, handelt jemand gewollt? Gewollt handelt eine Person dann, wenn sie etwas gerne, aus eigenem Antrieb und entschlossen tut,715 und gewollt*, wenn es in ihrer Macht steht, eine Zustimmung zu geben oder nicht zu geben. 716 Letztere Bedeutung von voluntarium kommt nicht nur im Kontext der Affekte, sondern auch in benef. 2,18,7 zur Sprache: „[…] [W]enn du wissen willst, ob ich will, sorge dafür, dass ich nicht wollen kann“ (si vis scire, an velim, effice, ut possim nolle).717 Demnach ist etwas dann voluntarium, wenn es einem frei steht, etwas zu wollen oder nicht zu wollen (heutzutage würde man in diesem Zusammenhang vom „Prinzip alternativer Möglichkeiten“ [principle of alternate possibilities] sprechen). Will eine Person beispielsweise etwas tun, kann es aber nicht nicht tun wollen, handelt sie, sofern sie es tut, nicht gewollt*, denn ihr stand nicht frei, es nicht tun zu wollen. Ein gutes Beispiel für eine Person, die das, was sie tut, nicht unterlassen kann, ist diejenige, die weise
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Vgl. Sen. benef. 2,19,1. Vgl. ebd., 2,19,1. Vgl. ebd., 5,20,1. Vgl. ebd., 2,14,4. Beispielsweise muss man einem auf sich wütenden Menschen ein Messer verweigern; er wird sich später dankbar dafür zeigen (vgl. ebd., 2,14,1f.). Vgl. ebd., 5,20,1 und 2,19,2. Vgl. S. 191f. Vgl. S. 96f. Übers. Rosenbach.
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ist (vir bonus non potest non facere, quod facit).718 Will man wissen, ob sie will, muss man bei ihr also nicht dafür sorgen, dass sie das, was sie tut, auch nicht wollen kann, denn sie kann das, was sie tut, überhaupt nicht nicht wollen. Im Gegensatz zum Wollen der nichtweisen Person impliziert das Wollen der weisen Person nicht die Möglichkeit des Nichtwollens. Handelt sie, handelt sie nicht gewollt*.719 Dennoch will die weise Person das, was sie tut, und nicht weniger als jemand, dem frei steht, es auch nicht zu wollen.720 Ihr Nicht-anders-Können bedeutet nicht, dass sie ihre Wohltat aufgrund eines Zwanges erweist: „[…] [E]in Weiser erweist seine Wohltat auch nicht, weil er tut, wozu er gezwungen wird, und nicht unterlassen kann, wozu er gezwungen wird.“721 Auch wenn er nicht anders kann als eine Wohltat zu erweisen, will er sie doch erweisen und wird nicht dazu gezwungen. Da bei ihm die Möglichkeit, die Wohltat nicht zu erweisen, im Gegensatz zur nichtweisen Person aber nicht gegeben ist, können nur diejenigen Wohltaten gewollt* sein, die von Letzterer ausgeführt werden. Trotzdem sind die Wohltaten der Weisen gewollt, denn sie führen sie gern, aus eigenem Antrieb und entschlossen aus. Dass etwas nicht gewollt* getan wurde, ist somit nicht per se ein Ausschlusskriterium für eine Wohltat. Nur wenn die handelnde Person, egal ob weise oder nicht, zu etwas gezwungen wird, erweist sie keine Wohltat (wenn etwa ein Tyrann unter Androhung der Ermordung eines Angehörigen sie zu einer „Wohltat“ zwingt).722
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Vgl. Sen. benef. 6,21,2. Vgl. auch Cic. off. 1,48, wonach dem bonus vir nicht freisteht, eine Wohltat nicht zu vergelten. Vgl. Sen. benef. 6,21,2: Non […] minus vult, qui non potest nolle […] („Nicht will […] weniger, wer nicht vermag, nicht zu wollen […]“, Übers. Rosenbach). Vgl. Sen. benef. 6,21,2: […] nec bonus vir beneficium dat, quia facit, quod debet, non potest autem non facere, quod debet (eig. Übers.). Anders übersetzen die Stelle Rosenbach („[…] ein Mann von Wert [erweist] auch keine Wohltat, weil er tut, was er muss, nicht vermag er aber zu unterlassen, was er tun muss“) und Griffin/Inwood („[…] it is equally true that a good man does not confer a benefit, because he is doing what he ought to do, but it is in fact impossible for him not to do what he ought to do“). Das autem setzt den Nebensatz fort (quia facit) und leitet keinen neuen Hauptsatz ein. Ich möchte Christian Tornau für diesen Hinweis danken. Für die weise Person leite ich das aus Sen. benef. 6,21,3 ab: Nam si necesse est illi [sc. bono viro] facere, non debeo ipsi beneficium, sed cogenti; si necesse est illi velle ob hoc, quia nihil habet melius, quod velit, ipse se cogit; ita, quod tamquam coacto non deberem, tamquam cogenti debeo („Denn wenn es für ihn [den Weisen] unabweislich ist, es zu tun, schulde nicht ich ihm persönlich eine Wohltat, sondern dem, der ihn dazu zwingt; wenn es für ihn unabweislich ist, deswegen zu wollen, weil er nichts Besseres weiß, das er wollen soll, zwingt er sich selbst; so schulde ich ihm, was ich, wäre er gezwungen, nicht schuldete, weil er sich zwingt“, Übers. Rosenbach).
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Zu keiner Wohltat imstande ist ein Tier, weil es weder helfen will (nec velle facere) noch im Bewusstsein, zu helfen, hilft (nec faciendi animo facere).723 Ohne Wollen und Wissen kann es aus Senecas Perspektive aber auch keine Wohltat geben – ein Lebewesen muss eine Wohltat erweisen wollen und sich dessen bewusst sein, dass es eine erweist, um eine zu erweisen. Trotz der Tatsache, dass es Tieren – und im Übrigen auch leblosen Gegenständen – verwehrt ist, Wohltaten zu erweisen, können sie dennoch nützlich sein724 (man denke an einen Lawinenhund oder eine Wasserquelle: beide können Leben retten). 4.2
Wohltaten zweiter Stufe
Seneca spricht nicht nur von Wohltaten, sondern auch von deren Entgegennahme (beneficium accipere) und Erwiderung (beneficium reddere/gratiam referre). Die Wohltatsentgegennahme kennzeichnet den Moment, in dem eine Person von einer anderen etwas bekommt. Bei der Erwiderung einer Wohltat gibt man jemandem etwas für das zurück, was man von ihm erhalten hat, wobei das Zurückgegebene, wie Seneca hervorhebt, nie mit dem Erhaltenen identisch ist.725 Sind diese beiden Handlungstypen vom Grundverständnis her aber selbst als Wohltaten anzusehen? Man könnte sagen, dass die richtige Entgegennahme und Erwiderung einer Wohltat selbst eine Wohltat ist, und zwar eine Wohltat zweiter Stufe. Eine Wohltat zweiter Stufe wäre eine Wohltat, die ausschließlich als Reaktion auf eine ursprüngliche Wohltat folgt (die, da sie am Anfang steht, lediglich als Wohltat oder als Wohltat erster Stufe bezeichnet werden könnte). Wenn die richtige Entgegennahme und Erwiderung einer Wohltat im Wesentlichen selbst eine Wohltat ist, müssten viele der Bedingungen, die eine Handlung zu einer Wohltat machen, auch für sie gelten. Mit Seneca lässt sich diese Vermutung größtenteils bestätigen: a
Die richtige Entgegennahme und Erwiderung einer Wohltat ist gewollt.726
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Vgl. Sen. benef. 2,19,1. Vgl. ebd., 5,19,6 und 6,7,2. Vgl. ebd., 6,5,2. Selbst wenn man einen Geldbetrag zurückgibt, gebe man nicht dasselbe zurück, sondern nur ebenso viel (vgl. ebd.). Das zeigt, dass Seneca den Unterschied zwischen Wohltat und Wohltatsmaterie konsequent beibehält. Vgl. ebd., 1,4,3: „[…] [U]nterwiesen werden müssen die Menschen, gern zu geben, gern entgegenzunehmen, gern zu vergelten [libenter dare, libenter accipere, libenter reddere]“ (Übers. Rosenbach, eig. Herv. [libenter dare findet sich im Übrigen in anderen Handschriften als in der Handschrift Nazarianus; François Préchac nimmt es aber in den Haupttext auf]).
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b c d e
f
Zwang ist ein Ausschlusskriterium für die richtige Entgegennahme einer Wohltat.727 Der richtigen Wohltatserwiderung liegt ein guter Wille zugrunde.728 Die richtig entgegennehmende Person ist sich bewusst, dass ihr jemand wissentlich eine Wohltat erweist.729 Es spricht nichts dagegen, die richtige Wohltatsentgegennahme sowie -erwiderung mit Seneca als ein soziales Verhalten zu verstehen: Weder das eine noch das andere geschieht ohne eine andere Person. Und selbst wenn es möglich sein sollte, sich selbst eine Wohltat zu erweisen, hält er es doch für undenkbar, die sich selbst erwiesene Wohltat selbst entgegenzunehmen, sich dadurch sich gegenüber zur Erwiderung zu verpflichten und dann die sich selbst erwiesene Wohltat selbst zu erwidern.730 Der normative Grund der Wohltatserwiderung ist derselbe wie derjenige der Wohltatserweisung: Eine Wohltat soll um ihrer selbst willen erwidert werden.731
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Vgl. Sen. benef. 2,18,7: „Niemand wird durch die Entgegennahme dessen verpflichtet, was er nicht zurückweisen durfte“ (Übers. Rosenbach). Eine Wohltatsentgegennahme, die unter Zwang stattfindet (wenn uns etwa ein Gewaltherrscher dazu drängt), verpflichtet nicht nur nicht zur Erwiderung, sie ist im Prinzip auch keine Entgegennahme, sondern ein Gehorchen – vgl. Sen. benef. 2,18,7: „[…] [W]enn eine Zwangslage deine Entscheidung außer Kraft setzt, wirst du wissen, du nimmst nicht entgegen, sondern gehorchst“ (si necessitas tollet arbitrium, scies te non accipere, sed parere, Übers. Rosenbach). Vgl. Sen. benef. 6,27,2: Es ist viel besser, mit moralischem Willen (honesta voluntate) in einer Schuld zu stehen, als eine Rechnung durch einen schlechten zu begleichen (per malam). Eine Rechnung durch einen schlechten Willen begleicht, wer eine unangenehme Situation herbeiführt, um wohltätig sein zu können (mit dieser unangemessenen Möglichkeit, eine Wohltat zu erwidern, setzt sich Seneca in ebd., 6,25,2–30,1 auseinander). Seneca sagt zwar, dass man eine Wohltat, ohne es zu wissen, empfangen kann – jedoch nicht von einer unwissenden Person (beneficium aliquis nesciens accipit, nemo a nesciente, Sen. benef. 6,8,1), also nicht von einer Person, die nicht weiß, dass sie eine Wohltat erweist (von ihr empfängt man alles andere, nur keine Wohltat). Er scheint aber auszuschließen, dass eine unwissentlich empfangene Wohltat zur Erwiderung verpflichtet (vgl. ebd., 6,8,1f., auch wenn es hier um das Nichtwollen geht; der nahtlose Übergang vom Nichtwissen zum Nichtwollen deutet allerdings auf eine Parallelität hin). Dass eine unwissentlich empfangene Wohlat nicht zur Erwiderung verpflichtet, erlaubt den Schluss, dass nur eine wissentliche Wohltatsentgegennahme richtig ist. Vgl. ebd., 5,9,4, Übers. Rosenbach: „[…] [M]ag ich auch jenen Gedanken einräumen, wir erwiesen uns eine Wohltat, was daraus folgt, werde ich nicht einräumen […].“ Vgl. S. 301f. und Fußn. 755. Weitere Ähnlichkeiten zwischen einer Wohltat und ihrer richtigen Entgegennahme und Erwiderung sind bei der Umstandskategorie des Wie
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Die aufgeführten Punkte legen nahe, dass es sich bei der Entgegennahme und Erwiderung von Wohltaten selbst um Wohltaten handelt. Diesen Eindruck vermitteln sie auch deshalb, weil sie suggerieren, dass die Entgegennahme und Erwiderung von Wohltaten eine Sache des animus und nicht der materia ist. 4.3
Wozu Wohltaten erweisen, entgegennehmen und erwidern?
Wohltaten zu erweisen, bedeutet für Seneca nicht, lediglich anderen zu nützen. Mit einer Wohltat nützt man aus seiner Sicht immer auch sich selbst: „Ein jeder, wenn er einem anderen nützt, hat sich genützt […]“ (nemo non, cum alteri prodest, sibi profuit).732 Dieser Nutzen ist ihm zufolge aber nicht als ein Vorteil (praemium) zu verstehen, in dem Sinne, dass man jederzeit mit einer Wohltat desjenigen rechnen kann, dem man eine Wohltat erwiesen hat.733 Vielmehr erwächst der Nutzen für sich selbst aus der Wohltat selbst.734 Genauer bedeutet dies: Durch das Erweisen von Wohltaten bessert man seine Seele735 und wird einst zu einem dankbaren Menschen, wobei dankbar zu sein für Seneca nichts anderes bedeutet als tugendhaft zu sein736 – die Dankbarkeit ist sozusagen ein Aspekt der Tugend (wie
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festzustellen: Richtig gibt, nimmt und erwidert, wer es gerne tut (vgl. Punkt a und Fußn. 726 sowie S. 306, 314 und 320). Vgl. Sen. epist. 81,19, Übers. Rosenbach. Vgl. Sen. epist. 81,19. So verstehe ich Senecas etwas kryptischen Satz (ebd.): „[…] [R]ichtig gehandelt zu haben, ist der Lohn der Tat“ (recte facti fecisse merces est, eig. Übers.). Das geht aus Sen. benef. 5,13,2 hervor: Nobis […] beneficia esse non placet, quae non sunt animum factura meliorem […]. „Uns […] gefallen keine Wohltaten, die nicht dazu da sind, die Seele besser zu machen […]“ (eig. Übers.). Das heißt, Wohltaten wirken sich im stoischen Sinne immer positiv auf die eigene Seele aus. Vgl. Sen. epist. 81,21. Wenn Dankbarkeit Tugend ist, dann kann man auch sagen, dass man durch das Erweisen von Wohltaten tugendhaft wird. Und Seneca tut das mehr oder weniger deutlich auch (vgl. Sen. benef. 1,1,12): Nunc est virtus dare beneficia […] („Wohltaten zu erweisen, ist Tugend […]“, eig. Übers.). Hier wird zwar nicht explizit gesagt, dass man etwas dem Tugenderwerb Zuträgliches tut, wenn man Wohltaten erweist, aber die Aussage könnte so gelesen werden. Vgl. ferner Sen. benef. 3,15,4: Generosi animi est et magnificii iuvare, prodesse; qui dat beneficia, deos imitatur […] („Kennzeichen einer großzügigen und prächtigen Gesinnung ist es, zu helfen, nützlich zu sein; wer Wohltaten gewährt, ahmt die Götter nach […]“, Übers. Rosenbach). Die Nachahmung Gottes bzw. der Götter – das Leben in Übereinstimmung mit der kosmischen Natur – ist aus allgemeinstoischer Sicht eine Umschreibung für ein moralisch gutes Verhalten. Vgl. außerdem Sen. benef. 3,18,4: […] et hoc [sc. beneficium dare] virtutis est („[…] auch das [nämlich eine Wohltat zu erweisen] gehört zur Tugend“, eig. Übers.).
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Die Ethik
Tapferkeit oder Klugheit nur Aspekte ein und derselben Tugend sind). 737 Der Selbstnutzen, den eine Person hat, wenn sie Wohltaten erweist, besteht also darin, dass sie durch diese Aktivität dankbar und tugendhaft wird.738 Wohltaten stellen im Vergleich zu affektpräventiven und affekttherapeutischen Techniken eine weitere Möglichkeit dar, Gutes zu tun und dadurch moralische Fortschritte zu machen.739 Aus Senecas Bestimmung der Dankbarkeit als Tugend folgt, dass die Eigenschaften, die auf die Tugend im Allgemeinen zutreffen, auch für die Dankbarkeit im Besonderen gelten. Er bringt hier ein Argument vor, bei dem er die Schlussfolgerung allerdings in sprachlich variierter Form wiedergibt, anstatt die Begriffe zu verwenden, von denen er auch in den Prämissen Gebrauch macht. Dies mag im ersten Moment für Verständnisschwierigkeiten sorgen; eine detaillierte Analyse und ein eigener Interpretationsvorschlag können den Argumentationsgang aber plausibel machen:740 Nam si malitia miseros facit, virtus beatos, gratum autem esse virtus est [...], inaestimabilem consecutus es, conscientiam grati, quae nisi in animum divinum fortunatumque non pervenit. Denn wenn Schlechtigkeit uns unglücklich macht, Tugend glücklich, dankbar zu sein aber Tugend ist, hast du [...] etwas Unschätzbares erreicht, nämlich das Bewusstsein als dankbarer Mensch, das nur in eine göttliche und von der fortuna begünstigte Seele gelangt.
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Vgl. Sen. epist. 67,10, woraus hervorgeht, dass Seneca zu den Vertretern der These gehört, der zufolge die Tugend eine Einheit ist. Wer Folterqualen tapfer erträgt, so heißt es dort, ist nicht nur tapfer, sondern wendet alle Tugenden an (cum aliquis tormenta fortiter patitur, omnibus virtutibus utitur). Diese Person zeigt Ausdauer (patientia), Klugheit (prudentia), die ihr rät, möglichst tapfer zu ertragen, was nicht vermieden werden kann; zudem offenbart sie Standhaftigkeit (constantia), denn sie will den ihr zugefügten Schmerzen unbedingt standhalten. Seneca führt jedoch nicht weiter aus, warum diese Person etwa auch besonnen, gerecht und eben auch dankbar sein soll. Vgl. auch Sen. benef. 4,12,4f., wo Seneca der Frage nachgeht, was einem eine Wohltat verschafft (quid reddat). Seine Antwort: Neben einem guten Gewissen (bona conscientia) – und Freude (vgl. ebd., 1,6,1 und 4,15,2 sowie S. 218 und 290) – dasselbe wie die Gerechtigkeit (iustitia), die Unschuld (innocentia), die Geistesgröße (magnitudo animi), die Schamhaftigkeit (pudicitia) und die Selbstbeherrschung. Worum es sich dabei genau handelt, sagt er nicht, aber man kann es sich denken: Eine Wohltat verschafft einem (irgendwann) einen tugendhaften Geisteszustand (wenn sie regelmäßig erwiesen wird). Es würde aber zu weit gehen, einen strikten Unterschied zwischen affektpräventiven und affekttherapeutischen Techniken auf der einen und Wohltaten auf der anderen Seite zu sehen. Um nur ein Beispiel zu geben: Trost spenden kann eine Wohltat sein. Sen. epist. 81,21, Übers. Gunermann et al., modifiziert.
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Die wesentliche Argumentationslinie dieses Arguments scheint zu sein: Die Tugend macht glücklich, und da Dankbarsein Tugend ist, ergibt sich, dass Dankbarsein glücklich macht. Ganz so lupenrein argumentiert Seneca aber nicht, sondern macht zwei Dinge anders. Zum einen sagt er nicht direkt, dass so wie die Tugend zur Glückseligkeit führt, auch die Dankbarkeit zur Glückseligkeit führt. Das Bewusstsein, dankbar zu sein, steht im obigen Argument für den Gedanken, dass Dankbarsein glücklich macht. Das ist erklärungsbedürftig. Früher habe ich darauf hingewiesen, dass die Glückseligkeit für Seneca aus dem Bewusstsein der eigenen Tugend entsteht741 – das Bewusstsein, dass man die Tugend erworben hat, mache einen glücklich. Es verhält sich so wie mit dem guten Gefühl der Freude: Die Person, die sich bewusst wird, dass sie die Tugend erworben hat, empfindet Freude.742 Sowohl die Glückseligkeit als auch die Freude folgen also auf einen Bewusstseinsakt, der die eigene Tugend zum Gegenstand hat. Vor diesem Hintergrund könnte man auch die erklärungsbedürftige Stelle lesen: Das Bewusstsein, dass man ein dankbarer (und damit tugendhafter) Mensch ist, macht einen glückselig. Die zweite Sache, die Senecas Argument von einem lupenreinen Argument unterscheidet, betrifft die Art und Weise, wie er die Schlussfolgerung aus den beiden Prämissen – „Tugend macht glücklich“ und „Dankbarsein ist Tugend“ – zieht. Seine Schlussfolgerung ist mehr als nur eine logische. Er wechselt zu einem Ausdruck, der eher einen praktischen Charakter hat. Es heißt nicht: „Wenn die Tugend glücklich macht und Dankbarsein Tugend ist, folgt (consecutus est) etwas Unschätzbares.“ Vielmehr heißt es: „Dann hast du etwas Unschätzbares erreicht“ (consecutus es). Aber was soll man erreicht haben, wenn die Tugend glücklich macht und Dankbarsein Tugend ist? Streng genommen gar nichts. Was Seneca sagen will, ist: Sobald jemand ein dankbarer Mensch geworden ist und sich dessen bewusst wird, macht er sich zugleich auch zu einem glücklichen Menschen, weil Dankbarkeit eine Erscheinungsform der Tugend ist und die Tugend grundsätzlich glücklich macht. Wie das Gegenteil der Tugend – die Schlechtigkeit (malitia) –, so führt auch das Gegenteil der Dankbarkeit – die Undankbarkeit – zur Unglückseligkeit (infelicitas).743 Und so wie die Schlechtigkeit um ihrer selbst willen zu vermeiden ist, so ist auch die Undankbarkeit „[…] eine um ihrer selbst willen zu vermeidende Sache […]“ (per se fugienda res). 744 Diese Parallelen veranlassen zu der Annahme, dass so wie die Dankbarkeit nach Senecas Auffassung nur ein Aspekt ein und derselben Tugend ist, auch die Undankbarkeit für ihn nur ein Aspekt ein und s
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Vgl. S. 166 und Fußn. 36. Vgl. Sen. epist. 59,16 und S. 91. Vgl. Sen. epist. 81,21f., und zwar sowohl die oben zitierte Passage als auch die folgende: Hoc me putas dicere, qui ingratus est miser erit? non differo illum: statim miser est („Meinst du aber, ich wolle sagen, wer undankbar ist, wird unglücklich sein? Nein, er ist es sofort“, Übers. Apelt). Sen. benef. 4,18,1 (Übers. Rosenbach, modifiziert).
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derselben Schlechtigkeit ist.745 Für diese Annahme spricht auch, dass sich die Undankbarkeit in einem bestimmten, regelmäßig auftretenden Fehlverhalten äußert: Undankbar ist, wer eine Wohltat, die er empfangen hat, empfangen zu haben bestreitet, wer sie verheimlicht und nicht vergilt; und am undankbarsten ist, wer sie vergisst. 746 Das regelmäßig auftretende Fehlverhalten der undankbaren Person zeigt sich ferner daran, dass sie typischerweise Worte von sich gibt wie: „Ich wollte Dank abstatten, aber ich fürchte die Ausgabe, ich fürchte die Gefahr, ich scheue zurück vor einem Anstoß; ich werde lieber tun, was mir einen materiellen Nutzen einbringt [quod expedit].“747 Auch quält und zermartert sich die undankbare Person; sie hasst Wohltaten, weil sie sie erwidern soll – ebenso Unrechtstaten, die sie schlimmer macht, als sie wirklich sind.748 Vermieden werden kann das Laster der Undankbarkeit aus Senecas Sicht offenbar,749 wenn man aufhört, sich vor der Ausgabe, der Gefahr und dem Anstoß, den man erregen könnte, zu fürchten, und wenn man aufhört, Wohltaten zu hassen. Affekte entmachten von der stoischen Warte aus betrachtet die Vernunft und bringen mit sich, dass man eine Wohltat entweder gar nicht oder falsch erweist. Aber auch wenn man nicht affektbeherrscht ist, kann man eine Wohltat nicht oder falsch erweisen – falsch wird sie beispielsweise dann erwiesen, wenn man sie nicht um ihrer selbst, sondern um einer anderen Sache willen erweist.750 Die Konsequenz
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Seneca ist so gesehen ebenso ein Vertreter der These, der zufolge die Schlechtigkeit bzw. das Laster eine Einheit ist. Wer moralisch schlecht in einer Hinsicht ist, ist es auch in allen anderen – oder anders formuliert: Wer ein Laster hat, hat sie alle. Vgl. dazu Sen. benef. 4,26,2: Wenn ein Mensch die Weisheit nicht erlangt hat, ist er schlecht, und ein schlechter Mensch ist von keinem Laster frei; also, schließt Seneca, ist er auch undankbar. An derselben Stelle vertritt er die Ansicht, dass die Person, die ein Laster hat, nicht alle anderen Laster tatsächlich hat – sie besitzt sie vielmehr potenziell. Aber selbst wenn sie sie potenziell besitzt, so bekräftigt er, besitzt sie sie. Diese Position baut er in ebd., 4,27,1–4 noch weiter aus. Für Stellen, in denen Seneca die Undankbarkeit als vitium bezeichnet, vgl. ebd., 1,1,2; 2,30,1; 3,6,1; 4,18,1 und 7,28,3. Vgl. ebd., 3,1,3. Vgl. ebd., 4,24,2, Übers. Rosenbach, modifiziert. Man beachte, dass die undankbare Person affektbeherrscht ist (sie fürchtet sich) – ein weiteres Indiz dafür, dass die Undankbarkeit nur ein Aspekt ein und derselben Schlechtigkeit ist. Wenn nur eine schlechte Person Affekte hat und die undankbare Affekte hat, dann ist die undankbare Person offenbar eine schlechte Person. Vgl. Sen. epist. 81,23. Die undankbare Person hasst Wohltaten zuweilen sogar so sehr, dass sie sich wünscht, „[...] es möge nicht existieren, wem sie sie erstatten soll“ (non vult esse cui reddat, ebd., Übers. Rosenbach, modifiziert). Für andere als die nun folgenden Maßnahmen gegen die Undankbarkeit vgl. Junghanß 2017b. Vgl. S. 291f. und Fußn. 751.
Die actio
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nicht oder falsch erwiesener Wohltaten ist Undankbarkeit und damit Schlechtigkeit.751 Wie im vorherigen Unterabschnitt dargelegt worden ist, fügt Seneca der Wohltatserweisung noch die Wohltatsentgegennahme und -erwiderung hinzu. Auch sie kann man versäumen oder falsch handhaben. Die Wohltatsentgegennahme ist dann falsch, wenn sie beispielsweise auf falsche Weise vonstatten geht, etwa mit Hochmut.752 Und wie bei der Wohltatserweisung können sowohl ihr Versäumnis als auch ihre falsche Handhabung zu Undankbarkeit und Schlechtigkeit führen.753 Ebenso sieht Seneca die fehlende oder falsche Erwiderung einer Wohltat als moralische Verfehlung und damit als dem Tugenderwerb abträglich an. 754 Falsch wird eine Wohltat zum Beispiel dann erwidert, wenn sie aus eigennützigen Motiven erwidert wird:755 Ingratus est, qui in referenda gratia secundum datum videt, qui sperat, cum reddit; ingratum voco, qui aegro adsidit, quia testamentum facturus est, cui de hereditate vel de legato vacat cogitare. Faciat licet omnia, quae facere bonus amicus et memor officii debet: si animo eius obversatur spes lucri, captator est et hamum iacit; ut aves, quae laceratione corporum aluntur, lassa morbo pecora et casura ex proximo speculantur, ita hic imminet morti et circa cadaver volat. Undankbar ist, wer bei der Abstattung von Dank auf eine zweite Habe sieht, wer hofft, wenn er vergilt; undankbar nenne ich, wer bei einem Kranken sitzt, weil er ein Testament machen wird, wer den Kopf dazu frei hat, an eine Erbschaft oder ein Vermächtnis zu denken. Tun mag einer alles, was ein guter Freund tun muss, der seiner Pflicht eingedenk ist: Wenn sich in seiner Seele die Erscheinung von einem Gewinn zeigt, ist er ein Erbschleicher und wirft eine Angel aus; wie Vögel, die sich vom Zerfleischen von Aas ernähren, von Krankheit geschwächtes und demnächst s
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Vgl. Sen. benef. 1,1,13: […] qui non dat, vitium ingrati antecedit („[…] denn wer nicht gibt, kommt der Fehlhaltung eines undankbaren Menschen zuvor“, Übers. Rosenbach). Für den Punkt, dass dies auch für die Person gilt, die falsch gibt, vgl. Sen. benef. 4,3,1: […] et turpissimum id [sc. beneficium] causa ullius alterius rei dare, quam ut datum sit. („[…] und es ist besonders schimpflich, eine Wohltat um irgendeiner anderen Sache willen zu erweisen, als damit sie erwiesen worden ist“, Übers. Rosenbach, umgewandelt in einen Hauptsatz). Vgl. Sen. benef. 2,18,1. Ausdrücklich sagt das Seneca meines Wissens allerdings nirgends. Zum fehlenden Erwidern einer Wohltat vgl. Sen. benef. 3,1,1: Non referre beneficiis gratiam et est turpe et apud omnes habetur […] („Nicht Dank abzustatten für Wohltaten ist moralisch verwerflich und wird bei allen Menschen dafür gehalten […]“, Übers. Rosenbach, modifiziert). Vgl. ferner Sen. benef. 3,1,3: […] ingratus, […] qui [sc. beneficium] non reddit […] („[…] undankbar ist, wer sie [die Wohltat] nicht vergilt […]“, Übers. Rosenbach) – und Undankbarkeit ist für Seneca, wie gesagt, ein Laster. Dass auch das falsche Erwidern einer Wohltat eine moralische Verfehlung ist, sagt Seneca meines Wissens nirgends ausdrücklich. Sen. benef. 4,20,3, Übers. Rosenbach, modifiziert. Vgl. zudem Sen. benef. 4,16,1.
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Die Ethik fallendes Vieh aus der Nähe belauern, so wartet er auf den Tod und umkreist den Leichnam.
Um Undankbarkeit zu vermeiden, muss man Seneca zufolge also nicht nur Wohltaten erweisen, sondern sie auch entgegennehmen und erwidern – und zwar richtig.756 Als ein(e) proficiens tut man dies zwar nicht immer fehlerfrei, aber man kann, wenn man regelmäßig richtig gibt, nimmt und erwidert, zu einem dankbaren und damit tugendhaften Menschen werden. Der weisen Person unterlaufen bei der Ausführung dieser und anderer moralisch angemessener Handlungen dagegen weder Fehler noch fehlt ihr, wie sich von selbst versteht, irgendetwas zu ihrer moralischen Vollkommenheit. 4.4
Wohltaten richtig erweisen, entgegennehmen und erwidern
Worauf es bei der richtigen Wohltatserweisung, -entgegennahme und -erwiderung ankommt, scheint aus Senecas Sicht ein handlungsleitendes normatives Urteil zu sein, das alle relevanten Umstände einbezieht – sowohl die faktischen als auch die normativen. Wer es fällt, hat für sich verschiedene Fragen geklärt, wie: Passt die Ist-Zeit zur Soll-Zeit und der Ist-Ort zum Soll-Ort? Ist man im Begriff, tatsächlich auf die Weise zu geben, zu nehmen und zu erwidern, auf die man geben, nehmen und erwidern soll? Ist die eigene und andere Person so beschaffen, dass man ihr geben, von ihr nehmen und ihre Wohltat erwidern soll? Stimmt bei diesen Tätigkeiten der tatsächliche Handlungsgrund mit dem normativen überein? Ist die Materie des Gebens, Entgegennehmens und Erwiderns so, wie sie sein soll? Wie zu sehen sein wird, muss ein faktischer und ein normativer Handlungsumstand nach Seneca nicht einmal in dieselbe Umstandskategorie fallen: Es ist ebenso wichtig zu beachten, dass das, was tatsächlich geschenkt wird, zur Soll-Zeit oder die tatsächliche Beschaffenheit einer Person zur gebotenen Handlungsweise passt. Ein richtiges Verhalten bei der Abgleichung faktischer und normativer Handlungsumstände erfordert einiges: Aufmerksamkeit (vigilantia) ist nötig – die handelnde Person muss auf Grundlage der faktischen Umstände mit sich zurate gehen (cum rebus ipsis deliberandum est).757 Außerdem muss sie bestimmte praecepta kennen, die die normativen Umstände vorgeben.758 Ohne ihre Kenntnis wäre eine längerfristige Handlungsoptimierung ausgeschlossen. Wenn der handelnden Per-
s
756
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Für die Wohltatserwiderung sagt das Seneca sogar explizit (vgl. Sen. benef. 3,7,2): Dank abzustatten ist ein „höchst moralisches Verhalten“ (res honestissima). Präziser hätte er sich ausgedrückt, wenn er gesagt hätte: Dank richtig abzustatten, ist ein höchst moralisches Verhalten. Vgl. Sen. epist. 22,2f. Miriam Griffin hat herausgearbeitet, dass praecepta in Senecas Anschauung unentbehrlich für Wohltaten sind (vgl. Griffin 2013, S. 127–131).
Die actio
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son verborgen bleibt, wann zum Beispiel der richtige Zeitpunkt ist, um eine Wohltat zu erweisen, wird sie nicht dazu in der Lage sein, sie zum richtigen Zeitpunkt zu erweisen. Auch ist für Seneca bei der Wohltatserweisung, -entgegennahme und -erwiderung von Bedeutung, ob die handelnde Person die Weisheit schon erlangt hat oder nicht. So weiß nur die weise Person, wie man Wohltaten richtig erwidert.759 Das bedeutet aber nicht, dass die zur Weisheit fortschreitende Person nicht dazu in der Lage wäre, Wohltaten richtig zu erwidern – sie ist es.760 Im Unterschied zur weisen Person erwidert sie eine Wohltat, auch wenn sie guten Willens ist (bonae voluntatis), häufig aber entweder nicht im richtigen Maße (sie erstattet weniger oder mehr als sie soll) oder zum falschen Zeitpunkt.761 Oftmals erwidert sie eine Wohltat auch nicht am richtigen Ort oder sie tut es nicht auf die richtige Weise: „[…] [D]as, was sie aushändigen sollte, kippt sie aus oder wirft es einem vor die Füße.“762 Dieses Fehlverhalten ist offenbar das Resultat einer fehlerhaften Überlegung: Die zur Weisheit fortschreitende Person prüft (examinare) und vergleicht (comparare) nicht so wie die weise Person, wie viel sie empfangen hat (quantum), von wem (a quo), warum (), wann (quando), wo (ubi) und wie (quemadmodum). 763 Gleiches gilt für die Abgleichung dieser faktischen Handlungsumstände mit den normativen: Die zur Weisheit fortschreitende Person prüft und vergleicht nicht so wie die weise Person, wie viel sie erwidern soll, wem, warum, wann, wo und wie. Das Ziel besteht im Folgenden darin, Senecas Bemerkungen zum Erweisen, Entgegennehmen und Erwidern von Wohltaten zusammenzutragen und nach einer festen Reihenfolge der von ihm immer wieder thematisierten Umstandskategorien zu strukturieren. So soll überschaubarer werden, worauf ihm zufolge die auf dem Weg zur Weisheit befindliche Person beim Wann, Wo, Wie, Wer, (Von-)Wem,
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759 760
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Vgl. Sen. epist. 81,8 sowie ebd., 81,10 und ebd., 81,13. Laut Seneca gibt es zwei Arten von Wohltaten (vgl. Sen. benef. 7,17,1): eine absolute und wahre (absolutum et verum beneficium), die nur eine weise Person einer weisen Person zukommen lassen kann, und eine gewöhnliche und gemeine (vulgare, plebeium), die nur zwischen Nichtweisen ausgetauscht wird. Offen bleibt dabei, wie eine Wohltat zu nennen ist, die eine weise Person einer nichtweisen und eine nichtweise einer weisen erweist. Junghanß’ Verweis auf ebd., 5,13,1, wo Seneca die unvollkommenen Wohltaten der Nichtweisen als beneficia similia bezeichnet (vgl. Junghanß, S. 2017a, S. 127), könnte eine Antwort geben: Die Wohltaten der Nichtweisen sind grundsätzlich nur Quasi-Wohltaten, weil sie nicht aus einem tugendhaften Charakter heraus erwiesen werden, wohingegen die Wohltaten der Weisen echte Wohltaten sind, denn sie erweisen sie aus einem tugendhaften Charakter heraus. Vgl. Sen. epist. 81,8. Seneca sagt eigentlich nur, die nichtweise Person erstatte weniger als sie soll. Ich habe hier aus Gründen der Vollständigkeit auch das Zuviel hinzugefügt. Vgl. ebd. (auch für den ersten Teil des Satzes), Übers. Rosenbach. Vgl. Sen. epist. 81,10 und 14. Axelson hat quare unter Verweis auf ebd., 95,5, Sen. benef. 2,16,1 und Sen. nat. 2,48,2 ergänzt.
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Die Ethik
Warum und Was zu achten hat, wenn sie Wohltaten richtig erweisen, entgegennehmen und erwidern will. Der zuvor getroffene Unterschied zwischen faktischen und normativen Handlungsumständen wird dabei durchgehend beibehalten. 4.4.1 Wie man Wohltaten richtig erweist A)
Das Wann
Seneca zieht im Hinblick auf den richtigen Zeitpunkt und das Erweisen einer Wohltat – wie er es häufiger zu tun pflegt – eine Parallele zur Medizin: „Wie bei Kranken der richtige Augenblick [opportunitas] der Nahrung heilsam ist und Wasser, das rechtzeitig gereicht wurde [tempestive data], ein Heilmittel ist, so eine Wohltat [...].“764 Am besten ist es, jedermanns Wunsch zuvorzukommen (optimum est antecedere desiderium cuiusque).765 Spät erweist eine Wohltat, wer sie einem Bittenden erweist766 – in diesem Fall würde die Ist-Zeit nicht zur Soll-Zeit passen. Der Wunsch eines jeden Menschen muss erahnt werden (divinanda cuiusque voluntas), um ihn von der „sehr belastenden Notwendigkeit des Bittens“ (necessitate gravissima rogandi) zu befreien.767 Eine Wohltat wird bei der empfangenden Person umso mehr in Erinnerung bleiben, desto mehr sie ein Entgegenkommen ist.768 Wenn das Entgegenkommen nicht gelingt, soll man der bittenden Person weitere Worte abschneiden, damit bei ihr nicht der Eindruck entsteht, sie bitte uns.769 Ein anderer zeitlicher Aspekt, der beim Erweisen einer Wohltat laut Seneca wichtig ist, hängt eng mit ihrer Materie zusammen: Niemand schenkt Winterkleidung im Sommer oder Sommerkleidung im Winter.770 Die tatsächlich vorhandene Wohltatsmaterie würde in diesem Fall nicht zur Soll-Zeit passen.771 B)
Das Wo
Über den idealen Ort für eine Wohltat sagt Seneca erstaunlich wenig, obwohl er das Wo als feste Umstandskategorie etabliert. Eine seiner Anmerkungen liest sich aber so, als würde er darauf Bezug nehmen. So behauptet er, alle philosophischen
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764 765 766 767 768 769 770 771
Vgl. Sen. benef. 2,2,2, Übers. Rosenbach. Vgl. Sen. benef. 2,1,3. Vgl. ebd., 2,2,1. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 2,2,2. Vgl. ebd., 1,12,3. Vgl. zur Normativität der Zeit in den ersten beiden Büchern von De beneficiis auch Ducci 2009.
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Fachleute (omnes auctores sapientiae) schrieben vor (praecipiunt),772 dass manche Wohltaten öffentlich und manche privat erwiesen werden müssen (quaedam beneficia palam danda, quaedam secreto).773 Die öffentlich zu erweisenden folgen auf ein rühmliches Handeln, beispielsweise auf einen militärischen Sieg, und auf alles, „[...] was sonst durch Bekanntheit schöner wird [...]“ (quidquid aliut notitia pulcrius fit).774 Der Ausdruck „schön“ kann mit Senecas Augen betrachtet nicht bedeuten, dass die Wohltat durch die Öffentlichkeit größer wird – dann wäre sie keine reine Einstellungssache mehr. „Schön“ muss sich vielmehr auf ihren materiellen Nutzen beziehen: Wenn eine in der Öffentlichkeit erwiesene Wohltat mehr materiellen Nutzen einbringt, spricht nichts dagegen, sie in der Öffentlichkeit zu erweisen. Dass „schön“ in diesem Kontext mit Seneca so verstanden werden muss, lässt sich daran ersehen, wie er die von „allen philosophischen Fachleuten“ vorgenommene Abgrenzung zu den privat zu erweisenden Wohltaten darstellt: „[...] [W]as andererseits nicht im Leben voranbringt und geachteter macht, sondern zu Hilfe kommt der Schwäche, der Bedürftigkeit, der Entehrung, muss in der Stille geleistet werden [...].“775 Wohltaten solcherart sind anscheinend deshalb privat zu erweisen, weil sie, erwiese man sie in der Öffentlichkeit, der entgegennehmenden Person schaden würden. Ein namhafter Politiker könnte etwa an Ansehen verlieren, wenn die Bevölkerung mitbekäme, dass er finanzielle Probleme hat oder an einer psychischen Krankheit leidet. Der Ist-Ort passt somit nur dann zum Soll-Ort, wenn eine auf ein rühmliches Handeln folgende Wohltat öffentlich geleistet wird und eine Wohltat, die sich an Schwache, Bedürftige und Entehrte richtet, privat. C)
Das Wie
Für Seneca ist die Art und Weise einer Handlung von großer Bedeutung: „Bei jeder Tätigkeit, Liberalis, ist es ein besonders wichtiger Anteil, wie ein jedes gesagt oder getan wird.“776 Er gibt ein einfaches Beispiel: Es macht einen großen Unterschied, ob man einen Speer mit weit ausgestrecktem Arm wirft oder lax aus der Hand gleiten lässt. 777 Welche Folgen verschiedene Handlungsweisen nach sich ziehen können, macht er aber nicht an dem auf unterschiedliche Weise geworfenen Speer, sondern an einem Schwert deutlich, das auf unterschiedliche Weise gehandhabt wird: Mal berührt es bloß leicht die Oberfläche, mal durchbohrt s
772
773 774 775 776
777
Das ist eine der vielen Stellen, wo erkennbar wird, dass wir uns hier im Bereich der praecepta befinden. Vgl. hier und im Folgenden Sen. benef. 2,9,1. Übers. Rosenbach, modifiziert. Übers. Rosenbach, eig. Herv. Vgl. Sen. benef. 2,6,1: In omni negotio, Liberalis, non minima portio est, quomodo quidque aut dicatur aut fiat (Übers. Rosenbach, modifiziert, eig. Herv.). Vgl. Sen. benef. 2,6,1.
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es sie. 778 Verschiedene Handlungsweisen können demzufolge unterschiedlich hohe Schäden anrichten. Da eine Wohltat für Seneca eine Tätigkeit ist, folgt, dass das Wie auch bei ihr eine wichtige Rolle spielt: „Dasselbe ist es, was gegeben wird, aber ein Unterschied ist es, wie es gegeben wird.“779 Man kann einer Person beispielsweise zweimal Gold in einer Notsituation schenken, es das eine Mal aber unverzüglich und das andere Mal zögerlich tun. Angesichts der unterschiedlichen Handlungsweisen bei Wohltaten stellt sich die Frage, welche nun richtig ist. Wie sollte Seneca zufolge gegeben werden? Grundsätzlich gilt für ihn, dass man eine Wohltat so erweisen soll, wie man sie empfangen will (sic demus, quomodo vellemus accipere).780 Konkret bedeutet das vor allem: gern, schnell und ohne irgendein Zögern (libenter, cito, sine ulla dubitatione). 781 Auf diese Handlungsweisen kommt er in seinen Ausführungen zur richtigen Wohltatserweisung immer wieder zu sprechen.782 Auf richtige Weise erweist eine Person eine Wohltat darüber hinaus, wenn sie nicht duldet, dass man ihr dankt, und wenn sie während des Gebens vergisst, dass sie gibt.783 Es geht darum, der Wohltat selbst seine volle Aufmerksamkeit zu schenken und zu versuchen, sie auf jede Weise zu verschönern, damit sie noch annehmbarer wird.784 Man s
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Vgl. Sen. benef. 2,6,1. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 2,1,1. Vgl. ebd., 2,1,2. Dass eine Wohltat gern erwiesen wird, also gewollt ist, gehört sogar zu ihrem Wesen (vgl. S. 291). Daher ist es eigentlich unnötig zu sagen, sie solle gern erwiesen werden. Seneca fordert dennoch dazu auf, weil er die Adressat*innen im Blick hat – moralisch Fortschreitende, die oft nicht wissen, was eine Wohltat auszeichnet. Vgl. Sen. benef. 1,7,1 (eine Wohltat wird gern erwiesen), ebd., 1,7,3 (eine Wohltat leistet nicht, wer zögert, hinhält, stöhnt etc.), ebd., 2,1,3 (Übers. Rosenbach): „Am willkommensten sind Wohltaten, die schon bereitstehen, selbstverständlich sind, sich anbieten, wo es keinen Verzug gibt […]“, Sen. benef. 2,4,2 (Wohltaten müssen auf der Stelle ausgeführt werden [repraesentanda sunt beneficia]) und ebd., 2,5,4 (Übers. Rosenbach, modifiziert): „Alle Güte beeilt sich, und eine Eigenart dessen, der gern handelt, ist es, schnell zu handeln; wer zögerlich und einen Tag um den anderen hinziehend hilft, hat nicht aus dem Herzen gehandelt. So hat er zwei besonders wichtige Dinge verlorengehen lassen – die Zeit und den Beweis freundschaftlichen Willens [amicae voluntatis]; zögerlich zu wollen ist die Haltung eines Menschen, der eigentlich nicht will.“ Das letzte Zitat zeigt den Zusammenhang zwischen der tatsächlichen Handlungsweise und der normativen Handlungszeit: Die zögernde Person lässt Zeit verstreichen, und dadurch wird wahrscheinlicher, dass sie den richtigen Zeitpunkt verpasst, um eine Wohltat zu erweisen. Vgl. Sen. benef. 2,6,2. Zum Vergessen vgl. auch ebd., 2,17,7 (Übers. Rosenbach): „Am besten ist jener, der [...] vertrauensvoll vergisst, was er gewährt hatte [...].“ Hier drückt sich Seneca allerdings so aus, als würde das Vergessen nach der Wohltat und nicht während man sie erweist stattfinden. Das macht es schwieriger, das Vergessen mit der Art und Weise, wie eine Wohltat ausgeführt wird, in Verbindung zu bringen. Vgl. Sen. benef. 2,7,3.
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muss sich um sie wie ein Bauer um seine Saat kümmern, das heißt, sie mit Bedacht ausführen und sie lieben.785 Mit dem Vergleich will Seneca jedoch nicht suggerieren, dass eine Wohltat so verrichtet wird, wie ein Bauer schwere Feldarbeit verrichtet. Im Gegenteil: Sie geht leicht von der Hand, ohne sich abzumühen.786 Bei einer Wohltat darf man auch keinerlei Anforderungen an die sie empfangende Person stellen („Am besten ist jener, der [...] niemals eingefordert hat [numquam exegit] [...]“787), geschweige denn sie in irgendeiner Form zurechtweisen – eine Wohltat, bei der jemand eine andere Person zurechtweist, ist keine Wohltat, sondern allenfalls eine Hilfe (tributum).788 Man darf Wohltaten überhaupt nichts Einschüchterndes beimischen. 789 Seneca führt hier das Beispiel von Kaiser Tiberius und dem ehemaligen Prätor Marius Nepos an:790 Tiberius habe ihm eine Wohltat erwiesen (Schuldenerlass), sie aber mit einer Beleidigung verbunden; dadurch habe er seine Wohltat zunichte gemacht und Nepos nicht zur Erwiderung verpflichtet. 791 Die Worte müssen beim Erweisen einer Wohltat also stimmen. Gleiches gilt für die Sprechweise und die Mimik: „Riesige Wohltaten mancher Menschen macht deren Schweigen oder schleppende Sprechweise – sie gibt sich den Anschein von Feierlichkeit und Ernst – wertlos, und weil sie eine Zusage mit dem Gesichtsausdruck der Ablehnung gaben [...].“792 Wer eine Wohltat gern, schnell, leicht und ohne irgendein Zögern erweist, wer nicht duldet, dass man ihm dankt, seine Wohltat vergisst, auf Ton, Wortwahl, Sprechweise und Mimik achtet – bei dem stimmt die tatsächliche Handlungsweise mit der normativen überein. D)
Das Wer
Prinzipiell scheint Seneca zufolge jeder erwachsene Mensch Wohltaten erweisen zu können und zu sollen. Für die richtige Wohltatserweisung muss man aber auf seine persönlichen Merkmale (seine persona) achten und diese in ein angemessenes Verhältnis zur Materie der Wohltat setzen: „[...] [D]enn manche Wohltaten
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787 788 789 790 791
792
Vgl. Sen. benef. 2,11,4f. Vgl. ebd., 1,7,2 (Übers. Rosenbach): „[...] [U]nd viel erfreulicher kommt an, was mit leichter, als was mit voller Hand gegeben wird“ (multaque gratius venit, quod facili quam quod plena manu datur), und Sen. benef. 2,17,7 (Übers. Rosenbach, modifiziert): „Am besten ist jener, der leicht gibt [...]“ (optimus ille, qui facile dedit). Vgl. Sen. benef. 2,17,7, Übers. Rosenbach, modifiziert. Vgl. Sen. benef. 2,8,1f. Vgl. ebd., 2,6,2. Vgl. ebd., 2,7,2. Auch bei einer Wohltat hat die unterschiedliche Handlungsweise also bestimmte Konsequenzen: Wird sie mit einer Beleidigung verknüpft, verliert sie ihren Status als Wohltat und damit ihren zur Erwiderung verpflichtenden Charakter. Vgl. ebd., 2,3,1, Übers. Rosenbach, modifiziert.
308
Die Ethik
sind zu klein, als dass sie von großen Männern kommen dürfen [...].“793 Eine bedeutende Person benötigt demnach ein ebenso bedeutendes Geschenk. Ein namhafter Politiker kann bei einem offiziellen Auslandsbesuch nicht einfach eine Blume mitbringen, die er zufällig irgendwo auf dem Weg gepflückt hat. Seine tatsächliche Person würde dem, was er schenken soll (dem normativen Was), dann nicht gerecht werden. Das würde sich jedoch ändern, wenn er ein Geschenk hätte, das ihn und sein Amt repräsentiert. E)
Das Wem
Von nicht minderer Bedeutung ist laut Seneca, wem man eine Wohltat erweist. Man darf diese nicht an die anonyme Masse verteilen – das wäre eine Verschwendung und Verschwendungen sind moralisch nicht vertretbar.794 Sie muss einer identifizierbaren Person erwiesen werden.795 Dabei sind deren persönliche Merkmale zu beachten: „Berücksichtigen muss „[...] ein jeder nicht weniger die eigene als dessen Person, dem zu helfen er beabsichtigt“ (aspicienda […] non minus sua cuique persona est quam eius, de quo iuvando quis cogitat).796 Gleichzeitig sind die persönlichen Merkmale der Zielperson in ein Verhältnis zur Materie der Wohltat zu setzen: Manche Geschenke sind zum Beispiel zu groß797 (hier würde die tatsächliche Wohltatsmaterie nicht zum normativen Wem passen). Dass sowohl die eigene als auch die fremde Person unter Einbezug der Wohltatsmaterie zu berücksichtigen ist, kann jedoch zu praktischen Problemen führen, wie eine Anekdote zeigt, die Seneca über den Diadochen Antigonos und einen kynischen Philosophen erzählt:798 Ab Antigono Cynicus petit talentum: respondit plus esse, quam quod Cynicus petere deberet; repulsus petit denarium: respondit minus esse, quam quod regem deceret dare.
s
793 794 795
796 797 798
Vgl. Sen. benef. 2,15,3, Übers. Rosenbach. Vgl. Sen. benef. 1,2,1. Vgl. ebd., 1,14,1: beneficium qui quibuslibet dat, nulli gratum est („Eine Wohltat, erweist man sie ganz beliebigen Menschen, ist niemandem willkommen“, Übers. Rosenbach). Anders als Cicero (vgl. Cic. off. 2,72) nimmt Seneca keine Unterscheidung vor zwischen Wohltaten, die man Einzelpersonen erweist, und Wohltaten, die der res publica zugutekommen sollen. Vgl. Sen. benef. 2,17,2, Übers. Rosenbach, modifiziert. Vgl. Sen. benef. 2,15,3. Ebd., 2,17,1, Übers. Rosenbach. Warum Seneca von „Denar“ und nicht von „Drachme“ spricht, erklärt Marion Lausberg: „[…] [Z]u Senecas Zeit war die Gleichsetzung von Denar und Drachme geläufig“ (Lausberg 1970, S. 127).
Die actio
309
Von Antigonos erbittet ein kynischer Philosoph ein Talent: Er antwortete, das sei mehr, als ein Kyniker verlangen dürfe; nach dieser Zurückweisung bittet er um einen Denar: Antigonos antwortete, das sei zu wenig, als dass es sich für einen König zu schenken gehöre.
Seneca sieht den Fehler hier aufseiten des Kynikers: Es passt nicht zu seiner Person, nach Geld zu fragen (als Kyniker hat er sich zur Geldverachtung bekannt, und wenn er jemanden nach Geld fragt, verhält er sich nicht so, wie sich ein Kyniker verhalten sollte).799 Den Punkt des Interlokutors, dass „[…] nichts so gering ist, dass es eines Königs verständnisvolle Haltung nicht mit Anstand zum Geschenk machen dürfte“,800 übergeht Seneca, obwohl hierin viel Potenzial für weitere philosophische Überlegungen gelegen hätte. Der Interlokutor scheint anzunehmen, dass ein Unterschied in den sozialen Rollen noch kein Grund ist, jemandem keine Wohltat zu erweisen.801 Die große Bedeutung der eigenen und der fremden Person beim Erweisen von Wohltaten macht Seneca auch mit einer Ballspiel-Analogie802 deutlich, die, wie er angibt, von Chrysipp stammt:803 [...] quam cadere non est dubium aut mittentis vitio aut excipientis; tum cursum suum servat, ubi inter manus utriusque apte ab utroque et iactata et excepta versatur. Necesse est autem lusor bonus aliter illam conlusori longo, aliter brevi mittat. Eadem beneficii ratio est: nisi utrique personae, dantis et accipientis aptatur, nec ab hoc exibit nec ad illum perveniet, ut debet. Si cum exercitato et docto negotium est, audacius pilam mittemus; utcumque enim venerit, manus illam expedita et agilis repercutiet; si cum tirone et indocto, non tam rigide nec tam excusse sed languidius et in ipsam eius derigentes manum remisse occurremus. Idem faciendum est in beneficiis: quosdam doceamus et satis iudicemus, si conantur, si audent, si volunt. Facimus autem plerumque ingratos et, ut sint, favemus, tamquam ita demum magna s
799
800 801
802
803
Vgl. Sen. benef. 2,17,2. Senecas Kritiker könnten an dieser Zurechtweisung Anstoß nehmen: Ein reicher Römer hat kein Verständnis dafür, dass ein Kyniker nach Geld fragt! Hier könnte man entgegenhalten, dass ein Stoiker aufgrund seiner Lehre nicht dazu verpflichtet ist, sich zur Geldverachtung zu bekennen. Er darf Geld nur nicht für ein Gut halten (und auch nicht für ein Übel). Vgl. dazu Senecas Apologie des Geldbesitzes in Sen. dial. 7,21,1–23,4 und 24,5–26,4 (= vit. beat. 21,1–23,4 und 24,5–26,4). Vgl. benef. 2,17,1, Übers. Rosenbach. Seneca teilt diese Annahme – vermutlich übergeht er sie deshalb. Er ist davon überzeugt, dass auch ein Sklave seinem Herrn eine Wohltat erweisen kann (vgl. Sen. benef. 3,18,2f.). Seine Begründung: Es kommt allein darauf an, mit welcher Einstellung (cuius animus) eine Person eine Wohltat erweist, nicht welchen Standes sie ist (non cuius status; vgl. ebd., 3,18,2). Gleiches gilt für die Person, die die Wohltat empfangen soll: Nicht ihr Stand entscheidet darüber, ob man ihr eine Wohltat erweisen soll, sondern ihre Einstellung (vgl. S. 311). Jan Wolkenhauer spricht von einem Gleichnis (vgl. Wolkenhauer 2014, S. 122), Antje Junghanß von einer Allegorie (vgl. Junghanß 2017a, S. 139). Sen. benef. 2,17,3–5, Übers. Rosenbach, modifiziert.
310
Die Ethik sint beneficia nostra, si gratia illis referri non potuit, ut malignis lusoribus propositum est conlusorem traducere, cum damno scilicet ipsius lusus, qui non potest, nisi consentitur, extendi. [...] [F]allen kann der Ball ohne Zweifel sowohl durch einen Fehler des Werfenden als auch des Fangenden; dann hält er seine Bahn ein, wenn er zwischen den Händen beider hin und her fliegt, geschickt von jedem der beiden sowohl geworfen als auch gefangen. Notwendig wirft ihn ein guter Ballspieler auf eine Weise einem großen Mitspieler zu, auf andere einem kleinen. Dasselbe Prinzip gilt bei einer Wohltat: Wenn sie nicht zu jeder der beiden Personen passt, der des Gebenden und der des Empfangenden, wird sie weder von dem einen ausgehen noch bei dem anderen ankommen, wie es nötig ist. Wenn wir es mit einem geübten und erfahrenen Partner zu tun haben, werden wir den Ball kühner fliegen lassen; wie immer er nämlich kommt, wird ihn die flinke und bewegliche Hand zurückschlagen; wenn mit einem Anfänger ohne Erfahrung, weder so direkt noch so scharf, sondern weniger kraftvoll, und ihn unmittelbar in seine Hand lenkend, werden wir ihm gelassen entgegenlaufen.804 Dasselbe muss man auch bei Wohltaten machen: Manche Menschen wollen wir ausbilden und es für genug halten, wenn sie es versuchen, es wagen, es wollen. Wir machen sie aber meistens undankbar und, obwohl sie es sind, unterstützen wir sie, als ob auf diese Weise unsere Wohltaten schließlich groß seien, wenn Dank für sie nicht erstattet werden konnte, wie böswillige Spieler sich vornehmen, den Mitspieler zu blamieren, natürlich zum Schaden des Spiels selbst, das nicht fortgesetzt werden kann, wenn keine Übereinstimmung besteht.
Ob ein Ballspiel gelingt, hängt von den daran beteiligten Ballspielern ab. Ein guter Ballspieler achtet auf die Körpergröße seines Mitspielers und seinen Erfahrungsgrad. Je nachdem, ob dieser groß oder klein, erfahren oder unerfahren ist, so spielt er ihm auch den Ball zu. Er verhält sich dessen tatsächlichen persönlichen Merkmalen gegenüber in der Weise, in der er sich ihnen gegenüber verhalten soll, und wird so dem normativen Wie gerecht. Von einem schlechten Ballspieler könnte man das nicht sagen. Er würde die Körpergröße und/oder den Erfahrungshorizont seines Mitspielers missachten und einem kleinen Mitspieler zum Beispiel hohe Bälle zuwerfen oder einem unerfahrenen schwer zu fangende. Im Bereich der Wohltaten verhält es sich im Prinzip genauso: Es ist darauf zu achten, wie die individuelle Persönlichkeit der anderen Person beschaffen ist. Hat sie schon viel Erfahrung beim Erweisen, Entgegennehmen und Erwidern von Wohltaten gesammelt oder nicht? Nach solchen tatsächlichen persönlichen Merkmalen ist die eigene Handlungsweise auszurichten, das heißt: an die normative anzupassen. Hat die andere Person zum Beispiel noch nicht so viel Erfahrung gesammelt, müssen wir umsichtig sein und dürfen eine Wohltat nicht so erweisen, dass von vornherein klar ist, dass sie sie nicht richtig entgegennehmen wird. Und wenn sie sie nicht s
804
Unter anderem hieran zeigt sich, dass Seneca den Ausdruck persona auch in einem weiteren Sinne und nicht nur im Sinne von „sozialer Rolle“ versteht (vgl. auch Cic. off. 107–116).
Die actio
311
richtig entgegengenommen hat, sollen wir ihr das nicht noch lange vorhalten, als ob unsere Wohltaten auf diese Weise größer würden (das wäre böswillig und würde zum Ende der Interaktion führen).805 Oder nehmen wir beispielsweise die individuelle geistige Natur der anderen Person: Ist sie bescheiden, muss man sie täuschen, wie Seneca an anderer Stelle meint, damit sie nicht weiß, von wem sie die Wohltat erhalten hat; sie soll eine Wohltat eher finden als empfangen, um nicht in Verlegenheit gebracht zu werden.806 Jemand, der eine schüchterne Person in Unwissenheit darüber lässt, wer ihr die Wohltat erwiesen hat, handelt ihren tatsächlichen Charaktereigenschaften gegenüber in gebotener Weise. Bei der Person, die die Wohltat empfangen soll, sind, so Seneca, ferner ihr Geschlecht, ihr Alter, ihr Beruf und ihre Lebensumstände relevant: Einer Frau oder einem alten Mann schenkt man keine Jagdwaffen, einem Bauern keine Bücher und einem Wissenschaftler keine Jagdnetze; man schenkt auch niemandem etwas, das ihm die eigene Schwäche vorhält – einem Alkoholiker beispielsweise Wein und einem Kranken Medikamente.807 Schenkt man einem Wissenschaftler ein Jagdnetz oder einem alten Mann Jagdwaffen, dann schenkt man ihnen etwas, das nicht zu ihrer Person passt, und würde so das normative Wem verfehlen.808 Weitere personenspezifische Merkmale, auf die man beim Erweisen von Wohltaten zu achten hat, betreffen aus Senecas Perspektive in irgendeiner Form die Seele der anderen Person. Dazu zählt die Gemütsverfassung: Manchmal ist es eine Wohltat, einer bestimmten Person etwas nicht zu geben, beispielsweise dann, wenn sie depressiv oder wütend ist.809 Verlangt sie in diesem oder jenem Zustand ein Messer, sollen wir es ihr verweigern, weil wir sonst riskieren, dass sie sich oder andere verletzt oder sogar tötet. Was wir ihr stattdessen geben sollen (das normative Was), wäre entweder nichts oder etwas, das ihr oder anderen nicht schaden würde. Ein anderes personenspezifisches Merkmal, das Seneca beim Erweisen von Wohltaten als wichtig erachtet und das etwas mit der Seele der anderen Person zu tun hat, ist deren Einstellung und Charakter: „Auswählen werde ich einen Mann, der lauter, schlicht, von gutem Gedächtnis, dankbar, von fremdem Gut sich zurückhaltend, das eigene ohne Geiz bewahrend, guten Willens [ist].“810 Dass die Person, die die Wohltat empfangen soll, dankbar ist, scheint dabei entscheidend zu sein: „Ich wähle […] den aus, der dankbar ist, nicht den, der erwidern wird […]“811 (würde man den wählen, der erwidern wird, würde man aus dem s
805 806 807 808 809 810
811
Vgl. Sen. benef. 2,17,5. Vgl. ebd., 2,10,1–4. Vgl. ebd., 1,11,6. Das normative (zu beschenkende) Wem wäre hier ein nicht allzu hochbetagter Jäger. Vgl. hier und im Folgenden ebd., 2,14,1f. Vgl. ebd., 4,11,1: Eligam virum integrum, simplicem, memorem, gratum, alieni abstinentem, sui non avare tenacem, benivolum […] (Übers. Rosenbach). Vgl. auch Cic. off. 1,45. Vgl. Sen. benef. 4,10,4: […] eligo […] eum, qui gratus, non qui redditurus sit […] (Übers. Rosenbach).
312
Die Ethik
falschen Grund handeln). „Dankbar“ kann hier schwerlich nur für einen besonderen Aspekt der Tugend stehen, denn das hätte zur Folge, dass man nur weisen Personen Wohltaten erweisen sollte. Es dürfte vielmehr auch in einem schwächeren Sinne zu verstehen sein: als richtige Einstellung, die noch nicht die vollkommene moralische Reife erlangt hat. Dankbar kann demzufolge schon jemand sein, der es schätzt und würdigt, eine Wohltat empfangen zu haben, und diese gerne erwidern will,812 auch wenn er dieses Verhalten nicht mit derselben Regelmäßigkeit an den Tag legt wie die weise Person. Wer einer dankbaren Person eine Wohltat erweist (sei sie im stärkeren oder im schwächeren Sinne dankbar),813 erweist sie also der Person, der er sie erweisen soll (dem normativen Wem). Aber soll man eine Wohltat erst dann erweisen, wenn man sicher weiß, dass jemand im stärkeren oder schwächeren Sinne dankbar ist? Die Frage lässt sich auch umkehren: Soll man eine Wohltat erst dann unterlassen, wenn man sicher weiß, dass jemand im stärkeren oder schwächeren Sinne undankbar ist?814 Angesichts dieser beiden Fragen stellt sich die allgemeinere Frage: Wie kann man überhaupt wissen, dass jemand dankbar oder undankbar ist (sei es im stärkeren oder s
812
813
814
Vgl. Sen. benef. 4,21,1: dicitur gratus, qui bono animo accepit beneficium, bono debet („Dankbar wird genannt, wer mit einer guten Einstellung eine Wohltat entgegengenommen hat, mit einer guten Einstellung schuldet [...]“, Übers. Rosenbach, modifiziert). Seneca hält es zweifellos für möglich, einer weisen Person eine Wohltat zu erweisen. Vgl. die Diskussion in Sen. benef. 7,4,1–6,2, wo er sich mit der These auseinandersetzt, dass der weisen Person keine Wohltat erwiesen werden könne, weil das, was ihr geschenkt wird, schon ihr Eigentum sei (vgl. ebd., 7,4,1). Er ist der Auffassung, dass man sich ihr gegenüber in der Tat wohltätig zeigen kann, obwohl sie schon alles besitzt, denn ich kann ihr etwas von mir geben, das mir und ihr zugleich gehört (vgl. ebd., 7,5,1f. und 6,2). Der Umstand, dass es auch von mir ist, macht meine Handlung zur Wohltat. Seneca scheint zwischen einer charakterlichen Undankbarkeit, die geneigt macht, sich undankbar zu verhalten, und einer vereinzelt auftretenden Undankbarkeit, die eher Zeichen einer falschen Einstellung ist, zu unterscheiden (vgl. ebd., 4,26,2, Übers. Rosenbach, modifiziert): „Der eine ist undankbar, weil er töricht [stultus] ist. Ein törichter Mensch ist auch schlecht, weil er schlecht ist, ist er von keinem Fehlverhalten frei [nullo vitio caret]: Also ist er auch undankbar.“ Undankbarkeit ist demnach ein moralisches Fehlverhalten, das aufgrund fehlender Weisheit zustande kommt. Die fehlende Weisheit führt dazu, dass jemand mit der falschen Einstellung entgegennimmt und schuldet. Davon grenzt Seneca die folgende Form der Undankbarkeit ab (vgl. Sen. benef. 4,26,2, Übers. Rosenbach, modifiziert): „Der andere ist undankbar, der allgemein so bezeichnet wird und eine natürliche Neigung zu diesem Fehlverhalten hat.“ Wichtig ist diese Unterscheidung für Seneca in Bezug auf die Frage, wem die weise Person eine Wohltat erweist (vgl. Sen. benef. 4,26,3, Übers. Rosenbach, modifiziert): „Jenem Undankbaren [...] wird der Weise eine Wohltat erweisen [...]. Diesem Undankbaren, der hinsichtlich der Wohltaten ein Betrüger und dieser Haltung geistig erlegen ist, wird er ebenso wenig eine Wohltat erweisen, wie er einem Bankrotteur Geld leihen oder einen Wertgegenstand dem anvertrauen wird, der schon mehreren einen unterschlagen hat.“
Die actio
313
im schwächeren Sinne)? Seneca beantwortet in jedem Fall die ersten beiden Fragen: Es genügt, wenn man weiß, dass es wahrscheinlich ist (veri similitudo), dass jemand dankbar oder undankbar ist (sei es im stärkeren oder im schwächeren Sinne).815 „Wir lassen uns leiten“, so führt er seinen Gedanken weiter aus, „wohin uns die Überlegung, nicht wohin uns die Wahrheit zieht“ (sequimur, qua ratio, non qua veritas traxit).816 Das bedeutet natürlich, dass das, was einem nach der Überlegung wahrscheinlich erschien, doch anders ausfallen kann (die im schwächeren Sinne dankbare Person kann sich zum Beispiel als im schwächeren Sinne undankbar entpuppen). Dass eine Person wahrscheinlich dankbar oder undankbar ist (egal in welchem Sinne), ist aber eine plausible Begründung, warum man ihr eine Wohltat erweisen oder nicht erweisen sollte.817 F)
Das Warum
Eine Wohltat lässt sich auf der Grundlage von Senecas Ausführungen als altruistisches Verhalten deuten.818 Demnach stimmt der tatsächliche Grund einer Wohltat nur dann mit dem normativen überein, wenn sie nicht aus eigennützigen Motiven erwiesen wird. G)
Das Was
Diese Umstandskategorie wurde bisher schon in Verbindung mit anderen Umstandskategorien thematisiert (dem Wann, Wer und Wem). 819 Sie scheint bei Seneca, zumindest was das Erweisen von Wohltaten angeht, nur in Relation aufzutreten. Mir ist keine Stelle bekannt, wo er ein Beispiel dafür anführt, dass jemandes tatsächlich vorhandene Wohltatsmaterie für sich genommen (nicht) mit der normativen Wohltatsmaterie übereinstimmt. Ein solches Beispiel ließe sich aber schnell geben, wenn man beispielsweise „Gold wird nicht verschenkt“ als praeceptum festlegte. Verschenkte dann jemand Gold, würde er dem normativen Was nicht gerecht werden; gerecht würde er ihm nur, wenn er etwas anderes als Gold verschenkte.820
s
815
816 817
818 819 820
Vgl. Sen. benef. 4,33,2. Welchen Sinn von „dankbar“ und „undankbar“ Seneca hier im Auge hat, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Ich lese ihn so, als spräche er beide an. Εbd., 4,33,2f., Übers. Rosenbach. Vgl. Ciceros und Diogenes’ Definition des officium medium/καθῆκον (dessen, was angemessen, aber moralisch unvollkommen ist) in Cic. off. 1,8 und DL 7,107: Es ist dasjenige, für dessen Verwirklichung eine plausible Begründung bzw. Rechtfertigung (ratio probabilis/εὔλογος ἀπολογισμός) gegeben werden kann. Vgl. S. 291f. Vgl. S. 304, 308 und 311. Vorausgesetzt ist dabei, dass keine anderen praecepta existieren, die die Menge zu schenkender Wohltatsmaterie weiter einschränken. Gäbe es zusätzlich ein praeceptum,
314
Die Ethik
4.4.2 Wie man Wohltaten richtig entgegennimmt A)
Das Wann
Zum Wann bei der Wohltatsentgegennahme konnten keine Informationen gefunden werden. Ein solcher Befund wird nachfolgend verkürzt mit einem „–“ wiedergegeben. B)
Das Wo
– C)
Das Wie
Während sich zur Umstandskategorie des Wann und Wo im Zusammenhang mit der Wohltatsentgegennahme bei Seneca keine Bemerkungen finden lassen, gibt es doch einige mit Blick auf das Wie. So erklärt er, dass, wenn man eine Wohltat anzunehmen für nötig hält, man dies heiter tun und seine Freude (gaudium) offen bekunden soll.821 Wird eine Person dieser normativen Handlungsweise gerecht, die Seneca verkürzt auch als „dankbares Entgegennehmen“ bezeichnet, zahlt sie die „erste Rate“ (prima pensio) zurück.822 Damit will er offenbar zu verstehen geben, dass eine Wohltat teilweise schon dann erwidert wird, wenn man ihr mit unverhohlener Heiterkeit und Freude – kurz: mit Dankbarkeit – begegnet.823 Aber s
821
822
823
das lautete: „Wein wird nicht verschenkt“, würde man dem normativen Was dann entsprechend handeln, wenn man weder Gold noch Wein verschenkte; ihm nicht entsprechend würde man handeln, wenn man entweder Gold oder Wein oder sogar beides verschenkte. Vgl. Sen. benef. 2,22,1. Die Freude ist hier kein gutes Gefühl im strengen Sinne. Der weisen Person muss man nicht sagen, dass sie ihre Freude offen bekunden soll – das macht sie so oder so. Es muss eine Freude sein, die auch moralisch Fortschreitende empfinden können, sozusagen eine Vorstufe der wahren Freude. Davon abgesehen ist anzumerken, dass Seneca nicht auf den Fall eingeht, dass einem auch einmal eine Wohltat nicht gefallen könnte. Soll man in solchen Fällen anstandshalber so tun, als freute man sich? Seine Ausführungen lassen das vermuten. Vgl. ebd.: Qui grate beneficium accipit, primam eius pensionem solvit („Wer eine Wohltat dankbar annimmt, zahlt die erste Rückzahlungsrate für sie“, Übers. Rosenbach). Aber es handelt sich nur um eine Teil-, keine Vollrückzahlung. So heißt es später im zweiten Buch, dass man sich für das, was man bekommen hat, bedanken und die Wohltat so auf angemessene Weise entgegennehmen kann – mit diesem Dank ist die Wohltat aber noch nicht vergolten (vgl. Sen. benef. 2,35,1). Für Senecas Auffassung, dass die dankbare Entgegennahme einer Wohltat nur eine Teilrückzahlung ist, vgl. auch ebd., 2,35,3 und 5: „So sagen wir, wer eine Wohltat mit einer guten Einstellung entgegennimmt [qui beneficium bono animo accipit], habe Dank abgestattet, nichtsdestoweniger
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315
nicht nur die offene Bekundung der eigenen positiven Gefühlslage und Einstellung ist für Seneca eine gebotene Art und Weise der Wohltatsentgegennahme, auch die Schaffung von Öffentlichkeit gehört dazu:824 Quomodo danti in tantum producenda notitia est muneris sui, in quantum delectatura est cui datur, ita accipienti adhibenda contio est; quod pudet debere, ne acciperes. Wie die gebende Person so weit für Bekanntheit ihrer Wohltat sorgen muss, wie sie den erfreuen soll, dem sie erwiesen wird, so muss die empfangende Person Öffentlichkeit schaffen; was zu schulden dir peinlich ist, solltest du nicht annehmen.
Eine Wohltat heimlich entgegenzunehmen, ist eine Art der Verleugnung (infitiandi genus), und wer verleugnet, verhält sich undankbar.825 Seneca geht es dabei nicht darum, den Vorzug, eine Wohltat auch einmal im Privatbereich anzunehmen, in Abrede zu stellen. Er hat eher Leute im Blick, die zu noch mehr Ruhm kommen wollen, indem sie den Anschein erwecken, etwas ganz alleine geschafft zu haben: „Sie scheuen sich, es bekannt werden zu lassen, damit sie in dem Rufe stehen, einen Erfolg eher durch eigene Leistung als durch fremde Hilfe erreicht zu haben [...].“826 Zum Verbot, eine Wohltat heimlich entgegenzunehmen, fügt er die Verbote hinzu, nichts wählerisch, beflissen, unterwürfig, hochmütig und wortkarg entgegenzunehmen (eine Person, die nichts sagt, verhält sich weniger undankbar als eine, der die Worte nur schwer über die Lippen kommen).827 Eine weitere gebotene Art und Weise der Wohltatsentgegennahme besteht nach Senecas Auffassung darin, dass man das, was man sagt, der Größe des Geschenks (dem tatsächlichen Was) anpasst: Ein größeres Geschenk erfordert mehr Worte.828 Ebenso geboten ist schließlich, eine Wohltat mit der richtigen Einstellung entgegenzunehmen: Zei-
s
824 825 826 827 828
lassen wir ihn in Schulden zurück, damit er Dank abstatte, auch wenn er ihn abgestattet hat. [...] Du willst vergelten eine Wohltat? In freundlicher Gesinnung nimm sie entgegen [benigne accipe]; abgestattet hast du Dank, nicht dass du meinen dürftest, du habest deine Schuld abgetragen, sondern dass du freier von Beunruhigung bist“ (Übers. Rosenbach). Dennoch kann man laut Seneca in besonderen Fällen eine Wohltat schon dadurch vergelten, dass man sie dankbar entgegennimmt (vgl. Sen. benef. 2,31,4f.): „Was ich entgegennahm, habe ich mit der Einstellung entgegengenommen [eo animo accipi], mit der gegeben wurde: Vergolten habe ich es. [...] Wenn ich gegen ihren Willen [gemeint ist der Wille der fortuna] nicht vergelten kann, genügt der Einstellung die Einstellung [sufficit animus animo]“ (Übers. Rosenbach). Sen. benef. 2,23,1, Übers. Rosenbach, modifiziert. Vgl. Sen. benef. 2,23,2. Vgl. ebd., 2,23,3, Übers. Rosenbach. Vgl. Sen. benef. 2,24,2f. Vgl. ebd., 2,24,4.
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chen von Dankbarkeit ist es, wenn man das Gefühl hat, eine Wohltat niemals vergelten zu können,829 und schon bei ihrer Entgegennahme darüber nachdenkt, wie man sie erwidert.830 D)
Das Wer
Eine Person soll eine Wohltat nur dann von einer anderen entgegennehmen, wenn sie bereit ist, in der Schuld der anderen Person zu stehen.831 Eine solche Bereitschaft kommt insbesondere durch eine persönliche Zuneigung zustande.832 E)
Das Von-Wem
Bisher war nicht zu ersehen, ob Seneca eine Hierarchisierung der normativen Umstände vornimmt. Es ließ sich allenfalls eine Abhängigkeit eines normativen Umstandes von einem faktischen erkennen (was man schenken soll, hängt beispielsweise davon ab, welche Jahreszeit gerade ist; nirgends wurde aber gesagt, dass zum Beispiel der richtige Modus der Wohltatserweisung wichtiger ist als der richtige Ort). Bei der Frage, von wem man eine Wohltat entgegennehmen soll, ändert sich dies. Nun stellt Seneca einen normativen Umstand über einen anderen:833 At illa quanto gratiora sunt quantoque in partem interiorem animi numquam exitura descendunt, cum delectant cogitantem magis a quo quam quid acceperis? Doch wie viel willkommener sind jene Wohltaten und wie viel tiefer dringen sie in die Seele ein, um sie niemals zu verlassen, wenn sie dich mehr bei dem Gedanken erfreuen, von wem du, als was du empfangen hast.
Der Hauptgedanke dieses Textstückes ist, dass Wohltaten, bei denen man sich mehr darüber freut, von wem (a quo) als was (quid) man entgegengenommen hat, willkommener oder erwünschter (gratiora) sind. Das legt nahe, dass Seneca dem Von-Wem bei der Entgegennahme einer Wohltat mehr normative Kraft als dem Was zuspricht. Eine solche Hierarchisierung lässt sich nur plausibel machen, wenn man sich sein Wohltatsverständnis in Erinnerung ruft: Eine Wohltat ist eine Einstellungssache und nicht mit dem gleichzusetzen, was durch sie übermittelt wird.834 Dementsprechend verwahrt er sich im Anschluss an die oben zitierte Passage dagegen, eine Gabe, der kein Urteil (iudicium) vorausgeht, als Wohltat zu s
829
830 831 832 833 834
Vgl. Sen. benef. 2,25,1. Ob Seneca hier auf die Dankbarkeit im stärkeren oder im schwächeren Sinne anspielt (vgl. S. 312), ist unklar. Er könnte beides meinen. Vgl. ebd., 2,25,3. Vgl. S. 317. Vgl. Sen. benef. 2,18,3. Ebd., 1,15,4, Übers. Rosenbach, modifiziert. Vgl. S. 285f.
Die actio
317
bezeichnen: „Nicht ist eine Wohltat, dem der beste Teil fehlt, gegeben zu sein aufgrund eines Urteils.“835 Von welcher Person jemand eine Wohltat entgegennehmen soll, ist also deshalb ein wichtigerer normativer Umstand, als was er von ihr entgegennehmen soll, weil allein von der anderen Person und ihrer geistigen Aktivität abhängt, ob man es überhaupt mit einer Wohltat zu tun hat – nicht davon, was sie einem übermittelt. Die Entgegennahme wertvoller Materie, eines riesigen Kapitals etwa, die ohne entsprechendes Urteil übermittelt wurde, gleicht laut Seneca der Auffindung eines Schatzes836 und verpflichtet daher nicht zur Erwiderung. Über einen Schatz „freut“ man sich sicher auch, aber wahre Freude kann nur einer Sache gelten, die Ausdruck der Tugend ist oder in irgendeiner Form an ihr teilhat. Es würde schlicht Senecas Wohltats- und Güterverständnis widersprechen, das normative Was über oder auf die gleiche Stufe wie das normative Von-Wem zu stellen.837 Damit ist aber noch nicht geklärt, von wem man nun entgegennehmen soll. Nach den vorangegangenen Überlegungen zu urteilen, muss es sich in jedem Fall um jemanden handeln, der eine Wohltat erweist und nicht nur Materie übermittelt. Aber Seneca macht auch selbst eine Bemerkung hierzu. In der Mitte des zweiten Buches von De beneficiis vertritt er die Ansicht, dass die Vernunft (ratio) zuerst vorschreiben wird, nicht von allen entgegenzunehmen (haec autem hoc primum censebit non ab omnibus accipiendum). 838 Eine Wohltat entgegennehmen darf man nur von der Person, der man auch selbst eine Wohltat erwiesen hätte.839 Denn in der Schuld eines Menschen zu stehen, in dessen Schuld man eigentlich nicht stehen will, ist eine belastende Qual (grave tamen tormentum est debere, cui nolis).840 Die tatsächliche persönliche Einstellung der anderen Person gegenüber ist demnach ausschlaggebend dafür, ob man von ihr eine Wohltat entgegennehmen soll oder nicht. F)
Das Warum
– G)
Das Was
Anders als bei der Wohltatserweisung taucht das normative Was bei Seneca auch für sich genommen auf: „Viele Dinge aber gibt es, die muss man entgegennehmen s
835
836 837 838 839 840
Vgl. Sen. benef. 1,15,6: Non est beneficium, cui deest pars optima, datum esse iudicio [...] (Übers. Rosenbach, modifiziert). Vgl. Sen. benef. 1,15,6. Weitere derartige Hierarchisierungen sind mir bei Seneca nicht bekannt. Vgl. ebd., 2,18,2. Vgl. ebd., 2,18,3. Vgl. ebd.
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und darf sie nicht schulden“ (multa sunt autem, quae oportet accipere nec debere).841 Mit diesem etwas rätselhaften Satz beendet er das erste Buch von De beneficiis. Zu Beginn des nächsten Buches stellt er sich die Aufgabe, zu erklären, wie man eine Wohltat erweisen muss (quemadmodum dandum sit beneficium).842 Somit fehlen weitere Erläuterungen, welche Dinge genau entgegengenommen werden müssen und nicht geschuldet werden dürfen. Woran hat Seneca hier wohl gedacht? Ein Anhaltspunkt könnte sein, dass er die Entgegennahme wertvoller Materie, eines riesigen Kapitals etwa, die ohne entsprechendes Urteil übermittelt wurde, zuvor mit der Auffindung eines Schatzes vergleicht. Aber warum sollte man wertvolle Materie entgegennehmen müssen? Es ist nichts dabei, ein finanzielles Angebot abzulehnen, sei es auch noch so hoch (vorausgesetzt natürlich, es liegt kein Zwang zur Annahme vor). Auch ist nicht besonders einsichtig, wie die Sache mit der wertvollen Materie mit dem Gedanken zusammenhängen könnte, dass viele Dinge nicht geschuldet werden dürfen. Warum sollte man wertvolle Materie wie ein riesiges Kapital nicht schulden dürfen, wenn man es zum Beispiel für eine sinnvolle Investition benötigt? Vielleicht wollte Seneca einen neuen Punkt machen und dachte an etwas ganz anderes, beispielsweise an ein Menschenleben: Es muss angenommen werden, wie wenn man ein Kind zur Welt bringt oder einen in einer Wiege ausgesetzten Säugling vor der eigenen Haustür vorfindet; es darf aber nicht geschuldet werden – niemand darf einen anderen Menschen töten, um eine Wohltat zu erwidern. 4.4.3 Wie man Wohltaten richtig erwidert A)
Das Wann
Anders als bei der Wohltatsentgegennahme äußert sich Seneca bei der Wohltatserwiderung wieder zum Wann, wobei festzustellen ist, dass seine Bemerkungen zur normativen Dimension dieser Umstandskategorie meist einen prohibitiven Charakter haben, das heißt, sie zeugen eher davon, was man in zeitlicher Hinsicht nicht tun soll, als davon, was man in zeitlicher Hinsicht tun soll, wenn man eine Wohltat erwidern will. Auch ist zu erkennen, wie er die Zeit, bis es zur Erwiderung kommt, einteilt. Einmal thematisiert er ganz allgemein den Zeitraum nach der Wohltatsentgegennahme:843 Qui festinat utique reddere, non habet animum grati hominis, sed debitoris; et, ut breviter, qui nimis cupit solvere, invitus debet; qui invitus debet, ingratus est. s
841 842 843
Vgl. Sen. benef. 1,15,6, Übers. Rosenbach. Vgl. ebd., 2,1,1. Ebd., 4,40,5, Übers. Rosenbach, modifiziert. „Undankbar“ kann hier in einem stärkeren oder einem schwächeren Sinne verstanden werden (vgl. S. 312 und Fußn. 814).
Die actio
319
Wer sich beeilt, in jedem Fall eine Wohltat zu erwidern, hat nicht die Einstellung eines dankbaren Menschen, sondern eines Schuldners. Und, um es kurz zu sagen, wer allzu sehr eine Dankesschuld abzutragen wünscht, ist ungern etwas schuldig; wer ungern etwas schuldet, ist undankbar.
Geboten ist demnach nicht, eine Wohltat unbedingt so schnell wie möglich zu erwidern (grundsätzlich hält es Seneca aber für angebracht, die Erwiderung einer Wohltat nicht hinauszuzögern) 844 . Eine Person, die eine Wohltat unbedingt so schnell wie möglich erwidern will, steht ungern in jemandes Schuld und zeigt damit, dass sie eine falsche Einstellung hat. Positiv formuliert könnte man sagen, dass es nicht verwerflich ist, jemandem etwas längere Zeit zu schulden, solange dies mit der richtigen Einstellung geschieht. Schuldet man auf die Art und Weise, auf die man schulden soll – entspricht also das tatsächliche Wie dem normativen –, ist das normative Wann nicht festgelegt. Und Seneca sieht das anscheinend genauso, wie sich später aus seiner Antwort auf die Frage eines Interlokutors: „Was also? Wenn es keine Gelegenheit gibt, werde ich immer schulden?“845 herauslesen lässt. Ja, scheint er sagen zu wollen, und daran ist auch gar nichts Verwerfliches, sofern man offen und gern schuldet und das Depositum mit Freude betrachtet (cum magna voluptate aput te depositum intueberis).846 s
844
845 846
Vgl. Sen. benef. 2,5,3: „Wie am schneidensten Grausamkeit ist, die die Strafe hinauszieht, und es eine Art von Barmherzigkeit ist, rasch hinzurichten, weil die letzte Folter ihr eigenes Ende mit sich bringt und die Zeit, die voraufgeht, der größte Teil der bevorstehenden Hinrichtung ist, so ist desto größer der Dank für ein Geschenk, je kürzere Zeit es in der Schwebe bleibt [ita maior est muneris gratia, quo minus diu pependit]“ (Übers. Rosenbach). Vgl. Sen. benef. 6,42,2, Übers. Rosenbach. Vgl. Sen. benef. 6,42,2. Seneca gebraucht voluptas hier anscheinend im Sinne von gaudium (vgl. auch ebd., 7,2,3f.). Schwerlich spricht er aber von der Freude, die nur die Weisen empfinden können. Er dürfte eher eine Vorstufe der Freude im Blick haben, die auch bei Personen vorkommen kann, die sich auf dem Weg zur Weisheit befinden (vgl. dazu auch Fußn. 821). Das Problem, voluptas hier so zu deuten, ist aber, dass sich die Freude dann auf die Wohltatsmaterie, nämlich das Depositum, richten würde, also auf etwas Indifferentes, das typischerweise Gegenstand von Affekten ist. Dass es sich doch nicht um Freude, sondern um Lust handelt, ist wegen der positiven Färbung, die Seneca der voluptas in diesem Kontext verleiht, unwahrscheinlich. Wir haben es also mit einer voluptas zu tun, die weder ein gutes Gefühl (im strengeren oder schwächeren Sinne) noch ein Affekt ist. Man könnte sie freilich für einen moralisch legitimen Affekt halten, aber das würde nicht zum stoischen Ideal der Apathie passen, das Seneca so oft vehement verficht. Denkbar wäre auch, wieder einen Schritt zurückzugehen und zu sagen, dass sich die moralisch unausgereifte Freude manchmal auf etwas Indifferentes bezieht, auch wenn sie kein Affekt ist. Aber das ist schwer verständlich – warum sollte sie sich manchmal auf ein wahres Gut und manchmal auf etwas Indifferentes beziehen? (Nicht gemeint ist, dass die nichtweise Person schwankt und sich ihre moralisch unausgereifte Freude deshalb manchmal auf ein wahres Gut und manchmal auf etwas Indifferentes bezieht.) Am wahrscheinlichsten dürfte sein, dass die voluptas in diesem Kontext eine
320
Die Ethik
Auf der anderen Seite ist es weniger der Zeitraum nach der Wohltatsentgegennahme als vielmehr der Zeitpunkt der Wohltatserwiderung, auf den Seneca sein Augenmerk richtet: Gelegenheiten (occasiones), eine Wohltat zu erwidern, sind abzuwarten und nicht künstlich herbeizuführen (non manu facere).847 Das normative Wann würde verfehlt werden, wenn man jemanden beispielsweise eines Verbrechens bezichtigt, nur um eine Gelegenheit zu haben, ihn vor Gericht zu verteidigen, oder wenn man jemanden mit einer Krankheit infiziert, nur um eine Gelegenheit zu haben, ihn zu heilen.848 Außerdem dürfen wir laut Seneca nicht „[…] vorprellen zur Unzeit, weil in gleicher Weise einen Fehler begeht, wer damit zögert, im angemessenen Augenblick Dank abzustatten, wie wer im unpassenden sich übereilt.“849 Das tatsächliche Wie würde demzufolge dann zum normativen Wann passen, wenn man sich im angemessenen Augenblick mit der Erwiderung beeilt und im unpassenden damit wartet. B)
Das Wo
– C)
Das Wie
Seneca thematisiert die Umstandskategorie des Wie, was die Erwiderung einer Wohltat angeht, nur in Verbindung mit dem normativen Wann.850 Aus der Analyse seiner Bemerkungen hierzu ergibt sich aber, dass jemand dem normativen Wie nur gerecht wird, wenn er einer Person die Erwiderung ihrer Wohltat mit der richtigen Einstellung schuldet, nämlich gern, sich über das von ihr Hinterlegte – das Depositum – freuend und, wie man hinzufügen könnte, ohne innere Beunruhigung (secure).851
s
847 848
849
850 851
moralisch unausgereifte Freude ist, die nicht dem Depositum selbst gilt – als Wohltatsmaterie –, sondern der darin erblickten Möglichkeit, eine Wohltat jederzeit erwidern zu können. Vgl. Sen. benef. 6,41,1. In ebd., 6,25,2–30,1 bespricht Seneca Fälle, in denen sich jemand eine unangenehme Situation herbeiwünscht, nur um eine Gelegenheit zu haben, wohltätig sein zu können. In Anlehnung an diese Diskussion habe ich hier zwei Fälle konstruiert, in denen sich jemand nicht nur eine unangenehme Situation herbeiwünscht, sondern sie tatsächlich herbeiführt. Vgl. ebd., 6,43,2: [...] nec procurrendum intempestative, quia aeque delinquit, qui ad referendam gratiam suo tempore cessat, quam qui alieno properat (Übers. Rosenbach, Satzb. modifiziert). Siehe Punkt A) in diesem Unterabschnitt. Vgl. Sen. benef. 6,41,1.
Die actio
D)
321
Das Wer
– E)
Das Wem
Eine Wohltat verpflichtet laut Seneca zur Erwiderung. Galt sie einem persönlich, muss sie der Person erwidert werden, die sie einem erwiesen hat.852 Galt sie nicht einem persönlich, dann ist eine andere Form der Erwiderung vonnöten. Erweist jemand vielen im Sinne einer Gruppe eine Wohltat, dann schuldet nicht jedes Gruppenmitglied, sondern zum Beispiel das Vaterland, wie wenn der Kaiser allen Galliern das römische Bürgerrecht verleiht.853 Das normative Wem hängt bei der Wohltatserwiderung also davon ab, ob die andere Person einem persönlich eine Wohltat erwiesen hat oder mehreren, ohne dabei an einen persönlich zu denken. Im Hinblick auf die persönliche Erwiderung merkt Seneca zudem an, dass man nicht gegen den Willen der Person handeln darf, deren Wohltat erwidert werden soll.854 Will sie nicht, dass wir ihre Wohltat erwidern, sind wir dazu angehalten, ihrem Wunsch Folge zu leisten; will sie, dass wir ihre Wohltat erwidern, geben wir sie ihr fröhlich zurück; will sie, dass ihre Wohltat bei uns aufbewahrt bleibt, soll es so sein.855 Der fremde Wille muss also erkundet werden, bevor eine Wohltat erwidert wird (wie das im Einzelnen geschehen soll, lässt Seneca offen). Erwidert man die Wohltat einer Person ihrem Wunsch entsprechend, erwidert man sie der Person, der man sie erwidern soll (hier würde das tatsächliche Wem zum normativen passen). Bleibt es Y aufgrund eines Zwangs (necessitas) und aufgrund des Schicksals (fatum) verwehrt, X’s erste Wohltat zu erwidern, soll Y dennoch nicht davor zurückschrecken, eine weitere Wohltat von X entgegenzunehmen.856 Daraus lassen sich zwei Dinge folgern: Erstens muss die persönliche Erwiderung nicht um jeden Preis stattfinden, und zweitens scheint es Seneca nicht für wichtig zu halten, dass Wohltaten und ihre Erwiderungen mengenmäßig stets identisch sind. Ein weiterer Punkt, den er für nicht besonders wichtig hält, ist, ob die Person, deren Wohltat s
852 853
854
855 856
Vgl. Sen. benef., 6,18,1–20,2. Vgl. ebd., 6,19,2–4. Dass dies irgendein Kaiser jemals getan hat, ist nicht belegt (vgl. die De beneficiis-Ausgabe von Miriam Griffin und Brad Inwood, S. 204, Anm. 7). Vgl. Sen. benef. 4,40,4: Ne illud quidem existimo faciendum, ut referre gratiam etiam invitis his, quibus refertur, properemus et instemus recedentibus [...] („Auch das, meine ich, dürfen wir nicht tun, eilig Dank abzustatten auch gegen den Willen derer, denen er abgestattet wird, und ihn aufzudrängen, wenn sie zurückweichen [...]“, Übers. Rosenbach). Daran zeigt sich ein Unterschied zum Erweisen einer Wohltat: Man kann laut Seneca einer Person auch gegen ihren Willen eine Wohltat erweisen (vgl. S. 293 und Fußn. 713). Vgl. Sen. benef. 6,43,3. Vgl. ebd., 6,41,2.
322
Die Ethik
man erwidern will, gut oder schlecht ist: Auch die Wohltat eines schlechten Menschen – wie man ihn auf jedem beliebigen Forum finden kann – muss erwidert werden857 (beim Erweisen einer Wohltat sieht er das anders)858. Wenn jemand also die Wohltat eines schlechten Menschen nicht erwidert, dann erwidert er sie jemandem nicht, dem er sie eigentlich erwidern soll (das normative Wem würde in diesem Fall verfehlt werden). F)
Das Warum
Aus welchem Grund eine Wohltat aus Senecas Sicht erwidert werden soll, ist schon dargelegt worden. 859 Geschieht die Erwiderung einer Wohltat um ihrer selbst willen, erwidert man sie aus dem Grund, aus dem man sie erwidern soll. Das tatsächliche Warum stimmt dann mit dem normativen überein. G)
Das Was
Das einzige Indiz zum normativen Was bei der Wohltatserwiderung ist Senecas Gedanke, dass man vieles nicht schulden dürfe. Ihn habe ich im Zusammenhang mit dem normativen Was bei der Wohltatsentgegennahme interpretiert.860 5
Die unterschiedlichen moralischen Entwicklungsstadien
Wer gewollt affektpräventive und affekttherapeutische Techniken anwendet und dadurch bei sich einen geordneten und maßvollen Antrieb erzeugt, den er insbesondere bei der Wohltatserweisung, -entgegennahme und -erwiderung richtig in die Tat umsetzt, der macht moralische Fortschritte. Wie groß sie sind, variiert. Seneca geht von verschiedenen Entwicklungsstadien (gradus) des moralischen Fortschritts aus.861 Er folgt dabei aber nicht immer einem festen Schema. Einmal spricht er von jemandem, der es so weit gebracht hat, „[...] dass er gegen die fortuna wagt die Augen zu erheben, aber nicht andauernd [...]“ (ut contra fortunam audeat attolere oculos, sed non pertinaciter)862 – offenbar denkt er hier an eine moralisch fortschreitende Person im Anfangsstadium, die erkannt hat, dass es ein Schicksal gibt, der es aber noch an gutem Willen fehlt, dieses auch zu akzeptieren. Ein andermal spricht Seneca von jemandem, der so weit an die Tugend herangerückt ist, dass er der fortuna bereits die Stirn bietet (cum illa conferre vultum)863 s
857 858 859 860 861 862 863
Vgl. Sen. benef. 7,20,5. Vgl. ebd. und S. 311f. Vgl. S. 301f. und Fußn. 755. Vgl. S. 317f. Vgl. Sen. epist. 75,8. Ebd., 71,34, Übers. Rosenbach. Vgl. Sen. epist. 71,34.
Die unterschiedlichen moralischen Entwicklungsstadien
323
und insofern schon guten Willen beweist. Des Weiteren redet er von Menschen, die so weit fortgeschritten sind, dass ihnen die Weisheit direkt vor Augen liegt (in conspectu) und sie nur einen Steinwurf weit (sub ictu) von ihr entfernt sind,864 die also beinahe vollkommen im Umgang mit dem Schicksal sind. Diese Menschen sind sogar so weit fortgeschritten, dass sie keine Rückschritte mehr machen: „[...] [S]ie lassen sich nicht erschüttern, verlieren auch nicht einmal an Höhe“ (hi non concutiuntur, ne defluunt quidem)865 – eine Bemerkung, die in gewisser Weise überrascht, bedenkt man, dass Unvollkommenes nach Senecas Auffassung doch notwendigerweise schwankt 866 und es sich hier um Unvollkommenes handelt, nämlich um moralisch Fortschreitende, die ihre Vernunft ebenso wenig vervollkommnet haben wie alle anderen, die sich mit ihnen auf dem Weg zur Weisheit befinden. Menschen, die sich im letztgenannten moralischen Stadium befinden, scheinen für Seneca eine Ausnahme zu bilden: Sie sind die einzigen imperfecti, die es nicht an gutem Willen fehlen lassen und nur noch Fortschritte, keine Rückschritte machen. Bisweilen folgt Seneca jedoch einem mehr oder weniger festen Schema, was die verschiedenen Entwicklungsstadien des moralischen Fortschritts angeht. Im 75. Brief beruft er sich auf bestimmte Leute (quidam), die die moralisch Fortschreitenden allgemein in drei Klassen (tres classes) einteilen.867 Die erste Klass
864
865 866 867
Vgl. Sen. epist. 72,10. Seneca verwendet die Begriffe sapientia und virtus austauschbar. So werde auch ich es im Folgenden handhaben. Ebd., Übers. Rosenbach. Vgl. Sen. epist. 71,35: Imperfecta necesse est labent [...]. Vgl. ebd., 75,8. Rubin will in Chrysipp den Urheber dieser Klassifizierung sehen (vgl. Rubin [1901] 2015, S. 55). Er stützt sich zum einen auf ein Chrysipp-Zitat, das Plutarch in seiner Schrift De Stoicorum repugnantiis („Über die Widersprüche der Stoiker“) anführt. Plutarch will zeigen, dass sich Chrysipp widerspricht, wenn er einerseits sagt, der Weise sei müßig und lebe zurückgezogen, andererseits aber, er werde die Königsherrschaft gerne annehmen und daraus Nutzen ziehen bzw., wenn er selbst nicht herrschen kann, mit einem König zusammenleben und an seiner Seite im Heer mitziehen (vgl. Plut. de Stoic. rep. 1043 A–C). Nach Plutarch hat Chrysipp dem letzten Punkt noch hinzugefügt (und um diese Äußerung geht es Rubin offenbar), dass der Weise nicht nur mit solchen Königen zusammenleben und im Heer mitziehen werde, die „[...] einen gewissen Fortschritt erreicht haben, sowohl in der Erziehung als auch in irgendwie beschaffenen Sitten“ (οὐ μόνον δὲ μετὰ τῶν προκεκοφότων ἐπὶ ποσὸν καὶ ἐν ἀγωγαῖς καὶ ἐν ἔθεσι ποιοῖς γεγονότων, ebd., 1043 D, eig. Übers.). Für Plutarch passt das alles nicht zusammen und mit einer gewissen Ironie fragt er, ob denn das Leben eines Mannes, der Müßigkeit und Zurückgezogenheit wählt und dann aus irgendeiner Notwendigkeit heraus mit den Skythen reiten geht und sich um die Belange der Tyrannen am Bosporus kümmert, harmonisch sein könne (vgl. Plut. de Stoic. rep. 1043 C). Rubin führt außerdem Stobaios als Gewährsmann für seine Annahme an, dass die von Seneca präsentierten drei Klassen des moralischen Fortschritts von Chrysipp stammen. Stobaios zitiert im fünften Buch seines Anthologium unter dem Themenpunkt „Über Glückseligkeit“ Chrysipp mit den Worten: Ὁ δ’ ἐπ’ ἄκρον, φησί, προκόπτων ἅπαντα πάντως ἀποδίδωσι
324
Die Ethik
se868 besteht aus denen, die der Weisheit sehr nahegekommen und bereits aller Affekte (affectus) und Laster (vitia) ledig sind. Angehörige dieser Klasse haben alles, was zu lernen war, gelernt und können keine Rückschritte mehr machen (sie stehen somit für jenen zuvor beschriebenen Ausnahmefall der nicht schwankenden imperfecti). Dennoch haben sie die Tugend noch nicht so eingeübt, dass sie sich zur Disposition verfestigt hat, es mangelt ihnen noch an praktischer Erfahrung (usus). Die zweite Klasse869 besteht dagegen aus denen, die die stärksten Affekte und größten Laster überwunden haben, jedoch jederzeit wieder in ihren alten Zustand zurückfallen können. Und schließlich gibt es noch eine dritte Klasse,870 zu der moralisch Fortschreitende gehören, die viele schwerwiegende moralische Fehltritte (multa et magna vitia) nicht mehr begehen, sich aber noch zu einigen hinreißen lassen – sie sind der Habsucht (avaritia) entkommen, geraten aber noch in Wut (ira); sie haben sich von der Wollust (libido) befreit, nicht aber vom Ehrgeiz (ambitio); sie begehren nicht mehr (concupiscere), fürchten aber noch (timere). Auch die Zahl der Gegenstände, auf die sich ihre Affekte beziehen, hat sich reduziert. So fürchten sie nicht mehr vieles, sondern nur noch manches, zum Beispiel nicht mehr den Tod, dafür aber den Schmerz (dolor). Bescheiden merkt Seneca an, dass er und Lucilius sich glücklich schätzen können, wenn sie zu dieser Klasse gerechnet werden.871 Wird die Tugend erworben – wird das Ziel moralischen Fortschritts und sozusagen das höchste moralische Entwicklungsstadium erreicht –, hört jegliches Schwanken auf. Die Tugend befähigt eine Person dazu, in jeder Lebenslage ein
s
868
869 870 871
τὰ καθήκοντα καὶ οὐδὲν παραλείπει. τὸν δὲ τούτου βίον οὐκ εἶναί πω φησὶν εὐδαίμονα, ἀλλ’ ἐπιγίνεσθαι αὐτῷ τὴν εὐδαιμονίαν, ὅταν αἱ μέσαι πράξεις αὗται προσλάβωσι τὸ βέβαιον καὶ ἑκτικὸν καὶ ἰδίαν πῆξιν τινὰ λάβωσιν („Der eine, sagt er, schreitet zur Spitze fort und erfüllt die moralischen Pflichten und lässt nichts unbeachtet. Sein Leben aber, sagt er, ist noch nicht glückselig, sondern ihm folgt die Glückseligkeit, wenn die gleichmäßigen Handlungen das Sichere und Habituelle gewinnen und eine eigentümliche Festigkeit zeigen“, Stob. anthol. 5,906,18–907,5). Meines Erachtens lässt sich weder aus dem Chrysipp-Zitat bei Plutarch noch aus dem bei Stobaios ableiten, dass die von Seneca präsentierten drei Klassen des moralischen Fortschritts von Chrysipp stammen. Aus den Zitaten lässt sich nicht einmal ableiten, dass Chrysipp irgendeine Klassifizierung moralisch Fortschreitender vorgenommen hat. Somit kann nicht genau gesagt werden, wer die quidam sind, auf die sich Seneca hier bezieht. Ähnlich äußert sich Hengelbrock 2000, S. 44, Fußn. 28, wenngleich er Rubins Annahme zumindest plausibel findet: „Eine eindeutige Zuweisung des hier vorgestellten Schemas an Chrysipp scheint naheliegend, aber kaum beweisbar [...].“ Vgl. Sen. epist. 75,9. Seneca verweist auch auf Leute (quidam), die die moralisch Fortschreitenden dieser Klasse etwas anders charakterisieren (vgl. ebd., 75,10). Ihnen zufolge haben sie zwar keine Laster mehr, aber immer noch Affekte. Vgl. ebd., 75,13. Vgl. ebd., 75,14. Vgl. ebd., 75,15.
Die unterschiedlichen moralischen Entwicklungsstadien
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richtiges und unverrückbares Urteil (iudicium verum et immotum) zu fällen.872 Von diesem Urteil, so führt Seneca im 71. Brief aus:873 [...] enim impetus venient mentis, ab hoc omnis species quae impetum movet redigetur ad liquidum. [...] rühren nämlich die Antriebe der Seele, von ihm wird jede Erscheinung, die einen Antrieb anregt, zur Klarheit gebracht.
Diese Äußerung wirft gleich mehrere interpretatorische Schwierigkeiten auf. Merkwürdig erscheint zunächst, dass die Antriebe der Seele von dem richtigen und unverrückbaren Urteil herrühren sollen, schließlich ist auch ein Affekt ein Antrieb, wie Seneca selbst häufiger betont, aber keiner, der auf ein richtiges und unverrückbares Urteil zurückgeht. Er meint sicherlich, dass die weise Person mit ihrem richtigen und unverrückbaren Urteil Antriebe einer bestimmten Art hervorbringt – stützt man sich auf den 89. Brief, handelt es sich um solche, die geordnet und maßvoll sind.874 Ebenso mag Senecas Annahme verwundern, dass die Antriebe der Seele von einem Urteil herrühren, war doch zu sehen, dass er bei der Entstehung von Wut mindestens drei Urteile veranschlagt: zwei Werturteile („Ich bin verletzt worden“ und „Ich hätte nicht verletzt werden dürfen“) und ein normatives Urteil („Das muss vergolten werden“ oder „Ich muss mich rächen“ oder „Der Mann da muss eine Strafe erleiden“).875 Was Seneca vermutlich sagen will, ist, dass das richtige und unverrückbare Urteil, das den geordneten und maßvollen Antrieb auslöst, ein einziges ist. Das bedeutet, es ist nicht ausgeschlossen, dass zuvor noch weitere richtige und unverrückbare Urteile gefällt werden, die notwendig für das Zustandekommen eines geordneten und maßvollen Antriebes sind. Letztlich hängt aber alles von dem richtigen und unverrückbaren normativen Urteil ab: Wird dieses nicht gefällt, entwickelt die weise Person auch keinen geordneten und maßvollen Antrieb. Die letzte interpretatorische Schwierigkeit betrifft den Punkt, dass das richtige und unverrückbare normative Urteil eine antreibende Erscheinung zur Klarheit bringt. Am besten zieht man dafür eine Situation heran, in der eine nichtweise Person in Wut geriete:
s
872
873 874 875
Vgl. Sen. epist. 71,32: Quid erit haec virtus? Iudicium verum et immotum [...] („Was kann diese Tugend sein? Ein richtiges und unverrückbares Urteil“, eig. Übers.). Vgl. auch Sen. epist. 30,12, wo Seneca sagt, die Ruhe des Weisen stamme aus einem sicheren Urteil (ex iudicio certo tranquillitas est). Für die Frage, inwiefern decreta und praecepta auch noch für den Weisen eine Rolle spielen, vgl. Brüllmann 2019, S. 23–25, der allerdings nur allgemein von „Regeln“ (rules) spricht. Sen. epist. 71,32, Übers. Rosenbach, modifiziert. Vgl. Sen. epist. 89,14 und S. 25. Vgl. S. 109f.
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Die Ethik
Auch der weisen Person kann im ersten Moment etwas als ein Unrecht erscheinen, und ebenso kann ihr ein Voraffekt widerfahren, der von ihrer Unrechts-Erscheinung unmittelbar ausgelöst wird. Aber in jedem Fall wird sie sich danach immer anders verhalten als eine nichtweise Person, und zwar bezüglich jedes der nachfolgenden Handlungsmomente. Ihr faktisch formuliertes konstatierendes Werturteil wird zum Ausdruck bringen, dass ihr kein Übel, sondern etwas zurückgesetztes Indifferentes widerfahren ist, zum Beispiel ein physischer Schaden. Dass sie daraufhin das kontrafaktisch formulierte konstatierende Werturteil fällt, dass ihr dieser nicht hätte widerfahren dürfen, ist ausgeschlossen, denn das würde implizieren, dass sie die vortreffliche Wirkweise des Schicksals infrage stellt. Da der physische Schaden aus ihrer Perspektive nur etwas zurückgesetztes Indifferentes ist, wird sie keinen Grund für Rache sehen. Vielmehr wird sie sich so etwas sagen wie: „Jene Person hat mir zwar absichtlich einen physischen Schaden zugefügt, aber ein unbändiges Verlangen nach Rache zu entwickeln, wäre unmoralisch“, oder: „Die Person, die mir absichtlich einen physischen Schaden zugefügt hat, sollte nach geltendem Recht bestraft werden, weil sie illegal gehandelt hat“ (Seneca schließt Strafe nicht generell aus, auch sie kann als Heilmittel fungieren – aber ohne Wut und mit dem Gedanken, dass es nützlich ist, und nicht, dass es süß ist, zu strafen). 876 Sobald die weise Person Aussagen solchen Gehalts zustimmt und neben richtigen konstatierenden Werturteilen ein richtiges normatives Urteil fällt, bringt sie den phänomenalen Gehalt ihrer Unrechts-Erscheinung „zur Klarheit“ und erzeugt bei sich einen geordneten und maßvollen Antrieb, den sie anschließend, sofern nichts dazwischenkommt, angemessen in die Tat umsetzt.877 Für alle diese Handlungsmomente benötigt sie, weil sie über Wissen verfügt, keine remedia. Eine angemessene Umsetzung ihres Antriebes könnte beispielsweise darin bestehen, dass sie gerichtlich gegen den Delinquenten vorgeht, mit dem Gedanken, dass es ihm nützt, wenn er bestraft wird (denn so käme er zu der Einsicht, dass er eine Straftat begangen hat, und würde dadurch davon abgeschreckt, eine weitere zu begehen).878 s
876
877
878
Vgl. Sen. dial. 4,33,1; 5,15,2 (= de ira 2,33,1; 3,15,2) sowie S. 151 und Fußn. 599/600. Somit ist es nicht paradox zu sagen, der Weise erleide kein Unrecht und „[...] dennoch wird, wer ihn mit der Faust geboxt hat, wegen Körperverletzung verurteilt [...]“ (vgl. Sen. benef. 2,35,2, Übers. Rosenbach, modifiziert). Genauso kann dem Weisen nichts weggenommen werden, und trotzdem ist es möglich, dass er einem Diebstahl zum Opfer fällt (vgl. Sen. benef. 7,7,4). In beiden Fällen ist die Erlebnisperspektive von der rechtlichen Perspektive zu unterscheiden: Die weise Person glaubt nicht, dass sie eine Körperverletzung oder einen Diebstahl erlitten hat; sie glaubt allenfalls, dass das, was ihr widerfahren ist, rechtlich gesehen eine Körperverletzung oder ein Diebstahl ist. Die voluntas der weisen Person ist stets contumax (vgl. S. 112). Da sie weiß, was gut und schlecht ist sowie was getan und unterlassen werden soll, lässt sie sich von ihrem Voraffekt nicht beirren und fällt alle ihre Urteile geradeheraus und ohne zu zögern. Ob der Delinquent tatsächlich zu dieser Einsicht gelangt, steht natürlich nicht in der Macht der weisen Person. Aber darum geht es auch nicht. Es geht um die Absicht, mit
Lob und Tadel
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Lob und Tadel
Seneca weiß, dass im Bereich menschlicher Praxis auch Lob und Tadel eine Rolle spielen. In jedem Fall findet sich bei ihm ein dezidiert moralisches Verständnis beider Bewertungsweisen, das stoisch gefärbt ist. Gelobt werden muss am Menschen nur das, was wirklich ihm gehört (ipsius est), und das ist nicht die Dienerschaft, ein schönes Haus, viel Fruchtland, Geld und dergleichen – solche Dinge befinden sich nur „um ihn herum“ (circa ipsum) und können ihm jederzeit wieder genommen werden.879 Was wirklich ihm gehört und damit nicht leicht verlierbar ist, befindet sich vielmehr in ihm (in ipso), nämlich seine Seele, genauer gesagt: die in ihr zur moralischen Vollkommenheit gebrachte Vernunft (ratio in animo perfecta).880 Diese Vernunft, die mit der Tugend gleichzusetzen ist, muss gelobt werden; sie ist das wahre Eigentum eines Menschen und seine ganz eigene Leistung (opus).881 Doch ist nicht auch ein selbst gebautes schönes Haus eine ganz eigene Leistung? Seneca würde darauf sicherlich erwidern, dass das Schicksal eine nicht unerhebliche Rolle bei dessen Vollendung spielte. Dass sich in der Bauphase beispielsweise keine Naturkatastrophen ereigneten, ist auf das Schicksal zurückzuführen. Dem Gedanken entsprechend, dass das feste und nicht das fluktuierende Eigentum lobenswert ist, empfiehlt Seneca Lucilius, den Blick bei der Einschätzung einer Person ausschließlich auf deren Seele zu richten (animum intuere).882 Lucilius erkennt die moralische Qualität, wenn er alle Äußerlichkeiten – all das, was die Vernunft des anderen Menschen umgibt – ausblendet: „[...] [N]ackt betrachte [den Menschen]: Er lege ab sein Vermögen, er lege nieder seine Ehrenämter und andere Gaukeleien der fortuna, des Körpers selbst entäußere er sich [...].“ 883 Seneca denkt, dass man die fremde Seele mit „dem inneren Auge“ (lumen) sehen kann; mit den im Gesicht sitzenden Augen kann man nur Äußerliches wahrnehmen.884 Letztlich steht das lumen aber nur für den animus: Durch seinen Einsatz erkennt man die Seele des anderen.885 Man entfernt gedanklich all das, was sie s
879 880 881 882 883 884 885
der die weise Person bestrafen will. Ihre Absicht ist, den Delinquenten zu bessern, nicht ihm zu schaden (vgl. Sen. dial. 2,12,3 [= const. sap. 12,3], Übers. Apelt, modifiziert): „[Interlokutor:] ‚Wenn die weise Person weder Unrecht noch Beschimpfung erleidet, warum bestraft sie dann diejenigen, die solche Dinge getan haben?‘ [Seneca:] Es handelt sich für sie nicht um Rache für sich, sondern um Besserung für sie“ (Non enim se ulciscitur, sed illos emendat). Dem Delinquenten zu schaden wäre die Absicht einer wütenden Person. Vgl. Sen. dial. 2,41,7 (= const. sap. 41,7). Vgl. Sen. epist. 41,8. Vgl. ebd., 90,44. Vgl. ebd., 76,32. Vgl. ebd., Übers. Rosenbach, modifiziert. Vgl. Sen. dial. 7,2,2 (= vit. beat. 2,2). Vgl. ebd.
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Die Ethik
umgibt, und dringt so zu ihr selbst vor. Die gedankliche Entkleidung von allem Indifferenten und Schälung hin zum geistigen Kern scheint jedoch überhaupt erst dann in Gang kommen zu können, wenn man beobachtet, wie sich die andere Person verhält:886 Si rectis oculis gladios micantes videt et si scit sua nihil interesse utrum anima per os an per iugulum exeat, beatum voca; si cum illi denuntiata sunt corporis tormenta et quae casu veniunt et quae potentioris iniuria, si vincula et exilia et vanas humanarum formidines mentium securus audit [...]. Wenn er [gemeint ist irgendjemand] mit festem Blick die Schwerter gegen sich gezückt sieht, wenn er weiß, dass es ihm gleichviel gelten kann, ob seine Seele durch den Mund oder durch die Kehle entweicht, dann nenne ihn glücklich. Nenne ihn glücklich, wenn er angesichts bevorstehender Körperqualen, wie sie entweder das Schicksal oder die Gewalttätigkeit eines Mächtigeren herbeiführt, gelassen die Ankündigungen von Kerker, Verbannung und sonstigen nichtigen Schrecknissen des Menschengemütes hört [...].
Seneca sagt zwar nicht ausdrücklich, dass die Person, die angesichts aller ungünstigen Gegebenheiten furchtlos bleibt, tugendhaft ist und darum gelobt werden muss. Der Umstand, dass sie glücklich zu nennen ist, lässt aber darauf schließen. Denn glücklich ist eine Person für ihn (wie für alle anderen Stoiker) nur dann, wenn sie die Tugend erworben hat. Und sobald sie in ihren Besitz gelangt ist, muss sie, wie gerade zu sehen war, gelobt werden. Wie steht es aber nun mit Senecas Konzept des Tadelns? Zweifellos kann ihm die Ansicht zugeschrieben werden, dass kein Mensch für eine Sache getadelt werden dürfe, die sich „um ihn herum“ befindet, wie etwa für sein Haus, seine Armut, seinen Körper oder seine soziale Rolle. Wer den Menschen nach seinem Äußeren beurteilt oder nach der Stellung, die er bekleidet, ist stockdumm (stultissimus).887 Begründen lässt sich dies ähnlich wie im vorhergehenden Fall: Diese Dinge unterstehen der Zwingherrschaft des Schicksals und sind somit etwas, auf das wir allenfalls bedingt Einfluss haben. Daraus den Schluss zu ziehen, dass die moralische Unvollkommenheit unserer Seele allein unsere Sache ist, wäre aber unvereinbar mit Senecas eigenen Anschauungen. Ob sich Laster bei uns ausbilden oder nicht, hängt ihm zufolge zwar insofern von uns ab, als sie das s
886 887
Sen. epist. 76,33, Übers. Apelt, modifiziert. Vgl. Sen. epist. 47,16. Im sogenannten Sklavenbrief verfolgt Seneca die Absicht, Sklavenbesitzer zu einem menschenwürdigeren Umgang mit ihren Sklaven anzuhalten (vgl. Horn 1998, S. 47). Es gebe keinen Grund, warum Sklaven schlechter behandelt werden sollten als andere Menschen. Dafür, dass sie Sklaven sind, können sie nichts. Wofür sie aber etwas können, ist ihr moralischer Charakter, denn den gibt sich jeder selbst (sibi quisque dat mores, Sen. epist. 47,15). Allerdings kann dieser Gedanke, wie gleich zu sehen sein wird, nicht so zu verstehen sein, dass jeder voll verantwortlich für seine Laster ist.
Lob und Tadel
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Resultat von Affekten sind – denn Affekte entstehen durch unsere Zustimmung, die in unserer Macht steht. Unser soziales Umfeld hat aber das Potenzial, bei uns auch ohne unser eigenes Zutun Laster zu verursachen. Sich der Gefahr, die davon ausgeht, bewusst, sagt Seneca einmal zu Lucilius: „Du irrst nämlich, wenn du meinst, die Laster seien angeboren: Sie überkommen uns, sind uns aufgenötigt.“888 Andernorts behauptet er, man stecke sich mit Lastern wie mit einer Krankheit an.889 Eine Person allein deshalb zu tadeln, weil ihre Seele Laster aufweist, wäre also teils gerechtfertigt, teils nicht: Gerechtfertigt wäre es, wenn sie selbst für deren Ausbildung zu verantworten ist; ungerechtfertigt, wenn nicht. Die Dinge liegen hier also nicht so klar auf der Hand wie bei einer Person, die die Tugend erworben hat – sie ist uneingeschränkt lobenswert. Ein Mensch mit einer moralisch unvollkommenen Vernunft ist dagegen nur eingeschränkt tadelnswert: Sind seine Laster selbstverschuldet, ist er zu tadeln, sind sie fremdverschuldet, sollte der Tadel zurückgehalten werden.890 Schon eine schlechte Erziehung scheint laut Seneca zur unwillkürlichen Ausbildung von Lastern führen zu können. Wird etwa ein stark ausgeprägtes geistiges Feuerelement nicht abgekühlt (zum Beispiel durch Spiele),891 kann das dazu führen, dass man zu einem jähzornigen Menschen heranwächst.892 Die Abkühlung eines stark ausgeprägten geistigen Feuerelements schüfe hingegen nur eine gute Voraussetzung für den Tugenderwerb – eine ausgezeichnete Erziehung allein bringt noch keinen tugendhaften Menschen hervor. Lob und Tadel im streng moralischen Sinne können bei Kindern somit keine Anwendung finden, weil sie an Tugenden und Lastern noch noch nicht teilhaben: Den Tugenderwerb müssen sie im Erwachsenenalter selbst angehen; Laster sind – wenn überhaupt – das Ergebnis s
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889
890
891 892
Vgl. Sen. epist. 94,55: Erras enim si existimas nobiscum vitia nasci: supervenerunt, ingesta sunt (Übers. Rosenbach, modifiziert). Vgl. Sen. dial. 5,8,1 (= de ira 3,8,1): […] et ut quaedam in contactos corporis vitia transiliunt, ita animus mala sua proximis tradit […] („[…] und wie manche Krankheiten des Körpers auf die Berührten übergehen, so gibt die Seele ihre Übel an die nächste Umgebung weiter“, Übers. Rosenbach, modifiziert). Zum Unfreiwilligkeitsaspekt von Lastern aus stoischer Sicht vgl. auch Inwood 2018, S. 54f. Es ist schwierig zu bestimmen, wann Laster selbstverschuldet sind und wann nicht. Seneca geht diesem Problem nicht auf den Grund. Vgl. dazu S. 199. Jähzorn (iracundia) ist Seneca zufolge ein Laster – das lässt sich aus Sen. epist. 85,15 schließen. Dort führt er ähnlich wie in Sen. dial. 3,4,1 (= de ira 1,4,1) aus, dass auftretende Wut oder Furcht (irasci/timere) nicht bedeuten muss, dass jemand jähzornig (iracundum) oder furchtsam (timidum) ist. Eine sich fürchtende Person kann vom Laster der Furcht (vitium timoris) – der Furchtsamkeit – frei sein. Er betont allerdings, dass die sich fürchtende Person nicht von der Empfänglichkeit für das Laster der Furchtsamkeit frei ist – sie kann dieses Laster immer noch ausbilden, wenn sie weiterhin in Furcht gerät. Genauso verhält es sich mit der Wut: Die wütende Person kann vom Laster der Jähzornigkeit frei sein. Wenn sie jedoch weiterhin in Wut gerät, wird sie es ausbilden.
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einer schlechten Erziehung.893 Das bedeutet für Seneca jedoch nicht, dass Kinder nicht trotzdem gelobt oder getadelt werden sollen: „Der feurige junge Geist […] richtet sich auf, wenn er gelobt wird [assurgit si laudatur], und wird dahin geführt, zuversichtlich von sich etwas Großes und Gutes zu erwarten. Aber genau diese Dinge erzeugen auch Überheblichkeit und Jähzornigkeit [sed eadem ista insolentiam et iracundiam generant].“ 894 In einem kinderpädagogischen Kontext ist Seneca demnach eher an der psychischen Wirkung von Lob und Tadel als an deren Gegenstand interessiert, weil es bei Kindern im streng moralischen Sinne eben noch nichts zu loben oder zu tadeln gibt. Wenn man eine feurige junge Seele lobt, riskiert man, dass die Hitze in ihr noch weiter steigt, und das kann wiederum zur Folge haben, dass sie zu einem jähzornigen Menschen heranwächst. Weniger Lob wäre in diesem Fall mehr.895 Um zu den Erwachsenen zurückzukehren: Was denkt Seneca über das Loben von Menschen mit einer moralisch unvollkommenen Vernunft? Was ist, wenn klar ist, dass eine Person die Tugend noch nicht erworben hat – sollte bei ihr das Lob dann zurückgehalten werden? Die Annahme scheint plausibel, dass sie zumindest insofern lobenswert ist, als sie einen guten Willen hat. Seneca könnte diese Annahme teilen, je nachdem wie man eine Passage aus dem fünften Buch seiner Schrift De beneficiis auslegt. Bezug nehmend auf das Diktum, dass es schimpflich ist (turpe esse), sich in Wohltaten übertreffen zu lassen, schreibt er dort:896 Non omnes ad bonum propositum easdem afferunt vires, easdem facultates, eandem fortunam, quae optimorum quoque consiliorum dumtaxat exitus temperat; voluntas ipsa rectum petens laudanda est, etiam si illam alius gradu velociori antecessit: non ut in certaminibus ad spectaculum editis meliorem palma declarat, quamquam in illis quoque saepe deteriorem praetulit casus. Ubi de officio agitur, quod uterque a sua parte esse quam plenissimum cupit, si alter plus potuit et ad manum habuit materiam sufficientem animo suo, si illi, quantum conatus est, fortuna permisit, alter autem voluntate par est, etiam si minora, quam accepit, reddidit aut omnia non reddidit, sed vult reddere et toto in hoc intentus est animo, non magis victus est, quam qui in armis moritur, quem occidere facilius hostis potuit quam avertere. Nicht alle bringen für ein wertvolles Vorhaben dieselben Kräfte mit, dieselben Möglichkeiten, dieselben Lebensumstände, die auch bei den wertvollsten Plänen s
893
894 895
896
Schlecht Erzogene werden es demzufolge schwerer haben, die Tugend zu erwerben. Bedenkt man, dass Laster nach Senecas Auffassung so hartnäckig sein können, dass sie durch nichts heilbar sind (vgl. S. 178 und Fußn. 111), könnte man sogar sagen: Eine besonders schlechte Erziehung macht den Tugenderwerb unmöglich. Vgl. Sen. dial. 4,21,3 (= de ira 2,21,3), Übers. Wildberger. Das Thema der psychischen Wirkung von Tadel bei Kindern wird von Seneca nicht explizit behandelt, obwohl es sinnvoll und lohnenswert wäre, darüber Überlegungen anzustellen. Hat Tadel bei Kindern, die zum Beispiel ein stark ausgeprägtes geistiges Feuerelement besitzen, eher einen positiven oder negativen Effekt? Sen. benef. 5,2,2, Übers. Rosenbach, modifiziert.
Lob und Tadel
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wenigstens das Ergebnis begrenzen; der Wille allein schon, wenn er das moralisch Richtige sucht, muss gelobt werden, auch wenn ihm ein anderer mit schnellerem Schritt zuvorgekommen ist: Nicht wie bei Wettkämpfen, die als Schauspiel gegeben werden, den Besseren die Siegespalme bezeichnet, obwohl auch hier oft das Schicksal den Schlechteren vorzieht. Sobald es sich um eine Pflicht handelt, die jeder von beiden seinerseits möglichst weit erfüllt zu sehen wünscht – wenn der eine mehr vermochte und zur Hand hatte seiner inneren Einstellung entsprechende materielle Möglichkeiten, wenn ihm, was er will, seine Lebensstellung gestattet hat, der andere aber in seinem Wollen gleich steht, auch wenn er weniger, als er erhalten hat, seinerseits gegeben oder nicht alles vergolten hat, sondern vergelten will und sich geistig ganz auf dieses Ziel ausrichtet, dann ist er ebenso wenig besiegt worden wie einer, der in Waffen stirbt, den der Feind leichter töten konnte als in die Flucht schlagen.
Seneca stellt hier zwei Personen mit unterschiedlichen materiellen und immateriellen Ressourcen gegenüber und untersucht, ob ihre unterschiedliche Ausgangslage eine Auswirkung auf ihre Erwiderung einer Wohltat hat. Sie hat eine Auswirkung, insofern es der mächtigeren Person897 leichter fällt, die Wohltatsmaterie zu besorgen. Die weniger mächtige Person kann die Erwiderung einer Wohltat aber genauso wollen wie die mächtigere – ihre geringere Macht wirkt sich nicht zwangsläufig auf ihr Wollen aus. Darum ist sie der mächtigeren Person auch nicht unterlegen bzw. die mächtigere ihr überlegen, weil es auf den das moralisch Richtige suchenden Willen ankommt und nicht darauf, wie viel Macht jemand besitzt.898 Versteht man die beiden Personen als proficientes, kann man zudem festhalten, dass für Seneca bisweilen schon der gute Wille und nicht nur die Tugend lobenswert ist.899 s
897 898
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Ich setze das Verfügen über materielle und immaterielle Ressourcen mit Macht gleich. Wenn eine Person ihr Bestes getan hat, um eine Wohltat zu vergelten, aber keinen Erfolg hatte, hat sie sie laut Seneca trotzdem vergolten (vgl. Sen. benef. 7,14,1–16,4). Beim Erweisen einer Wohltat scheint er das anders zu sehen: Eine Wohltat ist erst dann eine Wohltat, wenn ihr eine richtige Einstellung zugrunde liegt und das Beabsichtigte erreicht wird (vgl. ebd., 6,11,3). Man schuldet dem ja auch nichts, der uns Geld leihen wollte, es aber nicht gegeben hat (vgl. ebd., 6,11,4). Damit will Seneca offenbar sagen: Allein Wohltaten verpflichten zur Erwiderung; eine nur mit der richtigen Einstellung versuchte, aber nicht erfolgreich ausgeführte Wohltat ist aber keine Wohltat; also verpflichtet die nur mit der richtigen Einstellung versuchte Wohltat auch nicht zur Erwiderung. Diese Überlegungen sind problematisch, weil sie – wenn meine Interpretation zutrifft – Senecas Auffassung widersprechen, dass eine Wohltat eine reine Einstellungssache ist. Der Erfolg einer Wohltat wird nicht allein durch die richtige Einstellung garantiert, mit der ihre Erweisung in Angriff genommen wird; sie muss auch bei der anderen Person ankommen. Und ob dies geschieht, hängt vom Walten des Schicksals ab. Nach diesem Gedankengang ist eine Bedingung für das Vorliegen einer Wohltat extern. Es könnte sich theoretisch auch um Weise handeln. Ihr Wille wäre dann als ein weit stärkerer guter Wille zu verstehen als der gute Wille eines/einer proficiens, nämlich als
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Die Ethik
Stellenweise scheint Seneca auch eine bestimmte Entscheidung für lobenswert zu halten – selbst wenn sie von einer nichtweisen Person getroffen wird. Dies kann dem dritten Buch von De beneficiis entnommen werden. Seneca will dort unter anderem zeigen, dass Sklaven ihren Herren Wohltaten erweisen können.900 Dafür greift er auf eine nicht von ihm stammende Unterscheidung zwischen Wohltaten (beneficia), Verpflichtungen (officia) und Dienstleistungen (ministeria) zurück. Diejenigen, die sie machen, äußern sich nach seiner Darstellung auch über die einzelnen Bestandteile dieser Differenz: Eine Wohltat wird von einem Außenstehenden erwiesen (ein Außenstehender [alienus] ist jemand, der nicht kritisiert wird, wenn er nicht gibt); eine Verpflichtung entsteht unter Verwandten, wenn einer von ihnen auf Hilfe angewiesen ist, und eine Dienstleistung ist das, was ein Sklave für einen Ranghöheren tut, „[…] sodass er [ihm] nichts von dem, was er [für ihn] leistet, […] als Verdienst in Rechnung setzt“901 – ein Sklave folgt seinem Herrn auf einer Reise, steht ihm bei, wenn er krank ist, und bestellt sein Land. Wenn er diese Dinge tut, sind es Dienstleistungen; bei einem Außenstehenden wären es Wohltaten.902 Es wären deshalb Wohltaten, weil es dem Außenstehenden gestattet ist (licere), sie zu geben oder nicht zu geben.903 Dem Sklaven ist dies aber nicht vergönnt: „[…] [Er] hat keine Möglichkeit zum Verweigern“ (non habet negandi potestatem).904
s
900
901 902 903 904
ein Wille, der das moralisch Richtige immer und das moralisch Falsche niemals will. Einen solchen Willen zu loben, wäre letztlich nichts anderes, als die Tugend zu loben, weil er erst durch sie zu dem Willen wird, der er ist. Aber auch wenn man den Fall so konstruiert, wird keine der beiden Personen von der anderen übertroffen. Denn das, worauf es Seneca bei der Wohltatserwiderung ankommt, ist der Wille, und der ist bei weisen Personen immer gleich. Egal wie viel Macht sie haben, sie wollen immer dasselbe und dasselbe nicht. Etwas später im Text sagt Seneca sinngemäß auch, es komme bei der Wohltatserwiderung auf die richtige Einstellung an (vgl. Sen. benef. 5,4,1, Übers. Rosenbach, modifiziert): „[…] [N]iemand [nemo] kann übertroffen werden durch Wohltaten, wenn er weiß, in einer Schuld zu sein, wenn er Dank abstatten will; wenn er auch wegen der Verhältnisse [rebus] nicht kann, steht er doch durch seine Einstellung [animo] auf einer Stufe.“ Von zwei Personen – ob nun weise oder nach Weisheit strebend – übertrifft also keine die andere, wenn beide die Erwiderung einer Wohltat mit der richtigen Einstellung angehen, aber nur eine von ihnen „wegen der Verhältnisse“ Erfolg hat. Man kann an diesem und an den vorherigen Fällen sehen, dass Seneca die Erwiderung einer Wohltat nicht von äußeren Bedingungen abhängig macht. Ob Sklaven ihren Herren Wohltaten erweisen können, ist eine Frage, die, wie Seneca anmerkt, schon Hekaton gestellt hat (vgl. Sen. benef. 3,18,1), der Schüler des Panaitios (vgl. Steinmetz 1994, S. 662–665 und 668f.). Zu seinem möglichen Einfluss auf Senecas De beneficiis vgl. Chaumartin 1985, S. 31–53. Vgl. Sen. benef. 3,18,1, Übers. Rosenbach. Vgl. Sen. benef. 3,19,1. Vgl. ebd. Vgl. ebd., Übers. Rosenbach.
Lob und Tadel
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Seneca bestreitet nicht, dass ein Sklave ein Dienstleister ist (er bezeichnet ihn mit Chrysipp als „Langzeitdienstleister“ [perpetuus mercennarius]).905 Aber der Umstand, dass er ein Dienstleister ist, hat nicht die Konsequenz, dass er keine Wohltaten erweisen kann: Wenn ein Sklave mehr tut, als seine Stellung von ihm fordert, und er nicht zu dem, was er darüber hinaus tut, gezwungen wird, leistet er eine Wohltat.906 Eines der vielen exempla, die Seneca anführt, um zu zeigen, dass Sklaven ihren Herren Wohltaten erweisen können,907 entnimmt er dem 18. Buch der Annalen des römischen Historikers Claudius Quadrigarius.908 Die in Lukanien liegende römische Stadt Grumentum wurde während des Bundesgenossenkrieges so sehr belagert, dass ihre Bewohner in Verzweiflung stürzten.909 Die ausweglose Lage bewog wohl zwei Sklaven dazu, ihre Herrin zurückzulassen und sich der feindlichen Seite anzuschließen. Nachdem Grumentum eingenommen war und überall die Sieger herumliefen, seien sie zum Haus ihrer Herrin zurückgekehrt und hätten sie wie eine Gefangene aus der Stadt gebracht. Darauf angesprochen, wen sie denn da vor sich hertreiben und warum, erklärten sie, dass sie ihre grausame Herrin zur Hinrichtung führten. Außerhalb der Stadt hätten sie sie aber mit größter Fürsorge verborgen und solange gewartet, bis sich die Wut der Feinde legte und es für sie keine Gefahr mehr darstellte, sich in Grumentum aufzuhalten. Als dieser Moment gekommen war, seien die Sklaven mit ihrer Herrin zurückgekehrt. Die Herrin habe sie dann auf der Stelle freigelassen. Die Sklaven in diesem exemplum taten mehr, als ihre Stellung von ihnen erforderte: Sich der feindlichen Seite anzuschließen, nur um die eigene Herrin zu retten, ist eine Leistung, die weit über ihre Dienstpflichten hinausging. Daher ist ihr Handeln als Wohltat einzustufen. Dass sie eine Wohltat erwiesen haben, lässt sich auch daran festmachen, dass sie von ihrer Herrin sofort nach ihrer Rückkehr freigelassen wurden – sie fühlte sich verpflichtet, ihnen etwas als Dank zurückzugeben (dazu hätte sie keinen Grund gehabt, wenn ihre Sklaven nur ihren Dienst getan hätten). Für die gegenwärtige Thematik interessant ist nun, was Seneca im Kontext der Möglichkeit von Sklavenwohltaten gegenüber Höhergestellten über das Loben schreibt: „Sobald [jemand] das geleistet hat, was nicht zu wollen ihm freistand, muss sein Wollen gelobt werden“ (ubi vero id praestitit, quod nolle licuit, voluisse laudandum est).910 Dieser Gedanke lässt sich auf die beiden Sklaven aus Grumentum übertragen. s
905
906 907 908 909
910
Vgl. Sen. benef. 3,22,1. Daran kann man ersehen, dass weder für Chrysipp noch für Seneca jemand als Sklave geboren wurde (vgl. die De beneficiis-Ausgabe von Miriam Griffin und Brad Inwood, S. 197, Anm. 10). Vgl. Sen. benef. 3,22,1. Vgl. ebd., 3,23,1–27,4. Vgl. hier und im Folgenden ebd., 3,23,2–4. Ich greife für diesen Satz auch auf Informationen zurück, die sich in der De beneficiisAusgabe von Miriam Griffin und Brad Inwood finden (vgl. S. 197, Anm. 13). Sen. benef. 3,22,2, Übers. Rosenbach.
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Die Ethik
So wie Seneca das exemplum schildert, wollten sie sich der feindlichen Seite anschließen, um ihre Herrin zu retten, obwohl es ihnen freistand, dies auch nicht zu wollen. Weil sie es wollten, muss ihr Wollen gelobt werden (hätten sie es nicht gewollt, hätte Seneca vermutlich gesagt, dass ihr Wollen [bzw. Nichtwollen] getadelt werden muss). Ihre Wahlmöglichkeit zeigt zugleich an – sofern sie sie überhaupt hatten –, dass sie nicht weise sein konnten, denn als Weise hätten sie nicht anders gekonnt, als besagte Option zu wollen/sie zu wählen/sich dafür zu entscheiden.911 Aus dem weisheitsbedingten Nicht-anders-Können würde allerdings nicht folgen, dass die Entscheidung der beiden Sklaven kein Lob verdient hätte, im Gegenteil: Aufgrund ihrer Tugend wären sie dauerhaft und ausnahmslos zu richtigen Entscheidungen prädisponiert (da sie dies ausschließlich der Tugend verdanken würden, wäre im Grunde aber sie lobenswert und nicht ihre Entscheidung). Wenn die beiden Sklaven aber proficientes waren, wäre lobenswert, dass sie sich für und nicht gegen die Option entschieden, sich der feindlichen Seite anzuschließen, um ihre Herrin zu retten. So gesehen könnte für Seneca außer der Tugend und dem guten Willen also auch die Entscheidung einer nichtweisen Person Gegenstand von Lob sein.
s
911
Vgl. S. 293f.
IV Schlusswort Während der Fokus des ersten Hauptkapitels dieser Arbeit auf den handlungspsychologischen und gefühlstheoretischen Grundlagen von Senecas Ethik lag, stand im zweiten Hauptkapitel sie selbst im Mittelpunkt. Die Untersuchung seiner Ethik sollte aber nicht einfach nur an die vorherige Untersuchung anschließen, wie ein Glied einer Kette an ein anderes. Ziel war es vielmehr, Senecas Ethik über ihre handlungspsychologischen und gefühlstheoretischen Grundlagen zu erschließen. In der Rückschau kann man festhalten, dass sich dieser Weg als gangbar und gewinnbringend erwiesen hat. Handlungspsychologische und gefühlstheoretische Vorstellungen sind in Senecas Ethik omnipräsent. Ohne ihr eingehendes Verständnis wäre sie weniger zugänglich und aufschlussreich. Dies gilt insbesondere für die folgenden sechs ethischen Themenbereiche: (1) Das Ideal der Selbstübereinstimmung. Seneca macht dessen Erreichung, die mit dem Tugenderwerb einhergeht, abhängig von der Beschaffenheit einzelner Handlungsmomente, nämlich von richtigen Werturteilen, geordneten und maßvollen Antrieben sowie äußeren Handlungen, die mit diesen Antrieben im Einklang stehen. (2) Grundsätze („decreta“) und Vorschriften („praecepta“). Ihre Kenntnis ist essenziell für das Fällen von richtigen Werturteilen und normativen Urteilen. Wer den axiologischen Grundsatz kennt, ist imstande festzustellen, ob x wirklich gut ist. Die Kenntnis von Vorschriften bietet zusätzliche Orientierung in der Frage, was man tun soll: Einer moralisch fortschreitenden Person dürfte klar sein, dass sie Wohltaten erweisen soll, wenn sie eingesehen hat, dass Wohltaten wirklich gut sind. Damit wäre für sie aber noch nicht geklärt, wann sie zum Beispiel oder wo sie schenken soll. (3) Der gute Wille. Er spielt bei tugendkonstitutiven Handlungen wie etwa Wohltaten eine zentrale Rolle: Sie gehen, wenn sie richtig erwiesen werden, aus ihm hervor. Affekte entspringen dagegen einem nichtverbissenen (schwachen) Willen. Daraus lässt sich schließen, dass die Beschaffenheit des Willens auf die Handlung bzw. den Antrieb abfärbt.1 (4) Affektprävention und -therapie. Am deutlichsten tritt die Fundierung von Senecas Ethik in einer Handlungs- und Affektpsychologie in den von ihm angeführten remedia zutage. Unter ihnen befinden sich solche, die sich eignen, die Intensität von Voraffekten abzuschwächen, s
1
Vgl. auch Sen. epist. 95,57 und S. 158, Fußn. 621.
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Schlusswort
fernerhin solche, die sich eignen, die Weiterentwicklung von Voraffekten zu Affekten aufzuhalten, und schließlich solche, die sich eignen, Affekte zu lindern. Dies wirkt so, als wäre das Modell der drei Affektbewegungen für Seneca bei der Auswahl der remedia in irgendeiner Form bestimmend gewesen. In der Affekttherapie zeigt er zudem ein Bewusstsein dafür, dass Affekten wertende Meinungen zugrunde liegen: Will man sich von Affekten befreien, muss man seine wertenden Meinungen zu bestimmten Sachverhalten und Tatsachen aufgeben. (5) Das Erweisen, Entgegennehmen und Erwidern von Wohltaten. Für die Instanziierung dieser Handlungstypen ist ein geordneter und maßvoller Antrieb unabdingbar, dessen Erzeugung von einem richtigen normativen Urteil abhängt. Um ihn angemessen in eine Wohltat erster oder zweiter Stufe umzusetzen, scheint es Seneca zufolge eines weiteren, sehr voraussetzungsreichen normativen Urteils zu bedürfen. Bevor es gefällt wird, muss man in einer praktischen Überlegung herausfinden, ob die Umstände, die tatsächlich der Fall sind, zu den Umständen passen, die der Fall sein sollen.2 Erst im Anschluss daran wird das zweite normative Urteil gefällt, das beispielsweise in der Zustimmung zu der Aussage bestehen könnte: „Ich soll Liberalis finanziell aushelfen“. Richtig ist es dann, wenn alle tatsächlichen Umstände mit allen normativen im Einklang stehen. (6) Moralische Bewertung. Bei Seneca ist klar zu sehen, dass nicht nur eine bestimmte mentale Verfasstheit lobenswert ist, sondern auch einzelne Handlungsmomente bzw. psychische Kräfte, mit denen eine gute Handlung bewusst hervorgebracht und gesteuert wird. In allen diesen ethischen Themenbereichen sind handlungspsychologische Grundannahmen deutlich erkennbar. Dennoch wirft Senecas handlungspsychologisch fundierte Ethik einige Fragen und Probleme auf, die im Folgenden näher zu erläutern sind. Ad (1): Normative Urteile werden von Seneca im Kontext des Ideals der Selbstübereinstimmung nicht erwähnt, obwohl er sie sowohl als Hauptursachen für exzessive und kontrollierbare Antriebe als auch als Hauptursachen für Handlungen ansieht (wie insbesondere seine Ausführungen zum richtigen Erweisen, Entgegennehmen und Erwidern von Wohltaten zeigen). Dies lässt sich damit erklären, dass das, was getan oder nicht getan werden soll, letztlich von dem abhängt, was gut oder schlecht ist. Wenn das, was an der Tugend teilhat, gut ist, soll s
2
Im Hinblick auf das Wie müsste die Formulierung etwas anders lauten, weil eigentlich erst die Handlung, die begangen wird, ein tatsächliches Wie hat. Man könnte sagen, dass in der praktischen Überlegung die Passgenauigkeit des gesollten Wie mit dem beabsichtigten tatsächlichen Wie ermittelt wird.
Schlusswort
337
man das, was daran teilhat, tun (zum Beispiel Wohltaten erweisen); wenn das, was am Laster teilhat, schlecht ist, soll man das, was daran teilhat, unterlassen (zum Beispiel wütend werden und sich rächen). Sieht man die Sache aus diesem Blickwinkel, kann man Senecas Nichterwähnung der normativen Urteile im 89. Brief nachvollziehen. Durch die Thematisierung der Werturteile deckt er implizit auch den Bereich der normativen Urteile ab. Ad (3): Es ist nicht leicht zu sagen, wie der gute Wille handlungspsychologisch auszudeuten ist. Wenn er ein geordneter und maßvoller Antrieb ist, wie ich angenommen habe, muss er durch richtige Urteile zustande kommen (mehr dazu in ad (5)/1). Immerhin wird ersichtlich, dass zwischen ihm und der Vernunft eine intentionale Beziehung besteht,3 sodass außer Frage steht, dass er ein rationales Streben ist.4 Ebenso ersichtlich wird, dass der gute Wille die entscheidende Antriebskraft ist, um gute Taten zu vollbringen. Ohne ihn würde man sich weder um die Vermeidung und Eliminierung von Affekten kümmern noch sich darum bemühen, Wohltaten richtig zu erweisen, entgegenzunehmen und zu erwidern. Wegen des guten Willens macht man moralische Fortschritte und durchläuft verschiedene moralische Entwicklungsstadien, für die Seneca aber nicht immer ein festgelegtes Schema präsentiert. Ad (3) und (4): Seneca hätte die Bedeutung des guten Willens bei der Anwendung affektpräventiver und affekttherapeutischer Techniken noch mehr herausstellen können. Ist es der gute Wille, der beispielsweise zur Zurückhaltung eines Werturteils gegenüber einer voraffektauslösenden Erscheinung motiviert (Stichwort: Vermeidung von Leichtgläubigkeit)? Lenken wir mit unserem guten Willen die Aufmerksamkeit von den äußeren Dingen auf uns selbst? Ist der gute Wille die treibende Kraft, wenn es um die Befreiung von Wut, Furcht oder Kummer geht? Diese Fragen bleiben offen. Zugleich sind sie ein Fingerzeig, dass Seneca kein Voluntarist gewesen sein kann, da ein solcher zweifellos auch in diesem Zusammenhang die Rolle des Willens betont hätte. Mit Blick auf die remedia ist zunächst bemerkenswert, dass sich bei Seneca keine lustpräventiven und lusttherapeutischen Techniken finden lassen, obwohl Lust ihm zufolge ein Affekt ist, den es wegen seines nach allgemeinstoischer Auffassung unmoralischen Charakters zu vermeiden/zu eliminieren gilt. Davon abgesehen stellt sich die Frage, warum Seneca die remedia nicht gemäß dem Modell der drei Affektbewegungen angeordnet oder zumindest jedes Mal einen Bezug dazu hergestellt hat, wenn es doch in irgendeiner Form ausschlaggebend für ihre Auswahl gewesen sein soll. Hierauf lässt sich erwidern, dass er nicht den Anspruch hatte, ein philosophisches System vorzulegen. Für ihn war es nicht entscheidend, stets die inhaltlichen Verbindungslinien zwischen den einzelnen Themenfeldern kenntlich zu machen. Und doch hat er systematisch gedacht: Er hat innerhalb eines philosophischen Systems – nämlich dem der Stoa – komplexe und s
3 4
Vgl. Sen. epist. 92,3 und S. 186f. Vgl. auch Scott 1986, S. 108.
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Schlusswort
zusammenhängende Überlegungen angestellt und war nicht nur ein Ratgeber, der nichts weiter als eine Handreichung zur praktischen Anwendung philosophischer Inhalte zur Verfügung stellen wollte. Ad (5)/1: Die Anwendung affektpräventiver und affekttherapeutischer Techniken hat den Zweck, entweder gar nicht erst in einen Affekt zu geraten oder einen schon aufgetretenen Affekt zu eliminieren. Das Resultat einer solchen Übungspraxis ist bestenfalls, dass man keine exzessiven, sondern nur noch geordnete und maßvolle Antriebe hervorbringt. Doch wo genau ist ein solcher Antrieb im Handlungsaufbau zu verorten? Seneca hält sich dazu weitestgehend bedeckt. Die einzige Bemerkung, die er dazu macht, findet sich im 89. Brief: Der geordnete und maßvolle Antrieb schließt an ein oder mehrere richtige Werturteile an und tritt auf, bevor es zur actio kommt, in die er auf verschiedene Weise umgesetzt werden kann. Das erlaubt den Schluss, dass das Zustandekommen des geordneten und maßvollen Antriebs von einem oder mehreren richtigen Werturteilen abhängt und dass er notwendig für eine actio ist. Ein weiterer Schluss ist erlaubt, wenn man die Affektgenese wie Seneca als einen besonderen Fall der Handlungsgenese betrachtet: Ein exzessiver Antrieb entsteht in letzter Konsequenz aufgrund eines normativen Urteils; dasselbe könnte man von einem geordneten und maßvollen Antrieb sagen. Der Unterschied bestünde darin, dass das normative Urteil bei einem Affekt falsch ist (zum Beispiel: „Rächen!“), bei einem geordneten und maßvollen Antrieb dagegen richtig (zum Beispiel: „Helfen!“).5 Fällt man ein richtiges normatives Urteil und generiert so einen geordneten und maßvollen Antrieb, wird dieser aber nicht sofort in eine actio umgesetzt. Dafür scheint ein weiteres normatives Urteil vonnöten zu sein, das das Ergebnis eines Abgleiches zwischen normativen und faktischen bzw. äußeren Umständen darstellt. Ich will Liberalis finanziell aushelfen, aber dieses Wollen wird nur dann angemessen in die Tat umgesetzt, wenn die Ist-Zeit zur Soll-Zeit und der Ist-Ort zum Soll-Ort passt; wenn man im Begriff ist, ihm tatsächlich auf die Weise finanziell auszuhelfen, auf die man ihm finanziell aushelfen soll; wenn die eigene und seine Person so beschaffen sind, dass man ihm finanziell aushelfen soll; wenn die finanzielle Hilfe nicht aus eigennützigen Motiven geschieht, und wenn die Wohltatsmaterie so ist, wie sie sein soll (Falschgeld wäre beispielsweise ungeeignet). Der (gute) Wille, Liberalis finanziell auszuhelfen, könnte ein geordneter und maßvoller Antrieb sein. Er wäre dann aber nicht derselbe Wille, der verhindert, dass ein Affekt entsteht: Der affektvermeidende (gute) Wille ist nichts anderes als ein richtiges normatives Urteil; der eine Wohltat intendierende (gute) Wille käme durch ein richtiges normatives Urteil zustande. Daraus könnte man wiederum auf eine dritte Form des Willens schließen, s
5
Das normative Urteil ist falsch/richtig, insofern es der stoischen Güterlehre widerspricht/entspricht. Seneca und andere Stoiker würden sagen, dass die rein destruktive Rache an einer anderen Person nichts ist, das an der Tugend teilhat (sie hätte sogar am Laster teil), während der Versuch der anderen Person zu helfen, etwas ist, das an der Tugend teilhat.
Schlusswort
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der auf das zweite normative Urteil folgt (das ebenfalls „Helfen!“ lauten könnte)6: Dieser Wille wäre schließlich notwendig und hinreichend für eine actio – die, je nachdem ob das zweite normative Urteil richtig oder falsch ist, eine gute oder schlechte actio ist.7 Ad (5)/2: Senecas Überlegungen zu den normativen Umständen sind im Hinblick auf die Entgegennahme und Erwiderung einer Wohltat unvollständig. Sie geben nicht zu erkennen, § wann § wo § warum eine Wohltat entgegengenommen und § wer § wo eine Wohltat erwidern soll. Der normative Grund der Wohltatsentgegennahme könnte derselbe sein wie derjenige der beiden anderen Wohltatsarten: Eine Wohltat soll nicht aus eigennützigen Motiven angenommen werden. Auch der normative Ort könnte für alle Wohltatsarten gleich lauten: Manchmal muss eine Wohltat im öffentlichen, manchmal im privaten Raum entgegengenommen und erwidert werden – das hängt von den eigenen bzw. fremden tatsächlichen persönlichen Umständen ab: Ist man ein namhafter Politiker, der finanzielle Probleme hat, sollte das Geldgeschenk im Privatbereich in Empfang genommen werden;8 will man sich bei einem aufstrebenden Politiker revanchieren, der auf das Wohlwollen der
s
6
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Diesem Urteil geht aber, auch wenn es gleich lauten kann wie das erste normative Urteil, nicht dieselbe praktische Überlegung voraus. Während es das Ergebnis eines Abgleiches zwischen verschiedenen normativen und faktischen bzw. äußeren Umständen ist, besteht die Überlegung, die zum ersten normativen Urteil führt, eher in der Beantwortung von allgemeineren Fragen wie: Ist das gut? Soll ich das tun? Von der Beschaffenheit des zweiten normativen Urteils würde auch abhängen, ob der dadurch zustande gekommene Wille gut oder schlecht ist. Eine weiterführende Frage könnte zudem lauten: Ist die hier vorliegende actio genauso schlecht wie eine actio, die durch einen Affekt entsteht? Die naheliegendste Antwort ist wohl: nein. Denn eine solche Handlung hätte nicht so fatale Konsequenzen wie eine Affekt-Handlung (man denke hier nur an Medea, Phaedra und Thyest), wenngleich sie ebenso am Laster teilhat und darum unglückskonstitutiv ist. Wenn Seneca und andere Stoiker also sagen, dass nur das Laster und das, was daran teilhat, schlecht ist, muss das nicht bedeuten, dass es innerhalb des Schlechten nicht noch Schlechteres gibt. Dafür spricht auch Senecas Unterscheidung zwischen Wut und Grausamkeit. Das Beispiel spielt nicht auf illegale Machenschaften an.
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Bevölkerung angewiesen ist, sollte man dessen Wohltat für alle sichtbar im öffentlichen Raum erwidern, um so vielleicht noch mehr Sympathien für ihn zu gewinnen. Aber lässt sich auch das normative Wann einer Wohltat auf ihre Entgegennahme übertragen? Das scheint nicht oder höchstens eingeschränkt zuzutreffen. Sollte man versuchen, jemandes Wunsch, einem eine Wohltat zu erweisen, entgegenzukommen? Häufig rechnen wir nicht damit, dass uns jemand eine Wohltat erweist, und daran ist auch nichts auszusetzen. Das normative Wer der Wohltat könnte wiederum ebenso für ihre Erwiderung gelten: Prinzipiell sollte jede Person Wohltaten erwidern. Was sie erwidert, muss sie aber von ihren eigenen tatsächlichen persönlichen Merkmalen und denen der anderen Person abhängig machen. Ein Kyniker sollte einem König als Erwiderung auf dessen Wohltat nicht die eigene Tonne schenken, wenn dieser während einer Dienstreise auf der Suche nach einem Unterschlupf ist. Im Prinzip lässt sich die Beachtung der eigenen und fremden tatsächlichen persönlichen Merkmale auch für das normative Wer der Wohltatsentgegennahme geltend machen: Ein Kyniker sollte keine einflussreiche Stellung im kaiserlichen Staatsapparat akzeptieren. Die Unvollständigkeit der normativen Umstände im Falle der Entgegennahme und Erwiderung einer Wohltat lässt sich dahingehend plausibilisieren, dass Seneca mit seiner Schrift Über die Wohltaten keine Kasuistik entwickeln wollte, die für jede Umstandskategorie möglichst viele Fälle anführt, in denen faktische Umstände mit normativen übereinstimmen oder nicht übereinstimmen. Senecas primäres Anliegen ist, deutlich zu machen, dass Wohltaten erster und zweiter Stufe eine Einstellungssache sind und dass wir ihretwegen die Tugend erwerben und dadurch glücklich werden können. Um ein solches Anliegen plausibel zu machen, bedarf es keiner Kasuistik. Ad (6): Seneca charakterisiert den Willen nirgends, wie später Augustinus, als Vermögen, Entscheidungen zu treffen oder Zustimmungen zu geben.9 Dennoch kann man sagen, dass er diese Bedeutungsdimension bisweilen berührt. Das geht aus seinem Affektverständnis hervor: Ein Affekt ist gewollt* – er kann auch nicht entstehen, wenn man richtige Urteile fällt, was trotz nicht vorhandener Weisheit möglich ist (obwohl das Treffen der richtigen Entscheidung dann schwerer fällt).10 Des Weiteren zeigt sich der dezisionistische Aspekt des Willens im Hinblick auf den Besitz oder Nichtbesitz der Tugend: Die Tugend bewirkt, dass man nicht anders kann, als das Gute zu wollen und das Schlechte nicht zu wollen; vor ihrem Erwerb ist es dagegen möglich, auch einmal das Gute nicht zu wollen oder das Schlechte zu wollen. Letztere nicht durch die Weisheit geprägte Fähigkeit kommt einem Dezisionsvermögen gleich. Schließlich möchte man die dezisionistische s
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Augustinus denkt, dass wir uns dank unseres Willens frei dazu entscheiden können, ob wir rechtschaffen handeln oder sündigen wollen (vgl. Aug. lib. arb. 2,1,1–8). Die von ihm dafür verwendete Junktur liberum (voluntatis) arbitrium wird zum Standardvokabular der mittelalterlichen Philosophie. Vgl. S. 158.
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Bedeutungsdimension von Senecas Willensbegriff aus einigen seiner Bemerkungen zum Loben herauslesen: Eine moralisch fortschreitende Person, die etwas Gutes gewollt hat, das nicht zu wollen ihr freistand, muss für ihr Wollen gelobt werden. Ihre Fähigkeit, die gute Sache zu wollen und nicht nicht zu wollen, hat den Charakter eines Dezisionsvermögens. In einem entscheidenden Punkt bleibt der Wille bei Seneca aber hinter einem Dezisionsvermögen im strengen Sinne zurück: Er ist nicht unabhängig von der ratio, sondern an sie und ihre moralische Qualität gebunden; er existiert überhaupt nur, weil es die ratio gibt – sie verleiht uns Menschen die Fähigkeit, den phänomenalen Gehalt unserer Erscheinungen propositional auszudrücken und diesem propositionalen Ausdruck zuzustimmen bzw. nicht zuzustimmen. Ein Dezisionsvermögen im strengen Sinne bestünde darin, auch unabhängig von der ratio und ihrer moralischen Qualität Entscheidungen treffen zu können. Die aufgelisteten sechs ethischen Themenbereiche, innerhalb derer Senecas handlungspsychologische Grundannahmen zum Vorschein kommen, werfen zudem die Frage auf, ob und, wenn ja, inwiefern seine Ethik innovativ war. Sind die hellenistischen Philosophen das Vergleichsobjekt, lassen sich wegen der fragmentarischen Überlieferung der meisten ihrer Schriften allenfalls Feststellungen treffen; sichere Erkenntnisse sind ausgeschlossen, weil dafür der volle Zugriff auf Werke nötig wäre, die uns verloren sind. Feststellen kann man aber, dass uns Senecas Konzept des guten Willens nicht in den Fragmenten älterer stoischer Texte begegnet. Dieses Konzept dürfte nicht nur den Erfahrungstatsachen entsprechen, es füllt auch eine empfindliche theoretische Lücke in der altstoischen Ethik. Die älteren Stoiker haben zwar zugestanden, dass einige wenige Menschen die Weisheit erlangen können; nach den uns zugänglichen Quellen zu urteilen, haben sie jedoch nicht hinreichend deutlich gemacht, wie dies handlungs- und moralpsychologisch möglich sein soll. Das Wünschen (βούλησις), das Cicero mit voluntas übersetzt, wäre als wohlbegründetes Verlangen ein geeigneter Kandidat. Das Problem ist jedoch, dass es ein gutes Gefühl – eine eupatheia – ist, und gute Gefühle haben ex hypothesi ausschließlich die Weisen. Auch andere handlungstheoretische Begriffe der älteren Stoa kommen als Entsprechung für Senecas Konzept des guten Willens nicht infrage. Die orexis ist entweder eine eulogos orexis oder eine alogos orexis und damit entweder das Produkt einer tugendhaften oder einer lasterhaften Seele. 11 Es ist schlicht kein Platz vorgesehen für ein tugendhaftes Wollen, das selbst nicht schon der Tugend entspringt. Ohne die Annahme einer motivierenden und auf das Ziel des Tugenderwerbs ausgerichteten psychischen Kraft ist es aber schwer verständlich, wie aus einer nichtweisen Person eine weise
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Vgl. Inwood 1985, S. 228: „Every one [sc. impulse] that occurs is the product of a virtuous or vicious mind and takes its moral character from that of the mind which produces it.“
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werden kann. Zugespitzt formuliert: Es wirkt so, als könnte man den älteren Stoikern zufolge als Nichtweise(r) nur begehren; wenn man jedoch nur begehren kann, wird man nach allgemeinstoischem Verständnis niemals die Tugend erwerben. Senecas Willensbegriff ist aber nicht nur in dieser Hinsicht als innovativ zu beurteilen. Berücksichtigt man, dass voluntas, velle und voluntarium etymologisch verwandt sind,12 steht nichts im Weg, ihn als Clusterkonzept zu verstehen. Er vereint in sich insgesamt drei Aspekte. Als guter Wille ist er ein rationales Streben (i), weil er auf das Ziel des Tugenderwerbs ausgerichtet ist. Zugleich weist er die Konnotation eines Antriebsvermögens auf (ii): Nur wer guten Willens ist, macht moralische Fortschritte und kommt dem Ziel des Tugenderwerbs näher. Stellenweise hat Senecas Willensbegriff auch eine dezisionistische Komponente (iii), nämlich bei der Affektentstehung und bezüglich des Wollens der nichtweisen Person (siehe ad (6)) – auch wenn der Wille bei ihm kein eigenständiges psychisches Vermögen ist. Anders als Richard Sorabji denke ich also nicht, dass sich erst bei Augustinus ein Clusterkonzept des Willens findet.13 Es ist schon bei Seneca vorhanden. Ein weiterer innovativer Zug von Senecas Ethik hat schließlich mit seinem extensiven Gebrauch von exempla zu tun, den man als typisch für die gesamte römische Philosophie ansehen kann.14 Die Idee, dass man sich exempla vor Augen führen muss, um keine moralischen Fehltritte zu begehen, ist schon für Epikur und die ältere Stoa bezeugt.15 Es wäre deswegen nicht richtig zu sagen, dass niemals jemand vor ihm versucht hätte, sie zu einem festen Baustein der Ethik zu machen.16 Neu erscheint aber, dass Seneca exempla für verschiedene Affektstadien oder -bewegungen anführt und ihnen so die Funktion von affektpräventiven und affekttherapeutischen Techniken verleiht: Exempla können dabei helfen, nicht in einen Affekt zu geraten oder einen bereits aufgetretenen Affekt zu lindern. Dazu haben sie das Potenzial, insofern sie beschreiben, wie bestimmte Personen entweder nicht in einen Affekt geraten, sich davon befreien oder im Affekt sich oder anderen schaden – aber auch insofern sie eine bestimmte wertende Meinung infrage stellen. *** Diese Arbeit nahm ihren Ausgang von der These Brad Inwoods, dass die ältere Stoa eine eigene Handlungspsychologie entwickelte, die sie ihrer Ethik bewusst s
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Vgl. Kahn 1988, S. 241 und 259. Vgl. S. 29, Fußn. 41. Vgl. auch Sedley 2010, S. 710: „Moral exempla are among the most distinctive features of Latin philosophical writing.“ Für Epikur vgl. Sen. epist. 11,9; für die ältere Stoa vgl. Stob. anthol. 2,215,13–15 (= SVF 1,319) und Stob. anthol. 2,212,19–21 (= SVF 1,612). Vgl. Mayer 2008, S. 312: „[…] [W]e may say that he is trying to do what no philosopher had done before him, namely, to create a basic role for exempla within a moral system.“
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als Fundament zugrunde legte. Das Untersuchungsziel war, herauszufinden, ob sich diese These auch mit Blick auf die jüngere Stoa verteidigen lässt. Zumindest was Seneca anbelangt, kann dies nun bestätigt werden. Ein Unterschied zu Inwoods Charakterisierung der altstoischen Ethik zeigt sich jedoch: Seneca scheint seine Ethik nicht bewusst in einer Handlungspsychologie zu fundieren, die er zu großen Teilen von der älteren Stoa übernimmt; er entwickelt nicht zuerst eine Handlungspsychologie und baut dann seine Ethik darauf auf. Womöglich ist er in seiner verlorenen und wahrscheinlich unvollendet gebliebenen Schrift moralis philosophia auf diese Weise vorgegangen – wir wissen es nicht. In seinen uns erhaltenen philosophischen Werken finden wir jedenfalls keine bewusste Trennung beider Bereiche vor (die ja unter antiken Philosophen bisweilen auszumachen ist, obwohl sie über keinen Begriff der Handlungspsychologie oder -theorie verfügten)17. Beide Bereiche sind bei ihm organisch miteinander verwoben und lassen sich nur in der Analyse isolieren. Aber vielleicht macht gerade das Senecas Ethik so interessant.
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Ein gutes Beispiel dafür ist neben den älteren Stoikern (wenn Inwood recht hat) Aristoteles, der seine Motivationstheorie in zwei nichtethischen Schriften entwickelt, nämlich De anima (3,9–11) und De motu animalium (6–11). Vgl. Corcilius 2008, S. 5 (Herv. geändert): „Es ist bekannt, dass die Motivationstheorie in mehrerer Hinsicht eine wichtige Rolle in seiner [Aristoteles’] Ethik spielt. Sie tut dies aber immer nur als fachfremdes Spezialwissen […]. Von ihr in dieser Hinsicht mehr zu verlangen als die naturphilosophischen Grundlagen einer methodisch von ihr unabhängigen ethischen Diskussion, wäre daher zu viel verlangt.“
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VI Orts- und Personenregister Achillas 277 Aëtios 48f., 79 Afrika 241 Aglaion 72 Agrippina die Ältere 263 Alexander der Große 262, 265 Alexander von Aphrodisias 136 Alexandria 36 Andronikos von Rhodos 137 Antigonos 265f., 276, 308f. Antipatros von Tarsos 51, 168–170 Antonius, M. 277 Apollodor 24, 164 Archedemos von Tarsos 168–170 Archytas von Tarent 222 Areios Didymos 197, 272f. Argolis 131 Aristeides 244 Ariston von Chios 57f., 175f., 180 Aristoteles/Aristotle 21, 27f., 137–140, 150, 153, 179, 267, 289, 343 Arrian 193 Asien 241 Astyages 260f. Athen 131, 137, 265 Athenodorus/Athenodoros Calvus 205 Augustinus 29, 282, 340, 342 Augustus/Octavian 205, 224f., 265f., 268f., 272–274, 276f. Babylon 263 Baiae 219 Bassus, Aufidius 227f., 232, 236 Bibulus, L. Calpurnius 273, 275 Boethius 235 Bosporus 323 Brutus, M. Iunius 241 Byzantion 277
Caesar, C. Iulius 241, 262f., 273, 275– 277 Calcidius 78 Caligula/C. Caesar 262f. Cannae 107 Catilina, L. Sergius 262, 277 Cato Uticensis, M. Porcius 57, 183, 243f., 277 Chrysipp/Chrysippus 22, 24, 27, 33, 42, 46–53, 58, 64f., 68f., 73–76, 99, 103, 108, 123, 129, 153, 167–169, 193, 203, 209, 221, 246, 309, 323f., 333 Cicero, M. Tullius 23f., 47, 55, 57–63, 65, 78, 80, 85, 89, 93f., 102, 112, 116, 125, 128, 137–146, 149, 154f., 159, 173, 175, 178, 183, 197, 208, 216, 222, 227, 235, 237, 246, 248f., 251, 253, 262, 267, 271, 276f., 286, 290, 292, 308, 313, 341 Claranus 165 Claudius/T. Claudius Caesar Augustus Germanicus 237 Coelius, C. 139 Corbulo, Cn. Domitius 99 Cordus, A. Cremutius 250, 267 Cornelia (Mutter d. Gracchen) 274 Crassus, L. Licinius 139 Dareios 262 Demetrios 194 Demochares 265 Demokrit 23, 142 Demosthenes 142 Dio, L. Cassius 237 Diogenes Laertios 24, 31, 35f., 38, 47f., 60–63, 66, 86, 90, 125f., 167, 190f., 313 Diogenes von Babylon 168, 170 Dion 41
364
Orts- und Personenregister
Drusus, M. Livius 274 Drusus, Nero Claudius 269f., 272f. Ephoros 207 Epiktet 22, 32, 85, 87, 93, 102f., 126, 164, 193, 219, 250 Epikur 200f., 210f., 227f., 235f., 242, 342 Eudorus 26 Eudromos 24 Euripides 193 Faustus 137 Fidus, Cornelius 99 Flaccus 272 Foucault, Michel 173, 281–283 Galen 47–49, 53, 69, 73–77, 198 Gellius, A. 85, 87, 102, 136 Germanien 241, 269 Gracchus, C. Sempronius 274 Gracchus, Ti. Sempronius 274 Gratidianus, M. Marius 262 Grumentum 333 Gyndes 263 Hannibal 107 Harpagos 260f., 265f., 276 Hegel, Georg W. F. 22 Hekaton 167, 332 Helvia 216, 236–240, 242–246 Heraklit 45 Herculaneum 263 Hermarch 200f. Herodes Atticus 136 Herodot 259–261 Hippokrates 73 Hippolytus von Rom 193
Karneades 41, 169 Kleanthes 33, 50–53, 65, 73, 167, 176, 184, 193f., 203, 246 Kleitos 262 Korsika 237, 240f. Krantor von Soloi 136, 141 Kyros 263 Leontios 20, 72, 77, 96f. Lepidus, M. Aemilius 277 Liberalis 211f., 305, 336, 338 Livia Drusilla/Iulia Augusta 268–276 Lucilius 24, 78, 80, 84, 91, 104, 115– 117, 121, 126f., 144, 146f., 162, 164, 178, 180, 187, 200, 204, 219, 236, 272, 324, 327, 329 Lugdunum (Lyon) 211f. Lukanien 333 Lukrez 235, 239 Lysimachos 262 Mandane 260 Makedonien 265 Marc Aurel 22, 235 Marcellus, M. Claudius 269 Marcia 216, 237f., 245–252, 267–273, 275f., 278 Marullus 212 Maximus, Caesonius 127 Menander 252 Menenius Agrippa 243 Messalina 237 Metilius 237, 246f., 249–252, 267, 276f. Metrodor 200f. Miltiades 142 Mykene 131–135, 159
Iamblichos 45, 49f. Isokrates 207 Italien 241 Iulia Livilla 237
Neapel 277 Nepos, C. Marius 307 Nietzsche, Friedrich 22 Novatus, L. Annaeus 96, 256, 269, 274f.
Kambyses 259f., 263 Kampanien 229, 231 Kant, Immanuel 116
Octavia 268f., 271 Origenes/Origen 85 Ovid/Naso, P. Ovidius 99
Orts- und Personenregister
365
Panaitios 47, 51, 57, 73, 90, 169, 191, 197, 332 Paullus Macedonicus, L. Aemilius 273 Perseus 273 Phalaris 164 Pharsalos (Farsala) 277 Philipp II 265f., 276 Philon von Alexandria 102 Phokion 244 Piräus 72 Platon/Plato 20, 24, 31, 33, 48, 69, 72– 74, 77, 80–83, 96, 142, 151, 157, 163, 181, 183f., 188, 193, 198, 222f., 235, 247f., 282 Plutarch 42, 116, 252, 323f. Pollio, P. Vedius 224f. Polybius 236, 274 Pompeius Magnus, Cn. 276f. Poseidonios/Posidonius 57, 69, 73–77, 82f., 88, 102f., 106, 142, 151, 157, 167 Praexaspes 259–261, 265f., 276 Pseudo-Andronicus 60, 62–65, 89, 125f. Ptolemaios Philopator 36 Pulvillus, C. Horatius 273 Pydna 273 Pythagoras 142, 228, 283
Sokrates 31, 69–72, 74, 77, 181, 214, 222, 225f., 243f., 248 Sotion 136 Speusipp 222 Sphairos 36f. Stobaios 26, 43, 45, 47f., 50, 56–60, 62f., 89f., 112, 125f., 167, 323f. Sulla Felix, L. Cornelius 137, 262, 273 Syrien 263, 273
Quadrigarius, Q. Claudius 333
Zenon von Kition 24, 33f., 41, 43, 47, 50, 52, 55–58, 61, 73–75, 85, 89, 167, 184, 193, 197, 203 Zenon von Tarsos 168 Zypern 277
Regulus, M. Atilius 243 Rom 102, 107, 137, 262, 269, 276f. Scipio 243 Seianus, L. Aelius 250, 267 Sempronia (Schwester der Gracchen) 274 Seneca 19–24, 26–30, 34, 57, 61, 64, 67, 69, 78–123, 126–128, 130f., 135–138, 141f., 144–167, 169–206, 208–293, 295–343 Serenus 201–208 Sextius 163, 280f., 283 Sextus Empiricus 24, 38, 40–42, 45, 58, 67, 175, 235 Sextus Papinius 262
Tacitus 253 Telesphoros von Rhodos 262 Themistokles 142 Theophrast 138 Tiberius, Claudius Nero 274 Tiberius Iulius Caesar Augustus 270, 272, 274, 307 Timagenes 265 Tullia 237, 277 Tusculum 137 Tyrannion 137 Xenokrates 24, 222 Xerxes 262 Varro, M. Terentius 55, 57, 85, 138, 241 Vergil/Maro, P. Vergilius 231
VII Stellenregister AËTIOS plac. 4,4,4 4,5,7 4,12,1 4,21,1 4,21,1–4 5,23,1
47f. 48 31 48f. 48 45
ALEXANDER VON APHRODISIAS fat. 192,27f. 199,14–23
234 55
1111a2–6 1111a16f. 1111a22–1111b3 1115b24–28 1116a8f.
289 289 161 145 140
rhet. 1356a14f. 1378a32–34
142 149
ASPASIUS ad Aristot. EN 45,23f.
143
AUGUSTINUS mant. § 20 159.15– 168.20
civ. 5,8
234
AREIOS DIDYMOS
lib. arb. 2,1,1–8
340
epit. phys. F 39
CALCIDIUS
137
54, 86
comm. 220
ARISTOTELES an. 428a1–11 432a15–433b30 EN 1094a22–24 1100b28–33 1105b25–27 1105b27f. 1106a2–4 1106a11f. 1106b21–23 1106b36–1107a8 1107a8f. 1107a10–12 1107a13
54 161 179 267 140 140 138 140 286 140 139 140 140
47f., 78
CICERO ac. 1 19 21–23 35f. 38–39 40 40f.
24 57 57 55, 138 85 43
ac. 2 24 37 66 77 95
44 43 112 32 38
Stellenregister
368 99 130 135 145
41 57 141 55
de orat. 1,117 3,1–8
139 251
div. 2,3
237
fam. 4,5
251
fat. 38 41 41f. 42f. 43 45, F 3
38 43 42 43 43 234
fin. 1,61 2,13 2,93–95 3,15 3,16 3,20 3,24 3,26 3,31 3,48 3,50 3,51 3,52 3,53 4,3–4 4,12 5,50 5,59 5,73 5,93
191 55 228 58 59 292 292 57 169 190 57f. 58 58 57 24 197 142 161 58 273
nat. 1,39
234
2,29
78
off. 1,8 1,22 1,44 1,45 1,48 1,56 1,107–116 2,5 2,25–29 2,52–54 2,72 3,5 3,97–101
292, 313 290 116 311 288, 294 290 173, 310 183 262 286 308 175 262
Phil. 2,64
277
rep. 1,5f. 1,59
262 222
top. 1,1
137
Tusc. 1,20 1,24f. 1,42 1,79 1,85f. 1,86 1,94 1,97 1,117f. 1,119 2,32 2,44f. 2,51 2,53 3,9–11 3,11 3,13 3,19 3,22
80 249 197 73 276 276 250 248 249 155, 228 267 228 55 93 65 141 155, 178 89 137, 155
Stellenregister 3,23–26 3,24 3,25 3,26 3,28 3,29 3,31 3,32 3,52 3,61 3,74 3,74f. 3,75 3,77 3,83 4,11 4,11–14 4,12 4,12–14 4,13 4,13f. 4,14 4,15 4,16 4,17–21 4,18 4,19 4,21 4,27 4,31 4,37 4,38 4,43 4,44 4,45 4,46 4,47 4,54 4,56 4,57 4,63 4,66 4,72 4,78 5,1 5,7 5,39
59 60f. 60 61 208 208 208 209 208f. 55f., 59–61 60, 137, 139 55, 59, 61 61 246 62, 102 47, 56, 60f. 55 60 59, 64 60 61 55 44, 61 62, 125 125 94 125 88, 142 141 87 212 138f. 139, 141f. 142 143 139, 143 47 89 94 154f., 183 221 64 90 222 241 183 163
5,47 5,120
369 58 58
CLEMENS VON ALEXANDRIA Strom. 2, Cap. 21, 129,2f. 2, Cap. 21, 129,3f.
169 168
DG (DIELS, HERMANN) 391,12–14 471,11 571,11–16
48 54, 86 193
DIOGENES LAERTIOS 3,38 7,37 7,39 7,46 7,49 7,50 7,51 7,54 7,63 7,66 7,85 7,87 7,88 7,89 7,94f. 7,98 7,101–103 7,105 7,106 7,107 7,110 7,111 7,111–114 7,112 7,113 7,116 7,117 7,127 7,128 7,137 7,140
222 57 24 32 35, 86 31–33 31, 35 32 36, 38, 43 38 58f. 167 167–169 168 57 167 56 190f. 191 34, 313 47f. 52 55, 59, 62 61, 125f. 88, 90 64f., 125 55 65f., 68, 190 57 197 184
Stellenregister
370 7,157 7,159 7,160 7,177 8,10 10,139 10,140
47f. 48 58 36 228 227 228
EPIC. (USENER) 205
211
EPIKUR kyr. dox. 2 4
227 228
Men. 124f.
227
EPIKTET diatr. 1,27 1,9,21 2,6,9 2,9,15 2,18,24f. 2,19,13 3,8,2–4 3,8,6 3,24,108 4,1,68f. 4,4,34
32 250 169 56 219 56 219 250 103 43 193
ench. 5 49 52 53
93 22 22 193
4,2,8 4,2,13–16 4,3,2 4,3,3f. 4,3,4f. 4,3,5 4,4,24f. 4,4,30f. 4,5,13f. 4,5,42 4,5,43f. 4,5,45 4,5,45f. 4,6,35f. 4,7,4f. 4,7,12–19 4,7,14 4,7,24f. 4,7,23 4,7,33 4,7,37f. 5,1,1–3 5,1,3 5,1,5f. 5,1,10f. 5,3,8 5,5,1–6 5,5,7f. 5,5,21 5,5,23f. 5,6,9–14 5,6,14 5,6,23f. 5,6,31 5,6,37f. 5,6,41f. 5,6,42 6,2,5 8,1,14
47 53 52f. 74 74 74 53 53 53 76 76 76 76 53 76 76 76 76 73 77 77 48 48 74 75 197 75 74 77 77 167 74 74 77 75 73 73 73 73f.
QAM
198
EURIPIDES Or. 5,264f.
31
GALEN PHP 3,1,9f. 3,5,31f.
48 49
GELLIUS noct. Att. 7,2,11f. 19,1,4 19,1,14
43 85 85
Stellenregister 19,1,15 19,1,17 19,12,1 19,12,3 19,12,7–10
85, 87 102 136 136 136
HERODOT 1,108–119 1,119,3 3,34,1–35,4 3,35,4
260 261 259 260
HIPPOLYTUS VON ROM haer. 1,21,2
LUKREZ 2,1090–1104 3,23
234 239
MUSONIUS RUFUS 3,9,8f. 88, 142
LONG/SEDLEY 30 F 33 C 33 I 39 B 39 G 40 B 40 E 13–17 40 K 47 A 1f. 47 B 47 H 53 G 53 H 53 K 53 Q 53 S 54 B 55 N 4 55 R 58 E 58 F 58 G 60 G 61 B 61 H 62 A
43 47, 50 55 55 56 59 59 59 59, 61 62
193
LACTANTIUS ira 17,13
62 D 13–17 65 A 1–3 65 A 5f. 65 A 7f. 65 A 8f. 65 A 9f. 65 A 10f. 65 A 13 65 B 65 E
371
40 35, 38 43–45 31 33, 40 43 33 45 197 197 197 47f., 78 48f. 49f. 34 51 234 234 42f., 234 58 58 58 67 50 68 193
188
PHILODEM adv. [sophistas] col. 4,10–14, S. 87 Ed. Sbordone 239 de ira 31–34 31,24–32
137 141
PHILON quaest. in Gen. 1,79
102
PLATON Gorg. 466a–468e
188
leg. 1,644d–645b 2,666a1–6
72 198
Phaid. 65a 66b–d 81b–e 83b–e
82 82 82 82
Phdr. 246a–254e
72
Stellenregister
372
PLOTIN
rep. 386b–387c 4,428b–d 4,429b–d 4,431a 4,431b–c 4,431e–432a 4,432a–b 4,433b 4,434a–b 4,434c 4,435b 4,435b–c 4,435e 4,436b 4,436c–d 4,436d–e 4,439c 4,439d 4,439e 4,439e–440a 4,440a 4,440b 4,440e 4,440e–441a 4,441d–e 4,441e–442b 4,442a 4,442b–c 4,442c 4,442c–d 4,444b 9,588b–590d
247 70 70 70 70 69 70 71 71 70 69 69 69 71 71 71 71 70 69, 72 72 69 70 71 70 71 71 70 69f. 70 71 69, 71 72
soph. 264a–b
31
Tht. 152c 176a–c 191c–195a
31 163 33
Tim. 70a–d
48
enn. 4,7,7
50
PLUTARCH adv. Col. 2
222
cons. ad Apoll. 34
252
de libid. et aegr. 6
75
de Stoic. rep. 1043 A–C 1043 C 1043 D 1056 B–C 1056 C 1057 A
323 323 323 42f. 234 51
de virt. mor. 441 C 446 F–447 A 447 A
50 116 121
POSEIDONIOS F 31 F 32 F 33 F 34 F 35 F 146 F 147 F 150a F 150b F 151 F 153 F 155 F 157 F 159 F 162 F 164 F 165 F 166 F 169
74 73f. 75 74 23 73 47 73 74 73 74, 77 88 74 75 74 76 76f. 77 74f., 77
Stellenregister F 187 T 91 T 97
74 73 73
PSEUDO–ANDRONICUS pass. 1
227
SENECA ad Helv. 1,2 2,1f. 4,1 5,1 5,2 5,3 5,3f. 6,1 6,2 6,2–5 6,5 6,6 6,7 7,4–6 7,8 8,1 8,1f. 8,5f. 9,3 9,4 10,1 10,2 10,3–10 10,5 10,11 11,1–3 12,7 13,1 13,2 13,4 13,4f. 13,6 13,7
13,8 14,1 14,2f. 16,6 17,1 17,3
245 245 245 274 110 245
ad Marc. 1,1 1,3–5 1,5 1,6 1,7 1,8 2,2 2,2f. 2,3 2,3–5 3,1f. 3,2 3,3 3,4 4,1 4,2 5,1 5,4 5,5 6,1 9,2 10,6 12,5 12,6 12,6–16,4 13,1 13,3 14,2 14,2f. 14,3 15,2f. 16,1 16,3 16,4 19,1 19,1–3 19,2 19,3 19,3f.
267 267 237, 267 267 237, 252 267f. 254, 268 268 268 269 269 270, 273 271 271 271 269–272 273 273 273 272 210 164 273 273 273 273 273 273 275 274 274 216 274 274 238 267 245 245f., 276 246
59, 61
QUINTILIAN inst. 10,103
373
237 239 237, 239 239 239, 242 209 240 240, 242 169 240 240 241 241 241 241 241 241 241 242 241 242 243 243 243 243 242 243 243 163f., 243 244 243 244 244
Stellenregister
374 19,4 19,4f. 19,5f. 19,6 20,2 20,3 20,4 20,4–6 20,5 20,6 21,1f. 21,2 21,4–6 21,6 22,1 22,2 22,4 22,6f. 24,5 26,2
247 247 247 249 249f. 250 250, 276 251 277 277 250 250 250 251 251f. 251 250 250 163 267
ad Polyb. 7,4 15,3 15,5
237 274 274
benef. 1,1,2 1,1,12 1,1,13 1,2,1 1,2,3 1,4,2 1,4,3 1,5,2 1,5,3 1,5,4 1,6,1 1,6,2 1,6,3 1,7,1 1,7,2 1,7,3 1,11,6 1,12,3 1,14,1 1,15,1
300 297 301 308 291 290 295 218, 286f. 286 286 218, 290, 298 286 287 306 307 306 311 289, 304 308 288
1,15,4 1,15,6 2,1,1 2,1,2 2,1,3 2,2,1 2,2,2 2,3,1 2,4,2 2,5,3 2,5,4 2,6,1 2,6,2 2,7,2 2,7,3 2,8,1f. 2,9,1 2,10,1–4 2,11,4f. 2,14,1f. 2,14,4 2,15,3 2,16,1 2,17,1 2,17,2 2,17,3–5 2,17,5 2,17,7 2,18,1 2,18,2 2,18,3 2,18,5 2,18,7 2,19,1 2,19,2 2,22,1 2,23,1 2,23,2 2,23,3 2,24,2f. 2,24,4 2,25,1 2,25,3 2,30,1 2,31,2 2,31,4f. 2,35,1
316 287f., 317 306, 318 306 304, 306 304 304 307 306 319 306 305f. 306f. 307 306 307 305 311 307 293, 311 293 308 289, 303 308f. 308f. 309 311 306f. 301 317 316f. 290 293, 296 293, 295 293 314 315 315 315 315 315 316 316 300 291 315 314
Stellenregister 2,35,2 2,35,3 2,35,5 3,1,1 3,1,3 3,6,1 3,7,2 3,15,4 3,18,1 3,18,2 3,18,2f. 3,18,4 3,19,1 3,20,1 3,21,2 3,22,1 3,22,2 3,23,1–27,4 3,23,2–4 4,1,3 4,3,1 4,7,2 4,8,1 4,8,3 4,10,2 4,10,4 4,11,1 4,12,4f. 4,14,1 4,15,1 4,15,2 4,15,4 4,16,1 4,16,2 4,17,2 4,17,2f. 4,18,1 4,19,4 4,20,3 4,21,1 4,24,2 4,25,1–3 4,26,2 4,26,3 4,27,1–4 4,29,2 4,29,3
326 314 314 301 300f. 300 302 297 332 162, 309 309 297 332 163 287 333 333 333 333 292 301 234 234 234 287 311 311 298 292 98, 291 292, 298 291 301 291 150 291 291, 299f. 169 301 312 300 291 300, 312 312 300 288, 290 291
4,33,2 4,33,2f. 4,34,4f. 4,40,4 4,40,5 5,2,2 5,4,1 5,7,6 5,9,4 5,11,4 5,11,5 5,11,6 5,12,5 5,13,1 5,13,2 5,19,6 5,20,1 5,20,4 5,20,5 6,2,1 6,2,2 6,5,2 6,6,1 6,6,2 6,7,2 6,8,1 6,8,1f. 6,8,3 6,9,3 6,11,3 6,11,4 6,18,1–20,2 6,19,2–4 6,19,4 6,21,2 6,21,3 6,25,2–30,1 6,27,2 6,41,1 6,41,2 6,42,2 6,43,2 6,43,3 7,2,2 7,2,3f. 7,4,1 7,4,1–6,2
375 313 313 240 321 318 330 332 98 296 291 289 291 177 303 297 295 293 288 288 286 286 295 288 288 287, 295 296 296 286 287f. 331 331 289, 321 321 289 294 294 296, 320 296 320 289, 321 319 320 321 177 319 312 312
Stellenregister
376 7,5,1f. 7,6,2 7,7,4 7,14,1–16,4 7,16,5 7,17,1 7,19,5 7,19,6 7,20,5 7,28,3
312 312 326 331 164 303 164 164 322 300
brev. vit. 8,1
184
clem. 1,9,1–11,1 1,18,2 2,5,1 2,5,4 2,5,5 2,6,1 2,6,2
266 225 94 94f. 94 94 94
const. sap. 5,1 5,3 7,1 7,4 8,2 9,3 10,4 12,3 17,1 19,4 41,7
98 98 55 100 165 98 103 327 99 176 327
de ira 1,1,1 1,1,5 1,1,7 1,2,3b 1,2,5 1,3,1 1,3,4 1,3,6 1,3,7 1,3,8
96, 130, 274 88, 130 90f., 130 88, 142 87 100f. 87 87 86f. 87
1,4,1 1,4,2 1,5,1 1,5,2 1,5,2–3 1,5,2–1,6,5 1,5,3 1,6,1 1,6,2f. 1,6,3 1,6,4 1,6,4–5 1,7,1 1,7,1–2 1,7,1–1,21,4 1,7,4 1,8,1 1,8,2 1,8,3 1,8,7 1,9,2 1,9,4 1,10,4 1,11,5–7 1,12,3 1,13,3 1,14,1 1,15,3 1,16,7 1,17,1 1,17,2 1,17,3 1,17,4 1,17,5 1,19,5–8 1,19,8 1,20,6 2,1–4 2,1,1 2,1,3 2,1,4 2,2 2,2,1 2,2,2 2,2,3 2,2,5
141, 329 89 148 138, 148, 151 148 138 96 151 152 152 149, 151f. 149 149 149 138 153 103, 111, 113, 160 154 120 90, 120, 122, 259 138, 150 153 150, 154 269 138, 289, 304 149 138, 308 222 103 138, 153 155 155 221 130, 220f. 155 152 267 96, 98, 104, 112, 115, 138 96, 111, 264 98, 111, 141 97, 107 104 96, 104, 264 97, 102f. 107 102, 104, 107, 214
Stellenregister 2,3,2 2,3,3 2,3,4 2,3,4f. 2,3,5 2,4,1 2,4,2 2,5,1–5 2,5,3 2,5,5 2,6,2 2,10,2 2,10,2f. 2,10,3 2,18,1 2,18,2 2,19,1 2,19,1f. 2,19,1–21,11 2,19,2 2,19,5 2,20,2 2,20,3 2,20,4 2,21,1 2,21,3 2,22,1 2,22,2 2,24,1 2,24,1f. 2,24,2 2,26,1 2,26,2 2,26,4 2,26,4–5 2,26,6 2,27,1 2,27,1f. 2,27,2 2,29,1 2,30,1 2,30,1f. 2,31,1 2,31,1f. 2,32,2
105f. 105 108, 109, 111 97 90, 95, 97f., 102, 107, 111 96, 102, 108, 123, 133, 153, 156, 195 97, 102f., 210 108, 263 154 154 89, 103, 119 215 215 215 195, 255 197 198 197f. 255 198 198 198 198f. 199 199 330 199f. 213f., 215, 255 215 215 215 99, 217 99 99 99 99 99f. 233 100 221, 256 216 216, 257 141 113 244
2,33,1 2,35,2 2,36,6 3,1,1 3,1,2 3,1,2f. 3,1,3 3,5,2 3,5,3–13,1 3,6,1 3,8,1 3,10,1f. 3,10,2 3,10,2f. 3,10,3 3,12,4 3,12,5 3,12,6 3,13,3 3,13,3f. 3,13,6 3,13,7 3,14,1f. 3,14,1–23,8 3,14,1–24,2 3,14,4 3,14,4f. 3,14,5 3,14,5f. 3,15,1 3,15,1f. 3,15,2 3,15,2f. 3,15,3 3,16,1 3,16,2 3,16,3f. 3,17,2–4 3,18,1f. 3,18,3 3,18,4 3,19,1 3,20,1 3,20,2–4 3,21,1–5 3,21,5 3,22,1f.
377 326 108 130, 220 221, 256, 274 221, 223 221 130 195, 255, 278 256 171 329 214 213 213f., 225 214 221, 270 222 223 214 225 258 254, 258 259 255, 269 278 259 260 260 260 260f. 261 326 261 250, 261 193 264 262 262 262 262 262 262 263 263 263 263 265
Stellenregister
378 3,22,2 3,22,2f. 3,22,3–5 3,23,1 3,23,2 3,23,2f. 3,23,3 3,23,4 3,23,5f. 3,23,7 3,24,1 3,24,2–36,1 3,24,3 3,24,3f. 3,24,4f. 3,26,3f. 3,28,4 3,30,1 3,30,2 3,32,3 3,36 3,36,1–4 3,37,1f. 3,37,3 3,37,4f. 3,38,1f. 3,38,2 3,39,1 3,39,1–40,5 3,39,2 3,39,3 3,39,4 3,40,1 3,40,2 3,40,2–4 3,40,5 3,42,1
265 265 265 262 265 265 265 266 266 266 266 279f. 216 216 216 215 101, 217 217 217f. 217 278, 283 280 280 209, 280 280 280 244 141, 257 256 223f. 224 224f. 225, 269 224 224 225 154
de tran. an. 1,1 1,1f. 1,3 1,4 1,5–7 1,8 1,9 1,10–12 1,13f. 1,15 1,17 2,1 2,2 2,3 2,4 2,4f. 2,5 2,6–14 3,1–8 4,1f. 4,2 6,1 6,1–3 6,2 6,3 6,3f. 7,2 8,1–9 8,2 8,9 9,4–7 11,6f. 11,8 11,10 13,2 17,5f. 17,12
202 202 202 202 202 202 202 203 203 202 202, 204 203 205, 268 23 204 204 205 205 205 204 176 205 173 205–207 206 205f. 207 206 206 207 208 209 209 212 208 208 188
de ot. 6,2f. 6,5
185 203
de prov. 5,4 5,4f. 5,5f.
194 194 194
dial. 1,5,4 1,5,4f. 1,5,5f. 2,5,1 2,5,3 2,7,1 2,7,4
194 194 194 98 98 55 100
Stellenregister 2,8,2 2,9,3 2,10,4 2,12,3 2,17,1 2,19,4 2,41,7 3,1,1 3,1,5 3,1,7 3,2,3b 3,2,5 3,3,1 3,3,4 3,3,6 3,3,7 3,3,8 3,4,1 3,4,2 3,5,1 3,5,2 3,5,2–3 3,5,2–3,6,5 3,5,3 3,6,1 3,6,2f. 3,6,3 3,6,4 3,6,4–5 3,7,1 3,7,1–2 3,7,1–3,21,4 3,7,4 3,8,1 3,8,2 3,8,3 3,8,7 3,9,2 3,9,4 3,10,4 3,11,5–7 3,12,3 3,13,3 3,14,1 3,15,3 3,16,7 3,17,1
165 98 103 327 99 176 327 96, 130, 274 88, 130 90f., 130 88, 142 87 100f. 87 87 87 87 141, 329 89 148 148, 151 148 138, 148 96 151 152 152 151f. 149 149 149 138 153 103, 101, 113, 160 154 120 90, 120, 259 138, 150 153 150, 154 269 138 149 138 222 103 138, 153
3,17,2 3,17,3 3,17,4 3,17,5 3,19,3–5 3,19,5–8 3,19,8 3,20,6 4,1–4 4,1,1 4,1,3 4,1,4 4,2 4,2,1 4,2,2 4,2,3 4,2,5 4,3,2 4,3,3 4,3,4 4,3,4f. 4,3,5 4,4,1 4,4,2 4,5,1–5 4,5,3 4,5,5 4,6,2 4,10,2 4,10,2f. 4,10,3 4,18,1 4,18,2 4,19,1 4,19,1f. 4,19,1–21,11 4,19,2 4,19,5 4,20,2 4,20,3 4,20,4 4,21,1 4,21,3 4,22,1
379 155 155 221 130, 220f. 262 155 152 267 96, 104, 112, 115, 138 96, 111, 264 98, 111, 141 97, 107 104 96, 104, 264 97, 102f. 107 102, 104, 107, 214 105f. 105 109, 111 97 90, 95, 97f., 102, 107, 111 96, 102, 108, 123, 133, 153, 156, 195 97, 102f., 210 108, 263 154 154 89, 103, 119 215 215 215 195, 255 197 197 197f. 255 198 198 198 199 199 199 330 199
Stellenregister
380 4,22,2 4,24,1 4,24,1f. 4,24,2 4,26,1 4,26,2 4,26,4 4,26,4–5 4,26,6 4,27,1 4,27,1f. 4,27,2 4,29,1 4,30,1 4,30,1f. 4,31,1 4,31,1f. 4,32,2 4,33,1 4,35,2 4,36,6 5,1,1 5,1,2 5,1,2f. 5,1,3 5,5,2 5,6,1 5,8,1 5,10,1f. 5,10,2 5,10,2f. 5,10,3 5,11,2f. 5,12,4 5,12,5 5,12,6 5,13,3 5,13,3f. 5,13,6 5,13,7 5,14,1f. 5,14,1–23,8 5,14,4 5,14,4f. 5,14,5 5,14,5f. 5,15,1
213f., 215, 255 215 215 215, 255 99, 217 99 99 99 99 99f. 233 100 221, 256 216 216, 257 141 113 244 326 108 130, 220 221, 256, 274 221, 223, 256 221 130, 220 195, 255 171 329 214 213, 225 214 214 280 221, 270 222 223 214 225 258 254, 258 259 255, 269 259 260 260 260 260f.
5,15,1f. 5,15,2f. 5,15,2 5,15,3 5,16,1 5,16,2 5,16,3f. 5,17,2–4 5,18,1f. 5,18,3 5,18,4 5,19,1 5,19,3–5 5,20,1 5,20,2–4 5,21,1–5 5,21,5 5,22,1f. 5,22,2 5,22,2f. 5,22,3–5 5,23,1 5,23,2 5,23,2f. 5,23,3 5,23,4 5,23,5f. 5,23,7 5,24,1 5,24,3 5,24,3f. 5,24,4f. 5,26,3f. 5,28,4 5,30,1 5,30,2 5,32,3 5,36 5,36,1–4 5,37,1f. 5,37,3 5,37,4f. 5,38,1f. 5,38,2 5,39,1 5,39,1–40,5 5,39,2
261 261 326 250, 261 193 264 262 262 262 262 262 262 262 263 263 263 263 265 265 265 265 262 265 265 265 266 266 266 266 216 216 216 216 101, 217 217 217f. 217 278 280 280 209, 280 280 280 244 141, 257 256 223f.
Stellenregister 5,39,3 5,39,4 5,40,1 5,40,2 5,40,2–4 5,40,5 5,42,1 6,1,1 6,1,3–5 6,1,5 6,1,6 6,1,7 6,1,8 6,2,2 6,2,2f. 6,2,3 6,3,1f. 6,3,2 6,3,3 6,3,4 6,4,1 6,4,2 6,5,1 6,5,4 6,5,5 6,6,1 6,9,2 6,10,6 6,12,5 6,12,6 6,12,6–16,4 6,13,1 6,13,3 6,14,2 6,14,2f. 6,14,3 6,15,2f. 6,16,1 6,16,3 6,16,4 6,19,1 6,19,1–3 6,19,2 6,19,3 6,19,3f. 6,19,4 6,19,4f.
224 224f. 225, 269 224 223 225 154 267 267 237, 267 267 237, 252 267f. 254, 268 268 268f. 269 270, 273 271 271 271 269–272 273 273 273 272 210 164 273 273 273 273 273 273 275 274 274 216 274 274 238 267 245 245f., 276 246 247 247
6,19,5f. 6,19,6 6,20,2 6,20,3 6,20,4 6,20,4–6 6,20,5 6,20,6 6,20,6f. 6,21,1f. 6,21,2 6,21,4–6 6,21,6 6,22,1 6,22,2 6,22,4 6,22,6f. 6,24,5 6,26,2 7,2,2 7,3,3 7,4,2 7,4,3 7,5,3 7,6,2 7,7,4 7,13,5 7,15,2 7,16,2 7,16,3 7,21,1–23,4 7,21,4 7,22,1 7,22,3 7,22,4 7,24,5–26,4 7,25,6–8 8,6,2f. 8,6,5 9,1,1 9,1,1f. 9,1,3 9,1,4 9,1,5–7 9,1,8 9,1,9 9,1,10–12
381 247 249 249 250 250, 276 251 277 277 250 250 250 250 251 251f. 251 250 250 163 267 327 172 171 171 171 171 164 155 92 166 176 309 169 169 166 191 309 285 185 203 202 202 202 202 202 202 202 203
Stellenregister
382 9,1,13f. 9,1,15 9,1,17 9,2,1 9,2,2 9,2,3 9,2,4 9,2,4f. 9,2,5 9,2,6–14 9,3,1–8 9,4,1f. 9,4,2 9,6,1 9,6,1–3 9,6,2 9,6,3 9,6,3f. 9,7,2 9,8,1–9 9,8,2 9,8,9 9,9,4–7 9,11,6f. 9,11,8 9,11,10 9,13,2 9,17,5f. 9,17,12 10,8,1 11,7,4 11,15,3 11,15,5 12,1,2 12,2,1f. 12,4,1 12,5,1 12,5,2 12,5,3 12,5,3f. 12,6,1 12,6,2 12,6,2–5 12,6,5 12,6,6 12,6,7 12,7,4–6
203 202 202, 204 203 205, 268 23 204 204 205 205 205 204 176 205 173 205–207 206 205f. 207 206 206 207 208 209 209 212 208 208 188 184 237 274 274 237 239 237, 239 239 239, 242 209 240 240, 242 169 240 240 241 241 241
12,7,8 12,8,1 12,8,1f. 12,8,5f. 12,9,3 12,9,4 12,10,1 12,10,2 12,10,3–10 12,10,5 12,10,11 12,11,1–3 12,12,7 12,13,1 12,13,2 12,13,4 12,13,4f. 12,13,6 12,13,7 12,13,8 12,14,1 12,14,2f. 12,16,6 12,17,1 12,17,3
241 241 241 241 242 241 242 243 243 243 243 242 243 243 163f., 243 244 243 244 244 245 245 245 274 110 245
epist. 9,3 11 11,1 11,1f. 11,5 11,6 11,9 11,10 13,5 13,8 13,13 14,1 15,1 16,3 16,6 17,1 17,6 17,12 18,6 18,7
104 104 103 126 126 103 342 254 93 93 93 150 174 22, 185 189 162 166 91, 93 209 211
Stellenregister 20,2 20,2f. 20,3 20,4 20,5 20,6 22,2f. 23,1 23,4 23,6 24,2 24,12 24,15 24,17 26,8 26,10 27,3 28,6 30,1–3 30,4 30,5 30,6 30,6f. 30,10f. 30,12 30,14 30,16 30,16f. 30,17 30,18 31,5 31,8f. 31,11 32,5 33,8f. 34,3 34,4 35,4 36,5 36,8 36,10 36,11 37,4 39,3 39,4 41,8 41,9
22, 116, 171 115 116 115 114, 189 115 302 162 92f. 163, 187 210 217 209 218 211 211 166 162 227 227 227 227 227 228 325 227f. 227 228 226 211 176, 180 163 162f. 180 184 186 171 115 163 150 248 248 166 163 178 327 171
42,1 44,6 43,10 45,9 47,15 47,16 49,10 49,11 50,6 51,8 52,1f. 52,3 52,4 52,5 52,6 53,9 53,11 56,1–3 56,3 56,3f. 56,4 56,5 56,5–8 56,15 57,3–6 57,9 58,14 58,16 58,22 59,1 59,2 59,2–3 59,4 59,15 59,16 59,18 61,1 61,3 63,1 63,12 64,4 65,16 65,18 65,21 65,24 66,2 66,4
383 55 177 93 170 328 328 211 161 106, 163, 197 163 115 200 200 200 201 162 165 219 220 220 220 220 220 220 104 248 184 184 184 91 91 92 91 92 92, 166, 299 93 188 192 272 237 163 163 163 164 248 164f. 165
Stellenregister
384 66,8 66,15 66,16 66,17 66,22 66,39 67,10 71,2 71,3 71,16 71,21 71,27 71,29 71,30 71,32 71,34 71,35 71,36 72,3 72,4 72,5 72,10 73,7 73,9 73,13 73,13f. 73,16 74,5 74,11 74,16 74,16f. 74,17 74,32 74,34 75,7 75,8 75,9 75,10 75,12 75,13 75,14 75,15 75,18 76,9 76,9f. 76,10 76,15
165 164, 169 191 192 164 170 177, 298 179 179 248 169 81 81, 106 166 163, 325 322 189, 323 186 185 92 104 323 185 189 165 165 162 93 115 163 177 178 191 93 184 190, 322f. 324 324 154 324 324 324 166 161 161 163 188
76,16 76,16f. 76,17 76,19 76,23 76,32 76,33 76,34 76,35 78,1 78,10 78,25 78,29 80,4 81,8 81,10 81,12 81,13 81,14 81,19 81,21 81,21f. 81,23 82,1 82,10 82,15 82,18 83,2 84,3 84,11 85,2 85,3 85,4 85,8 85,9 85,10 85,15 85,24 85,26 85,39 87,2–5 87,4 87,13 87,25 87,36f. 87,39 88,28
176 178 176 177 183f. 327 328 210 212 110 163 181 210 186 303 303 90 189, 303 303 297 297f. 299 300 163 57 150 191 283 24 188 144 144f., 149 154f. 153 145, 160 154f. 91, 154, 329 145f. 91, 145 169 127 127 184 177 67 184 181
Stellenregister 89,5 89,9 89,14 89,14–16 21, 89,15 89,16 89,19 90,3 90,7 90,11 90,12 90,20 90,21 90,22 90,28f. 90,44 90,45 90,46 91,1–3 91,4 91,5 91,7f. 91,8 91,8f. 92,1 92,2 92,3 92,8 92,9 92,9f. 92,12 92,16 92,24 92,27 93,10 94,1 94,1–5 94,2f. 94,4 94,5–17 94,8 94,14–16 94,31 94,35 94,47 94,55 95,1
174, 183 24 325 167 27 184 24 183 182 182 182 182 182 182 182 161, 327 185 161, 185 211 212 212 211 211 209 78f., 170 79 167, 186, 337 79f. 82 82 176 178 166 161 248 175 175 176 176 176 177 180 175 180 185 329 175
95,5 95,7f. 95,10 95,12 95,35 95,39 95,43 95,46 95,48 95,52 95,57 95,59 95,62f. 95,66 98,1 99,1 99,8f. 102,19 102,23–30 106,2 106,4 106,5 106,6 106,6f. 107,4 107,8 107,9 107,10 107,11 107,12 108,1 108,7 109,5 109,17 110,10 113,1 113,18 113,20 113,23 116,1 116,2 116,3 116,5 117,9 117,12 117,13 119,2f.
385 303 185 174 175 176 179 178 178 99 150 112, 158, 335 175 177 180 178 212 212 177 248 26 106, 163 61 215 215 209 171 193 193 193 194 26 110 182 26 154 84 84 51 50 146, 155 146f. 150f., 160 90 57 185 183 171
Stellenregister
386 120,20 121,5f. 121,7 121,12 121,14 121,17 121,18 121,21 122,19 123,16 123,17 124,8 124,8f. 124,14 124,16 124,19 124,20 124,22 124,22f.
115 161 162 161 188 150, 188 188 161 193 179 179 87 161 165, 170, 188 87 87 87 87 215
fragm. F 116 Ed. Haase F 117 Ed. Haase F 118 Ed. Haase T 90 Ed.Vottero T 91 Ed. Vottero T 92 Ed. Vottero
26 26 26 26 26 26
Med. 922–925 926f. 927f. 947–951 951–953 969–971 989–991 991f. 1018f.
119 119 119 119 119 119 119 119 119
nat. 1,1,14 2,45,1f. 2,48,2 3 praef. 13 6,1,3 6,1,4 6,1,8
163 234 303 110 229 229 230
6,1,9 6,1,10 6,1,14 6,1,14f. 6,1,15 6,2,1 6,2,2f. 6,2,3 6,2,4f. 6,2,7 6,2,7–9 6,2,9 6,3,1 6,3,2 6,3,4 6,4,1 6,5,1f. 6,18,1 6,21,1 6,24,1 6,25,3f. 6,31,1 6,32,1 6,32,4 6,32,5–7 6,32,8 6,32,9–12 6,32,12
230 231 231 231 231 231 231 232 232 233 233 233 233f. 210, 234 234f. 235 235 235 235 235 229 229 235 235 235 235 236 235
Phaedr. 130 131 165 177–180 183 249 250 252 362–265 483–525 601–604 637 640–644 646–653 654f. 657 658
123 123 123 123, 223 123, 133 178 128 128 130 123 124 129 129 129 129 130 129
Stellenregister 687–689 864–868 875 882–885 896f. 1191–1200 1176–1180
131 125 125 125 125 131 131
Thy. 220–244 294–299 302 404 404–411f. 406 409f. 412 413–415 419f. 420 421f. 427 428 434f. 436–439 446 450f. 452 455f. 458 461f. 466f. 469 473 476–482 488f. 973–975 978–983 985–995 995f. 996f.
131 132 134 134 131 134 134 132 132 132 132 132 132 132 133 132 133 133 133 133 133 133 133 133 133 134 135 134 134 134 134 134
vit. beat. 2,2 3,3 4,2f. 5,3
327 172 171f. 172
6,2 7,4 13,5 15,2 16,2 16,3 21,1–23,4 21,4 22,1 22,3 22,4 24,5–26,4 25,6–8
387 172 164 155 92 166 176 309 169 169 166 191 309 285
SENECA DER ÄLTERE contr. 10,5,22
266
SEXTUS EMPIRICUS adv. math. 7,12 7,16f. 7,151 7,227 7,228 7,228f. 7,229 7,229f. 7,230 7,231f. 7,236 7,241 7,242f. 7,243–247 7,244f. 7,248 7,249 7,252 7,257 8,70 11,1–109 11,22f. 11,23f. 11,60f. 11,62 11,64–67
175 24 45 32 31 33 33 33 33 34 41 41 40 40 33 32 33 32 45 35, 38 56 67 67 59 58 58
Stellenregister
388 Pyrrh. hyp. 3,168–197
5,906,18–907,5
SVF
STOBAIOS anthol. 1,129,2–6 1,368,12–20 1,368,17–20 1,368,19f. 2,39,4f. 2,42,7–45,6 2,57,19–58,4 2,59,10f. 2,60,22f. 2,62,2f. 2,65,1–4 2,65,2 2,65,3 2,75,11f. 2,76,9f. 2,76,10f. 2,76,11–13 2,76,13–15 2,80,14–21 2,81,11–15 2,84,18–85,11 2,84,23f. 2,86,17f. 2,88,1 2,88,4 2,88,4f. 2,88,6f. 2,88,8–10 2,88,14f. 2,88,16–18 2,88,18f. 2,88,19f. 2,88,20f. 2,89,6 2,90,7–18 2,90,19–91,9 2,91,1f. 2,91,2 2,91,15f. 2,92,3f. 2,212,19–21 2,215,13–15
324
56
197 49 50 50 47 26 56 68 68 68 84 48 48 167 168 169 169 169 58 58 58 58 34 44 45 43, 113 46 47, 50 55 55 56 59 59 59 59 62, 125 62, 89 90 90 126 342 342
1,67 1,319 1,527 1,612 2,56 2,764 2,827 2,835 2,858 2,879 2,885 2,896 2,912 2,975 3,2 3,3 3,5 3,75 3,168 3,397 3,409 3,432
45 342 193 342 31, 33f. 45 47 45 50 48 48 49 38 193 168 169 168 67 84 62, 89 125f. 64f., 125f.
TACITUS Germ. 2
240
TERTULLIAN anim. 14,2
47
THOMAS VON AQUIN S. th. I-II, q.23, a.2, c.a.
136
TGF (NAUCK) 965, S. 672
193
stefan röttig
Affekt und Wille
Dieses Buch widmet sich der Analyse der handlungspsychologischen und normativen Aspekte von Senecas Ethik. Unter Einbeziehung der Quellen zur älteren und mittleren Stoa arbeitet es zunächst ihr handlungspsychologisches Fundament heraus. Hiervon ausgehend erschließt es Senecas ethische Überlegungen, die allesamt auf den Tugenderwerb und die Erlangung der Glückseligkeit abzielen.
PhR
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Affekt und Wille
er römische Philosoph Seneca befasst sich in seiner Ethik mit den psychologischen Grundlagen unseres Handelns und erläutert eingehend, wie wir glücklich werden können. Affekte wie Wut, Trauer und Furcht entziehen uns nicht nur die Kontrolle über unser Handeln, sondern machen uns auf Dauer auch unglücklich. Worauf wir uns konzentrieren m üssen, ist unser Wille. In einer Welt voller Ungewissheiten ist er die einzige Instanz, die in unserer Macht steht. Richtig ausgerichtet steuern wir mit ihm unser Handeln und bahnen uns den Weg zur Glückseligkeit.
röttig
röttig Affekt und Wille
Senecas Ethik und ihre handlungspsychologische Fundierung
philosophia romana
band 4