Abjekte Antike: Die Obszönität antiker Literatur im Frankreich der Frühen Neuzeit. Dissertationsschrift 9783825347246, 3825347249

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurden obszöne Texte in Frankreich zu einem Problem erklärt, das nun nicht mehr nur Frage

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German Pages 334 [336] Year 2020

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Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1 Einleitung: Das obszöne Paradox – Methodologische Vorüberlegungen
1.1 Wert(e)verlust
1.2 Paradoxer Klassizismus: Strategien der Anti-Autorisierung
1.3 Aggregatszustände antiker Texte: Methodische Prämissen
1.4 Texte über Texte: Ziele und Herangehensweise der Untersuchung
2 Moderne Obszönität und antike Texte
2.1 ‚Obscénité‘? Historische Semantik des Obszönen und sprachliche Reinheit
2.2 Antike Dispositionen: αἰσχρολογία und ‚obscenitas‘
2.2.1 Theater, Invektive und Erziehung
2.2.2 Rhetorik der Distinktion: ‚aptum, decorum‘ und Humor
2.2.3 Autorschaft und Autonomie der Sprache
2.3 Moderne Autorschaft und obszöne Tradition: Der Prozess gegen Théophile de Viau
2.3.1 Eine Autobiographie vor Gericht?
2.3.2 »Phylis, tout est …outu« und die Antike
2.3.3 Die obszöne Bibliothek: Die »affaire Garasse« und die »ruse libertine«
3 Pathogene Antike: Obszönität und Assumption
3.1 ‚Le (dé)goût du siècle‘ und die kontaminierten ‚Modernes‘
3.1.1 ‚L’homme dégoûté‘. Ästhetik und Habitus der Abstoßung
3.1.2 Überdruss und Ansteckung: Ekel an der Literatur der Antike
3.2 »Comme un nouvel art«: Moralisierung der Ästhetik und Historisierung der Poetik
3.3 Obszönität und Öffentlichkeit: Aristophanes als ‚empoisonneur publique‘
4 (Aus)gesuchte Antike: Obszönität und Ordnung
4.1 ‚Le bon grain et la paille‘: Dekanonisierung und Hierarchisierung der obszönen Autoren
4.2 Klassische und nicht-klassische Antike in der ‚Querelle du françois et du latin‘
4.3 Gereinigte und bedeckte Textkörper: Das Obszöne in Editionen und Übersetzungen
4.3.1 Entfernung und Dislokation des Obszönen
4.3.2 Lateinische Obszönitäten in Verkleidung: Übersetzung als Gegen-Zensur
4.4 Pierre Bayle und die Rationalisierung des Obszönen
5 Entfernte Antike: Obszönität und Geschichte
5.1 Vom Kreis zur Linie: Moderne Geschichtstheorie und der Blick auf die Antike
5.2 ‚»Les Anciens sont les Anciens«‘: Die Antike als das Andere der Moderne
5.2.1 ‚Le défaut du siècle‘: Historisierung als Fundierung von Gegenwärtigkeit
5.2.2 Kontra-präsentischer Kulturpessimismus und Energetik des Obszönen
5.3 Obszönität als Provokation ‚zur‘ Literaturgeschichte: Huets Genealogie des Romans als Geschichte einer Entwurzelung
Schlussbetrachtung: Vitalität. Die obszöne Literatur und ihre Leser
Literaturverzeichnis
A.1. Antike Primärtexte
A.2 Mittelalterliche und frühneuzeitliche Primärtexte
B Forschungsliteratur
Indices
Rückumschlag
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Abjekte Antike: Die Obszönität antiker Literatur im Frankreich der Frühen Neuzeit. Dissertationsschrift
 9783825347246, 3825347249

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daniel wendt

Abjekte Antike Die Obszönität antiker Literatur im Frankreich der Frühen Neuzeit

wendt · Abjekte Antike    u Beginn des 17. Jahrhunderts wurden obszöne Texte    in Frankreich zu einem Problem erklärt, das nun nicht mehr nur Frage der persönlichen Empörung war, sondern staatliche Zensur und Strafe nach sich zog. Gleichzeitig verlor die antike Literatur im Laufe des 17. Jahrhunderts zwar ihren paradigmatischen Status, das Sprechen über die Obszönität antiker Texte nahm dabei aber immens zu und rekurrierte weiterhin auf antike Autoritäten. Ausgehend von diesem Paradox untersucht die Studie den Umgang mit dem Phänomen antiker Obszönität in literaturtheoretischen, historischen und moralischen Diskursen vor allem des 17. und 18. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund des Bedeutungswandels von obscenus zu obscène spürt sie interdiskursive Elemente in Traktaten, Lexika, Briefen, Editionen und Übersetzungen auf und analysiert (antike) Obszönität als Kollektivsymbol humanistischen, höfischen, bürgerlichen, aufklärerischen und revolutionären Selbstverständnisses. Sie beschreibt dabei Obszönität als diskursives Moment dialektischer Distanzierung zwischen Interesse und Abstoßung.

wendt

Abjekte Antike

Universitätsverlag

win t e r

Heidelberg

bi bli oth ek d er klassisc hen a ltertu m sw is s ens cha f t en Herausgegeben von

j ürg en paul sc h w i n dt Neue Folge · 2. Reihe · Band 163

daniel wendt

Abjekte Antike Die Obszönität antiker Literatur im Frankreich der Frühen Neuzeit

Universitätsverlag

winter

Heidelberg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Entstanden als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; gefördert mit einem Promotionsstipendium der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn sowie mit einem Jahresstipendium des DAAD.

umschlagbild Jean-Léon Gérôme: Phryne vor den Richtern (1861) © bpk | Hamburger Kunsthalle | Elke Walford

isbn 978-3-8253-4724-6 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2020 Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg Imprimé en Allemagne · Printed in Germany Druck: Memminger MedienCentrum, 87700 Memmingen Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier. Den Verlag erreichen Sie im Internet unter: www.winter-verlag.de

»Denn man täusche sich hierüber nicht: was das eigentlichste Merkmal moderner Seelen, moderner Bücher ausmacht, das ist nicht die Lüge, sondern die eingefleischte Unschuld in der moralistischen Verlogenheit. Diese »Unschuld« überall wiederentdecken müssen – das macht vielleicht unser widerlichstes Stück Arbeit aus […] – es ist ein Weg, der vielleicht gerade uns zum grossen Ekel führt… Ich zweifle nicht daran, wozu allein moderne Bücher (gesetzt, dass sie Dauer haben, was freilich nicht zu fürchten ist, und ebenfalls gesetzt, dass es einmal eine Nachwelt mit strengerem härteren gesünderen Geschmack giebt) – wozu alles Moderne überhaupt dieser Nachwelt dienen würde, dienen könnte: zu Brechmitteln«.

F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral

Inhaltsverzeichnis Vorwort: ........................................................................................................................ 9 1

Einleitung: Das obszöne Paradox – Methodologische Vorüberlegungen .............. 11 1.1 1.2 1.3 1.4

Wert(e)verlust? ....................................................................................................11 Paradoxer Klassizismus: Strategien der Anti-Autorisierung............................ 17 Aggregatszustände antiker Texte: Methodische Prämissen ............................. 24 Texte über Texte: Ziele und Herangehensweise der Untersuchung ............... 34

2 Moderne Obszönität und antike Texte ...................................................................43 2.1 Obscénité? Historische Semantik des Obszönen und sprachliche Reinheit .... 44 2.2 Antike Dispositionen: αἰσχρολογία und obscenitas .......................................... 63 2.2.1 Theater, Invektive und Erziehung ........................................................... 64 2.2.2 Rhetorik der Distinktion: aptum, decorum und Humor ........................ 70 2.2.3 Autorschaft und Autonomie der Sprache .............................................. 79 2.3 Moderne Autorschaft und obszöne Tradition: Der Prozess gegen Théophile de Viau .............................................................. 89 2.3.1 Eine Autobiographie vor Gericht? .......................................................... 90 2.3.2 »Phylis, tout est …outu« und die Antike............................................... 99 2.3.3 Die obszöne Bibliothek: Die »affaire Garasse« und die »ruse libertine« .................................. 104 3

Pathogene Antike: Obszönität und Assumption................................................... 117 3.1 Le (dé)goût du siècle und die kontaminierten Modernes .................................119 3.1.1 L’homme dégoûté. Ästhetik und Habitus der Abstoßung......................119 3.1.2 Überdruss und Ansteckung: Ekel an der Literatur der Antike ............. 125 3.2 »Comme un nouvel art«: Moralisierung der Ästhetik und Historisierung der Poetik ............................ 138 3.3 Obszönität und Öffentlichkeit: Aristophanes als empoisonneur publique .... 149

4 (Aus)gesuchte Antike: Obszönität und Ordnung ................................................ 165 4.1 Le bon grain et la paille: Dekanonisierung und Hierarchisierung der obszönen Autoren ....................166 4.2 Klassische und nicht-klassische Antike in der Querelle du françois et du latin ........................................................................ 176

8 4.3 Gereinigte und bedeckte Textkörper: Das Obszöne in Editionen und Übersetzungen .............................................. 185 4.3.1 Entfernung und Dislokation des Obszönen .......................................... 187 4.3.2 Lateinische Obszönitäten in Verkleidung: Übersetzung als Gegen-Zensur ............................................................... 193 4.4 Pierre Bayle und die Rationalisierung des Obszönen .................................... 207 5

Entfernte Antike: Obszönität und Geschichte...................................................... 223 5.1 Vom Kreis zur Linie: Moderne Geschichtstheorie und der Blick auf die Antike ................................................................................................... 225 5.2 »Les Anciens sont les Anciens«: Die Antike als das Andere der Moderne ..236 5.2.1 Le défaut du siècle: Historisierung als Fundierung von Gegenwärtigkeit ............................237 5.2.2 Kontra-präsentischer Kulturpessimismus und Energetik des Obszönen ..................................................................254 5.3 Obszönität als Provokation zur Literaturgeschichte: Huets Genealogie des Romans als Geschichte einer Entwurzelung .............. 266

Schlussbetrachtung: Vitalität. Die obszöne Literatur und ihre Leser ....................... 279 Literaturverzeichnis ...................................................................................................... 285 A.1. Antike Primärtexte ................................................................................................ 285 A.2 Mittelalterliche und frühneuzeitliche Primärtexte .............................................. 288 B Forschungsliteratur................................................................................................ 299 Indices

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Vorwort: Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen des trinationalen Graduiertenkollegs »Gründungsmythen Europas in Literatur, Kunst und Musik« der Universitäten Bonn, Paris (Sorbonne) und Florenz. Sie wurde im Sommer 2017 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen und für die Publikation leicht überarbeitet. Im Laufe der Arbeit habe ich vielerlei Unterschützung erfahren, ohne die das vorliegende Buch nicht möglich gewesen wäre. Zu danken habe ich meinem Erstbetreuer Prof. Dr. Thomas A. Schmitz, der die Arbeit mit dem nötigen intellektuellen Freiraum entstehen ließ und sie mit kritischem Blick, philologischer Genauigkeit und methodischer Klarheit begleitet, bereichert und gefördert hat. Ferner danke ich Prof. Dr. Michel Delon (Paris) für für die Übernahme des Zweitgutachtens, vielerlei Unterstützung und wertvolle Hinweise, Prof. Dr. Michela Landi (Florenz) für die Teilnahme an der Prüfung sowie Prof. Dr. Marc Laureys als Vorsitzendem der Prüfungskommission. Der Forschungsstelle Gregor von Nyssa an der Universität Münster, in Person ihrer ehemaligen Leiter Dr. Maria Vrysa und Dr. Andreas Bedke, danke ich für die Flexibilität und das Verständis, das mir während des Studienabschlusses und in den ersten Jahren der Promotion entgegengebracht wurde. Finanziell gefördert wurde die Dissertation mit einem Promotionstipendium der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn sowie mit einem Jahresstipendium des DAAD für den Aufenthalt in Paris. Dankbar bin ich Prof. Dr. Jürgen Paul Schwindt für die Aufnahme meines Buches in die Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften und für die vielfältige Unterstützung seit dem Abschluss des Promotionsverfahrens. Ebenfalls danken möchte ich Dr. Andreas Barth und Andrea Hehn vom Winter-Verlag für die Geduld und die praktische Hilfe sowie den Mitarbeitern der BnF Paris für Unterstützung, auch à distance. Für Ideen, gesellige Diskussionen und bereitwillige Unterstützung verschiedenster Art, von der Themenentwicklung bis zur Drucklegung, danke ich meinen Eltern sowie Andreas Bedke, Marina Bletsas, Dennis Borghardt, Tobias Brügge, Sara Colombo, Marie Gaboriaud, Marina James-Appel, Christian Keitel, Noga Mishliborsky, Christina Lammer, Emilie Lebon-Samborski, Katarina Rempe, Nicholas Steinbrink und den engagierten Zuhörern und Zuhörerinnen, denen ich mein Thema in Vorträgen und Kolloquien näherbringen durfte. Mein ganz besonderer und innigster Dank gilt Elisabeth Flucher: für ihre immensen hermeneutischen, technischen, stilistischen und maieutischen Fähigkeiten, ihre Diskussionsfreude und vor allem ihre humorvolle Geduld mit einem Doktoranden im Endstadium. Ohne sie hätte ich dieses Buch nicht fertigstellen können.

1 Einleitung: Das obszöne Paradox – Methodologische Vorüberlegungen »Tota methodus conſiſtit in ordine & diſpoſitione eorum, ad quæ mentis acies eſt conuertenda, ut aliquam ueritatem inueniamus. […] In hoc uno totius humanæ induſtriæ ſumma continetur, atque hæc regula non minus ſervanda eſt rerum cognitionem aggreſſuro, quàm Theſei filum labyrinthum ingreſſuro.«1 R. Descartes, Regulae ad directionem ingenii (1619–1628) »Qu’ai-je affaire de ſçavoir comme les anciens faisoient l’amour, quand je veux le faire dans ce ſiecle ici?« M.-Chr. Desjardins, Carmente (1668)

1.1 Wert(e)verlust? Wer braucht noch die obszöne Literatur der Antike? – Diese Frage wurde seit dem 17. Jahrhundert zumeist nur noch als rhetorische Frage diskutiert. Zunehmend wurde die Überzeugung zur Gewissheit, dass die obszöne Antike in der Moderne keinen Platz habe, dass sie obsolet geworden sei. Der generelle historische Bruch mit der Antike wurde, so die Literaturgeschichtsschreibung, in Frankreich im 17. Jahrhundert vollzogen. Im Laufe der berühmten Querelle des Anciens et des Modernes 2 fand ein Paradigmenwechsel statt, im Zuge dessen die antike Literatur ihre Modellhaftigkeit verlor. 3 Die Querelle bildete dieser Ansicht zufolge als Akt der Autonomie die 1

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Descartes 1701 [1619–1628], 28 (»Die gesamte Methode besteht in der Ordnung und Disposition der Dinge, auf die die Geistesschärfe zu richten ist, damit wir irgendeine Wahrheit finden. […] Hierin allein ist die Summe aller menschlichen Anstrengung enthalten, und dieser Regel muss nicht weniger folgen, wer sich anschickt, die Erkenntnis der Dinge anzugehen, als dem Faden des Theseus folgen muss, wer sich anschickt, das Labyrinth zu betreten.«) Deutsche Übersetzungen aus dem Lateinischen und Griechischen in dieser Arbeit stammen, soweit nicht anders angegeben, von mir. Für eine prägnante Zusammenfassung der Forschung über die Querelle im 20. Jahrhundert siehe Patey 1997, 32–34. Wie Jauß (1964, 9) bemerkt, wird der Streit um die Vorbildhaftigkeit der Antike im 18. Jahrhundert zumindest in seiner Intensität beendet, »nicht etwa – wie oft zu lesen – weil ihn ein Sieg der Partei des Fortschritts für sich entschieden hätte, sondern weil sich das eigentliche Dilemma des Streites von einem bestimmten Punkte an aufgelöst hat. Dieser Punkt war eingetreten, als mit der Wahrnehmung der absoluten Verschiedenheit des Antiken und des Modernen die Voraussetzungen eines Denkens in nicht abschließbaren Vergleichen und ›Parallelen‹ entfielen, die den Streit jahrzehntelang unentscheidbar hatten erscheinen lassen.« (Hervorhebung im Original) Wie es zu dieser veränderten Wahrnehmung der Antike als Alterität (wenn auch keine absolute, wie Jauß behauptet) kam, thematisiert Jauß indes nicht. Die enorme kulturelle und historische Distanz zur Antike wird zudem durchaus auch in der Renaissance angesprochen. Ebenfalls bemerkt Jauß, dass in der Querelle der »Ursprung eines neuen geschichtlichen Verstehens [liegt], das erst allmählich als unerwartetes Ergebnis der wechselseitigen Kritik von Anciens und Modernes hervortritt, am

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Das obszöne Paradox

Geburtsstunde der modernen Literatur und der Moderne schlechthin.4 Dieser Akt der Abgrenzung von der Antike lässt sich besonders eindrücklich anhand des Phänomens der Obszönität nachvollziehen. Das Obszöne geriet zur Insignie der antiken Literatur schlechthin: »Il y a peu d’auteurs anciens entierement exempts d’obſcénité«, heißt es im Artikel obscène der Encyclopédie.5 Die Obszönität antiker Texte wurde im 17. und 18. Jahrhundert extensiv problematisiert und kritisiert, sie traf dabei auf konsequente und breite Ablehnung. Diese Ansicht gibt jedoch nur ein oberflächliches Bild. Denn wenngleich die Orientierung an der Antike als positivem Modell in der kritischen Zeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einem Wandel unterliegt, blieb die Diskussion von Anciens wie Modernes auf antike Traditionen und Kategorien bezogen, die die jeweilige Argumentation stützen sollten.6 Dieser negative Diskurs ist wiederum von einem großen Interesse an der (obszönen) Antike geprägt: Die Negation wurde performativ immer wieder wiederholt, es entzündete sich eine »diskursive Explosion« 7 um das Phänomen der Obszönität in den Texten Aristophanes’, Juvenals, Martials, Catulls, Ovids und Petrons. Es handelt sich mithin um ein paradoxes Phänomen: Im gleichen Maße, wie die Lektüre und die Autorität antiker Texte radikal in Frage gestellt wurden, vergrößert und verbreitet sich das Interesse an ihnen. Dies ist auch im Hinblick auf die obszönen Texte selbst der Fall, die zwar zunehmend problematisiert, aber ebenso in einer stark gestiegenen Anzahl an angefertigten Editionen, Übersetzungen und Auflagen rezipiert wurden.8 Durch Übersetzungen und die größere Verbreitung gedruckter Bücher stand

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sich wandelnden Bild der Antike im 18. Jahrhundert mehr und mehr greifbar wird und schließlich in das geschichtliche Weltverständnis der Romantik übergeht.« (Jauß 1964, 12, Hervorhebung im Original). Demgegenüber wird hier von einem dialektischen Verhältnis zwischen geschichtlichem Verstehen und Antikenbild ausgegangen. Die sich wandelnden Antikebilder sind nicht Begleiterscheinung oder Ergebnis eines anderen Geschichtsverständnisses, sondern in diesem Transformationsprozess wirken entsprechende traditierte Antikebilde – präfigurierend und plaubsibilisierend – aktiv mit. Kritisch zu Jauß auch Stackelberg 1980. Vgl. Geyer 22007 [1997], 129f. Ihr Selbstverständnis hat jüngst Norman pointiert formuliert (Norman 2017, 269): »In short, the period understood itself as uniquely new, or more precisely as modern, as fundamentally different from—and better than—the past.« Encyclopédie, s.v. obscene [Diderot], t. 11 (1765), 309. Dies gilt insbesonders für die Rhetorik (Cicero/Quintilian) und Poetik (Aristoteles/ Horaz). Vgl. Forestier/Bury 2007, 500–506. Jauß veranschlagt dies zwar »noch« für die Querelle selbst (Jauß 1964, 13: »Im Unterschied zu den herkömmlichen Darstellungen, die vornehmlich auf die Gegensätze der beiden Lager gerichtet sind, gehen wir von den latenten humanistischen Voraussetzungen aus, die den verschiedenen Positionen der Anciens und der Modernes noch gemeinsam sind.«), lässt aber, aufgrund seines literaturevolutionären Ansatzes, diese Kontinuität mit der Querelle enden. Die Metapher ist Foucault entlehnt, der im ersten Band der Histoire de la Sexualité (1976), von einer »explosion discursive« hinsichtlich des Sprechens über Sexualität im 17. und 18. Jahrhundert spricht. Besonders eindringlich ist dies bei Petron der Fall: Im Anschluss an die Wiederentdeckung der Cena Trimalchionis auf einem Codex in Dalmatien um 1650 und der erstmaligen Edition (Padua 1664) stieg in ganz Europa das Interesse an Petron enorm. Innerhalb kürzester Zeit gaben Mentelius (Paris 1664, Nachdruck 1666 und Amsterdam 1670), Scheffer (Uppsala 1665, Nachdruck Hamburg 1675), Reinesius (Leipzig 1666) und Arnold (Nürnberg 1667) die Cena ebenfalls heraus. Hadrianides (Amsterdam 1669) gab dann als erster die überlieferten

Wert(e)verlust?

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gegenüber der Renaissance eine äußerst heterogene Leserschaft für antike Texte zur Verfügung, die zu einer neuen Konkurrenzsituation bei der Deutung führte. Es waren nicht mehr nur die humanistischen Gelehrten, die sich mit den Texten befassten, sondern die Obszönität der Texte wurde für eine breite Öffentlichkeit relevant. Die obszöne Antike rückte somit vom Privaten in ein öffentliches Licht, was Abgrenzungsund Identifikationsstrategien zur Folge hatte. Vor diesem Hintergrund wurden multiple Antiken 9 konstruiert und funktionalisiert, die sich in den verschiedensten Diskursen wiederfinden. Die vorliegende Arbeit möchte diesen Antikebildern und den Funktionalisierungen der antiken Obszönität von der Literaturkritik, der Philologie und Sprachtheorie bis zur Geschichtstheorie nachgehen und die Referenz auf die Antike dabei auch als Strategie (sozialer) Distinktion verstehen. Welche Autoren als obszön galten, war zwar keineswegs statisch, doch lassen sich Kontinuitäten feststellen: Besonders häufig werden Aristophanes, Catull, Ovid, Petron und Martial genannt. Auf diese Autoren wird sich die Arbeit daher fokussieren. In der Diskussion über die obszönen Autoren wird ein stillschweigender Konsens darüber suggeriert, was obszön ist. Das Reden über die obszöne Antike ist hier wiederum Teil der Vervielfältigung und Intensivierung des Sprechens über Sexualität, deren Beginn Foucault im 17. Jahrhundert ausmacht.10 Mit der Repression der ars erotica, mit der staatlichen Zensur, ging, so Foucault, eine »incitation politique, économique, technique, à parler du sexe« 11 in vielen anderen Bereichen einher. Die Diskursivierung des Redens über Sexualität als scientia sexualis vollzog sich dabei vor allem im Recht, in der Medizin und in der Religion (hier u.a. in der Beichtpraxis).12 Es mag daher nicht erstaunen, dass der juridische, der medizinische und der moralische Diskurs in hohem Maße wiederum auf den literarischen Diskurs übergriffen, das Reden über antike Obszönität folglich von juristischen und medizinisch-biologischen Metaphoriken dominiert wird. Jürgen Habermas hat die Moderne in ihrem »Bedürfnis nach Selbstvergewisserung« charakterisiert. 13 Die Konstruktion der Moderne bedarf hierzu einer Negativfolie, von der sie sich positiv abgrenzen kann. Die obszöne Literatur der Antike stellt eine solche Folie dar, die allerdings auf ganz unterschiedliche Weisen in der

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Fragmente in ihrer Gesamtheit, d.h. inklusive der Cena, heraus. Zwischen 1668 und 1693 erscheinen allein zwölf Editionen der Satyrica (vgl. Collignon 1905, 56). Im Jahr 1709 gab Pieter Burman die erste Edition nach modernen textkritischen Standards heraus. Teilübersetzungen ins Französische unternahm zunächst Marolles (1654 das Bellum Civile, 1667 die Troiae halosis, 1677 die Cena). Eine erste Gesamtübersetzung erfolgte anonym (Köln 1687). Die Übersetzungen von Alexandre Lainez (1650–1710) und Nicolas Venette (1632–1698) wurden nicht abgeschlossen bzw. nicht publiziert. Vgl. Collignon 1905, 63–68. Vgl. Klaniczay/Werner/Gecser 2011, 9–11. Foucault 1976, 25. Vgl. Darmon 1983, 74: »La grande répression sexuelle des temps modernes ne commence vraiment qu’au XVIIe siècle. Au XVIe, tout esprit répressif se retranche encore timidement dans le discours souvent ambigu de quelques prédicateurs ou dans certains manuels de droit et de théologie. Partout ailleurs on assiste à une véritable explosion de sensualité. La sexualité s’épanche en toute liberté et se retrouve partout, dans les rues, dans les étuves, dans les cloîtres, dans les ouvrages les plus austères.« Foucault 1976, 33. Foucault 1976, 42–44. Besonders eindrücklich wird diese Verquickung im Gedicht Phylis, tout est …outu (1622) und dem Prozess, den es auslöste. Siehe hierzu Kapitel 2.3. Habermas 1988, 9–33.

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Das obszöne Paradox

Abgrenzung ebenfalls erst konstruiert wird. Die französische Aufklärung (seit Descartes) stellt eine, wenn nicht die entscheidende Phase der Herausbildung der modernen Literatur dar. Die Ansicht, dass es sich bei der Antike um eine gänzlich andere Epoche handelt, dass eine große historische Distanz zu ihr herrscht, blieb selbst in der Querelle unbestritten. »What the parties differed on, then, was not the deep fissure between antiquity and modernity, but instead the value to be granted those different times and, perhaps more fundamentally, the criteria for judging such value.«14 Ein Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, zu zeigen, dass diese Überzeugung der historischen Distanz keineswegs so gefestigt war, sondern die Distanzierung performativ immer wieder vollzogen werden musste und dass sich hierbei verschiedene Strategien der Distanzierung feststellen lassen. Die Idee der Obszönität ist erhellend für das Verständnis literaturgeschichtlicher Prozesse, denn sie beinhaltet bereits das Momentum der dialektischen Distanzierung; dialektisch deshalb, weil die Distanzierung als solche die Nähe zum Gegenstand einschließt und diesen ebenso wie sich selbst erst in der Abstoßung sichtbar werden lässt. Die entsprechenden Konstruktionen wirken wiederum präfigurierend und plausibilisierend an gesellschaftlichen Transformationsprozessen mit. Gerade im Phänomen des Obszönen nämlich zeigt sich die Notwendigkeit der Abgrenzung von der Antike. Die vorliegende Arbeit möchte diesen konstruktiven Funktionen der Abgrenzung und Negation in der Konstruktion von Identität nachgehen: Die französische Sprache und Literatur, die Erziehung und Bildung, die ästhetischen Kategorien, die moralischen Werte, die soziale und nationale Identität sind in hohem Maße durch die Antike geprägt. Aufgrund dieser großen Nähe zur Antike musste die Moderne folglich Strategien der Abgrenzung entwickeln, die in ihrer Schärfe nur aus der als zu groß empfundenen Nähe verständlich werden. Die Ablehnung der obszönen Antike erfolgt in unterschiedlicher Dynamik und Intensität: Sie ist Gegenstand von extremer Distanzierung (dégoût), von Klassifikations- und Ordnungsakten und von einem distanzierten, historischen Interesse. Gleichzeitig sind aber auch Strategien der Inversion zu beobachten, die im Rahmen der Zeitkritik die Obszönität der Antike idealisieren. Die verschiedenen Antike-Narrative 15, die im 17. und 18. Jahrhundert entworfen und aufgerufen wurden, sind in konkreten sozialhierarchischen Machtkomplexen des 14 15

Norman 2011, 15. Unter Narrativ verstehe ich hier eine sinnstiftende und legitimierende Erzählung als Form der Kohärenzherstellung, als ein retrospektives Ordnen, über das Werte und Emotionen transportiert werden. Derartige Narrative stellen Sinn- und Deutungsangebote dar, die jeweils unterschiedlich transformiert und dabei jeweils neu auf bestehende Ordnungen und Figurationen bezogen werden können. Das Konzept historischer Narrative geht auf die Arbeiten von Hayden White (1973) und Jean-François Lyotard (1979) zurück. Letzterer hat die Postmoderne gerade durch eine Abwesenheit solcher »Meisternarrative« charakterisiert, die in der Aufklärung vor allem die Erzählungen von der Emanzipation des mondernen rationalen Subjektes und vom Fortschritt darstellten (Lyotard 1979, 7): »La science est d’origine en conflit avec les récits. A l’aune de ses propres critères, la plupart de ceux-ci se révèlent des fables. Mais, pour autant qu’elle ne se réduit pas à énoncer des régularités utiles et qu’elle cherche le vrai, elle se doit de légitimer ses règles de jeu. C’est alors qu’elle tient sur son propre statut un discours de légitimation, qui s’est appelé philosophie.

Wert(e)verlust?

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literarischen Feldes angesiedelt, sie sind also von einer starken Aneignung durch verschiedene Personen und Gruppen geprägt. Die diskursive Aneignung dieser Narrative beruhte auf einem breiten öffentlichen Konsens hinsichtlich der Ablehnung des Obszönen, bildet also zuallererst die Voraussetzung für einen Diskurs der Krisis, der um nahezu alle Gewissheiten ringt. Die Antike wird, wie ich zeigen möchte, im Zuge des Prozesses der Herausbildung der Moderne als »abjekt« konstruiert:16 Der lateinische Begriff abiectus 17 (von abicere, ‚wegwerfen’) verweist auf den Akt der Distanzierung und umfasst die drei Aspekte der aufgerufenen Antikebilder, denen in dieser Arbeit nachgegangen werden soll. Die obszöne Antike wird im untersuchten Zeitraum konstruiert als 1. das Abgestoßene und Verachtete (repulsum, contemptum, turpe): Die besondere Nähe und Präsenz der obszönen Literatur der Antike erfordern eine besonders starke Distanzierung, die mittels des Ausdrucks von Ekel verbal vollzogen wird. Das Obszöne wird in diesem Diskurs als Zeichen des ästhetisch und moralisch Niedrigen, zum Ungesunden und Schädlichen, zur Chiffre einer vita abiecta stilisiert, die im Zuge sozialhierarchischer Legitimierung innerhalb des literarischen Feldes stark abgestoßen wird (Kapitel 3),

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Quand ce métadiscours recourt explicitement à tel ou tel grand récit, comme la dialectique de l’Esprit, l’herméneutique du sens, l’émancipation du sujet raisonnable ou travailleur, le développement de la richesse, on décide d’appeler ›moderne‹ la science qui s’y réfère pour se légitimer. C’est ainsi par exemple la règle du consensus entre le destinateur et le destinataire d’un énoncé à valeur de vérité sera tenue pour acceptable si elle s’inscrit dans la perspective d’une unanimité possible des esprits raisonnables: c’était le récit des Lumières, où le héros du savoir travaille à une bonne fin éthico-politique, la paix universelle.« In diese von Lyotard bestimmten Metanarrative sind, wie gezeigt werden soll, die Narrative einer obszönen Antike eingeflochten. Der Begriff »abjekt« ist in den Geisteswissenschaften vor allem durch Julia Kristevas Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection (1980) bekannt, von dem sich meine Verwendung nicht unwesentlich unterscheidet. Im Französischen und Englischen gehört das Adjektiv zum allgemeinen Wortschatz und bezeichnet das »Niedere, Elende, Widerliche, Niederträchtige«. In diesem Sinne wird der Begriff auch in der Klassischen Philologie bisweilen in abgeschwächter Form einer »abject pose« verwendet, wie jüngst von Ferris-Hill 2015, 86– 95, die damit das self-fashioning insbesondere der Dichter der Alten Komödie und der Römischen Satire charakterisiert, die sich als »flawed« oder »imperfect creator« inszenierten. Rosen 2007 spricht im Hinblick auf antike Satire (im weiten Sinne) von (poetics of) comic abjection. Im Deutschen findet sich der Begriff ausschließlich im wissenschaftlichen Diskurs und wird dort im Anschluss an Kristeva insbesondere in einer sozialwissenschaftlichen Perspektive verwendet, wo sich diese mit Randgruppen beschäftigt. Dies ist in vorliegender Studie ausdrücklich nicht gegeben. Es geht nicht um unterdrückte oder subalterne Gruppen, sondern eher um synchrone und diachrone Marginalisierungsstrategien. Auch die psychoanalytischen Implikationen des Konzeptes der Abjektion sollen hier nicht als Erklärungsmodell herangezogen werden. Dennoch sind manche von Kristevas Überlegungen, insbesondere zum Ekel, in diese Arbeit eingeflossen. Zu Kristevas Konzept der Abjektion und zur Abgrenzung vom Ekel siehe Menninghaus 2002, 516–567. Vgl. TLL s.v. abicio [Lehnert,] vol. I, 90.21–91.71.

Das obszöne Paradox

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2. das Kunst- und Wertlose (proiectum, incomptum, vile): Die obszöne Literatur ist Gegenstand der Ordnungsbestrebungen der Aufklärung. Das Obszöne wird als Beleg für die Nachlässigkeit, Fehlerhaftigkeit der Antike, ihre nicht erreichte Perfektion gewertet und entsprechend als wertlos degradiert, separiert und aussortiert, wodurch die obszönen Texte wiederum für Gegendiskurse nutzbar gemacht werden können (Kapitel 4), 3. das Entlegene, Unverständliche und Verlorene (remotum, obscurum, perditum): Die obszöne Literatur gehört einer gänzlich anderen, entfernten Zeit und Kultur an. Sie bildet nicht einen Höhepunkt, sondern den Beginn einer historischen Entwicklung. Das Obszöne wird zum Kennzeichen einer historisch überwundenen, aber damit auch verlorenen Epoche, die durch ihre Ferne auch ihre Gefährlichkeit verliert. Die Antike trägt, im Bild einer kindlichen Unschuld, auch das Potenzial der Erneuerung in sich (Kapitel 5). Das Prinzip der Obszönität, so die Ausgangsüberlegung, entspricht dem ambivalenten Verhältnis zur Antike, zwischen Nähe und Distanz, zwischen Identität und Alterität, das im 17. Jahrhundert im Zuge der Herausbildung der Moderne entsteht. Im Begriff obscène/obscénité, der lange als Latinismus behandelt wurde und sich semantisch doch wesentlich vom Lateinischen obscenus/obscenitas unterscheidet18, verdichtet sich diese diskursive Positionierung gegenüber der Antike, die zwischen Interesse und Abstoßung changiert. Obszönität ist nicht nur eines der Kriterien, die die Rezeption der antiken Texte lenken, sondern sie lässt sich auch auf das Prinzip der Rezeptionsgeschichte – etwa Dekanonisierung als Ausschlussprozess – übertragen. Die Analogie zwischen Obszönität und Rezeption als zweier ästhetischer Praktiken legt es nahe, die Rezeptionsgeschichte eben aus der Perspektive der Obszönität zu betrachten. Denn das Prinzip der Obszönität setzt einen Leser voraus, es wird erst im Verhältnis zu diesem sichtbar. Den untersuchten Texten liegt folglich eine explizite oder implizite Konzeption des Lesers zugrunde, die es – auch in ihrer Paradoxie – herauszuarbeiten gilt. Das Phänomen der Obszönität ist besonders in der Aufklärung diskursiv virulent, da es gewissermaßen den Knotenpunkt bildet, an dem sich das Interesse der Aufklärung nach Erfassung und Veröffentlichung (sichtbar-machen) aller Lebens- und Wissensbereiche mit der gegenläufigen (medizinisch geprägten) Tendenz, »Schmutz« gänzlich aus der Öffentlichkeit zu verbannen, reibt. Einige (diskursive) Stränge dieses Knotens sollen in der vorliegenden Arbeit entwirrt werden, namentlich der literarische, der historische und der ethisch-moralische (soziale) Diskurs. Ferner werden epistemische Änderungen im medizinischen und im juridischen Diskurs, die beide eng mit dem literarischen Diskurs verquickt sind, berücksichtigt. Ziel dieser Ergänzungen ist wiederum nicht die vollständige Erfassung der literaturhistorischen Gegebenheiten, sondern es soll darum gehen, paradigmatische Konstellationen offenzulegen.

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Siehe hierzu Kapitel 2.1.

Wert(e)verlust?

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Eine solche Betrachtung bliebe allerdings eindimensional, wenn sie die Rolle verschwiege, die die antiken Texte selbst bei der Herausbildung ihrer Rezeptionsbedingungen spielen. Denn nicht nur in der Selbstkonstruktion macht sich die Moderne von der Antike abhängig, sondern die Diskussionen um das Obszöne und um den Umgang mit der Vergangenheit rekurrieren teils offen, teils implizit auf antike Diskurse und schreiben sich in diese ein. Anders formuliert: Die Rezeption der obszönen Literatur der Antike ist in hohem Maße durch antike Texte, die sich mit der Idee des Obszönen beschäftigen – die Philosophie (Politik und Ethik), die Rhetorik und die Poetologie – präfiguriert.

1.2 Paradoxer Klassizismus: Strategien der Anti-Autorisierung Die Debatte zwischen Erneuerern und Bewahrern der Kunst wird bekanntlich seit der Antike geführt. 19 Die Spannung zwischen dem Neuen und dem Alten ist eine Konstante der Literaturgeschichte, die in manchen Epochen besonders intensiv ausgeprägt ist.20 Als besonders wirkmächtig hat sich hierin die Opposition zwischen Attizismus und Asianismus erwiesen21, die, wie noch gezeigt werden wird, auch in der

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Zu dieser Tradition siehe die Überblicksdarstellung von Rötzer 1979. Zur Idee von Neuheit, Wandel und Niedergang in der römischen Literatur siehe Hinds 1998, 74–91. Voltaire beginnt seinen Artikel zur Querelle mit der Betonung der Kontinuität und sieht die Ursache für den Streit im Epigonalen: »Le grand procès des anciens & des modernes n’eſt pas encor vidé; il eſt ſur le bureau depuis l’âge d’argent qui ſuccéda à l’âge d’or. Les hommes ont toûjours prétendu que le bon vieux tems valait beaucoup mieux que le tems préſent« (Voltaire 1770–1772, s.v. anciens et modernes, t. 1 [1770], 277). Er zieht im Folgenden eine Linie von der Figur des alten Nestors im Widerstreit mit Agamemnon und Achill in der Ilias über Lukrez (2.1159–1161) und Horaz’ Augustus-Epistel bis zu Fontenelle. »Alt« und »neu« sind relative Begriffe, deren Referenz sich naturgemäß im Laufe der Zeit verändert. Zum Gedanken siehe CIC. Brut. 39; TAC. dial. 17; 25: ann. 11.24. Der Relativismus der Begriffe birgt gleichermaßen Potenzial für Konflikte wie für deren Beilegung in sich. Vgl. hierzu Jauß 31973, 12: »Denn schon fast während der ganzen Geschichte der griechischen und römischen Literatur und Bildung, von der alexandrinischen Homerkritik bis zum Rednerdialog des Tacitus, ist durch solche Ansprüche der ›Neueren‹ immer neu der Streit mit den Verehrern der ›Alten‹ entbrannt, aber auch immer wieder in letzter Instanz durch den Gang der Geschichte von selbst beigelegt worden. Insofern nämlich als die ›Neueren‹ mit der Zeit unvermeidlich selbst antiqui wurden, die Nachkommenden die Rolle der neoterici übernahmen.« (Hervorhebung im Original) Wenngleich dieser Einschätzung grundsätzlich zuzustimmen ist, verkennt Jauß die Dynamik des Begriffes »antiquus«. Denn auch das, was im positiven wie negativen Sinne als »alt« bezeichnet wird, ist keineswegs statisch, sondern unterliegt einem Selektions- und Konstruktionsprozess. Die von Jauß proklamierte Selbstauflösung des Konfliktes erklärt freilich weder, warum zu bestimmten Zeiten der Konflikt besonders stark war, noch die gegenteilige Entwicklung verstärkter klassizistischer Bewegungen wie etwa in der Zweiten Sophistik, die Jauß interessanterweise unerwähnt lässt. Ferner lässt eine solche Methode die sozialen Orte, von denen gesprochen wird, d.h. auch die synchronen Rivalitäten, in denen die Positionierung als »modern« oder »traditionell« vorgenommen werden, außer Acht und unterschätzt die innovative, kontrapräsentische Kraft des Alten. Das Entstehen dieser Opposition wird in der Regel auf das erste Jahrhundert v. Chr. angesetzt und Dionysius von Halikarnass (ca. 54–7 v. Chr.) zugeschrieben. Besonders in der

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Behandlung des Obszönen im 17. und 18. Jahrhundert stark nachwirkt. In der Literaturgeschichtsschreibung wird die Querelle vorrangig unter dem Aspekt der Innovation und der Modernität betrachtet. Der Umstand, dass sich hier die historische Distanz von der Antike durchsetzt, hinter die auch die Anciens nicht mehr zurücktreten könnten, wird zum Momentum der Herausbildung der Literatur der Moderne erklärt. Kaum beachtet ist hingegen die Tatsache, dass in der Diskussion über die Antike wiederum Diskurse der Antike fortgeführt, Argumente, Denkfiguren und Metaphern (autoritativ) auf- und übernommen werden. Die Querelle selbst trägt mithin paradoxe Züge, die folgendes Beispiel verdeutlichen kann. Jean Desmarets de Saint Sorlain zitiert im ersten Kapitel (»De l’amour de l’antiquité«) seiner Comparaison de la Langue et de la Poësie Françoise avec la Grecque et la Latine (1670) 22 ausführlich aus Horaz’ Augustus-Epistel (epist. 2.1., ca. 13. v. Chr.)23, um die These von der Überlegenheit der französischen Sprache und Literaturtheorie über die lateinische und griechische zu untermauern. Die Parallele liegt auf der Hand: Horaz spricht sich in diesem Brief im Widerstreit der novi und der veteres für seine zeitgenössischen Dichterkollegen aus. Alter sei kein Kriterium für literarische Qualität. Desmarets wählt allerdings nicht das Ende des Briefes, in dem Horaz eine Dekanonisierung der älteren römischen Dichter wie Ennius zugunsten zeitgenössischer Dichter wie Vergil fordert,24 sondern den Anfang (1–27), der zunächst von Herrscherpanegyrik geprägt ist, durch die sich leicht eine Parallele zur Gegenwart herstellen

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Zweiten Sophistik wird der Gegensatz als Prinzip der Epigonalität virulent. Vgl.Wisse 2001; Kim 2010. Desmarets de Saint Sorlin 1670, 4–6. Zu Horaz’ Konstruktion römischer Literaturgeschichte siehe generell Tarrant 2007; ferner Feeney 2002a und 2002b, besonders 179–183, wo er Horaz’ Literaturgeschichtsschreibung (speziell im August-Brief) im Sinne Perkins’ als »›critical‹ literary history,« sieht, »which ›does not perceive the literature of the past in relation to the time and place that produced it, but selects, interprets and evaluates this literature only from the standpoint of the present and its needs‹. [=Perkins 1992, 179, D.W.] In other words, like all literary history, it is very bad history.« Zu Horaz als Verteidiger von Modernität siehe Rudd 1979, 175 sowie Lowrie 2002, 159–167, besonders ihr Urteil (159): »Horace is not a modern in the sense that ›Modernity exists in the form of a desire to wipe out whatever came before‹ [=de Man 1983, 148, D.W.]. […] He is one, however, perhaps by default, in not automatically admiring the ›ancients‹. His argument about priority of literary quality over age in fact dismisses the consideration of age, whether old or new, as value in and of itself.« Vgl. Suerbaum 2012, 190–193. Vgl. auch HOR. ars 52–59. Horaz’ Fortschrittsdenken ist (wie generell in der Antike) allerdings nicht linear, sondern zyklisch gedacht. Hierfür werden in der Regel Naturmetaphern verwendet. In der Ars poetica vergleicht Horaz die Sprachgeschichte mit dem Laub der Bäume (ars 60–62; 70–72): »ut silvae foliis pronos mutantur in annos, / prima cadunt: ita verborum vetus interit aetas, / et iuvenum ritu florent modo nata vigentque. / […] multa renascentur quae iam cecidere cadentque / quae nunc sunt in honore vocabula, si volet usus, / quem penes arbitrium est et ius et norma loquendi.« (»Wie sich mit den neigenden Jahren die Wälder mit ihren Blättern wandeln, ihre ersten abfallen, so vergeht auch das bejahrte Alter der Wörter, und es blühen eben geborene Wörter und sind kräftig nach Art der Jünglinge. […] Viele (Bezeichnungen) werden wiedergeboren werden, die schon vergangen waren, und es werden Bezeichnungen vergehen, die heute in Ehre stehen, wenn es der Sprachgebrauch wollen wird. In seiner Macht steht das Urteil, und er ist Gesetz und Richtschnur des Sprechens.«) Zum Übergang von zyklischer Geschichtsauffassung zu linearem Fortschrittsdenken im 17. Jahrhundert siehe Kapitel 5.1. Seneca vertritt eine Zwischenposition: Zwar wendet er sich gegen die Imitation der Alten,

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lässt.25 Horaz’ Herrscherlob lässt sich fast unbemerkt aktualisieren und auf Louis XIV. übertragen. Horaz argumentiert im Folgenden, dass sich, da sich die Zeiten veränderten, auch der Stil dementsprechend anpassen müsse. 26 Desmarets überträgt dies explizit 27 : Ebenso wie Horaz von der eigenen Zeit, die die (alten) Griechen bevorzugt habe, verkannt worden sei, würden auch zur Zeit Louis XIV. die alten, antiken Dichter den zeitgenössischen vorgezogen. Ebenso wie für Horaz genüge es

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Originalitätszwang empfindet er allerdings ebenfalls als unpassend, denn sowohl die Ablehnung als auch die strikte Befolgung des Sprachgebrauches (usus) führe zum genus corruptum (SEN. epist. 114.13–14): »Adice nunc quod oratio certam regulam non habet: consuetudo illam civitatis, quae numquam in eodem diu stetit, versat. Multi ex alieno saeculo petunt verba, duodecim tabulas loquuntur; Gracchus illis et Crassus et Curio nimis culti et recentes sunt, ad Appium usque et Coruncanium redeunt. Quidam contra, dum nihil nisi tritum et usitatum volunt, in sordes incidunt. Utrumque diverso genere corruptum est, tam mehercules quam nolle nisi splendidis uti ac sonantibus et poeticis, necessaria atque in usu posita vitare. Tam hunc dicam peccare quam illum: alter se plus iusto colit, alter plus iusto neglegit; ille et crura, hic ne alas quidem vellit.« (»Nun füge hinzu, dass die Sprechweise keine feste Regel besitzt: Der Sprachgebrauch der Bürger, der niemals lang gleich bleibt, verändert sie. Viele verlangen nach Wörtern aus einer fremden Epoche, sie führen dann immer die Zwölftafelgesetze im Munde. Ein Gracchus, ein Crassus und ein Curio sind ihnen zu kultiviert und zu modern; bis zu Appius und Coruncianius gehen sie zurück. Manche dagegen verfallen ins Vulgäre, indem sie nichts als Gewöhnliches und oft Benutztes wollen. Beides ist – bei unterschiedlichem Stil – verderbt, so wie, beim Herkules, nichts als glänzende, wohlklingende und poetische Wörter benutzen zu wollen, aber notwendige und gebräuchliche zu meiden. Ich will sagen, der eine geht genauso fehl wie der andere, der eine pflegt sich mehr als recht, der andere vernachlässigt sich mehr als recht; der eine zupft sich sogar die Beine, der andere nicht einmal die Achseln.«) Vgl. auch VARRO ling. 8.11. QVINT. inst. 1.6.3; 1.6.46. Zugleich lässt er in seiner Übersetzung aber bereits tendenziös deutlich den Bezug zur Dichtung, der erst im zweiten Teil des Briefes erfolgt, einfließen. So übersetzt er etwa die Verse HOR. epist 2.1.18–22 (»sed tuus hic populus sapiens et iustus in uno / te nostris ducibus, te Grais anteferendo / cetera nequaquam simili ratione modoque / aestimat et, nisi quae terris semota suisque / temporibus defuncta videt, fastidit et odit / sic fautor veterum.« [»Doch dieses dein Volk ist weise und gerecht, indem es dich einheitlich unseren Führern, dich den Griechen vorzieht; das Übrige schätzen sie keineswegs nach ähnlichem Grundsatz und Maß, und, wenn es etwas nicht von der Erde emporgehoben und zu seiner Zeit verstorben sieht, ekelt und hasst es das; so ist es Anhänger alter Dinge.«]) folgendermaßen: »Mais ton peuple, pour toy juſte & judicieux, / En ce qu’il te prefere aux Heros glorieux. / Ne veut pas juſtement juger de nos Ouvrages: / Dégaigne d’accorder l’honneur de ſes ſuffrages / aux veilles, aux travaux d’un Poëte recent / D’un indigne mépris touſiours les abbaiſſant. / Mais ne veut eſtimer que des Auteurs antiques«. Ebenso geht auch Tacitus im Dialogus de oratoribus von einer Dependenz von Zeit und Stil aus (dial. 18.2: »mutari cum temporibus formas quoque et genera dicendi.« [»Mit den Zeiten wandeln sich auch Formen und Gattungen der Rede«]). Dem Dialog liegt allerdings der Dekadenzgedanke zugrunde, und Tacitus sucht nach den Gründen für die zeitgenössische corruptio eloquentiae (vgl. dial. 1.1). Er perspektiviert die Lektüre seiner Übersetzung dieszüglich sowohl vor als auch nach dem Zitat. Desmarets de Saint Sorlin 1670, 4: »Il eſt à propos d’en traduire icy en vers le commencement, pour faire voir que l’injuſtice de ce ſiecle eſt toute ſemblable à celle du ſiecle d’Auguſte.« Desmarets de Saint Sorlin 1670, 6: »Cela suſſit pour faire voir comment Horace, qui eſt maintenant eſtimé de tous ſi grand Poëte, & d’un gouſt ſi fin, a eſté mépriſé de ſon ſiecle, qui eſtoit prevenu d’eſtime pour l’Antiquité; & comment il ſe plaint à Auguſste de cette injuſtice.«

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folglich, zu Lebzeiten von wenigen gelesen zu werden, allerdings von denjenigen mit einem hervorragenden Geschmack (le gouſt excellent).28 An diesem Beispiel wird ein zweigeteiltes Phänomen deutlich, das die Form und den Inhalt betrifft: Einerseits gibt sich Desmarets traditionell, er beruft sich auf Horaz und damit auf ein literaturgeschichtliches Muster 29 , er reiht seinen Text in diese Tradition ein und perpetuiert damit Horaz’ normativen Status. Gleichzeitig kann durch die Parallele zwischen der eigenen und der augusteischen Zeit die positive Autorität dieser Epoche aufgerufen und nutzbar gemacht werden. Andererseits wird das horazische Muster, Altes durch Zeitgenössisches zu ersetzen, mit anderem Inhalt gefüllt, sodass es Horaz ist, der an die Stelle der degradierten Alten tritt und die französischen Dichter die Augusteer im Kanon ersetzen. Die Antike wird somit gegen sich selbst gewendet. Nebenbei führt Desmarets die ästhetische Kategorie des guten Geschmacks (bon goût) ein, die zum synchronen Distinktionsmerkmal erhoben wird. Diese Kategorie erscheint aus Horaz gewonnen, obwohl bei diesem davon gar nicht die Rede ist. Horaz hätte, so wird suggeriert, ebenfalls für seine eigene Dekanonisierung zugunsten zeitgenössischer Dichter votiert. Desmarets vollzieht hier eine vordergründige Abstoßung, die sich aber das Abgestoßene gleichzeitig zu eigen macht. Die Aussage, die sich bei Horaz findet, wird wiederholt, es handelt sich dabei jedoch auch um eine (tendenziöse) Aktualisierung der Aussage. Desmarets perpetuiert auf diese Weise eine Tradition, die er im selben Moment verändert, aktualisiert und ersetzt. Literarhistorisch führt dies zu einer gewissen Schizophrenie, die der Moralist Vauvenargues (1715–1747) in einem Aphorismus auf den Punkt gebracht hat: »Nous admirons Corneille, dont les plus grandes beautés sont empruntées de Sénèque et de Lucain que nous n’admirons pas.«30 Die Aneignung der Antike ist stark von ihrer Funktionalisierung 31 geprägt, und zwar auf zwei Ebenen: Zum einen weicht die Idee des Klassischen, d.h. eines nichthinterfragbaren, ahistorischen Wertes, einer Diskussion um den funktionalen Nutzen der antiken Literatur für die Moderne. Zum anderen wird innerhalb dieser Diskussion die für nutzlos befundene obszöne Literatur wiederum neu funktionalisiert, sei es durch Identifikations- oder durch Abgrenzungsstrategien. Diese Aneignung ist möglich, da (anders als ein historisches Ereignis) die Aussage aufgrund ihrer Form grundsätzlich wiederholbar ist und eine andere (aber nicht jede) Verwendung erlaubt. Gleichzeitig ist einer solchen Aussage »eine gewisse modifizierbare Schwere« (une

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Desmarets de Saint Sorlin 1670, 6. Voltaire bemerkt zu LVCR. 2.1159–1161: »L’antiquité eſt pleine des éloges d’une autre antiquité plus reculée.« (Voltaire 1770–1772, s.v. anciens et modernes, t. 1 [1770], 278) und hält ihm Zitate aus HOR. epist. 2.1 entgegen. Vauvenargues 1857, 425 [posthum]. Vgl. Meuer 2018, 155f., die im Rückgriff auf Luhmanns Begriff der »gepflegten Semantik« darauf hinweist, dass im Prozess der Tradierung von Sprache und Ideen diese nicht nur selbst (evolutionär) transformiert werden, sondern, da sich die Schwerpunkte der Sinnkomplexe verändern, sie auch Veränderungen der Sozialstrukturen vorbereiten und plausibilisieren. Vgl. Luhmann 1994, 9. Vgl. auch Gumbrecht 1985.

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certaine lourdeur modifiable), eine Beständigkeit eigen, die Foucault auf die »materiellen Existenzen« von Aussagen zurückführt:32 »elle n’est pas simplement principe de variation, modification des critères de reconnaissance, ou détermination de sousensemble linguistiques. Elle est constitutive de l’énoncé lui-même : il faut qu’un énoncé ait une substance, un support, un lieu et une date.« 33 Markus Hilgert sieht im Anschluss an Foucault in der Materialität gar die Voraussetzung für verschiedene Rezeptionspraktiken; er geht davon aus, dass der […] relative Sinngehalt des Geschriebenen notwendig mit dessen Materialität und Präsenz verknüpft ist: Materialität und Präsenz des Geschriebenen ermöglichen überhaupt erst variierende Bedeutungsprofile je nach Handlungskontex –›Wiederholbarkeit‹, ›Beständigkeit‹ und ›Permanenz‹ der im Artefakt ‚stabilisierten’ sprachlichen Äußerung bedingen zwangsläufig deren Rezeption in den sich stets verändernden ›Anwendungsfeldern‹, ›Operationen‹ und ›Strategien‹.34

Für die Rezeption der obszönen Literatur der Antike ist dies in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Zum einen erhalten die antiken Texte ihre Autorität und Authentizität aus der Schriftlichkeit. Das heißt, der Horaz-Text, den Desmarets zitiert, kann nachgeprüft werden. Das Zitat verschleiert wiederum die feinen Transformationen und Aneignungen, die Desmarets vornimmt. Er lässt gewissermaßen Horaz für sich (und gegen sich selbst) sprechen. Zum anderen wirkt sich die seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts enorm vergrößerte Vervielfältigung von Texten auf die Rezeption der Texte aus. Die 32

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Vgl. Foucault 1969a, 145: »Cette matérialité répétable qui caractérise la fonction énonciative fait apparaître l’énoncé comme un objet spécifique et paradoxal, mais comme un objet tôt de même parmi tous ceux que les hommes produisent, manipulent, utilisent, transforment, échangent, combinent, décomposent et recomposent, éventuellement détruisent. Au lieu d’être une chose dite une fois pour toutes – et perdue dans le passé comme la décision d’une bataille, une catastrophe géologique ou la mort d’un roi – l’énoncé, en même temps qu’il surgit dans sa matérialité, apparaît avec un statut, entre dans des réseaux, se place dans des champs d’utilisation, s’offre à des transferts et à des modifications possibles, s’intègre à des opérations et à des stratégies où son identité se maintient ou s’efface. Ainsi l’énoncé circule, sert, se dérobe, permet ou empêche de réaliser un désir, est docile ou rebelle à des intérêts, entre dans l’ordre des contestations et des luttes, devient thème d’appropriation ou de rivalité.« Foucault 1969a, 139. Hilgert 2010, 97. Vgl. Foucault 1969a, 144f: »On voit que l’énoncé ne doit pas être traité comme un événement qui se serait produit en un temps et en un lieu déterminés, et qu’il serait tout juste possible de rappeler – et de célébrer de loin – dans un acte de mémoire. Mais on voit qu’il n’est pas non plus une forme idéale qu’on peut toujours actualiser dans un corps quelconque, dans un ensemble indifférent et sous des conditions matérielles qui n’importent pas. Trop répétable pour être entièrement solidaire des coordonnées spatio-temporelles de sa naissance (il est autre chose que la date et le lieu de son apparition), trop lié à ce qui l’entoure et le supporte pour être aussi libre qu’une pure forme (il est autre chose qu’une loi de construction portant sur un ensemble d’éléments), il est doté d’une certaine lourdeur modifiable, d’un poids relatif au champ dans lequel il est placé, d’une constance qui permet des utilisations diverses, d’une permanence temporelle qui n’a pas l’inertie d’une simple trace, et qui ne sommeille pas sur son propre passé. Alors qu’une énonciation peut être recommencée ou ré-évoquée, alors qu’une forme (linguistique ou logique) peut être réactualisée, l’énoncé, lui, a en propre de pouvoir être répété: mais toujours dans des conditions strictes.« (Hervorhebung im Original)

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veränderte Leserschaft hat dementsprechend auch philologisch-editorische Veränderungen zufolge, die ebenfalls Gegenstand dieser Untersuchung sind.35 Die bei Desmarets gesehene Strategie der »anti-autorisierenden Autorisierung« kommt besonders im Umgang mit antiker Obszönität zur Anwendung. Sowohl in der Kritik als auch in der Verteidigung antiker Obszönität greifen die gens de lettres selbstverständlich auf antike Positionen und ästhetische Kategorien zurück, die allerdings fast unmerklich transformiert werden. Fénelon beruft sich beispielsweise in seiner Kritik am niederen Stil des Aristophanes (»J’avouë que les traits plaiſans d’Ariſtophane me paroiſſent ſouvent bas. Ils ſentent la farce faite exprés pour amuſer, & pour mener le peuple.«36) explizit auf literargeschichtliche Äußerungen des Horaz37: Le reſpect de l’antiquité doit être grand : mais je ſuis autoriſé par les Anciens contre les Anciens mêmes. Horace m’apprend à juger de Plaute Ibid. verſ. 270 & ſeq.

At noſtri proavi plautinos & numeros, & Laudavere ſales, nimium patienter utrumque, Ne dicam ſtulte, mirati, ſi modo ego & vos Scimus inurbanum lepido ſeponere dicto.38

Fénelon übernimmt also Horaz’ jugement (mit wörtlichem Zitat und Stellenangabe) über Plautus indirekt auch für Aristophanes. Das tertium comparationis bildet ihm die Ablehnung des niederen Humors (sales). Er nimmt damit auch Horaz’ Position innerhalb des literarhistorischen Fortschritts ein, die eine höhere Unterscheidungsfähigkeit (seponere) mit sich bringt. In den ästhetischen Termini des 17. Jahrhunderts verweist diese Unterscheidungsfähigkeit (discernement) ebenfalls auf den bon goût.

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Siehe Kapitel 4.3. Fénelon 1716, 111. Zur Horaz-Rezeption in Frankreich im 18. Jahrhundert siehe Goulbourne 2009. Fénelon 1716, 111f. Desmarets de Saint Sorlin 1670, 32f. beruft sich in seiner Kritik des Aristophanes und des Plautus ebenfalls auf dieses Zitat, welches HOR. ars 270–274 entstammt (»Doch unsere Ahnen lobten die plautinischen Metren und Witze, bewunderten beides allzu geduldig – um nicht zu sagen zu dumm –, sofern nur ich und ihr, unfeinen von anmutigem Witz zu unterscheiden wissen.«), ebenso Rollin 1726–1728, t.1, 80 (allerdings zitiert er nur bis mirati). Vgl. auch HOR. ars 212f., wo der indoctus durch seine Unfähigkei zur geschmacklichen (sapere) Trennung von urbanus und rusticus bzw. honestus und turpis charakterisiert wird. Moderne textkritische Ausgaben (so in der OCT von Wickham und der Teuberneria von Klingner) bevorzugen für den von Fénelon zitierten Text vestri (eure =die Adressaten des Briefes, Lucius Calpurnius Piso und seine Söhne) gegenüber nostri (unsere), welches sich in den codices recentiores (ς) findet. Der Text, den Fénelon hier bietet, ist aber der zu seiner Zeit geläufige und deckt sich mit den zeitgenössichen Editionen etwa von Jouvency (1696–97, t. 2, 474), auch mit den zweisprachigen Ausgaben von André Dacier (1684–1689, t. 10 [1689], 48) und Jérôme Tarteron (1685, 486). Vgl. Anne Daciers Interpretation der Stelle (Dacier 1683, f. ĩ ij v–v r), die allerdings vestri im Text hat und folglich bemerkt: »Cela eſt meſme dit de maniere qu’il paroiſt bien qu’Horace n’étoit pas ſeul de ce ſentiment, & que la Cour d’Auguſte ne goûtoit pas les railleries & les plaiſanteries de Plaute, comme les avoit goûtées celle de Ceſar.« (Dacier 1683, f. ĩ ij v–iij r).

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Abbildung 1: Fénelon, Reflexions sur la grammaire, la rhetorique, la poetique et l'histoire (Paris 1716), 112 (Ausschnitt) (Quelle: BnF)

Der Text erhält so Identifizierungspotenzial: Fénelon versetzt sich gewissermaßen an Horaz’ Stelle (ego=moi, Fénelon) und erhebt die Adressaten (vos=vous, die Mitglieder der Académie) in eine überlegene Position. Die gesamte Antike wird darin unmerklich zur französischen Vorgeschichte (proavi) umgedeutet. Die (ebenfalls angesprochenen) Anhänger der antiken Literatur werden auf diese Weise zeitlich – zu ihren eigenen, weniger entwickelten (patienter/stulte) Ahnen – und sozialhierarchisch – zum niederen Volk – degradiert. Indem Fénelon Horaz gegen Aristophanes (und Plautus) wendet, parallelisiert er die eigene Zeit mit der Antike, genauer gesagt mit der Zeit des Augustus, und distanziert sich gleichzeitig von ihr. Die Struktur zyklischen Fortschritts (Archaisch>Augusteisch; Antike>Louis XIV.) bleibt dabei erhalten, die Frage einer möglichen sich anschließenden Dekandenz wiederum ausgespart. Fénelon funktionalisiert die Antike gleichermaßen als Vorbild (ahistorisches Paradigma) und als Vorgänger (historische Fortschrittslinie) Frankreichs. Diese gegen sich selbst gewendete Autorisierungsfunktion der Antike (autoriſé par les Anciens contre les Anciens mêmes) aufzudecken und in ihrer Aktualisierung und Funktionalisierung zu analysieren, ist wesentliches Anliegen der vorliegenden Studie.

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1.3 Aggregatszustände antiker Texte: Methodische Prämissen Die Antike gibt es nicht. Dies ist die Prämisse, von der die vorliegende Arbeit ausgeht. Wenn hier nun dennoch von der (obszönen) Literatur der Antike im Singular die Rede ist, so soll damit nicht die Vorstellung einer monolithischen Einheit, die die literarischen Hinterlassenschaften von Homer bis Nonnos umfasst, also vom 8. Jahrhundert vor bis ins 6. Jahrhundert nach Christus reicht, erweckt werden, sondern zum einen lediglich einer konventionellen Periodisierung Rechnung getragen werden und zum anderen der rezeptionsgeschichtliche Impetus der untersuchten Texte des 17. und 18. Jahrhunderts zum Ausdruck kommen. Die Diskussion darüber, was und vor allem wie die Antike ist, ist Gegenstand dieser Arbeit. Sie nimmt es sich zum Ziel, zu ergründen, welche verschiedenen Antiken im 17. und 18. Jahrhundert entworfen wurden, um mit dem Phänomen der Obszönität, das sich in einigen überlieferten Texten findet, umzugehen. Dieser Umgang, d.h. die Modalitäten der Konstruktion und die Praktiken der Aneignung der Antike in Hinblick auf die Obszönität, so die Vermutung, hat ihre Wahrnehmung, aber auch das Selbstverständnis der Moderne nachhaltig geprägt. Als das »nächste Fremde« bezeichnet Uvo Hölscher in seiner einflussreichen Studie die Antike und charakterisiert damit treffend das Verhältnis der Moderne zur Antike.39 Wann und wie aber ist die Antike fremd geworden? Und vor allem: Warum und wem ist sie fremd geworden? Die Menschen der Renaissance nutzten das wiederentdeckte Wissen der Antike (wie auch das des Mittelalters) als unabdingbare Richtschnur. Auch für Entdeckungsreisende in die Neue Welt bietet antikes Wissen Orientierung. Im Neuen und Unbekannten führt sie die Antike, wie Ariadnes Faden Theseus durch das Labyrinth führt. Teilt man die Auffassung, dass mit Descartes’ radikalem Bruch mit der überkommenen Tradition, mit dem Absolutheitsanspruch in der Konstitution des modernen Subjektes die Antike fremd geworden ist, anders gesagt: der verbindende Faden gerissen ist, 40 schließt sich die Frage an, wie man in der 39

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Hölscher 1965 [1962], 81. Wie Curtius gezeigt hat (Curtius 111993 [1948], 259f.), ist der Begriff »modern« in seinem Ursprung eng mit dem Christentum verbunden. »Modernus« bezeichnet seit ca. 500 n. Chr. den Gegensatz zur paganen römischen Vergangenheit. Die Grenze zwischen »nostra aetas« (tempora Christiana oder moderna) und der Antike bildet das Jahr 450 n. Chr. Bei Cassiodor (CASSIOD. var. 4.51.2: »antiquorum diligentissimus imitator, modernorum nobilissimus institutor« [»äußerst gründlicher Nachahmer der Alten, äußerst ehrenwerter Lehrmeister der Jetzigen«]) bezeichnet die Opposition antiquus/ modernus zum ersten Mal den Unterschied zwischen der Exemplarizität der Vergangenheit und der Modernität, die ihr folgt. Vgl. Jauß 31973, 15–17 (der Curtius hier interessanterweise unerwähnt lässt), Hartog 2005, 31–34. Marlene Maus (Maus 2017) macht dementsprechend die Polarisierung zwischen Antike und Christentum zum Ausgangsmodell ihrer Untersuchung des (deutschen und französischen) Aufklärungsdiskurses. Vgl. Jauß’ Kritik an der historistischen Literaturgeschichtsschreibung, die einem Relativismus das Wort rede (Jauß31973 150): »Die Literaturgeschichte reiht seither, wo ihr die Entfaltung der nationalen Individualität als roter Faden nicht mehr genügt, vornehmlich abgeschlossene Epochen aneindander. […] Rankes berühmtes Wort von 1854 gibt diesem Postulat eine theologische Begründung: Ich aber behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existens selbst. Diese neue Antwort auf die Frage, wie der Begriff ›Fortschritt‹ in der Geschichte aufzufassen sei, weist dem Historiker die Aufgabe einer neuen Theodizee zu:

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Folge mit dieser (dennoch bekannten) Antike umgeht, die ganz konkret durch ihre tief verankerte Präsenz in vielen Lebensbereichen, nicht zuletzt durch ihre Materialität Deutungen und Strategien des Umgangs einfordert.41 Der Forschungsansatz, die Aufnahme der antiken Literatur in nachantiken Literaturen und Gesellschaften zu untersuchen, kann inzwischen auf eine längere Tradition mit jedoch verschiedenartiger Perspektive und Methodologie zurückgreifen, die jeweils Vor- und Nachteile bieten. Er soll daher im Folgenden kurz skizziert werden, um die eigene Vorgehensweise hierin zu verorten. Eine methodische Reflexion ist darüber hinaus im Hinblick auf den gewählten Gegenstand aus zweierlei Hinsicht aufschlussreich: Zunächst schärft sie den Blick für methodisch und inhaltlich blinde Flecken. Zweitens soll im Folgenden deutlich werden, wie sehr die methodische Herangehensweise selbst durch die Positionen der Querelle bedingt ist, ja letztlich ihre Fortsetzung bildet, denn die methodische Reflexion über die Antikenrezeption und die Auseinandersetzung mit der Antike im 17. und 18. Jahrhundert sind eng miteinander verknüpft. Die folgenden methodischen Überlegungen berühren sich auf mehreren Ebenen mit dem Gegenstand der Untersuchung, sie möchten somit auch ein Bewusstsein für die Position des Forschers und die eigene, unauflösliche Verwobenheit innerhalb dieses Diskurses schaffen. Die Rezeption der Antike ist in jüngerer Zeit vermehrt in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses der Klassischen Philologie gerückt. 42 Die Aufnahme, Interpretation und Funktionalisierung der antiken Texte in modernen Gesellschaften wird inzwischen nicht mehr im Sinne eines »Nachlebens« oder gar einer Geschichte der Fehlinterpretationen untersucht. Im Zuge der durch Jauß und Iser etablierten Rezeptionsästhetik rückt die aufnehmende Seite dieses Kommunikationsaktes in den Fokus. Die Rezeptionsforschung im gewählten Zeitraum arbeitet zumeist aus der Perspektive der antiken Autoren (oder philosophischer Schulen) oder beschäftigt sich mit der Geschichte literarischer Motive und Topoi. 43 Die Wahl, einen speziellen Aspekt der antiken Literatur, die Obszönität, rezeptionsgeschichtlich zu untersuchen, bedarf daher einer Erläuterung: Die Entscheidung ist vor allem durch den Gegenstand

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indem er jede Epoche als etwas für sich Gültiges ansieht und darstellt, refertigt er Gott vor der Geschichtsphilosophie des Fortschritts […]. Rankes Lösung für das hinterlassene Problem der Geschichtsphilosophie war indes um den Preis erkauft, daß der Faden zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart der Geschichte – zwischen der Epoche, ›wie sie eigentlich gewesen‹, und dem, ›was aus ihr hervorging‹ – durchschnitten wurde. Der Historismus hat in seiner Abkehr von der Geschichtsphilosophie der Aufklärung nicht nur die teleologische Konstruktion der Universalhistorie preisgegeben, sondern auch das methodische Prinzip […]: das Vergangene mit dem Gegenwärtigen zu verknüpfen.« (Hervorhebungen im Original) Zu Speicherfunktion der Schrift und Konservierungsproblemen im Bereich des kulturellen Gedächtnisses vgl. Assmann 42009, 343–358. Die vorliegende Arbei steht besonders Martindale 1993 und Goldhill 2002 in methodischer Hinsicht nahe, siehe hierzu unten. Zur aktuellen Auseinandersetzung mit Martindale siehe das Themenheft des Classical Reception Journal 5:2 (2013): Redeeming the Text — twenty years on. Es befassen sich beispielsweise mehrere Arbeiten mit den Übersetzungen Marolles: Chatelain 2008 mit Ovid, Wetzel 2002 mit Catull, Abramovici 2003/2011 mit Martial, ohne jedoch voneinander Kenntnis zu nehmen. Siehe hierzu Kapitel 4.3.

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selbst begründet, denn Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Literaturgeschichtsschreibung des 17. und 18. Jahrhunderts. In dieser Zeit wird die antike Literatur neu geordnet, und ein wesentliches Kriterium in der Bewertung der Autoren ist eben die Obszönität. In dieser Hinsicht werden Martial, Catull, Petron, Aristophanes, u.a. im 17. und 18. Jahrhundert häufig zusammen behandelt und bisweilen auch untereinander nach dem Grad der Obszönität abgestuft. Die Obszönität ist also ein entscheidender Rezeptionsfilter.44 Innerhalb der Forschung, die sich mit den Deutungen und Funktionalisierungen der Antike in nachantiken Gesellschaften und Literaturen beschäftigt, lassen sich grob zwei Strömungen ausmachen, die sich letztlich vor allem in Perspektive und Wertung unterscheiden lassen: die Classical Tradition und die Classical Reception.45 Das monumentale und namensgebende Werk der ersten Forschungsperspektive ist Gilbert Highets The Classical Tradition. Greek and Roman Influence on Western Literature (1949). Bereits im Titel wird die Methode deutlich: Highet vertritt die These, dass die Antike die moderne westliche Literatur und Gesellschaften beeinflusse. Dementsprechend stellt diese für die Moderne eine »Quelle« dar, deren Einfluss sie sich kaum erwehren könne. 46 Die Vertreter dieser Idee des Klassischen sehen in den antiken Werken einen festen Sinnkern, der sich hermeneutisch erschließen lässt. Die Bewegung des Einflusses vollzieht sich ausschließlich in eine (chronologische) Richtung und ist folglich auch hierarchisch. Dementsprechend geht Highet selbstverständlich davon aus, dass die Antike von den westlichen Gesellschaften problemlos als eigenes Erbe begriffen werden könne, sei es idealisiert als Höhepunkt menschlicher Zivilisation oder als fremde, historisch entfernte Epoche. 47 Die Antike bilde das Fundament der abendländischen Kultur. 48 In die gleiche Richtung schlägt Ernst Robert Curtius’ 44 45

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Fitzgerald 1995, 59 konstatiert dies für Catull. Die Konkurrenz beider Ansätze schlägt sich in den Titeln gleich zweier dem Thema gewidmeten Companions, beide in kurzem Abstand erschienen, nieder: Craig W. Kallendorf (Hg.) A Companion to the Classical Tradition (2007) und Lorna Hardwick /Christopher Stray (Hgg.), A Companion to Classical Receptions (2008). Gegenüber der einen classical tradition werden in letzterem Band bereits im unbestimmten Plural des Titels (receptions) die Offenheit, die Mehrdeutigkeit der Texte und die verschiedenartigen Möglichkeiten der Aufnahme verdeutlicht. Highet selbst beschreibt abschließend sein Unternehmen gänzlich entsprechend dieser Metaphorik (Highet 1949, 541): »We have traced the river of Greek and Roman influence in literature from its first mingling with modern Europe...«. Vgl. hierzu De Pourcq 2012, 221: »The metaphor of the river (note the singular in the quotation) is cleverly used here to suggest the unity and the continuity of the classical tradition, implying that its ancient sources have continuously been watering our spiritual lands by means of its most privileged medium: literature.« Vgl. Steiner-Weber/Schmitz/Laureys 2007, 7–10. Auch Bruno Snells im selben Jahr erschienene Studie Die Entdeckung des Geistes ist diesem Ansatz verpflichtet. Alle drei Werke sind Ausdruck eines Nachkriegsbedürfnisses, eine gemeinsame europäische Grundlage zu finden. Während Highet und Snell diese in der Antike suchen, sieht Curtius das lateinische Mittelalter als eine solche Basis. Auch nach dem ersten Weltkrieg hatte es mit Gilbert Murrays The Classical Tradition in Poetry (1927), den von R.W. Livingstone (1921) bzw. Cyril Bailey herausgegebenen Bänden zu den Legacies of Greece (1921) bzw. Rome (1923) sowie der seit 1922 erschienenen Serie Our debt to Greece and Rome ähnliche Unternehmungen gegeben. Silk/Gildenhart/Barrow 2014 führen den Begriff

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Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter (1948), das aus romanistischer Perspektive die antiken Grundlagen des Mittelalters als gemeinsamen Kern der europäischen Moderne ausmacht. Gegen diese Perspektive, die von einem festen Sinnkern der antiken Literatur ausgeht, der im Laufe der Jahrhunderte unterschiedlich aus- und umgedeutet wird, grenzen sich die (Classical )Reception Studies49 ab: By ›receptions‹ we mean the ways in which Greek and Roman material has been transmitted, translated, excerpted, interpreted, rewritten, re-imaged and represented. These are complex activities in which each reception ›event‹ is also part of wider processes. Interactions with a succession of contexts, both classically and non-classically orientated, combine to produce a map that is sometimes unexpectedly bumpy with its highs and lows, emergences and suppressions and, sometimes, metamorphoses.50

In der Tradition der Reader-Response und der Hermeneutik wird nun die Perspektive hin auf die Leser verschoben, bei denen ein Text verschiedene Reaktionen hervorruft. Die Reception Studies begreifen Rezeption im Sinne Jauß’ als »als aktiven Prozess des Verstehens«51 und betonen die Generierung von Sinn und Bedeutung »at the point of reception«52. Das Modell der reception53 hat im Gegensatz zum Konzept der Classical Tradition den Vorteil, dass es dynamische Prozesse beschreibt, dialektisch arbeitet und die Möglichkeit bedenkt, dass Texte in einen Dialog treten. So versteht auch der Berliner Sonderforschungsbereich Transformationen der Antike Antikenrezeption als Allelopoiese.54 Der Begriff der Tradition geht dagegen von einer Kette des Einflusses

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Classical Tradition auf das Viktorianische England zurück, genauer gesagt auf John Addington Symonds Gegenüberstellung von ›Christian and Classical Traditions‹ im ersten Kapitel seines Buches Renaissance in Italy: The Fine Arts (1877). Als nächsten bedeutenden Schritt führen sie die Institutionalisierung dieses Forschungsfeldes im Warburg Institute in Hamburg (ab 1921) und dann in London (ab 1934) an. Das Attribut ›classical‹ bezieht sich hierbei nicht so sehr auf die Vorbildhaftigkeit, sondern vielmehr auf die historische Epoche der griechisch-römischen Antike, wenngleich Fragen von Werturteil und Kanonisierungsprozessen wesenliches Betätigungsfeld der Classical Reception Studies sind. Die Classical Tradition impliziert dagegen mit dem Adjektiv Wert und Kanonizität der Gegenstände selbst, mit denen sie sich beschäftigt. Vgl. Silk/ Gildenhard/Barrow 2014, 5: »In a nutshell, the ›classical‹ of ›the classical tradition‹ tends to imply canonicity, even when the post-antique engagement with the antique is anticanonical (as is the case, most obviously, with engagements within popular culture).« Hardwick/ Stray 2008, 1. Vgl. Jauß 31973, 9. Martindale 1993, 4. Der Begriff »reception« ist vielfach kritisiert worden, z.B. von Simon Goldhill (2002, 297): »Reception is too blunt, too passive a term of the dynamics of resistance and appropriation, recognition and self-aggrandissement that make up this drama of cultural identity.« Vgl. Bergemann et al 2011: 40: »Die Antike bildet einen zentralen Bezugspunkt für Identitätskonstruktionen in den europäischen Kulturen. Das Wissen davon, was Antike ist, ist jedoch keineswegs statisch: ›Die Antike‹ formiert sich historisch stets im Wechselspiel mit dem Selbstverständnis der rezipierenden Kulturen.« Diese bipolare Beziehung wechselseitiger Hervorbringung bezeichnen Bergemann et al 2011 als Allelopoiese. Vgl. hierz auch Böhme 2011.

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(chain of influence) 55 aus, von einem festen Kern, der trotz aller minimaler Veränderungen über Jahrhunderte gleichbleibt und so eine autoritätsstiftende Kontinuität bildet. Traditionen entstehen aber, wie Budelmann und Haubold betonen, nicht von alleine, sind nicht per se, sondern sie werden in einem bewussten Akt konstruiert und ideologisiert, d.h. sie haben eine identitätsstiftende und homogenisierende Funktion.56 So ist denn der Gegensatz zwischen beiden Strömungen weit weniger kategorisch, als es zunächst scheint. Denn wie Charles Martindale, dessen Reedeming the Text (1993) als Gründungstext der Classical Reception Studies gelten kann, in Anlehnung an Gadamer betont: »we read from within a tradition, or a discourse, or a set of reading practices, or we do not read at all.«57 So spricht auch Lorna Hardwick in Bezug auf die antiken Texte weiterhin von »Quellen« (sources) bzw. von classical material, und erweckt so ebenfalls den Eindruck eines mehr oder weniger festen Sinnkerns.58 Und auch Martindale selbst geht von chains of receptions oder transhistorical continuities aus.59 Anderseits ist auch der Begriff der Classical Tradition jüngst von Michael Silk, Ingo Gildenhard und Rosemarry Barrow in einer Weise rekonzeptualisiert worden, die auch die aufnehmende Seite stärker einbezieht.60 55

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Gumbrecht vertritt die These, dass sich die neuzeitliche europäischen Kultur aus der Sequenz von sukzessiven Perspektiven der Antiken-Rezeption konstituiert habe: »Der spezifische Modus der Präsenz von klassischer Antike war zunächst konstitutiv an die vor der Neuzeit dominierenden kollektiven Sinnstrukturen der Zeit und der (Kunst-) Produktion gebunden, so daß deren Transformation zu einem Funktionsschwund in der Vergegenwärtigung der klassischen Antike führen mußte. Eben diese Transformation von Grundstrukturen des sozialen Wissens verbietet aber auch die Vermutung, daß die Institution des neuzeitlichen ›Klassiker-Kanons‹ an die Funktionsstelle der vorneuzeitlichen Antiken-Rezeption getreten sei.« (Gumbrecht 1985, 444). Vgl. Budelmann/Haubold 2008. Martindale 1993, 3. Vernachlässigt ist in den Classical Reception Studies überraschenderweise die Materialität der Texte, die physische Präsenz des Textes als gedrucktes Buch. Die so genannte New Philology befasst sich dagegen wieder verstärkt mit den Editionen und ihren epistemischen Implikationen. Die (tradierte) Materialität gerade der obszönen Texte spielt indes auch für ihre Rezeption eine wichtige Rolle und soll für die vorliegende Arbeit fruchtbar gemacht werden, denn »[o]hne Objekte gäbe es weder eine ›Antike‹ noch eine Wissenschaft des Vergangenen. Ohne die material präsenten, physisch vermessbaren und sinnlich erfahrbaren Dinge, die als ›Zeugen‹, ›Spuren‹ oder ›Quellen‹ vergangener kultureller Praxis oder naturräumlicher Gegebenheiten konzeptualisiert werden, wären – die Abwesenheit von Zeitzeugen vorausgesetzt – Narrative über dieses Vergangene rein fiktional.« (Hilgert 2015, 16). Zu den ›Praktiken des Geschriebenen‹ in der Frühen Neuzeit siehe Chartier 21999. Vgl. Martindale 1993, 3; Martindale 2013. Vgl. Silk/Gildenhard/Barrow 2014, 4: »For our purposes, ›the classical‹ means the world of ancient Greece and Rome, and ›the classical tradition‹ means reflexes of, uses of, reconstitutions of, or responses to, the ancient world from the disintegration of the Western Roman Empire to our own day.« Wenngleich reception und tradition sich nicht selten überlappen, sehen sie dennoch wesentliche Unterschiede: »They are not the same thing, and for several reasons. First, because the reception of Greece and Rome includes readings and rereadings from within the ancient world itself. There will be all manner of particular differences, but there is no necessary difference in kind or in hermeneutic status, between a response to Virgil’s Aeneid from Virgil’s own time, one from later antiquity, and one from a later age – say, T. S. Eliot’s response, in a pair of provoking essays. Yet though these are all instances of the reception of Virgil, only Eliot’s essays can meaningfully be referred to the classical tradition. [...]Then again, the classical tradition, as a continuum, subsumes not only

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Jauß’ Ansatz der Rezeptionsästhetik ist in noch einer weiteren Hinsicht bemerkenswert. Denn er entwickelt sie einerseits aus einer Auseinandersetzung mit der Querelle des Anciens et des Modernes und anderseits aus der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Wirkungsgeschichte der Antike. Jauß sieht in Curtius’ Buch den »Prototyp der auf das Nachleben der Antike gerichteten Forschung.« 61 Curtius konstruiere, so Jauß’ Kritik, selbst einen Kreislauf, in dem die Antike als Erbe konzipiert werde und in Wellen immer wieder von diesem Erbe Gebrauch gemacht würde. Jauß sieht darin eine List der »– von den Anciens begründeten – philologischen Metaphysik der Tradition.« 62 Jauß wirft Curtius vor, Kontinuitäten und Einflussketten zu konstruieren, etwa indem er Goethe zum kongenialen Geist des antiken Gedankens vom schöpfenden Dichter erkläre, der in der Zeit dazwischen »von der unzerreißbaren Traditionskette der Mittelmäßigkeit abgewürgt« 63 wurde. Curtius’ Bestreben, so Jauß, sei es, eine »mystische Kontinuität der abendländischen Kultursubstanz [zu] retten« und er verkenne, dass es sich dabei um gänzlich verschiedene Dinge handele. Jauß’ Auseinandersetzung mit Curtius, oder besser gesagt: Jauß’ einseitige und nicht immer ganz adäquate Konstruktion von Curtius’ Ansatz bildet selbst bereits einen Fall der Rezeption, der zur Tradition geworden ist. Er perpetuiert dabei die Opposition von Ancien und Moderne – wobei er sich selbst implizit zum Moderne aufschwingt – und stellt das Bindeglied dar für eine ähnlich gelagerte Opposition zwischen Classical Tradition und Classical Reception. Das Verdienst der durch Jauß angestoßenen Rezeptionsforschung besteht in der Re-etablierung der gesellschaftlichen und historischen Dimension von Literatur, er richtet sich gegen die zu dieser Zeit vorherrschenden Schulen des New Criticism und der immanenten Interpretation, indem er ein literarisches Werk vor dem Hintergrund eines objektiven Erwartungshorizontes des Lesers bewertet.64 Jauß betont ferner die gesellschaftsbildende Funktion von Literatur. 65 Auch Hardwick hebt hervor, dass Rezeption immer im Feld von Werten und ihrer Beziehung zu Wissen und Macht stattfindet.66 Der Nachteil der Jauß’schen Literaturgeschichte besteht allerdings in der Präferenz des Neuen und Innovativen und in der Beschränkung auf im weitesten Sinne

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direct engagements with antiquity, but engagements with earlier engagements.« (Silk/ Gildenhard/Barrow 2014, 4). Ein wesentliches Unterscheidungsmerkal stellt demnach also der Status des Aufnehmenden dar, der offenbar selbst zunächst classical geworden sein muss, um Teil der Classical Tradition zu werden: Es handelt sich hierbei also um eine selektive Rezeptionsgeschichte, die paradoxerweise an Jauß’ Literaturgeschichte der literarischen Evolution erinnert. Jauß 31973, 13. Jauß 31973, 13. Curtius 111993, 403 (bei Jauß 31973 ebenfalls wörtlich zitiert auf Seite 13.) Jauß (31973, 173f.) definiert diesen als »objektivierbares Bezugssystem der Erwartungen, das sich für jedes Werk im historischen Augenblick seines Erscheinens aus dem Vorverständnis der Gattung, aus der Form und Thematik zuvor bekannter Werke und aus dem Gegensatz von poetischer und praktischer Sprache ergibt.« Jauß 31973, 199–207. Hardwick 2003, 11: »Reception is and always has been a field for the practice and study of contest about values and their relationship to knowledge and power.« Vgl. die Misscharakterisierung durch Silk/Gildenhard/Barrow 2014, 5: »Above all, though, whereas ›classical‹ and ›tradition‹ tend to prompt consideration of value, ›reception‹ does not.«

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avantgardistische Texte (Höhenkammliteratur). 67 Er geht von einer »literarischen Evolution« aus68 und gibt dem Modernen wertend den Vorrang gegenüber dem Alten (in exaktem Gegensatz zur Classical Tradition). Auf diese Weise reproduziert er gleichsam den bestehenden Kanon und wird blind für die Verankerung des Neuen im Alten. Eine derartige Literaturgeschichte ist folglich stark teleologisch und vernachlässigt etwa klassizistische Bewegungen. Alles, was nicht innovativ ist, wird aus dieser Literaturgeschichtsschreibung ausgeklammert, ebenso wie die Frage, wie es zu Veränderungen im Kanon kommt. Demgegenüber will diese Arbeit gerade auch die Rückprojektionen, die Anbindung an das Traditionelle in den Blick nehmen. Denn Innovation muss sich zunächst innerhalb der Gesetzmäßigkeiten des bestehenden Feldes erproben und behaupten, um Geltung zu erlangen. Und schließich sind die kulturpolitischen Implikationen der Republique des Lettres weitaus komplexer, als es die Dichotomie von Ancien und Moderne suggiert.69 In einer literatursoziologischen Perspektive berührt sich diese Arbeit (insbesondere in Kapitel 3.1) mit den Ansätzen Bourdieus: Sie untersucht die Ablehnung der obszönen Antike als performativen Akt eines Habitus, als Ausdruck einer Struktur von Neigungen und Gewohnheiten einer Person oder einer Gruppe. Das literarische Feld ist nach Bourdieu agonal, als eine Stätte der Auseinandersetzungen, strukturiert. Der Habitus markiert eine Position im literarischen Feld als einer »structure des relations objectives entre les positions qu’y occupent des individus ou des groupes placés en situation de concurrence pour la légitimité.« 70 Die Auseinandersetzung mit der antiken Literatur wird darin zur Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Status Quo, mit den historisch gewachsenen Regeln des literarischen Feldes.71 Die Beschäftigung mit der obszönen Antike als kulturellem Kapital wird vor allem durch die Modernes vom Status der Orthodoxie in die Häresie verschoben. Bourdieus Theoretisierung des literarischen Feldes ist wie Jauß’ Literaturgeschichtsschreibung allerdings vom Avantgarde-Gedanken geprägt. Zwar betont er die Bedeutung des historischen Entstehens des Feldes, doch spielt die historische Dimension in seiner synchronen Analyse keine Rolle mehr. Ob aber nur die Erneuerer grundsätzlich immer den »nomos« des Feldes bestimmen, ist durchaus zweifelhaft. Zwar inszenieren sich die Modernisten selbst als Zentrum des Feldes und legitimieren ihre Stellung mit einer geschichtsphilosophischen Selbstbeschreibung, indem sie den 67 68 69

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Vgl. Schmitz 2002, 103. Ein weiteres Problem dieser Art der Geschichtsschreibung ist, wie Schmitz betont, die tatsächliche Rekonstruktion des Erwartungshorizontes. Vgl. Jauß 31973, 192. Vgl. Shelford 2007, 7: »The choices were not simply between a new science and an old, a new literature and what preceded it, the vernacular over Latin, or politesse versus more assertive styles of intellectual exchange. Each choice implied an orientation toward authority and tradition that had a deeply ethical dimension for Ancients like Huet, and each threw into question who should have access to the world of ideas.« Bourdieu 21998 [1992], 351. Vgl. Bourdieu 1983, 183: »Die gesellschaftliche Welt ist akkumulierte Geschichte. Sie darf deshalb nicht auf eine Aneinanderreihung von kurzlebigen und mechanischen Gleichgewichtszuständen reduziert werden, in denen Menschen die Rolle von austauschbaren Teilchen spielen.«

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Mechanismus der Innovation als Übereinstimmung mit dem historischen Fortschrittsprozess darstellen. Bourdieu übernimmt aber mit seiner Zentrierung der Innovativen als Nomotheten letztlich deren Selbstinszenierung und übersieht ihre Instrumentalisierung und Konstruktion der Geschichte. Auch der traditionelle Umgang mit dem Obszönen in der Literatur ist im 17. Jahrhundert einem Wandel unterworfen. Wie sich zeigen wird, sind es gerade die marginalisierten Philologen, die das häretische Kapital der obszönen Antike für innovative Verfahren nutzen. Traditionelle literarische Praktiken können so unter den neuen Bedingungen subversive Potenziale entfalten. Felix Budelmann und Johannes Haubold haben überzeugend für eine Verbindung von Classical Tradition und Classical Reception plädiert, der sich auch diese Arbeit verpflichtet sieht: »we need to keep tradition in view when studying reception, and vice versa.« 72 Wenngleich man also auf metarezeptionsgeschichtlicher Ebene von einem konstanten Sinnkern nicht ausgehen kann, so ist dieser doch auch nicht völlig arbiträr, sondern durch Strukturen und Eigenschaften des Textes sowie von einem Corpus anderer Texte bestimmt. In der historischen Rezeptionspraxis ist wiederholt das Phänomen zu beobachten, dass die eigenen Lesarten entweder als eben solch unbestreitbarer traditioneller Sinn dargestellt werden oder aber sich Lesarten offen oder implizit in eine ganz traditionelle Argumentation einpassen. Es werden also bewusst Traditionen konstruiert, aber es wird auch mit ihnen gebrochen. Tradition hat, wie Budelmann und Haubold betonen, ideologischen Charakter, da sie nicht mehr hinterfragt wird. Bei der Ablehnung der antiken Obszönität stützen sich die Kritiker, wie ich zeigen möchte, stark auf antike (und mittelalterliche) Oppositionen, Kritiken und Kategorien, transformieren sie bisweilen oder kehren sie um. Sie greifen existierende Rezeptionsfäden auf oder spinnen neue. Die Arbeit möchte daher auch die antiken diskursiven Substrate aufdecken, die der Bewertung antiker Obszönität zugrunde liegen, denn Innovation und Modernität stellen keine isolierten und gänzlich autonomen Phänomene der Abgrenzung dar, sondern rekurrieren auf Vergangenes und Bestehendes und gliedern sich in bestehende Systeme ein, aus denen auch Autorität gewonnen wird. Es soll hierbei weder darum gehen, zu zeigen, dass in der Antike selbst »alles schon gesagt« wurde, noch nachzuweisen, wie modern die Moderne tatsächlich ist. Es sollen nicht die diskursiven Elemente nach alt und neu, unbekannt und wiederholt angeordnet werden, weder mit einem impliziten Vorrang des Älteren und Ursprünglichen oder des Neuen und Innovativen als des jeweils Wertvolleren. Denn wie Foucault zu Recht warnt: »Le repérage des antécédents ne suffit pas, à lui tout seul, à déterminer un ordre discursif; il se subordonne au contraire au discours qu’on analyse, au niveau qu’on choisit, à l’échelle qu’on établit.«73 Bei der Analyse gilt es also zu vermeiden, auf der Ebene des analysierten Diskurses zu verharren. Dies erscheint umso schwieriger, als 72

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Budelmann/Haubold 2008, 24. Vgl. ebd. 14 »All these traditions are of course also cases of reception, usually of whole strings of reception. Tradition and reception tend to overlap, though the precise relationship between the two terms, and their implications in any given area of study, is not always easy to pin down. [...] Like many critical terms, ›tradition‹ and ›reception‹ are most effective when they are tailored from case to case.« Foucault 1969a, 193.

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auch die eigenen Begriffe und Metaphern des Forschers, die für die Analyse verwendet werden, nicht ohne Geschichte und Wertung sind. Die Begriffe, die zur Beschreibung des Verhältnisses von antiker und nachantiker – oder etwas allgemeiner: von früherer und späterer – Literatur, Gesellschaft und Epoche verwendet werden, entstammen einem Begriffsrepertoir, das in verschiedenen Aggregationszuständen operiert, die ihrerseits Werturteile beinhalten. So ist die Frage des Einflusses einer Flüssigkeitsmetaphorik verpflichtet, die seit der Antike selbst poetologisch aufgeladen ist – etwa in der hellenistischen Opposition von (reiner) Quelle und (schlammigem) Fluss oder auch im berühmten Bienenvergleich – und über Transformationen im 17. und 18. Jahrhundert (siehe hierzu Kapitel 5.2.1) bis heute Verwendung findet. Zu nennen wäre hier das jüngst von Brooke Holmes initiierte Projekt der liquid antiquity, das sich insbesondere in Zusammenarbeit mit der Kunst auf eine ganz andere Traditionslinie (beginnend mit Homer und der Naturphilosophie) beruft, nach der Wasser als das nicht festlegbare, sich der Ordnung widersetzende und nicht vorhersehbare Element betrachtet wird. 74 Tradition beinhaltet vor diesem Hintergrund im Sinne von Foucaults Begriff der Genealogie auch die Diskontinuitäten und die Zufälle der Überlieferung.75 Das Projekt versteht die Antike somit als »an unpredictably generative resource for the present while resisting the petrifying powers of classicism at its most iconic« 76 und steht somit wiederum in einer Tradition der kontrapräsentischen Inversion, mit der sich Kapitel 5.3.2 dieser Arbeit beschäftigt.77

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Vgl. Holmes 2017, 19–21. Vgl. Holmes 2017, 43f.: »The processes of transmission, too, can belie the tidy linearity implycit in the ›handing-down‹ of traditio. The afterlife of ancient objects, even that of the classical sculpture most prized today, has been governed by contingency. What remains of material culture is nothing but the ›flotsam and jetsam‹ of happenstance. By contrast, texts tend to be deliberately preserved, passed down from one scribe to the next, at least before the invention of the printing press. Still, even here, tychē wreaks havoc and yields surprises.« So Dakis Joannou im Foreword zu Holmes/Marta 2017. So heißt es in der Beschreibung des entsprechenden Folgeworkshops 2017 auf der Seite postclassicisms.org: »Antiquity is an irrepressible source of meaning today. But what it means is never fixed in stone. It must instead be continually rethought for an always changing ›we‹ under always changing conditions of local and global significance. Resisting classicism as dead weight, ›Liquid Antiquity‹ aims to make the ancient Greek past available as a fluid resource for the present by shifting attention from the matter of antiquity to the question of why antiquity matters.« (https://www.postclassicisms.org/workshops/previous/liquidantiquity-2-0/index.html, letzter Zugriff: 08.10.2020). Vgl. Auch Martindales new humanism, der ebenfalls den Jetztbezug der Antike herausstellt (Martindale 2013, 179): »First, what we might call the ›old humanism‹: the unproblematic view that students in the present could benefit from studying antiquity (I am not saying that the humanists of the fifteenth century all took anything like that view). Then there is anti-humanism, which takes two forms (which to an extent mutually reinforce each other): first the philistine view of some government ministers and many among the general public, that the ancient world is dead and has nothing in it for us; second the theorized view — the view of Foucault or, among classicists, Simon Goldhill, say — that the past is cut off from the present by its alterity, that it is radically different, alien. I am proposing a third way: the way of Pater, which, while respecting its historicity, shows how and why something like a Renaissance might be revived in the classroom of any time. For this ›new humanism‹, there must be a recognition of the

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Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der Tradition, die wie der Fortschritt wiederum das Zeitliche in Räumliches übersetzt. 78 Sie fasst ihren Gegenstand als etwas, das weitergereicht wird (tradere), betont dabei dessen Solidität und Persistenz. Ein weniger wertender Zugriff übersetzt das Zeitliche in räumliche Tiefe, d.h. in archäologische bzw. geologische Schichten. Ein jüngst von Shane Butler herausgegebener Sammelband beschäftigt sich dementsprechend – im wissenschaftshistorischen Rückgriff bis ins 19. Jahrhundert – mit den Deep classics und schlägt damit eine dritte Perspektive zwischen Tradition und Reception vor: from the side.79 In eine ähnliche Richtung geht auch Jürgen Paul Schwindts Radikal-Philologie, die, aus einem bildungstheoretischen Impetus, die Tiefe mit einer (ebenfalls geschichtsträchtigen) Naturmetaphorik der Wurzel verbindet und so die Vitalitätsprozesse der Beschäftigung mit antiken Texten hervorhebt. Im genealogischen Sinne, so fordert Schwindt, fungieren die Altertumswissenschaften als »Archäologie der Moderne«.80 In diesem Begriffsfeld möchte auch die vorliegende Arbeit operieren und eine Diskursanalyse mit einem Historismus verbinden, der die historischen Diskursschichten in ihren verschiedenen Aggregatszuständen, in fester, flüssiger, aber auch schlammiger Form, beschreibt und zugleich in ihrer transhistorischen (Dis)Kontinuität wie in ihrer gesonderten und sonderbaren Historizität sichtbar macht. Daraus abgeleitet ergeben sich auch Folgen für die Zitationsweise dieser Arbeit: Obwohl es zu einigen der Texte der Frühen Neuzeit hervorragende aktuelle textkritische Editionen gibt, werden die Texte hier in der Form zitiert, wie sie am zeitgenössichen Diskurs teilnahmen, d.h. möglichst in der Erstpublikation, wenngleich es nicht selten mehrere Neuauflagen dieser Texte gab, in denen auch Veränderung vorgenommen wurden. Die verwendeten Texte sind, sofern möglich, in der entsprechenden originalen Orthographie, Typographie (abgesehen von Verzierungen) und Zeichensetzung zitiert. Denn es ist das Bestreben dieser Arbeit, weitest möglich authentisches Material zu liefern und somit historische Distanzen und Schichten, die hier betrachtet werden, auch visuell kenntlich zu machen. Dem mit Originaltexten der

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importance and relevance for us of the past and its monuments.« (Hervorhebung im Original) Vgl. Butler 2016, 8. Vgl. Butler 2016, 1–3. Vgl. auch Butler 2016, 4f./15: »A basic aim of ›Deep Classics‹, therefore, is to re-propose Classics as an early species, and partial origin, of Deep Time thinking itself. For what is ›antiquity‹ – the thing classicists say they work on, via things they call ›antiquities‹ – if not precisely a word for a depth of time? […] And that name should remind us that the spatiotemporal ›tradition‹ is not just what happens to the past after the past, but an extension of the question of why the past, qua past, continues to compel our attention.« Vgl. Schwindt 2005, 151 (These 1): »Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der sich die klassisch-romantischen und postromantischen Inauguratoren der Moderne bei ihren konzeptuellen Überlegungen immer direkt auf die Antike bezogen haben, sollte die Bedeutung der Altertumswissenschaften, als Archäologie der Moderne unstrittig sein.« (Hervorhebung im Original) Und ebd. These 5: »Die Altertumswissenschaft bildet, indem sie über Bildung nicht redet, sondern die Bildung der Moderne in der genealogischen Vertiefung auf ihre elementaren Konditionen hin durchsichtig macht – als Radikalphilologie. Weil, wie die Erfahrung lehrt, Konzepte eben nicht zeitlos sind, müssen sie radikalisiert, das heißt ihrerseits zum Gegenstand philologischer Subversion werden.«

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Das obszöne Paradox

Frühen Neuzeit weniger vertrauten Leser mag daher etwa die Verwendung von ›u‹ für ›v‹ (und umgekehrt), die Ligatur ›&‹ für ›et‹ (lateinisch und französisch), die Abkürzung ›q;‹ für ›que‹ am Wortende sowie der Zirkumflex für die nachfolgenden Nasale ›n/m‹ (ã/ẽ/õ/ũ) zunächst Schwierigkeiten bereiten. Gleiches gilt für die allographische Variante des sogenannten langen s (›ſ‹, die Ligatur ›ß‹ steht entsprechend bisweilen für Doppel-s- ›ſſ‹), das an Wortanfang und Mitte Verwendung findet (und dem f ähnelt), während am Wortende das auch heute geläufige runde ›s‹ gedruckt wird. Darüber hinaus weisen die lateinischen Texte der Frühen Neuzeit einige phonetische Besonderheiten gegenüber dem Klassichen Latein auf, so steht etwa bisweilen -c- für -t- (also concio statt contio). Die Texte der griechisch-römischen Autoren der Antike werden dagegen nach modernen textkritischen Editionen zitiert, auch wenn dies nicht immer der Text gewesen sein mag, der den jeweiligen Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts (bzw. den benutzten Übersetzungen) vorlag. Die Vielzahl der in dieser Zeit kursierenden Editionen, von denen einzelne wiederum auch Gegenstand der Untersuchung sind, macht es unmöglich, dies jeweils nachzuvollziehen. Auffällige Abweichungen von heutigen Standardeditionen werden aber an entsprechender Stelle diskutiert. Abkürzungen von Autorennamem und Werktiteln werden gemäß der Verzeichnisse des Neuen Pauly (DNP) für griechische bzw. des Thesaurus Linguae Latinae (TLL Index, Leipzig 1904) für lateinische Autoren verwendet, biblische Bücher entsprechend dem Abkürzungsverzeichnis des Reallexikon für Antike und Christentum (RAC) zitiert. 1.4 Texte über Texte: Ziele und Herangehensweise der Untersuchung Die vorliegende Arbeit möchte forschungsgeschichtlich zweierlei leisten: Zunächst möchte sie bereits existierende Forschungsstränge miteinander verbinden. Es bestehen Überschneidungspunkte mit diachronen Arbeiten zur Rezeption einzelner Autoren, da die vorliegende Untersuchung einen für die Wahrnehmung der entsprechenden Autoren zentralen inhaltlichen Aspekt im Verlaufe des 17. und 18. Jahrhunderts behandelt. Andererseits soll die synchrone Forschung zum Thema Obszönität im frühneuzeitlichen Frankreich um eine diachrone Perspektive erweitert werden (dazu weiter unten mehr). Die Arbeit schließt dabei an zwei Forschungsstränge an, die sie zu verbinden sucht. Zum einen die altphilologische Rezeptionsgeschichte der betreffenden Autoren und zum anderen die Forschung zur Obszönität und zum literarischen Feld, vor allem zur Macht der Literatur in Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert. Gegenüber der synchronen Forschung zur Obszönität möchte ich in stärkerem Maße nach den dahinterstehenden diskursiven Kontinuitäten, Diskontinuitäten und Transformationen fragen. Ich fokussiere mich dabei auf das Phänomen der antiken Obszönität als ein kleines, aber äußerst wirksames Rad des sozialen Systems, um die Funktionsweisen des Systems im Spannungsfeld von Gegenwärtigem und Geschichtlichem zu illustrieren.

Texte über Texte

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Die Rezeption der obszönen Literatur der Antike umfasst eine ganze Reihe antiker Autoren. Die umfassende Erforschung der Rezeption der hier behandelten Autoren, namentlich vor allem Martial, Catull, Ovid, Petron und Aristophanes, in Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert ist weiterhin ein Forschungsdesiderat. In einem beschränkten Rahmen sind hierzu bereits Arbeiten erschienen. Die primär rezeptionsgeschichtlich ausgerichteten Arbeiten sind in der Regel auf einen Autor fixiert. Einzelstudien wie Mehnert (1970) zu Martial (im 16/17. Jahrhundert), Marmier (1962) zu Horaz (im 17. Jahrhundert), Chatelain (2008) zu Ovid (in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts) oder Wetzels Arbeit (2002) zu den Catull-Übersetzungen von Marolles (1653) und Pezay (1771) konzentrieren sich dabei auf einen überschaubaren Zeitraum. Der Aspekt der Obszönität der entsprechenden Texte spielt dabei, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle.81 Die vorliegende Arbeit kann zu einer solchen Rezeptionsgeschichte nur bedingt beitragen, denn es geht nicht darum, eine auf Vollständigkeit angelegte Geschichte der Rezeption der entsprechenden Autoren in französischen Texten dieser zwei Jahrhunderte vorzulegen. Stattdessen sollen die diskursiven Rahmenbedingungen ihrer Rezeption untersucht werden. Hierzu wird der Fokus einerseits verengt, da hauptsächlich der Aspekt der Obszönität der Texte analysiert wird. Anderseits wird die Perspektive erweitert, da weitaus umfassender Äußerungen über diesen Aspekt einbezogen werden. Es soll also gerade nicht die innerliterarische Rezeption, d.h. das literarische Fortleben bestimmter Motive oder Stoffe nachgewiesen werden, denn die literarische Rezeption der obszönen Literatur bildet hierin nur einen kleinen Ausschnitt. Es soll stattdessen unternommen werden, gerade nach dem vermeintlichen »Tod« dieses Aspektes der antiken Literatur und den Folgen der starken Verengung der Texte auf ihre Obszönität zu suchen – es soll demnach eine Art negative Rezeptionsgeschichte geschrieben werden. Anders formuliert: Warum gilt etwa Martial, der noch Ende des 16. Jahrhunderts für seinen Witz und seine urbanitas gelobt und auch zu Beginn des 17. Jahrhundert imitiert wurde, 82 wenige Jahrzehnte später quasi als kunstloses, barbarisches Anti-Modell der Dichtung? Und daran anschließend: Wie und in welchen Diskursen wird diese Charakterisierung Martials funktionalisiert? Generell lassen sich zwei Tendenzen in der Rezeptionsforschung zu den obszönen Autoren erkennen. Einerseits wird betont, dass sich aufgrund der sich ändernden zeitlichen Umstände wie einer erhöhten Forderung nach Moral (bienséance und politesse) der Status der jeweiligen Autoren ändert. 83 So konstatiert Holtermann: »Dass Aristophanes bei den Anhängern der Modernen keine Gnade fand, versteht sich beinahe von selbst.« 84 Dies geschehe vor allem aus sozialhierarchischen Gründen. Denn die Komödie als niedere Gattung sei nun mit dem Pöbel verbunden worden. Auch einem Ancien wie Rapin gelte Aristophanes folglich nur als »malhonnête 81 82 83 84

Hervorzuheben ist an dieser Stelle noch Lubitz 2020, die sich mit dem Problem der Obszönität in deutschen Aristophanes-Übersetzungen beschäftigt. Vgl. Mehnert 1970, 11. Sullivan 1991, 270f. Holtermann 2004, 56f.

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homme«. Insgesamt sei Aristophanes also ganz allgemein auf Ablehnung gestoßen, »gerade auch von Interpreten, die ansonsten die antike Literatur für vorbildlich erklärten.« 85 Eine derartige Rezeptionsforschung kommt einer undifferenzierten Urteils- und Geschmacksgeschichte gleich, sie argumentiert letztlich tautologisch, da sie die Selbststilisierung der Urteilenden wiederholt. Die vorliegende Arbeit fragt dagegen nach den fundierenden Funktionen dieser Ablehnungen. Ferner verschleiert die isoliert betrachtende Rezeptionsforschung häufig die historische Dimension und die Rolle, die andere antike (mittelalterliche und frühneuzeitliche) Texte in der Formation dieses Geschmacks gespielt haben. Diese bilden aber die Grundlage der Kriterien der Bewertung von Literatur. Anders gesagt: Die modernen Leser antiker Autoren lesen nicht nur die obszönen Autoren (oder nicht), sondern sie haben auch antike Auseinandersetzungen mit dem Aspekt der Obszönität von Aristoteles bis Quintilian sowie antike Literaturtheorie und ihre neuzeitlichen Interpretationen gelesen. Sie haben eine ganze Reihe an iudicia über die entsprechenden Autoren von der Antike bis in die Renaissance rezipiert, die in den Editionen oft den Texten selbst vorangestellt sind.86 Noch bevor sich also ein Leser mit dem Text selbst auseinandersetzt, sind seine Erwartungen und seine Vorurteile also in erheblichem Maße präfiguriert. Nur vor diesem Hintergrund finden Transformationen in der Rezeption statt. Ferner fokussiert die Forschung meist auf die literarische und poetologische Rezeption. Trotz allgemeiner Ablehnung des Aristophanes gibt es hinreichend Material für Untersuchungen seiner literarischen Rezeption in der französischen Komödie. 87 Wie sich zeigen wird, stellt die Ablehnung vor allem eine rhetorische Strategie dar, die der literarischen Praxis zuwiderläuft. Sullivan lässt in seinem (naturgemäß) kurzen Überblick zu Martials »survival and revival« die Diskussion um die Obszönität fast gänzlich außer Acht. Er befasst sich mit der literarischen MartialRezeption bei Maynard, den positiven Urteilen der Jesuiten und der Jansenisten: »In the seventeenth century the presence of Martial in the poetry of France increased with the changing social attitudes of the time. Urbanité and politesse, an amiable worldliness characterized by a teasing, often frivolous wit, became a sought-after quality in a gentleman or a writer.« 88 Diese Einschätzung marginalisiert die scharfe Kritik, die Martial, insbesondere wegen der Obszönität vieler seiner Pointen, entgegengebracht wurde.89 Vom Modellcharakter Martials, den Sullivan insbesondere in der Scholastik festmacht, wird auch dort die Obszönität explizit ausgenommen. Auch Petron wird im 17. und 18. Jahrhundert zwar stark rezipiert, insbesondere die Gattung der histoire

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Holtermann 2004, 56. Siehe hierzu Kapitel 4.3.1. Z.B. Dudouyt 2016. Vereinzelte Arbeiten (Bastin-Hammou 2010/2013; Wyles 2016) befassen sich mit Anne Daciers Aristophanes-Übersetzungen. Sullivan 1991, 284f. Kritik an Martial nimmt Sullivan, vermutlich vermittelt durch Mehnert, nur als Kritik der Klassizisten am Manierismus wahr. Mehnerts Studie zur Martial-Rezeption im Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts (Mehnert 1970) ist stark auf diesen Gegensatz fokussiert, folgerichtig endet seine Untersuchung mit der Mitte des 17. Jahrhunderts, die dann vermehrt einsetzende Kritik an Martials Obszönität fällt daher aus dem Blick.

Texte über Texte

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comique steht in der Tradition der Satyrica,90 aber die Diskussion über die Obszönität des Textes ist dennoch Gegenstand intensiver Debatten. Eine erschöpfende Untersuchung der Imitationen obszöner Motive und Topoi durch die literarische Produktion des 17. und 18. Jahrhunderts hindurch ist wohl nur durch eine Kombination an Untersuchungen möglich. Auch eine reine Sammlung an Geschmacksurteilen, die mehr oder weniger dem jeweiligen Zeitgeist entspricht, würde die Rezeption der obszönen Literatur der Antike nur oberflächlich beschreiben. Gegenüber Einzeldarstellungen, die sich der Rezeptionsgeschichte einzelner Autoren widmen, soll hier der Strang der Obszönität in den Rezeptionen verschiedener Autoren herausgelöst werden. Dieses Vorgehen bringt den Vorteil mit sich, ähnliche Rezeptionsphänomene zusammen behandeln zu können und so die Unterschiede und Hierarchisierungen zwischen den Autoren klarer hervortreten zu lassen. Das Phänomen antiker Obszönität wird hier also als ›diskursives Feld‹ (Foucault)91 untersucht. Es sollen die vielen Äußerungen über die Obszönität bei Martial, Catull, Petron, Aristophanes und anderen antiken Autoren betrachtet werden: Wie wird die Obszönität erklärt, eingeordnet und bewertet? Welche epistemische Funktion hat die Ablehnung oder Verteidigung der Obszönität in den entsprechenden Diskussionen und, davon ausgehend, in sozialhierarchischen Positionskämpfen? Welche positiven und produktiven Effekte hat die starke Ablehnung der obszönen Autoren? Darüber hinaus will die Arbeit die enge Verwobenheit der aufgenommenen und der aufnehmenden Seite im Rezeptionsprozess hervorheben, die über die isolierte Einzelrezeption hinausgeht. In dieser Hinsicht ist die Arbeit auf Vorarbeiten angewiesen. Abramovicis Obscénité et Classicisme (2003) behandelt viele der hier relevanten Phänomene, und auch die Bewertung der obszönen Antike nimmt in seiner Arbeit eine wichtige Stellung ein. Aufgrund seines synchronen, eher systemisch und ideengeschichtlich orientierten Ansatzes fragt er allerdings zu selten nach den dahinterstehenden diskursiven Kontinuitäten. Die starke Verbindung von Ästhetik, Geschichte und Gesellschaft ist charakteristisch für den untersuchten Zeitraum. Insbesondere die Übertragungen zwischen medizinischem, juridischem und ästhetischem Diskurs geraten somit ins Blickfeld dieser Untersuchung, weniger um Kausalitäten aufzudecken, sondern vielmehr um zu zeigen, wie diese zu den Bedingungen und dem Funktionieren des Sprechens über Literatur gehören und wie sie an der Problematisierung des Obszönen in der Literatur mitwirken. Die Übertragungen der Begrifflichkeiten dieser Diskurse auf die Literatur gehen freilich mit einer Veränderung des Sinns einher. Solche 90

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Jean Serroy konstatiert etwa in seinem Standardwerk zum Roman im 17. Jahrhundert die enorme Bedeutung Petrons für die literarische Produktion (Serroy 1981, 234): »Mais alors que les poètes satyriques abandonnent le latin et, par là, tendent à prendre de plus en plus de liberté avec leurs modèles, les romanciers, du moins ceux qui restent fidèles à la langue, ne se fixe pas d’autre but que de rivaliser avec Pétrone; ainsi, c’est toujours en pensant au Satyricon antique qu’ils écrivent leurs propres romans.« In diesem Bereich wäre ferner noch die Arbeit von Albert Collignon (Pétrone en France, Paris 1905) zu nennen; sie hat aber, wenngleich sie sehr materialreich ist, eher den Charakter einer summarischen Urteilsgeschichte. Vgl. Foucault 1969a, 160.

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Übertragungen aus Medizin und Jurisdiktion werden vollzogen, um soziale Konflikte anderer Ordnungen zu verdecken oder zu lösen.92 Insgesamt möchte ich zeigen, wie ein komplexes Zusammenspiel von literarischen, sozialen, politischen und religiösen Faktoren im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts spezifische Aspekte der Antike aufgreifen lässt, die in anderen Epochen eine eher untergeordnete Rolle spielen. Gegenstand der Untersuchung sind also Texte, die den Umstand der Obszönität der Texte der Antike thematisieren: Texte über Texte.93 Es werden dabei so disparate Bereiche wie die Theologie, die Medizin, die Pädagogik, die Philologie, die Philosophie und die Geschichte, herangezogen. Die Diskussionen und Positionen, die hier analysiert werden, beinhalten wiederum kein klares und einheitlich umrissenes theoretisches Programm im Umgang mit antiker Obszönität. Es werden allerdings in den Modi des Verstehens und der Haltung ein Begriffsfeld und eine Metasprache verwendet, in der verschiedene Metaphoriken miteinander konkurrieren, die epistemologisch nachvollzogen werden können. Diese metaphorischen Plateaus bilden die Medizin, die Genealogie, die Natur und das Recht. Das untersuchte Corpus besteht aus literarischen, juristischen, wissenschaftlichen Texten, aus Briefen, Editionen und Übersetzungen samt Anmerkungen. Es werden also nicht nur die literarischen Produktionen, sondern vor allem auch die vielen anderen Epi- und Peri-Texte mit in den Blick genommen, die die Bilder der Antike entscheidend mitkonstituieren, perpetuieren und transformieren. 94 Ein besonderes Gewicht kommt den Paratexten der Editionen und Übersetzungen zu, denn diese prägen – noch bevor der Text selbst gelesen wird – seine Lektüre. Bisweilen ist auch festzustellen, dass die obszönen Texte, über die so viel gesprochen wird, selbst gar nicht gelesen worden sind bzw. die NichtLektüre zumindest vorgegeben wird. Die vorliegende Arbeit möchte sich auf die epistemischen Veränderungen konzentrieren, um Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den diskursiven Formationen aufzudecken. Gerade vor dem Hintergrund der antiken Auseinandersetzung mit der Obszönität kann eine Reihe an neuen diskursiven Praktiken entdeckt werden, die wiederum entsprechende antike Diskurse

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Vgl. Foucault 1969a, 223f. Hilgert (2010, 96) hat auf das »hermeneutische Grundproblem« in der Analyse solcher Meta-Texte hingewiesen. Es besteht in der »Ermittlung der jeweils spezifischen, rezeptionspraktisch manifestierten Bedeutungsprofile des Geschriebenen innerhalb des fokussierten historisch-kulturellen Kontexts. Denn auch ›Texte über Texte‹ besitzen natürlich keinen substantiell immanenten, universell identischen Sinngehalt.« (Kursivierung im Original) Vgl. Genette 1987. Lange bevor Genette den Begriff »Paratext« einführte, hatte Philippe Lejeune in seiner Untersuchung zum Pacte autobiographique (1975) auf die Bedeutung des »Randes« des Textes (»frange du texte imprimé«) hingewiesen, der die Lektüre stark beeinflusst (»qui commande toute lecture« [kursiv im Original], Lejeune 21996, 45; vgl. auch 311–341). Bourdieu hat ebenfalls auf die Bedeutung dieser Dokumente im Prozess der Kanonisierung und Hierarchisierung hingewiesen: »Et ce n’est pas le moindre rapport d’un tel travail que de rendre conscient le processus d’inculcation consciente ou inconsciente qui nous porte à accepter comme allant de soi la hiérarchie instituée.« (Bourdieu 21998, 369).

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transformieren. Rezeption meint hier also vor allem verschiedene Rezeptionspraktiken.95 Die Untersuchung steht infolgedessen vor dem methodischen Problem, nicht der Verlockung zu erliegen, aus der Fülle des vorliegenden Materials selbst ein harmonisches, monolithisches, linear-teleologisches Narrativ zu verfassen, und gleichzeitig aus den äußerst disparaten, sich aber auch wiederholenden Aussagen der Texte nicht eine inkohärente Materialsammlung werden zu lassen. Es soll daher vor allem darum gehen, die diskursive Ordnung sowie Risse und Verbindungen der Texte, die Verwobenheit, das Nebeneinander, die Zentrierung und Marginalisierung im Umgang mit antiker Obszönität herauszuarbeiten. Der Schwierigkeit, disparate Phänomene adäquat zu beschreiben, ohne in allzu starre Systematiken zu verfallen, begegnet die Studie mit einer doppelten Perspektive: Auf der synchronen Ebene werden das semiotische System sowie die immanenten Logiken der Texte analysiert, auf diachroner Ebene werden Kontinuitäten und Diskontinuitäten des Obszönitätsdiskurses betrachtet. ⁎⁎⁎ Der Fokus des Untersuchungszeitraum liegt auf dem 17. und 18. Jahrhundert, wobei auch auf das 16. Jahrhundert bezuggenommen wird. Als Beginn der untersuchten Diskursformation können die 1620er Jahre und der Prozess gegen den Dichter Théophile de Viau gelten, da dieser den zuvor erstarkten Konflikt sowohl im Hinblick auf literarische Obszönität (und den Umgang damit) als auch auf die Antikenverehrung kulminieren ließ und weitreichende Veränderungen des literarischen Feldes nach sich zog, kurz: antike Obszönität wurde zum weitreichenden Problem. Das Hauptaugenmerk liegt dann auf die Querelle des Anciens et des Modernes in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert als dem Hauptexerzierfeld im Umgang mit antiker Obszönität, das im 18. Jahrhundert zunehmend von den Aufklärern betreten und bestimmt wird. Die 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts bildet dann als Antwort (retour à l’antique) auf die absolutistisch geprägten Debatten der Querelle den zeitlichen Endpunkt der Arbeit. Die hier zu beobachentende Idealisierung gerade der obszönen Antike im Dienste eines bürgerlich-revolutionären Impetus verliert im Nachklang der Französischen Revolution ihre Kraft und geht in neue Diskursformationen (der Romantik und der Restauration) über. Das Jahr 1804 mit der Kaiserkrönung Napoleons bildet daher auch den historischen Endpunkt dieser Arbeit.

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Nach Reckwitz (2006, 609) stellen Rezeptionspraktiken »eine routinisierte Form des Verhaltens gegenüber und des Umgangs mit bestimmten kulturellen Artefakten dar, in denen konventionalisierte Muster der interpretativen Sinnzuschreibung auf der Grundlage von bestimmten mental verankerten Sinnmustern – was eine Know–how– und eine motivationale Dimension einschließt – eingesetzt werden. Damit ist es möglich, daß ein einzelner Akteur Träger verschiedener Rezeptionspraktiken ist und an unterschiedlichen Wissensordnungen partizipiert, die ihm unterschiedliche kulturelle Schemata der Interpretation kultureller Artefakte zur Verfügung stellen, ebenso wie es möglich ist, daß ›der gleiche‹ Text im Kontext unterschiedlicher Rezeptionspraktiken verschiedenartige Bedeutungen erlangen kann«.

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Das obszöne Paradox

Die Arbeit selbst gliedert sich in vier Teile. Das folgende Kapitel 2 (Moderne Obszönität und antike Texte) bildet gewissermaßen das historische Präludium für die eher systmatischen Kapitel 3 bis 5. Es hat zum Ziel, den historischen Bruch in der Akzeptanz der obszönen Literatur der Antike in der ersten Hälfte des 17. Jahrhundert zu ergründen. Es fragt nach den diskursiven und sozialhistorischen Veränderungen, die das Obszöne, speziell die obszöne Antike, zum weitgreifenden Problem werden lassen. Die Untersuchung nähert sich dem Gegenstand hierzu zunächst aus einer semantischen Perspektive und klärt das Bedeutungsspektrum der französischen Begriffe obscène und obscénité. Gerade im Vergleich mit den antiken Etymologien und Verwendungsweisen des Begriffes obscenus treten hier die spezifischen Veränderungen und Besonderheiten des französischen Obszönitätsdiskurses im 17. und 18. Jahrhundert hervor. In einem zweiten Schritt werden in Rückschau die antiken Thematisierungen des Phänomens der Obszönität vor allem in Dichtung, Rhetorik und Philosophie dargestellt. Diese Darstellung verortet die hier relevanten antiken obszönen Texte in ihrem Entstehungskontext und lässt so die Veränderungen zu Beginn des 17. Jahrhunderts deutlicher hervortreten. Sie zeigt aber auch die offenen und impliziten Kontinuitäten, die die Diskussionen des 17. und 18. Jahrhunderts zur Antike, insbesondere in der Konzeption von Autor/Sprecher und Rezipient pflegen. Sie bilden somit das Substrat für die Untersuchungen der Kapitel 3 bis 5. Die Analyse des Prozesses gegen den Dichter Théophile de Viau (1623–1626), des Verhältnisses zu obszönen Texten der Antike sowie die Konsequenzen für das literarische Feld markieren dann den Kulminationspunkt des Kapitels. Es soll gezeigt werden, wie sich die Bedingungen für obszöne Literatur verändern und wie gerade eine Kanalisierung des antiken Obzönitätsdiskurses die nachfolgenden Bewertungen bedingt. Im Anschluss hieran zeigen die Kapitel 3 bis 5 verschiedene Perspektiven in Hinblick auf die Funktionalisierung antiker Obszönität und fragen vor allem nach dem dialektischen Verhältnis der Konstruktion der Antike(n) und dem jeweiligen Selbstbild. Sie ordnen sich nach dem rhetorischen Ausdruck von Nähe und Distanz an, bauen allerdings nicht aufeinander auf und sollen keineswegs den Eindruck einer historischen Entwicklung (von Nähe zu Distanz) erwecken. Sie beschreiben vielmehr ein System und betrachen Phänomene, die, wenngleich in unterschiedlicher Intensität, nebeneinander und miteinander verzahnt ablaufen. Die Kapitel sind also komplementär zu lesen. Sie gliedern sich nach den drei bereits beschriebenen Antikebildern, die hier unter dem Begriff des Abjekten subsummiert werden. Kapitel 3 (Pathogene Antike) untersucht die besondere Betonung der Nähe und entsprechend der Gefahr für den Leser, die von der Lektüre der obszönen Literatur der Antike ausgehe, und dementsprechend mit einer kategorialen und stark affizierten Ablehnung (dégoût) einhergeht. Das Kapitel klärt zunächst die rezeptionsästhetischen Voraussetzungen dieses Diskurses, bevor die Poetiken und literaturtheoretischen Traktate, besonders der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, auf ihre Behandlung der (antiken) Obszönität und ihre sozialen Implikationen hin betrachtet werden. Im Anschluss wird am Beispiel des Aristophanes die veränderte Konzeption der Satire, im Kontrast zu seiner Bewertung in der Renaissance, dargelegt.

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Kapitel 4 (Ausgesuchte Antike) betrachtet demgegenüber Praktiken der Selektion und der Separation, die der affizierten Ablehnung ein ordnendes Momentum an die Seite stellen. Die hier beschriebenen Ordnungsakte sind von einem Nebeneinander von Kontinuität und Diskontinuität geprägt. Sie vollziehen sich auf der Ebene der Sprachgeschichte (4.2), der Edition und Übersetzung der antiken Texte (4.3) sowie der philosophischen Konzeption des Obszönen (4.4). Statt die Werke der obszönen Autoren gänzlich dem Vergessen zu überlassen, werden Kriterien ihrer Selektion, d.h. der Dekanonisierung, aber auch der Hierarchisierung und der Anordnung gesucht und angewendet. Die Obszönität der Texte erweist sich als allgemein verbindliche Kategorie; sie stellt ein wesentliches Kriterium der Ordnung dar und konsolidiert diese dadurch zugleich. Kapitel 5 (Entfernte Antike) widmet sich abschließend den historischen Narrativen, die die Obszönität in verschiedene Geschichtstheorien eingliedern und zum Ausgangspunkt fundierender Erzählungen machen. Hierzu wird zunächst der geschichtstheoretische Rahmen geklärt (5.1.), um im Anschluss die zweifache Angliederung der obszönen Antike an den Barbarendiskurs zu untersuchen. Die exkludierende und distanzierende Figur des obszönen Barbaren findet ihre Funktionalisierung vor allem in der Selbststilisierung der Klassik und der Aufklärung, führt aber auch zu ihrer Inversion durch die Positivierung des Obszönen, die in ihr gerade das ordnungsstörende Potenzial betont. Der bemerkenswerten Geschichte des Romans (Traité de l’origine des romans, 1670) von Pierre-Daniel Huet ist der letzte Teil dieses Kapitels gewidmet, da hier das Momentum der historischen Distanz, letztlich die Konstruktion einer gänzlichen Diskontinuität, am stärksten hervortritt und die Lektüre der obszönen Literatur der Antike wiederum als unproblematisch erscheinen lässt.

2 Moderne Obszönität und antike Texte »Ah! mon Dieu! obcenité. Ie ne ſçay ce que ce mot veut dire; mais ie le trouve le plus ioly du monde.« Molière, La Critique de l’Escole des femmes (1663) »Ma plume eſt une putain, Mais ma vie eſt une ſainte.« François Maynard, Priapées (1623) »La ſotte antiquité nous a laiſſé des fables Qu’un hõme de bon ſens ne croit point receuables.« Théophile de Viau, Ode à Monsieur du Fargis (1621)

Das 17. Jahrhundert stellt einen tiefen Einschnitt in der Rezeption der obszönen Autoren der Antike dar. Gehörte die obszöne Literatur der Antike im Mittelalter und in der Renaissance als fester Bestandteil zum Kanon, wird die Lektüre der entsprechenden Autoren seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts radikal in Frage gestellt und als moralisches Vergehen disqualifiziert. Ziel dieses Kapitels ist es, die historischen und diskursiven Veränderungen darzulegen, die zur breiten Ablehnung der obszönen Literatur führten, der in den Kapiteln 3 bis 5 nachgegangen wird. Diese Veränderungen betreffen einerseits die Konzeption und Semantik des Obszönen und andererseits die Rahmenbedingungen des literarischen Feldes. Sie basieren auf verschiedenen Konzeptionen von Autor, Text, Sprache und Leser. Die Entstehung der spezifisch modernen Ausprägung der Obszönität in Frankreich im 17. Jahrhundert findet, so soll gezeigt werden, in enger Auseinandersetzung mit antiken Texten aus Dichtung, Rhetorik und Philosophie von Aristophanes (450/440–380 v. Chr.), Platon (428/427– 348/347 v. Chr.) und Aristoteles (384–322 v. Chr.) über Cicero (106–43 v. Chr.) und Catull (ca. 84–54[?] v. Chr.) bis hin zu Martial (40–103/4 n. Chr.) und Quintilian (35– 96 n. Chr.) statt. Der literarische, literarkritische und philologische Umgang mit antiker Obszönität, der sich in Zitaten, Übersetzungen und Anspielungen niederschlägt, wird darin nicht nur zum Gegenstand, sondern als Vehikel und Medium der Auseinandersetzung genutzt, das den speziellen Gegebenheiten des Buchdrucks und der Buchkultur der Frühen Neuzeit Rechnung trägt und diese für sich nutzt.

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Moderne Obszönität und antike Texte

2.1 Obscénité? Historische Semantik des Obszönen und sprachliche Reinheit Seit den 1660er Jahren ist das lateinische Lehnwort obscénité in den literarischen Kreisen von Paris in Mode. Rund um den Begriff, seine Entlehnung und Verwendung entsteht eine Debatte, die für das differenzierte Verhältnis zur Antike und für die Rezeption der obszönen Literatur sehr aufschlussreich ist. Der französische Begriff obscénité ist von seinem ersten Auftreten im 16. Jahrhundert an eng mit der lateinischen Sprache, Literatur und Kultur verknüpft. Der Begriff steht in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Zentrum einer Auseinandersetzung um verschiedene Sprachideale, namentlich in der Debatte zwischen dem Jesuiten Dominique Bouhours und dem Literaten Gilles Ménage 96 hinsichtlich der Normierung und Standardisierung des Französischen, die wiederum Teil einer generellen Konkurrenz der französischen und der lateinischen Sprache (Querelle du François et du Latin) dieser Zeit ist.97 Der Streit um die Verwendung des Begriffes obscénité ist emblematisch für die Debatte über die obszöne Literatur der Antike: Ebenso wie es Widerstand gibt, das lateinische Lehnwort zu verwenden, werden Diskussionen um den Nutzen der obszönen Literatur der Antike geführt. Einer der frühesten Belege der Entlehnung findet sich im Discours historical de l’antique et illustre cité de Nismes (1560) des Historikers Jean Poldo d’Albenas. Im Zusammenhang mit den Ludi Florales paraphrasiert er Martials praefatio zu Buch 1, in der dieser von der »leçon de ſes vers obſcenes, & impudiques« spreche. 98 Das explizierende impudiques deutet auf eine semantische Unschärfe und Fremdheit hin. Der Begriff obscène erscheint, wie Abramovici bemerkt, gewissermaßen als Zitat aus Martial, zu dem impudique als Glosse fungiert.99 Tatsächlich gebraucht Martial in der praefatio den Begiff obscenus allerdings nicht100 (wohl aber in 4.48; 6.50 und 11.61) – ebenso wenig wie er seinen Text als »leçon« 101 charaktersiert –, sondern spricht 96 97 98 99

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Vgl. McKenna 1995. Siehe hierzu ausführlich Kapitel 4.2. Poldo d’Albenas 1560, 141. Zu Martials Apologie siehe Kapitel 2.2.3. Abramovici 2003, 4. Der Thrésor de la langue françoise (Nicot 1606) verzeichnet beispielsweise keinen Eintrag »obscène«, führt aber »obscœnus« als Übersetzung für »impudique« an: »Il n’eſt point impudique à dire, Dicitur non obſcœnè.«(Nicot 1606, 348, s.v. Impudique) Ebenso enthält auch Delbruns französisch-lateinisches Wörterbuch (Delbrun 1674) keinen Eintrag obscène, verzeichnet jedoch als Übersetzungsmöglichkeit für deſhoneſte das Adjektiv obscœnus und schlägt vor, deſhoneſteté mit obſcœnitas oder turpitudo und die Wendung »Dire des paroles deſhoneſtes« mit »Obſcœna verba proferre« bzw. »obſcœne & impurè loqui« zu übersetzen (Delbrun 1674, 302). In Nicots französisch-lateinischem Lexikon (Nicot 1584) finden weder obscenus noch obscène Verwendung, deshonnête wird dort häufig mit turpis wiedergegeben (z. B. Nicot 1584, 65, s.v Auec, 149, s.v. Conclure, 151, s.v. Confeſſer, 214, s.v. Deshonorer). Estienne (1591, 889, s.v. obſcœnus,) schlägt als Übersetzung vor: »choſe vilaine, orde, & ſale, Pleine de paillardiſe, impudique.« und unterscheidet davon obscenus: »de Ob et Cano deducti […] Qui porte, ou ſignifie quelque malencontre aduenir«. Zur Ableitung von canere siehe unten S. 46. Poldo d’Albenas’ Verwendung des Terminus obscène mag auch durch das Bild des Theaters, mit dem Martial seine Dichtung in der praefatio beschreibt, motiviert sein. Eine solche Lesart mag einerseits durch den Schulgebrauch des Dichters als Satiriker erklärbar sein, anderseits eventuell durch den Begriff ludus motiviert sein, den Martial neben

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hinsichtlich der Sprache der Epigramme von der lasciva verborum veritas bzw. von latine loqui. Zwanzig Jahre später verwendet Montaigne den Begriff in der Beschreibung der antiken Waschpraxis des Intimbereiches mit einem Schwamm: »Voila pourquoy, ſpongia eſt vn mot obſcœne en Latin.« 102 Montaigne verdeutlicht den Charakter des Begriffes als Fremdkörper durch eine etymologisierende Orthographie.103 Die Etymologie des Begriffes obscenus ist bis heute nicht abschließend geklärt.104 In der Antike konkurrieren im Wesentlichen drei mögliche Etymologien, von denen zwei bei Varro (116–27 v. Chr.) genannt werden.105 Die erste Möglichkeit leitet obscenus von scaena (zu griechisch σκηνή), der Bühne, ab: »quare turpe ideo obscaenum, quod nisi in scaena palam dici non debet« (»Und daher ist das Abstoßende deshalb obszön, weil es außer auf der Bühne [scaena] öffentlich nicht gesagt werden darf.«).106 Die TheaterBühne stellt somit nach Varro ein Ausnahmephänomen dar. Dies deckt sich mit der historischen Praxis, dass, wie in Kapitel 2.2 dargelegt wird, die Obszönität in enger Verbindung mit der Alten Komödie Athens steht, in deren Tradition sich später die römische Satire und das Epigramm, beides Gattungen, für die das genus humile charakteristisch ist, explizit positionieren. Die zweite Hypothese, ebenfalls bei Varro überliefert (wenngleich dort nicht als Alternative behandelt), vermutet das Adjektiv scaevus ‚links, unglückbringend’ (über das Griechische σκαιός) aus der Auguralsprache als Ursprung. 107 Obscenus bedeutet dementsprechend etwas, das schlechte Omen

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nugae (›Kleinigkeiten‹, ›Spielereien‹) häufig zur Charakteriserung seines Werkes verwendet und der daneben auch konkret die Schule bezeichnen kann. Montaigne 1580, livre premier, 455. Der Zusammenhang von Orthographie und Etymologie beschäftigt auch die antiken Grammatiker. Vgl. hierzu unten Anm. 106. Vgl. TLL s.v. obscēnus [Kuhlmann], vol. IX.2, 158.46–161.75; Thierfelder 1956; Desanti 1983; Cerilio de Melo 2019, 1016; vgl. auch Görsen 1984. Daneben leiten spätantike Grammatiker (FEST. 204; PORPH. Hor. sat. 1.5.62; ISID. orig. 10.198) das Wort noch von Obscus/Opscus ›oskisch‹ ab, da dieser Volksstamm angeblich eine Vorliebe für derartige Wörter gehabt habe. Siehe hierzu unten Anm. 114. VARRO ling. 7.96. Die Schreibung »obscenus« erklärt er mit einer orthographischen Variante: »apud Matium: ›obsceni interpres funestique omnis auctor.‹ Obscenum dictum ab scena; eam, ut Graeci, et Accius scribit scena. in pluribus verbis A ante E alii ponunt, alii non, ut quod partim dicunt sceptrum, alii Plauti Faeneratricem, alii Feneratricem; sic faenisicia ac f[o]enisicia, ac rustici pappum M[a]esium, non Maesium, a quo Lucilius scribit: …Cecilius ne rusticus fiat.« (»Bei Matius steht: ›des Obszönen Ausleger und des unheilvollen Omens Gewährsmann.‹ Obszön heißt es nach scaena [Bühne]; wie die Griechen schreibt es auch Accius scena. Bei vielen Wörtern setzen die einen ein A vor das E, die anderen nicht; sowie sie teils scaeptrum [Zepter], teils sceptrum sagen, die einen Plautus’ Stück Faeneratrix [die Wucherin], die anderen Feneratrix nennen; ebenso (sagen sie) faenisicia und fenisicia, und die Landleute nennen die Figur des alten Mannes Mesius und nicht Maesius, weshalb Lucilius schreibt: ›Auf dass Cecilius kein bäurischer Pretor werde.‹«) Zur Stelle vgl. Müller 2001. Diese Etymologie wurde vom englischen Sexologen Havelock Ellis (1859–1939) umgekehrt. Er versteht das Präfix ob als ›für, anstelle von‹, weshalb obscenus seiner Meinung nach auf das referriere, was »off scene«, also in den Kulissen, geschehe, und dementsprechend nicht visuell, sondern nur verbal auf der Bühne repräsentiert werden dürfe. Siehe Ellis 1947 [1937], 175. VARRO ling. 7.97: »Potest vel ab eo quod puer[il]is turpicula res in collo quaedam suspenditur, ne quid obsit, [u]bonae, scevae causa scaevola appellata. Ea dicta ab scaeva, id est ›sinistra‹, quod quae sinistra sunt bona auspicia existimantur; a quo dicitur comitia aliudve

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bringt. In der Tat hatte der Begriff des Obszönen in der römischen Dichtung eine stark religiöse Konnotation, die obszönen Dichter schufen folglich ihre Texte als quasireligiöse, heterotopische Orte mit eigenen Regeln und restriktiven Zutrittsbedingungen. 108 Der spätantike Grammatiker Priscian bringt in seinen Institutiones Grammticae (um 500 n. Chr.) eine weitere Möglichkeit vor, die nicht dem religiöskultischen Bereich angehört: Er führt obscenus auf den Schmutz bzw. Kot (caenum) und die Idee der Verunreinigung zurück: »obscenus ab ›obs‹ et ›canendo‹ vel ›caeno‹ vel ἀπὸ τοῦ ›κοινοῦ‹, unde et ›inquino‹« (»obszön leitet sich von obs [nach, über, wegen] und canere [singen] oder caenum [Kot] oder κοινόν [das Gemeinsame, Allgemeine]) ab, wovon auch inquinare [beschmutzen, beschmieren] kommt.«). 109 Wenngleich diese Etymologie sprachwissenschaftlich nicht überzeugend ist, mag die Erklärung semantisch plausibel erscheinen, da obszöner Humor, vor allem in der Alten Komödie, häufig auf Skatologischem beruht.110 Auch in den Invektiven der Satire wird das Mittel der obszönen Herabsetzung mittels Skatologie verwendet.111 Es ist eben diese Etymologie Priscians, die im 17. Jahrhundert, vermutlich verstärkt durch das Phänomen karnevalesker Obszönität des Mittelalters, in der das Bewerfen mit Dreck und Kot zur obszönen Praxis wird,112 viel Anklang findet. Urbain Chevreux führt am Ende des 17. Jahrhunderts rückblickend folgende etymologische Herleitung an113: Il n’y a gueres plus de cinquante ans, que l’on a introduit, ou renouvellé dans nôtre Langue, les mots d’Obſcene, & d’Obſcenité, pour Deshonnête, Ordure; Les Romains, qui empruntoient beaucoup des Toſcans, des Oſques, & des Peuples de leur voiſinage, ont tiré leur obſœnus des Sabins qui disoient Scœlum pour Cœlum, Scœna pour Cœna, Scœnum pour Cœnum, Ordure, Bouë, Fange.114

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quid, sit dixi, avi, sinistra quae nunc est. id a Greco est, quod hi sinistram vocant σκαιάν. Quare, quod dixi, obscaenum omen est omen turpe; quod unde id dicitur , osmen, e quo S extritum.« (»Es kann auch von dem Umstand kommen, dass ein gewisses abstoßendes Objekt den Jungen an den Nacken gehängt wird (damit ihnen nichts schade), dass es um eines guten, günstigen [scaevum] Omens Willen scaevola [ein phallusförmiges Amulett, D.W.] genannt wird. Es ist benannt nach scaeva, d.h. ›links‹, weil die Dinge auf der linken Seite für die guten Auspizien gehalten werden; daher sagt man von Versammlungen oder irgendetwas anderem, wie ich sagte, dass sie ›mit dem Vogel zur Linken‹ geschehen, was nun ›links‹ heißt. Das kommt aus dem Griechischen, weil sie die linke Seite σκαιά nennen. Deshalb ist, wie ich gesagt habe, ein obszönes Omen ein abstoßendes Omen; weil der Ort, von dem es gesprochen wird, der Mund (os) ist, heißt es osmen, wovon das S geschwunden ist.«) Die Dichter verwenden z.B. die religiöse Formel este procul (OV. ars. 1.31, trist. 2.247; vgl. PRIAP. 8, MART. 1. praef. 6; 11.104.1). Vgl. Richlin 1992 [1983], 9f., Henderson 1975, 2–4, sowie die entsprechenden Beispiele in Thierfelder 1956. PRISC. gramm. 9.54 (= II 489, 11f. Keil/Herz). Zur Ableitung von caenum siehe WaldeHofmann 31938, Bd.1, 131. Die Ableitung von canere findet sich auch schon in Servius’ AeneisKommentar (SERV. Aen. 3.241.) Vgl. Henderson 1975, 187–203. Vgl. Richlin 21992, 96–143. Vgl. Bachtin 1995, 188–193 (auch mit antiken Beispielen für dieses Phänomen). Chevreux führt diese Etymolgie allerdings auf den niederländischen Philologen Johannes van Meurs zurück. Chevreux (1697–1700), t. 2 (1700), 274f. Die Herleitung aus dem Oskischen fndet sich auch bei dem Grammatiker Pompeius Festus (2. Jahrhundert n. Chr.), FEST. p. 204L: »ab ›Obsco‹ etiam verba impudentia elata appellantur obscena, quia frequentissiumus usus

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Einhundert Jahre später scheint diese Etymologie akzeptiert: »Obſcene […] ſon idée propre eſt celle de ſale, immode, ordurier, ſuivant la valeur du latin cœnum, boue, bourbier, ordure; ſcœnus chez les Sabins, impur, immode, chez les Grecs, κοινον ſouillé, profane. Obſcene vient d’obſcœnus, dérivé lui-même d’obſcœna, parties de la génération.«115. Die Begriffe obscène und obscénité werden besonders in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts als Neologismen wahrgenommen. 116 Derartige Latinismen, so gibt der jesuitische Philologe und Historiker Dominique Bouhours zu verstehen, widersprechen aber dem bon usage des Französischen: » [J]e ne m’étonne pas qu’une phraſe toute latine soit au gré de M. Ménage: il parle volontiers Latin en françois, tant il aime la Langue Latine; témoin calvitie, obſcénité, bien mériter de noſtre Langue, il n’est pas donné à tout le monde, &c.«117 Die Auseinandersetzung vollzieht sich im Rahmen der Synonymiediskussion, die von Vaugelas’ Remarques sur la langue françoise (1647) ausgelöst wurde. Vaugelas118 – und nach ihm Bouhours und Charpentier – leitet die linguistische Normierungsfunktion des Hofes aus seiner politischen, ökonomischen und kulturellen Vormachtstellung ab. In Nachfolge Malherbes werden Archaismen und Neologismen ebenso wie Metaphorisierung und linguistische Diversität abgelehnt. Demgegenüber gruppieren sich um Ménage Literaten wie La Mothe Le Vayer und Scipion Dupleix, die sich für eine zeitlich breitere und vielfältigere Sprachnorm einsetzen.119

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Oscis libidinum spurcarum.« (»Von ›O(b)skisch‹ abgleitet nennt man auch die unkeuschen Wörte obszön, weil die Osker Wörter für unflätige Gelüste sehr häufig verwenden.«) Wenig später bezweifelt er allerdings diese Etymologie zugunsten der Ableitung aus der Auguralsprache (FEST. p. 218L): »Quod verum esse non satis adducor, cum apud antiquos omnis fere obscena dicta sint, quae mali ominis habebantur.« (»Ich bin nicht hinreichend überzeugt, dass dies wahr ist, weil bei nahezu allen Alten obszön genannt wurde, wovon man dachte, es gehöre zu schlechten Omen.«) Als Beleg hierfür dienen ihm VERG. Aen.3.241 und 3.367. Girard/Roubaud 1796, t. 3, 347, s.v. Obſcene, Deshonnête. Richelet widerstreben die Begriffe offenbar dermaßen, dass er sie zwar in sein Dictionnaire françois (1679/80), das dezidiert bereits im Titel angibt, es sei tiré de l’usage et des bons auteurs de la langue françoise, aufnimmt, aber explizit unterstreicht, dass sie eher unüblich seien. Vgl. Richelet 1680, t.2, 80, s.v. Obſcene: »Ce mot ſe dit par quelques-uns, & veut dire, ſale«. Ebenso unter Obſcenité: »Ce mot non plus qu’obſcene n’eſt pas generalement reçu. Il ſignifie paroles ſales, ordures.« Die eingangs des Kapitels zitierte Szene aus Molières Critique de l’école des femmes verdeutlich wohl am besten den Neuheitscharakter des Begriffes. Bouhours 1675, 466. Vgl. Weinrich 1960, Thielemann 1997. Vgl. Pellat 1995. Diese Oppositionen sind hier weniger strikt als es auf den ersten Blick scheint. Insbesondere von Vaugelas übernimmt Ménage Argumentationsmuster. Siehe hierzu Pellat 2015. Isabelle Trivisani-Moreau warnt davor, Ménage, der im übrigen nie Mitgleid der Académie gewesen ist, zu einer Figur des Widerstandes zu machen: »il est tentant de voir en lui une figure de la résistance face à un mouvement qui, de Malherbe à Vaugelas puis Bouhours, resserre l’usage de la langue. Il cherche, quant à lui, à maintenir toutes les possibilités de l’expression par l’ouverture qu’il manifeste à l’égard des archaïsmes, des variations diatopiques, plus largement par la conscience de la dimension évolutive de la langue liée à ses connaissances étymologiques exceptionnelles. Mais cette sensibilité à la souplesse de la langue est précisément ce qui l’empêche de s’arc-bouter à une position de stricte opposition.« (Trivisani-Moreau 2015, 10).

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In der zweiten Auflage der Observations sur la langue françoise (1675/76), in denen er vor allem gegen Vaugelas und dessen normativen bon usage argumentiert, wehrt sich Ménage gegen Bouhours’ Vorwurf, indem er darauf verweist, dass noſtre Langue ayant eſté formée de la Latine, qui doute que lorſque des Ecrivains célébres, comme M. de Balzac & M. de Saſſy, ſe ſervent de phraſes extraordinaires, & que ces phraſes ſe trouvent dans la Langue Latine, elles n’en ſoient beaucoup mieux reçues parmy nous?120

Ménage betont hier die sprachliche Kontinuität und die Funktion des Lateinischen zur Bereicherung des Französischen, ein Projekt, das Du Bellay etwas mehr als ein Jahrhundert zuvor in der Deffence et illustration de la langue françoyse (1549) angestoßen hatte. In der Differenz zwischen diachronem und synchron verstandenem bon usage wird der Riss zwischen historischer und präsentischer Argumentation deutlich, der für die Diskussionen um die obszöne Literatur charakteristisch ist: Je soutiens affirmement que ce mot est tres-bon & tres-uſité. Et je ſoutiens meſme qu’il est auſſi bon que celui d’ordure & que celui de ſaleté ; & qu’il est meilleur que celui de vilenie, dont M. de Balzac s’est ſervi en une pareille occaſion. C’eſt aureſte comme parlent tous les gens de lettres.121

Ménage argumentiert einerseits historisch mit der Kontinuität der Sprachgeschichte, andererseits synchron, mit dem verbreiteten Gebrauch des Begriffes unter den gens de lettres. Die consuetudo, der tatsächliche Sprachgebrauch, bildet in der Rhetorik eines der Kriterien für die sprachliche Richtigkeit. Die normierende Instanz ist nicht das Theater, sondern sind die Gelehrten und Ehrbaren, der consensus eruditorum et bonorum.122 Ménage widerspricht nicht der generellen Gegnerschaft gegen Latinismen, seine Argumentation zielt vielmehr darauf ab, obscène nicht als Latinismus, sondern als Wort der französischen Literatursprache zu begreifen. Ménage ist von der kreativen, wortschöpferischen Funktion der Schriftsteller überzeugt: »c’eſt une raison pour accepter un mot, que de voir qu’il a eſté fait par des Ecrivains célébres«123. Für Ménage 120 121 122

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Ménage 21676 [1672], t. 2, 54. Ménage 21676 [1672], t. 2, 55. QVINT. inst. 1.6.45: » Nam ut transeam quem ad modum uulgo imperiti loquantur, tota saepe theatra et omnem circi turbam exclamasse barbare scimus. Ergo consuetudinem sermonis uocabo consensum eruditorum, sicut uiuendi consensum bonorum.« (»Denn um zu übergehen, auf welche Weise die Unkundigen in der Masse sprechen, so wissen wir, dass oft ganze Theater und das gesamte Zirkuspublikum barbarisch gebrüllt haben. Also werde ich ›Sprachgebrauch‹ die Übereinstimmung der Gebildeten nennen, sowie ›Lebensweise‹ die Übereinstimmung der Ehrenhaften.«) Die übrigen Kriterien für die Richtigkeit der Wortwahl sind ratio, vetustas und auctoritas (1.6.1). Ménage 21675 [1672], t. 1, 456. Die Idee begegnet prominent in HOR. ars 48–72. Insbesondere die rhetorische Frage »ego cur, adquirere pauca, / si possum, invideor, cum lingua Catonis et Enni / sermonem patrium ditaverit et nova rerum / nomina protulerit?« (ars 55–58: »Warum werde ich kritisiert, wenn ich ein wenig hinzuzuerwerben vermag, wo doch die Sprache eines Cato und eines Ennius unsere Muttersprache reicher gemacht und neue Bezeichnungen für Dinge hervorgebracht hat?«) scheint Ménages Argumentationsschema zu entsprechen. Gegen Ende der Passage betont Horaz ausdücklich den Sprachgebrauch (usus) als Gesetz und Richtschnur des Sprechens (ius et norma loquendi, ars 71f.). Neue

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bilden folglich nicht die Philologen am Hofe, nicht der König als purificateur, 124 sondern die Schriftsteller (wie er selbst) die »maîtres de langue«.125 Die sprachlichen Normen sind dementsprechend aus der Literatur abzuleiten. Im Rahmen der Bildung der honnêtes gens nimmt die Lektüre der französischen Literatur eine prominente Rolle ein. Das Argument, dass die Lektüre den »bon goût« forme, findet sich von Vaugelas’ Remarques bis zu Batteux’ Cours des belles lettres (1747).126 Ménage beruft sich in seiner Argumentation explizit auf Quintilians Plädoyer für die Lektüre der klassischen Autoren in der Ausbildung des Redners.127 Ménage schließt hiermit an die attizistische Stillehre an, die Sprach- und Stilreinheit nur durch die Nachahmung der klassischen Autoren möglich sah.128 Für Ménage sind dies allerdings nicht die antiken Schriftsteller. Er verweist auf die französischen Dichter Marot (1496–1544) und Malherbe (1555– 1628), auf Dichter also, die noch zur Zeitgeschichte gezählt werden können und die daher als modernes gelten.129 Die vetustas, die der Rede eine gewisse maiestas verleiht, wird dagegen nicht mehr geltend gemacht.130

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Begriffe sollten allerdings aus dem Griechischen abgeleitet werden (ars 52f. »et nova fictaque nuper habebunt verba fidem, si / Graeco fonte cadent parce detorta.« [»Neue und neu gebildete Wörter werden Anerkennung finden, wenn sie sich aus griechischer Quelle, sparsam abgeleitet, ergießen werden.«]) Zu dieser Herrschertugend siehe Kap. 4.1. Quintilian hält die auctoritas der Dichter für weniger geeignet und bevorzugt die Prosa der Redner und Historiker (QVINT. inst. 1.6.2): »Auctoritas ab oratoribus uel historicis peti solet (nam poetas metri necessitas excusat […]): cum summorum in eloquentia uirorum iudicium pro ratione, et uel error honestus est magnos duces sequentibus.« (»Die Autorität pflegt man bei Rednern und Historikern zu suchen (denn die Dichter entschuldigt der Verszwang […]), während das Urteil der bedeutendsten Männer in der Redekunst an die Stelle der Grundsätze tritt, und sogar ein Fehler bereitet denen Ehre, die darin bedeutenden Anführern folgen.«) Vgl. Batteux 1747, t. 1, 8–11. Vgl. Viala 1985, 141. Ménage 21675 [1672], t.1, 456: »Excutiendum omne ſcriptorum genus, non propter hiſtorias modò, ſed verba, quae frequenter jus ab Auctoribus ſumunt, dit Quintilian.« [= QVINT. inst. 1.4.4: »Jede Art von Schriftstellern muss man durcharbeiten, nicht nur wegen ihrer Kenntnisse, sondern wegen der Wörter, die oft ihren Gebrauch von Autoritäten hernehmen«]. Den einleitenden Satz »non satis est poetas legisse« (»es reicht nicht aus, die Dichter gelesen zu haben«) lässt Ménage in seinem Zitat hingegen aus. Siehe unten Kapitel 2.2.2. Ausdrücklich betont Quintilian allerdings, dass Nachahmung allein nicht ausreiche (QVINT. inst 10.2.8). Dies entspricht offenbar der Empfindung des Terminus »moderne«. Vgl. Nicot 1606, 414, s.v. Moderne: »Les poëtes modernes, Poëtæ recentis memoriæ«. Die Frage, ab wann ein Autor als alt gelte, diskutieren Cicero (Brut. 10; orat. 64) und Tacitus, der wiederum Cicero noch zu seinen Zeitgenossen zählt (TAC. dial. 17.3): »centum et viginti anni ab interitu Ciceronis in hunc diem colliguntur, unius hominis aetas.« (»Einhundertzwanzig Jahre ergibt es vom Untergang Ciceros bis zum heutigen Tage, die Lebensspanne eines Menschen.) Vgl. auch dial. 25; ann. 11.24. Zur Idee der maximalen Lebenserwartungen von 120 Jahren vgl. auch CIC. Cato 69; VERG. Aen. 4.653; PLIN. nat. 7.154; HIST. AVG. (TREB.) Claud. 2.4. Quintilian nimmt noch lebende Autoren nicht in seine Lektüreliste auf; er folgt hier den hellenistischen Grammtikern (vgl. inst. 10.1.54: »Aristarchus atque Aristophanes, poetarum iudices, neminem sui temporis in numerum redegerunt« [»Aristarch und Aristophanes, die Richter der Dichter, nahmen keinen (Dichter) ihrer eigenen Zeit in die Liste auf.«]) Er impliziert allerdings eine Offenheit des Kanons, indem er die Möglichkeit der zukünftigen Kanonisierung auch der zeitgenössischen Autoren andeutet (10.1.94. zur Satire: »sunt clari

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Dem Begriff obscénité ist, anders als den Synonymen ordure und saleté, eine historische Perspektive inhärent, die aber für Ménage nur ein bis zwei Generationen zurückreicht. Indem Ménage, den Bayle hinsichtlich seiner Gelehrtheit als den »Varro des 17. Jahrhunderts« bezeichnet hat,131 den Begriff mit ordure und saleté gleichstellt, folgt er zwar der gängigen Etymologie seiner Zeit (gegen Varro), nivelliert aber damit die semantischen, insbesondere literarisch geprägten Implikationen, die dem lateinischen Begriff obscenus eigen sind.132 Ménages Schwierigkeit, den semantischen Mehrwert des Begriffes obscène gegenüber seinen Synonymen herauszustellen, belegt die starke Überlagerung des ästhetischen Begriffsfeldes durch den zeitgenössischen Geschmacks- und Moraldiskurs. 133 Das argumentative Potenzial, das die historische Semantik bereithielte, bleibt so ungenutzt. Die etymologische Ableitung von caenum arbeitet stattdessen der Mythisierung der Antike vor. Die Fokussierung auf die Ableitung von caenum und, in einem zweiten Schritt, auf entsprechende Synonyme wie ordure, zielt auf die Naturalisierung dessen, was seit dem Beginn des Jahrhunderts als ästhetisch und moralisch nicht tolerabel empfunden wird. Der Gegensatz von beauté und ordure wird so zum inkorporierten Code der Kultur und der Bildung, die auf Grundlage des Sensualistisch-Affektiven (goût/dégoût) eine Distinktion mit sich führt. 134 Da die Verwendung des Begriffes offenbar weit verbreitet ist, trägt diese Etymologie zur Enthistorisierung des Begriffes bei und zielt auf einen Präsentismus, von dem aus dann Moralität und sozialhierarchische Legitimität abgeleitet werden können.135 Das (literar)historische Moment und seine soziokulturellen Implikationen, die literarischen und religiösen Lizenzen, die dem lateinischen Begriff obscenus (ebenso wie der antiken Literatur) inhärent sind und die der lateinische Begriff obscenus transportiert, werden auf diese Weise ausgeklammert. Die etymologische Ableitung von caenum steht in dem Bestreben, die Natur/Kultur-Dichotomie, die mit den Begriffen ordure und saleté verbunden ist, auch dem Begriff obscène anzuhaften. Während die Semantik von obscenus (auch) auf der Seite der Kultur (Theater, Religion) steht, positionieren die Etymologie und der usage den Begriff obscène auf der Seite der Natur. Diese Naturalisierung des Obszönitätsbegriffs leistet seiner Moralisierung und der Ent-Literarisierung des Obszönen, die im 17. Jahrhundert vollzogen wird, Vorschub. Die naturalisierende Metaphorik fungiert mithin als »implikatives Modell« im Rahmen der Legitimisierungsstrategien des literarischen Feldes. Blumenberg bezeichnet damit den Umstand, »daß Metaphern […] gar nicht in ihrer sprachlichen Ausdruckssphäre in Erscheinung treten brauchen.«136 Vielmehr reicht die Evozierungen eines semantischen Feldes, um

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hodieque et qui olim nominabuntur.« [»Es gibt auch noch heute glänzende (Satirendichter), die man dereinst noch nennen wird«]; ähnlich 10.1.96 zu den Lyrikern, 10.1.104 zu den Historikern und 10.1.122 zu den Rednern). Vgl. Bayle 1697, s.v. Menage (Gilles), t.2.1, 580. Siehe hierzu das folgende Kapitel 2.2. Siehe hierzu Kapitel 3.1. Vgl. Bourdieu, 1982, 20. Siehe hierzu Kapitel 3.1. Vgl. Bourdieu 1982, 23–58. Blumenberg 1998, 20.

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die Hintergrundmetapher und die ihr zugrundeliegenden Vorstellungen und Implikationen aufzurufen: »ein Zusammenhang von Aussagen schließt sich plötzlich zu einer Sinneinheit zusammen, wenn man hypothetisch die metaphorische Leitvorstellung erschließen kann, an der diese Aussagen ›abgelesen‹ sein können.«137 Für die Metaphorik des Obszönen sind dies die Wortfelder des Schmutzes bzw. der Verunreinigung sowie ihrer Gegenteile. Die so vorgenommene Enthistorisierung der Semantik des Obszönen im 17. Jahrhundert arbeitet seiner Mythologisierung vor. Die semantische Verschiebung bzw. Reduktion des Begriffes obscenus auf das Körperliche, seine Naturalisierung, bildet die Voraussetzung für die ästhetischen, moralischen und historischen Diskurse, denen in den Kapiteln 3 bis 5 nachgegangen wird. Das Obszöne erscheint nun als das Degoutante, Ekelhafte und kann mit Fragen des Geschmacks verbunden werden. Zu diesem Zweck wird restrospektiv auch die Idee der Öffentlichkeit etymologisch untermauert: »La choſe obſcene viole ouvertement les vertus que la choſe déshonnête bleſſe. Je dis ouvertement, car c’eſt ce que la prépoſition ob exprime.«138 Konzeptuell kreist die Diskussion um die Frage, ob Obszönität im Signifikat, d.h. in den bezeichneten Dingen und Handlungen, oder im Signifikanten, d.h. in den verwendeten Wörtern, begründet liege. Das Phänomen der Obszönität bzw. der honnêteté langagière ist Gegenstand sprachphilosophischer Debatten, der in weiten Teilen die res/verba-Dichotomie zugrunde liegt. Ménage etwa kritisiert eine zensierte Edition Prokops: »Il y a deux ſortes d’obſcénitez: l’une, qui conſiſte dans la groſſiereté des termes: l’autre, dans la narration du fait. Ni l’une ni l’autre n’a dû, ce me ſemble, faire ſupprimer les endroits dont il s’agit.«139 Diese konzeptuelle Debatte bezieht sich vor allem auf Ciceros Diskussion der entsprechenden stoischen Lehre. In einem Brief an Lucius Papirius Paetus (fam. 9.22)140 kommt Cicero hinsichtlich der Redefreiheit (libertas loquendi) auf die stoische Doktrin zu sprechen, die Dinge beim Namen zu nennen (rem nomine appellare). Die Stoa, so Cicero, gehe davon aus, das Obszöne liege weder in den Dingen (res) oder in den Wörtern (verba). Dies überprüft Cicero anhand mehrerer Sätze und Wörter (wie mentula), um zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass die Dinge nicht obszön sein können, da sie auf andere Weise ausgedrückt nicht als obszön empfunden würden, und ebenso nicht die Wörter, da die entsprechenden Klänge in anderen Kontexten nicht obszön seien. Dies führt ihn zu der Schlussfolgerung, dass die Obszönität erst im Gebrauch entstehe. Die Obszönität werde also erst durch den Zuhörer oder Interpreten in die Wörter oder Teile der Wörter gelegt.141 137 138

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Ebd. Girard/Roubaud 1796, s.v. Obſcene, Deshonnête, t. 3, 347. Der Artikel belegt die semantische Unschärfe des Begriffes, denn er macht lediglich einen graduellen Unterschied von obscène und deshonnête aus: » Obſcene ſe dit beaucoup plus que deshonnête dans le même ordre des choſes. […]. L’obſcénité ajoute à la déshonnêteté l’immodeſtie ou plutôt la licence impudente.« Ménage 31715, t. 1, 347. Zu diesem Brief vgl. generell Wendt 1929. CIC. fam. 9.22.4: »Igitur in verbis honestis obscena ponimus. quid enim? non honestum verbum est ›divisio‹? At inest obscenum; cui respondet ›intercapedo‹« (»Also legen wir obszöne Wörter in anständige hinein. Was denn? Ist divisio kein anständiges Wort? Doch es

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Selbst Wörter, die an sich nicht obszön seien, könnten durch den häufigen metaphorischen Gebrauch mit der Zeit obszön werden, wie etwa der Begriff penis, der ursprünglich den (tierischen) Schwanz bezeichnete. 142 Als Folge eines generellen Interesses an Briefliteratur waren auch Ciceros Briefe im 17. Jahrhundert äußerst beliebt; eine ganze Reihe an Übersetzungen, die sich einerseits an Leser richteten, die kein Latein gelernt haben, 143 andererseits weiterhin für den Schulgebrauch bestimmt waren, führte zu einer starken Verbreitung der epistulae.144 In den Übersetzungen des Briefes 9.22 wird, wie Abramovici feststellt, obscenus in der Regel bis 1745 nicht mit obscène, sondern mit vilain oder déshonnête übersetzt, »indice qu’obscène et obscénité furent pendant longtemps ressentis comme des latinismes.«145 Neben der geschilderten theoretischen Argumentation bespricht Cicero in dem Brief eine Reihe von obszönen Wörtern. Die Übersetzung der Epistulae ad familiares von Etienne Dolet (1542) lässt den Brief aus diesem Grund aus. In der zweiten Auflage (1566) hingegen wird (nach dem Tode Dolets) von François de Belleforest (1530–1583) – neben dem lateinischen Text aller Briefe – eine »gereinigte« Übersetzung des Briefes ergänzt:146 Ceſte Epiſtre, ſoit pour les propos, ſoit pour la difficulté des paſſages, n’estoit traduite, ainſi i’ay trauaillé te la bailler, neantmoins qu’il n’eſtoit poßible n’uſer de periphraſe, & retenir quelque mot. [...] Si quelqu’un ueut empeſcher la traduction, l’Espitre diſpute contre luy, ſous la perſonne des Stoiciens, & Académiques, facecieuſement, & doctement.147

Dieser Epitext ist bemerkenswert, da er nicht wie bei den übrigen Briefen lediglich den Inhalt paraphrasiert, sondern sich aus Sicht des Übersetzers äußert. Der Kommentar

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steckt ein obszönes darin; ihm ist intercapedo ähnlich«). Das Spiel mit den obszönen Begriffen, die nur rätselhaft angedeutet, aber nicht ausgesprochen werden, ist das folgende: In divisio steckt das Verb visio (visire) – ›furzen‹, (wie z.B. in LVCIL. frg. 188 Lachm.); in intercapedo das Verb pedo (pedere) ebenfalls ›furzen‹ (z.B. HOR. sat. 1.8.46; MART. 4.87.4). Der Leser wird hier also auf mögliche obszöne Bestandteile geradezu erst hingewiesen. CIC. fam. 9.22.2: »Caudam antiqui ›penem‹ vocabant […] at hodie penis est in obscenis. […] quod tu in epistula appellas suo nomine ille tectius ›penem‹; sed quia multi, factum est tam obscenum quam id verbum, quo tu usus es.« (»Die Alten nannten den Schwanz penis. […] Doch heute gehört das Wort penis zu den obszönen Wörtern. […] Was Du in einem Brief beim Namen nennst, nennt jener [sc. Piso Frugi] etwas bedeckter penis; doch weil es viele (so benutzen), ist es ebenso obszön geworden wie das Wort, das Du gebraucht hast.«) Goudin wirbt in der Préface seiner Übersetzung der Epistualae ad familiares (1663) mit dem rezeptionsgeschichtlichen Impetus, dass speziell die Damen Vergnügen daran finden würden, die Vorbilder der zeitgenössischen galanten Briefliteratur in den Briefen Ciceros wiederzuentdecken. Ferner richtet sich seine Übersetzung explizit an jene, die kein Latein gelernt haben. Vgl. Zuber 1968, 134. Vgl. Zuber 1968, 135. Abramovici 2003, 4. Zur Editions- und Übersetzungspraxis obszöner Stellen siehe Kapitel 4.3. Dolet/Belleforest 1569, 562f. In der Edition von 1542 argumentiert Dolet in einem Brief au lecteur unmittelbar vor Buch 9 (Dolet 1542, 140 r–141 v) allgemein, dass er manche Briefe nicht übersetzt habe, u.a. mit der Unverständlichkeit (obſcureté), die aus der Intimität und Vertrautheit Ciceros mit seinen Adressaten herrührt und deshalb sprachlich ungewöhlich sei (»Entre les Epiſtre meſme de Cicero il s’en trouue de ſi etranges, & ſi loing miſes de noſtre uſage«, Dolet 1542, 140 r).

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zum Brief mutet zunächst paradox an: Einerseits gibt Belleforest an, in seiner Übersetzung zensierend eingegriffen zu haben (bailler), andererseits verweist er mögliche Kritiker an der Übersetzung des Obszönen auf den Inhalt des Briefes. Belleforest verknüpft auf diese Weise die Frage nach der Obszönität mit dem Problem der Übersetzung von Obszönität und kanalisiert die Lektüre des Briefes daraufhin.148 Der Begriff facetieusement 149 ordnet den Brief in die rhetorische und satirische Tradition der urbanitas ein, die sich geistreichen Humors bedient (facetiae).150 In der Tat schafft es Cicero durch allerlei Wortspiele, Umschreibungen und Metaphern, niemals selbst ein obszönes Wort im engeren Sinne zu verwenden, sondern die Erschließung des Gemeinten dem Leser zu überlassen.151Die Erschließung des obszönen Begriffes mentula etwa erfolgt über grammatische Analogiebildung: »volo mentam pusillam ita appellare, ut ›rutulam‹: non licet.« (»Ich will eine kleine Minze [=mentula, ›Schwanz‹] so bezeichnen wie ein ›Rautlein‹, doch man darf es nicht«.)152 Er präsentiert seinen Brief gleichsam als rhetorische Übung der verecundia: »itaque tectis verbis ea ad te scripsi, quae apertissimis agunt Stoici« (»Deshalb habe ich Dir mit bedeckten Wörtern das geschrieben, was die Stoiker mit offenen tun.«).153 Mit der Charakterisierung als facetieux weist der Übersetzer den Leser auf dieses gelehrte und humorige Spiel der verba tecta hin, das es in der Übersetzung nachzuvollziehen gilt. Er macht damit den Text für die mondäne Leserschaft des 16. Jahrhunderts interessant, bei denen Texte, die durch Abwechslung, Wortspiele, Kontraste und Rätsel unterhalten, in Mode waren.154 Belleforest übernimmt in seiner Übersetzung Ciceros Akte der Verrätselung: In der Argumentation des Briefes gibt Cicero etwa als Beispiel dafür, dass der Signifikant nicht obszön sein kann 155 , die Benennung der intimen Körperteile an. Anus übersetzt Belleforest dabei beispielsweise 148 149 150 151

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Den Begriff obscenus übersetzt Belleforet mit vilain oder infame, obscoenitas mit chose déshonnete. Vgl. Nicot 1606, 273, s.v. Facetieux: »Facetieux, Facetus«. Siehe hierzu Kapitel 2.2.2/3. Diese Art der Verrätselung obzöner Wörter ist typisch für die (auch sonst obszönen) Carmina Priapea. Vgl. etwa die Umschreibung von pedicare PRIAP. 7: »Cum loquor, una mihi peccatur littera; nam T/ P dico semper blaesaque lingua mihi est.«(»Wenn ich spreche, wird ein Buchstabe von mir versündigt; denn statt T [=te, dich] sage ich immer P [> pe dico, ich stopfe ihn in den Arsch] und meine Zunge lispelt.«)Vgl. PRIAP. 54; 67. CIC. fam. 9.22.3 . CIC. fam. 9.22.4. Zu Ciceros Ablehung dieser stoischen Ansicht siehe CIC. off. 1.126–128 mit weiteren Umschreibungen der entsprechenden Körperteile und -aktivitäten. Vgl. Richlin 21992 [1983], 25: »It can be seen, then, that Cicero grows progressively more indirect as he approaches words that can be used only with a sexual meaning—primary obscenities; at the same time, he goes to great lengths to contrive a pun that will induce the reader to form these words mentally. They are thus the most highly charged and the most interesting to him and to his reader. He encourages his reader to imagine particularly the primary obscenities for the penis and for the vagina and clitoris, for heterosexual intercourse, and for the anus. From other sexual humor it can be seen what he omits altogether—the obscene words commonly in use for oral intercourse, homosexual intercourse, buttocks, and excreta.« Vgl. Abramovici 2003, 215. CIC. fam. 9.22.2: »Si enim quod verbo significatur id turpe non est, verbum, quod significat turpe esse non potest.« (»Wenn nämlich das, was mit dem Wort bezeichnet wird, nicht abstoßend ist, dann kann das Wort, das es bezeichnet, auch nicht abstoßend sein.«)

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als Paraphrase mit »lieu par lequel l’on purge le ventre« (siehe Abbildung unten). Der Begriff anus als Körperbezeichnung ist,156 wie Cicero andeutet, im Lateinischen eine Metapher (»Finger-Ring«),157 dessen Metaphorik allerdings größtenteils verblasst ist. Der eigentliche Ausdruck, das nomen suum, auf das Cicero anspielt, wäre vermutlich podex. Da eine entsprechende Metaphorik fehlt, bedient sich Belleforest nicht eines vulgären Ausdrucks (wie etwa le trou du cul), 158 sondern einer gleichermaßen verrätselnden wie erklärenden Umschreibung, die aus den Lexika bekannt ist. 159 Der entsprechende lateinische Begriff ist, fast wie in einem Lexikon oder Rätsel, leicht in der rechten Spalte ausfindig zu machen (siehe Abbildung unten). Die Periphrase bedient sich interessanterweise ebenfalls des Bildes der reinigenden Entleerung (purger) des Körpers, einer Metaphorik, die für die philologische Praxis im editorischen Umgang mit obszönen Texten verwendet wird.160 Belleforest funktionalisiert so den Cicero-Brief als Manifest des Übersetzers obszöner Texte um und offenbart das Instrumentarium zur Entschlüsselung verschleiernder Übersetzungen. Dies wird besonders deutlich in der Verwendung des Wortes bailler, das Belleforest für seine eigene Reinigungsstätigkeit verwendet hatte und nun in der Übersetzung der Frage cur non ſuo potius? (que ne luy bailles tu celuy qui eſt ſien?) ergänzt und so den Text selbst auf die Problematik des Übersetzers hin perspektiviert.

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Im 14. Jahrhundert wird der Begriff anus zur Verwendung in der Anatomie entlehnt. Vgl. Rey 1992, t.1, 159, s.v. anus. Im 16. Jahrhundert wird vermehrt die Verbindung zum Homonym anus (alte Frau) gesucht. Siehe hierzu Abramovici 2003, 253, Anm. 4. Prévot folgt in seiner Übersetzung der Stelle (1745–1747, t. 3 [1745], 271) dieser Verbindung und übersetzt: »Vous employez un autre terme qu’Anus, pour ſignifier une vielle femme. Pourquoi ne lui pas donner ſon vrai nom?«. Vgl. VARRO ling. 6, 8: »ut parvi circuli anuli, sic magni dicebantur circites ani, unde annus« (»ebenso wie kleine Kreise anuli [Ringe] sind, so pflegte man große Kreise ani zu nennen, daher heisst es annus [Jahr]«; die Endung -ulus scheint hier offenbar nicht mehr als Diminutiv wahrgenommen worden zu sein, was den Pleonasmus parvi circuli erklärt); vgl. ISID. Nat. 6; Orig. 5.36.1.; SVET. frg. p. 169.5 R. Die Metaphorik scheint bald dermaßen verblasst und die ursprüngliche Bedeutung zu überlagern, dass man dazu überging, für ›Ring‹ stattdessen den Diminutiv anulus zu verwenden. Vgl. TLL s.v. anus [Dittmann], vol. II, 200.41–69. Goudin 1663, t. 2, 72 übersetzt anus dagegen mit »trou du cul«, Chaulmer 1669, 555 und Maumenet 1704, t.3, 112, folgen wiederum Belleforest. Abramovici 2003, 252f. verkennt den metaphorischen Charakter des lateinischen Begriffes, wenn er behauptet, Goudins Übersetzung sei la plus fidèle und folge dem Original. Er selbst verwendet in seiner Übersetzung übrigens das lateinische Wort. Vgl. Estienne 1591, 102, s.v. Anus: »Le trou par où ſe purge le ventre, le trou du cul.« Zwar gibt Rey (1992, t.1, 972, s. v. cul) an, dass der Gebrauch des Wortes erst ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als vulgär bzw. als Tabu gilt, doch ist die Verbindung zu lateinisch culus und der entsprechenden obszönen Literatur wohl auch Ende des 16. Jahrhunderts so stark, dass es an dieser Stelle als unpassend empfunden worden wäre. Die erste Verwendung im Französischen im Roman de Renart (Verse 1788ff.) legt ebenfalls eine vulgäre Konnotation nahe. In der Neuauflage von 1592 wird der Begriff in den Titel aufgenommen »repurgée de plusieurs notables fautes«, verweist hier allerdings auf die Übersetzungsfehler. Zur Obszönität als Fehler, von dem der Text im Sinne des Fortschritts bereinigt wird, siehe Kapitel 4.2.1.

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Abbildung 2: Les Epitres de M. de T. Ciceron, trad. Dolet/Belleforest (Genf 1592), 622 (Ausschnitt) (Quelle: BnF)

Wenngleich sich also der Inhalt des Briefes nicht prinzipiell für eine solche Reinigung der Sprache ausspricht, nutzt Belleforest Ciceros Einbeziehung des Rezipienten, um seinerseits auf die Möglichkeiten einer schamhaften Übersetzung unter Einbeziehung des lateinischen Textes aufmerksam zu machen. Auf diese Weise wertet er die Übersetzung als gelehrtes Spiel auf und ebnet gleichzeitig den künftigen Übersetzern der obszönen Literatur der Antike den Weg: Er praktiziert in seiner Übersetzung eine Zensur der verba, ohne diese gänzlich zu entfernen, und benutzt Periphrasen, die die verbale Obszönität in der Übersetzung zu überdecken scheinen, verweist aber hierdurch auf das Lateinische. An anderer Stelle verwendet er in der Übersetzung den lateinischen Begriff mentula, löst also Ciceros Rätsel auf und verwendet eine lateinische Obszönität. Jean-Antoine Bachou, der 1656, inmitten der Hochzeit der belle infidèle, die Epistulae ad familiares erneut übersetzt, kritisiert diese Praxis der verba tecta: Ciceron dit que cette Lettre doit eſtre traictée en termes couuerts, & c’eſt peut-eſtre pour cette raiſon que le Traducteur qui me precede l’a traduit en termes couuerts : mais ſi couuerts que l’on ny void n’y rithme n’y raiſon, auſſi bien qu’en la pluſpart d’autres où il y auoit d’eſtranges galimatias.161

Die Übersetzung, so der Vorwurf, habe das Spiel zu weit getrieben und gerate so zur obscuritas. Bachou, dessen Übersetzung für den Schulgebrauch konzipiert ist, versteht die Übersetzung eher als pädagogisches Hilfsmittel, um den lateinischen Text zu erklären. Anders als Belleforest erhebt er keinen kreativen und stilistischen Anspruch, sondern stellt in scholastischer Tradition seine Übersetzung in den Dienst des lateinischen Textes. 162 Bachou verwendet allerdings dieselbe Periphrase wie sein

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Bachou 1656, 519. Vgl. Zuber 1968, 36. Bachou präsentiert seine Übersetzerfunktion im Vorwort, das an Marolles gerichtet ist, als die eines Mittelsmanns (»truchement«) Ciceros, »ſans luy

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Vorgänger, zitiert dessen Übersetzung im ersten Satz fast wörtlich und führt das Bild des Reinigens im zweiten Satz noch fort (propre/impropre): Quand tu dis le lieu par lequel l’on purge le ventre, tu l’appelles en cela par vn nom impropre; que ne luy bailles-tu celuy qui eſt ſien? ſi ce lieu eſt vilain de ſoy meſme il ne laiſſera pas d’eſtre vilain pour eſtre appellé de ce nom impropre: que s’il n’eſt pas vilain de ſa nature que ne l’appelles-tu par ſon nom propre?163

Bachou greift Belleforests Metaphorik des Epitextes (bailler) auf und nutzt seinerseits die Übersetzung des Cicero-Briefes als Vehikel, um über die Praxis des Übersetzens obszöner Texte zu diskutieren. Der Brief Ciceros an Paetus wird so zum Brief von Bachou an seinen Vorgänger Belleforest: Bachou kritisiert Belleforests Übersetzung von anus (quand tu dis…) als Verlust von Authentizität (bailler celuy qui est sien) und im Widerspruch zum Inhalt des Briefes. Wenn also diese Stelle im Text (ce lieu), der Begriff anus, wirklich obszön sei, sei auch die Periphrase obszön; wenn sie aber nicht obszön sei, sei es besser, adäquat zu übersetzen. Die Übersetzung macht deutlich, dass hier eine Verschiebung der Referenz stattgefunden hat. Zusätzlich zur res-verbaVerbindung treten die termes, durch die die verba selbst zur res werden. Die Übersetzung des Cicero-Briefes offenbart, dass das Obszöne zum Zeichen zweiter Ordnung geworden ist.164 Es geht hier weniger um die Bedeutung, das Signifikat, auf das die lateinischen Begriffe verweisen, und auf die nun ein entsprechender französischer Begriff verweisen würde, sondern um die termes, die auf die lateinischen verba verweisen (die dann auf die res verweisen). Die zweisprachige Ausgabe ermöglicht so einen semiotischen Dreischritt, der von der gereinigten französischen Version über die Schwelle der lateinischen obszönen verba auf die res führt. Diese Anlage des Textes fördert eine Lektürepraxis, die hinter den termes einen obszönen Sinn vermutet. Gegenüber der im 17. Jahrhundert verbreiteten Praxis der Periphrase und der Überdeckung, die die Obszönität in den Wörtern lokalisiert, findet im 18. Jahrhundert ein Wechsel des Interesses von den mots zu den choses statt. Man ist folglich vermehrt der Ansicht, dass die Dinge, nicht die Wörter obszön seien: »Ce ſont donc les idées qu’il faut choiſir, & non pas les mots.«165 Auch Rousseau vertritt im Emile (1762) diese Ansicht: »Les termes groſſiers ſont ſans conſéquence; ce ſont les idées laſcives qu’il faut écarter.«166 Diese Idee findet sich, wie gesehen, auch in der rhetorischen Behandlung der Obszönität: »obscenitas uero non a uerbis tantum abesse debet, sed etiam a significatione « (»Obszönität muss doch nicht nur von den Wörtern, sondern auch von der Bedeutung fernbleiben«). 167 Diese Fokussierung auf die Wirkung des

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communiquer aucun ornement, comme vous faites à vos verſions, qui eſclatent plus de vos propres rayons que de ceux de leur autheurs« (Bachou 1656, 3). Bachou 1656, 521. Vgl. Barthes 1957, 187–190. Chicaneau de Neuville 1758, 63. Rousseau 1762, t.2, 194. QVINT. inst. 6.3.29.

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Obszönen, die die Rezeption der obszönen Literatur wesentlich bestimmt, gründet auf einer Wiederaufwertung des Sensualismus. Die von Descartes’ Teilung des Menschen in res cogitans und res extensa angestoßene Debatte über das Leib-Seele-Problem brachte die aristotelisch-thomistische Ansicht von der Einheit des Körpers ins Wanken. Sie weicht bei Descartes der Vorstellung einer zusammengesetzten Ganzheit. Ausgehend von der res extensa/res cogitans Dichotomie entwickelt Dubos einen Sensualismus, der die Seele durch äußere Einflüsse gefährdet sieht. Die Maxime »Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu« lässt sich somit auf die die Seele kontaminierende Lektüre von obszönen Büchern ausweiten. Die corruption der Seele vollziehe sich mittels der Sprache.168 Eine bemerkenswerte Gegenposition zur üblichen Gewichtung der Gefahr von direkter und verdeckter Obszönität liefert Pierre Bayle. Er betont ausdrücklich, dass Obszönität, die über Imagination und Anspielungen erzielt wird (à demi une obſcénité), anders als direkte Obszönität die Rezipienten mitschuldig macht: Ils ont donc plus de part à la production de cette image, que ſi l’on ſe fût expliqué plus rondement. Ils n’auroient été en dernier cas qu’un ſujet paſſif, & par conſequent la reception de l’image obſcêne eût été très-innocente; mais dans l’autre cas ils en ſont l’un des principes actifs : ils ne ſont donc pas ſi innocens, & ils ont bien plus à craindre les ſuites contagieuſes de cet objet qui eſt en partie leur ouvrage.169

Der Gedanke greift Quintilians Idee der interpretatorischen Mitarbeit des Zuhörers bei der Realisierung des Gesagten auf.170 Bayle kritisiert folglich die Lektüre der galanten, vordergründig schamhaften Literatur als die deutlich gefährlichere. Die Metaphorik der Ansteckung (contagion) rekurriert auf die Naturalisierung des Obszönitätsbegriffs als das Degoutante und Krankmachende. Politesse und délicatesse stellen, so Bayle in einer Umkehrung des berühmten lukrezischen Ärzte-Gleichnisses, 171 in dem dieser auch die Ästhetik in den Dienst der Didaktik stellt und seine Dichtung als versüßtes Heilmittel charakterisiet, den Köder dar, um das Gift einzunehmen. 172 Denn »ces manieres delicates, & ſuſpenduës […] n’en donnent pas autant de dégout qu’en donneroit un langage plus naïf, plus fort, & par cela même plus rempli d’indignation«.173 Die Dichtung Ovids sei aus diesem Grund gefährlicher als diejenige 168

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Crousaz 1733, 253: »Dès qu’un terme qui avoit la force de réveiller des idées acceſſoires d’éloignement & de haine, perd de cette force ſi utile & ſi néceſſaire; dès que la corruption des hommes groſſiers eſt parvenue à donner à de tels termes la force de préſenter hardiment des idées à éviter, dès qu’ils ſont devenus familiers à ceux qui aiment à parler avec effronterie de ce qui offenſe la pudeur; alors de peur que la contagion des ſentimens licentieux ne ſe gliſſe avec le langage, à ces éxpreſſion trop hardies, on en doit subſtituer d’autre, & on ne doit pas ſe laſſer de faire ces ſubſtitutions.« Bayle 1702, t. 3, 3167. QVINT. inst. 8.2.21. Siehe hierzu Kapitel 2.2.2. LVCR. 1.936–950 (=4.11–25). Bayle 1706, t. 2, 70: »Mais la politeſſe, la delicateſſe dont on ſe pique, & ce grand ſoin d’écarter les aparences de l’impureté, ne ſont qu’une amorce pour mieux faire prendre le venin.« Vgl. Crousaz’ (1733, 221) Einwände dagegen. Bayle 1702, s.v. Hipparchia, t. 2, 1565, remarque D. Vgl. auch Bayle 1702, 3167: »Or il eſt ſûr que rien n’est plus propre que cela [sc. Empfindungen von Abstoßung, D.W.] à fortifier la

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Catulls.174 Die humanistische Ausbildung, d.h die Lektüre der obszönen Autoren hat dagegen geradzu immunisierenden Effekt: »ceux qui entendent le Latin ſe ſont mieux fortifiez que les autres hommes contre l’influence maligne des objets ſales.«175 Neben der Debatte zwischen höfischem und städtisch-literarischem Sprachgebrauch, etabliert sich von Port Royal aus eine dritte sprachphilosophische Strömung,176 die allerdings nicht von der Sprachpragmatik, sondern von der Struktur, der raison und dem bon sens her argumentiert und die zeitlich teleologische Perspektive des usage umkehrt. Pierre Nicole und Antoine Arnauld fordern in der Logique de Port Royal (1662) nicht Bereicherung, sondern eine Reduktion des Wortschatzes. Ein reduzierter Wortschatz hat eine verstärkte Polysemie zur Folge, weshalb Arnauld die parole, den individuellen Sprachakt, eng an die langue, die sozial erzeugte Sprache, anbindet.177 Die

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chaſteté, & à rompre l’influence contagieuſe de l’objet obſcêne qui s’eſt imprimé dans l’imagination, deſorte qu’au lieu de dire ſelon le premier ſens que ce qui bleſſe la pudeur met en riſque la chaſteté, il faut ſoutenir au contraire que c’eſt un renfort, un preſervatif, & un rempart pour cette vertu, & par conſequent ſi nous entendons de la ſeconde maniere la phrase une telle chose blesse la pudeur , nous devrons penſer que cette choſe bien loin d’affoiblir la chaſteté, la fortifie, & la reſtaure.« Bayle 1706, t. 2, 69. Zur Charakteristik der Lesereinbeziehung bei Ovid vgl. die ähnliche Einschätzung bei Zimmermann 1994, 13: »Ovid beteiligt den Rezipienten unmittelbar an der Liebesbeziehung, er weist ihm sogar einen aktiven Teil daran zu, indem er ihn zu einer kreativen rekonstruierenden Lesehaltung bringt.« Diese Lesehaltung des Halb-Verbergens birgt eine gewisse Erotik, die Ovid selbst in der Metamorphose der Nymphe Daphnis, die von Apollo begehrt wird, expliziert. Vgl. OV. met. 1.495–504, insbesondere 500–502: »[…] laudat digitosque manusque / bracchiaque et nudos media plus parte lacertos; / si qua latent, meliora putat«. (»Er lobt die Finger, die Hände, die Arme und die Oberarme, die bis über die Mitte entblößt sind; und was verborgen ist, stellt er sich noch schöner vor.«). Bayle 1702, 3174, wenngleich er einschränkt: »l’étude ne communique des forces que peu-àpeu contre les objets qui ſaliſſent l’imagination, & ainſi les obſcenitez Latines ſeroient toûjours fort à craindre par raport aux écoliers.« Vgl. Simon 1819, t.1, viif. mit einem ähnlichen Gedanken. Vgl. Ricken 1984, 35–44; Ertz 2012. In der 5. Auflage der Logique (Paris 1683) wird dieser Aspekt noch weiter ausgeführt. Vgl. Arnauld/Nicole 51683 [1662], 115f.: »[C]omme les hommes ne ſont maiſtres que de leur langage, & non pas de celuy des autres, chacun a bien droit de faire un dictionnaire pour soy; mais on n’a pas droit d’en faire pour les autres, ny d’expliquer leurs paroles par les ſignifications particulieres qu’on aura attachées aux mots. C’est pourquoy quand on n’a pas deſſein de faire connoître ſimplement en quel ſens on prend un mot; mais qu’on pretend expliquer celuy auquel il eſt communément pris, les definitions qu’on en donne ne ſont nullement arbitraires; mais elles ſont liées & aſtreintes à repreſenter non la verité des choſes; mais la verité de l’uſage, & on les doit eſtimer fauſſes, ſi elles n’expriment pas veritablement cét uſage, c’eſt à dire, ſi elles ne joignent pas aux ſons les meſmes idées qui y ſont jointes par l’usage ordinaire de ceux qui s’en ſervent. Et c’eſt ce qui fait voir auſſi que ces definitions ne ſont nullement exemptes d’eſtre conteſtées, puiſque l’on diſpute tous les jours de la ſignification que l’uſage donne aux termes. [...] [L]es hommes ne conſiderent pas ſouvent toute la ſignification des mots, c’eſt à dire que les mots ſignifient ſouvent plus qu’il ne semble, & […] lors qu’on en veut expliquer la ſignification, , [sic] on ne repreſente pas toute l’impreſſion qu’ils font dans l’eſprit. Car ſignifier dans un ſon prononcé ou écrit, n’eſt autre choſe qu’exciter une idée liée à ce ſon dans noſtre eſprit en frappant nos oreilles ou nos yeux. Or il arrive ſouvent qu’un mot, outre l’idée principale que l’on regarde comme la ſignification propre de ce mot, excite pluſieurs autres idées qu’on peut appeler acceſſoires [...].« Johann David Michaelis (1762, 147) hat demenstprechend einen Schwachpunkt in der Reduktion des Wortschatzes gesehen: »Le meilleur remède contre les équivoques, & contre les préjugés

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Logique befasst sich folglich intensiv mit dem Problem der Obszönität und der honnêteté langagière. Sie richtet sich explizit gegen die Lehre der Stoiker, die dazu führe, dass man entgegen dem usage unterschiedslos obszöne und nicht obszöne Wörter verwenden könne. 178 Auch bei Arnauld, der diesen ersten Teil der Logique allein verfasst hat, ist ein Widerstreben, den Latinismus zu verwenden, bemerkbar. Der Begriff erscheint auch hier gewissermaßen als Zitat des Cicero-Briefes und wird angeführt als das begriffliche Konzept, das es zu widerlegen gilt. Arnauld fasst daraufhin die Argumentation bei Cicero179 zusammen, um ihr dann zu widersprechen: Mais tout cela n’est qu’vne vaine ſubtilité, qui ne naiſt que de ce que ces philoſophes n’ont pas aſſez conſideré ces idées acceſſoires que l’eſprit joint aux idées principales des choſes. Car il arrive de là qu’vne meſme chose peut eſtre exprimée honneſtemẽt par vn son, & deshonneſtement par vn autre, ſi l’vn de ces ſons y joint quelqu’un autre idée qui en couvre l’infamie, & ſi l’autre au contraire la preſente à l’eſprit d’vne maniere impudente.180

Das Konzept der idées acceſſoires unterteilt die Sprache in eine ursprüngliche, reine Sprache (pureté), das Denotat, und eine sekundäre, »parasitäre« Bedeutung, die Konnotation, die erst durch den usage hinzugefügt werde.181 In Arnaulds Konzeption erscheint puritas als eine virtus dicendi; eine richtige Bezeichnung der Dinge durch Wörter wie »adultere«, »inceſte«, oder »peché abominable«, die die Dinge clare et disctincte bezeichnen, sei daher nicht obszön, »parce qu’ils ne les [sc. des actions tresinfames, D.W.] repreſentent que couvertes d’vn voile d’horreur«, sondern nur diejenigen, »qui les expriment ſans en donner de l’horreur, & plûtoſt comme plaiſantes

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qui naiſſent des idées acceſſoires, c’eſt d’enrichir la langue d’expreſſions qui ne ſoient point équivoques, & qui n’ayent point de ſens acceſſoire.« So paraphrasiert Arnauld auch in einem Brief an Perrault (5. Mai 1694), in dem es um Boileaus 10. Satire geht, ausführlich den Cicero-Brief und charakterisiert diese »opinion des Stoïciens« als »inſoutenable« (Arnauld 1727, 322). Der Gedanke war offenbar bekannt. Molière spielt darauf in der Critique de L’Ecole des femmes (1663, 29f.) an: »Elle ne dit pas vn mot qui de ſoy ne ſoit fort honneſte; & ſi vous voulez entendre deſſous quelque autre choſe, c’est vous qui faites l’ordure, & non pas elle.« Vgl. La Mothe le Vayer 1670, 67: »ceux de cette ſecte [sc. les Stoïciens] faiſoit profeſſion de nommer toutes choſes par leur nom, ſouſtenant que les paroles n’avoient rien de ſale ni de mauvais en elles meſmes.« Ebd. 100: »Les diſciples de ce philoſophe [sc. Zenon], adjouſta Menalque, ſe fondoient ſur ce que n’y pouvant avoir de ſaleté ni aus choſes phyſiques, ni aus paroles qui les interpretoient, il eſtoit aiſé de conclure qu’il n’y avoit rien de honteux à dire en tout ce qu’on vouloit ordinairement faire paſſer pour tel, & Ciceron, ſi j’ai bonne memoire, explique aſſez nettement, & par beaucoup d’exemples cette doctrine Stoïcienne dans vne de ſes epiſtres familieres.« Zum Ideal des honnête homme bei La Mothe le Vayer siehe Thielemann 1997 Arnauld/Nicole 1662, 118: »Ils pretendent, dit Ciceron, dans vne lettre qu’il a faite ſur ce ſujet, qu’il n’y a point de paroles ſales ni honteuſes. Car ou l’infamie (diſent-ils) vient des choſes, ou elle eſt dans les paroles. Elle ne vient pas ſimplement des choſes, puiſqu’il eſt permis de les exprimer en d’autres paroles qui ne paſſent point pour deshonneſtes. Elle n’eſt pas auſſi dans les paroles conſiderées cõme sons; puiſqu’il arrive ſouvent, comme Ciceron le montre, qu’vn meſme ſon ſignifiant diverſes choſes, & eſtant eſtimé deshonneſte dans vne ſignification, ne l’eſt point en vne autre.« Die Begriffe obscenus /obscenitas gibt Arnauld hier mit »sales«, »honteuse« bzw. »infamie« wieder. Arnauld/Nicole 1662, 118f. Vgl. Arnauld/Nicole 1662, 120.

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que comme criminelles, & qui y joignent meſmes vne idée d’impudence & d’effronterie«. 182 Dieser Umstand gibt dem Sprecher eine Verantwortung, die korrekten, »reinen« Wörter zu verwenden, die ein Verbrechen als eben solches bezeichnen. Diese Wörter sind allerdings nicht wertfrei, sondern stark moralisch und emotional konnotiert. Wörter, die, auch durch Metaphorik, 183 das Abstoßende (horreur) gerade als das Gegenteil, als anziehend (plaisant), repräsentierten, sind demnach zu vermeiden. An diesem Punkt setzt, allerdings unter verkehrten Vorzeichen, auch die literarische Ästhetik des 17. Jahrhunderts an und erklärt das Obszöne als gänzlich unliterarisch, da es dem Wirkungsziel der Kunst, dem delectare bzw. plaire diametral entgegengesetzt sei. Im Rahmen der traditionellen Dichotomie von res und verba wendet Arnauld den Blick vom Rezipienten hin zur Disposition des Sprechers: Il en eſt de meſme de certains tours par leſquels on exprime honneſtement des actions qui, quoyque legitimes tiennent quelque choſe de la corruption de la nature. Car ces tours sont en effet honneſtes, parce qu’ils n’exprimẽt pas ſimplement ces choſes, mais auſſi la diſpoſition de celuy qui en parle de cette ſorte, & qui témoigne par ſa retenuë qu’il les enviſage avec peine, & qu’il couvre autant qu’il peut & aux autres & à ſoy-meſme. [...]. C’eſt pourquoy il arrive auſſi quelquefois qu’vn meſme mot eſt eſtimé honneſte en vn temps, & honteux en vn autre.184

Arnauld weist auf die soziale Situierung des Sprechaktes hin. Eine Sprache, die die Scham nicht bedeckt (couvrir), wird somit selbst zum Sündenfall. Er redet hiermit allerdings nicht der Kunst des Verschleierns das Wort. Denn wie Bayle hält er die metaphorische Verschleierung für mindestens ebenso gefährlich wie direkte

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Arnauld/Nicole 1662, 119. Die Idee entstammt wohl CIC. off. 1.128: »Latrocinari fraudare adulterare re turpe est, sed dicitur non obscene; liberis dare operam re honestum est, nomine obscenum; pluraque in eam sententiam ab isdem contra verecundiam disputantur. Nos autem naturam sequamur et ab omni quod abhorret ab oculorum auriumque approbatione fugiamus; status incessus sessio accubitio vultus oculi manuum motus teneat illud decorum.« (»Rauben, Betrügen und Ehebrechen ist der Sache nach schändlich, doch darüber zu sprechen nicht obszön. Mühen auf die Kinder verwenden [= innerhalb einer Ehe Kinder zeugen, D.W.] ist der Sache nach anständig, dem Ausdruck nach obszön. Sehr vieles hinsichtlich dieser Meinung wird von denselben Leuten [sc. den Kynikern, D.W.] gegen das Schamgefühl auseinandergesetzt. Wir wollen aber der Natur folgen und vor allem fliehen, was vor der Zustimmung der Augen und Ohren zurückschreckt. Die Haltung, der Gang, das Sitzen, das Sich-zu-Tisch-Legen, der Gesichtsausdruck, die Augen, die Handbewegungen sollen jene Schicklichkeit innehaben.«) Das Beispiel liberis operam dare verwendet Cicero auch im bereits besprochenen Brief an Paetus (fam. 9.22.3); zum Ausdruck vgl. Adams 21990 [1982], 157. Der Artikel Obſcene, Déshonnête in Girards Synonymen-Wörterbuch zitiert den ersten Satz dieser Stelle (Girard/Roubaud 1796, t. 3. 347) und folgert daraus: »Il paroît que les Latins étendoient plus loin que nous l’emploi du mot obſcene.« Arnauld/Nicole 1662, 115f. Arnauld bezieht sich hier ausdrüklich auf das horazische si vis me flere, dolendum est ipsi primum (ars 102f.: »wenn Du willst, dass ich weine, musst Du zunächst selbst trauern«) und deutet dies als durch den usage bedingte Forderung, emotional konnotierte Worte zu wählen, die die Seele wiedererkennen kann: »l’ame s’inſtruit par les images des veritez, mais elle ne s’émeut guere que par l’image des mouvements.« Arnauld/Nicole 1662, 119f.

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Obszönität. 185 Der Stil wird zum moralischen Zeugnis (témoigner) des Sprechers: »L’obſcénité du diſcours marque la corruption du cœur«.186 Das Obszöne wird zur moralischen Kategorie. 187 Die Naturalisierung des Konzeptes setzt folglich bei der körperlichen Reaktion der Aversion, vornehmlich des Errötens und des Ekels, als Manifestationen der pudeur188 an, die die Natur über die Kultur siegen lässt.189 Indem er den Zeugnischarakter des Stils betont, knüpft Arnauld an den antiken talis oratio qualis vita-Diskurs 190 an: Auch die rhetorische Theorie Ciceros und Quintilians konzipiert den Redner als einen vir bonus, einen Ehrenmann. 191 Für 185

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Vgl. Arnauld 1700, lxxiiif.: »Je ſai bien qu’on n’appelle ordures que les paroles groſſiérement ſales, & qu’on nomme galanteries, celle qui ſont dittes d’une maniére fine, delicate, ingenieuſe: mais des ordures pour être couvertes d’une équivoque ſpirituelle comme d’un voile tranſparant n’en ſont pas moins des ordures, ne bleſſent pas moins les oreilles chrétiennes, ne ſaliſſent pas moins l’imagination, ne corrompent pas moins le cœur: un poison ſubtil & imperceptible donne auſſi bien la mort que le poiſon le plus violent.« Abramovici (2003, 251) zieht eine Parallele zur biblischen Erzählung von der Entstehung des Schamgefühls: »L’emploi du verbe couvrir – ›empecher qu’on ne voie‹ [=Furetière 1690, s.v. couvrir] – rapproche le voile linguistique du geste par lequel l’homme perdit son innocence: ›Adam après la faute se vit obligé de couvrir sa nudité‹ [ebd.]. Le schéma des idées accessoires prolonge ainsi l’interdit séculaire fait aux chrétiens de ne parler jamais de fornification ou d’impureté qu’en cas d’extreme nécessité et ›qu’en les couvrant et les noircissant d’une manière qui en imprime de l’aversion.‹ [=Nicole 1713 [1671], t. 7, 250]«. Encyclopédie, s.v. obscene [Diderot], t. 11 (1765), 309. Vgl. Bastide 1773, 102f.: »[L’Obſcénité] plaît à l’eſprit qui eſt devenu bas, à force de ſe corrompre. Le vice ne la chérit pas toujours: il a ſa fierté, ſes bienſéances, ſa politique. Il n’y a que la nature abrutie, qui, trouvant tout cela trop gênant ou trop étranger à elle, ne conſerve des rapports qu’avec ce qui achève de la dégrader.« Vgl. Encyclopédie, s.v. obscene, t. 11 (1765), 309: »Il y a des eſprits mal faits qui entendent à tout de l’obſcénité.« Das Obszöne wird als Gegenbegriff zur pudeur konzipiert. Vgl. Dictionnaire de l’Académie Françoise 1694, s.v. obſcene, t. 2, 136f: »Deshonneſte, ſale, qui bleſſe la pudeur« (ebenso s.v. obſcenité, t. 2, 137). Vgl. Enclopédie, s.v. obſcene, [Diderot], t. 11 (1765), 309: »il ſe dit de tout ce qui eſt contraire à la pudeur.« Der Artikel der Encyclopédie betont ferner den Ausnahmestatus der Kunst und der Wissenschaft:»On évite l’obſcénité en ſe ſervant des expreſſions conſacrées par l’art ou la ſcience de la choſe.« (ebd.). Zu den epistemischen Implikationen des Errötens als Sieg der Natur über die Kultur siehe Abramovici 2003, 26–28. Zu diesem Diskurs in der Antike siehe generell Möller 2004. Vgl. QVINT. inst. 1. pr. 9: »Oratorem autem instituimus illum perfectum, qui esse nisi uir bonus non potest, ideoque non dicendi modo eximiam in eo facultatem sed omnis animi uirtutes exigimus.« (»Jenen vollkommenen Redner jedoch unterrichten wir, der ausschließlich ein ehrenwerter Mann sein kann, und deshalb fordern wir bei ihm nicht nur eine außerordentliche Redefähigkeit, sondern alle Charaktertugenden ein.«) Ferner charakterisiert Quintilian den oratator perfectus als Philosophen, der auf ideale Weise Sittlichkeit und intellektuelle Fähigkeiten verbindet (QVINT. inst. 1. pr. 18): »Sit igitur orator uir talis qualis uere sapiens appellari possit, nec moribus modo perfectus (nam id mea quidem opinione, quamquam sunt qui dissentiant, satis non est), sed etiam scientia et omni facultate dicendi; qualis fortasse nemo adhuc fuerit«. (»Es sei also der Redner ein solcher Mann, der wahrlich weise genannt werden kann, und nicht nur im Lebenswandel (denn dies ist, zumindest meiner Ansicht nach, obwohl es Leute gibt, die da anderer Meinung sind, nicht genug), sondern auch durch Wissen und jegliche Redefähigkeit vollkommen ist; ein solcher, wie es vielleicht bisher keiner gewesen ist.«) Vgl. hierzu Winterbottom 1964, Kennedy 1972, 509– 514, Kühnert 1994. Das Ideal eines umfassend gebildeteten Redners geht auf Isokrates zurück. In Rom wird dieser orator perfectus insbesondere durch Cicero (in De oratore) entworfen. Zu möglichen Widersprüchen in Quintilians Entwurf siehe jüngst Zinsmaier 2018.

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Quintilian ist daher aus edukatorischer Sicht das Kriterium bei der Auswahl der geeigneten Lektüre einerseits die sprachliche Qualität (diserta), andererseits der moralische Gehalt (honesta).192 Die obszönen Texte werden somit zu Zeugnissen der Sittengeschichte, nicht als satirische Zeitkritik, sondern als biographische Zeugnisse der Autoren. Dem modernen Übersetzer der obszönen Texte kommt nun aus erzieherischer Perspektive eine moralische Verpflichtung zu, er steht vor dem bereits zitierten Arnauldschen Imperativ, »qu’il couvre autant qu’il peut & aux autres & à ſoy-meſme «193. Ferner greift Arnauld mit zahlreichen Beispielen Ciceros Gedanken auf (ohne dies zu explizit zu machen), dass Wörter erst mit der Zeit, im usage, obszön werden (wie der Begriff penis) und daher im Laufe der Geschichte nicht mehr verwendet werden könnten. Es sei folglich Aufgabe der Gelehrten, diese Wörter dem Gebrauch entsprechend zu kategorisieren, oder noch besser, sie gänzlich aus dem Wortschatz zu entfernen (retrancher), »eſtant toûjours plus vtile de les ignorer que de les ſçavoir.«194 Der Latinismus obscénité scheint ein solches Wort zu sein, das aus dem Wortschatz wieder entfernt werden müsse, darauf deuten die Aussagen von den Preziösen bei Molière, über Bouhours, den Lexika (Furetière) bis hin zu Arnauld, die sich scheuen, den Begriff obscénité selbst zu benutzen. Obscénité ist folglich selbst ein mot obscène. ⁎⁎⁎ Die bis hierhin beschriebenen Konzeptionen des Obszönen klammern den Kunstcharakter der Obszönität aus. Sie behandeln sprachliche Äußerungen als öffentliche Akte und betrachten sie aus der Perspektive der öffentlichen Ordnung und der Moral. Die antiken Etymologien deuten an, dass das Obszöne in der Antike anders konzipiert wird. Es hat dort seinen Platz in der Literatur (in den niederen Gattungen), und wird gesellschaftlich zumindest tolereriert. Den historischen Zeitpunkt, an dem die Öffentlichkeit das vornehmliche Argument in der Bewertung literarischer Obszönität wird, stellt der Prozess gegen den Dichter Théophile de Viau dar (1623), der in Kapitel 2.3. analysiert wird. Der Prozess bildet den Kulminationspunkt einer Verengung des zweigeteilten Obszönitätsdiskurses der Antike, namentlich der Entwertung der literarischen Poetologie und Ästhetik des Obszönen zugunsten eines Ausschlusses des Obszönen, wie sie von Seiten der rhetorischen Tradition vertreten wird. Um die Veränderungen, die mit diesem Prozess einhergehen, besser herausarbeiten zu können, sollen zunächst die antiken Positionen zur Obszönität dargelegt werden, auf die in der 192

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QVINT. inst. 1.8.4: »Cetera admonitione magna egent, in primis ut tenerae mentes tracturaeque altius quidquid rudibus et omnium ignaris insederit non modo quae diserta sed uel magis quae honesta sunt discant.« (»Das Übrige [bei der Lektüre im Jungenalter] bedarf großer Zurechtweisung, vor allem dass die zarten Gemüter, die sich schneller aneignen werden, was auch immer sich einmal in ihren rohen und in allem unerfahren Gemütern festgesetzt hat, nicht nur lernen, was beredt ist, sondern vielmehr, was anständig ist.«) Zum Vorrang der moralischen Unterweisung vor der technisch-rhetorischen vgl. auch QVINT. inst. 1.2.3. Vgl. hierzu generell Winterbottom 1964. Arnauld/Nicole 1662, 119. Arnauld/Nicole 1662, 121.

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Diskussion um den Prozess und in der Folgezeit explizit und implizit Bezug genommen wird. Der moderne Obszönitätsdiskurs greift insbesondere die rhetorische Tradition wieder auf und erhebt diese zu ästhetischen Kategorien.

2.2 Antike Dispositionen: αἰσχρολογία und obscenitas Die Frage, was obszön ist, beschäftigt das 17. und 18. Jahrhundert nur nebensächlich. Vordergründig wird davon ausgegangen – dies geben zumindest die narrativen Strategien vor –, dass allgemein bekannt sei, was als sale, impudique, malhonnête, etc. gilt. Welche antiken Autoren wiederum als obszön gelten, ist weniger statisch. Die meist genannten Autoren sind Martial und Catull, die Komödiendichter Aristophanes, Plautus und Terenz, ferner die Satiriker Juvenal und Horaz, bishweilen auch Ovid. Die niederen Gattungen Epigramm, Satire und Komödie, die sich durch einen alltäglicheren, ja obszönen Sprachgebrauch auszeichnen und diesen bisweilen gar als gattungskonstitutiv darstellen, sind auch im 17. Jahrhundert prädestiniert, in die erste Reihe der Kritik zu geraten. Das Obszöne wird nicht nur in den obszönen Texten der Antike selbst als literarästhetisches Phänomen und Problem thematisiert, sondern auch in literaturtheoretischen und moral-philosophischen Texten diskutiert. Vor diesem Hintergrund ist es ratsam, sich zunächst die Rolle des Obszönen in den antiken Literaturen und Gesellschaften zu vergegenwärtigen. Denn wie die Analyse der begrifflichen und konzeptuellen Neujustierung des Obszönen gezeigt hat, setzt sich die französische Debatte teils offen, teils implizit mit den entsprechenden antiken Positionen auseinander. Ziel dieser Darstellung ist es, zu zeigen, dass sich diese Abhängigkeit vom antiken Obszönitätsdiskurs durch das 17. und 18. Jahrhundert hindurch verfolgen lässt und dass sich – trotz der bisweilen vorgegebenen »absoluten Modernität« – die vertretenen Positionen kaum vom antiken Obszönitätsdiskurs lösen. Es handelt sich dabei vielmehr um die Übernahme von ästhetischen Kategorien, von Oppositionen, kurz gesagt: um ein präfiguriertes Ordnungssystem, das neu arrangiert und umgeschichtet oder transformiert wird. Andererseits werden die antiken Urteile weiterhin als Autoritäten aufgerufen, dabei aber implizit fein neujustiert. Um diesen Bezug zur Antike in der Diskussion über die Antike stärker herausarbeiten zu können, sollen im Folgenden die wesentlichen Positionen des antiken Obszönitätsdiskurses nachgezeichnet werden. Der folgende Überblick195, der in diesem Kapitel unternommen wird, kann selbstverständlich nur einige grobe Linien und strukturelle Veränderungen darzulegen versuchen und wird sich auf die loci classici beschränken, d.h. vor allem diejenigen behandeln, die in der neuzeitlichen Diskussion eine Rolle spielen. Der Fokus wird auf jenen Fragen liegen, die in vorliegender Untersuchung im Zentrum stehen, d.h. diejenigen Aussagen behandeln, die das Obszöne in Beziehung zu den Aspekten Öffentlichkeit und Gesellschaft, zu Erziehung und Rhetorik sowie zur Frage von Autorschaft und Moral setzen. 195

Vgl. auch den Sammelband Dutsch/Suter 2015. Zum Mittelalter siehe Stempel 1969; Ziolkowski 1998; Labère 2015; zur Renaissance Roberts/Peureux/Wajeman 2011.

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2.2.1 Theater, Invektive und Erziehung Wie Varros Hypothesen zur Etymologie des Wortes obscenus gezeigt haben, wird der Begriff bei den Römern insbesondere mit Religion und der Theater-Bühne verbunden. Dies ist literarhistorisch bedingt. Bei den Griechen begegnet obszöne Sprache vor allem im Rahmen des Dionysos-Kultes, d.h. im Rahmen des Komödien-Agons. 196 Von den Komödien des 5. Jahrhunderts sind vollständig ausschließlich einige Komödien des Aristophanes überliefert, sodass diese auch das Bild in der Folgezeit stark bestimmt haben. 197 Das griechische Äquivalent zur Idee der Obszönität ist αἰσχρολογία 198 und bezeichnet language that causes (or could reasonably expected to cause) individual or social offense by obstrusivley breaching norms of acceptable speech, especially in one or more of the following ways: by explicit, non technical reference to sexually sensitive topics […], by personal, ad hominem vilification, or by direct mention of religiously protected and normally ›unspeakable‹ or unnameable subjects.199

Die Obszönität der Komödie erklärt sich gattungshistorisch vermutlich aus der Nähe zum Iambus und ist im Wesentlichen auf die Alte Komödie beschränkt.200 Sexualität sowie die Benennung der entsprechenden Körperteile und Praktiken treten insbesondere in den Komödien auf, die sich mit dem Geschlechterverhältnis beschäftigen, namentlich vor allem die Lysistrate (411 v. Chr.), die Thesmophoriazusai (411 v. Chr.) und die Ekklesiazusai (392 v. Chr.). In der Lysistrate und im Frieden (421 v. Chr.) stellt Sexualität, wie von Möllendorff betont, ein Kennzeichen des Friedens dar und bildet den Kern des idealistischen Entwurfes. 201 Das Obszöne bedeutet hier also nicht Mimesis des Alltagslebens und der niederen Sprache, sondern fungiert im Gegenteil als utopisch-phantastisches Experiment gerade als Heilung vom Alltag. 202 Obszönität 196 197 198

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Zum Ursprung der Obszönität im Kult siehe Henderson 1975, 13–17, zur Verbindung von Obszönität und Humor siehe Robson 2006. Für eine etwas ausführlichere Darstellung zum Phänomen der Aischrologie in der Alten Komödie siehe Rösler 1993; Rosen 2015; Lubitz 2020, 6–16. Zu den griechischen Synonymen siehe Henderson 1975, 3. Eine konzeptuelle Gleichsetzung von αἰσχρολογία und obscenitas wäre sicherlich verkürzt, wenngleich die entsprechend charakterisierten Gegenstände eine große Schnittmenge aufweisen. Die Herleitung von obscenus aus dem kultischen Bereich und damit die Verbindung zur Dichtung (siehe Kapitel 2.1) ist zudem wesentlich durch die hier behandelten Stellen beinflusst, sodass für das Anliegen dieser Arbeit zumindest die Einstufung als äquivalent vertretbar sein mag. Halliwell 2008, 215f. Auch der ionische Iambus und der Kult der Demeter und des Dionysos beinhalteten Obszönität. Diese wiederum sind, wie Henderson (1975, 13) betont, für die Entwicklung der Alten Komödie und der Methoden der Komik entscheidend. Aristoteles behauptet, die Komödie sei aus Phallos-Liedern entstanden (ARISTOT. poet. 1449a11). Vgl. Rosen 1988, 1–35. Zur Obszönität im Iambus siehe Ormand 2015. Von Möllendorff 2002, 73f.; 86; 165. Zu Sexualität als religiösem Tabu vgl. Parker 1983, 74– 103. Platon schreibt dem Alltag gerade ein Verlernen der in der Erziehung erlernten Ordnung und Tugenden zu. Die religiösen Feste und die Dichtung dienen demgegenüber zur zeitweisen Wiederherstellung dieser Ordnung. Vgl. PLAT. leg. 653c7–d5: »τούτων γὰρ δὴ τῶν

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wird ferner einerseits zur Erzeugung von Komik, 203 andererseits zur persönlichen Invektive, dem ὀνομαστὶ κωμῳδεῖν, auf athenische Bürger eingesetzt.204 Sie basiert nicht so sehr auf einer Zurschaustellung des Sexuellen – Sexualität galt, wie Henderson betont, nicht an sich als schmutzig oder als Tabu205 – sondern auf einer Exponierung des Privaten, auf einer Überschreitung sozialer Grenzen, die schockiert, erzürnt und amüsiert. Diese drastische Form der Herabsetzung erfolgt im Rahmen der παρρησία, der Redefreiheit, die jedoch, wie Stephan Halliwell betont, eine Spannung zwischen dem Kern der demokratischen Ideologie auf der einen Seite und der Angst vor Verleumdung und dem staatlichen Schutz vor persönlicher Beleidigung auf der anderen Seite erzeugt. 206 In den Komödien selbst wird vor allem ihre gesellschaftskritische Funktion betont. In den Acharnern (Ach. 630–658) und den Wespen (Vesp. 1015–1050) wird der Komödien-Dichter als derjenige charakterisiert, der das Publikum rügt (Vesp. 1016). Anderseits fungiert er auch als Beschützer des Volkes vor Übeln (Vesp. 1043: ἀλεξίκακος) und als »Reiniger« (Vesp. 1043: καθαρτής).207 Diese Doppelfunktion des Dichters im Rahmen des Kultus und der Demokratie verdeutlicht seinen besonderen Status innerhalb der Polis. Die innerhalb des Kultus verwendete Obszönität stellt folglich ein streng reglementiertes Ausnahmephänomen dar. 208 Halliwell argumentiert, das Komödienpublikum sei dabei »psychologically implicated in the shamelessness of the event«.209 Im 4. Jahrhundert hat sich die Komödienproduktion stark geändert. Nach Aristoteles soll der athenische Dichter Krates (vermutlich um die Mitte des 5. Jahrhunderts)

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ὀρθῶς τεθραμμένων ἡδονῶν καὶ λυπῶν παιδειῶν οὐσῶν χαλᾶται τοῖς ἀνθρώποις καὶ διαφθείρεται κατὰ πολλὰ ἐν τῷ βίῳ, θεοὶ δὲ οἰκτίραντες τὸ τῶν ἀνθρώπων ἐπίπονον πεφυκὸς γένος, ἀναπαύλας τε αὐτοῖς τῶν πόνων ἐτάξαντο τὰς τῶν ἑορτῶν ἀμοιβὰς τοῖς θεοῖς, καὶ μούσας Ἀπόλλωνά τε μουσηγέτην καὶ Διόνυσον συνεορταστὰς ἔδοσαν, ἵν᾽ ἐπανορθῶνται, τάς τε τροφὰς γενομένας ἐν ταῖς ἑορταῖς μετὰ θεῶν.« (»Da diese Bildung nämlich im richtigen Erziehen von Lust und Schmerz besteht, dies aber von den Menschen meistens im Leben vernachlässigt und verdorben wird, ordneten die Götter – aus Mitleid mit dem von Natur aus elenden Menschengeschlecht – als Pausen von ihrem Elend den Umgang mit den Göttern, der bei (kultischen) Festen besteht, an und gaben ihnen, damit sie wieder geordnet werden, als gemeinsame Festbegleiter die Musen, den Musenführer Apollon und Dionysos und die Speisungen an den Festen durch die Götter.«) Zur Frage, ob die Alte Komödie eine Form rituellen Lachens darstellt, siehe Halliwell 2008, 206–214, der in diesem Zusammenhang von »institutionalised shamelessness« spricht. Zu Publikumsreaktionen auf die Komödien des Aristophanes siehe Slater 1999. Sommerstein 1996 zählt in den erhaltenen elf Komödien 224 attackierte Personen, davon insbesondere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens (aus Politik, Religion, Militär, Dichtung). Zur Kontinuität invektiver Personensatire, die von Obszönität Gebrauch macht, bis ins 4. Jahrhundert hinein vgl. Halliwell 1991, 64f. Vgl. Henderson 1975, 8. Vgl. Halliwell 2008, 218: »Classical Athens, in both its laws and its general political selfimage, was caught between a democratic impulse towards freedom of speech and, on the other hand, an inclination (embodied, for instance, in laws against slander, kakēgoria, but also against hubris, which encompassed verbal as well as physical offensiveness) to provide protection and redress against abusiveness.« Vgl. Halliwell 1984. Von Möllendorff 1995 sieht in der aristophanischen Komödie ein karnevaleskes Phänomen im Sinne Bachtins, kritisch dazu Rösler 1986. Halliwell 2004, 137.

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der erste gewesen sein, der auf das iambische Element, d.h. auf obszöne Invektiven, zugunsten von Generalisierungen gänzlich verzichtet habe. 210 Die Mittlere und Neue Komödie sind unpolitische Typenkomödien, die in Menander ihren bekanntesten Vertreter haben. Seine Stücke sind zwar von einem Realismus geprägt, den Aristophanes von Byzanz zu dem berühmten Ausspruch »Ὢ Μένανδρε καὶ βίε, πότερος ἄρʹ ὑμῶν πότερον ἀπεμιμήσατο;«(»Menander und das Leben, welcher von euch beiden hat wen nachgeahmt?«) 211 brachte, doch handelt es sich dabei nicht um die Kritik an konkreten historischen Personen, sondern um die Darstellung typologischer Eigenschaften als Charakterstudien.212 Unter den Gnomen, die unter dem Namen Menander überliefert sind, findet sich diesbezüglich der Vers »ἀνδρὸς χαρακτὴρ ἐκ λόγου γνωρίζεται.« (»Den Charakter eines Mannes erkennt man aus seiner Rede«.)213 Der obszöne Humor ist, soviel aus den überlieferten Texten zu sehen ist, weitestgehend auf Anspielungen und Euphemismen reduziert und mit niederen Figuren wie Dienern und Sklaven assoziiert.214 In einem Redegefecht zwischen einem Koch und einem Sklaven im Dyskolos (316 v. Chr.) könnte man etwa die Verben πάσχω (›empfangen‹, ›erleiden‹) und das vulgäre λαικάζω (›herumhuren‹, verwendet als Verfluchung) im Sinne konkreter sexueller Akte (Pathicus, Fellatio) verstehen.215 Diese Entwicklung ist Kennzeichen der Herausbildung einer verstärkten Idealisierung der Scham im 4. Jahrhundert.216 Die komischen Produktionen des 5. Jahrhunderts sorgen dementsprechend für Irritationen.217 Dennoch hebt etwa Platon die gesellschaftliche Funktion der Komödie hervor, ohne deren negative Anschauungsbeispiele eine Erziehung zu tugendhaftem Verhalten nicht möglich wäre: ἀνάγκη μὲν θεάσασθαι καὶ γνωρίζειν: ἄνευ γὰρ γελοίων τὰ σπουδαῖα καὶ πάντων τῶν ἐναντίων τὰ ἐναντία μαθεῖν μὲν οὐ δυνατόν, εἰ μέλλει τις φρόνιμος ἔσεσθαι, ποιεῖν δὲ οὐκ αὖ δυνατὸν ἀμφότερα, εἴ τις αὖ μέλλει καὶ σμικρὸν ἀρετῆς μεθέξειν, ἀλλὰ αὐτῶν ἕνεκα τούτων καὶ μανθάνειν αὐτὰ δεῖ, τοῦ μή ποτε δι᾽ ἄγνοιαν δρᾶν ἢ λέγειν ὅσα γελοῖα, μηδὲν δέον, δούλοις δὲ τὰ τοιαῦτα καὶ ξένοις ἐμμίσθοις προστάττειν μιμεῖσθαι. σπουδὴν δὲ περὶ αὐτὰ εἶναι μηδέποτε μηδ᾽ ἡντινοῦν, μηδέ τινα μανθάνοντα αὐτὰ γίγνεσθαι φανερὸν τῶν ἐλευθέρων, μήτε γυναῖκα μήτε ἄνδρα, καινὸν δὲ ἀεί τι περὶ αὐτὰ φαίνεσθαι τῶν μιμημάτων.218

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Vgl. ARISTOT. poet. 1449b7. SYRIAN. in Hermog. II, p. 22.25 R. ; (=Men. Test. 83 K-A). Ähnliche Aussagen finden sich auch MANIL. 5.475f. (= Men.Test. 94 K-A); QVINT. inst. 10.1.69. Zu Menanders realistischer Textualität siehe Petrides 2014, 10–83. Zu Menanders Typologien siehe generell Wiles 1991. Frg. 72 K.–A. (=66K). Vgl. hierzu Möller 2004, 130: »Von besonderer Bedeutung ist der Terminus χαρακτὴρ, der hier zum ersten Mal in diesem Zusammenhang erscheint. In den unterschiedlichen Äußerungen zur Analogie von Mensch und Stil war bisher hauptsächlich von ἦθος und ψυχή die Rede. Menander formuliert also auch hier typologisch. Die Maxime müsste demnach überindividuell interpretiert werden: Ein bestimmter Charakterzug bevorzugt einen entsprechenden λόγος.« Zu Menanders Sprachkonzept siehe Nünlist 2002. PLAT. leg. 816d3–9 hebt ausdrücklich die pädagogische Funktion hervor. Vgl. Krieter-Spiro 1997, 185–189; Hunter 1985, 12. Vgl. Gomme/Sandbach 1973, 270; Adams 21990 [1982], 189f., 218. Vgl. Dover 1994, 206f. Vgl. PLAT. leg. 935d3–e6. PLAT. leg. 816d8–e10.

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Es ist zwar nötig, [sc. die abstoßenden Darstellungen der Komödie in Wort und Tanz, D.W.] zu betrachten und zu verstehen – denn ohne das Lächerliche ist es nicht möglich, das Ernste zu lernen, und überhaupt etwas von einem Gegensatzpaar ohne das Entgegengesetzte, wenn man ein vernünftiger Mann sein will –, beides jedoch tatsächlich zu tun, ist nicht möglich, wenn man wiederum auch nur einen kleinen Anteil an der Tugend haben will. Sondern genau deswegen muss man eben dies lernen, um nicht aus Unkenntnis Lächerliches zu tun oder zu sagen, wenn man es nicht darf; Sklaven und bezahlten Fremden ist daher aufzutragen, Derartiges darzustellen. Jegliche Art von Ernst dagegen soll niemals darauf verwendet werden, und keiner von den freien Menschen, weder Frau noch Mann, soll beim Lernen ebendieser Dinge gesehen werden, und etwas Neuartiges soll diesbezüglich immer in den Darstellungen erscheinen.

Die Aufführungspraxis und Rezeption des Theaters im antiken Griechenland ist in erheblichem Maße von sozialen Faktoren bestimmt; das Theater ist ferner ein bedeutender Ort soziopolischer Aushandlungsprozesse.219 Platon verknüpft hier nun darüber hinaus sozio-moralische Fragen mit epistemologischen Erwägungen. Wissen und Verstehen setzen bei Platon Distanz zum Objekt voraus.220 Die Differenzierung zwischen Publikum und Schauspieler stellt dabei ein wesentliches Moment dieses Prozesses dar. Die mimetische Darstellung im Theater führt allerdings auch dazu, dass »wir Freude empfinden und uns selbst aufgeben und (der Darstellung) mitfühlend und begierig folgen« (»χαίρομέν τε καὶ ἐνδόντες ἡμᾶς αὐτοὺς ἑπόμεθα συμπάσχοντες καὶ σπουδάζοντες ἐπαινοῦμεν)221, sodass ohne eine entsprechende rationale Reflexion »das Genießen des fremden (Schicksals) notwendig auf das eigene zurückwirkt.« (ἀπολαύειν ἀνάγκη ἀπὸ τῶν ἀλλοτρίων εἰς τὰ οἰκεῖα)222 Dies führe – selbst bei den »Besten« (»οἱ γάρ που βέλτιστοι ἡμῶν«)223 – zu einer gefährlichen Identifikation mit der Handlung, ähnlich wie es Platon es auch beim Lesen von Dichtung befürchtet.224 Die Dramenzuschauer werden dabei nicht als Quasiteilnehmer am Geschehen konzipiert, sondern

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Vgl. Prauscello 2013, 330: »Comedy is then the social space in which the citizenship as such can and must become vicariously acquainted, at a rational level, with a form of otherness with respect to its collective identity. In this sense the function of comedy in Magnesia is partially similar to that envisaged for the symposium (wine as a vehicle for personally experiencing otherness with respect to oneself), with the fundamental difference that citizens at the symposium are also the performers. This relationship, in Magnesia, between symposium and comedy as places, respectively, for experiencing otherness with respect to oneself and otherness with respect to a communal sense of shared identity represents another significant distortion of comic rhetoric, where sympotic and komastic moments, with a varying degree of inclusiveness, tend to be fully integrated into comedy's triumphal narrative pattern.« Wallace 1997 sieht in Platons Publikumsentwurf eine sozialelitären Ideologie am Werke und führt sogar die modernen gedämpfen Publikumsreaktionen im Theater darauf zurück. Vgl. Halliwell 2002, 81. PLAT. rep. 605d3f. PLAT. rep. 606b6f. PLAT. rep. 605c9. Vgl. PLAT. Krat. 396d7–e1. Platons Verhältnis zu Dichtung und Kunst ist in der Forschung seit jeher kontrovers und umfangreich diskutiert worden. Für einen Überblick zur Diskussion und den wesentlichen Argumenten siehe Hub 2009.

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als eine Art »engagierte Beobachter«.225 Der schlechte Einfluss der Dichtung resultiere daraus, dass sie die nicht-rationalen Kräfte der Seele stärke. Eine Tragödie zu genießen habe demnach diesselben psychagogischen Effekte wie ein Verbrechen selbst auszuführen. 226 Platons ›Sokrates‹ sieht daher mimetische Dichtung vor allem als gefährlich für bereits moralisch fragwürdige Personen wie Glaukon. Zurückzuführen ist die Fehlwirkung der Mimesis auf eine Verwirrung der Pathê, die statt mit Ekel (βδελύττεσθαι) gegenüber einer als schändlich empfundenen Handlung mit Erfeuen (χαίρειν) reagiert.227 Gegen Ende des 7. Buches der Politik (pol. 1336b4–20) äußert sich auch Aristoteles in der Beschreibung der idealen Polis zur öffentlichen Obszönität: ὅλως μὲν οὖν αἰσχρολογίαν ἐκ τῆς πόλεως, ὥσπερ ἄλλο τι, δεῖ τὸν νομοθέτην ἐξορίζειν (ἐκ τοῦ γὰρ εὐχερῶς λέγειν ὁτιοῦν τῶν αἰσχρῶν γίνεται καὶ τὸ ποιεῖν σύνεγγυς)· μάλιστα μὲν οὖν ἐκ τῶν νέων, ὅπως μήτε λέγωσι μήτε ἀκούωσι μηδὲν τοιοῦτον· ἐὰν δέ τις φαίνηταί τι λέγων ἢ πράττων τῶν ἀπηγορευμένων, τὸν μὲν ἐλεύθερον μήπω δὲ κατακλίσεως ἠξιωμένον ἐν τοῖς συσσιτίοις ἀτιμίαις κολάζειν καὶ πληγαῖς, τὸν δὲ πρεσβύτερον τῆς ἡλικίας ταύτης ἀτιμίαις ἀνελευθέροις ἀνδραποδωδίας χάριν. ἐπεὶ δὲ τὸ λέγειν τι τῶν τοιούτων ἐξορίζομεν, φανερὸν ὅτι καὶ τὸ θεωρεῖν ἢ γραφὰς ἢ λόγους ἀσχήμονας. ἐπιμελὲς μὲν οὖν ἔστω τοῖς ἄρχουσι μηθέν, μήτε ἄγαλμα μήτε γραφήν, εἶναι τοιούτων πράξεων μίμησιν, εἰ μὴ παρά τισι θεοῖς τοιούτοις οἷς καὶ τὸν τωθασμὸν ἀποδίδωσιν ὁ νόμος. πρὸς δὲ τούτοις ἀφίησιν ὁ νόμος τοὺς τὴν ἡλικίαν ἔχοντας [ἔτι] τὴν ἱκνουμένην καὶ ὑπὲρ αὑτῶν καὶ τέκνων καὶ γυναικῶν τιμαλφεῖν τοὺς θεούς·τοὺς δὲ νεωτέρους οὔτʼ 225

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Vgl. Halliwell 2002, 81. Wenngleich die emotionale Involviertheit des athenischen Theaterpublikums letztlich schwer zu rekonstuieren ist, plädiert Lada 1993 auf Grundlage des von ihr untersuchten Materials – gegen Platon – dafür, von einer Art »empathic understanding«, d.h. einer »fusion of emotion and judgment« auszugehen. Vgl. PLAT. rep. 605e3–6/ 606c2–606d7: »Ἦ καλῶς οὖν, ἦν δ' ἐγώ, οὖτος ὁ ἔπαινος ἔχει, τὸ ὁρῶντα τοιοῦτον ἄνδρα, οἶον ἑαυτόν τις μὴ ἀξιοῖ εἶναι ἀλλ' αἰσχύνοιτο ἄν, μὴ βδελύττεσθαι ἀλλὰ χαίρειν τε καὶ ἐπαινεῖν; […]Ἆρ' οὖν οὐχ ὁ αὐτὸς λόγος καὶ περὶ τοῦ γελοίου; ὅτι, ἃν αὐτὸς αἰσχύνοιο γελωτοποιῶν, ἐν μιμήσει δὲ κωμῳδικῇ ἢ καὶ ἰδίᾳ ἀκούων σφόδρα χαρῇς καὶ μὴ μισῇς ὡς πονηρά, ταὐτὸν ποιεῖς ὅπερ ἐν τοῖς ἐλέοις; ὃ γὰρ τῷ λόγῳ αὖ κατεῖχες ἐν σαυτῷ βουλόμενον γελωτοποιεῖν, φοβούμενος δόξαν βωμολοχίας, τότ' αὖ ἀνιεῖς, καὶ ἐκεῖ νεανικὸν ποιήσας ἔλαθες πολλάκις ἐν τοῖς οἰκείοις ἐξενεχθεὶς ὥστε κωμῳδοποιὸς γενέσθαι. […] Καὶ περὶ ἀφροδισίων δὴ καὶ θνμοῦ καὶ περὶ πάντων τῶν ἐπιθυμητικῶν τε καὶ λυπηρῶν καὶ ἡδέων ἐν τῇ ψυχῇ, ἃ δή φαμεν πάσῃ πράξει ἡμῖν ἕπεσθαι, ὅτι τοιαῦτα ἡμᾶς ἡ ποιητικὴ μίμησις ἐργάζεται· τρέφει γὰρ ταῦτα ἄρδουσα, δέον αὐχμεῖν, καὶ ἄρχοντα ἡμῖν καθίστησιν, δέον ἄρχεσθαι αὐτὰ ἵνα βελτίους τε καὶ εὐδαιμονέστεροι ἀντὶ χειρόνων καὶ ἀθλιωτέρων γιγνώμεθα.« (»Verhält sich dieses Lob also gut, sagte ich, dass man, wenn man einen Mann sieht, der sich so benimmt, wie man es seiner selbst nicht würdig empfände, sondern sich dafür schämte, dann keinen Ekel, sondern Freude daran empfindet und es lobt? […] Gilt also nicht dieselbe Überlegung auch hinsichtlich des Lächerlichen? Tust Du nicht dasselbe wie beim Mitleid, wenn Du Dich etwa selbst für etwas schämen würdest, das du im Spaß tust, anderseits aber, wenn du es in einer Kömodiendarstellung oder im Privaten hörst, Dich sehr darüber amüsierst und es nicht verachtest? Was Du aus Angst vor einem Ruf als Spaßmacher durch Vernunft zurückhältst, obwohl Du ja in Dir den Drang hast, den Spaß zu machen, das lässt du nun wieder zu, machst es dort [sc. in der Seele, D.W.] wieder stark und wirst so oft unbemerkt (auch) zuhause dazu gebracht, zum Komödiendichter zu werden. […] (Und dasselbe gilt) auch hinsichtlich der Sexualität und der Leidenschaft und aller Begierden und Schmerzen und Lüste in der Seele, welche uns, wie wir sagen, in jeder Handlung folgen, weil uns die dichterische Darstellung Derartiges produziert. Denn sie nährt und tränkt diese Gefühle, die sie doch austrocknen soll, und bringt sie dazu, über uns zu herrschen, wo sie doch selbst beherrscht werden sollen, damit wir bessere und glücklichere und nicht schlechtere und elendere Menschen werden.«) PLAT. rep. 605e3–5.

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ἰάμβων οὔτε κωμῳδίας θεατὰς θετέον, πρὶν ἢ τὴν ἡλικίαν λάβωσιν ἐν ᾗ καὶ κατακλίσεως ὑπάρξει κοινωνεῖν ἤδη καὶ μέθης, καὶ τῆς ἀπὸ τῶν τοιούτων γιγνομένης βλάβης ἀπαθεῖς ἡ παιδεία ποιήσει πάντως.228 Daher muss der Gesetzgeber ganz besonders das schändliche Sprechen völlig aus der Polis verbannen (denn vom leichtfertigen Aussprechen von Schändlichem kommt es schnell zur Ausführung): ganz besonders (muss er es) den Jungen austreiben, damit sie Derartiges weder sagen noch hören. Wenn man also gerade jemanden antrifft, wie er etwas Verbotenes sagt oder tut, so muss man ihn, wenn er ein Freigeborener ist, dem aber noch nicht das Sitzen am Tisch gestattet ist, mit Entehrungen und mit Schlägen bestrafen, wenn er dieses Alter hingegen schon überschritten hat, mit Entehrungen eines Unfreien wegen seines Sklavenverhaltens. Da wir aber das Aussprechen derartiger Dinge verbannen, verbannen wir selbstverständlich auch das Betrachten schändlicher Abbildungen und Aufführungen. Sorgfältig sollen die Herrscher daher dafür sorgen, dass nichts, weder eine Statue noch eine Abbildung, derartige Handlungen darstelle, außer in Anwesenheit solcher Gottheiten, bei denen das Gesetz auch Unflätigkeit erlaubt. Zu diesen (Festen) gestattet das Gesetz Männern, die das hinreichende Alter haben, für sich selbst wie auch für ihre Kinder und Frauen die Götter zu ehren; die Jüngeren aber sind nicht als Zuschauer von Jamben- und Kömodien(aufführungen) zugelassen, bevor sie das Alter erreicht haben, in dem es ihnen bereits gestattet ist, an gemeinsamen Mahlzeiten teilzunehmen und stark zu trinken, und in dem sie ihre Erziehung gänzlich unempfindlich gemacht hat für den Schaden, der aus derartigen Dingen entsteht.

An Aristoteles’ Behandlung der Obszönität ist zweierlei hervorzuheben: Die Ausführungen zur öffentlichen Obszönität finden sich im Rahmen der Kindererziehung (παιδεία) der idealen Polis. Ebenso wie auf die körperliche Entwicklung geachtet werden solle, müssten die Erzieher auch auf die Sprache achten, d.h. darauf, was die Kinder anhören dürfen, da dies eine Vorbereitung für den Unterricht darstelle. Dies führt Aristoteles zu der Forderung, dass das Aischrologische generell aus der Öffentlichkeit, zu der die Kinder ab dem siebten Lebensjahr Zugang haben, verbannt werden soll. Die Rolle, die die Erzieher im privaten Raum haben, ist im öffentlichen Raum von den Gesetzgebern zu übernehmen. Die Ablehnung des Obszönen geschieht hier also nicht so sehr aus ethischem denn aus pädagogischem Impetus. Im Gegensatz zu Platon besteht für Aristoteles eine Gefahr in der Konfrontation mit Obszönität im Nachahmungseffekt, denn auch was man sieht und hört, führe letztlich zum Handeln, zumindest bei Kindern. Die Einschränkung des Obszönen wird somit zum gesamtgesellschaftlichen Anliegen. Zweitens bildet das Theater auch bei Aristoteles eine Ausnahme, einerseits aus Tradition, andererseits da Jugendliche hier keinen Zutritt haben. Der Theaterbesuch fungiert somit gewissermaßen als Initiationsritus. Der ungefährdete Umgang mit dem Obszönen wird so zur Aufgabe der Erziehung und zum Kennzeichen des erwachsenen Mannes.229. Die Verträglichkeit von Alkohol bietet somit das Indiz für das Erwachsenenalter, das auch gegen das Obszöne resistent

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Der Jesuit Vavasseur beruft sich in seiner Ablehnung der Obszönität im Epigramm explizit auf diese Passage und zitiert den ersten Teil auf Griechisch und in lateinischer Übersetzung (Vavasseur 1669, 108). Dieser rite de passage basiert auf Aristoteles Lebensalterlehre (rhet. 1388b31–1390b13). Vgl. HOR. ars 158–179.

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(ἀπαθής) ist. Ekel gehört nach Aristoteles allerdings nicht zu den vom Drama zu bewirkenden Emotionen, da es als Visceralemotion andere emotionale Reaktionen (wie Mitleid und Furcht) unmöglich mache. 230 Auch bei Aristoteles kommt dem obszönen Witz eine sozialmoralische Komponente zu, die Fragen der Selbstregulation sowie des Ansehens bzw. der Scham beinhaltet.231 Ein ehrenwerter Bürger wird daher weder Verunglimpfung seiner selbst dulden – denn wenn man jemandem eine Schändlichkeit zu schreibe, würde es ihn nicht davon abhalten, diese auch zu tun – noch selbst maßlos und unterschiedlos über alles und jeden Witze machen. Der Komiker solle folglich eine mittlere Disposition haben, die nicht jede Gelegenheit zum Witz nutzt, sondern mit Taktgefühl, als Zeichen der Bildung (paideia), die einen freien Bürger von der Sklavennatur (ἀνδραποδώδης) und dem Ungebildeten (ἀπαίδευτος) unterscheidet, Obszönität vermeidet, so wie etwa in der neuen Komödie im Gegensatz zur Alten verfahren werde.232 2.2.2 Rhetorik der Distinktion: aptum, decorum und Humor Die rhetorische Theorie233 betrachtet das Obszöne aus einer edukatorischen und einer sozialdistinktiven Perspektive: Zum einen fungiert die Lektüre der alten Autoren, darunter auch der obszönen, zur eigenen Stil- und Ausdrucksbildung, und zum anderen betrifft sie den Sprachgebrauch des Redners selbst. In der Ausbildung des Redners nimmt in der ciceronisch-quintilianischen Tradition die Stilbildung durch die intensive Lektüre der klassischen Autoren, nicht nur der Redner, sondern auch der Philosophen, Geschichtsschreiber und Dichter, einen wichtigen Platz ein. Quintilian stellt diese attizistische Lehre, die in den alten Autoren den gesunden, männlichen (sanus, robur, vir, naturalis) und alltagsfernen attischen Stil sucht, der zeitgenössischen Mode (des manierierten Asianismus) derjenigen Redner gegenüber, die mehr auf Reize (lascivia, deliciae, voluptas), die den Geist leichter ansprechen, ausgelegt sind.234 230

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Vgl. ARISTOT. poet. 1453b38: »τό τε γὰρ μιαρὸν ἔχει, καὶ οὐ τραγικόν· ἀπαθὲς γάρ.« (»Es enthält nämlich Abstoßendes, d.h. Nicht-Tragisches. Es ruft nämlich keine Affekte hervor.«) Vgl. poet. 1452b35–36 und 1454a3; zur Rolle des Ekels in Aristoteles’ Poetik siehe Halliwell 2004, 225–226, der die ethische Dimension hervorhebt: »for Aristotle to miaron would represent a degree of existential ›nausea‹ that his theory of tragedy is not designed to embrace.« Zur Schamlosigkeit in der Komödie vgl. ARISTOT. poet. 1449a31–36. Zu Aristoteles Doppelkonzeption der Scham im Zusammenhang mit Obszönität und Ekel siehe (in Kürze) Wendt 2021. Vgl. ARISTOT. eth. Nic. 1127b33–1228b9. Vgl. generell Clarke 1996 [1953]. QVINT. inst. 10.1.43f.: »Nam quidam solos ueteres legendos putant, neque in ullis aliis esse naturalem eloquentiam et robur uiris dignum arbitrantur; alios recens haec lasciuia deliciaeque et omnia ad uoluptatem multitudinis imperitae composita delectant. Ipsorum etiam qui rectum dicendi genus sequi uolunt alii pressa demum et tenuia et quae minimum ab usu cotidiano recedant sana et uere Attica putant, quosdam elatior ingenii uis et magis concitata et plena spiritus capit, sunt etiam lenis et nitidi et compositi generis non pauci amatores.« (»Denn manche glauben, nur die Alten sollten gelesen werden, und sie meinen, dass es bei den anderen nicht die natürliche Beredsamkeit und die der Männer würdige Stärke gebe; andere erfreuen sich an dieser neumodischen Geziertheit und an leichter Unterhaltung und an allem, was zum Vergnügen der ungebildeten Masse hergestellt wird.

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Quintilian bezieht sich gleich zu Beginn der Institutio oratoria, im Rahmen der Erziehung der pueri, auf die Komödien Menanders,235 während er die anderen Komödiendichter zwar nicht ausschließt, aber auf ein höheres Alter aufschiebt, wenn die mores gefestigt seien.236 Die hier nicht namentlich erwähnten Komödiendichter sind die Dichter der Alten Komödie sowie Plautus, Terenz und die heute kaum bekannten Caecilius und Afranius.237 Auf die Alte Komödie kommt Quintilian in Buch 10, das die Lektüre-Liste des Redners beinhaltet, zurück: Antiqua comoedia cum sinceram illam sermonis Attici gratiam prope sola retinet, tum facundissimae libertatis, et si est ⟨in⟩ insectandis uitiis praecipua, plurimum tamen uirium etiam in ceteris partibus habet. Nam et grandis et elegans et uenusta, et nescio an ulla, post Homerum tamen, quem ut Achillem semper excipi par est, aut similior sit oratoribus aut ad oratores faciendos aptior. Plures eius auctores, Aristophanes tamen et Eupolis Cratinusque praecipui.238 Die Alte Komödie bewahrt fast allein jene unverfälschte Anmut sowohl der attischen Sprache als auch der redegewandtesten Freiheit, und auch wenn sie sich im Verhöhnen der Laster auszeichnet, so besitzt sie doch auch in den übrigen Teilen ein Höchstmaß an Kräften. Denn sie ist sowohl erhaben als auch fein und geistreich, und ich weiß nicht, ob irgendeine (Dichtung) – nach Homer jedoch, den man wie Achill immer als Ausnahme betrachten muss – entweder den Rednern näherkommt oder geeigneter ist, Redner hervorzubringen. Viele Autoren dieser (Gattung) gibt es, doch Aristophanes, Eupolis und Cratinus sind die hervorragendsten.

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Selbst von denen, die der richtigen Stilart folgen wollen, halten die einen nur das Knappe, Gezierte und möglichst wenig vom Alltagsgebrauch Abweichende für das Gesunde und wahrhaft Attische, manche (dagegen) ergreift eine erhabenere, leidenschaftlichere und von Inspiration erfüllte Geisteskraft; und dann gibt es zudem nicht wenige Liebhaber des sanften, gepflegten und ausgewogenen Stiles.«) Während Menander zu Lebzeiten meist seinen Konkurrenten Philemon and Diphilos unterlag, wurde er in der Folgezeit zum populärsten Autor der Neuen Komödie und avancierte zum meistgelesenen Schulautor unter den Komödiendichtern. Vgl. Marrou 1956, 156; 163; 188; Cribiore 2001, 194–201; Wissmann 2010, 69–71; Papaioannou 2015, 61–65. QVINT. inst. 1.8.7f.: »Comoediae, quae plurimum conferre ad eloquentiam potest, cum per omnis et personas et adfectus eat, quem usum in pueris putem paulo post suo loco dicam: nam cum mores in tuto fuerint, inter praecipua legenda erit. De Menandro loquor, nec tamen excluserim alios: nam Latini quoque auctores adferent utilitatis aliquid; sed pueris quae maxime ingenium alant atque animum augeant praelegenda: ceteris, quae ad eruditionem modo pertinent, longa aetas spatium dabit.« (»Welchen Nutzen ich der Komödie, die ja am meisten zur Beredsamkeit beitragen kann, da sie sämtliche Charaktere und Affekte durchläuft, für die Jungen [sc. im Unterricht] zuschreibe, will ich in Kürze an entsprechender Stelle sagen; denn wenn das Betragen einmal gesichert ist, wird sie zu den geeignetsten Lektüren gehören. Über Menander spreche ich dabei, möchte aber dennoch andere nicht ausschließen. Denn auch lateinische Autoren werden etwas an Nützlichkeit beitragen. Den Jungen müssen aber Dinge vorgelesen werden, die vor allem den Geist nähren und den Charakter entwickeln. Für die übrigen Dinge, die nur die Gelehrtheit betreffen, wird die lange Lebenszeit (noch genügend) Raum bieten.« Die spätere Stelle, von der Quintilian hier spricht, ist QVINT. inst. 10.1.69; siehe hierzu unten Anm. 241. Plautus und Terenz scheinen in der Zeit des Horaz bereits Schulautoren gewesen zu sein (vgl. HOR. epist. 2.1.58–62). Zur Bedeutung der Kategorie ars in der dortigen Charakterisierung von Terenz siehe Brink 1982, 110f. QVINT. inst. 10.1.65. Zu Quintilians Konzeption der Kraft (vis) vgl. Borghardt 2020, 191–209.

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Quintilian lobt an der Alten Komödie, als deren hervorragendste Vertreter er Aristophanes, Eupolis und Cratinus nennt,239 den Attischen Stil, die Redefreiheit und die Sozialkritik (insectandis vitiis). Generell sei die Komödie äußerst nützlich für die Ausbildung des Redners, da der Komödienstil der Rede am nächsten stehe, insbesondere in der Ansprache der Affekte. Gelobt wird elegantia (›Ausgewähltheit des Ausdrucks‹, auch ›Sprachreinheit‹). 240 An höchster Stelle steht ihm allerdings Menander, dessen Realismus (vitae imago) er in Anlehnung an den Ausspruch des Aristophanes von Byzanz lobt.241 Die Obszönität der Texte empfindet Quintilian also im Rahmen der Ausbildung zumindest für die höheren Klassen als unproblematisch. Cicero wertet die (Neue) Komödie ebenfalls als imitatio vitae und schreibt ihr einen erzieherischen Nutzen zu.242 Besonders stolz ist Quintilian bekanntlich wiederum auf die Gattung der Satire als einer römischen Erfindung. Im Rahmen des Lektüre-Kanons nennt er Lucilius, Horaz und Persius, seinen Zeitgenossen Juvenal erwähnt er nicht. An Lucilius lobt er, entgegen der harschen horazischen Kritik als Vielschreiber, dessen libertas und acerbitas, die er auch Catull und den Epoden des Horaz zuschreibt, sowie seinen Witz (sal). Dass Lucilius auch obszöne Verse geschrieben hat, ist aus den Fragmenten und auch aus Quintilians Urteil nicht ersichtlich. 243 Horaz lobt er als purus. Die extensive Lektüre der alten Autoren dient, so Quintilian zu Beginn des 10. Buches, vornehmlich dazu, einen möglichst großen Wortschatz zu erlangen und auf 239

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Diese Trias wird auch von Horaz zu Beginn von sat. 1.4., in der er die römische Satire von der Alten Komödie ableitet, genannt (»Eupolis atque Cratinos, Aristophanesque poetae«). Zum Verhältnis der horazischen Satire zur Komödie siehe Heldmann 1987, zu den in der römischen Satire wirksamen Traditionen der Alten Komödie siehe Ferris-Hill 2015. Vgl. QVINT. inst. 1.8.8: »Multum autem ueteres etiam Latini conferunt, quamquam plerique plus ingenio quam arte ualuerunt, in primis copiam uerborum: quorum in tragoediis grauitas, in comoediis elegantia et quidam uelut atticismos inueniri potest. « (»Vieles jedoch tragen auch die alten lateinischen Autoren bei, obwohl die meisten ihre Stärke mehr im Talent denn in der Kunstfertigkeit haben, vor allem die Fülle an Wörtern, von denen man in den Tragödien Erhabenheit, in den Komödien Gewähltheit und so etwas wie Attizismen finden kann.«) Wie Ax vermutet bezieht sich das Lob der elegantia wohl auf Terenz, dessen Schriften QVINT. inst. 1.10.100 explizit in hoc genere elegantissima (»in dieser Gattung die gewähltesten«) genannt werden. Vgl. hierzu Ax 2011, 373f.: »elegantia bedeutet, wie Cicero vom Sprachstil Caesars Brutus 261 berichtet, sorgfältige, auf grammatischem Wissen beruhende Wortwahl mit dem Ziel der Sprachreinheit (latinitas, puritas, elegantia verborum Latinorum).« QVINT. inst. 10.1.69: »Menander, qui uel unus meo quidem iudicio diligenter lectus ad cuncta quae praecipimus effingenda sufficiat: itaomnem uitae imaginem expressit, tanta in eo inueniendi copia et eloquendi facultas, ita est omnibus rebus personis adfectibus accommodatus.« (»Menander, der, zumindest nach meinem Urteil, wenn man ihn nur gründlich liest, genügt, um die Fähigkeiten, die wir lehren, auszubilden. Ein so umfassendes Bild des Lebens hat er dargestellt, so groß ist bei ihm die Erfindungsfülle und die Ausdrucksfähigkeit, so sehr passt er sich allen Gegebenheiten, Figuren und Affekten an.«) CIC. rep. 4. frg. 11.13 (Ziegler) [=Donat. De com.5.1]: »Comoediam esse Cicero ait imitationem vitae, speculum consuetudinis, imaginem veritatis«. (»Die Komödie, sagt Cicero, ist Nachahmung des Lebens, Spiegel der Sitten, Abbild der Wahrheit.«) Vgl. Chalkomatas 2007, 136–140. Zur erzieherischen Wirkung der Komödie in der Zeit der späten Republik siehe Blänsdorf 1974. Vgl. Adams 21990 [1982], 221.

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verschiedenen Stilebenen immer das passende Wort zur Verfügung zu haben. Die Lektüre speziell der Dichter diene ferner als Ausgleich zur täglichen Arbeit auf dem Forum, zur Regeneration des Geistes. 244 Allerdings gilt dies nicht uneingeschränkt: einige wenige Wörter aus dem Iambus und der Alten Komödie, und zwar die zu wenig schamhaften (parum verecunda), hätten keinen Platz in einer Rede.245 Es ist dies also nicht aus moralischen Gesichtspunkten der Erziehung, sondern im Hinblick auf die rednerische Praxis hin gesagt. Die rhetorische Praxis und Theorie betrachtet das Obszöne zunächst aus der Perspektive der Angemessenheit (aptum), d.h. der Frage, welcher Stil für welchen Gegenstand und für welchen Adressaten angebracht ist. Mermal des genus subtile ist die Schlichtheit (simplicitas). Denn eine einfache Ausdrucksweise im Sinne der Klarheit (claritas) ziehlt auf die Verstandestätigkeit ab, während der Redeschmuck (ornatus) vornehmlich zur Gemütsbewegung geeignet ist. In der Wahl der richtigen Worte (elocutio)246 ist zwar Deutlichkeit (perspicuitas) und Eigentlichkeit (proprietas), d.h. die Richtigkeit der Bezeichnung (sua cuiusque rei appellatio) gefordert, dieser Anspruch findet jedoch seine Grenze im Obszönen, 247 da die Verwendung von Obszönitäten unterhalb der dignitas des Redners sei und mithin zu einem Rangverlust führe. Das Obszöne spielt vor allem in der Performanz des Redners eine Rolle. Ebenso wie die Gestik, die im Theater üblich ist, für den Gerichtssaal unpassend sei, solle dort auch Obszönität vermieden werden, und zwar nicht nur in den Worten, sondern auch in der Bedeutung,248 d.h. auch im humorvollen Tadel sind entsprechende Umschreibungen 244 245

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Vgl. QVINT. inst. 10.1.27. QVINT. inst. 10.1.9: »Omnibus enim fere verbis, praeter pauca quae sunt parum verecunda, in oratione locus est. Nam scriptores quidem iamborum veterisque comoediae etiam in illis saepe laudantur.« (»Denn für fast alle Wörter, außer den wenigen, die zu wenig schamhaft sind, gibt es Platz in der Rede. Tatsächlich werden allerdings die Verfasser von Iamben und der alten Komödie sogar bei jenen oft noch gelobt.«) Im Zusammenhang mit den regenerativen Eigenschaften der Dichterlektüre wiederholt er diese Einschränkung des Nutzens der Dichtung (QVINT. inst. 10.1.28): »Meminerimus tamen non per omnia poetas esse oratori sequendos, nec libertate uerborum nec licentia figurarum«. (»Wir wollen uns hingegen daran erinnern, dass der Redner den Dichtern nicht in allem folgen darf, weder in der Freiheit der Worte noch in der Ungebundenheit der Redefiguren«.) Im Bereich der elocutio sollen gesuchte, affektierte Wörter (verba molesta) vermieden werden. Das Prinzip der dissimulatio verlangt eine puristische Rhetorik, die dem genus tenue angemessen ist. Denn Affekte werden nach diesem Modell durch Affektübertragung erregt. QVINT. inst. 8.2.1f.: »Perspicuitas in uerbis praecipuam habet proprietatem, sed proprietas ipsa non simpliciter accipitur. Primus enim intellectus est sua cuiusque rei appellatio, qua non semper utemur. Nam et obscena uitabimus et sordida et humilia. Sunt autem humilia infra dignitatem rerum aut ordinis. (»Die Deutlichkeit in den Wörtern weist eine besondere Eigentümlichkeit auf, doch Eigentümlichkeit selbst kann man nicht nur auf eine Weise auffassen. Ihre erste Bedeutung ist nämlich die einer jeden Sache eigene Benennung, welche wir (aber) nicht immer gebrauchen. Denn sowohl Obszönes als auch Unflätiges und Ordinäres werden wir meiden. Ordinär aber meint unterhalb der Würde der Gegenstände und der Stellung.« QVINT inst. 6.3.29f.: »Oratori minime conuenit distortus uultus gestusque, quae in mimis rideri solent. Dicacitas etiam scurrilis et scaenica huic personae alienissima est: obscenitas uero non a uerbis tantum abesse debet, sed etiam a significatione. Nam si quando obici potest, non in ioco exprobranda est. Oratorem praeterea ut dicere urbane uolo, ita uideri adfectare id plane nolo.« (»Zu einem Redner passen verzerrte Mimik und Gestik ganz und

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und Zweideutigkeiten zu vermeiden.249 Auch vor dem Kakemphaton, dem möglichen Heraushören eines obszönen Nebensinnes, etwa als Metapher für sexuelle Akte, müsse sich der Redner in Acht nehmen. Diese Sonderform der obscuritas führe nicht nur ins Dunkel, sondern lasse die Wahl zwischen zwei Sinnen (amphibolia/ambiguitas).250 Bei Ovid und Vergil hätten etwa manche Interpreten hinter ganz harmlosen Worten einen obszönen Sinn gesehen. 251 Dies gehe soweit, dass auch Wörter, die durch Teilung (divisio) in Homonymie ein obszönes Wort ergeben (wie intercapedo, das das Wort pedo ›furzen‹ enthielte), vermieden werden sollen. 252 Der Anspruch ist daher, es unmöglich zu machen, in den Worten einen obszönen Sinn ausfindig zu machen. Quintilian konzipiert so die Rezeptionshaltung eines böswilligen Interpreten, der nach obszönem Sinn sucht, und vor dem sich der Redner oder Autor schützen müsse. 253

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gar nicht. Darüber wird für gewöhnlich bei den Mimendarstellern gelacht. Der beißende Scherz der Possenreißerei oder der Bühne ist dieser Rolle am fremdesten. Obszönität muss doch nicht nur von den Wörtern, sondern auch von der Bedeutung fernbleiben. Denn wenn sie einmal (jemandem) vorgeworfen werden kann, so sollte sie nicht in Form eines Witzes getadelt werden. Wie ich ferner will, dass ein Redner ›großstädtisch‹ spricht, so will ich nicht, dass er geradezu darauf abzuzielen scheint.«) Zum Thema Zweideutigkeiten siehe auch RHET. Her. 1.10; CIC. de orat. 2.253. Zum Kakemphaton als Verstoß nicht nur gegen die perspicuitas, sondern auch gegen den ornatus siehe Lausberg 31990, 514, § 1070. Vgl. Lausberg ³1990, 474, § 964. QVINT. inst. 8.3.46f.:»[D]iuisio quoque adfert eandem iniuriam pudori, ut si ›intercapedinis‹ nominatiuo casu quis utatur. Nec scripto modo id accidit, sed etiam sensu plerique obscene intellegere, nisi caueris, cupiunt (ut apud Ouidium ›quaeque latent meliora putant‹) et ex uerbis quae longissime ab obscenitate absunt occasionem turpitudinis rapere. Siquidem Celsus cacemphaton apud Vergilium putat: ›incipiunt agitata tumescere‹: quod si recipias, nihil loqui tutum est.« (»Auch die Wortteilung fügt dem Schamgefühl dieselbe Verletzung zu [sc. wie in den anderen beiden Fällen des Kakemphatons], wie z.B. wenn jemand ›intercapedinis‹ im Nominativ benutzen sollte. Und dies geschieht nicht nur im Geschriebenen, sondern sehr viele sind auch darauf aus, etwas dem Sinn nach auf obszöne Weise zu verstehen, wenn man nicht aufpasst (wie es bei Ovid heißt: ›alles, was verborgen ist, halten sie für besser‹ [= met. 1.502]), und aus Wörtern, die weit von Obszönität entfernt sind, die Gelegenheit zu einer Schändlichkeit zu ergreifen. Wenn etwa Celsus [frg. Rhet. 13 Marx, D.W.] ein Kakemphaton bei Vergil vermutet: ›Aufgeregt beginnt sie [sc. die Meeresbrandung] zu schwellen‹ [=georg. 1.357, D.W.]; wenn man das akzeptiert, gibt es nichts mehr, was man sicher sagen kann.«). Es fällt auf, dass Quintilian hier dieselben Beispiele bringt wie Cicero in fam. 9.22 (siehe Anm 123), er macht gar den Begriff der divisio zum terminus technicus. Während Cicero allerdings den Begriff intercapedo direkt benutzt, vermeidet Quintilian ihn und umschreibt ihn morphologisch (wie es Cicero sonst auch tut), überlässt ihn also gänzlich der Erschliessung durch den Leser. Vgl. QVINT. inst. 8.3.46: »Aliae quoque coniunctiones aliquid simile faciunt, quas persequi libenter est in eo uitio quod uitandum dicimus commorantis.« (»Andere Verbindungen machen etwas Ähnliches. Sie ausführlich zu beschreiben, macht den Verweilenden bereitwillig genau des Fehlers schuldig, von dem ich sage, er müsse vermieden werden«). Während Cicero jedoch den Begriff divisio selbst als Beispiel anführt und die entsprechenden Formen nennt, scheint Quintilian hier die Möglichkeit eines Kakemphaton gar nicht in den Sinn zu kommen. QVINT. inst. 8.3.44f.: »[Q]uoniam uitia prius demonstrare adgressi sumus, ab hoc initium sit quod cacemphaton uocatur: siue mala consuetudine in obscenum intellectum sermo detortus est, ut ›ductare exercitus‹ et ›patrare bellum‹ apud Sallustium dicta sancte et antique ridentibus, si dis placet (quam culpam non scribentium quidem iudico sed legentium, tamen uitandam, quatenus uerba honesta moribus perdidimus et uincentibus etiam uitiis cedendum est), siue iunctura deformiter sonat, ut, si cum hominibus notis loqui nos dicimus, nisi hoc ipsum 'hominibus' medium sit, in praefanda uidemur incidere, quia

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Gerade Ovid hat allerdings in seiner Liebesdichtung die Kunst des dire sans dire perfektioniert und spielt mit Metaphorik, Anspielungen und Abbrüchen, die explizit die Mitarbeit des Lesers erfordern.254 In Buch 8 beschreibt Quintilian die Funktionsweise dieser Literatur, die der Interpretation und der Mitarbeit des Lesers bedarf: [P]eruasit […] iam multos ista persuasio, ut id [iam] demum eleganter atque exquisite dictum putent quod interpretandum sit. Sed auditoribus etiam nonnullis grata sunt haec, quae cum intellexerunt acumine suo delectantur, et gaudent non quasi audierint sed quasi inuenerint.255

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ultima prioris [ultimae] syllabae littera, quae exprimi nisi labris coeuntibus non potest, aut intersistere nos indecentissime cogit aut [non] continuata cum insequente in naturam eius corrumpitur.« (»Da wir uns aber daran gemacht haben, zuerst die Fehler darzulegen, so sei der Anfang von dem her genommen, was Kakemphaton [›das schlecht Klingende‹, D.W.) genannt wird: Dabei hat sich entweder (1) durch schlechte Gewohnheit die Redeweise zu einem obszönen Verständnis verkehrt, wie für die‚ die bei Ausdrücken wie ductare exercitus [›Heere anführen‹] und patrare bellum [›mit dem Krieg fertig werden‹], die bei Sallust im tadellosen und altehrwürdigen Sinne verwendet wurden, – man sollte es kaum glauben! – in Gelächter ausbrechen (was nach meinem Urteil nicht das Verschulden der Verfasser, sondern der Leser ist, aber nichtsdestotrotz zu vermeiden ist, insofern wir die sittlich guten Wörter verloren haben und wir uns den siegreichen Fehlern fügen müssen ) oder (2) eine Junktur klingt missgestaltet: Wenn wir z. B. sagen, dass wir cum hominibus notis loqui [mit bekannten Menschen sprechen], außer dass eben dieses hominibus nicht in der Mitte steht, dann scheinen wir auf einen Ausdruck zu verfallen, dem wir (etwas Entschuldigendes) vorausschicken müssten, weil uns der letzte Buchstabe der ersten Silbe [sc. das m von cum, D.W.], der nicht ausgesprochen werden kann, ohne die Lippen zu schließen, entweder dazu zwingt, aufs Unschicklichste eine Pause zu machen, oder, wenn er mit dem nächsten (Buchstaben) verbunden wird [das n von notis, D.W.], auf dessen Gestalt hin entstellt wird.«) Zur Erklärung: (1) Das Verb ductare wird ebenfalls häufig im konkreten Sinne von ›(eine Prostituierte) heimführen‹ (vgl. TER. Phorm. 500) benutzt; im Begriff exercitus, der allgemein auch eine Gruppe bezeichnen kann, mag auch die Bedeutung ›geübt‹, ›geschult‹ (zu exercere) mitschwingen, was wiederum zur Prostitution passen würde; die Junktur aus partrare in der Bedeutung ›(einen sexuellen Akt) beenden‹ und bellum (›Krieg‹, aber auch ›einen schönen [sc. Jungen]‹) ergibt eine Zweideutigkeit. Ich lese hier mit den frühneuzeitlichen Editionen (etwa ed. Sichard, Basel 1529) und Russells Loeb-Edition bellum statt bella (so bei Winterbottom und Rademacher) mit Verweis auf SALL. Iug. 21.2, zur Erklärung der Zweideutigkeit vgl. Burman 1720, t. 2, 695, zum Ausdruck auch Adams 21990 [1982], 143, Anm.2. (2) Die Gewohnheit, die Wörter beim Sprechen miteinander zu verbinden (eine Pause zwischen den Wörtern zu machen, gilt als unschicklich), führt bei der Verbindung cum und notis unweigerlich zu einer Assimiliation der Konsonanten (cum notis > cunnotis) und ergibt einen Anklang an cunnus (›Fotze‹). Die Konsontenassimilation wird hier von Quintilian interessanterweise in moralisch konnotierten Termini beschrieben, die gleichermaßen die Wirkung auf den Rezipienten bewerten (natura, corrumpere). Cicero erklärt mit demselben Argument, warum es nobiscum und nicht cum nobis heiße (CIC. orat. 154). Stroh macht Ovid gar zum Erfinder dieser Kunst: »Er ist, jedenfalls in Rom der eigentliche Erfinder dessen, was man in der frühen Neuzeit schon die galante Sprache genannt hat, also der Kunst, das Unanständige durch eben seine Verhüllung nur um so lockender und reizvoller zu machen.« (Stroh 2000, 46). Dieses Urteil ist sicherlich übertrieben, ähnliche Techniken finden sich auch bei Ovids Vorgängern Tibull und Properz. Vgl. Schmitz 1998, 323, zur Tradition des Abbruchs einer (erotischen) Erzählung, ebd. 330–334. QVINT. inst. 8.2.21.

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Moderne Obszönität und antike Texte Viele hat nun die Überzeugung durchdrungen, dass sie erst das für gewählt und sorgfältig ausgedrückt halten, was gedeutet werden muss. Doch manchen Zuhörern sind auch diejenigen Ausdrücke willkommen, die verstanden zu haben, sie sich ihres eigenen Scharfsinns erfreuen, und sie freuen sich, als hätten sie es nicht gehört, sondern es sich selbst ausgedacht.

Die Vorstellung, dass der Text durch die Mitarbeit überzeugender wirkt und zu einer partiellen Identität zwischen Leser und Autor führt,256 ist verwandt mit der energeia bzw. phantasia/visiones-Lehre, die in der rhetorischen Tradition von Aristoteles bis Quintilian eine bedeutende Rolle spielen.257 Besonders lebhafte Schilderungen sollen dazu führen, dass sich die Zuhörer das Dargestellte gezwungenermaßen wie im Theater vorstellen (ante oculos), was insbesondere zur Steuerung der Affekte benutzt werden kann. 258 Quintilian betont die Macht bzw. Kraft (vis) des Redners, die mit dieser Technik einhergeht. Im Zusammenhang mit dem Gebrauch von Metaphorik geht Quintilian erneut auf Obszönität ein. Er widerspricht der stoischen Lehre, dass die Wörter selbst nicht obszön seien, und dass die Frage der Obszönität (deformitas) einer Sache unabhängig von ihrer Bezeichnung sei. Quintilian gesteht Wörtern zwar eine gewisse schmückende, d.h. verdeckende Funktion zu. Obszönität aber sei verbale Nacktheit (nuda nomina) und widerspreche der römischen Scham (pudor Romanus).259 Auch für Cicero steht das Obszöne vor allem im Gegensatz zum decorum (›Schicklichkeit‹). Zwar erklärt er in dem bereits besprochenen Brief die stoische Lehre, jedoch ist er, wie die Sprache des Briefes verdeutlicht, selbst der Ansicht, verbale Obszönität

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Ähnlich argumentiert Iser (21979 [1970], 236), der derartige Mittel als Leerstellen ansieht, die »einen Anteil am Mitvollzug und an der Sinnkonstruktion des Geschehens [gewähren]. Räumt ein Text diese Chance ein, so wird der Leser die von ihm komponierte Einheit nicht nur als wahrscheinlich, sondern auch für real halten. Denn wir sind im allgemeinen geneigt, das von uns Gemachte als wirklich zu empfinden.« Wayne Booth (1988, 298–304; 1974, 39– 43) hat in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung des Uneigentlichen Sprechens hingewiesen. Vgl. Schmitz 1998, 334–336. Vgl. Webb 1997. Am Ende seiner Behandlung der Emotionen vergleicht Quintilian diese Art der Rede explizit mit dem Theater (QVINT. inst. 6.2.35f). QVINT. inst. 8.3.38f.: »[D]e singulis uerbis satis dictum, quae, ut alio loco ostendi, per se nullam uirtutem habent. Sed ne inornata [quae] sunt quidem, nisi cum sunt infra rei de qua loquendum est dignitatem, excepto si obscena nudis nominibus enuntientur. Quod uiderint qui non putant esse uitanda quia nec sit uox ulla natura turpis, et, si qua est rei deformitas, alia quoque appellatione quacumque ad intellectum eundem nihilo minus perueniat. Ego Romani pudoris more contentus etiam respondendi talibus uerecundiam silentio uindicabo.« (»Über einzelne Wörter ist genug gesagt. Sie haben, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, an sich keine (rhetorische) Kraft. Doch sind sie jedenfalls auch nicht gänzlich ohne Schmuck, wenn sie nicht unterhalb der Würde der Sache sind, über die man sprechen soll; ausgenommen, wenn Obszönitäten mit den nackten Bezeichnungen ausgedrückt werden sollen. Das mögen die einsehen, die nicht glauben, dass diese gemieden werden müssten, weil keine Äußerung von Natur aus abstoßend ist, und, wenn es eine Entstellung in der Sache gibt, man auch mit jeder beliebigen anderen Bezeichnung um nichts weniger zum selben Verständnis gelangen kann. Ich persönlich will mich mit der Sitte der römischen Scham begnügen und für mich die Zurückhaltung in Anspruch nehmen, solchen Leuten mit Schweigen zu antworten.«)

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müsse vermieden werden. 260 In De officiis (44 v. Chr.) begründet er die verecundia (›Schamgefühl‹) mit einem Naturvergleich; er legt dar, dass etwa die Körperteile nicht an sich unanständig seien, aber auch die Natur die Genitalien und den Anus außerhalb des Sichtfeldes platziert habe. In Analogie dürften diese Körperteile auch nicht von anständigen, d.h. gesunden Bürgern (qui sana mente sunt) direkt und offen benannt werden (suis nominibus appellare), sondern müssten auch sprachlich verborgen werden (occultare). Cicero unterscheidet hier die Verwendung der Genitalien und das Sprechen darüber. 261 Es wird hier ein distinktiver Impetus deutlich, der über einen Naturvergleich das Obszöne und Unanständige in den Bereich der Krankheit rückt. Vor diesem Hintergrund nimmt Cicero auch eine Theoretisierung des Humors als Waffe des Redners vor.262 Cicero definiert zu Beginn des Dialoges De Oratore (55 v. Chr.) den geistreichen Witz (facetiae) als Teil der Bildung, die eines freien Mannes würdig ist (eruditio libero digna).263 Dieser soziale Aspekt der Rhetorik sieht in der 260

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So etwa auch in der Humortheorie (de orat. 2.236): »haec enim ridentur vel sola, vel maxime, quae notant et designant turpitudinem aliquam non turpiter« (»Denn man lacht einzig oder am meisten über das, was irgendeine Anstößigkeit auf unanstößige Weise benennt und darstellt.«) CIC. off. 1.126–127: »Sed quoniam decorum illud in omnibus factis dictis, in corporis denique motu et statu cernitur, idque positum est in tribus rebus, formositate, ordine, ornatu ad actionem apto, difficilibus ad eloquendum, sed satis erit intellegi, in his autem tribus continetur cura etiam illa, ut probemur iis quibuscum apud quosque vivamus, his quoque de rebus pauca dicantur. Principio corporis nostri magnam natura ipsa videtur habuisse rationem, quae formam nostram reliquamque figuram, in qua esset species honesta, eam posuit in promptu, quae partes autem corporis ad naturae necessitatem datae aspectum essent deformem habiturae atque turpem, eas contexit atque abdidit. Hanc naturae tam diligentem fabricam imitata est hominum verecundia. Quae enim natura occultavit, eadem omnes qui sana mente sunt removent ab oculis, ipsique necessitati dant operam ut quam occultissime pareant; quarumque partium corporis usus sunt necessarii, eas neque partes neque earum usus suis nominibus appellant, quodque facere non turpe est, modo occulte, id dicere obscenum est. Itaque nec actio rerum illarum aperta petulantia vacat nec orationis obscenitas.« (»Aber da sich jene Schicklichkeit in allen Taten, Aussagen und schließlich auch in der Köperbewegung und -haltung zeigt und auf drei Dingen beruht, nämlich Schönheit, Stellung und einem zum Handeln passenden Schmuck, – man kann das nur schwer (mit Worten) ausdrücken, aber es wird genügen, dass es verstanden wird – und da auf diesen drei Dingen auch jenes Bemühen beruht, von denen anerkannt zu werden, mit denen und bei denen wir leben, sollen auch darüber wenige Worte gesagt werden. Gleich zu Anfang scheint die Natur selbst die Anordnung unseres Körpers sorgfältig abgewogen zu haben: sie platzierte unser Gesicht und die übrige äußerliche Erscheinung, sofern sie ein anständiges Aussehen hatte, sichtbar; sie bedeckte und verbarg dagegen diejenigen Körperteile, die uns für natürliche Bedürfnisse gegeben wurden und einen unschönen und abstoßenden Anblick geboten hätten. Diese so sorgfältige Findigkeit der Natur ahmte das Schamgefühl der Menschen nach. All das nämlich, was die Natur verborgen hat, entziehen alle, die bei gesundem Verstand sind, den Blicken (der anderen) und geben sich Mühe, dem Bedürfnis selbst möglichst im Verborgenen zu dienen. Und bei denjenigen Teilen des Körpers, deren Gebrauch notwendig ist, benennen sie weder die Teile noch deren Gebrauch mit eigenen Bezeichnungen. Und wo die Tätigkeit nicht schändlich ist (sofern verborgen), da ist das Sprechen darüber obszön. Deshalb ist weder die offene Verrichtung jener Dinge noch die Obszönität der Rede frei von Dreistigkeit.«) Vgl. hierzu Fantham 2004, 186–208; Chalkomatas 2007, 140–150. CIC. de orat. 1.17: »omnis vis ratioque dicendi in eorum qui audiunt mentibus aut sedandis aut excitandis expromenda est. accedat eodem oportet lepos quidam facetiaeque et eruditio libero digna celeritasque et brevitas et respondendi et lacessendi subtili venustate atque

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dignitas des Redners ein wichtiges Momentum. Der Redner ist charakterisiert als charmant und schlagfertig. 264 Obszönes Sprechen ist wiederum einem Römer der Nobilität nicht angemessen. Der ehrbare Humor der Nobilität ist geprägt von urbanitas; sie stellt das stadtrömische Sprachideal dar,265 gegenüber dem sermo rusticus bzw. plebeius, 266 und ist auch sozial und moralisch konnotiert. Cicero unterscheidet (wie schon in der Diskussion der obscenitas) Witz, der aus der Sache (res) und den Wörtern (verba) entsteht.267 Grundsätzlich sollten die Fehler der Menschen, nicht die Personen selbst Gegenstand des Witzes sein. 268 Die spaßhafte Nachahmung einer Person durch Worte oder Gestik ist zwar generell ein probates Mittel, findet aber ihre Grenze, wenn sie sich mit dem Mimus oder der ethologia, der derben Charakterdarstellung, berührt269: Atqui ita est totum hoc ipso genere ridiculum ut cautissime tractandum sit. mimorum est enim et ethologorum, si nimia est imitatio, sicut obscenitas. orator surripiat oportet imitationem ut is qui audiet cogitet plura quam videat; praestet idem ingenuitatem et ruborem suum verborum turpitudine et rerum obscenitate vitanda.270

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urbanitate coniuncta.« (»Jegliche Kraft und Methode des Redens muss sich darin entfalten, die Gemüter der Zuhörer entweder zu besänftigen oder zu erregen. Dazu sollen ein gewisser Esprit und Witz treten und Bildung, die eines freien Mannes würdig ist, Schlagfertigkeit und Kürze in der Erwiderung und im Angriff, verbunden mit feiner Anmut und städtischer Lebensart.«) Vgl. CIC. de orat. 2.252: »detractis igitur tot rebus ex hoc oratorio loco facetiae reliquae sunt, quae aut in re, ut ante divisi, positae videntur esse aut in verbo. nam quod, quibuscumque verbis dixeris, facetum tamen est, re continetur; quod mutatis verbis salem amittit, in verbis habet leporem omnem.« (»Nachdem also so viele Dinge aus diesem Gebiet der Rede [sc. dem Einsatz von Humor] genommen wurden [sc. sich aufführen wie ein Faxenmacher, Nachäffen, Grimassenschneiden und Obszönität] bleiben noch die geistreichen Scherze, die – wie ich es zuvor unterteilt habe – entweder auf der Sache zu beruhen scheinen oder auf dem Wort; denn etwas, das egal mit welchen Wörtern man es sagt, dennoch witzig ist, ist durch die Sache bedingt; etwas, das nach Änderung der Worte seinen Witz verliert, hat seinen gesamten Esprit in den Wörtern«). Zu Grimassen als unwürdigem Äußeren vgl. CIC. fin.5.49. Vgl. CIC. de orat. 2.236. Für die Begriffsbildung urbanus/urbanitas (als Ableitung von urbs [sc. Roma]) sowie die Verwendung als rhetorisches Ideal nimmt Cicero eine Schlüsselstellung ein. Vgl. CIC. Brut. 170f.; de orat. 3.42–44; ferner LIV. 10.4.9. Vgl. Müller 2001, 219–230. CIC. de orat 2.248: »haec igitur sit prima partitio: quod facete dicatur, id alias in re habere, alias in verbo facetias«. (»Dies also sei die erste Einteilung: Denn was witzig gesagt wird, birgt teils den Scherz in der Sache, teils im Ausdruck«). Vgl. ebd. 2.252. CIC. de orat. 2.238. Vgl. CIC. de orat. 2.251. »atque hoc etiam animadvertendum est non esse omnia ridicula faceta. quid enim potest tam ridiculum quam sannio est? sed ore, vultu, imitandis moribus, voce, denique corpore ridetur ipso. salsum hunc dicere atque ita, non ut eius modi oratorem esse velim, sed ut mimum.« (»Und man muss auch darauf Acht geben, dass nicht alles, was Lachen erregt, witzig ist. Denn was kann so sehr Lachen erregen wie ein Faxenmacher? Man lacht jedoch wegen des Gesichts, der Miene, des Nachäffens von Bewegungen, der Stimme, kurz: man lacht wegen des Körpers selbst. Witzig könnte ich ihn nennen, und zwar mit der Einschränkung, dass ich nicht möchte, dass ein Redner von dieser Art ist, sondern ein Mimus.«) CIC. de orat. 2.242.

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Das Ganze [sc. Roscius, der einen alten Mann spielt] ist nun aber an sich so lustig, dass man es äußerst vorsichtig anwenden sollte. Es ist nämlich Kennzeichen der Mimen und der Darsteller von Charaktertypen, wenn die Nachahmung übertrieben wird, ebenso wie Obszönität. Der Redner soll Nachahmung verstohlen anwenden, damit der Zuhörer sich mehr vorstellt als er sieht. Ebenso soll er seinen Stand als Freigeborener und sein Schamgefühl zeigen, indem er die Anstößigkeit der Worte und die Obszönität der Dinge meidet.

Solch obszöner Witz sei, so schließt Cicero seine Behandlung der zu vermeidenden Witze, weder für das Forum noch für ein Gastmahl angemessen.271 Sowohl in der Sache als auch in den Wörtern soll also der Redner das Obszöne meiden, stattdessen die Imagination ansprechen. Auch hier wird dem Sehen ein Vorrang vor dem Hören zugeschrieben. Ciceros und Quintilians rhetorische Theorien des Obszönen betrachten den Redner, dessen Sprache und Auftreten durch ein Standesbewusstsein geprägt ist, als von Scham (pudor) und Würde (dignitas) bestimmt. Der Rezipient und die Möglichkeiten einer obszönen Interpretation stellen demnach gleichsam eine Gefahr für diese dar. Die rhetorische Behandlung des Obszönen ist von einem Impetus sozialer Distinktion geprägt. Diese kommt insbesondere in Fragen des Humors zum Tragen, da der Redner hier in die Nähe der Komödie und des Mimus tritt. Beide Theoretiker trennen daher den urbanen und schamhaften Humor der Redner als Männer der Nobilität (liberi, boni) von dem obszönen der Mimen-Schauspieler (mimi, ethologi). Dem vir bonus wird von der Rhetorik eine starke Verantwortung in der Wahl seiner Worte zugeschrieben, was die Wortwahl und rhetorischen Möglichkeiten erheblich einschränkt. 2.2.3

Autorschaft und Autonomie der Dichtersprache

Gegen diese Verantwortung und starke Einschränkungen der Sprache setzen sich vor allem Catull (1. Jhdt. v. Chr.), als etwas jüngerer Zeitgenosse Ciceros, und circa eineinhalb Jahrhunderte später Martial (40–103/4 n. Chr.) zur Wehr. Die Behandlung der Obszönität in der Rhetorik ist in hohem Maße von der Stil-Mensch-Analogie geprägt und implementiert die Verbindung von schamhafter Sprache mit der moralischen Disposition des Sprechenden. Wie Melanie Möller dargelegt hat, enthalten Aristophanes’ 271

CIC. de orat. 2.252: »obscenitas, non solum non foro digna, sed vix convivio liberorum.« (»Obszönität ist nicht nur des Forums nicht würdig, sondern kaum eines Gastmahls von Freigelassenen.«) Auch in De officiis bespricht Cicero Witze, die eines freien Mannes unwürdig sind (CIC. off. 1.104): »Duplex omnino est iocandi genus, unum inliberale petulans flagitiosum obscenum, alterum elegans urbanum ingeniosum facetum, quo genere non modo Plautus noster et Atticorum antiqua comoedia, sed etiam philosophorum Socraticorum libri referti sunt multaque multorum facete dicta, ut ea quae a sene Catone conlecta sunt, quae vocant apopthegmata.« (»Im Allgemeinen ist die Art des Scherzens zweifach: die eine ist eines Freien unwürdig, frivol, frevelhaft, obszön; die andere fein, städtisch-elegant, geistreich, witzig; von dieser Art sind nicht nur unser Plautus und die alte Komödie der Athener, sondern auch die Bücher der sokratischen Philosophen voll, und viele witzige Sprüche zahlreicher Leute, wie die, die vom alten Cato gesammelt wurden und die man apophthegmata nennt.«)

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Thesmophoriazusai in der Figur des effeminierten Dichters Agathon das Momentum, diese mimetische Analogie aufzubrechen, an das erst Catull mit seiner Dichtung anschließt 272 Catull vollzieht in carmen 16 eine Trennung von versus und vita des Dichters: PEDICABO ego uos et irrumabo, Aureli pathice et cinaede Furi, qui me ex uersiculis meis putastis, quod sunt molliculi, parum pudicum. nam castum esse decet pium poetam. ipsum, uersiculos nihil necesse est; qui tum denique habent salem ac leporem, si sunt molliculi ac parum pudici, et quod pruriat incitare possunt, non dico pueris, sed his pilosis qui duros nequeunt mouere lumbos. uos, quod milia multa basiorum legistis, male me marem putatis? pedicabo ego uos et irrumabo.

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Ich werde ihn euch in den Arsch und in die Kehle stopfen, Aurelius, du Schwuchtel und Furius, du Homo, die ihr ja aufgrund meiner Verslein vermutet habt, da sie weichlich sind, ich sei zu wenig schamhaft. Denn anständig zu sein, geziemt dem rechtschaffenen Dichter selbst, für die Verslein ist das keinesfalls nötig. Die haben erst dann Witz und Esprit, wenn sie weichlich sind und zu wenig schamhaft und wenn sie das erregen können, was lüstern ist. Ich meine damit nicht bei den Knaben, sondern bei den Behaarten, die ihre harten Lenden nicht zu bewegen vermögen. Da ihr von vielen tausend Küsschen gelesen habt, habt ihr vermutet, ich sei zu wenig männlich? Ich werde ihn euch in den Arsch und in die Kehle stopfen!

Das Gedicht beginnt mit der Anrede zweier Leser, Aurelius und Furius, die als pathicus und cinaedus bezeichnet werden. Was zunächst als aggressive Anrede und Beschimpfung erscheint, erweist sich als Auseinandersetzung mit einer bestimmten Lektürehaltung, die an die Gedichte fälschlicherweise herangetragen werde. Catull nimmt mit dieser Anrede zu dem Vorwurf Stellung, er selbst sei zu wenig sittsam (parum pudicus). Die beiden Adressaten nämlich, die offenbar Catulls Kuss-Gedichte 272

Vgl. Möller 2004, 120: »Stabile Identitätssemiotik gibt es auf der Bühne ebensowenig wie ein autonomes Autoren-Ich. Da der Betrachter Agathon geradezu zwangsläufig mit seiner weiblichen Rolle identifizieren muß, scheint es, daß er am Ende der Episode als männlicher Autor zu existieren aufgehört hat. Indem sich die Identität auf der Bühne nur in einem Kommunikationsprozeß ausbilden kann, ist Agathon der Identifizierung seiner selbst als effiminatus, ja als Transsexueller, vollkommen ausgeliefert. Der Mensch und Autor Agathon ist in seiner Rolle verschwunden ›wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand‹. Dabei ist es nicht von Bedeutung, daß Agathon auf Aristophanes’ Bühne von einem Schauspieler dargestellt wird, denn der Dramatiker wird vom Zuschauer über seinen Namen identifiziert. Dieser sprechende Name liefert hier eine besondere Pointe: Ein ἀγαθός ist nicht nur edler Abstammung, sondern auch mutig und männlich, nicht aber verweichlicht wie die auf der Bühne dargestellte Figur. Es findet gleichsam eine doppelte Identifikation statt: zunächst die Schauspielerfigur mit dem Tragiker Agathon, sodann die des Tragikers Agathon mit der effemierten Rollenfigur.«

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gelesen haben (quod milia multa basiorum legistis)273, werfen Catull Unsittlichkeit vor. Catull verhandelt nun im Gedicht die Voraussetzungen einer solchen Interpretation, die er als falsch zurückweist, indem er sie ironisiert. Er nutzt in seiner Dichtung die Zweideutigkeit der Sprache.274 Die Dichtung lebt von dem Witz, der Anspielung und der Zweideutigkeit. Ihre provokative Wirkung nimmt sie aus einem bestimmten Sprachgebrauch, der moralisch-gesellschaftlich verpönt ist oder dessen Sittlichkeit zumindest in Frage steht. In guter rhetorischer Tradition reicht der Zweifel an der Sittlichkeit eines sprachlichen Aktes schon aus, um diesen angreifbar zu machen (Kakemphaton). Sofort kann der Vorwurf erhoben werden, der orator, also der auctor der Rede sei unsittlich oder moralisch ungefestigt. Catull imaginiert in dem Gedicht eine solche Kritik nach rhetorischer Tradition. Unter dieser Bedingung hält Catull es für unmöglich, Gedichte zu schreiben, da die Anspielung und die Zweideutigkeit gerade den Witz seiner Dichtung ausmachen (qui tum denique habent salem ac leporem). Dichtung sei nur auf der Grundlage der Uneindeutigkeit der Sprache möglich. Catull erhebt also Anspruch auf die Möglichkeit der Dichtersprache, eine eigene Bedeutung zu generieren, die sich von dem vulgären Sprachgebrauch und der unendlichen Interpretationsmöglichkeit der Worte durch den auditor abhebt. Seine Dichtung behauptet implizit, dass sie selbst Wörter, die auf eindeutig obszöne Weise konnotiert sind, benutzen darf, indem sie es einfach tut (pedicabo, irrumabo 275 ). Zugleich rechnet diese Dichtung mit der provokativen Wirkung, da sie bewusst Wörter aus einem Sprachgebrauch entlehnt, der moralisch eindeutig abgewertet ist. Indem sie gerade solche Wörter benutzt, setzt sie voraus, dass die im Gedicht neu kodierten Wörter von den Lesern dennoch im Kontext des üblichen Sprachgebrauchs interpretiert werden. 276 Das Gedicht spielt also mit dieser Doppeldeutigkeit. Einerseits referiert das obszöne Wort auf den bekannten, obszönen Sinn, andererseits behauptet das Gedicht, dass es dieses Wort im Gedicht auf unschuldige Weise benutzen darf, da 273 274

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Gemeint sind wohl c. 5 und 7. Dies wird etwa schon in der wiederholten Verwendung der Diminutive versiculus und molliculus deutlich, die im Sinne der von Cicero und Quintilian explizierten divisio das Wort culus ›Hintern‹ enthalten, und so wiederum auf die Beschimpfungen pathicus/cinaedus (Vers 2) verweisen, die ihrerseits den passiven Part mannmännlicher Sexualität, d.h. denjenigen der beim Analverkehr penetriert wird, bezeichnen. Zu irrumare vgl. Richlin 1981. Die Forschung ist dementsprechend gespalten zwischen einem Verständnis dieser Verben als lokutativem und illokutivem Sprechakt: Während Kroll 1968 [1922], 35 in seinem Kommentar den Provokationsgehalt der Aussage als nicht so ernst zu nehmen abmildert, fragen die sonst sehr gegensätzlichen Arbeiten von Wiseman 1985 und Fitzgerald 1995 unter verschiedenen Prämissen nach der Positionierung gegenüber dem Leser. Selden 1992 ist dagegen der Ansicht, dass das Gedicht performativ Aurelius und Furius ebenso wie den Leser des aggressiven Aktes, den die Verben bezeichnen, tatsächlich aussetzt. Donald Lateiner betont dagegen den Kunstcharakter der Verse: »Obscenity for the Romans was not necessarily artless or vulgar. We should hesitate to judge Catullus’ obscene poetry by crude standards as basically unpoetic or coars. It can be, and in Martial not infrequently is, merely versified insult. But although obscenity in poetry is a device of limited emotional range, it presents unlimited verbal possibilities, and sound and form and style and expression are poetry’s province.« (Lateiner 2007 [1972], 279). Vgl. Richlin 2007 [1992]. Auch Hallet 1996 spricht sich für eine Metaphorisierung aus. Zum biographischen Lesen von Lyrik in der Antike siehe generell Hose 2003.

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es den alltäglichen Sinn suspendiert und in der Sphäre der Dichtersprache einen neuen Sinn erzeugt. Catull geht nun jedoch nicht programmatisch von einer autonomen Dichtersprache aus, die sich von dem alltäglichen Sprachverständnis abkoppeln würde, sondern spielt die Möglichkeit dieser Autonomie gegen die moralischen Kritiker aus. Seine Dichtung sucht jedoch nicht programmatisch nach einer neuen Sprache, sondern bedient sich der bereits eindeutig obszön konnotierten Wörter, um im Rahmen der gewonnenen sprachlichen Freiheit mit dem Tabubruch zu spielen. Catull nutzt die Eigenschaft der Sprache, auf einen Sinn zu referieren, und geht implizit von einem Sprachverständnis aus, das eine eindeutige Korrespondenz zwischen verba und res für unmöglich hält, da zwischen wörtlichem und metaphorischen Sinn nicht klar unterschieden werden kann. Die Polysemie ist für ihn eine grundlegende Eigenschaft der Sprache. Auf dieser Möglichkeit der Sprache beruht seine Dichtung, wie in dem Gedicht eindrucksvoll demonstriert wird. Der doppelte, dekonstruktivistische 277 Gebrauch der Begriffe pedicare und irrumare verdeutlicht diese Semiotik. Der Satz erhält im Verlauf des Gedichtes einen metaphorischen Sinn, der dem wörtlichen diametral entgegengesetzt ist. In Vers 1 scheint Catull die »realistische« Verwendung des Begriffes zu implizieren. Der wörtliche Sinn ergibt sich aus der eindeutig sexuellen Bedeutung der Verben irrumare und pedicare, sowie aus der Bezeichnung der beiden Leser als pathicus und cinaedus, die den Vers als eine rhetorisch invektive Beschimpfung in obszöner Sprache nahelegen.278 Catull kehrt die Anforderungen um und wendet sie gegen jene Leser, die ihn auf dieser rhetorischen Grundlage kritisieren. Im Laufe des Gedichtes werden nun die Bedingungen der Lektüre verhandelt und die Rollen von Autor und Leser geklärt. Dabei werden aktive und passive Rollen, Effeminiertheit und Männlichkeit zu Metaphern einer bestimmten Rezeptionsweise der Gedichte. Die Leser Aurelius und Furius werfen den Versen Effeminiertheit des Stils (molliculi versiculi) vor. Demgegenüber tritt nun Catull hier besonders viril auf, indem er einerseits eine obszöne Sprache

277 278

Vgl. de Man 1988, 31–51. Wie Detlev Fehling 1974, 66 gezeigt hat, gehen solche Drohgebärden darauf zurück, dass pedicare und irrumare auch Mittel der Erniedrigung und Bestrafung (damit auch der Rangdemonstration) sind. Zu irrumatio und pedicatio als Strafvergewaltigungen siehe Fehling 1974, 19–38. Der Akt der pedicatio und der irrumatio ist nicht an sich degradierend oder obszön. Die griechisch-römische Konzeption der Sexualität basiert weniger auf dem Geschlecht der Sexualpartner als auf verschiedenen Sexualpraktiken, in denen es eine aktive (männliche) und eine passive Rolle gibt: »When a man, playing the role of the penetrator, inserts his penis into the vagina (futuere), the mouth (irrumare), or the anus (pedicare) of someone else, he performs a ›normal‹ sexual act. All other acts are abnormal and vile because the performer degrades himself in proffering his own body part to give someone else pleasure, though, […] they differ in the degree of contempt attached.« (Skinner 2005, 18). Vgl. Wiseman 1985, 10–14; Williams 22010, 179: »Thus, while Roman men were, as we will see, prompt to condemn men and women who performed fellatio, they were also disposed to represent fellatio as an aggressive act of penetration that embodied the assertion of a man’s masculinity at another’s expense. Indeed, irrumare is used in contexts that emphasize the passivity or degradation of the person fellating, and the agent noun irrumator is sometimes put to a nonliteral use, denoting a man who has his own way with others or treats them with contempt or disrespect.«

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(pedicare, irrumare) verwendet 279 und anderseits mit diesen Verben seine aktive sexuelle Rolle betont. Das Gedicht bewegt sich auf zwei Bedeutungsebenen: Der im Gedicht angedeutete Sexualakt zwischen dem lyrischen Ich und den beiden Angesprochenen ist eine Metapher des Verhältnisses von Gedicht und Interpret. Die Leser, die sich über die Weichlichkeit der Kuss-Gedichte empören, sind selbst in der passiven Rolle. Während sie dem Autor Weiblichkeit und Erregbarkeit vorwerfen, ist gerade das Gegenteil der Fall, das Ich des Gedichts ist männlich und aktiv (pedicabo ego vos et irrumabo). Das Gedicht vollzieht die gängige Verbindung geschlechtlicher Begriffe mit rhetorischer Terminologie. Mit pedicare und irrumare wird nun aber am Ende des Gedichts gerade der effiminierte Stil der versus molliculi verbunden. Metaphorische und wörtliche Bedeutung bilden also einen Gegensatz. Das Ich ist gleichzeitig männlich (lokutiv) und effeminiert (illokutiv). Performativ wird also die mimetische Lesart exakt umgekehrt. Die metaphorische Bedeutung bleibt allerdings von der wörtlichen abhängig, der metaphorische Gebrauch ist ohne die zugrundeliegende wörtliche Bedeutung nicht verständlich. Das Gedicht braucht, um seine Aussage zu entfalten, eben diesen Gegensatz, den es selbst konstruiert.280 Die Wiederholung des Anfangsverses verweist wiederum auf den Anfang des Gedichtes und damit auf eine erneute Lektüre zurück, in der der Satz nun anders gelesen wird. Das hier entworfene AutorLeser-Verhältnis modelliert folglich auch den Referenzcharakter der Sprache als ein permanentes Verweisen. Durch die Verwendung des Futurs wird auch grammatisch der Vollzug des Verweises, also die Realisierung des Aktes in Suspens gehalten. Diese dekonstruktivistische Lesart des Gedichtes wird zusätzlich noch durch die sexuelle Bedeutung der Verben, die ein körperliches Oben (irrumare) und Unten (pedicare) implizieren, im Textkörper abgebildet. Allerdings wird auch hier durch die gedoppelte Form der Verweischarakter auf mehreren Ebenen gleichzeitig demonstriert und unterlaufen: irrumare befindet sich gleichzeitig oben und unten (Textkörper) und verweist (nur) auf oben (Menschenkörper), pedicare entsprechend gegenläufig. Damit verweisen die Wörter gleichzeitig auf den Akt des Verweisens selbst. Dieses Spiel des Textes lässt sich wie in einer Mise en Abyme unendlich weiterführen, allerdings in einer ständigen Oszillation, durch die sich der Sinn jeweils verschiebt. Auf diese Weise ist es letztlich nicht zu entscheiden, welche Lesart die »richtige« ist. Das Gedicht trennt also nicht nur vita und versus, sondern auch res und verba, betont aber gleichzeitig ihre unauflösliche Verquickung. Das Gedicht vertritt ein emphatisches Dichtungsverständnis und fordert eine Entautomatisierung des Referenzcharakters der Sprache.281 Die Dichtung macht damit die verba unabhängig von auctor und lector. Catulls Gedicht richtet sich gegen die rhetorische Tradition, die 279 280

281

Vgl. Adams 21990 [1982], 123–130. Vgl. Fitzgerald 1995, 52 mit Referenz auf die doppelte Charakteristik des Lesers, die im Gedicht durch Furius und Aurelius bzw. die pilosi personifiziert werden: »The act of entrusting is paradoxical, then, for the reader must both give the poems their life and maintain their ›chastity‹; in other words, the poetry needs the provocative relation to the audience that is the essence of its charm, but it also need a certain sophistication, on the part of the audience, about the game that is played.« Vgl. Šklovskij 51994 [1916].

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die Referenz des sprachlichen Zeichens und damit die moralische Verantwortung des Sprechers betont. Die Dichtung generiert vielmehr selbst den Sinn der Wörter, der sich vom Alltagsgebrauch unterscheiden kann. Dies gilt für die Bezeichnungen ego und selbst für den Namen Catullus.282 Der Text wird damit losgelöst von der Lebenswelt, mithin moralisch nicht bewertbar.283 Diese Emphase wird allerdings in Form einer Provokation vollzogen. Catull liefert mit c. 16 nicht nur eine der in der Folgezeit bekanntesten obszönen Invektiven, sondern begründet hier eine römische Gegentradition zur Idee einer Analogie zwischen Mensch und Stil, er schafft »das Modell einer genuin dichterischen Existenz«.284 Es ist vor allem die Aufnahme dieses Motivs bei Martial und bei Plinius, die dazu beigetragen hat, hierin eine lex Catulli zu sehen.285 Plinius beruft sich in der Verwendung von nuda verba auf jene Stelle als verissima lex (epist. 4.14). Martial greift im Rahmen der Apologie der Obszönität seiner Verse die inzwischen topische vita-versus-Unterscheidung wieder auf: »Lasciva est nobis pagina, vita proba.« (»Frivol ist meine Seite, das Leben sittsam.«)286 Auch in der praefatio zum ersten Buch beruft er sich explizit auf Catull (MART. 1. praef. 1–16): SPERO me secutum in libellis meis tale temperamentum ut de illis queri non possit quisquis de se bene senserit, cum salua infimarum quoque personarum reuerentia ludant; quae adeo antiquis auctoribus defuit ut nominibus non tantum ueris abusi sint sed et magnis. Mihi fama uilius constet et probetur in me nouissimum ingenium. Absit a iocorum nostrorum

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Vgl. Möller 2008. Als problematisch muss folglich Wisemans Kritik an Catull bewertet werden (Wiseman 1985, 129): »Catullus masterpiece […] was written for and in a world rather different from the oldfashioned frontier province where he grew up. If there is a point in it, where his artistry fails, it is because his moral standards obtrude upon his creative vision. Art matters, but so does decent behaviour. Perhaps he never reconciled the conflicting imperatives of the life he had chosen. His tragedy was that he had not fully rejected the moral standards of the Valerii of Verona when he tried to live in the world of the partrician Claudii. That shows above all in his poetry of love.« Diese moralisch-biographistische Interpretation bewegt sich allerdings auf der Ebene der Lektürehaltungen, die vom Gedicht selbst vorweggenommen und verworfen werden. Das Gedicht propagiert nicht andere moralische Standards, sondern widersetzt sich gerade jeglicher moralischen Bewertung, indem es die Autonomie der dichterischen Sprache einfordert. Vgl. Möller 2004, 344: »Diese Verse müssen – unbeschadet ihrer kunstimmanenten Fassung – als Kontrafaktur der gängigen Auffassung gelesen werden. Die Analogie zwischen den Versen und der vita des Dichters wird als sachgemäßes Evaluationskriterium zurückgewiesen, die zwei Welten werden betont separiert. Mit Nachdruck wird, scheint es, die Autonomie der Kunst eingefordert und, gut avantgardistisch, zum Leben umgedeutet. Catull entwirft das Modell einer genuin dichterischen Existenz.« Auch Ovid beruft sich auf den lascivus Catullus (trist. 2.427), nachdem er die persönlichen mores von der Fiktion der Dichtung unterscheiden hat (trist.2.353–355): »Crede mihi, distant mores a carmine nostro/(uita uerecunda est, Musa iocosa mea)/magnaque pars mendax operum est et ficta meorum.« (»Glaub mir, mein Lebenswandel unterscheidet sich von meinem Gedicht/ (mein Leben ist tugendhaft, meine Muse scherzhaft), / und ein großer Teil meiner Werke ist erlogen und erdichtet«). Im 13. Jahrhundert kursierte eine hexametrische autobiographische Fälschung (de vetula), in der Ovid im Sinne eines Bekenntnisses gesteht, alle in seiner Dichtung geschildeten, inbesondere sexuellen Handlungen tatsächlich erlebt zu haben. Siehe hierzu Godman 1995. In Bezug auf Catull vgl. auch APVL. apol. 11; HADR. carm. frg. 2 (p.136 M). Zur lex Catulli vgl. Schwindt 2002. MART. 1.4.8.

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simplicitate malignus interpres nec epigrammata mea scribat: inprobe facit qui in alieno libro ingeniosus est. Lasciuam uerborum ueritatem, id est epigrammaton linguam, excussarem, si meum esset exemplum: sic scribit Catullus, sic Marsus, sic Pedo, sic Gaetulicus, sic quicumque perlegitur. Si quis tamen tam ambitiose tristis est ut apud illum in nulla pagina latine loqui fas sit, potest epistola uel potius titulo contentus esse. Epigrammata illis scribuntur qui solent spectare Florales. Non intret Cato theatrum meum, aut si intrauerit, spectet. […] Ich hoffe, dass ich in meinen Büchlein einer solchen Mäßigung gefolgt bin, dass sich über sie niemand mit guter Selbstwahrnehmung beklagen kann – treiben sie doch ihre Scherze mit einer gesunden Achtung auch vor schwachen Personen. Ebendiese fehlte ja den alten Autoren so sehr, dass nicht nur echte, sondern auch großen Namen benutzt wurden. Mein Ruhm soll mich weniger teuer zu stehen kommen, und man sollte an mir den äußerst ungewöhnlichen Einfallsreichtum beurteilen. Fern halte sich von der Arglosigkeit meiner Scherze der boshafte Deuter und meine Epigramme schreibe er nicht: unredlich verhält sich, wer in einem fremden Buch einfallsreich ist. Die frivole Wahrheit der Worte, d.h. die Sprache der Epigramme, würde ich entschuldigen, wenn ich das Vorbild wäre: So schreibt Catull, so Marsus, so Pedo, so Gaetulicus, so jeder, der genau durchgelesen wird. Wenn jemand dennoch so verdrießlich sein sollte, dass es sich bei ihm auf keiner Seite schickt, Lateinisch zu sprechen, kann er sich mit dem Brief oder noch eher mit dem Titeleistreifen [Pergamentstreifen mit Namen des Verfassers und Titel des Werkes, der an der Schriftrolle angebracht war, D.W.] bescheiden. Epigramme werden für jene geschrieben, die es gewohnt sind, die Floralia [Fest zu Ehren der Blumen-Göttin Flora, bei dem u.a. Hetären sich als Verkörperungen der Göttin entkleideten, D.W.) anzuschauen. Cato betrete nicht mein Theater, oder wenn er es doch betreten sollte, möge er (hin)schauen! […]

In der Apologie der Obszönität verfolgt Martial mehrere argumentative Strategien.287 Zunächst grenzt er sich von der Personen-Satire der alten Autoren (in der Satire vermutlich Lucilius, ansonsten die Autoren der Alten Kömodie) ab. Gegenstand seiner Gedichte soll, wie er an anderer Stelle sagt (MART. 10.33.10), die typologische Kritik sein, d.h. Personen zu schonen und über die Laster zu sprechen (parcere personis, dicere de vitiis). Ferner weist er, wie schon Catull, Leser (malignus interpres) ab, die an der Interpretation mitarbeiten und so die Epigramme mitschreiben (nec epigramma mea scribat) wollen. Eine dritte Legitimationsstrategie zielt auf die Berufung auf Vorgänger wie Catull. Martial lehnt einen mimetischen Realismus ab, der den Namen mit der Person verwechselt. Er betont also eine Lücke zwischen verba und res. Seinen Stil charakterisiert er als lasciva verborum vertitas und als latine loqui und rekurriert damit auf den schamhaften Realismus der Neuen Komödie.288 In der zweiten Hälfte der Apologie weicht das Prinzip der recusatio dem Prinzip des exemplum. Es erfolgt eine Umdeutung des exemplum-Begriffes als moralisches Vorbild. Martial reiht sich hier in eine Tradition des effeminierten Stils (lascivus, nugae) ein. Die letzte Strategie der praefatio beruft sich auf karnevalistische Feste, bei denen eine derartige lascivitas ebenfalls erlaubt sei. An anderer Stelle verweist Martial auf die 287

288

Vgl. generell die sehr differenzierte Analyse bei Sullivan 1991, 56–77. Richlin (21992 [1983], 7) reduziert die praefatio auf ein »simple statement«: »his verses are lascivous, but not harmful. They should not be target for moralistic critics, since everyone knows what they are.« Vgl. auch Lorenz 2002, 23–40. Vgl. MART. 10.4.8: »Hoc lege, quod possit dicere vita ›meum est‹.« (»Lies dies hier, wovon das Leben sagen könnte: ›es ist meins.‹«)

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Praktiken des Mimus (MART 3.86), also auf eben jenen Bereich, der in der Rhetorik als Verstoß gegen die dignitas des Redners angeführt wird. Martial nutzt den niedrigen Rang seiner Dichtung, um sich von der »Last« der dignitas zu befreien. Da seine Leser bereits unsittlich seien, sei für sie auch die Lektüre seiner Bücher unschuldig. Auch in 3.68 warnt er keusche Leserinnen (matronae castae) in einer Manier, die schon bei Ovid auszumachen war, nicht weiter zu lesen.289 Er fordert also die Ausnahmeregelungen des Theaters (festosque lusus et licentiam uolgi) auch für seine Dichtungen ein. »By making all these connections Martial is suggesting that his obscene poetry appears in its proper place and therefore is innocuus.«290 Wie Sullivan betont, sind all diese Legitimierungsversuche allerdings kaum überzeugend. Die Verweise auf lascivitas, auf Catull, auf die Floralia und den Mimus dienen also vielmehr als Rezeptionsanweisung. Martial schließt hier mit seinen Lesern einen pacte epigrammatique,291 der gerade darin besteht, die Texte nicht moralisch zu lesen. Er schafft in der praefatio explizit einen privaten Raum des Obszönen, den er als Theater beschreibt und an Zutrittsbedingungen bestimmter Rezeptionsregeln, v.a. der visuellen Imaginierung, knüpft (Epigrammata illis scribuntur qui solent spectare). Als Gegenentwurf dieser Rezeptionspraxis wird die Figur des Cato angeführt, der sich mit dem Unmoralischen nur zum Zwecke der Negation beschäftigt. Es wird hier die konstitutive und performative Abhängigkeit des Moralischen vom Unsittlichen deutlich, das erst in der Negation sichtbar wird. Martial beansprucht dagegen das Unsittliche in der Alltagssprache, das er mit einer literarischen Funktionsweise verbindet. Mit Šklovskij gesprochen, soll in dieser Sprache nicht etwas wiedererkannt, sondern gesehen werden; 292 der Text soll nicht einfach wiedererkennend gelesen (ἀναγιγνώσκειν), sondern auf seinen sprachlichen Eigenwert hin betrachtet werden. Martial betont den performativen Aspekt der Sprache gegenüber dem geschaffenen Gegenstand. Darin besteht das Spezifikum der epigrammatischen Sprache, sie verhält sich als Epi-gramma (als Auf-schrift) zu den Dingen, ohne das Ding selbst zu sein, und macht auf den Akt der Referenz aufmerksam. »Objecs and actions are endowed with power, not because of what they are, but where and how they where employed.«293 Diese Erkenntnis ist eng verbunden mit Fragen von Ordnung, Reinheit, Macht und Gefährdung. Obszönität entsteht also, wie auch Cicero betont hat, erst im Gebrauch: Nichts ist obszön, es sei denn, es bildet »a matter out of place«294. Hierzu führt Martial eine soziale und eine historische Komponente ein: Er 289 290 291 292

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Banta (1998, 189–238) ist der Ansicht, dass durch diese Apologie die Leser überhaupt erst auf die Obszönität aufmerksam gemacht werden, statt sie zu verharmlosen. Sullivan 1991, 67. Die Begriffsbildung, die auf Lejeunes pacte autobiographique verweist, verdanke ich Eva Marie Noller. Vgl. Šklovskij 51994 [1916], 15: »Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstands zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ‚Verfremdung’ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozess ist in der Kunst Selbstzweck und muss verlängert werden; die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist der Kunst unwichtig.« Sullivan 1991, 68. Douglas 1966, 35.

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macht selbst oft auf die konkrete Lektüre in verschiedenen Kontexten und von verschiedenen Lesern aufmerksam, vom Kaiser bis zu Dichterkollegen, und betont die Verortung der Literatur in der Lebenswelt. Die Lektüre der Texte wird so zum Modus der Selbst-Erkenntnis. 295 Die Wahl der Texte wird zur Aussage über den Leser. Die Texte vermögen es, Widersprüche und Hypokrisie innerhalb dieser Selbstrepräsentation aufzudecken. Denn wie 3.86 zeigt, hat die in 3.68 gewarnte matrona die Lektüre fortgeführt und trotz – oder gerade wegen – der Warnung die Obszönitäten der dazwischenliegenden Epigramme gelesen. Zum Zwecke der Apologie an den keuschen Leser (qui tristis uerba Latina legis), die in den Epigrammen wiederholt durchgeführt wird, zitiert Martial in Epigramm 11.20, einem betont saturnalistischen Buch, ein obszönes Invektiv-Epigramm des Augustus, das ihm als Beleg der Romana simplicitas dient.296 Caesaris Augusti lasciuos, liuide, versus sex lege, qui tristis uerba Latina legis: ›Quod futuit Glaphyran Antonius, hanc mihi poenam Fuluia constituit, se quoque uti futuam. Fuluiam ego ut futuam? quid si me Manius oret pedicem? faciam? Non puto, si sapiam. ‘Aut futue, aut pugnemus’ ait. Quid quod mihi uita carior est ipsa mentula? Signa canant!‹ Absoluis lepidos nimirum, Auguste, libellos, qui scis Romana simplicitate loqui. Sechs frivole Verse von Caesar Augustus lies, du Neider, der du verdrießlich lateinische Worte liest: ›Weil Antonius Glaphyra fickte, hat mir Fulvia als Strafe festgesetzt, dass ich auch sie ficke. Dass ich Fulvia ficke? Was wenn Manius mich bäte, ihm den Hintern zu stopfen? Sollte ich das tun? Ich glaube nicht, sofern ich noch bei Verstand bin. ‘Entweder fickst du mich oder wir bekriegen uns’, sagt sie. Was aber, wenn mir teurer noch als mein Leben mein Schwanz ist? Die Kriegssignale sollen erklingen!‹ Gewiss sprichst du, Augustus, die witzigen Büchlein frei, der du weißt, mit römischer Arglosigkeit zu sprechen.

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296

Vgl. MART. 10.4.11f.: »Sed si non vis, Marmurra, tuos cognoscere mores, / nec te scire: legas Aetia Callimachi.« (»Doch wenn du, Marmurra, deinen Charakter nicht erkennen willst, und dich nicht kennen willst, dann lies die Aitien des Kallimachos!«) Vgl. dazu die Ausführungen von Sullivan 1991, 72f. Vgl. Mattiacci 2016. Zum Inhalt siehe Kays Kommentar: »It is an effectively unpleasant piece of propaganda; it lays the blame squarely on the other side, which is controlled by a woman (compare the Antony and Cleopatra propaganda of ten years later); her motives are reduced to the purely sexual, and it is additionally ridiculous that she wants to punish Octavian for the misdemeanours of her husband Antony; she is moreover portrayed as sexually repellent. […] This type of personal insult propaganda was rife at the time and can be seen on the lead sling bullets from the siege found at Perugia (›Perusinae glandes‹) […] There is plenty of sexual slanging elsewhere: most interestingly we know that Octavian was attacked for passive homosexuality by Marcus and Lucius Antonius, undoubtedly around this time. [see Suetonius Aug 68].« Hallet 1977, 161f. argumentiert, dass sich Augustus durch die Herausstellung seiner sexuellen virilitas als militärisch, aggressiv und aktiv inszeniert.

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Simplicitas, die auch in der praefatio als Charakeristikum des Humors veranschlagt wird, ist der Schlüsselbegriff der Satire.297 Augustus wird also im Rahmen der Rechtfertigung als Präzedenzfall für die Verwendung primärer Obszönität (futuere, pedicare, mentula) gewertet, wenngleich auf den Unterschied zwischen persönlicher Invektive und den eigenen lepidi libelli hingewiesen wird. Die zeitgenössische Komponente dieses historischen Rückblicks wird vor dem Hintergrund von Buch 8 deutlich, in dem Martial im Vorwort berichtet, er habe auf Obszönität verzichtet, da Domitian in diesem Buch häufig Gegenstand der Epigramme ist.298 Der Name des Kaisers (sacrum nomen) 299 wird somit verbaler purificator des Textes und führt zu einer rituellen Reinigung (lustrare). 300 Auch in Buch 1 wendet sich Martial mehrfach an den Kaiser in dessen Funktion als censor, bittet dort allerdings um Nachsicht für die lascivitas. Denn die Epigramme seien für ein anderes Publikum bestimmt. In Epigramm 1.35 wertet er dementsprechend die Entfernung der Obszönität als Kastration.301 Martials Epigramme sind also in einem hohen Maß an Fragen sozialer Distinktion interessiert, die auch eine historische Dimension beinhalten. ⁎⁎⁎ Die geraffte Darstellung wesentlicher Aspekte des antiken Obszönitätsdiskurses, die darauf bedacht war, die antiken Autoren in extenso selbst sprechen zu lassen, sollte 297

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301

Vgl. etwa PETRON. 132.15.2; IUV. 1.151–153. Sullivan hat in einem einflussreichen Aufsatz (Sullivan 1980) »Martials sexual attitudes« als satirisches Element gerade zur Kritik an Abweichung von den sexuellen Normen gewertet. Kritisch dazu Lorenz 2002, 21–23. MART. 8. praef. 11–17: »Quamvis autem epigrammata a severissimis quoque et summae fortunae viris ita scripta sint ut mimicam verborum licentiam adfectasse videantur, ego tamen illis non permisi tam lascive loqui quam solent. Cum pars libri et maior et melior ad maiestatem sacri nominis tui alligata sit, meminerit non nisi religiosa purificatione lustratos accedere ad templa debere.« (»Wenngleich aber auch von äußerst (sitten)strengen und hochrangigen Männern Epigramme derart geschrieben wurden, dass sie nach der Ausdrucksfreiheit des Mimus zu streben scheinen, habe ich ihnen dennoch nicht gestattet, so frivol zu sprechen, wie sie es gewohnt sind. Da der größere und bessere Teil des Buches an die Erhabenheit deines geheiligten Namens geknüpft ist, soll es sich daran erinnern, dass es die Tempel nur betreten darf, nachdem es durch gewissenhafte Reinigung entsühnt ist.«) Ich lese hier mit Schöffel 2002 das in den Handschriften überlieferte lustratus anstatt lustratos (bei Lindsay), das seit der editio Ferrariensis (1471) in den gängigen Ausgaben gesetzt wird. Zur Begründung siehe Schöffel 2002, 75f., der speziell auf die Dissoziation von Autor und Werk hinweist, die Martial in dieser Vorrede in der Tradition der lex Catulli vornimmt. So scheinen die Epigramme eigenständig zu sprechen und das Buch selbst Subjekt der Erinnerung und des Tempelganges zu sein: »dadurch gewinnen die epigrammata syntaktisch wie semantisch ein Eigenleben und können für eine weitere Entlastung des nur begrenzt für seine selbständigen Kreaturen verantwortlichen Schöpfers sorgen.« (Schöffel 2002, 73f.) Die Betonung des Namens beinhaltet ein Wortspiel, das auf die Bedeutung von dominare (herrschen) abzielt. Das Zeichen Domitianus herrscht also über alle anderen Zeichen. Vgl. Sullivan 1991, 71: »Domitian had an official and well deserved reputation by being puritanical, whatever his private behaviour; a differential bow in that direction would almost be obligatory.« Zur Aufnahme dieses Motives in der philologischen Praxis des 16. und 17. Jahrhunderts siehe Kapitel 4.3.1.

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zweierlei zeigen: Der antike Obszönitätsdiskurs ist, von Aristophanes bis Martial, geprägt von einer Spannung zwischen Moralisierung der Sprache und Autonomisierungsbestrebungen, die auf einer Trennung von vita und versus, aber auch von verba und res, von Signifikant und Signifikat basieren. Während die Rhetorik Sprache als Repräsentation des Selbst sieht, entsprechend derer eine enge Analogie von Stil und Mensch propagiert wird, macht die Literatur auf den Akt der Repräsentation selbst, auf mögliche Störungen und Verschiebungen im Verhältnis von Repräsentierendem und Repräsentiertem aufmerksam. Darüber hinaus thematisieren die Texte auf ganz unterschiedliche Weise die moralische Verpflichtung von Sprecher, Text und Rezipient. Insbesondere in der römischen Debatte zeigt sich, dass das Obszöne ein wesentliches Merkmal der Distinktion darstellt. Die urbane Nobilität grenzt sich besonders von niederen Kunstformen ab. Dichter wie Martial besetzen geschickt den so entstehenden Raum für Gegendiskurse und konzipieren einen Leser, der diese niedere Kunst genießt. Es sind diese Leserkonzeption, diese starke Wechselwirkung zwischen Text und Lebenswirklichkeit und die Abwesenheit einer direkten Moralisierung, die, soviel sei hier bereits angedeutet, die Texte im 17. Jahrhundert problematisch erscheinen lassen.

2.3 Moderne Autorschaft und obszöne Tradition: Der Prozess gegen Théophile de Viau Im November des Jahres 1622 erschien der Gedichtband Le Parnasse satyrique de ce temps, eine Sammlung satirischer und größtenteils obszöner Epigramme und Sonette verschiedener Autoren. Nach einem Prosa-Vorwort und einer Reihe an Gedichten (hauptsächlich Epigramme) Au lecteur folgt als erstes Hauptgedicht der Sammlung ein Sonett, das mit den Worten »Phylis, tout est ...outu« beginnt und mit einem Terzett endet, das sich als Hinwendung des Sprechers zur sodomie302 lesen lässt. Sammlungen dieser Art waren seit dem Beginn des Jahrhunderts (1600 erschien La Muse folastre, die bis 1625 bereits 15 Mal nachgedruckt wurde) äußerst beliebt und erschienen – mit privilège du Roi – geradezu inflationär.303 Jeanneret zählt in den Jahren zwischen 1600 und 1625 ca. 1500 publizierte, als obszön bewertete Gedichte. 304 Als Verfasser des Gedichtes wird »Sieur Théophille« (sic) angegeben (siehe Abbildung unten). Vor allem aufgrund dieses Sonetts wurde jener Théophile de Viau einige Monate später auf Betreiben des Jesuiten François Garasse inhaftiert und angeklagt. Die Verbreitung einer zweiten Auflage des Parnasse, in der das Vorwort fehlte, wurde durch Beschluss des 302

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Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde weniger zwischen Homo-, Hetero- oder Bisexualität, d.h. sexueller Gesinnung unterschieden (derartige Begrifflichkeiten werden erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebildet), als vielmehr zwischen verschiedenen sexuellen Praktiken. Gemäß der kirchlichen Doxa galt Geschlechtsverkehr, der nicht zur Fortpflanzung im Rahmen einer ehelichen Verbindung zwischen Mann und Frau diente, als häretisch. Insbesondere Analverkehr wurde mit der biblischen Geschichte von Sodom und Gommorrha assoziiert. Vgl. hierzu die Auflistung in Lachèvre 1968 [1909], t.1, XXV–XXVIII. Vgl. Jeanneret 2003, 24–27.

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Parlement de Paris am 19. August 1623 gestoppt. Der anschließende Prozess endete mit einem Todesurteil (durch Scheiterhaufen), dem Théophile jedoch durch Flucht entgehen konnte. Im Jahr 1625 wurde das Urteil zwar nach einem erneuten Prozess auf eine Verbannung aus Paris abgemildert, Théophile starb aber ein Jahr später, im Alter von 36 Jahren, an den Folgen seiner Haft. Das Urteil und der Tod Théophiles bedeuteten zweifelsohne eine Zäsur und hinterließen ein tiefes Trauma für den literarischen Betrieb, der in der Folgezeit von Angst und Misstrauen geprägt war. 305 Mit diesem Prozess wurde in Frankreich die Zensur institutionalisiert und säkularisiert. Joan DeJean sieht hierin die moderne »reinvention of obscenity«. 306 Der Tod Théophiles ist trauriger Höhepunkt eines Konfliktes zwischen religiöser Doxa auf der einen und Libertinage auf der anderen Seite, der sich seit dem Beginn des Jahrhunderts zunehmend verschärfte. 307 Die zahlreichen Publikationen diverser recueils bzw. cabinets des poètes satyriques stehen dabei im Dienste einer offensive obscène (Jeanneret)308 der libertinen Dichter, die sich vor allem in der Verbindung von Sexualität mit religiöser Sprache den orthodoxen Puritanismus zum Ziel satirischer Angriffe machten. »On pourrait même parler ici d’une exégèse du monde, à l’instar et à l’inverse de l’exégèse chrétienne.«309 2.3.1 Eine Autobiographie vor Gericht? Théophile de Viaus Biographie 310 trägt Züge eines libertinen Habitus, die für das literarische Feld des Barocks typisch sind: Er wird 1590 geboren und entstammt einer aristokratischen, protestantischen Familie aus der Nähe von Bordeaux. Bereits als junger Dichter schloss er sich einer Theatergruppe an, erlangte so Zutritt zu den höchsten sozialen Kreisen der Region und hatte im Comte de Candale einen Mäzen gefunden. Erwähnenswert ist das Jahr 1615, in dem ein längerer Aufenthalt an der Universität von Leiden, der damaligen Hochburg der europäischen Gelehrsamkeit, belegt ist, der ihm höchstwahrscheinlich die Gelegenheit gab, intensiv antike Philosophie und Literatur zu studieren. Nach dem Ende der konfessionellen Auseinandersetzungen in Frankreich, in denen er auf Seiten der Protestanten gekämpft hatte, stand er seit Februar 1616 zunächst unter dem Schutz Ludwigs XIII. und fungierte als Hofpoet, ging aber auf Druck der Jesuiten 1619 ins Exil nach England, von wo er aber bereits ein Jahr später an den französischen Hof zurückkehrte. Der Konflikt mit den Jesuiten blieb allerdings weiterhin bestehen.

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308 309 310

Vgl. Jeanneret 2003, 130. So der Titel von DeJean 2002. Der Prozess schreibt sich in einen Konflikt zwischen den Jesuiten und der Sorbonne ein, der sich auch in den Mitgliedern des parlement, der Rechtsprechung, niederschlug. Zur Vorgeschichte dieses Konfliktes siehe Lachèvre 1968 [1909], t.1, XXXVI–XLVI. Vgl. Jeanneret 2003, 23–45. Bellenger 1977, 100. Vgl. DeJean 1985; Houdard 2001; van Damme 2007. Zum aristokratischen Habitus der Libertins siehe Delon 2000, 67–79.

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Das Leben Théophiles ist symptomatisch für die Vita eines »unanständigen Gelehrten« (Mulsow), für die es auch in Deutschland im 18. Jahrhundert zahlreiche Beispiele gibt. Typisch für diese Vita ist, dass sich die gelehrten Libertins ihre Frei- und Frechheiten aus der Sicherheit des Sozialisiert-Seins in hohen politischen Kreisen, in Form eines Mäzentums, und in der Gelehrtenwelt der Republique des lettres (heraus-) nahmen. Eine solche, geschützte Provokation, die deutlich auf Motive antiker obszöner Texte rekurriert, stellt das folgende Sonett dar: Phylis, tout eſt …outu ie meurs de la verolle, Elle exerce ſur moy ſa derniere rigueur: Mon V. baiſſe la teſte & n’a point de vigueur, Un ulcere puant a gaſté ma parole. I’ay ſué trente iours, i’ay vomy de la colle Iamais de ſi grands maux n’eurent tant de longueur : L’eſprit le plus conſtant fut mort à ma langueur, Et mon affliction n’a rien qui la conſole. Mes amis plus secretz ne m’osent approcher ; Moy-mesme en cet estat ie ne m’ose toucher. Philis, le mal me vient de vous avoir …tue. Mon Dieu ie me repans d’avoir si mal vescu : Et si vostre courroux à ce coup ne me tuë, Ie fais veu desormais de ne …tre qu’en cu.311

Das Gedicht und der Prozess, der aus diesem Anlass um seinen Autor geführt wurde,312 sind in mehrfacher Hinsicht emblematisch für die Fragen dieser Untersuchung, insbesondere für das Verhältnis von privatem und öffentlichem Raum und die Verhandlung des »Ich« in der Auseinandersetzung mit der Antike. Sicherlich kann man dieses Sonett als obszön und provozierend kennzeichnen. Vor der Folie eines Beichtgesprächs wird von Sexualakten mit der angesprochenen Phylis und den Folgen der offenbar daraus resultierenden Ansteckung mit der Syphilis (verolle) gesprochen. All dies wird mit vulgären Ausdrücken geschildert, das Verb foutre kommt gleich drei Mal vor und auch primäre Obszönitäten wie cul und vit werden gebraucht. Hinzu kommen Doppeldeutigkeiten wie etwa der Satz je ne m’ose toucher, der leicht als Metapher für Masturbation gelesen werden kann. Der Text ist als confessio inszeniert313 und verbindet religiöse und obszöne Sprache. Am offensichtlichsten geschieht dies im letzten Terzett, der detestatio, d.h. der Missbilligung der eigenen Sünde, dem Wunsch nicht gesündigt zu haben (Mon Dieu ie me 311 312 313

Parnasse des poetes satyriques 1622, 1f. Siehe hierzu generell Lachèvre 1968 [1909]. Besonders das letzte Terzett macht Anleihen beim actus contritionis (1624, 10): »Domine Iesu Chriſte verus Deus & homo, Creator & Redemptor meus, […] pœnitet me ex toto corde quod offenderim te, & propono nunquam amplius peccare, & vitare omnes occaſiones te offendi. (»Herr Jesus Christus, wahrer Gott und Mensch, mein Schöpfer und Erlöser. Mich reut aus ganzem Herzen, dass ich dich verletzt habe und ich hege den Vorsatz, niemals mehr

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repans d’avoir si mal vescu). Die Pointe besteht darin, dass das Gelobnis der Besserung (Ie fais veu desormais) in der zweiten Vershälfte überraschenderweise nicht mit dem Versprechen schließt, Sexualpraktiken dieser Art gänzlich zu meiden, sondern die Sünde noch gesteigert wird, mit der Hinwendung zum Analverkehr. Théophile macht sich hier die zu dieser Zeit intensiv betriebene Diskursivierung des Sexuellen in der Beichtpraxis zunutze. Man kann das Todesurteil gegen Théophile sicherlich damit erklären, dass diese Sammlung nun der Tropfen war, der das Fass der Provokation zum Überlaufen gebracht hat. Einerseits wollte der Staat ein Exempel an einem der bekanntesten Libertins dieser Zeit statuieren, das, wie gesagt, seine Wirkung nicht verfehlte,314 andererseits seinen Machtanspruch gegenüber der Kirche, die bis dahin für Fragen der Zensur häretischer Bücher zuständig gewesen war, demonstrieren. Die Veränderungen im literarischen Diskurs sind aber viel tiefgreifender und korrelieren mit anderen Verschiebungen in der Ordnung des Diskurses, die überhaupt erst die Voraussetzungen dafür bilden, dass sich der Konflikt in dieser Weise verschärfte, und dass die Literatur erst zu einem Medium der öffentlichen Provokation wurde. Bekanntlich hatte das Obszöne im mittelalterlichen Ordnungssystem seinen Platz in ritualisierten Phänomenen. Ein Ort des Obszönen war der Karneval als eine öffentliche, zeitlich begrenzte und ritualisierte Form der Umkehrung oder Verschiebung bestehender Ordnungen, zu der auch die Travestie und die Parodie heiliger Texte (parodia sacra) gehörten, die von der Kirche geduldet wurden. Michail Bachtin hat die Einflüsse dieser Volkskultur auf die Werke François Rabelais’ untersucht und dabei auch dargelegt, dass der Karneval nicht einfach eine Art Ventilfunktion in einer streng hierarchisch geregelten Gesellschaftsordnung war, sondern gerade in einer engen Verbindung von Leben und Tod, von Entstehen und Vergehen, einen Moment des Überganges für die Gesamtheit des Volkes symbolisierte. Er betont dabei die Ambivalenz des Lachens: »Das Lachen richtet sich auch auf die Lachenden selbst, das

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zu sündigen und alle Gelegenheiten, dich zu verletzen, zu meiden.«). Théophiles Reue scheint dabei allerdings mehr durch Furcht (Et si vostre courroux à ce coup ne me tuë) denn durch Liebe zu Gott (contritio) begründet, entspräche also der unvollkommenen Reue (attritio). Die Frage, ob bereits die attritio zur Sündenvergebung ausreiche, stellte einen langanhaltenden Disput dar, bei dem die Jesuiten dafür eintraten. Das Konzil von Trient (sessio XIV, DS 1678) dogmatisierte die attritio indirekt, indem es in ihr die Disposition zur späteren Vergebung im Bußsakrament anlegte. Zur Bedeutung der Buße innerhalb der Beichte siehe den Catechismus Romanus (1574, pars secunda caput v, 207–245), wo besonderer Wert auf die explizite Darlegung der Sünden, der innersten Gedanken, sowohl der verba als auch der res gelegt wird (1574, 212): »Deinde quod caput eſt ; cum illa quæ extrinſecus à pœnitente, tum à ſacerdote fiunt, declarent ea, quæ interius efficiuntur in anima ; quis neget pœnitentiam vera, & propria ſacramenti ratione præditam esse? ſiquidem ſacramentum ſacrae rei ſignum est: peccator autem quem pœnitet, rerum & verborum notis planè exprimit ſe animum à peccati turpitudine abduxiſſe«. (»Da ferner – und das ist die Hauptsache – jenes, was äußerlich vom Büßenden wie vom Priester gemacht wird, andeutet, was innerlich in der Seele verursacht wird, wer könnte da leugnen, dass die Buße mit dem wahren und eigentlichen Grundsatz eines Sakramentes versehen ist? Zumal ja das Sakrament Zeichen einer heiligen Sache ist: Der Sünder, den es reut, schildert durch Brandmarkungen der Dinge und Worte deutlich, dass er seine Seele von der Schändlichkeit der Sünde abgebracht hat.«) Ich habe nach extrinſecus ein weiteres tum ergänzt (im Einklang mit späteren Editionen, vgl. etwa schon die Ausgabe Parma 1600, 327). Sorel unterzog daraufhin bekanntlich seine Histoire comique de Francion einer Selbstzensur.

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Volk tritt nicht heraus aus dem stets werdenden Weltganzen. […] Darin liegt einer der wesentlichsten Unterschiede zwischen dem volkstümlichen festlichen Lachen und dem rein satirischen Lachen der Neuzeit.«315 Mit der »familiären Marktplatzrede« war, wie Bachtin es beschreibt, ein idealrealer Kommunikationstyp entstanden, der allerdings im Alltagsleben so nicht denkbar war: [Sie] wurde zum Reservoir, in dem sich die unterschiedlichsten sprachlichen Formen sammelten, die verboten und aus dem offiziellen Sprachgebrauch ausgeschlossen waren. Bei aller Verschiedenartigkeit ihrer Herkunft nahmen sie gleichermaßen karnevaleske Erfahrung auf, änderten ihre ursprüngliche Funktion in der Rede, nahmen einen gemeinsamen Lachton an und wurden sozusagen zu Funken des großen Karnevalsfeuers, das die Welt erneuert.316

In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts werden diese Feste, unter dem Druck sowohl der Kirche als auch des Landadels, seltener und verschwinden schließlich ganz.317 Auch die bouffons erschienen fortan unangebracht und wurden zu dieser Zeit von den Höfen vertrieben.318 Es lässt sich eine zunehmende Abschottung des Adels beobachten, d.h. die soziale Separation wird auch räumlich vollzogen. Es schienen zwei Aspekte mit dem Selbstverständnis des Adels, der zunehmend auf Separation vom Volk setzte und sich eher ins Göttliche erheben möchte, nicht mehr vereinbar: Zum einen das subversive Potenzial karnevalesker Phänomene, die stets auf die Vergänglichkeit alles Seienden und damit auf die Fragilität einer bestehenden Ordnung und bestehender Machtverhältnisse hindeuten, und zum anderen die Betonung eines Weltganzen, das bestehende Grenzen verschwimmen lässt und alle Menschen auf ihr gemeinsames Menschsein, auf ihr »nacktes Leben« und ihre Sterblichkeit reduziert. Das Obszöne als ein karnevaleskes Phänomen wird daher zunehmend aus dem öffentlichen Raum verbannt, d.h. die Grenze zwischen der geduldeten und der nicht geduldeten Obszönität verläuft fortan nicht mehr innerhalb des öffentlichen Raumes auf einer zeitlichen Achse, sondern auf der Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum. Ein Beispiel, an dem sich diese Grenzverschiebung gut ablesen lässt, sind die Beschlüsse des Konzils von Trient (1545–1563). Im Zuge des Konzils wurde etwa eine Liste verbotener Bücher (Index librorum prohibitorum) erstellt, von der die obszönen Texte der Antike allerdings explizit ausgenommen wurden: LIBRI, qui res laſciuas, ſeu obſcœnas ex profeſſo tractant, narrant, aut docent, cum non ſolum fidei, sed & morum, qui huiuſmodi librorum lectione facile corrompi ſolent, ratio habenda ſit, omnino prohibentur: & qui eos habuerint, ſeuere ab Epiſcopis puniantur. Antiqui vero, ab Ethnicis conſcripti, propter ſermonis elegantiam, & proprietatem permittuntur: nulla tamen ratione pueris prælegendi erunt.319

315 316 317 318 319

Bachtin 1995, 61. Bachtin 1995, 67. Vgl. Abramovici 2003, 132. Vgl. Jeanneret 2003, 18. Index Librorum prohibitorum 1564, 17.

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Moderne Obszönität und antike Texte BÜCHER, die schamlose oder obszöne Dinge vorsätzlich behandeln, erzählen oder lehren, werden gänzlich verboten, da sie nicht nur die Grundsätze des Glaubens, sondern auch der Sitten beinhalten müssen, die durch die Lektüre derartiger Bücher leicht verdorben zu werden pflegen. Diejenigen, die diese besitzen, werden von den Bischöfen hart bestraft werden. Die antiken (Bücher) aber, von Heiden geschrieben, werden wegen der Feinheit und Eigentümlichkeit der Sprache erlaubt werden. Ungeachtet dessen dürfen sie jedoch den Jungen nicht vorgelesen werden.

Der Index folgt zum einen den antiken Bildungsvorstellungen (Aristoteles/Quintilian), dass obszöne Texte nicht für den Unterricht von Jungen geeignet sind, zum anderen wird die historisch-defektive Disposition der Autoren als Heiden entschuldigend herangezogen. 320 Der Hauptgrund für die Ausnahme scheint allerdings ein sprachlicher zu sein: proprietas »bezeichnet die in einer Sprachgemeinschaft übliche, eigentliche Bezeichnung einer Sache oder eines Sachverhalts im Gegensatz zu allen davon abweichenden ungebräuchlichen oder übertragenen, figurativen Ausdrücken.«321 Eine solche Eigentümlichkeit wird insbesondere für das Attische veranschlagt und auch Martials Charakterisierung seiner Epigramme durch die Ausdrücke latine loqui (MART. 1 praef.13) und lasciua uerborum ueritas (MART. 1 praef.9) deuten in diese Richtung. Im Begriff elegantia klingt Quintilians Lob der Alten Komödie und des Terenz an.322 Ferner beschloss das Konzil die Einführung des geschlossenen Beichtstuhles. 323 Einerseits bedeutet das Verbot des öffentlichen Sprechens über den Sex eine externe Prozedur der Ausschließung, welche die Kontrolle dieses Diskurse ermöglicht :324 »on a défini de façon beaucoup plus stricte où et quand il n’est pas possible d’en parler; dans quelle situation entre quels locuteurs, et à l’interieur de quels rapports sociaux; 320 321 322 323

324

Boispréaux 1742, iij, wird sich in seine Petron Übersetzung darauf berufen: »C’eſt un Payen qui parle; ſes diſcours ne peuvent faire d’impreſſion ſur les ames éclairés.« Matuschek/Urban 2015, Sp. 315. QVINT. inst. 1.8.8. Im 15. und 16. Jahrhundert war neben der individuellen auch die gemeinschaftliche Beichte im Rahmen der Messe üblich. Diese Praxis verschwand allerdings zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Vgl. hierzu Lebrun 21999, 82: »Plusieurs facteurs contribuent à cette disparition: les interrogations des protestants, les progrès de la liturgie romaine au détriment des usages de la France du Nord, enfin les progrès, puis le triomphe de l’examen et de la direction de conscience.« Eine weitere Anordnung des Konzils war die Verbannung von Nackt-Darstellungen in Kirchen, die bis dahin nicht ungewöhnlich waren (so etwa Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle): »Picturae in capella Apostolica coperiantur, similiter in aliis ecclesiis, si quae aliquid obscoenum aut evidenter falsum ostendant.« (»Die Gemälde in der Apostolischen Kapelle sollen bedeckt werden, auf ähnliche Weise (soll) in anderen Kirchen (verfahren werden), wenn sie irgendetwas Obszönes oder offensichtlich Falsches zeigen.« Dekret vom 21. Januar 1564, Concilium Tridentinum, Bd. 9 (1924), 1149). Vgl. hierzu Jeanneret 2003, 47. Der Text des Dekrets ist hier allerdings uneinheitlich überliefert. Die zitierte Text stellt die weniger drastische Version dar und verzichtet auf die Anweisung zur Zerstörung der Bilder, wie sie in einer vatikanischen Handschrift (Borg. Lat. 61, fols 318–321, at 318v, zitiert bei Schlitt 2005, 145, Anm. 10) verlangt wird. Statt »similiter in aliis ecclesiis« heißt es dort »in aliis autem ecclesiis deleantur« (»in den anderen Kirchen sollen sie zerstört werden«). Zu dieser textlichen Diskrepanz siehe O’Malley 2012, 354, Anm. 10. Zu dieser Prozedur siehe Foucault 1971, 10–12.

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on a établi ainsi des régions sinon de silence absolu, du moins de tact et de discrétion.«325 Andererseits greift im separierten Raum des Beichtstuhles eine interne Prozedur der Kontrolle, die paradoxerweise über eine Diskursivierung des Sexes funktioniert, die sich nach Foucault in einer asketischen und klösterlichen Tradition formiert hat: »Le XVIIe siècle en a fait une règle pour tous. […] Un impératif est posé : non pas seulement confesser les actes contraires à la loi, mais aussi chercher à faire de son désir, de tout son désir, discours. Rien, s’il est possible, ne doit échapper à cette formulation, quand bien même les mots qu’elle emploie ont à être soigneusement neutralisés.« 326 Mit dem geschlossenen Beichtstuhl hat die Kirche also einen nichtöffentlichen Ort geschaffen, an dem häretische Gedanken ihren Platz fanden und so bis in die sprachliche Formu-lierung hinein kontrolliert werden konnten. Théophile aktualisiert mit der Inszenierung eines Beichtgesprächs die Tradition der literarischen Heterotopie, die, begonnen mit dem Theater und dem religiösen Kult, vor allem von Satire und Epigramm konstruiert wird und dem Obszönen einen Raum gibt. Die veränderten Bedingungen des literarischen Feldes katapultieren die Literatur vom restriktiven Raum dess Privaten in einen offenen und unkontrollierten Raum und zerstören auf diese Weise den heterotopen Charakter des Obszönen. Es ist vor diesem Hintergrund nicht erstaunlich, dass Théophiles Gedicht, das sich in der Form einer Beichte präsentiert327 und so einen nicht-öffentlichen Diskurs öffentlich macht, derartige Reaktionen hervorgerufen hat. Wirft man einen Blick in Garasses Schrift La doctrine curieuse, einer Art Schmähschrift gegen Théophile und den Libertinage, die wenige Monate nach dessen Sonett veröffentlicht wurde, wird deutlich, worin für den Ankläger die Provokation des Gedichtes bestand: [A]uiourd’huy on verra vn liure qui ſe vend publiquement dãs les galeries du Palais, qui port en front vn Sonnet execrable, par lequel l’autheur, qui ſe dit le ſieur THEOPHILE ſe repentant, à ce qu’il dit, d’auoir eu & contracté vne maladie infame auec vne proſtituée, fait vœu à Dieu d’eſtre SODOMITE tout le reſte de ces iours, & ce par des parolles les plus execrables qui ſoient iamais ſorties de la bouche du plus abominable Sodomite qui ait eſté enueloppé dans les cendres de Gomorrhe.328

»Sodomite«329 heißt es dort in Großbuchstaben. Die unsittliche sexuelle Praxis des Dichters, für die das Gedicht den Beweis liefere, stellt demnach als Verstoß gegen die Orthodoxie das Vergehen dar. Das Gedicht wird zweifach als execrable charakterisiert, es rufe, so suggeriert Garasse, eine starke affektive Ablehnung hervor. Der Begriff execrable entstammt dem religiösen Bereich und bezeichnet den Bruch der kirchlichen 325 326 327

328 329

Foucault 1976, 26. Foucault 1976, 29f. Vgl. Foucault 1976, 30: »On pourrait tracer une ligne qui irait droit de la pastorale du XVIIe siècle à ce qui en fut la projection dans la littérature, et dans la littérature ›scandaleuse‹.« Foucault denkt hier vor allem an den Marquis de Sade und an das 18. Jahrhundert. Der Beginn dieser Linie ist bei Théophile de Viau zu suchen. Garasse 1623, 782 (Hervorhebungen im Original). Wie Dupas 2010 gezeigt hat, bezeichnet der Begriff zu dieser Zeit keinesfalls ausschließlich gleichgeschlechtlichen Sexualverkehr, sondern Analsex sowohl mit Männern als auch mit Frauen.

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Doxa, in diesem Falle eine Sexualpraktik, die den Zorn Gottes nach sich zieht. 330 Gegenstand der auch im Schriftbild ausgedrückten Empörung, die zugleich auf den ersten flüchtigen Blick Garasses Botschaft vermittelt (Theophile Sodomite), ist ferner die Öffentlichkeit des Bekenntnisses (qui se vend publiquement).331 Es scheint weniger die sündige Tat als solche zu sein, als vielmehr die Tatsache, dass sich der Autor damit öffentlich brüstet (ſe repentant), 332 die diese Reaktion hervorruft. 333 Diese Sicht erstaunt, denn das Gedicht ist von seinem Aussagegehalt her alles andere als positiv hinsichtlich der Folgen der Ansteckung mit der vérole. Die Paraphrase des Gedichtes wahrt die Distanz des Zitats (a ce qu’il dit). Den sexuellen Akt des foûtre en cul »übersetzt« Garasse als sodomie und interpretiert ihn damit als christliche Sünde, versetzt damit die Bezeichnung des konkreten sexuellen Aktes wieder ins Vage.334 Denn Théophile rekurriert in dem Gedicht geschickt auf die Ikonographie der Syphilis, eine Assoziation, die über den Namen Phylis noch unterstützt wird. Fieber und Schwindsucht lassen seine Krankheit somit als Strafe Gottes erscheinen. 335 Garasse übersetzt das Sonett in christliche Sündenterminologie. Die 330

331 332 333 334 335

Vgl. Nicot 1606, 270, s.v. Execrable: »Execrable & deteſtable, Sacer, Execrabilis, Deuotus.«; Dictionnaire de l’Académie Françoise 1694, s.v. execrable, t.1, 414: »Deteſtable, dont on doit avoir horreur. Crime execrable. parricide execrable. c’est un homme execrable.« Der christologische Gebrauch wird im Laufe des 17. Jahrhunderts in eine Verwendung als ästhetischem Terminus des (bon) goût ausgeweitet: »Il ſe dit fig. Par exaggeration des choſes extremement mauvaiſes. Que dites-vous de ce livre, de ce poëme? il est execrable. cela a un gouſt execrable.« (ebd.) Vgl. Jouhaud 2000, 27–95. Vgl. dazu auch Garasse 1623, 874. Die Wortwahl berührt sich auffalllend mit Bayles erster (und verwerflichster) Kategorie der Obszönität, siehe hierzu Kapitel 4.4. Diese Vagheit des Begriffes ist bereits in der biblischen Fassung (Gen. 19) selbst angelegt, in der die konkreten Vergehen nicht benannt, sondern lediglich »erkannt« werden. Vgl. Lev. 26, 14–16 (Biblia Sacra 1590, 107, Lev. 26, 12–14): »Quòd ſi non audieritis me, nec feceritis omnia mandata mea, ſi ſpreueritis leges meas, & iudicia mea contempſeritis, vt non faciatis ea quæ a me conſtituta ſunt, & ad irritum perducatis pactum meum: ego quoque hæc faciam vobis: Viſitabo vos velociter in egeſtate & ardore, qui conficiat oculos veſtros, & conſumat animas verſtras. Fruſtra ſeretis ſementem, quæ ab hoſtibus devorabitur.« (»Werdet ihr mir aber nicht gehorchen und nicht alle diese Gebote tun und werdet ihr meine Satzungen verachten und meine Rechte verabscheuen, dass ihr nicht tut alle meine Gebote, und werdet ihr meinen Bund brechen, so will auch ich euch dieses tun: Ich will euch heimsuchen mit Schrecken, mit Auszehrung und Fieber, dass euch die Augen erlöschen und das Leben hinschwindet. Ihr sollt umsonst euren Samen säen und eure Feinde sollen ihn essen.« [Luther-Bibel 2017]) Vgl. auch Dtn. 28,22 (Biblia Sacra 1590, 169): »Percutiat te Dominus egeſtate, febri & frigore, ardore & æſtu, & aere corrupto ac robigine, & perſequatur donec pereas. (»Der HERR wird dich schlagen mit Auszehrung, Entzündung, Fieber, Wundbrand, Dürre, Getreidebrand und Getreiderost; die werden dich verfolgen, bis du umkommst.« [Luther-Bibel 2017]). Vgl. auch Num. 12, 9–11. Die mittelalterliche Kirche machte diese Verbindung zur Doktrin. Vgl. von Siebenthal 1950, 48. Kroll/Bachrach 1986 kommen dagegen in ihrer Untersuchung der hagiographischen und historiographischen Texte des Frühmittelalters zu dem Schluss, dass sich dort kein zwingender Zusammenhang zwischen Sünde und Krankheit nachweisen lasse. Im Rahmen des griechischen Bildungsideals der Kalokagathia wird eine Verbindung zwischen Reinheit des Körpers und Reinheit der Seele angenommen, die Einheit von äußerlicher Schönen (kalos) und innerer Tugendhaftigkeit (agathos) wird somit zum moralischen Indiz: »Begeht man ein Verbrechen, das nicht bekannt wird und somit von den Menschen unbestraft bleibt, so trägt man in sich die

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Doctrine curiseuse treibt nämlich vor allem ein pädagogischer Impetus an. Der Vorwurf des se repanter scheint also aus etwas Fehlendem zu resultieren. Die Übersetzung durch Garasse macht deutlich, worin für ihn die wahre Provokation bestand: Nicht in der vermeintlichen Tat als solcher, sondern in den Worten, mit denen der Dichter darüber spricht. Das Gedicht schildert nämlich zwar recht plastisch die Auswirkungen der Syphilis, zieht aber keine moralische Lehre aus der Ansteckung mit der Krankheit. Es fehlt also eine christliche Auslegung der Tat, eine affizierende Bewertung als Sünde, auch über die Verwendung der richtigen verba. Das Gedicht endet ferner nicht in einer Lossprechung, sondern in einer Pointe, mit einem Lachen und dem Versprechen, weitere Sünden zu begehen. Garasse sieht demgegenüber seinen Auftrag darin, mit äußerst großem, aber oberflächlichem Aufwand gegen die Verbreitung libertiner Schriften vorzugehen. »Si le poison des libertins pouvait infecter par un bref et léger contact, le contrepoison devait pouvoir agir dans les mêmes conditions : à doses faibles, […] en tenant compte même de la possibilité d’une lecture qui garderait ses distances avec le texte lu.«336 Die verhängnisvolle Neuerung in der Publikation des Parnasse satyrique von 1622 war die Nennung eines Namens auf dem Deckblatt (»par le Sieur Theophille«, siehe Abbildung unten), die in der zweiten Auflage noch verstärkt wurde, da dort darauf verzichtet worden war, ein Vorwort (Avertissement au lecteur) zwischen das Titelblatt und die Gedichte zu platzieren, wie dies noch in der ersten Auflage von 1622 geschah.337 Aus einem anonymen dichterischen Ich wurde somit eine konkrete Person, die nunmehr juristisch zur Verantwortung gezogen werden konnte. 338 Die Anklage Théophiles basiert auf einem ontologischen Realismus, der den Zeichencharakter der Sprache nivelliert. Der Name »Theophille« verweist nicht auf eine Bedeutung, sondern auf die physische Person, der Name ist die Person. Durch die Präposition »par« wird eine direkte Verbindung zwischen Text und Namen hergestellt. Die mittelalterliche katholische Exegese nimmt einen vierfachen Schriftsinn an und konzentriert sich weniger auf die verba als auf die Interpration der res, die ohne Bezug auf einen Autor erkannt werden können. 339 Denn in der Bibel sind nicht nur die Worte, sondern auch die Dinge bedeutsam und interpretierbar: »non solum voces, sed

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339

Schuld; und diese Belastung durch die heimliche Schuld, kann sich äußerlich deutlich machen, etwa durch eine Krankheit, häufig eine Krankheit, die sich in äußeren Symptomen manifestiert. Die Schuld wird oft auch als eine Verunreinigung verstanden, deren Wirkung sich nicht auf den eigentlichen Urheber beschränkt, sondern möglicherweise seine gesamte Gemeinde oder aber erst seine Nachkommen erfaßt« (Chaniotis 1997, 143). Jouhaud 2000, 65. Zudem folgten in der Edition von 1622 auf das Vorwort noch 15 Gedichte au lecteur, die das Autor-Leser-Verhältnis und die Charakteristik der Texte bestimmen. Debailly 2009, 132f.: »Au XVIIe siècle, le nom se confond avec la personne, avec l’honneur. Le tourner en dérision équivaut à une défiguration, à une mutilation de la face. La plupart des humanistes et des poètes considèrent que la satire en vers est légitime, mais à la condition de rester anonyme et générale.« Im Mittelalter war die Nennung des Dichter-Namens eher die Regel als die Ausnahme. Vgl. Curtius 111993, 503–506. Vgl. generell die vierbändige Untersuchung von de Lubac (1959–1964), ferner Ohly 1977 [1958], 13–15.

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et res significativae sunt.« 340 Die (protestantisch beeinflusste) Hermeneutik des 17. Jahrhundert verwirft dagegen diese Konzeption zugunsten einer Beschränkung auf den sensus litteralis des Textes, der mit der Meinung des Autors zusammenfällt. Sie fokussiert sich daher auf die verba und auf den Autor.341 Der Text repräsentiert folglich den Namen und damit den Autor als leibhaftige Person. Die Diskrepanz und Distanz zwischen Namen und Repräsentation verdeutlicht Garasse auch syntaktisch: »par lequel Autheur, qui se dit Théophile«. Jean Marmier hat gezeigt, dass Théophile selbst mit einem solchen literarischen Autobiographismus, der zu jener Zeit eher ungewöhnlich war,342 spielt und eine Ambiguität des je durch ein théâtre du moi stiftet, durch eine »mise en scène du moi qui se réalise de façon indirecte par l’autoportrait«.343 Dadurch werde nicht klar, ob auf eine fiktive Erzählerfigur oder auf den historischen Autor referiert wird. Im Rahmen seiner Verteidigung beruft sich Théophile wiederum auf die lex Catulli: »[F]aire des vers de Sodomie ne rend pas vn homme coulpable du faict: poëte & pederaſte ſont deux qualitez differentes.«344 Die Trennung in vita und versus war zu dieser Zeit allgemein bekannt, auch der Dichter Maynard, der sich selbst als französischer Martial inszeniert (alter Gallo in orbe Martialis), imitiert dessen berühmte Unterscheidung: »Ma plume 98s tune putain, /mais ma vie 98s tune sainte.«345 Théophile setzt sein Ich wiederum in die Nähe der Natur und in Gegensatz zur zeitgenössichen Kultur: »la couſtume du ſiecle eſt contraire à mon naturel […] ma façon de viure eſt toute differente«.346 Es klingt hier der Degenarationstopos der Zivilisationskritik durch, nach dem die überkultivierte Gesellschaft (superfluitez) sich zu sehr von der Natur entfernt habe.347 Aufgrund der vorraussetzungsreichen Interpretation des Sonnets hat dieses schließlich im Verlaufe des zweiten Prozesses eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Denn Aussagen, die sich erst durch intertextuelle Lektüre, die bis in die Antike 340 341 342

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347

Excerptiones Allegoricae [12. Jh.], lib. 2 cap. iii, in der Appendix zu den Werken Hugos von St. Victor (1854), t. 3, 205 (=PL 177, 205B); vgl. auch AVG. doct. christ.1.1–2. Zur Bedeutung Luthers für diese neue Hermeneutik siehe Holl 31923; Ebeling 1942. Vgl. van Damme 2004, 177: »Au XVIIe siècle, existe une théorie des pronoms et de leurs fonctions qui précise que la première personne détourne l’attention de l’identité du locuteur, si l’écrivain dit › je‹, c’est qu’il veut que l’on oublie son identité. Car ›je‹ peut désigner n’importe qui, si l’on ne prend pas la peine de le renvoyer à un nom propre.« Vgl. auch D’Angelo 2008. Marmier 1978. Eine solche Lesart wird beispielsweise in Ode XXIII (à M. du Fargis) evoziert: »Et que pour bien renger le diſcours & l’eſtude, / En matiere d’amour ie suis un peu trop rude: / Il faudroit comme Ouide auoir eſté picqué; / On eſcrit ayſément ce qu’on a pratiqué. / Et ie te iure icy ſans faire le farouche, / Que de ſe feu d’amour aucun traict ne me touche; / Ie n’entends point les loix, ny les façons d aymer.« (Viau 1621, 73). Vgl. Bray 1991; DeJean 1981. Viau 1624, 27. Maynard 1864 [1623], 39. Viau 1623, 9f. Diese Verse stehen in auffälligem Gegensatz zu OV. ars 3.122. DeJean hat auf die starke Verwobenheit von Leben und Werk Théophiles hingewiesen: »il s’établit entre la vie et le texte un jeu de miroirs si constant qu’à la fin il est impossible de dire où l’homme finit et où l’œuvre commence« (DeJean 1985, 446). Vgl. Viau 1623, 10: »Ceſte mignardiſe de complimens communs, et ces reuerences inutiles qui fõt auiourd’huy la plus grande partie du diſcours & des actions des hommes: ce ſont des ſuperfluitez ou ie ne m’amuſe point«.

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zurückreicht, in dieser Weise verstehen lassen, liefern für juristische Fragen kaum harte Fakten. Weniger als auf die beschriebenden Taten konzentriert sich die Vernehmung folglich auf die obszönen Worte der Gedichte und die Adressaten.348 Im Verlaufe des zweiten Prozesses stand dann vor allem Théophiles freie, zwischen Vers und Prosa wechselnde Übersetzung des platonischen Phaidon (Traité de l’Immortalité de l’Ame ou la mort de Socrate, 1621), der eine offenkundigere Verbreitung häretischen Gedankengutes war,349 im Mittelpunkt der Verhandlung.350 Dennoch bedeutete der Prozess offenbar einen Bruch mit der Tradition der geduldeten obszönen Literatur, wie sie seit der Antike üblich war. Die Erkenntnis, dass die Antike, wie Théophiles Sonett gezeigt hat, unter den veränderten Rezeptionsbedingungen in diesem Punkte eben nicht nachahmenswert ist, hat für die Poetik und damit auch für die Wahrnehmung der Antike als Modell weitreichende Konsequenzen. 2.3.2

»Phylis, tout est …outu« und die Antike

Wenngleich der Prozess um Théophile gleichzeitig Bündelung und Anfangspunkt für enorme Veränderungen im literarischen Diskurs bedeutet, so ist der Text ebenso wie die Reaktionen auf ihn auch für das Verhältnis zu den antiken Texten exemplarisch. Das Sonett ist in der Forschung zumeist aufgrund der soziokulturellen Veränderungen rund um das Gedicht betrachtet worden. Inhalt und Form des Gedichtes, insbesondere die in ihm zum Ausdruck kommende Antikenrezeption sind dagegen bisher kaum beachtet worden. 351 Ich möchte daher das Gedicht zunächst in seiner Spezifität als Gedicht betrachten und im Folgenden eine Interpretation vorschlagen, nach der in Théophiles Text mehrere diskursive Elemente der Antikenrezeptionen zusammenlaufen. Wie ich zeigen möchte, ist der Skandal keinesfalls kontingent, sondern das Sonett birgt in seiner Verbindung bestimmter literarischer Elemente eine Sprengkraft, die wohl auch Théophile selbst überrascht haben mag. Relevant für die vorliegende Untersuchung ist das Sonett, weil es ein neues Verhältnis zur Antike, eine neue Dichtungspraxis propagiert, die den epistemischen Veränderungen Rechnung trägt. Hierzu parodiert der Text geschickt die literarische Antikenrezeption seiner Zeit und instrumentalisiert die humanistischen Praktiken. Er legt die traditionelle imitatio 348 349

350 351

Siehe Lachèvre 1968 [1909], t. 1, 252. Vgl. hierzu DeJean 2002, 41. Vgl. Garasse 1623, 880–887. Gerade der Phaidon ist freilich in der christlichen Tradition besonders stark rezipiert worden. Die Interpretation und damit Christianisierung des Dialoges durch die Kirchenväter lässt aber eine einfache Übersetzung völlig außer Acht, sodass der unkommentierte Text wiederum häretische Züge hat. Bereits 1542 war der Gelehrte Étienne Dolet für seine Übersetzung desselben Dialogs zum Tode verurteilt worden. Er habe, so der Vorwurf, Platon so übersetzt, dass dort die Unsterblichkeit der Seele negiert werde, was allerdings im griechischen Original nicht zu finden sei. Dolet habe sich also mit seiner Übersetzung einer häretischen Interpretation schuldig gemacht. Dolet hatte in der Tat von einer sehr wortgetreuen Übersetzung abgesehen. Vgl. Pacquier 2009; Lecompte 2009. Vgl. Garasse 1623, 885. Vgl. dazu Saba 1999, 131–139. DeJean konstatiert (unter Verweis auf ihre latinistischen Kollegen) lediglich: »Théophile was trying to create an overtly Latinate ambiance« (DeJean 2002, 146, Anm. 32). Eine Nähe sieht sie vor allem in c.16, »as the one Théophile evidently had in mind when writing the poem.«

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veterum als krankmachend offen und ebnet auf diese Weise den Weg für das zukünftige Verhältnis zur Antike. Théophile inszeniert in diesem Gedicht seine Poetologie des eſcrire à la moderne und setzt diese gleichzeitig bereits performativ um. An der Antikenimitation seiner Zeit kritisiert er vor allem die Ignoranz der historischen Distanz, die zu einer sprachlichen Defamiliarisierung, wie es Jakobson und Tynjanov ausdrücken, 352 geführt habe.353 Mehrfach polemisiert Théophile beispielsweise gegen die antike Mythologie. Dennoch verwendet er die Mythologie, wie Rizza gezeigt hat, erneuert sie aber im Kontakt mit der zeitgenössischen Realität.354 Sowohl die Argumentation als auch das literarische Verfahren schließen an die epigrammatisch-satirische Tradition der recusatio der episch-tragischen Behandlung des Mythos an, die auch Martial als antiquiert und lebensfern kritisiert, und demgegenüber einen komisch-ironischen Umgang mit der Tradition pflegt.355 Eine solche Epigrammatisierung erfährt, wie im Folgenden gezeigt werden soll, die Figur der Phylis, als weibliche konstruierte Antike, und mit ihr das antike literarästhetische Vokabular. Das Gedicht platziert antike Motive, die mittels Sexualität das Verhältnis von Autor und Leser, die Produktion und die Rezeption von Dichtung codieren, und aktualisiert sie in einem christlichen Kontext. Das Gedicht macht deutliche Anleihen an antike Motive und Figurationen. Dies beginnt mit dem ersten Wort, dem Namen Phyllis (bzw. Philis in Vers 11) 356 , der aus der antiken Dichtung357 als ein typischer Hetären-Name bekannt ist und in anderen Gedichten als die elegische Geliebte angesprochen wird. 358 Mehrfach kommt diese z.B. in den Epigrammen Martials vor (dazu weiter unten mehr).359 Phylis ist vom Typus der vetula, einer als alt und abstoßend dargestellten Frau, deren Alter aus der Perspektive der römischen Norm im Widerspruch zu ihrer sexuellen Aktivität steht. Théophile macht 352

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Vgl. Jakobson 51994; Tynjanov 51994 [1927]. Jakobson und Tynjanov bestimmen das Wesen der literarischen Sprache gerade in ihrem Gegensatz zur Alltagssprache. Théophile wendet diese Distanz auf eine historische Perspektive an. Diese Defamiliarasierung demonstriert Théophile zu Beginn der Première journée, die mit einer in antikem epischem Stil verfassten Beschreibung des Sonnenaufgangs beginnt, die daraufhin ironisch auf die prosaische Aussage »il eſtoit iour« reduziert wird. Beide Darstellungsweisen bilden die Pole, zwischen denen Théophile sich hier stilistisch positioniert. Zur Auseinandersetzung Théophiles mit der Antikenimitation der Pléiade siehe Kapitel 3.1.2. Rizza 1982b. Ähnlich ironisiert er auch Vergils Aeneas. In der Elegie Au comte de Candale (I/XXXVI) und in der Ode au Duc de Montmorency (I/VII) erklärt er ihn zum vagabont. In der Première journée bringt er diese Verständnis auf die Formel: »il faut eſcrire comme il [sc. Homere] a eſcrit, mais pas ce qu’il a eſcrit« (Viau 1623, 20). In den (bukolischen) Elegien und Sonetten wird stets ›Phillis‹ geschrieben (vgl. Viau 1621, 94; 97; 124). In der Mythologie ist Phyllis die Tochter des thrakischen Königs Sithon, die aus Liebeskummer in einen blattlosen Mandelbaum verwandelt wurde (Φυλλίς ›Blatt‹, ›Laub‹). Vgl. OV. epist. 2. Daran anschließend ist der Name auch in der Bukolik geläufig. Vgl. VERG. ecl. 3.76–79; 107; 7.14; 59–64; 10.37–41. Z.B. Viau 1621, 94. MART. 10.81.; 11.29; 11.49 (50); 12.65. Insgesamt treten die Figuren der 2. und der 3. Person stets als Stereotypen auf, insbesondere eine Vielzahl an Prostituierten (in der Regel mit griechischen Namen), mit denen die Sprecher-persona verkehrt. Diese Typen wiederum entstammen dem Inventar der sogenannten Neuen Komödie.

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Phylis zur Chiffre für die Antike, die, obzwar alt und unfruchtbar, weiterhin »Verkehr« einfordert.360 Die Sodomie wird somit zum Emblem der Moderne.361 Das Verb foutre ist dabei in catullischer Tradition als semiotische Metapher zu verstehen.362 In seinem poetologischen Manifest, dem Vorwort der Première journée (1623), attestiert Théophile der dichterischen Produktion der Pléiade, die auf Antikenimitation setzt, eine »grande stérilité«.363 Die Figur der Phylis ist allerdings aufgrund ihres Alters nicht nur unfruchtbar, sondern gar krankmachend.364 Die Krankheit hat soziale Ausgrenzungsstrategien der Syphilis- und Pestbekämpfung, der Distanzierung, zur Folge. Im 17. Jahrhundert konkurrierten viele Theorien über den Ursprung der Syphilis. Gilles Ménage widerspricht etwa der Idee Andrien Valois’, der behauptet, »que la vérole eſt de toute antiquité, & que cette contagion a pris naiſſance en même tems que la débauche«.365 Ménage hält sie dagegen für eine moderne Krankheit. Als Folge der Krankheit leidet der Sprecher auch an Impotenz (mon vit baisse la tête). 366 In den antiken Gattungen Elegie und Epigramm wird Masturbation zur Heilung von Impotenz herangezogen. In Ovids Dichtung konstituiert, wie Sharrock betont, die impotente Figur den potenten Autor, denn die Elegie ist programmatisch impotent.367 Der Epigramm-Dichter Martial tritt dagegen betont viril auf, wie etwa in Epigramm 11.29:

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Vgl. Fuhrer 2009. Ähnlich verfährt auch de Sade in Les Cent Vingt Journées de Sodome (1785) und vor allem in La Philosophie dans le boudoir (1795), wo sich allerdings im letzten Dialog die bigotte und moralisch konservative Mutter mit der vérole ansteckt. Für diesen Hinweis danke ich Michel Delon. Eine solche Verwendung verdeutlicht das letzte Gedicht der Sammlung, das in der ersten Ausgabe von 1622 noch unter den Gedichten au lecteur platziert war: »Tout y chevauche, tout y …ut; / L’on …ut dans ce livre partout: / Afin que les Lecteurs n’en doutent, / Les Odes …tent les Sonnets, / Les lignes ...tent les feuillets, / Les lettres meſmes s’entre...utent.« (Parnasse des Poetes Satyriques 1622, f. ã v r.) Siehe hierzu Kapitel 3.1.2. Eine noch drastischere Pointe entsteht, wenn man die lineare Geschichte der Beziehung zur Phillis der Elegien miteinbezieht. Demnach ist sie, wie Properz’ Cynthia, verstorben (Viau 1621, 124) und ihm im Traum erschienen. Vor diesem Hintergrund ließe sich das Sonett gar als Nekrophilie lesen. Ménage 31715, t. 1, 198 (vgl. Valois 1694, 13). Ferner war die Ansicht verbreitet, dass Frauen immer Syphilis hätten. Vgl. hierzu Schonlau 2005, 57. Vgl. auch Kiening 2003, 200: »Die visuelle Annäherung von Tod und Frau zielt darauf ab, die grundlegende Affizierung sexueller Begierde durch die Tödlichkeit menschlichen Daseins auszudeuten und zugleich als Gefährdung des Mannes zu erweisen.« Die Syphilis ist seit ihrem verheerenden Auftreten und ihrer Verbreitung in großen Teilen Europas Ende des 15. Jahrhundert sehr stark kulturell konstruiert. Im Lauf des 16. Jahrhunderts sind dabei infolge einer breiten Ursachensuche vor allem ethische und politische Gründe stark gemacht worden. Die theologische Moralphilosophie sieht in der Syphilis eine göttliche Vergeltungsstrafe. Der Begriff ulcere (Vers 4) begegnet uns als ulcus ebenfalls bei Martial als Sexualkrankheit in Verbindung mit Prostituierten. Siehe MART. 11.60. Vgl. Sharrok 1995, 159, 166, 175.

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Moderne Obszönität und antike Texte Languida cum uetula tractare uirilia dextra coepisti, iugulor pollice, Phylli, tuo: nam cum me murem, cum me tua lumina dicis, horis me refici uix puto posse decem. Blanditias nescis: ›dabo‹ dic ›tibi milia centum et dabo Setini iugera certa soli; accipe uina, domum, pueros, chrysendeta, mensas.‹ Nil opus est digitis: sic mihi, Phylli, frica. Wenn Du anfängst, mit Deiner greisen Hand, mein schlaffes Glied zu traktieren, werde ich von deinem Daumen erwürgt, Phyllis. Denn wenn Du mich dein Mäuschen, wenn Du mich Dein Augenlicht nennst, dann glaube ich, kann ich kaum in zehn Stunden wieder zu Kräften kommen. Von Schmeicheleien verstehst Du nichts. Sag doch: ›Ich werde Dir hunderttausend geben und ich werde Dir eine festgesetzte Morgenzahl an Setinischem Boden geben; nimm Weine, Haus, Sklaven, Goldgefäße und Tische.‹ Finger sind keineswegs nötig. So rubbel mir einen, Phyllis.

Das Epigramm stellt offensichtlich einen Intertext für die Lektüre des Sonetts dar. Die Figur der Phyl(l)is, das Motiv der Masturbation (fricare) 368 sowie Potenzprobleme (languida virilia) 369 des Sprechers stellen eine deutliche Parallele dar. Ebenso wie in Théophiles Sonett gibt hier der Sprecher der Hetäre Phyllis, mit der er öfters verkehrt, die Schuld für seine Erektionstörung. 370 Statt körperlicher Masturbation fordert Martial von ihr verbale Befriedigung, die in Beschenkungsankündigungen besteht. In Théophiles Dichtung lässt sich die Sexualität als Code für literarästhetische Prozesse lesen. Der Versuch einer heilenden Masturbation durch ihn selbst, d.h. eine Hinwendung zum Ich (je ne m’ose toucher), scheint Théophile durch den krankmachenden Kontakt mit der Antike unmöglich gemacht. Die (angedeutete) Masturbation stellt zudem einen heimlichen Verstoß dar, dem die Pädagogik große Aufmerksamkeit schenkt, denn aus Sicht der Kirche birgt das stets verfügbare Selbst eine Gefahr. Die Selbstbezüglichkeit des modernen Subjekts hat daher stets des Korrektivs der Gesellschaft bedurft. 371 Der Diskurs über die Masturbation bildet eine Konstante in der modernen Subjektivität. Der Konfessionscharakter des Gedichtes ist auch in Hinsicht auf die autobiographische Interpretation bedeutsam. Die sexuellen Praktiken, die der Sprecher hier erwähnt, stellen ein Konglomerat an Sünden dar. Sexueller Verkehr mit einer Prostituierten zählte sogar zu den Todsünden. Der einzige Weg zur Gesundung ist daher ein aktives, d.h. männliches Verhalten, das Théophile als pedicatio codiert. Die Pointe illustriert gleichzeitig den neuen, aktiven und ironischen Umgang mit den antiken Topoi. Phylis, tout est …outu inszeniert folglich das moderne dichterische Ich, das absolument moderne nicht im Sinne einer völligen Abkehr von der Antike ist, sondern im ironisch-kreativen Umgang mit ihr: 368 369 370 371

Ebenso MART. 2.43.14. Vgl. Adams 21990 [1982], 184; Sullivan 1991, 190; Richlin 2006, 351. Zur Impotenz bei Martial siehe Obermeyer 1998, 255–283. Vgl. Lausberg 31990, 340f. Vgl. auch HOR. epod. 8 und 12. Derrida hat in De la Grammatologie (1967) am Beispiel Rousseaus die Masturbation als Supplement, als einer Erfahrung zwischen Präsens und Absenz, analysiert. Siehe vor allem Derrida 1967, 214–238. Vgl. Laqueur 2004, 303: »Print culture [...] depended on and encouraged precisely those qualities that made masturbation seem so threatening.«

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»L’autoportrait est toujours absolument moderne [...] le sujet peut utiliser [les lieux communs] comme les repoussoirs qui le constituent dialectiquement, et le montrent aux prises avec l’Autre qui le hante et dont il tente de se dégager«.372 Sie entspricht einem Rückzug ins Private, einem Rückzug aufs Ich, auf die dichterische Existenz, die keiner Rechtfertigung bedarf.373 Diese Lesart wird noch durch einen zweiten Intertext gestützt, in dem es ebenfalls um Sexualakte mit Phyllis geht: Cum duo venissent ad Phyllida mane fututum Et nudam cuperet sumere uterque prior, Promisit pariter se Phyllis utrique daturam, Et dedit: ille pedem sustulit, hic tunicam.374 Als zwei am Morgen zu Phyllis zum Ficken gekommen waren, und jeder von beiden sie nackt als erster zu nehmen begehrte, versprach Phyllis, sich beiden gleichermaßen hinzugeben, und tat’s: der eine hob den Fuß, der andere die Tunika.

Théophiles Antikenrezeption offenbart die Positionierung des Ichs gegenüber dem Anderen und gegen die Antikenimitation seiner Zeit. Der doppelte Sexualakt mit Phylis codiert die beiden Arten möglicher Antikenrezeption, die Théophile einander gegenüberstellt: Vaginal im Sinne einer reinen Imitation, die krank macht, und anal im Sinne eines kreativ-ironischen Umgangs.375 Die Berufung auf literarische Traditionen im Sinne eines sic scribit Catullus stellt für Théophile keine Option mehr dar. Théophile scheint, mit Harold Bloom gesprochen, unter eine anxienty of influence zu leiden.376 Der obszöne Gestus der pedicatio, die Penetration des antiken Textkörpers, symbolisiert die Besitznahme des antiken Modells.377 Durch das implizierte Aussparen des catullischen irrumare in der Schlussformel bricht Théophile auch mit dessen Suspension des Verweischarakters. In der poetischen dissolutio, die die Realität betont, fordert er also eine biographische Lesart, d. h. die moralische Bewertung seiner Texte geradezu heraus. Die empörende Abweisung, die das Gedicht durch Garasse erfahren hat, weist auf eine Form des Ekels hin, der durch Kontakt entsteht, und weist so auf die Ästhetisierung des dégoût im Laufe des 17. Jahrhunderts voraus.378 An der Verwendung

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Vgl. Beaujour 1980, 21; Beugnot 1991; Bray 1991. Dieses Dichtungsverständnis inszeniert Théophile in der Première journée in der Figur des Clitiphon. Vgl. hierzu Debaisieux 1997, 187: »Le détournement d’intention, le passage de la justification publique à l’usage privé qu’implique le changement de destinataire dans la fiction d’ouverture correspondraient ainsi à un reniement de l’écart entre la pleine possession de soi déclarée dans le texte et la perte dans l’amour, l’exil émotionnel, ressortant de l’écriture poétique. Abandonner en fin de parcours narratif Clitiphon et la poésie qu’il lui cède (pour trop lui/leur ressembler), permet ainsi à Théophile d’échapper à l’image d’un ›moi‹ voué à la ›perte‹.« MART. 10.80. Diese Codierung basiert auf der medizinischen Ansicht, dass die Frau generell potenzieller Träger der Sypillis sei, und diese vor allem vaginal übertragen werde .Vgl. Dupas 2010, 18, der allerdings den Ausdruck foutre en cul als Hinwendung zur Päderastie liest. Bloom 1973. Vgl. Debaisieux 1997, 182. Siehe hierzu Kapitel 3.1.

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des Motivs der pedicatio und ihrer Interpretation durch Garasse als sodomie wird abermals die Distanz, aber auch die Hypokrisie der Jesuiten zwischen heidnischer Antike und christlicher Moderne offengelegt.379 2.3.3 Die obszöne Bibliothek: Die »affaire Garasse«380 und die »ruse libertine« Théophiles Sonett ist, wie gesehen, reich an (literarischen) Anspielungen. Diese reichen von Metaphorik bis hin zu den Namen von Figuren. Der Text bietet zahlreiche Unbestimmheitsstellen, die entschlüsselt werden müssen. Der philologische Umgang, d.h. die Kommentierung und Erklärung literarischer Werke, führte Garasse ganz selbstverständlich dazu, wie in der zitierten Paraphrase des Sonetts, zu erklären, ja geradezu zu übersetzen, was bei Théophile nur angedeutet wird: So wird die Figur Phylis in die literarische Tradition der antiken Hetären-Figuren eingereiht, entsprechend als »prostituée« identifiziert und der »offene« Ausdruck …tre en cu. im Sinne der religiösen Interpretation gewissermaßen als Glosse mit eſtre SODOMITE erklärt. Garasse selbst glaubte in der Unbestimmheit so etwas wie eine List aufgedeckt zu haben, mit der die Libertins ihren Atheismus nicht nur praktizierten, sondern auch verbreiteten. Neben einem hypokritischen Lebenswandel und einer sozialen Vernetzung bis in die obersten politischen Kreise macht Garasse diese List vor allem in der Polysemie der Texte aus: La ſeconde ruſe dont ils ſe ſervẽt pour authoriſer l’Atheiſme, c’eſt de parler & diſcourir auec des ambiguités & ſous-ententes, qui traiſnẽt auec elles leurs eſchappatoires, afin que s’ils ſont ſurpris, ils puiſsẽt deſaduoüer, & dire que c’eſt malitieuſement qu’on les accuſe, que iamais ils n’ont ſongé à ce qu’on veut leur faire dire, que ce n’a pas eſté leur intention, que par mal’heur ils ne ſe ſont pas expliqué aſſez ouuertemẽt.381

Die Libertins, so Garasse, machten sich also gerade eine verdeckende, metaphorische Sprache zunutze. Moralischen Vorwürfen eines Martialischen interpres malignus (vgl. den Ausdruck malicieusement) könnten sie sich so entziehen. Kurz gesagt, kehrten die Libertins also das Prinzip des Kakemphaton einfach um. Was Garasse nicht erwähnt, ist, dass derartige Dichtung den Leser zum Komplizen macht, wie es Quintilian beschrieben hat. Die Erschaffung des obszönen Sinnes wird erst durch die Füllung der Unbestimmheitsstellen durch den Leser komplett, der Leser hat also Teil am obszönen Werk. Théophiles Sonett geht allerdings über literarische Anspielungen und die Verwendungs von ambiger Metaphorik oder Indefinita noch hinausgeht und macht die Schrifltlichkeit und den Akt des Lesens selbst zum Gegenstand des Sonettes. Der Text fordert nämlich eine ganz praktische Mitarbeit ein:

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Vgl. Ogier 1623, 116, der die Parallelen im Bezug auf die antike Apologetik der Obszönität als Satire bei den libertinen Dichtern und bei Garasse zeigt. Vgl. Abramovici 2003, 32. Garasse 1623, 1007.

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Abbildung 3: Le Parnasse des Poetes Satyriques (1622), 1 (rect0) (Quelle: BnF)

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Abbildung 4: Le Parnasse des poetes satyriques (1622), 2 (verso) (Quelle: BnF)

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Diese beginnt (jenseits des Umblätterns) schon bei der graphischen Darstellung des Textes. Im Sonett Phylis tout est …outu sind jeweils die ersten Buchstaben bei den verschiedenen Formen des Verbs foutre (»...outu«; »...tue« und »...tre«) ausgelassen sowie »V.« für »vit«382 und »cu.« statt »cul« abgekürzt.383 Die graphische Organisation des Textes wird damit selbst bedeutungshaltig, da der Automatismus zwischen Phonetik und graphischer Darstellung als einheitliches System gestört wird. 384 Der Leser füllt also im Akt des Lesens diese graphischen Unbestimmtheitsstellen selbst aus, er penetriert also den Text. Die graphische Darstellung legt die sonst implizite Mitarbeit des Lesers in diesem Fall offen dar. Der Autor Théophile macht sich so den Leser durch dessen eigene Füllung dieser graphischen Leerstelle mit einem obszönen Inhalt ganz offen zum Komplizen. Der Autor erzeugt auf diese Weise eine provokante Familiarisierung, »eine unanständige Vertrautheit«, er konstruiert Mesalliancen zwischen religiösen Formeln und antiken, unorthodoxen Sexualvorstellungen.385 Eine solche Einbindung der Antike in das Christentum stellt für Garasse, wie er an anderer Stelle betont, eine besonders große Provokation dar.386 Die Anklage Théophiles hängt aus juristischer Sicht weniger mit der Verletzung religiöser Lehren als mit veränderten Vorstellungen von der Autorschaft zusammen, die zu dieser Zeit aus dem Bereich der Wissenschaft und Theologie auch in die Literatur Einzug gehalten haben. Der Verfasser eines Textes ist nun auch für dessen Inhalt als

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Der Begriff galt im 17. Jahrhundert wie auch heute als obszön und wird mit der Antike assoziiert. Vgl. Richelet 1680, t. 2, 537, s.v. Vit: »Mot qui vient du Grec, ou ſelon quelques uns, du Latin, & qui ne se dit jamais d’un honnête homme ſans envelope. […] En Latin on appelle cette partie mentula, verpa, veretrum. En Italien cazzo. Et en Eſpagnol carajo.« Die fremdsprachliche Entsprechung, insbesondere des Lateinischen, dient gegen Ende des 17. Jahrhunderts weiterhin als Erklärung des obszönen Wortes, das Richelet anders als das Verb foutre, das keinen Eintrag hat, offenbar nicht auslassen wollte. Die Kenntnis der entsprechenden Begriffe wird also vom Leser des Lexikons vorausgesetzt. Die Schreibung cu (statt cul) ist hier allerdings sowohl optisch als auch akustisch aufgrund des Reimes notwendig (vescu/cu). Lotman (1975, 101–106) hat auf die Bedeutung der graphischen Gestalt des poetischen Textes hingewiesen. Er nennt hier vor allem orthographische Eigenheiten der Dichter und stilistische Darstellungen im Druckbild (wie etwa Zeitungskolumnen), die in direktem Zusammenhang mit dem Dargestellten stehen. Auf Roger Chartier (1990, 8) geht die These zurück, dass die äußerliche Gestaltung des Textes (Druck, Anordnung, ect.) die Rezeption des Textes entscheidend beeinflusst. Siehe hierzu Kapitel 4.3, in dem die Editionen und Übersetzungen der obszönen Texte untersucht werden. Vgl. Mulsow 2007, 38–40. Im 16. Jahrhundert war eine solche Dechiffrier-Technik in obscoenis (etwa Früchte als Genitalien) eine verbreitete Praxis unter (anti-jesuitischen) Studenten. Der catullische passer beispielsweise wurde (in Anlehnung an Martials Interpretation) als Phallos gelesen. Unterschiedlicher Ansicht war man dagegen, ob dies in die philologischen Kommentare Einzug halten sollte. Eine Kommentierung auch der obszönen Texte wie der Priapea setzt erst mit Scaliger und Vossius ein. In der Folge wird auch die Bibel in solcher Weise ausgelegt. Hadriaan Beverland war vermutlich der erste, der in seinem Kommentar Peccatum originale κατ’ ἐξοχήν sic nuncupatum (1678) eine obszöne Bibeldeutung vornahm: er interpretiert die Garten Eden als weibliche Scham, den Apfel als Hoden, den Baum der Erkenntnis als Phallos und das Überreichen der Frucht als sexuellen Akt. Seine Auslegung erklärt also, wie die Obszönität in die Welt gekommen ist. Vgl. Garasse 1623, 1009f.

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auctor verantwortlich, sodass man etwa bestimmte Thesen, die in seinen Texten vertreten werden, unter seinem Namen subsumieren kann. Théophile wurde also nicht verurteilt, weil ihm häretische Sexualpraktiken nachgewiesen werden konnten oder weil er ein Atheist war, sondern weil unter seinem Namen Gedankengut verbreitet wurde, das der Orthodoxie widersprach. Diese Auslegungsmitarbeit ist, wie gesehen, in der antiken Literatur vorgezeichnet, sie gehört somit zum Interpretationsrepertoire eines jeden gebildeten Lesers. Ein ganzes Kapitel seiner Schrift widmet Garasse den Bibliotheken der Libertins: Le troiſieſme ordre qui ſe void en la Bibliotheque des Libertins, ſont des liures qui concernent non ſeulement la creance, mais qui touchent auſſi les moines, & ſont des ouurages d’vne ſi horrible impudicité, que i’ay honte d’en parler clairement, ſeulement diray-ie que ces vilains & nõmemẽt l’Amy de Dieu [… ] ont faict en ſorte qu’on eſtimera deſormais aucunement honneſtes, & paſſables les Priapées, le Petronius, le Martial […].387

Die obszöne Literatur der Antike scheint also in den Augen Garasses für die Literatur der libertins erudits wichtig zu sein, und auch er selbst kannte und achtete sie offenbar. Er sieht sie durch die libertins aber augenscheinlich zweckentfremdet. Dieser Vorwurf ist Ausdruck des Kampfes der humanistischen Gelehrten um Autonomie. Worin genau das Vergehen der libertins liegt, und wie sie dazu beigetragen haben, dass die obszönen Autoren der Antike nicht mehr als honnêtes galten, führt Garasse nicht weiter aus. Das subversive Potential dieses Mediums für Gegendiskurse scheint schon früh von den libertins erkannt worden zu sein. Die Verbindung, die Garasse hier zwischen der zeitgenössischen literarischen Produktion und der Beurteilung der antiken obszönen Literatur herstellt, ist auffällig. Weitsichtig diagnostiziert Garasse in seiner Zeit eine Zäsur (on eſtimera deſormais) in der Rezeption der obszönen Literatur der Antike. Das Argument einer erhöhten öffentlichen Wahrnehmung der Literatur kann hier nicht gelten, da die lateinische und griechische Literatur allein aufgrund der Sprache zunächst wie gewohnt unzensiert in den gebildeten Kreisen kursierte. 388 Mit dem verallgemeinernden on ist hier also nicht die öffentliche Wahrnehmung gemeint, sondern die der gebildeten Eliten, zu der auch der Jesuit Garasse selbst zählt. Denn die Lektüre der römischen Satiriker war fester Bestandteil der humanistischen Ausbildung eines jeden lettré und gehörte auch zum Lektürekanon der Jesuitenschulen. Der in antiker Obszönität gebildete Leser wird quasi gezwungen, das intertextuelle Spiel zu spielen, und wird durch seine Kenntnis der obszönen Literatur der Antike zum Komplizen des Autors. Diese Rezeption der obszönen Literatur der Antike hatte entsprechende Konsequenzen für die Schullektüre: »On commença à s’interroger sur 387

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Garasse 1623, 1016. Vgl. Lachèvre 1968 [1909] t. 1, 164. Auch Voltaire stellt Théophile (in einem Brief an den Prince de Brunswick) in diese Tradition. Voltaire 1768, 57: »Théophile fut ſurtout interrogé sur le Parnaſſe ſatiriques, recueil d’impudicités dans le gout de Petrone, de Martial, d’Ausone […] de Marot, de Verville, des épigrammes de Rouſſeau & de cent d’autres sottiſes licentieuſes.« Voltaire ist allerdings der Ansicht, das Sonett stamme nicht von Théophile. Eine ähnliche Reihung unternimmt auch d’Artigny 1739, 66. Vgl. DeJean 2002, 57.

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l’utilité de ces lectures lorsque l’espace littéraire s’ouvrit à un public élargi.«389 Garasse selbst differenziert allerdings zwischen antiker und moderner Obszönität: Parmy les Payens il y eut iadis quelque retenuë, & les plus vilains ont vſé de quelque preface honorable pour faire paſſer auec adouciſſement les impudicités de leur plume, & ont dit que le papier eſt capable de tout, que la preſſe endure tout, que leur vie n’eſt pas ſemblable à leurs eſcrits : Les plus abominables ſont Petronius, Plaute, Catulles & l’autheur des Priapées, mais encores ont ils taſché de couurir leurs ordures par quelque pretexte d’hõneur, disãt qu’ils ont fait ces choſes en leur ieuneſſe, Et placet aliquid confuſum in viuere, qu’ils ont eſté parmy les desbauches de la Gentilité, Romæ ſic viuitur, diſoit on dans Seneque pour excuſer les desbauches ; qu’ils ne les ont pas commis à la preſſe, & que ç’auoit eſté ſeulement pour le contentement de leurs amys particuliers.390

Garasse spricht hier zwei Unterschiede zwischen den zeitgenössischen libertinen Texten und der obszönen Literatur der Antike an. Zum einen unterscheiden sich beide im Grad der Verbreitung. Zirkulierte Literatur in der Antike größtenteils in Manuskriptform in einem überschaubaren elitären Kreis (amys particuliers), suchen nun die Dichter um Théophile mit ihrer offensive obscène eine große öffentliche Aufmerksamkeit (commis à la preſſe), die einen Eingriff erforderlich machte.391 Der entscheidende Punkt ist hieran allerdings nicht die Öffentlichkeit allein, sondern die Unkontrollierbarkeit dieser anonymen Öffentlichkeit. Jürgen Habermas argumentiert in Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962), dass das 18. Jahrhundert den Anfang der Demokratisierung kultureller und politischer Debatten bildet: Nicht nur die Positionen der an der Debatte Beteiligten (Politiker, Gelehrte, etc.) seien fortan zu berücksichtigen, sondern die gesamte Öffentlichkeit. Der Schrift komme hier eine Art Scharnierfunktion zu, die die bürgerliche Intimität und Privatheit auf der einen Seite mit bürgerlicher Öffentlichkeit auf der anderen Seite korreliere.392 Dieser Punkt beschreibt zwar eine bedeutende Änderung, ist aber für Garasse eher nebensächlich. Vor allem lässt er nämlich die traditionelle vita-versus-Differenzierung (que leur vie n’eſt pas ſemblable à leurs eſcrits), mit der die libertinen Dichter in der Nachfolge Catulls, Ovids und Martials argumentieren, nicht gelten. Garasse fordert das Momentum der moralischen Distanzierung ein, die das Unmoralische als solches benennt. Diese Funktion nennt Arnauld später auf semiotischer Ebene die signification propre. Ein solches Momentum vollziehen, wie gesehen, etwa Martial und Catull, indem sie ihren eigenen Text als lascivus charakterisieren und ihre Leser explizit vor der Lektüre warnen. Solche Prae-Texte (préface/prétexte honorable), die sich bedeckend (couvrir) und damit abgrenzend vor das Obszöne stellen, könnten etwa der Verweis auf eine zeitliche Distanz (das Jugendalter) oder die Einbettung in eine generelle satirische

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Abramovici 2003, 52. Garasse 1623, 779f. Vgl. DeJean 2002, 7/15: »For obscenity to be a problem it must be public. […] The obscene’s reinvention is a moment when the ability of the word – in this case the printed word – to influence opinions and change the lives of an audience of anonymous readers was widely recognized – and just as widely feared.« Vgl. auch Viala 1985, 123–151. Vgl. Habermas 2001 [1962], 225–274.

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Zeitdiagnose sein. Garasse vertieft diesen Aspekt der Dichtung noch aus rezeptionsästhetischer Perspektive. Die libertins hätten, so Garasse, ihre Strategie sogar schlecht ausgeführt, denn: il faut qu’vn poison pour paſſer aiſément ſoit bien appreſté, & corrigé deuëmẽt : il faut qu’vne impudicité ſoit couuerte de quelque honorable pretexte pour s’attacher aux eſprits, qu’elle ſoit accompagnée de quelque pointe & de ſubtilité d’eſprit, telles que ſont les impudicitez de Terence, de Martial, de Catulle, qui gliſſent doucement à la faueur de leur belles inuentions.393

Garasse benennt hier indirekt die gattungspoetischen Charakteristika (prétexte, pointe) des Epigramms, die bis dahin Geltung hatten. In der alten Ordnung des Diskurses hat das Obszöne als transgressives Element seinen Platz in den literarischen Gattungen Komödie, Satire und Epigramm. Diese müssten, so Garasse, aber als solche erkennbar sein und den Gattungskonventionen gehorchen, zu denen etwa im Epigramm eben jener Entschuldigungstopos gehört. Der Humor wirke dabei gewissermaßen als Gegenmittel gegen das Obszöne; das Sexuelle wird durch die Ansprache des esprit suspendiert, »[m]ais dire cruement des impudicités horribles, & les coucher ſottement ſur le papier« wie es Théophiles und die anderen Autoren des Parnasse, »des garçons d’eſtable, qui n’ont ny honneur, ny eſprit, ny ciuilité«394, getan hätten, entspricht nicht der Form, die seit der Antike grundlegend dafür war, dass obszöne Texte als harmlos betrachtet wurden.395 Garasses Strategie zielt also darauf ab, den libertinen Texten ihre Literarizität, die sie nicht zuletzt durch esprit erlangten, abzusprechen. So umsichtig Garasse die Folgen der libertinen Literatur für die Antikenrezeption diagnostizierte, so sehr war er in der scholastischen Tradition verhaftet und unterlag einer Fehleinschätzung seiner eigenen Zeit. Denn nur kurze Zeit später ist ironischerweise auch er selbst von der Zensur betroffen. In humanistischer Selbstverständlichkeit zitiert Garasse ausführlich die kritisierten Passagen aus dem Parnasse des Poetes Satyriques, um diese moralisch zu brandmarken und zu widerlegen. Allerdings greift das Momentum der moralischen Distanzierung aus säkularer Sicht nicht mehr. François Ogiers Vorwurf gegen ihn lautet daher: »Garasse ne ſe contente pas d’auoir leu le Parnaſſe, & d’en faire ſon rapport en termes generaux ; mais en cite en diuers endroicts de tres-deteſtables & vilains paſſages, & particulierement vn dont les poincts ne ſont pas ſi difficile à lire.«396 Garasses Mitarbeit in der Auflösung der Unbestimmtheitsstellen (les poincts) fällt nun auf ihn selbst zurück. Die schützende Funktion der Moralsierung hat ihre Wirksamkeit verloren. Couvrir ist vielmehr zu einer semiotischen Funktion geworden, die fünfzig Jahre später durch Arnauld in einer sprachhistorischen Perspektive theoretisiert wird. Garasse selbst ist wiederum Opfer einer Strategie, die gezielt die Öffentlichkeit des gedruckten Wortes gegen die des gesprochenen oder des handgeschriebenen Wortes ausspielt, »en convoquant et en 393 394 395 396

Garasse 1623, 782. Garasse 1623, 782. Vgl. DeJean 2002, 133, Anm. 9.; Stempel 1968. Ogier 1623, 18.

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capturant le débat dans un espace public élargi au tout-venant de la clientèle des librairies. Les propos hostiles se trouvent ainsi déplacés, coupés des pratiques de sociabilité qui contribuaient à leur donner un sens.«397 In einem anderem Vorwurf gegen ihn heißt es: [I]l propoſe les maximes erronées & damnables des Athees & libertins en meilleurs termes & plus claires paroles que les libertins ne ſçauroient faire. Car il eſt certain que ce qu’ils auroient de la peine d’expliquer en peu de paroles, il les met deuant les yeux de tout le monde auec vne brièveté éloquente & vne explication naifve. […]398

Die Kritiker unterstellen ihrerseits Garasse, den Kampf gegen die athées nur als Vorwand (prétexte) zu nutzen, um seinerseits Obszönitäten (»un cloaque d’impities«399) zu verbreiten. 400 Der wissenschaftliche, offene Umgang mit obszönen Texten, den Garasse in seiner Schrift pflegt, führte daher ebenfalls zur Zensur seines Werkes. Der Jesuit Garasse wird somit nicht nur als Leser, sondern auch als Autor zum Komplizen seines eigentlichen Widersachers Théophile und verbreitet auf diese Weise selbst heterodoxes Gedankengut. Die pädagogischen Praktiken Garasses treffen auf eine zunehmend politisierte Öffentlichkeit. Auch Garasse war also den veränderten Vorstellungen der Autorschaft als auctoritas unterworfen und wurde für seinen Text verantwortlich gemacht. Der Anklage Théophiles und Garasses liegt ein juristischer, repräsentativer Autorbegriff zugrunde, im Sinne einer für ihre Sprachhandlungen verantwortbaren namentlichen Person. Diese Vorstellung von der Einheit des Subjekts, das im Text greifbar ist, hat zur Folge, dass jeder Text als Geständnis oder Beichte gelesen werden kann.401 Die

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Vgl. Jouhaud 2000, 33. [Gay] 1625, 11f. Der Text ist als Dialog zwischen ›Nicanor‹ und ›Eleuthere‹ über die Doctrine konzipiert, hier spricht letzterer, der sie für gefährlich hält. Der Druck ist mit dem Namen ›Guay‹ versehen, wird aber auch Garasse selbst zugeschrieben. Zum Dialog und zur Verfasserfrage siehe Jouhaud 2000, 54–62. Ogier 1623, f. ã iiij v. Vgl. ẽ iiij v :»[Garasse r]amaſſe tout ce qu’il y d’ordure, & de boüe, & ne craint point d’en patroüller ſon Liure, ou pluſtoſt ſon pot pourry.« Vgl. auch Ogier 1623, f. ẽ vij r: »Finalement ſon Liure apprend pluſtoſt l’Atheisme & l’impieté, qu’il ne les combat.« Vgl. Ogier 1623, f. a iiij v: »Auſſi pluſieurs perſonnes iudiceuses eſtiment qu’il a pris ce pretexte d’eſcrire contre les Athées, afin, ſous ombre de Religion, de pouvoir librement carriere à ſon humeur profane, bouffonnesque & mediſante. […] Garaſſe charge en apparance ſur luy [sc. Albuquerque Viceroy=Afonso de Albuquerque, 1453–1515, portugischer General in Indien, D.W.] la cauſe de Dieu, pour pouuoir impunément offenſer & outrager toute ſorte de monde, ſans qu’on oſe, ce luy semble, ſ’attaquer à luy, comme ſi la cauſe de la verité, & la ſienne, eſtoient inſeparables.« Hinsichtlich seines Stils verwendet Ogier dasselbe Vokabulare wie Garasse für Théophile und kritisiert, dass dieser »nomme tres-souuent & frequemment des choſes execrable, […] qu’il pourroit deguiſer d’vne ſorte qui n’offenſeroit pas tant les oreilles chaſtes, à qui ces mots ſcelerez font horreur.« (Ogier 1623, 43). Vgl. auch Ogiers Analyse von Garasses Bibliothek in Chapitre III (Ogier 1623, 15– 33.) In diesem Sinne wird auch Garasse gelesen: »Il ne pardonne à aucunes ſalletez & deſbauches, leſquels il ne peut ſçavoir ſi exactement, ſans les auoir pratiquées.« (Ogier 1623, f. ẽ vij r.)

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Heterogenität der Öffentlichkeit fordert wiederum Homogenisierungs- und Ordnungsbestrebungen heraus. Aus einem homogenen und immanenten Textbegriff heraus wird in der Folge auch der öffentliche heterogene Raum homogenisiert, nach verbindlichen Kommunikationsformen und Regeln gesucht (etwa bienséance und politesse). Dies hat für die philologisch-scholastische Praxis weitreichende Konsequenzen: C’eſt ce que me confirma vn honneſte & ſcauant homme qui n’oſe pas lire ce liure deuant ſa femme & ſe voit en peine de trouuer des lieux aſſez ſecrets dans ſa maiſon pour le cacher de peur qu’elle n’y iette ſa veuë & ne ſoit faſcinee (sic) de l’eſclat funeſte de ces maximes, leſquelles ſont comme vous voyez expoſees en plus gros caracteres au frontiſpice de chaque chapitre de ce liure.402

Während also Garasse in einer Tradition steht, die ihre Auseinandersetzung in satirischer Form mündlich oder in Manuskriptform intern austrägt und dabei auch von obszönen Beleidigungen oder niederer Sprache Gebrauch macht, 403 macht sich Ogier den Geist der Separation und den vergrößerten Buchmarkt geschickt zunutze, indem er mit Hilfe von Verlegern Garasses Manuskript einer großen Öffentlichkeit zugänglich macht, um so seinen Gegner zu diskreditieren. Ogier »veut séparer ce que Garasse confond: la dignité du prêtre, sa gravité nécessaire, et la séduction par la raillerie et la satire, la réprimande spéctaculaire par l’invective.«404 Es scheint sich also zu dieser Zeit ein Wandel im Verständnis des Autors vollzogen zu haben. Die Sprache wird im Sinne eines ontologischen Realismus gedeutet, der Name wird zur Person, der Signifikant zum Signifikat. Die Krise der Repräsentation, die daraus entsteht, verdeutlicht Garasse, indem er den Namen Théophile – »nommément l’Amy de Dieu« – übersetzt und so auf den Widerspruch von Bezeichnendem und Bezeichnetem hinweist. Das Entscheidende ist die Veröffentlichung des Textes, der daraufhin jeglicher Kontrolle oder Erklärung entzogen ist, und so »tout le monde« zum potenziellen Leser wird.405 Vor allem an zwei Gruppen von Lesern wird hier gedacht: zum einen an Frauen (qui n’ose pas lire ce livre devant sa femme) und zum anderen an die Bourgeoisie,406 beides Gruppen, die keine humanistische Ausbildung erhalten haben:

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[Gay] 1625, 13. Vgl. seine Replik auf Ogier: »i’eſtime que mes eſtudes ſont ſi peu afferentes au public qu’elles ne valent pas la peine d’en diſcourir«. (Garasse 1624, 118) Jouhaud 2000, 54. Vgl. Lough 1978, 67: »So far as for relations between writer and public are concerned, the sixteenth century marks a decided movement away from medieval times towards a state of affairs more familiar to the modern reader. If literacy was still too thinly spread for the invention of printing to have anything like its full impact, it had already produced what, compared with conditions in the age of manuscripts, was massive diffusion of books in general and of works written in French in particular.« Vgl. ferner die monumentale Untersuchung von Eisenstein 1982. Vgl. DeJean 2002, 131, Anm. 4.

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Les plus ſimples ſont bien capables d’entendre cette aiſee & facile explication de telles Maximes, mais non pas d’en comprendre la ſolution qui dépend quelque fois de l’intelligence tant de pluſieurs paſſages Latins & Grecs qui ſõt rapportez ça & là, que de termes qui ne ſont pas digerez de toutes perſonnes.407

Die heterogene Öffentlichkeit führt also zu verschieden Lesarten (digerez).408 Durch das Herausreißen dieser Texte aus ihrer sozialen Verortung werden sie zum vermeintlichen Problem. Die obszönen Passagen werden nicht mehr als literarisches Spiel, die Aussagen in der ersten Person nicht mehr als die einer fiktiven persona wahrgenommen, die in einer langen literarischen Tradition stehen, sondern als autobiographische Berichterstattung gelesen. Die Geburt des modernen Schriftstellertums, des écrivain, die in seiner zunehmenden politisch-wirtschaftlichen Autonomisierung besteht, geht, wie Jouhaud betont, paradoxerweise mit einer zunehmenden sozialen Abhängigkeit einher. 409 Charles Sorel hebt in De la connoissance des bons livres (1671) die soziale Verankerung des Schriftstellers hervor und kritisiert die Neuerungen, die durch den Buchmarkt entstandenen sind: »Certainement il eſt honteux qu’on ſe ſoit ainſi accouſtumé à travailler pour le gain pluſtoſt que pour la gloire.«410 Die soziale Funktion des ecrivain besteht, so Sorel, vor allem in der Ausbildung des esprit und des goût. Diese Funktion wird der antiken Literatur aufgrund der Obszönität nicht mehr zugestanden. Der Name des Autors wird nicht mehr als Zeichen verstanden und wird somit gewissermaßen selbst obszön. Insbesondere in der satirischen Auseinandersetzung kommt nun dieses neue Verständnis des Namens zum Tragen. Der Klassizist Boileau, der durch seine Satiren selbst von der Zensur betroffen ist, verteidigt wiederum die Unterscheidung von Autor und Person: Er insistiert darauf, dass der Name auf die Autorfigur verweist, und nicht auf die Person, deren Ehre gewahrt bleibt.411 Die Empörung über seine namentliche Kritik an Chatelain nimmt Boileau in Satire IX (1668) zum Anlass, erneut auf die Trennung von vita und versus hinzuweisen: En blâmant ſes Ecrits, ay-je, d’un ſtile affreux Diſtilé ſur ſa vie un venin dangereux? Ma Muſe, en l’attaquant, charitable & diſcrete, Sçait de l’Homme d’honneur diſtinguer le Poëte.412

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[Gay] 1625, 12f. Das Essen und das Verdauen sind in Frankreich spätestens seit Rabelais eine gebräuchliche Metapher für die Lektüre und das Verstehen literarischer Texte, auf die auch der bon gôut referiert. Rabelais deutet im Prolog des Gargantua (1534) auch auf das subversive Potential der Lektüre hin (Rabelais 1534, f. A iij v): »car en icelle bien aultre gouſt trouverez, & doctrine plus abſcõce, laquelle vous reuelera de treſhaultz ſacremens & myſteres horrificques, tãt en ce que cõcerne noſtre religion que auſſi l’eſtat politicq & vie oeconomicque.« Vgl. Jouhaud 2000, 10. Sorel 1671, 33. Vgl. Debailly 2009, 133. Boileau 1668b, 12 (Satire IX, v. 209–212).

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Boileau differenziert hier, allerdings aus Sicht des Satirikers, zwischen dem Dichter und der Privatperson; er kritisiert die Dichtung, nicht das Leben Chatelains und folgt der Autor-Leser-Konzeption Catulls, wendet aber die Frage der Moralität und der außerliterarischen Wirklichkeit weg vom Autor hin zu den Lesern. Innerhalb der Literatur, so gibt Boileau zu verstehen, gelten andere Gesetze als in der außerliterarischen Kommunikation. Boileaus Differenzierung bildet allerdings nur den Nachklang auf eine Tradition, die mit dem Prozess gegen Théophile und die »affaire Garasse« ihr Ende gefunden hat. Die Metaphorik des Giftes (venin dangereux) bildet ein Schlagwort der theoretischen Behandlung der Obszönität, insbesondere der Satire im 17. und 18. Jahrhundert. Der Rezipient wird darin vor allem in einer passiven Rolle beschrieben und die Obszönität aus der Perspektive ihres Schädlichkeitspotenzials betrachtet.413 ⁎⁎⁎ Der Umstand, dass die Obzönität der antiken Texte zu Beginn des 17. Jahrhunderts zum Problem wird, lässt sich auf drei Faktoren zurückführen: Zunächst ändert sich die Konzeption des Begriffs der Obszönität. Diese wird nicht mehr als künstlerisches, d.h. kulturelles Ausnahmephänomen akzeptiert, sondern in Opposition zur Kultur gesetzt. Die Naturalisierung des Konzeptes, die durch die entsprechende Etymologie (zu caenum, ›Kot‹, ›Dreck‹) begründet wird, bildet die Voraussetzung für die Entfernung der obszönen Texte aus der Literatur, die im 17. und 18. Jahrhundert zur moralischen und aufklärerischen Verpflichtung wird. Dem Obszönitätsdiskurs sind zwei Perspektiven auf die Sprache eingeschrieben: Politesse und bienséance werden einerseits als Phänomene kulturellen Fortschritts, anderseits als Ergebnis einer Reinigungsarbeit, als Wiederherstellung einer durch den Gebrauch diversifizierten und verunreinigten Ursprungssprache (Port Royal) gewertet. Zweitens lässt sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine Veränderung der Konzepte von Autor und Text feststellen: Die Reduktion des Textsinnes auf einen sensus litteralis nimmt den Autor (auch juristisch) in die Pflicht. Nicht die Regeln einer bestimmten Gruppe von Lesern, sondern die öffentliche Meinung wird zum Bewertungshorizont von Literatur. Der moderne Obszönitätsdiskurs schließt daher an die antike Rhetorik (Cicero, Quintilian) an, die das Obszöne vom Ideal des orator perfectus, des umfassend gebildeten Redners, ausschließt. Die imitierende Aneignung der klassischen Autoren findet in der Obszönität eine Ausnahme, da sie sich für die Verwendung in der Rede eines Römers der Oberschicht nicht eignet. Im Anschluss daran wird im 17. Jahrhundert die Sprache des honnête homme als Distinktionsphänomen zur Regel des öffentlichen Diskurses gemacht, zu dem, durch den erhöhten Verbreitungsgrad von Büchern, nun auch die Literatur gehört. Die Veränderung in der Konzeption von Autorschaft und vom Textbegriff hat drittens eine Verengung der moralischen Verantwortung auf den Autor und eine Entlastung und Entwertung der Funktion des Lesers zurfolge. In der Frage, wer für die 413

Siehe hierzu Kapitel 3.3.

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Obszönität eines Textes verantwortlich ist, stehen sich in der Antike ein rhetorischer und ein literarischer Zugang gegenüber: Die Rhetorik sieht vor allem den Redner selbst in der Pflicht, Obszönität zu vermeiden. Das Prinzip des Kakemphaton offenbart wiederum die Bedeutung, die die Rhetorik dem Zuhörer bzw. Leser bei der Erstellung des Sinnes zuschreibt, und sieht auch hier den Redner in Pflicht, sich gegen unbeabsichtige, obszöne Lesarten eines interpres malignus zu wappnen. An diesem Punkt setzt die literarische Apologetik (Catull, Martial) an und schiebt die moralische Verantwortung gänzlich dem Rezipienten zu. Diese Tradition eines aktiven Lesers endet vorerst mit dem Prozess gegen Théophile de Viau zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Die bis hierhin beschriebenen hermeneutischen Positionen im Hinblick auf die Obszönität bilden das Fundament der rhetorischen Strategien der Ablehnung der obszönen Literatur der Antike, die nach den Prinzipien von Nähe und Distanz argumentieren. Die folgenden drei Kapitel gehen nun der Aneignung dieser Positionen im Sprechen über die obszöne Literatur der Antike nach und differenzieren hierbei nach dem Grad von (impliziter) Nähe und entsprechenden rhetorischen Strategien der Distanzierung. Ein besonderer Fokus wird dabei auf den Rollen und Konzeptionen von Autoren und Lesern obszöner Literatur liegen.

3 Pathogene Antike: Obszönität und Assumption »Ma pauvre muse, hélas! qu’as-tu donc ce matin? Tes yeux creux sont peuplés de visions nocturnes, Et je vois tour à tour réfléchis sur ton teint La folie et l’horreur, froides et taciturnes. [...] Je voudrais qu’exhalant l’odeur de la santé Ton sein de pensers forts fût toujours fréquenté [...] Baudelaire, La Muse Malade (1857) »Le goût est fait de mille dégoûts.« Paul Valery, Tel quel (1941) »Os tenerum pueri balbumque poeta figurat, torquet ab obscenis iam nunc sermonibus aurem«.414 Horaz, epist. 2.1.126f.

In Zeiten großer gesellschaftlicher Veränderungen und soziohierarchischerer Umschichtungen werden Positionsbestimmungen und -abgrenzungen nicht selten über die Kultur als symbolisches Kapital ausgetragen. Im verstärkten Kulturkampf zwischen alten Eliten und aufstrebendem Bürgertum im Laufe des 17. Jahrhunderts gerät die antike Literatur dabei ins Zentrum eines Diskursfeldes, das von Fragen des Geschmacks in allen Lebensbereichen bestimmt ist.415 Nicht nur in den Veränderungen in Ästhetik und Poetik, die sich im 17. und 18. Jahrhundert, insbesondere im Verlaufe der Querelle des Anciens et des Modernes, vollzogen, spielte die obszöne Literatur der Antike eine wesentliche Rolle, sondern an ihr konzentrierten sich generell die Spannungen dieser Zeit. Die Obszönität der Antike rückte vermehrt in den Fokus: Obszöne Autoren und Texte der Antike begegnen in den unterschiedlichsten Diskursen von der Literaturtheorie und der Sprachwissenschaft bis hin zu historiographischen und moraltheologischen Texten. Die veränderte Wahrnehmung der Antike ist Resultat einer sich länger hinziehenden und tiefgreifenden Neuordnung des literarischen Diskurses seit dem Ende des 16. Jahrhunderts, die mit den in Kapitel 2 beschriebenen Veränderungen einhergeht und sich schließlich in dem Prozess gegen den Dichter Théophile de Viau entlud. Der Prozess mündete in eine generelle Debatte über Funktion, Wirkung und Nutzen antiker Literatur und speziell des Obszönen. Das Studium und die Imitation

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»Den zarten und stammelnden Mund des Jungen bildet der Dichter aus, und gerade dann wendet er das Ohr von obszönen Worten ab.« Warum der Geschmackssinn erst um die Mitte des 17. Jahrhunders zum inkorporierten Distinktionsmerkmal wird, während etwa Kleidung schon seit dem Ende des 16. Jahrhunders hierzu genutzt wird, ist bisher nicht geklärt. Vgl. hierzu generell Flandrin 21999.

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antiker Literatur seien, so wurde vermehrt beklagt, nicht nur historisch obsolet geworden, sondern gar gefährlich, da die Obszönität die Moral der Leser korrumpiere und damit die öffentliche Ordnung gefährde. Der literarische Diskurs greift dabei auf die rhetorische Krankheitsmetaphorik in der Auseinandersetzung zwischen Asianismus und Attizismus zurück.416 Grundlage der hierbei entstehenden Rhetorik des Ekels (dégoût) ist die semantische Naturalisierung des Konzeptes der Obszönität, die zu Beginn des ersten Kapitels beschrieben wurde. Die traditionelle Idee der Lektüre als Verzehr, als Assumption – d.h. als Zu-sich-Nehmen, Inkorporieren, An- und Übernehmen 417 –, die sich insbesondere in Nahrungsmetaphoriken niederschlägt, bildet 416

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Zur Behandlung des Obszönen in der antiken Rhetorik siehe Kapitel 2.2.2. Zum Attizismus um die Mitte des 17. Jahrhunderts siehe Zuber 1997, 139–149. Goethe wird in den Gesprächen mit Eckermann die Antike wiederum als gesund und dementsprechend als klassisch charakterisieren (Goethe 1836 [2.4.1829], Bd. 2, 92): »›Mir iſt ein neuer Ausdruck eingefallen, ſagte Goethe, der das Verhaͤ ltniß nicht uͤ bel bezeichnet. Das Claſſiſche nenne ich das Geſunde, und das Romantiſche das Kranke. Und da ſind die N i b e l u n g e n claſſiſch wie der H o m e r , denn beyde ſind geſund und tuͤ chtig. Das meiſte Neuere iſt nicht romantiſch, weil es neu, ſondern weil es ſchwach, kraͤ nklich und krank iſt, und das Alte iſt nicht claſſiſch, weil es alt, ſondern weil es ſtark, friſch, froh und geſund iſt. Wenn wir nach ſolchen Qualitaͤ ten Claſſiſches und Romantiſches unterſcheiden, ſo werden wir bald im Reinen ſeyn.‹« (Hervorhebungen im Original) Zur Antike als Regenerationskraft siehe Kapitel 5.2.2. Vgl. etwa CIC. Brut. 150. Vgl. ferner TLL s.v. adsūmptio [Plenkers], vol. II, 935.80–936.53 und s.v. adsūmo [Plenkers], vol. II, 926.59–929.62. Prominent ist das Bild der Nahrungsaufnahme als Rezeptionshandlung im berühmten Bienenvergleich bei Seneca (epist. 84.5): »[N]os quoque has apes debemus imitari et quaecumque ex diversa lectione congessimus separare (melius enim distincta servantur), deinde adhibita ingenii nostri cura et facultate in unum saporem varia illa libamenta confundere, ut etiam si apparuerit unde sumptum sit, aliud tamen esse quam unde sumptum est appareat.« (»Auch wir müssen diese Bienen nachahmen und alles, was wir aus unterschiedlicher Lektüre zusammengestellt haben, trennen (denn getrennt kann man es besser bewahren) und anschließend unter Anwendung der Sorgfalt und der Fähigkeit unseres Verstandes das, was wir von hier und da gekostet haben, zu einem einzigen Geschmacksstoff zusammengießen, sodass es, wenngleich auch deutlich werden sollte, woher es genommen ist, doch als etwas Anderes erscheint als das, woher es genommen ist.«) Interessanterweise führt Seneca den Vergleich noch weiter und sieht den gleichen Prozess auch in der Verdauung (epist. 84.6): »Quod in corpore nostro videmus sine ulla opera nostra facere naturam (alimenta quae accepimus, quamdiu in sua qualitate perdurant et solida innatant stomacho, onera sunt; at cum ex eo quod erant mutata sunt, tunc demum in vires et in sanguinem transeunt), idem in his quibus aluntur ingenia praestemus, ut quaecumque hausimus non patiamur integra esse, ne aliena sint.« (»Was wir die Natur ohne jegliche Mühe in unserem Körper vollbringen sehen – die Nahrungsmittel, die wir aufgenommen haben, sind belastend, solange sie in ihrer Beschaffenheit erhalten bleiben und unverdaut im Magen schwimmen; wenn sich jedoch ihr ursprünglicher Zustand verändert, dann verwandeln sie sich in Kräfte und gehen ins Blut über – dasselbe wollen wir mit der geistigen Nahrung erreichen, dass wir alles, was wir aufgenommen haben, nicht unversehrt lassen, damit es nicht fremd bleibt.«) Vgl. hierzu Berrens 2015. Paolo Cortesi macht in seinem Pladoyer für die Imitation Ciceros gegenüber Poliziano auch auf die Funktion des Ekels in diesem Assumptionsprozess aufmerksam (überliefert in Poliziano 1498, f. l iii v): »Corrupti ſtomachi, & intemperantis aegri eſſe putabã deteriorem cibum ſeligere, ſalutarem & optimũ aſpernari. […] neminem poſt M. Tullium in ſcribendo laudem consecutum, præter unũ, aut alterum, qui non ſit ab eo eductus & tanq; lactis nutrimento educatus. Sed erat tum quædam certa imitandi ratio, qua & faſtidio ſimilitudinis occurebatur, & nitidum illud genus hilaritate quadam aſperſa cõdiebatur. Nunc autẽ illa ab hominibus noſtris, aut neglecta eſt, aut ignorata.« (»Ich glaubte, es sei Zeichen eines

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somit die Grundlage für eine rhetorische assumptio im Rahmen der Beweisführung: sie stützt die eigentliche Begründung unter Hinzunahme eines außerhalb der Sache liegenden und zur Rechtfertigung zu Hilfe genommenen Umstandes. 418 In dieser Perspektive gehen die folgenden drei Unter-Kapitel Genese, Struktur und Funktion der Rhetorik einer naturalisierten, d.h. in kulturelle Codes übergegange, Ablehnung der antiken Obszönität nach. 3.1 Le (dé)goût du siècle und die kontaminierten Modernes Im 17. Jahrhundert vollziehen sich Machtkämpfe und sozialhierarchische Umwälzungen mittels einer verstärkten Distinktion. Das bisherige soziale Narrativ, das Sinnkontinuum, wird dabei von Seiten der Modernes fragmentiert. Die verschiedenen konkurrierenden Gruppierungen rekurrieren jeweils (im Sinne Bourdieus) auf den »sozialen Sinn« (sens pratique): »necessité sociale devenu nature, convertie en schèmes moteurs et en automatisme corporels«.419 Die hommes des lettres des 17. und 18. Jahrhunderts beschäftigen sich intensiv mit der schädlichen Wirkung von Literatur. Das Konzept des dégoût als Reaktionsmodus auf das Obszöne wird vor allem in der Auseinandersetzung zwischen la cour et la ville zu einem wirkmächtigen Instrument. Die Modalitäten und Dispositionen der diskursiven Aneignung des Obszönen und die Verbindung von ästhetischen mit moralischen Urteilen lassen sich deutlich an der Überblendung körperlich-natürlicher Prozesse auf ästhetische Diskurse verfolgen, wie ich im Folgenden am Begriff dégoût darlegen möchte. Innerhalb dieser diskursiven Formationen fällt zum einen eine verstärkte Verwendung medizinischer Hintergrundmetaphern auf, zum anderen ist eine zunehmende Verquickung des Juridischen mit dem Ästhetischen zu beobachten. 3.1.1 L’homme dégoûté. Ästhetik und Habitus der Abstoßung »[I]l n’y a plus moïen d’écrire ; le ſiécle eſt degouté.«420 teilt Fontenelle Ende 1722 La Motte mit, der für seine Tragödie Inés de Castro (publiziert 1723) stark kritisiert worden war.421 Der Satz bringt treffend die Veränderung im emotionalen Register des literarischen Diskurses auf den Punkt, die sich in den etwa hundert vorangegangenen Jahren herausgebildet hat: Wenngleich die idealisierte Anforderung an literarische Kritik,

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verdorbenenen Magens und der Krankheit der Maßlosigkeit, das schlechtere Essen auszuwählen, das gesunde und beste aber zu verschmähen. […] Niemand hat nach Cicero Ruhm beim Schreiben erlangt – außer dem ein oder anderen – der nicht von ihm erzogen und gewissermaßen mit der Muttermilch aufgezogen worden wäre. Doch gab es damals eine gewisse Verhältnismäßigkeit des Imitierens, durch die man sowohl dem Überdruss der Ähnlichkeit vorbeugte als auch jene glänzende Gattung würzte, wobei man eine gewisse Heiterkeit hinzuspritzte. Heute wird jene (Verhältnismäßigkeit) allerdings von unseren Leuten entweder vernachlässigt oder sie bleibt unbekannt.«) Vgl. etwa FORTUNAT. rhet. 2, 6. Bourdieu 1980, 116. Pantalo-Phébéana 1728, 4. Vgl. Niderst 1991, 285f.

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insbesondere an den homme de cour, in affektloser Objektivität liegt,422 etablierte sich seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts der dégoût als Waffe im literarischen Diskurs; er wurde zu einer der wichtigsten Kategorien in den ästhetischen Bewertungen dieser Zeit, 423 in der das Körperlich-Affekthafte zur ästhetischen Kategorie avancierte. Auch La Motte selbst findet den Begriff degouté treffend: »Mot plaiſant mais ſolide & qui exprime finement qu’il y a une Satieté pour les eſprits, qui uſe le goût & le fait perdre entierement.«424 In dieser Aussage findet sich pointiert ein wesentlicher Aspekt, der den ästhetischen dégoût im 17. Jahrhundert ausmacht: ausgehend von der Idee der Übersättigung (Satieté) fungiert er als negativer Distinktionsbegriff in ästhetischen Urteilen und bildet somit einen Komplementärbegriff zum (bon) goût. Der dégoût beinhaltet aber jenseits seiner Negationsfunktion noch ein weiteres Moment, das im Folgenden expliziert werden soll.425 Man kann zwei Arten des Ekels unterscheiden, die im 17. und 18. Jahrhundert greifbar sind: Kontaktekel, der durch das sinnliche Erfahren (Riechen, Schmecken, Sehen, Fühlen) einer als schädlich beurteilten Sache hervorgerufen wird, und Übersättigungsekel 426 , der durch ein Zuviel an betriebenem Konsum von eigentlich unschädlichen und gesunden Nahrungsmitteln entsteht. Der Begriff des dégoût steht im Zusammenhang mit einer generellen (praktischen wie theoretischen) Aufwertung des Sensuell-Ästhetischen, insbesondere des Geschmackssinns, im 17. Jahrhundert, die, ausgehend von der Kulinarik, viele Lebensbereiche umfasst.427 Sie kulminiert in der

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Vgl. Furetière 1690, s.v. censeur: » ſe dit auſſi d’un Critique ſçavant qui fait l’examen d’un livre ſans paſſion, & pour y remarquer ce qu’il y a de mauvais & de condemnable.« Furetière assoziert censure mit der affaire Garasse (ebd. s.v. censure): »La cenſure faite par François Ogier de la Doctrine curieuſe du Père Garaſſe.« Vgl. Gracián 1684, 7: »Maxime VIII: L’Homme, qui ne ſe paſſione jamais. C’EST la marque de la plus grande ſublimité d’eſprit, puiſque c’eſt par là que l’homme ſe met au deſſus de toutes les impreſſions vulgaires. Il n’y a point de plus grande ſeigneurie, que celle de ſoi-même, & de ſes paſſions. C’eſt là qu’eſt le trionfe du Franc-Arbitre. Si jamais la paſſion s’empare de l’eſprit, que ce ſoit ſans faire tort à l’emploi, ſur tout ſi c’en eſt un conſidérable. C’eſt le moien de s’épargner bien des chagrins, & de ſe métre en haute réputation.« Voltaire sieht den dégoût in der Restrospektive wiederum als Zeichen des Epigonalen und der Dekadenz nach dem Zeitalter der Perfektion, das er im siècle de Louis XIV sieht: »Le goût peut ſe gâter chez une nation; ce malheur arrive d’ordinaire après les ſiecles de perfection. Les artiſtes craignant d’être imitateurs, cherchent des routes écartées; ils s’éloignent de la belle nature que leurs prédéceſſeurs ont ſaiſie: il y a du mérite dans leurs efforts; ce mérite couvre leurs défauts, le public amoureux des nouveautés, court après eux; il s’en dégoûte bien-tôt, & il en paroit d’autres qui font de nouveaux efforts pour plaire; ils s’éloignent de la nature encore plus que les premiers: le goût ſe perd, on eſt entouré de nouveautés qui ſont rapidement effacées les unes par les autres; le public ne ſait plus où il en eſt, & il regrette en vain le ſiecle du bon goût qui ne peut plus revenir; c’eſt un dépôt que quelques bons eſprits conſervent alors loin de la foule.« (Encyclopédie, s.v. goût [Voltaire], t. 7[1757], 761). Pantalo-Phébéana 1728, 4 Während der deutsche »Ekel« (vgl. Menninghaus 2002) und der englische »disgust« (Miller 1997) in jüngerer Zeit Gegenstand ausführlicher Untersuchungen geworden sind, steht die Erforschung des französischen dégoût des 17. und 18. Jahrhunderts weithin im Schatten des gôut. Vgl. CIC. inv. 1.25. Vgl. Koch 2010.

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Figur des homme de bon gôut, der Mitte des 17. Jahrhunderts auf die Bühne tritt.428 Der Ausdruck des Geschmacksurteils spielt von nun an eine wichtige Rolle in der Öffentlichkeit. Für die Literaturtheorie hat dies weitreichende Konsequenzen: Das Urteil gemäß dem bon goût stellt sich im Laufe des 17. Jahrhunderts als objektivierbare Urteilslogik neben die Regelpoetik und ersetzt diese schließlich: »Il ne ſuffit pas pour le goût, de voir, de connoître la beauté d’un ouvrage; il faut la ſentir, en être touché.«429 Anders als der deutsche Ekel430 ist der französische dégoût auch begrifflich eng an den goût gebunden, der wiederum an die Tradition des lateinischen gustus anknüpft. Mit der privativen Wortneuschöpfung dé-goût löst sich diese Emotion wiederum begrifflich von der lateinischen Tradition des fastidium. 431 Da, wie Descartes es ausdrückt, die Dinge »ceſſent [...] d’eſtre agreables au gouſt, on a nommé cette Paſſion le Degouſt.«432 Descartes versteht den dégoût also als invertiertes Lustgefühl, als Überschreitung des richtigen Maßes, weshalb die dem plaire entgegengesetzte Empfindung einsetze. 433 428 429 430 431 432

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Vgl. Agamben 2012 [1970], 22. Encyclopédie, s.v. goût [Voltaire], t. 7 (1757), 761.Vgl. Menninghaus 2002, 11. Zur Etymologie Menninghaus 2002, 39f. Vgl. Monet 1635, 361f, s.v. Deſgouſt und deſgouſter. Beide Begriffe werden hier mit fastidium/ fastidire bzw. nausea/nauseare übersetzt. Descartes 1649, 278. Der Gedanke wird von Spinoza treffend expliziert (Spinoza 1677, 145= Ethica, pars III, propositio LIX): »Attamen de Amore hoc notandum reſtat, quòd ſcilicet ſæpissimè contingit, dum re, quam appetebamus, fruimur, ut Corpus ex eâ fruitione novam acquirat conſtitutionem, à quâ aliter determinatur, & aliæ rerum imagines in eo excitantur, & ſimul Mens alia imaginari aliaque cupere incipit. Ex. gr. Cùm aliquid, quod nos ſapore delectare ſolet, imaginamur, eodem frui, nempe comedere cupimus. At quamdiu eodem ſic fruimur, ſtomachus adimpletur, Corpusque aliter conſtituitur. Si igitur Corpore jam aliter diſpoſito, ejuſdem cibi imago, quia ipſe præſens adeſt, fomentetur & conſequenter conatus etiam, ſive Cupiditas eundem comedendi, huic Cupiditati, ſeu conatui nova illa conſtitutio repugnabit, & conſequenter cibi, quem appetebamus, præſentia odioſa erit, & hoc eſt quod Faſtidium, &tædium vocamus.« (»Über die Liebe bleibt jedoch noch Folgendes anzumerken: Es kommt nämlich recht häufig vor, während wir die Sache, die wir verlangten, genießen, dass der Körper aufgrund dieses Genusses einen neuen Zustand annimmt, von dem er anders bestimmt wird und andere Vorstellungsbilder von Dingen in ihm angeregt werden und zugleich der Geist anderes sich vorzustellen und anderes zu wünschen beginnt. Zum Beispiel: Wenn wir uns etwas vorstellen, das uns dem Geschmack nach für gewöhnlich gefällt, wünschen wir ebendies zu genießen, d.h. zu verzehren. Doch während wir dies derart genießen, füllt sich der Magen, und der Körper ändert seinen Zustand. Wenn also bei schon verändertem Zustand des Körpers das Bild ebendieses Essens gärt (da es selbst ja präsent ist), und folglich auch die Absicht oder der Wunsch, ebendieses zu verzehren, wird diesem Wunsch oder dieser Absicht jener neue Zustand widerstreben und in der Folge die Präsenz des Essens, das wir verlangten, widerwärtig sein – und das ist es, was wir Ekel und Überdruss nennen.«) Die bei Descartes greifbare Auffassung des dégoût als Antithese zum plaisir (dégoûter =déplaire) lässt sich begrifflich bis zu d’Aubignés Erinnerung an seine Schulzeit zurückverfolgen und ist hier eng mit Überdruß an den antiken Sprachen verbunden: »Je faiſois dans ce tems autant de vers latins qu’un habile Ecrivain en pouvoit écrire en jour, & je liſois couramment les Rabins ſans points, & les expliquois de même que le Grec, &le Latin, ſans lire le texte. Quoique j’euſſe demeuré deux ans aux écoles publique d’Orléans, & que j’y euſſe fait mon cours de Mathématiques, on me remit pourtant à Genéve au Collége ſur ce que je n’acois pas bien expliqué quelques Dialectes de Pindare; ce qui me fit haïr l’étude, mépriser les Lettres […]. Tous ces dégouts me firent quitter Genéve au bout de deux ans, & m’engagérent à venir à Lyon au descu de mes parens« (d’Aubigné 1731, [1629], 16f.). Vgl. auch Richelet 1680, t. 1, 222, s.v. Dégoût, der »Deplaiſir« als Synonym angibt. Dass die

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Dégoût bezeichnet folglich eine »aversion qu’on a pour les bonnes choses«434. Diese Aversion betrifft zunächst den kulinarischen Bereich: Ein übermäßiger Konsum an bestimmten Lebensmittel führt zu einem Überduß.435 Auch Verunreinigung436 kann zur Aversion führen, sodass bestimmte Lebensmittel mit einem Konsumverbot belegt werden. 437 Hier entsteht die Idee des Kontaktekels, die mit der Verbreitung von Girolamo Fracastoros Keimtheorie (De Contagione et Contagiosis Morbis, 1546) einhergeht.438 Im Laufe der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird, so die communis opinio, der Begriff goût vom Physischen auf das Intellektuelle ausgeweitet 439 und somit zum »ſentiment des beautés & des défauts dans tous les arts«.440 Diese Metaphorisierung steht in engem Zusammenhang mit der Herausbildung des Ideals des honnête homme, der vor allem ein homme de bon gôut ist, sowie den Veränderungen der Öffentlichkeit und den sozialhierarchischen Umwälzungen. Die obszöne Literatur der Antike wird darin vor allem als negativer Ausdruck des Geschmacks angesprochen, denn, wie Valéry treffend formuliert hat, der Geschmack setzt sich vor allem aus einer Anzahl von Ablehnungen zusammen: »Le goût est fait de mille dégoûts.«441 Von der Forschung bisher weniger beachtet ist wiederum die Tatsache, dass der dégoût bereits zu Beginn des Jahrhunderts (in Engführung mit dem Lateinischen fastidium) eine Übertragung ins Intellektuelle erfahren hat, die der Ästhetisierung des Geschmacksurteils Vorschub

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Aversion sich vom kulinarischen Bereich ausgeweitet hat und sich auf grundsätzlich alles, Personen und Dinge, beziehen kann, belegt Monet, der den Ausdruck »se Degouter de quelcun, de quelque chose« (Monet 1635, 362, s.v. deſgouſter) im Sinne von abalienari angibt. Vgl. Richelet 1680, t. 1, 222, s.v. Dégoût. Auch Furetière (1690, s.v. degouſt) bezeugt die Möglichkeit des allgemeinen Gebrauchs (»ſe dit abſolutment des choſes qui ſont fâcheuſes, qui donnent du deboire, du deſplaiſir«). Furetière 1690, s.v. degouſter: »Donner de l’averſion pour une choſe qui peut être bonne, & dont uſent les autres, ſur tout de celle qu’on mange. On degouſte le monde, en leur donnant trop de viande. Quand on mange trop de sucre, on s’en degouſte.« Vgl. ebd. s.v. degouſtant : »La laideur eſt fort degouſtante. La ſaleté eſt degouſtante.« Vgl. Montaigne 1588, Livre troisieme, 448 r. Nach Richelet bezeichnet das Wort konkret »des viandes malpropres & […] toutes les choſes qui n’ont rien du tout d’agréable.« (Richelet 1680, t. 1, 222 s.v. Dégoût). Furetière 1690, s.v. degouſter: »On le dit auſſi des choſes qui ne ſe mange point. La malpropreté degouſte.« Die Möglichkeit von keimähnlichen Krankheitserregern wird von Varro erwähnt. Vgl. VARR. re rust. 1.12: »Advertendum etiam, siqua erunt loca palustria, (…) quod crescunt animalia quaedam minuta, quae non possunt oculi consequi, et per aera intus in corpus per os ac nares perveniunt atque efficiunt difficilis morbos.« (»Man muss auch aufpassen, wenn man in sumpfigen Gebieten baut, weil dort manche winzige Lebewesen wachsen, die die Augen nicht erkennen können und die durch die Luft über Mund und Nase in den Körper gelangen und schwere Krankheiten bewirken«). Laut Flach 1996, 262f. handelt es sich bei den animalia minuta allerdings um Gabelmücken, die die Malaria übertragen. Vorherrschend blieb bis ins 19. Jahrhundert Galens Miasma-Theorie. Üblicherweise wird diese Übertragung auf die Mitte des 17. Jahrhunderts angesetzt. Diese Terminierung beruht auf Michael Moriartys (Moriaty 1988, 54–82) Vergleich der entsprechenden Einträge in Nicots Thresor de la langue françoyse (1606) und der ersten Edition des Dictionnaire de l’Académie Françoise (1694).Vgl. Koch 2010, 13f. Encyclopédie, s.v. goût [Voltaire], t. 7 (1757), 761. Valéry 1996 [1941], 15.

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geleistet hat. 442 Der Thrésor de la langue Francoyse (1606) führt neben der kulinarischen Verwendung des Verbes degouſter auch den (homme) Desgousté an: »Aiſé à degousſter, & pour peu de choſe, Fastidij delicatiſſimi homo. Iuger d’une choſe en homme degouſté, & qui ne cuide rien trouuer bon, & qui met peine d’y trouver quelque faute«443. Dégoût scheint also auch für den Ausruck ästhetischer Urteile (juger, cuider 444) und für die Suche nach Perfektion Verwendung gefunden zu haben, die erkennen zu können den homme de goût auszeichnet.445 Die komisch anmutende Figur des homme degousté 446 deutet auf die Art und Weise voraus, mit der Perrault und andere Modernes die Werke der Antike nach Fehlern durchmustern, um so die These von der Perfektion der Antike zu widerlegen. Hierin wirkt die lateinische Idee des fastidium als Drang zu negativen ästhetischen Urteilen nach, mit dem auch der Thrésor diese Bedeutung von degouster erklärt (»fastidiose iudicare de re aliqua«).447 Während der metaphorische Gebrauch von bon goût 448 den körperlichen zwar nicht verdrängt, ihn aber doch stark überlagert, rekurriert der dégoût weiterhin auf die Idee einer natürlichen und körperlichen Abwehrreaktion. Es lässt sich also nicht eindeutig zwischen einem körperlichen und einem intellektuellen dégoût trennen, denn das 17. Jahrhundert geht vornehmlich von einer »embodied experience of taste« aus. 449 Dem bon goût steht einerseits der mauvais goût, andererseits der dégout als 442

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Agamben konzediert zwar beiläufig, dass die Figur des homme de mauvais gôut nicht neu sei, verkennt dabei allerdings die Aufspaltung der Oppositionsbegriffe in mauvais goût und dégoût: »Comme le mauvais goût au phyſique conſiſte à n’être flatté que par des aſſaiſonnements trop piquans & trop recherchés, auſſi le mauvais goût dans les Arts eſt de ne ſe plaire qu’aux ornemens étudiés, & de ne pas ſentir la belle nature.« (Encyclopédie, s.v. goût [Voltaire], t. 7 [1757], 761). Nicot 1606, 194, s.v. Deſgouſter. Nicot 1606, 171, s.v. Cuider : »C’eſt avoir opinion, eſtimer, preſumer que quelque chose ſoit, Putare, Arbitrari, Exiſtimare.« Vgl. La Bruyère 1688, 160: »Il y a dans l’art un point de perfection, comme de bonté ou de maturité dans la nature; celuy qui le ſent, & qui l’aime a le gouſt parfait; celuy qui ne le ſent pas, & qui aime en deçà ou au delà, a le gouſt défectueux. Il y a donc un bon & un mauvais gouſt, & l’on diſpute des goûts avec fondement.« Vgl. hierzu Kapp 1999, 734: »La Bruyère insiste d'une part sur la priorité de l'individu doué et relie d'autre part les jugements individuels du ›génie‹ à des normes supra-individuelles que le ›goût‹ saisit. Le ›goût‹ n’a donc rien d'arbitraire ni de subjectif; il s’enracine dans quelque chose d'objectif, l’harmonie inhérente de la nature.« Voltaire dagegen unterscheidet im entsprechenden Artikel der Encyclopédie körperlich-sensuellen und geistig-ästhetischen goût: »On dit qu’il ne faut point diſputer des goûts, & on a raison quand il n’eſt question que du goût ſenſuel, de la répugnance que l’on a pour une certaine nourriture, de la préférence qu’on donne à une autre; on n’en diſpute point, parce qu’on ne peut corriger un défaut d’organes. Il n’en est pas de même dans les Arts; comme ils ont des beautés réelles, il y a un bon goût qui les diſcerne, & un mauvais goût qui les ignore; & on corrige ſouvent le défaut d’eſ prit qui donne un goût de travers. Il y a auſſi des ames froides, des eſprits faux, qu’on ne peut ni échauffer ni redresser; c’est avec eux qu’il ne faut point diſputer des goûts, parce qu’ils n’en ont aucun.« (Encyclopédie, s.v. goût [Voltaire], t.7 [1757], 761). Vgl. Féraud 1787–88, s.v. dégouter, t. 1, 697: »Faire le dégouté, le dificile, le délicat.« Nicot 1606, 194, s.v. Deſgouſter. Vgl. zu fastidium als ›Mäkelsucht‹, ›verwöhnter Geschmack‹: TLL s.v. fastīdium [Ammann], vol. VI.1, 316.8–72; VI.1, 318.19–32. Zu fastidium als einer sozial hierarchisierenden und abgrenzenden Emotion siehe Kaster 2001, 186f. Vgl. Dens 1975. Koch 2010, 14.

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Zeichen einer zivilisatorischen Entwicklung gegenüber. Voltaire hingegen trennt strikt den intellektuellen und den physischen goût.450 Ferner bringt er eine Entwicklung auf den Punkt, die sich seit dem 17. Jahrhundert vollzogen hat, nämlich die Pathogenisierung der Ästhetik: Le goût dépravé dans les alimens, eſt de choiſir ceux qui dégoûtent les autres hommes; c’eſt une eſpece de maladie. Le goût dépravé dans les Arts eſt de ſe plaire à des ſujets qui révoltent les eſprits bien faits ; de préférer le burleſque au noble, le précieux & l’affecté au beau ſimple & naturel: c’est une maladie de l’eſprit.451

Voltaires normative Beschreibung des bon goût ist äußerst aufschlussreich, da er die Abweichung von dieser Norm in Parallelführung mit der körperlichen Eigenschaft als eine Krankheit (maladie de l’eſprit) charakterisiert. Er greift dabei auf eine Entwicklung zurück, nach der seit dem Beginn des 17. Jahrhundert der medizinische Diskurs zunehmend auf den literarästhetischen übergreift.452 Eine positive Bewertung der obszönen Autoren der Antike kann als dispositive Defektivität gewertet und die so urteilende Person auf eine niedrigere zivilisatorische (und/oder sozialhierarchische) Stufe gestellt werden. 453 Die Unterscheidungsfähigkeit (discernement) trennt dabei auch die antike Literatur nach Gutem und Schlechtem.454 Der Habitus des homme dégoûté, von dem sich auch La Motte angegriffen sieht, findet besonders im Laufe des 18. Jahrhunderts starke Verbreitung, sodass eine satirische Parodie fast unvermeidlich erscheint. In Voltaires Candide (1759) wird der Habitus des déplaire und des dégoût in Szene gesetzt: Der Venetianer Protocuranté, bei dem Candide und Martin einkehren, hat zwar eine immense Bibliothek und eine große Gemäldesammlung, alles missfällt ihm aber. In seinem Urteil über Horaz kritisiert er neben der Irrelevanz des Erzählten auch die Darstellungsweise: »Je n’ai lu qu’avec un extrême dégout ſes vers grossiers contre des vielles & contre des ſorcières.« 455 Die vetula–Skoptik (carm. 1.25. und epod. 12) und die Invektiven gegen die Hexe Canidia (sat. 1.8., epod. 5 und 17), auf die hier verwiesen wird, sind in der Tat charakterisiert durch aischrologische Beschreibungen sowie Kritik am ungeziemlichen, von der römischen moralischen Norm abweichenden Sexualtrieb alter Frauen.456 Die Sprache dieser Texte ist von obszöner Invektive bestimmt. 457 Für Protocuranté überwiegen

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Vgl. Encyclopédie, s.v. goût [Voltaire], t. 7 (1757), 761. Encyclopédie, s.v. goût [Voltaire], t. 7 (1757), 761. Zur Parallelisierung von Dichtung und Medizin als Heilmittel siehe Rapin 1674, 18f. Boyer d’Argens beschreibt den goût als natürliche Voraussetzung nicht nur in der Bewertung von Kunst, sondern auch ihrer Produktion (1743, 2): »Je définis le Goût, un ſentiment naturel, perfectionné, et eclairé par une connoiſſance parfaite de tout ce qui peut rendre brillant, net, precis, profond les matieres qu’on traite. Il eſt donc impossible de produire rien de veritablement bon, rien de parfait, ſi le goût n’y regne pas.« Siehe hierzu Kapitel 4.1. Voltaire 1759, 236. Vgl. Fuhrer 2009. Vgl. Henderson 1999, Richlin 21992 [1983], 106.

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gegenüber der moralischen Normverletzung der vetula und ihrer Hässlichkeit,458 die von Horaz kritisiert wird, deutlich die ästhetischen Vergehen des Dichters selbst. Das satirisch-polemische Element der Invektive wird einerseits als Bruch der politesse angesehen und folglich als Gestus des honnête homme mit dégoût beantwortet. Anderseits widerspricht die Ästhetisierung des Ekelhaften den Idealen der Klassik. Wenngleich Protocurantés generelles Missfallen jeglicher Kunst als parodistische Überspitzung letztlich (negativer) Ausdruck eines mangelnden discernement und damit ein Dekadenzphänomen ist, deckt sich diese Aussage mit Voltaires sonstiger Ablehnung der Invektive (s.u.). Die Parodie deutet an, dass die obszönen Texte der Antike vor dem Hintergrund veränderter Streit- und Konfliktkultur durch den Filter der zeitgenössischen Satire-Praktik bewertet werden. Insbesondere Aristophanes, Catull, Martial und Petron werden im 17. und 18. Jahrhundert als Satiriker interpretiert. Die Diskussionen kreisen um die Frage der satirischen sprachlichen Mittel, weniger um den satirischen Gegenstand. 3.1.2 Überdruss und Ansteckung: Ekel an der Literatur der Antike Das Körperlich-Affektive wird im 17. Jahrhundert zur ästhetischen Kategorie, zum Bewertungsmaßstab von Kunst erhoben. Medizinisches Wissen geht dabei auf den ästhetischen Diskurs über. Die Aufwertung des Sensualismus durch Dubos hat die Ansicht zur Folge, dass das Individuum für Krankheiten disponiert scheint. Malebranche behandelt in De la recherche de la vérité beispielsweise die »communication contagieuse des imaginations fortes«.459 Die Seele ist, so ein weit verbreiteter Gedanke, durch das Sensuelle und im Zusammenhang mit der Einbildungskraft bedroht und muss folglich geschützt werden. Dies hat eine Radikalisierung der Emotionsästhetik zur Folge: Der Ästhetik der Reinheit wird eine Ästhetik des Obszönen an die Seite gestellt. Kategorien wie »sale«, »ordure«, »corruption«, »impureté« werden poetologisch besetzt. Seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts wird vielen Autoren der Literaturgeschichte der Vorwurf der Obszönität und/oder der Häresie gemacht, und die literarischen Freiheiten werden entschieden eingeschränkt. Die entsprechenden Autoren werden dabei nicht einfach aus ästhetischen Gründen abgelehnt, sondern mit 458

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Grundsätzlich gehört das Hässliche für das 17. und 18. Jahrhundert in den Bereich des ästhetisch Darstellbaren. Vgl. Zelle 1996: »Als Folge der Rezeption der griechisch– lateinischen Poetik und Rhetorik bleibt die kunsttheoretische Rede über das Häßliche seit der Renaissance hochgradig an überlieferte Topoi gebunden. Einen eigenständigen Diskurs über das Häßliche gibt es bis in das 18. hinein jedoch nicht. Vielmehr begegnet die Problematisierung von Häßlichkeit in unterschiedlichen diskursiven Strängen, die einander überdies vielfach überkreuzen, und zwar näherhin im Zusammenhang der aristotelischen Mimesisdebatte, der horazschen Thematisierung eines inneren und äußeren aptum, dem Effekt des Komischen sowie der rhetorisch disponierten Abstoßungswirkung von Häßlichkeit.« Vgl. Malebranche 1674, t. 1, 249–259. In Malebranches mechanistischer Konzeption hat das Gehirn eine Konstitution, die tiefe Spuren zulässt, die die Kapazitäten der Seele dermaßen anfüllen, dass diese daran gehindert wird, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes als die imaginierten Bilder zu lenken. Vgl. Talon-Hugon 2017, 47f.; James 1997, 118–120.

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medizinisch-emotionalen Attributen belegt. Der dégoût als ästhetisch-moralische Kategorie wird so auch zu einem wichtigen Entscheidungskriterium der Zensur.460 Der Begriff des dégoût wird insbesondere in Bezug auf das neue Verhältnis zur Antike virulent. Théophile de Viau übt im Vorwort der Première journée (1623) Kritik an der Antikenimitation461 seiner Zeit: [N]os Vers d’aujourd’huy, qui ne ſe chantẽt point ſur la Lire, ne ſe doiuent point nõmer Liriques, non plus que les autres heroïques, puisque nous ne sõmes plus au temps des Heros, & toutes ces ſingeries ne ſõt ny du plaiſir ny du profit d’vn bon entẽdement. Il est vrai que le desgoust de ces superfluitez no9 [= nous, D.W.] a fait naiſtre vn autre vice: car les eſprits foibles que l’amorce du pillage auoit iettez dãs le meſtier des Poëtes, de la diſcretion qu’ils ont euë d’euiter les extrémes redictes, deſia rebattuës par tãt de ſiecles, ſe ſõt trouuez dãs vne grãde ſterilité,& n’eſtãs pas d’eux-meſmes aſſez vigoureux, ou aſſez adroits pour ſe servir des obiects qui ſe preſentent à l’imagination, ont creu qu’il n’y auoit plus rien dans la Poëſie que matiere de prose, & ſe ſont perſuadez que les figures n’en eſtoient point, & qu’vne metaphore eſtoit vne extrauagance.462 460

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Boileau spricht in Satire IX, in der er die Personen-Satire verteidigt, im Zusammenhang mit dem Buchverkauf in Paris explizit vom »dégouſt d’un Cenſeur« (Vers 230, Boileau 1668b, 13), den er im Gegensatz zum Urteil der Buchhändler (vielleicht eine Anspielung auf MART. 14.194) sieht. Der Begriff censeur scheint gegen Ende des 17. Jahrhunderts, zumindest von den Verfassern der Lexika, vor allem negativ konnotiert gewesen zu sein. Vgl. Dictionnaire de l’Académie Françoise 1694, s.v. cenſeur, t. 1, 154: »Celuy qui reprend ou qui controlle les actions d’autruy. Sans epithete il ſe prend d’ordinaire en mauvaiſe part. C’est un cenſeur, pour dire, C’est un homme qui trouve à redire à tout. Avec epithete il ſe prend tantoſt en bonne part & tantoſt en mauvaiſe. Un juſte cenſeur. un equitable cenſeur. un rude cenſeur. un cenſeur ſevere.« Die zeitgenössiche staatliche Zensur scheint erst später mit dem Begriff assoziiert worden zu sein. Vgl. den entsprechenden Zusatz in der 4. Auflage von 1762. Der Text beginnt mit einer Parodie der antikisierenden Sprache: »L’ELEGANCE ordinaire de nos Eſcriuains eſt à plus près ſelon ces termes. L’AVRORE toute d’or & d’azur, brodée de perles & de rubis, paroiſſoit aux portes de l’Orient ; les Eſtoilles, eſbloüies d’vne plus viue clarté, laiſſoient effacer leur blancheur, & deuenoiẽt peu à peu de la couleur du Ciel, les beſtes de la queſte reuenoient aux bois, & les hommes à leur trauail, le ſilence faiſoit place au bruit, &les tenebres à la lumiere« (Viau 1623, 17f.). Die lapidare Aussage, die sich dahinter verbirgt, wird nach dem metapoetischen Exkurs ironisch heruntergebrochen: »mais comme i’auois dit il eſtoit iour« (Viau 1623, 22). Auf diese Weise illustriert Théophile die beiden abgelehnten Extreme der sklavischen Antikenimitation und der Prosaisierung. Das Verfahren ist in seiner Struktur Senecas Apocolocyntosis entlehnt, in der es die Datumsangabe ist, die zusächst in einer Aneinanderreihung epischer Periphrasen (SEN. apocol. 2.1: »Iam Phoebus breviore via contraxerat ortum / lucis et obscuri crescebant tempora Somni, / iamque suum victrix augebat Cynthia regnum, / et deformis Hiemps gratos carpebat honores /divitis Autumni iussoque senescere Baccho / carpebat raras serus vindemitor uvas«. [»Schon beschränkte Phoebus auf kürzerer Bahn den Aufgang des Lichtes und es wuchsen die Schläfen des finsteren Schlafgottes, und schon vergrößerte die siegreiche Cynthia ihr Reich, und der missgestaltete Winter ergriff die lieblichen Zierden des reichen Herbstes und, da Bacchus befohlen ward zu altern, griff erst spät der Winzer die seltenen Trauben.«]) und dann nüchtern prosaisch bezeichnet wird (2,2: »puto magis intellegi si dixero: mensis erat October, dies III idus Octobris.« [»Ich glaube, ich werde besser verstanden, wenn ich sage: der Monat war Oktober, der Tag der dreizehnte Oktober.«]) Viau 1623, 21f. Diese poetologischen Aussagen im Rahmen einer allgemeinen Poetik Théophiles zu werten, ist schwierig. Denn der Text als solcher lässt sich gattungstypologisch nicht leicht einordnen. Georges de Scudéry hat ihm in seiner Edition (Rouen 1632) den Untertitel Fragments d’une histoire comique gegeben, unter dem der Text auch heute noch bekannt ist. Dies ist auf die Erzählerfigur zurückzuführen, die in ironischer Weise missliche Episoden aus

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In Théophiles Text treten verdichtet mehrere Aspekte auf, die für die Sicht auf antike Obszönität und ihre diskursive Aneignung der folgenden zwei Jahrhunderte prägend sind. Er positioniert sich in diesem manifestartigen Text463 gegen die literarischen Konventionen seiner Zeit: Auf der einen Seite wendet er sich gegen die Antikenimitation, wie sie die Dichter der Pléiade um Ronsard praktizieren, auf der anderen Seiten verachtet er den sprachlichen Purismus, der von Malherbe proklamiert wird. Er macht zunächst die Unterschiede zwischen antiker und moderner Poetik deutlich, um dann gegenüber seinen Zeitgenossen seine Originalität zu betonen, die er andernorts zur Formel il faut eſcrire à la moderne zuspitzt. Im Zuge seiner Argumentation macht er auf eine zweifache Veränderung der dichterischen Produktion aufmerksam: Zunächst hätten sich die Gattungsbezeichnungen aufgrund veränderter Dichtungspraxis überholt. Die Begriffe plaisir und profit knüpfen an das horazische Dichtungsziel des delectare und prodesse (ars 333) an.464 Auch die antike Dichtungspraxis genüge, so Théophile, nicht mehr diesem Anspruch, da sich die äußeren Umstände verändert hätten. Sie rufe daher dégoût beim modernen Leser hervor. Dieser dégoût betrifft eine Übersättigung, ein Zuviel (le desgoust de ces superfluitez). Diese manierierte Stilistik sei, so hatte Théophile zuvor an Ronsard kritisiert, »point intelligible pour François.« Dieser erscheine so zwar gelehrt, doch »[c]es extrauagances ne font que deſgouſter les ſçauãts, & eſtourdir les foibles.«465 Der Gegensatz von érudit und savant wird in der Folgezeit insbesondere am Umgang mit der Obszönität sichtbar. Während der humanistische Zugriff auf das Obszöne durch private und pädagogische Praxis geprägt ist, dementsprechend positivistisch historisch-distanziertes Interesse besteht (die von den Gegnern als pédanterie beschrieben wird) stehen für den savant die Öffentlichkeit, die Gegenwart und Fragen der sozialen Distinktion im Vordergrund. Die geäußerten Emotionen (in diesem Fall der dégoût) tragen so zur sozialen

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dem Leben seiner Figuren erzählt und kommentiert. Daneben gibt es starke autobiographische Hinweise seitens des Erzählers (vgl. hierzu Saba 1999, 144–159, Verdier 1979). Handelt es sich also bei diesen Aussagen um ein ernstes poetologisches Anliegen oder ist dieses bereits ironisch gebrochen? Théophile selbst stellt die Première journée im Jahr seines Prozesses an den Anfang der Seconde partie der Ausgabe seiner Œuvres. Guido Saba (1999, 144) vermutet dahinter eine konkrete Intention: »En effet le premier chapitre représente une sorte de préface qui permet de comprendre le sens du volume mais aussi toute son oeuvre; les chapitres suivants tendent essentiellement à offrir au lecteur une image plus ou moins idéalisée de l’écrivain même; les derniers lignes du récit sont une sorte d’expédient pour annoncer les vers qui vont suivre.« Zum Zusammenhang von Publikationspraxis und Autorenkonstruktion siehe Folliard 2008. Vgl. Rizza 1982a. Vgl. Golden 2010. Viau 1623, 19f: »Il [sc. Ronsard] ſemble qu’il ſe vueille rendre incognu pour paroiſtre docte, & qu’il affecte vne fauſſe reputation de nouueau, & hardy Eſcriuain. Dans ces termes eſtrangers, il n’eſt point intelligible pour François. Ces extrauagances ne font que deſgouſter les ſçauãts, & eſtourdir les foibles. On appelle ceſte façon d’vſurper des termes obſcurs & impropres, les uns barbarie & rudeſſe d’eſprit, les autres Pedãterie & suffisance.« Vgl. die Kritik durch Deshusses/Karlson (1994, Bd. 1, 179): »Il [sc. Malherbe] se fait le défenseur et le promoteur de la poésie classique, rejetant les extravagances et les métaphores trop sophistiquées au profit d’une poésie claire et équilibrée. Cette poésie parle plus à l’intelligence, à la raison qu’au cœur et aux sens. […] Certes, les poèmes de Malherbe sont froids et impersonnels et n’ont plus autant de résonance de nos jours.«

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Gruppenbildung bei. Zu den Reformbestrebungen Malherbes, die der Klassik den Weg bereiteten, gehörte auch die Reglementierung des Wortschatzes. Die Notwendigkeit eines enrichissement der französischen Literatursprache durch Neologismen und Lehnwörter wurde von Malherbe in Frage gestellt. Gegen diese Einschränkung eines sprachlichen Individualismus setzt sich Théophile zur Wehr. Die Idee der superfluité steht in der Tradition des rhetorischen Gegensatzes von Asianismus und Attizismus. 466 Auch im 17. Jahrhundert wird der rhetorisch-stilistische Schwulst als überflüssig kritisiert und dem genus humile entgegengesetzt.467 Théophile empfindet den antikisierenden Stil gänzlich als schwülstig und belegt ihn mit asianistischen Attributen (n’eſtãs pas d’eux-meſmes aſſez vigoureux). In der rhetorischen Terminologie wird dieser Stil negativ als das Kranke, Schwache (insanus, infirmus), auch Krankmachende (corruptus) gekennzeichnet, während der attizistische Stil als gesund (sanus) und rein (purus), kräftig (robustus), natürlich und männlich (virilis) charakterisiert wird. 468 Zweitens hätten sich, daraus resultierend, die schlechten Dichter, um nicht schon Gesagtes zu wiederholen, mangels eigener poetischer Imagination in die Prosaisierung und damit gewissermaßen in das entgegengesetzte Extrem (vne metaphore eſtoit vne extrauagance) geflüchtet. Letzteres ist gerichtet gegen die sprachphilosophischen Überlegungen, die ein halbes Jahrhundert später in der Logique de Port Royal kulminiert und die den Gebrauch jeglicher Metaphorik minimieren und jedem Signifikanten ein Signifikat zuzuordnen bestrebt ist. Gegenüber diesem Purismus, die eine Moralisierung der Sprache impliziert (Kakemphaton), plädiert Théophile für eine Erneuerung der poetischen Sprache. Er propagiert für sich einen Mittelweg, der mit obsoleten Traditionen bricht, ohne sich allzu sehr an die Erfordernisse und Ansprüche der eigenen Zeit anzupassen.469 Auffällig ist in diesem Abschnitt der Gebrauch von Metaphern der Anziehung und der Abstoßung (dégoût vs amorce). Die Distanzierung von der Antike, die Théophile hier durch starke Betonung der Gegenwart (nos/aujourd’huy) und Negation und Abgrenzung von der antiken Praxis (ne pas/ne plus/ni..ni)) vornimmt, wird sich in der Folgezeit noch verstärken.470 Diese Antithese zwischen dem »heutigen wir« und dem 466

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Vgl. QVINT. inst. 12.10.16: »Et antiqua quidem illa diuisio inter Atticos atque Asianos fuit, cum hi pressi et integri, contra inflati illi et inanes haberentur, in his nihil superflueret, illis iudicium maxime ac modus deesset.« (»Die Unterteilung in attische und asianische Redner ist eine alte, wobei die einen für knapp und unvermindert, die anderen hingegen für aufgeblasen und leer gehalten wurden, bei den einen nichts überflüssig gewesen sei, bei den anderen ganz besonders Urteil und Maß gefehlt habe.«) Diese Auseinandersetzung wurde intensiv zur Zeit Ciceros geführt, wie etwa in seiner Abhandlung Orator (46 v. Chr.) und im Dialog Brutus (46 v. Chr.) nachzuvollziehen ist. Vgl. etwa CIC. Brut. 202; 51; 276. QVINT. inst. 10.1.43f. Vgl. Norden 51958, 283 mit weiteren Beispielen. Zum Zusammenhang von Rhetorik und Männlichleit in Rom siehe Richlin 1997. Einen ähnlichen Mittelweg wählt auch La Fontaine, wie er u.a. in seiner Épitre à Huet (1687, besonders Verse 25–28) darlegt. Zu La Fontaines poetologischer Positionierung in Debatte um die Antikenrezeption siehe Wendt 2014. Viau 1623, 18: »Ces larcins qu’on appelle imitation des Autheurs anciens, ſe doiuent dire des ornements qui ne ſont point à noſtre mode. Il faut eſcrire à la moderne; Démosthene et Virgile n’ont point eſcrit en noſtre temps, & nous ne ſçaurions eſcrire en leur siecle ; leurs liures quand ils les firent eſtoient nouueaux, & nous en faiſons tous les iours de vieux.«

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»alten sie« wird dabei, jenseits ästhetischer und moralischer Positionen, die diskursiven Pole der kommenden zwei Jahrhunderte bilden.471 Ferner verwendet Théophile die biologische Metaphorik der sterilité. 472 Die zeitgenössische Poesie, die sich wiederum einem Purismus verschreibe, so Théophiles These, führe zur Unfruchtbarkeit der Dichtung. Die Metaphorik evoziert antike imitatio-Theorien wie den zu dieser Zeit immer wieder bemühten horazischen Bienen-Vergleich, 473 den auch Théophile in der Maison de Sylvie (1624 im Gefängnis geschrieben) bemüht. Imitation ist in dieser poetologischen Perspektive immer selektive Transformation, eine Blütenlese der Tradition, die kreativ umgeformt wird. Die Idee der Fruchtbarkeit spielt, wie Antoine Adam bemerkt, bei Théophile eine wichtige Rolle und basiert auf einem Naturalismus,474 der die Natur als Quelle und Ideal der Dichtung sieht. Die Abkehr von einer zu getreuen, pedantischen 475 Imitation der alten Vorbilder und die biologische Metaphorik steht gleichsam in der attizistischen Tradition. Quintilian konzediert gleich zu Beginn seiner Auflistung der zu imitierenden Autoren: »nihil autem crescit sola imitatione.« (»Nichts aber wächst durch Nachahmung allein.«)476 Théophile belegt die Abkehr von der imitatio veterum mit dégoût; er selbst stellt sich in die Tradition der simplicité, dergegenüber die Antikenimitation eine kulturelle Überformung (bzw. Luxus) darstellt. Wie gezeigt werden wird, ist es interessanterweise gerade die obszöne Antike, der am Ende des Jahrhunderts wiederum der Platz der simplicité zugewiesen wird. Théophile untermauert seine Forderung nach Modernität 477 dagegen mit dégoût an der Antike. Wenngleich Théophile vorgibt, mit der Tradition und mit dem Humanismus zu brechen (wie auch in der Interpretation von Phylis, tout est … outu gesehen), handelt es sich dabei keineswegs um eine »absolute« 471 472

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Siehe hierzu Kapitel 5.2. Furetière 1690, s.v. sterile : »Qui ne rapporte point de fruit. Il ſe dit au propre des animaux qui n’ont pas la vertu d’engendrer. [...] ſe dit figurément en choſe ſpirituelles & morales. Un Auteur eſt ſterile; un livre eſt ſterile, un genie eſt ſterile, quand il y a peu de penſées, peu d’invention, quand on ne tire point de profit de la lecture.« Die Idee einer hygienischen Sterilität findet sich im 17. Jahrhundert nicht. Vgl. HOR. carm. 4.2.27–32, siehe auch LVCR. 3.11; SEN. epist. 84; MACR. Sat. 1, pr. 5. Vgl. hierzu Stackelberg 1956; Rentiis 1998; Olbertz 2008; Novokhatko 2010; Berrens 2015. Vgl. Adam 1935, 207: »En tout cas, l’idée de l’âme du monde le menait à un autre concept essentiel: celui de Nature. Dieu est inaccessible. L’âme du monde, déjà, est plus proche. Mais l’ensemble dans lequel nous nous mouvons, auquel nous sommes intégrés, c’est la Nature. Toute suite nous constatons que ce mot suggère à Théophile l’idée de fécondité. […] Quand Théophile le prononce, il voit un jaillissement énorme de formes, une source d’où s’échappent les êtres qui peuplent l’univers.« Laut Adam ist Théophile stark beeinflusst von der Naturphilosophie des italienischen Philosophen und Theologen Lucilio Vanini (1585– 1618). Die Pedanterie wird im Text durch die Figur Sydias personifiziert (Viau 1623, 31): »Tout à coup Sydias à qui le moindre bruit interrompoit le ſommeil, nous chanta tout haut ce Vers de Virgile, Nec Veneris nec tu vini capiaris amore. Il croit, dict Clitiphon, auoir très bien rencontré, C’est le plus orgueilleux Pedan qui ſoit en ſon meſtier.« Der angebliche VergilVers wiederum entstammt dem Ps.-Vergilischen Carmen de vino et venere, das aber beispielsweise der Cod. Heid. 370,319 (1502) oder Badius’ Edition (Paris 1512) noch zu den opuscula Vergils zählten. Zur Funktion des pedantischen Lateins im 17. Jahrhundert vgl. Joucla 1997. QVINT. inst. 10.2.8. Vgl. Riou 2008.

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Modernität, denn die Antike bleibt dennoch eine wichtige Referenz von Théophiles Dichtung.478 Es geht ihm vielmehr um die Modi der Aneignung. Insbesondere in der Querelle des Anciens et des Modernes kommt nun dieser dégoût an der Antike zum Tragen: Perrault lässt zu Beginn des dritten Bandes seines Parallèle den chevalier als Verteter der Modernes in Bezug auf den antiken Dichterkanon (Homer, Vergil, Pindar, Horaz, Anakreon, Catull) einen homme de grand érudition wiedergeben, der gesagt habe: »J’avouë […] que je ne puis goûter la beauté de la plûpart des épigrammes de Catulle que l’on vante ſi fort, & où je ne voy que de l’ordure.«479 Die Aussage, die vermutlich vor allem auf das berühmte c. 16 (Pedicabo ego vos et irrumabo) abzielt, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Der Begriff ordure480, mit dem Catulls Gedichte gleichsetzt werden und aufgrund dessen ihnen ihr ästhetischer Wert abgesprochen wird, ist charakteristisch für die Distinktion im literarischen Feld und deutet vehement auf die Gefahr hin, die von dem Text ausgehe. Anders als Théophile impliziert Perraults chavalier hier einen Kontaktekel. Diese Praxis wird durch die medizinische Erkenntnis, dass Abfall und Exkremente Krankheiten verursachen, verständlich. Diese hatte in Paris seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts dazu geführt, dass als Prävention gegen die Pest Kanalisationen gebaut und die Straßen von Unrat befreit wurden.481 Die rhetorische Strategie baut auf eine

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Koschorke spricht (hinsichtlich Luhmann) im Zusammenhang mit derartigen, nur vorgegebenen Traditionsbrüchen etwas unpassend von »Schmuggel«: »Man kann das auch anders beschreiben, nämlich als Schmuggel über die eigentlich unpassierbar gewordenen Souveränitätsgrenzen des Systems. Luhmann befindet sich hier übrigens, das sei nur am Rande vermerkt, in bester abendländischer Gesellschaft. Denn keiner der philosophischen Gründungsakte, an denen die Neuzeit reich ist, von Descartes’ Cogito über Kants Transzendentalismus bis hin zur Hegelischen Subjektphilosophie und darüber hinaus, kommt ohne eine klandestine Kehrseite aus, auf der sozusagen althergebrachtes Weltmaterial über die Zäsur, den Abriß, die Nullinie der Selbstsetzung hinübergetragen wird. Und so auch nicht die Systemtheorie.« (Koschorke 1999, 59). Théophile verheimlicht allerdings (ebenso wie Descartes) diese Verwendung antiken Materials nicht. Perrault 1688–1697, t.3 (1692), 3. Eine ähnlich affektierte Äußerung tätigt der chevalier später im selben Band hinsichtlich der Ode (Perrault 1688–1697, t. 3 [1692], 179): »Il y a long-temps que je ſuis choqué de cette manière antique [sc. de finir par quelque choſe qui n’a nul rapport au commencement].« Horreur und choque nimmt Norman (2011) als Konstituenten der Reaktion auf die Antike an. Dictionnaire de l’Académie Françoise 1694, s.v. ordure, t. 2, 154: »Terme general qui ſe dit de la pouſſiere, du duvet, de la paille, & de toutes les petites choſes mal propres qui s’attachent aux habits, aux tapisseries, & autres hardes. […] Ordure, ſe dit auſſi des excrements, & des autres impuretez du corps […] Ordure, ſign. fig. Turpitude dans les actions, corruption honteuſe dans les mœurs. […] Ordure, ſignifie auſſi Paroles ſales & deshonneſtes. Il eſt trop libre en paroles, il ſe plaiſt à dire des ordures.« Vgl. Encyclopédie, s.v. Peſte [unbekannter Autor], t. 12 (1765), 454: »Le magiſtrat doit avoir ſoin de faire nettoyer ou tranſporter toutes les immondices & les matieres puantes & corrompues, qui ne font que fomenter le venin peſtilentiel & le retenir caché; de faire nettoyer & ôter les fumiers, les boues & les ordures, des rues & des places publiques; de faire enterrer les morts hors des égliſes, dans des endroits éloignés, de les faire couvrir de chaux, de défendre toutes les aſſemblées, ſoit dans les places, ſoit dans les maiſons; d’ordonner des feux, de faire tirer le canon & la mouſqueterie, pour éloigner par ce moyen l’infection, & pour corriger l’air par l’odeur de la poudre; d’interdire le commerce avec les villes où le mal regne, ou qui ſont ſuſpectes; de défendre abſolument l’entrée ou l’uſage des mauvais alimens: enfin,

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metaphorische Verbindung von physischer und moralischer ordure. Ebenso wie der Unrat aus den Straßen, so suggeriert der Text, müssten auch Catulls Gedichte aus der Öffentlichkeit verbannt und so der krankmachende Kontakt mit ihnen vermiedenen werden. 482 Auf gleiche Weise charakterisiert der chevalier auch einige griechische Epigramme der Anthologie483 und ebenso urteil der abbé Horaz’ über zweite Satyre: »elle eſt ſi pleine d’ordures d’un bout à l’autre que nous n’en diſons rien«.484 Beide Figuren argumentieren dabei ästhetisch: Es geht ihnen nicht um die schlichte Abwesenheit von beauté oder Anwesenheit von laideur,485 sondern um eine affektive Abwehrreaktion gegen diesen Text, um die starke Präsenz des Obszönen, die einen ästhetischen Genuss im Ganzen unmöglich macht. Der Gedanke nimmt Kants Ausschluss des Ekels vom ästhetischen Wohlgefallen vorweg. Der Text transformiert hier den Kanon, indem er Catull aufgrund der Obszönität seiner Gedichte aus diesem ausschließt, der Gewährsmann des chevalier grenzt hier offensiv seinen eigenen Geschmack (je ne puis goûter) von dem der Masse (que l’on) ab. Dieser Gegensatz wird durch die starke Antithese von beauté und ordure noch verstärkt. In einer derartigen emotionalen Äußerung ist weniger die Authentizität des Gefühls als das diskursive Motiv relevant. Allein die Nennung des Namens Catull ließ offenbar Obszönität assoziieren.486 Die sprachliche Manifestation der Aversion ist als Akt der sozialen Distinktion zu sehen.487 Im Rahmen der Herausbildung der Bourgeoisie tragen Äußerungen dieser Art zur Konstruktion emotionaler Gemeinschaften bei. Die Ablehnung der Obszönität Catulls trifft die humanistischen Gelehrten und Klassizisten am Königshof und zielt darauf ab, die Überlegenheit des homme de goût über den homme de cour zu unterstreichen. 488 Das phraseologische »Geständnis«

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d’abord que la peste commence à ſe manifeſter, de faire ſéparer au plutôt les malades d’avec ceux qui ſe portent bien.« Vgl. Crousaz 1733, 249: »Il eſt bon que l’eſprit, par ſon éloignement pour les idées desagréables d’ordures physiques, ſe forme à l’heureuſe habitude de s’éloigner des ordures morales.« Perrault 1688–1697, t.1 (1688), 36. Perrault 1688–1697, t. 3 (1692), 225. Das Häßliche gehört für die französische Ästhetik der Aufklärung zum Darstellungsbereich der Kunst, eine »laideur plaisante« ist möglich. Denn man unterscheidet »la chose décrite« und »la description« (Diderot). Vgl. Dictionnaire europeén des Lumieres 2007, s.v. Laideur, difformité [Carsten Zelle], 733f. Boileau verteidigt die Ästhetik gegen die Kritik an der Grausamkeit der antiken Tragödie, die die bienséance verletze, zu Beginn des dritten Gesanges des Art poétique (1674) III, 1–4.: »IL n’eſt point de Serpent, ni de Monſtre odieux, / Qui par l’Art imité ne puiſſe plaire aux yeux. / D’un pinceau delicat l’artifice agreable, / Du plus affreux objet fait un objet aimable.« (Boileau 1674, 119). Die Verse spielen auf Aristoteles’ Poetik (1448b9–13) an, in der die menschliche Anlage zur Nachahmung mit der Erfahrung begründet wird, dass auch die Darstellung von hässlichen Tieren oder Leichen, also Dingen, die sonst nur ungern angesehen werden, Gefallen bereiten könne. Zur Debatte über den laideur in der Kunst siehe Knabe 1972, 365–373. Das ambivalente Verhältnis zwischen starker Ablehnung und Bewunderung Catulls verdeutlicht Fénelon (1716, 91): »Catulle, qu’on ne peut nommer ſans avoir horreur de ſes obſcénitez, eſt au comble de la perfection pour une ſimplicité paſſionée.« Vgl. Perrault 1688–1697, t. 3 (1692), 3: »[T]ant de grands perſonnages ont admiré les mêmes choſes qui me déplaiſent, que j’ay gardé de rien prononcer là-deſſus.« Vgl. Fumaroli 2013, 57–62.

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(j’avoue) fungiert als diskursives Ritual einer Selbstreinigung.489 Denn die homme de lettres hatten Catull und andere obszöne Autoren im Rahmen der schulischen Ausbildung gelesen. Von dieser Lektüre distanziert sich der chevalier und impliziert damit einen persönlichen Zivilisierungs- und Emanzipationsprozess gegenüber den Vorgaben der Tradition. Ferner markiert diese Aussage eine Differenz: Das indefinite on bezieht sich formal auf die öffentliche Allgemeinheit, rekurriert hier allerdings auf den klassizistischen Kanon des Hofes, der die öffentliche Meinung vorgibt. 490 Heidegger hat in seiner Analyse der Alltäglichkeit in Sein und Zeit auf das Affektive, auf die Stimmung, mit der dieses öffentliche ›man‹ operiert, hingewiesen: »Die Öffentlichkeit als die Seinsart des Man hat nicht nur überhaupt ihre Gestimmtheit, sie braucht Stimmung, und ›macht‹ sie für sich.«491 Perrault strebt dagegen nach einer Souveränität des Selbst und sucht, sich von der Herrschaft des Anderen, aus dem Sinnkontinuum der »öffentlichen Ausgelegtheit« des Man zu befreien, bzw. sich darüber zu erhöhen.492 Hierzu bedient er sich des dégoût als einer Emotion, durch die das Selbst sich in der starken Aversion erst als solches wahrnimmt. Es geht allerdings nicht um völlige Individualität und eine gänzliche Abkehr von der Öffentlichkeit, sondern um die Aktivierung einer anderen emotionalen Gemeinschaft, die an die Stelle des ›man‹ treten soll. Die Modernes inszenieren sich über den dégoût an der obszönen Antike als »sozialen Sinn«493, als inkorporierter Quasi-Natur, und versuchen so, ihre soziale Stellung zu 489

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Vgl. Perrault 1688–1697, t. 3 (1692), 3: »Je ne pûs m’empêcher ces jours paſſés de dire quelque choſe ſemblable à un homme de grande qualité, de grande mérite, & de grande érudition«. Vgl. Foucault 1976, 82f.: »L’aveu est un rituel de discours, où le sujet qui parle coïncide avec le sujet de l’énoncé; c’est aussi un rituel qui se déploie dans un rapport de pouvoir car on n’avoue pas sur la présence au moins virtuelle d’un partenaire qui n’est pas simplement l’interlocuteur, mais l’instance qui requiert l’aveu, l’impose, l’apprécie et intervient pour juger, punir, pardonner, consoler, réconcilier; […] un rituel enfin où la seule énonciation, indépendamment de ses conséquences externes, produit, chez qui l’articule, des modifications intrinsèques: elle l’innocente, elle le rachète, elle le purifie, elle le décharge de ses fautes, elle le libère, elle lui promet de salut.« Vgl. Kristeva 1980, 151–154. Dieses on verweist freilich nicht auf das Volk, le vulgaire, sondern auf die höfische Oberschicht, die etwa Chapelain als le vrai peuple bezeichnet. Siehe hierzu Kapitel 3.2. Heidegger 111967, 138. Heidegger hat auch auf die Implikationen der Macht der öffentlichen Meinung im Bereich der Kultur aufmerksam gemacht. Vgl. Heidegger 111967, 126f.: »In dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur. Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom ›großen Haufen‹ zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden ›empörend‹, was man empörend findet. Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor.« Vgl. Heidegger 111967, 126–128, hier 126: »das Dasein steht als alltägliches Miteinandersein in der Botmäßigkeit der Anderen. Nicht es selbst ist, die Anderen haben ihm das Sein abgenommen. Das Belieben der Anderen verfügt über die alltäglichen Seinsmöglichkeiten des Daseins. […] Man selbst gehört zu den Anderen und verfestigt ihre Macht. ›Die Anderen‹, die man so nennt, um die eigene wesenhafte Zugehörigkeit zu ihnen zu verdecken, sind die, die im alltäglichen Miteinandersein zunächst und zumeist ›da sind‹. Das Wer ist nicht dieser und nicht jener, nicht man selbst und nicht einige und nicht die Summe Aller. Das ›Wer‹ ist das Neutrum, das Man.« Vgl. Bourdieu 1980, 116.

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legitimieren. Dies funktioniert, da Perrault von einem Konsens hinsichtlich der Obszönität, von einem gemeinsamen Habitus des literarischen Feldes ausgehen kann, und er somit formal den inneren Widerspruch des Klassizismus aufdeckt.494 Die obszöne Antike wird von Perrault in diesem Akt der Distinktion495 kommunikativ zweigeteilt abgelehnt. Er nimmt die zu erwartende Gegenäußerung (nicht nur den Gegensinn) auf, negiert diese (je ne puis gôuter la beauté) und widerspricht ihr (je ne voie que de l’ordure). Gleichermaßen gibt der Umstand, dass Perrault hier seine Intention mitkommuniziert (j’avoue), zu erkennen, dass er Zweifel an dieser Ansicht erwartet und diese zu beseitigen bestrebt ist. Nach Luhmann ist die Konstitution von Widersprüchen innerhalb eines sozialen Systems logisch konditioniert. Der Widerspruch existiert ausschließlich auf kommunikativer Ebene496: »Das heißt auch: daß die Widersprüche in die kommunikative Selbstreferenz sozialer Systeme eingeschlossen sind; daß sie als Moment dieser Selbstreferenz zu begreifen sind und nicht von außen kommende Angriffe.« 497 Die rhetorisch-affizierte Ablehnung der Antike durch Perrault erklärt sich also weniger durch eine tatsächliche, kulturell bedingte Disposition als durch die diskursiven Gegensätze im literarischen Feld. Die doctrine classique erhebt nämlich gerade die pureté zum Ideal der beauté und wehrt sich gegen alles Gemischte.498 Der Begriff ist rhetorisch-poetologisch und christlich geprägt499, wird jedoch nun vermehrt auch medizinisch ausgedeutet. Hier kommt nun der Geschmackssinn zum Tragen, denn der homme de goût ist derjenige, der in der Lage ist, solche Mischungen zu erkennen: »ſi le gourmet ſent & reconnoît promptement le mélange de deux liqueurs; l’homme de goût, le connoiſſeur, verra d’un coup d’œil prompt le mélange de deux ſtyles; il verra un défaut à côté d’un agrément.«500 Nötig ist also discernement, Unterscheidungsfähigkeit. Jean Frédéric Ostervald wird gar einen Traité contre l’impureté (1707) verfassen, dessen These lautet, dass Unreinheit dégoût (als Anzeichen von Todesgefahr) auslöst. 501 Wie die meisten Begriffe des

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Vgl. Bourdieu 1984, 188 vom habitus universitaire: »véritable lex insita, comme le dit Leibniz, loi immanente du corps social qui, devenue immanente aux corps biologique, fait que les agents individuels réalisent la loi du corps social sans avoir ni intention ni conscience de lui obéir.« Für Bourdieu ist (polemisch zugespitzt) der »sens de la distinction philosophique« letztlich nur »une forme de ce dégoût viscéral de la vulgarité qui définit le goût pur comme rapport social incorporé, devenu nature« (Bourdieu 1979, 585). Vgl. Luhmann 1987, 497. Nach Luhmann existieren soziale Systeme als Kommunikationssysteme, sie erzeugen Widersprüche daher durch Kommunikation von Ablehnung. Luhmann 1987, 498. Vgl. generell Bray 1963 [1927]. Siehe Kapitel 5.2.1 Encyclopédie, s.v. goût [Voltaire], t. 7 (1757), 761. Vgl. Ostervald 1707, 310.

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ästhetischen Diskurses dieser Zeit stehen auch pureté 502 und impureté 503 an der Schnittstelle von Ästhetik und Moral. Ein später Höhepunkt dieser Pathogenisierung der Antike wird in Durands Vorwort seiner Petron-Übersetzung erreicht (1803), in der ihn ein fiktiver Briefpartner vor seinen Übersetzungsplänen warnt504 und besonders drastisch die Gefahren antiker Obszönität schildert: En effet, quel homme a l’ame assez pure, assez détachée des sens pour pénétrer sans danger dans les antres secrets de la débauche, pour assister avec indifférence à ses honteux mystères? S’il aime la vertu, si les glaces de l’âge n’assurent pas à ses sens un calme inaltérable, qu’il ne lise jamais Pétrone: le poison qui s’echappe de ses pages impures est mortel pour un coeur où circule le feu de la jeunesse.505

Der Leser ist, gemäß einem radikalen Sensualismus, mechanisch abhängig von den Sinnen (détachée de sens):506 »Les penſées […] ſont les images des choſes, comme les paroles ſont les images des penſées; & penſer, à parler en général, c’eſt former en soy la peinture d’un objet ou ſpirituel ou ſenſible.«507 Dementsprechend werden zunächst Strategien der Überdeckung (couvrir, envelopper) notwendig, die mehr auf obflächliche Reize, d.h. die verba, ausgerichtet sind. Das 18. Jahrhundert glaubt dagegen nicht mehr

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Nicot 1606, 526, s.v. Pur: » Pureté, Puritas. Pureté & innocence, Integritas. Pureté & entiereté. Synceritas.« Die Semantik hat sich im Laufe des 17. Jahrhundert deutlich erweitert. Vgl. etwa Dictionnaire de l’Académie Françoise 1694, s.v. pureté, t. 2, 344: »Qualité par laquelle une choſe eſt pure, & sans meſlange. Par le moyen du feu on porte les métaux au plus haut degré de pureté où ils puiſſent aller. la pureté de l’air, la pureté des eaux contribué beaucoup à la ſanté. On appelle, Pureté de diction, L’exactitude dans le choix des termes & des phraſes propres; &Pureté de ſtile, L’exactitude dans l’arrangement de ces meſmes termes & de ces meſmes phraſes. On dit aussi, d’Une façon de parler impropre, qu’Elle eſt contre la pureté de la langue, contre la pureté du langage. Pureté, ſe dit auſſi, Des choſes morales, & ſignifie, Innocence, droiture, integrité. La pureté de ses moeurs. la pureté de ses intentions. On dit encore, Pureté de foy, pureté de doctrine. Pureté, ſignifie encore, Chaſteté. Les pechez contre la pureté….« Vgl. Dictionnaire de l’Académie Françoise 1694 s.v. impureté, t.2, 345: »Ce qu’il y a d’impur, de groſſier & d’eſtranger dans quelque choſe. L’impureté de l’eau cauſe pluſieurs maladies. l’impureté des métaux ſe corrige par le feu. il faut filtrer les liqueurs pour en oſter toutes les impuretez. l’impureté des humeurs. l’impureté des entrailles envoye des vapeurs malignes au cerveau. Il ſe prend auſſi fig. pour Impudicité. […] On dit d’un Livre où il y a des choſes obſcenes, qu’Il y a des impuretez, qu’il eſt rempli d’impuretez.« Vgl. auch Bayle 1702, 3168: »Il y des gens d’eſprit qui […] vous jureront que les ſatires de Juvenal ſont cent fois plus propres à degoûter de l’impureté, que les diſcours les plus modeſtes & les plus chaſtes […].« Diese Inszenierung steht ganz in der Tradition der römischen Verssatire. Vgl. LVCIL. frg. Buch 26 und HOR. sat. 2.1 Durand 1803, t. 1, 85. Der Sensualismus (Dubos, Crousaz, Hélvetius, La Mettrie, Holbach) ist vor allem in anticartesischer Perspektive zu sehen: Gegenüber Descartes, der den Sinnen keine Erkenntnisfunktion zuschreibt, werten die Sensualisten diese auf Grundlage eines mechanizistischmonistischen Menschenbidles auf. Kondylis (2002, 170–174) sieht im Aufstieg der Sinnlichkeit in Auseinandersetzung mit Descartes das Grundprogramm der Aufklärung. Vgl. Bouhours 1687, 9.

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an die Funktionalität der Sprache in der Adäquatheit der Beschreibung und konzentriert sich auf die res. Dementsprechend wird auch die Funktion der verbalen Überdeckung als nicht ausreichend empfunden.508 Das Bild von der Gefahr, die von der Lektüre obszöner Texte, insbesondere für junge Leser, ausgehe, ist seit dem 16. Jahrhundert topisch.509 Durands Korrespondent will Petron daher gänzlich aus dem Schulunterricht verbannen, ihm also seinen kanonischen Status aberkennen. Er geht allerdings noch einen Schritt weiter: Denn auch der Erwachsene, es sei denn er lebe im Zustande der Ataraxie (les glaces de l’âge510, calme inaltérable), sei durch die Lektüre gefährdet. Der obszöne Text Petrons komme somit einem Gift (poison)511 gleich, die Lektüre entspreche der Aufnahme eines tödlichen Stoffes, dem man nicht entkommen könne. Der Verweis auf die Geheimnisse der Mysterien unterstreicht den traditionell eingeschränkten privat-geheimen Raum der Lektüre und die Gefahr der Öffentlichkeit. Die Lektüre eines obszönen Textes steht somit auf metaphorischer Ebene ihrer eigentlichen (insbesondere pädagogischen) Funktion des Nährens diametral entgegen. Diese Pathogenisierung der Antike führt Durands Interlocutor letztlich zu der rhetorischen Frage: »Faudroit–il regretter les siècles où l’imprimerie ne multiploit pas ces productions pestilentielles? Nous en sommes inondés.« 512 Die ungezügelten Reproduktionsmöglichkeiten von Büchern werden generell seit dem Prozess gegen Théophile (1623) viel diskutiert. Eine intensive Debatte entfacht sich erneut um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Jean-Baptiste Tollot etwa schreibt 1749 einen Essay über die Frage Les livres ne sont-ils pas trop multipliés? und auch Voltaire konstatiert in einem Brief an den Duc de la Vallière: Nous sommes inondés à la verité de brochures, & la mienne ſe mêle à la foule ; c’est une multitude prodigieuſe de moucherons & de chenilles, qui prouvent l’abondance des fruits & des fleurs. Vous ne voyez pas de ces inſectes dans une terre ſtérile ; […] tous précipités au bout de quelques jours dans un oubli éternel.513

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Durand 1803, t.1, 84f.: »Non, jamais on ne me persuadera que peindre la débauche sous le déshabillé des graces, que donner au vice un fard qui l’embellit, que le couvrir d’une gaze officieuse pour ne lui laisser que l’élégance et la séduction des formes, soit un moyer de corriger les moeurs, de raffermir la vertu qui chancelle, et de porter la honte et le remords dans le coeur d’un libertin.« Siehe unten zu Aristophanes, Kapitel 3.3. Dies entspricht der klassizistischen gattungspoetischen Alterslehre der Vielleisse. Vgl. Boileau 1674, 132 (chant III, 383–388, vor allem 385 »d’un pas lent & glacé«). Vgl. Furetière 1690, s.v. poison: »Ce qui a une ſi mauvaiſe qualité, qu’elle nuit au corps, ce qui le tuë. Le poiſon eſt oppoſé à l’aliment, parce que l’un ſert à conſerver la vie, & l’autre à le détruire. Le poiſon entre dans le corps par la reſpiration, ou tranſpiration de l’air peſtilent, ou par une playe ou morſure, & enfin par la bouche, en beuvant & mangeant des choſes nuiſible. […] ſe dit auſſi de tout ce qui eſt corrompu & puant.« Durand 1803, t.1, 85. Voltaire 1761, 16f.

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In der Folge gab es zahlreiche Forderungen, die Vervielfältigung des Geschriebenen einzuschränken und zu kontrollieren.514 Die Bilder der Überschwemmung, der Unbildung und des Vergessens assoziieren die Idee revolutiononärer Invasionen barbarischer Urvölker, die insbesondere den Aufklärungsdiskurs des 18. Jahrhunders prägen. 515 Bemerkenswert ist wiederum die medizinische Metaphorik, die Durand seinen Interlocutor verwenden lässt. Die pathogene Gefahr, die von obszönen Texten ausgehe, weist Symptome und Charakteristika der Pest auf: 516 sie sind hochgradig virulent und ansteckend, können gar zum Tode führen (le poison qui s’echappe de ses pages impures est mortel). Die Texte werden so in die Sphäre einer Endemie oder gar Pandemie gerückt; von ihnen geht eine akute und umfassende Gefahr aus, die durch die Flut-Metaphorik (Nous en sommes inondés) drastisch vor Augen geführt wird. Die Charakterisierung des Obszönen mit Attributen der Pest ist indes nicht neu. Allerdings gewinnt das Gefahrenpotenzial vor dem Hintergrund der Keimtheorie (gegenüber der galenischen Miasma-Theorie) und der tatsächlichen Anzahl und dem Umlauf von Druckerzeugnissen enorm an Dramatik. Die Strategien, sich gegen diese Gefährdung zu wappnen, unterscheiden sich je nach der gewählten Metaphorik: Die einfachste Art besteht in der Verschleierung und Überdeckung des Obszönen. Das Repräsentierte wird durch die Repräsentation, etwa durch Metaphorik, unschädlich gemacht, da der Textköper an der Oberfläche rein ist. Dies korreliert mit der kulturellen Hygiene-Praxis des Puders und der Wäsche ohne 514

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Z.B. Artigny 1739, 121f.: »Et d’autant qu’on ſe plaint continuellement que le nombre des méchans Livres s’augemente tellement, qu’il s’en imprime plus dans un mois qu’on ne faiſoit autrefois dans une année, ainsi qu’il paroît par le Mercure de France, Nous recommandons à nos Commiſſaires, d’empêcher qu’à l’avenir le nombre des mauvais Auteurs ne ſe multiplie, & qu’il n’en ſoit plus admis ſur le Parnaſſe ſans Notre conſentement.« Vgl. Mercier 1800, t. 3, 105: »On ne lisoit pas à Sodome et à Gomorrhe les livres que l’on imprime et que l’on vend publiquement au Palais-Égalité. « Vgl. hierzu Abramavoci 2003, 47. Vgl. Huet 1670, 97, der in den sogennanten Barbareneinfällen der Spätantike ein positives Moment der Rückkehr zur Natur sieht: »Puis qu’il eſt donc vray que l’ignorance & la groſſiereté ſont les grandes ſources de menſonge, & ce débordement de Barbares qui ſortirent du Septentrion, inonda toute l’Europe, & la plongea dans une ſi profonde ignorance qu’elle n’en eſt ſortie que depuis environ deux ſiecles, n’eſt il pas bien vray-ſemblable que cette ignorance produiſit dans l’Europe le meſme effet qu’elle a toûjours produit par tout ailleurs? & n’eſt ce pas en vain que l’on cherche dans le hazard ce que nous trouvons dans la nature?« Vgl auch. die Positivierung dieses Gedankens in Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, (Herder 1784–1791, Bd. 1 (1784), 39f.). Zu diesem Diskurs siehe Kapitel 5.2. Vgl. Furetière 1690, s.v. pestilenciel: »qui a du rapport à la peste«; s.v. pestilence: »vieux mot qui ſignifioit la peſte.«; s.v. peſte: »Maladie contagieuſes, & ordinairement mortelle. […] ſe dit auſſi des maladies qui font mourir beaucoup d’hommes, ou d’animaux. […] ſe dit auſſi figurément en Moral. L’hereſie, le libertinage ſont des peſtes qui corrompent les eſprits.« Die Pest gehört ebenfalls zum göttlichen Strafenkatalog im Alten Testament: Vgl. Lev. 26.23–25: »Werdet ihr euch aber damit noch nicht von mir zurechtbringen lassen und mir zuwiderhandeln, so will auch ich euch zuwiderhandeln und will euch siebenfältig mehr schlagen um eurer Sünden willen und will ein Racheschwert über euch bringen, das meinen Bund rächen soll. Und wenn ihr euch auch in eure Städte flüchtet, will ich doch die Pest unter euch senden und will euch in die Hände eurer Feinde geben.« [Luther-Bibel]; 2 Sam. 24.15: »Da ließ der HERR die Pest über Israel kommen vom Morgen an bis zur bestimmten Zeit, sodass von dem Volk starben von Dan bis Beerscheba siebzigtausend Mann.« [Luther-Bibel]

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Wasser.517 Gemäß der Miasma-Theorie werden Krankheiten über die Luft übertragen. Übler Geruch konnte mit Parfüm unschädlich gemacht werden. Anders verhält es sich bei der Pest, die immer wieder als Metapher gebraucht wird. Zu den Symptomen der Pest gehören neben Fieber und Hautausschlägen auch Erbrechen und dégoût. 518 Als beste Behandlung und Prophylaxe gegen die Pest gelten laut Encyclopédie, sich von Infizierten fernzuhalten und sich gegen sie zu wappnen.519 Einige der Strategien, die diesen metaphorischen Distanzierungsbestrebungen Rechnung tragen, wie etwa die Dislokation, werden in den folgenden Kapiteln näher betrachtet. Dem dégoût als körperlichem Abwehrmechanismus wird allerdings zum Ende des 18. Jahrhunderts keine ausreichende Schutzfunktion mehr zugeschrieben: Il ne faut voir le vice qu’au bout de sa carrière, abreuvé de regrets, d’amertumes, de mépris, et succombant sous le poids des souffrances et du malheur. Si on le considère au milieu de ses jouissances, le dégoût même ne suffira pas toujours pour garantir de l’étincelle électrique.520

Der Therapievorschlag besteht darin, den Erreger im Keim zu ersticken, d.h. potenzielle obszöne Texte erst gar nicht zu lesen. Hier greift die Vorstellung, dass die Therapie möglichst früh beginnen muss, um eine Ausbreitung des Erregers zu verhindern. Denn der körpereigene Schutzmechanismus der Distanzierung kann nicht gewährleisten, dass man sich nicht dennoch ansteckt. Die Ansteckung, so die zugrundeliegende medizinische Annahme, erfolgt nicht nur durch Flüssigkeiten oder die Luft, sondern durch kleine unsichtbare Partikel. Besonders gefährlich ist die 517

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Flüssigkeiten wurden generell als gesundheitsgefährend eingestuft, nicht nur als Krankheitsüberträger, sondern da die Ansicht herrschte, Flüssigkeit mache die Haut auch durchlässiger für Erreger. Insbesondere öffentliche Bäder wurden als Hort der Krankheit ausgemacht, weshalb seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts zunehmend auf toilette sèche gesetzt wurde. Vgl. Vigarello 1985, 15–29. Encyclopédie, s.v. Peſte [unbekannter Autor], t. 12 [1765], 453: »quelques-uns ont des vomiſſemens continuels; d’autres ont des nauſées & des dégouts«. Encyclopédie, s.v. Peſte [unbekannter Autor], t. 12 [1765], 454: »Traitement de la peſte. On peut conſidérer la peſte comme menaçante & prête à ſaiſir le malade, ou comme déja venue & ayant infecté le malade. Dans le premier cas, il faut s’en garantir, s’il eſt possible ; & dans le ſecond, il faut la combattre pour la diſſiper, & arrêter ſes progrès. Ainſi les remèdes ſont prophilactiques & détournent le mal prochain, ou ils ſont thérapeutiques & proprement curatifs, en guériſſant le mal lorſqu’il eſt préſent. Cure préservative. On peut ſe préſerver de la peste, en s’éloignant de la cauſe de la peſte, ou en ſe muniſſant contre elle; ce qui regarde en partie le public ou le magiſtrat, & en partie les particuliers.« Vgl. Furetière 1690, s.v. peſtiferé: »On fait faire la quarantaine à ceux qui viennent des lieux peſtiferez, qui ſont infectez de peſte.« Durand 1803, t.1, 85. Der Ausdruck étincelle électrique verweist vermutlich auf die Experimente des italienischen Physikers Luigi Galvani, der von einer Elektrizität tierischer Körper ausgeht. Die Kontraktion der Muskeln von Fröschen funktionierte wie die Leidener Flasche, die sich bei Kontakt entlädt. Bei einem Experiment (6. November 1780) fiel ihm auf, dass ein Froschschenkel, der mit einer Messerklinge in Berührung stand, immer dann zusammenzuckte, wenn bei einer in der Nähe stehenden Hochspannungsmaschine ein Funke übersprang. Seine Theorie entwickelte er in der Schrift De viribus electricitatis in motu musculari commentarius (1791). Für diesen Hinweis danke ich Christian Reidenbach. Vgl. hierzu Zanetti 2017, vgl. auch Delon 2006.

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Tatsache, dass die Lektüre der Texte Lust bereite. Im Moment der Lust ist selbst der Ekel nicht stark genug, um den Initialimpuls (étincelle électrique) für eine Selbstrücknahme zu liefern. Durand widerspricht dagegen dieser These und minimiert die Gefahr und damit auch die Macht der Literatur gänzlich: Une autre epreuve, selon moi, que les livres, quels que soit les objets qu’ils traitent n’ont aucune influence sur les moeurs publics, ni sur les passions particulières de l’homme, c’est que les Turcs, par exemple, qui ne lisent jamais, qui ne connoissent ni Catulle, ni Pétrone, les Turcs violeroient les anges que respectèrent les habitants de Sodôme qu’ils se présentoient dans leurs sérails.521

Durand argumentiert im Umkehrschluss vor allem mit der Stärke der Aufklärung bzw. der Aufgeklärten (»parmi les nations éclairées, les hommes dignes de connoître et de servir la vertu«522). Gegen die Annahme einer dem Sensualismus ausgelieferten Seele, konzipiert Durand einen Leser, der im Sinne Aristoteles’ gegenüber der Obszönität unempfindlich (apathes) ist. ⁎⁎⁎ Die Gelehrten und Denker des 17. und 18. Jahrhunderts sind geradezu hypochondrisch mit den Gefahren von Büchern beschäftigt. Die Frage, ob und wie die Lektüre eines obszönen Buches sich auf die Seele und die Moral des Lesers auswirkt, treibt Jesuiten wie Garasse, aber auch Aufklärer wie Voltaire und Bayle um. Die Heterogenität der neuen Öffentlichkeit führt zu Homogenisierungs- und Reinigungsbestrebungen, die der sozialen Distinktion dienen. Das sich verändernde medizinische Wissen schlägt auf den poetologischen puritas-Diskurs über. Der Sensualismus begünstigt die Angst vor der gefährlichen Nähe obszöner Bücher und ihrem Einfluss auf die Öffentlichkeit. Sie schlägt sich in einer neuen Ästhetik und Poetik nieder, mit der sich das folgende Kapitel beschäftigt. Diese theoretischen Texte verhandeln die Wirkung der Literatur, das Verhältnis von delectare und prodesse, neu. Die Neukonzeption der Poetik wird begleitet und verstärkt durch soziale Kämpfe im literarischen Feld und Separationsbestrebungen gegenüber dem einfachen Volk, in denen der Geschmack zur ästhetischen Kategorie erhoben wird.

3.2 »Comme un nouvel Art«: Moralisierung der Ästhetik und Historisierung der Poetik Die poetologischen Konzepte, die die Diskussion um die antike Obszönität begleiten, erfahren im 17. Jahrhundert eine Veränderung, die im Folgenden skizziert werden soll. Es treten hier vor allem zwei Momente hervor: der Einzug sozialer und moralischer Kategorien in die Ästhetik, die zu einer Homegenisierung der literarischen Sprache 521 522

Durand 1803, t.1, 128. Durand 1803, t.1, 128.

»Comme un nouvel Art«

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führt, und die Historisierung und Relativierung der Poetik. Die schon von Théophile 1623 attestierte Diskrepanz zwischen antikem Dichtungsmodell und historischer Wirklichkeit brachte in der Folgezeit die Forderung nach neuen Poetiken auf den Plan, wie es ein halbes Jahrhundert später Saint-Évremond in seinem Essay Sur les Poemes des Anciens (1685) ausdrückt: Il n’y a perſonne qui aye plus d’Admiration que j’en ai pour les Ouvrages des Anciens […] mais le changement de la Religion, du Gouvernement, des Mœurs, des Manieres, en a fait un ſi grand dans le Monde, qu’il nous faut comme un nouvel Art pour entrer dans le Goût & dans le Génie du Siécle où nous ſommes.523

Bemerkenswert ist an dieser Feststellung, dass die Poetik aus ihrer ahistorischen Geltung gehoben wird, d.h. die Regeln, die in der Antike galten, gelten nun nicht mehr uneingeschränkt. Außerliterarische, historische Veränderungen, die im Wesentlichen gesellschaftlicher Natur (Religion, Gouvernement, Mœurs, Manieres) sind, wirken laut Saint-Évremond zurück auf die Literatur und erfordern eine Aktualisierung der Poetik. Lag den Poetiken der Renaissance noch das Prinzip zugrunde, dass imitation des Anciens gleichbedeutend sei mit einer imitatio naturae, tritt nun der Vorstellung einer sich gleich bleibenden Natur die Überzeugung entgegen, dass »l’Art qui n’eſt autre choſe qu’une imitation de la Nature, ſe doit varier comme elle.« 524 Die Einsicht in Veränderungen im Bereich der Religion und des Gouvernement ist freilich nicht neu, allerdings wird die Darstellung heidnischer Mythen im 17. Jahrhundert vermehrt zum kunsttheoretischen Problem. 525 Noch intensiver wird die Diskussion im Bereich der mœurs und der manières geführt, die, wie oben beschrieben,526 zum Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine tiefgreifende Veränderung im Umgang mit dem Obszönen erfahren haben. Die veränderten Rezeptionsbedingungen, die den neuen Poetiken zugrunde liegen, haben weitreichende Konsequenzen für die gesamte Literatur. Komödie, Satire und Epigramm sind davon allerdings in weitaus höherem Maße betroffen als andere Gattungen.527 Eine Reihe von Texten unternimmt es vor allem in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, diese neue Kunst, die dem goût du siècle entspricht, regelpoetisch zu entwerfen. Grundlagen dieser Poetiken bilden zwar weiterhin Aristoteles und Horaz – ihre Autoren präsentieren sich lediglich als deren Interpreten528 –, die Neuausrichtung der rezeptionsästhetischen Grundlagen von Literatur ist allerdings folgenreich: 523 524 525

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Saint-Évremond 1705 [1685], t. 2, 413. Vgl. dazu Jauß 1964, 62f. Saint-Évremond 1705, t. 2, 265. Zwischen 1653 und 1674 war eine Querelle du Merveilleux mit Saint Sorlin und Boileau als Protagonisten entbrannt. Der Frage, ob der antike Mythos im Epos nicht durch christliche Figuren ersetzt werden müsse (etwa vertreten von Le Bossu, Traité du poème epique, 1675), die bereits Tassos Discorsi dell’ arte poetica e del poema eroico (1587) behandelte, tritt die Ansicht des Mythos als Allegorese und universale Sprache, die im Einklang mit der Religion steht, entgegen. Vgl. hierzu den Sammelband Faisant/Godard de Donville 1982. Siehe Kapitel 2. Vgl. Abramovici 2003, 28f. Vgl. Rapin 1674, Avertissement (f. ã viij r–ẽ i v): »Cet Ouvrage n’eſt point un nouveau plan de Poëtique: parce que celuy d’Ariſtote eſt le ſeul auquel il faut s’attacher, comme à la regle

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Pathogene Antike [O]n eſt plus ſenſible au plaiſir qu’à la raison. Ainſi toute la Poëſie qui eſt contre les mœurs eſt déreglée & vicieuſe: l’on doit meſme traitter les Poëtes de corrupteurs & d’empoiſonneurs publics, quand leur Morale n’eſt pas pure: & ce ne sont que les Poëtes impurs & diſſolus que Platon bannit de ſa Republique. [… L]es Muſes des veritables Poëtes ſont auſſi chaſtes & auſſi honneſtes que des Veſtales. [...] Ce n’eſt meſme que pour eſtre utile, que la Poëſie doit eſtre agreable: & le plaiſir n’est qu’un moyen dont elle ſe ſert pour profiter. Ainſi toute la Poëvie quand elle eſt parfaite, doit eſtre par neceſſité une leçon publique de bonnes mœurs pour inſtruire le peuple.529

In René Rapins Interpretation des horazischen Wirkungsziel der Dichtung wird das delectare (plaisir, agreable) ausdrücklich in den Dienst des prodesse (utile, profiter, inſtruire) gestellt. Diese Hierarchisierung ist Ausdruck einer Ästhetik, die über die Kategorie der Empfänglichkeit (ſenſible) argumentiert und damit die Möglichkeit verschiedener Rezeptionsdispositionen eröffnet. Die enge Verbindung von Poetik und Rhetorik, bei der die poetische Form und die rhetorischen Mittel der Dichtung zum Vehikel (un moyen dont elle ſe ſert) zum Erreichen dieses Wirkungszieles reduziert wird,530 gründet sich auf eine poetologische Tradition, die sie neu akzentuiert.531 In der Lettre sur la règle des vingt-quatre heures (1630) hatte Chapelain wiederum zwei Typen des plaisir unterschieden, den falschen plaisir rustique der Farce und des Romans, der auf confusion bedacht sei, »pour complaire aux idiots et à cette racaille qui passe en apparence pour le vrai peuple et qui n’est en effet que sa lie et son rebut« und den wahren plaisir raisonnable der »esprits nés à la politesse et à la civilité«.532 Chapelain unterscheidet also zwei soziale Rezipientenkreise. Die wahre Dichtung richtet sich für ihn an die Oberschicht, le vrai peuple. Aus dieser Aufteilung spricht eine generelle Skepsis gegenüber der Imagination. Dieser Anspruch auf einen plaisir raisonnable wird in der Folgezeit auch für Roman und Komödie (d’Aubignac) erhoben, weshalb etwa die antike obszöne Literatur ebenso wie ihre Leser entsprechend (sozialhierarchisch) degradiert werden.533 Bemerkenswert ist Rapins Beschreibung der Wirkung der Literatur auf eine große Öffentlichkeit (corrupteurs & empoiſonneurs publics). Das horazische prodesse wird im

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la plus juſte qu’il y ait, pour former l’esprit. [...] Tous ceux qui ont écrit ſur la Poëtique, n’ont point ſuivy d’autre idée que celle d’Aristote. Horace fut le premier, qui propoſa ce grand modele aux Romains, & ſur lequel ſe formerent tous les gens de qualité de la cour d’Auguſte, qui ſe meſlerent de faire des Vers.« Rapin 1674, 19–22. Vgl. Rapin 1674, 18: »[L]a morale qui entreprend de regler les mouvements du cœur, par ſes inſtructions, doit ſe rendre agreable pour eſtre écoutée : à quoy elle ne reüſſit jamais mieux que par la Poëſie.« Horaz (ars. 343) selbst spricht von miscere utile dulci. (»Nützliches mit Süßem mischen«) Scaliger bringt dies auf die Formel (Scaliger 1561, 347): »Poetæ finem eſſe, docere cum delectatione«( »Ziel des Dichters ist es, mit Vergnügen zu lehren.«) Chapelain 2007, [1630], 231f. Vgl. Le Clerc 1703–1713, t., 19 (1710), 359f. (über Petrons Satyrica): »Quoi qu’il n y ait pas juſtement des expreſſions, qui nomment les choſes par les noms, qui étoient bannis de l’uſage des honnêtes gens ; les plus horribles accuſations, & les plus scandaleuſes débauches y sont décrites ſi clairement, & même avec tant d’art & d’ornemens ; que ceux qui ne s’apperçoivent pas, qu’il ſe plaiſoit à dire des ordures, n’ont point du tout de nez, ou n’en ſont pas choquez, comme le doivent être d’honêtes gens.« Siehe hierzu hierzu auch Kapitel 4.1.

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Sinne eines docere ausgelegt und als leçon publique normativ auf die Formel einer Volkspädagogik (instruire le peuple) gebracht. Insbesondere die Satire wird dementsprechend zur Lehrdichtung gezählt. Moralische Attribute wie keusch (chaſte) und ehrenhaft (honneſte) werden dabei zu poetologischen Kategorien erhoben, die Unterscheidung zwischen Leben und Schriften des Dichters, wie sie die antike Dichtung beanspruchte, wird aufgehoben. Es wird aber auch deutlich, dass die Antike als Referenzsystem (Platon, les Muſes, des Veſtales) weiterhin von großer Bedeutung bleibt. Eine offene Konfrontation mit der Autorität der Antike findet hier nicht statt, vielmehr sieht sich Rapin im Einklang mit antiker Dichtungstheorie, namentlich Aristoteles und Horaz, in deren Nachfolge er sich präsentiert.534 Die Idee der bereits in der Antike erreichten Perfektion weicht dem zukunftsgerichteten Prinzip der Perfektibilität. Perfektion wird demnach als Fehlerlosigkeit gewertet. Die Vorstellung, dass Literatur immer auch eine didaktisch-exemplifizierende Funktion haben sollte, die sich explizit oder implizit in moralischen Lehren zeigt, durchzieht das gesamte Mittelalter. Die christliche Literatur wetteiferte mit der heidnisch-antiken Dichtung um die utilitas legendi.535 In der christlichen Unterweisung wurde die Literatur dementsprechend unter dem Aspekt der »scribentis intentio«, der »utilitas«, der »causa finalis« und des »fructus legentis« gelesen. In der christlichen Betonung der pathopoeia war Augustins Konzeption des orator ecclesiasticus besonders wirkmächtig.536 Nach Augustin dürfe sich die Literatur nicht auf die Ansprache des Intellektes berufen, sondern müsse auch die Affekte bewegen, um zu einer Verhaltensänderung zu führen. 537 Anders als in der christlichen pädagogischen Affektenlehre zählt in der rhetorischen Poetik des 17. Jahrhunderts der Einsatz von dégoût zur Stärkung der Moral (durch Abstoßung) nicht mehr zu den Mitteln des movere/flectere. Delectare wird als plaire hier vor allem dem déplaire entgegengestzt. Auf dem plaisir baut wiederum die soziale Distinkion des bon goût und des mauvais goût auf. Neben Aristoteles und Horaz ist zu dieser Zeit besonders die pseudo-longinische Schrift Peri hypsous einflussreich. Größere Bekanntheit erhält der Text mit Boileaus Übersetzung als Traité sur le sublime (1674) sowie seinen Réflexions critiques sur quelques passages du rhéteur Longin (1693), wenngleich die Ästhetik des sublime sich paradoxerweise gerade gegen die Regelpoetik Boileau’scher Prägung stellt. Der Ekel kommt darin lediglich an einer Stelle des Traktats vor. Longin beschreibt die homerische Götterdarstellung als erhaben und stellt ihr ein Beispiel aus Hesiod entgegen, das Boileau folgendermaßen übersetzt:

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Vgl. auch Rapin 1674, 15: »En effet, la Poëſie eſtant un Art, doit eſtre utile par la qualité de ſa nature, & par la ſubordination eſſentielle, que tout Art doit avoir à la Politique dont la fin generale eſt le bien public. C’est le ſentiment d’Ariſtote, & d’Horace ſon premier Interprete.« In der Ausgabe ist der Vers HOR. ars 333 in der Form »Et prodeſſe volunt & delectare Poëtæ« als Glosse neben den Text gestellt. Vgl. Bauer 1992. So etwa die jesuitischen Rhetoriken von Nicolas Caussin (De eloquentia sacra et humana, Paris 1630) und Jacob Masen (Palaestra Oratoria, Köln 1659). Zu Augustins Rhetorik der Affekte siehe Shuger 2016, 46–48.

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Pathogene Antike Heſiode a mis un vers bien different de celui-ci dans ſon Bouclier, s’il eſt vrai que ce Poëme ſoit de lui; quand il dit, à propos de la Deeſſe des tenebres: Une puante humeur lui couloit des narines. En effet il ne rend pas proprement cette Deeſſe terrible, mais odieuſe & dégouſtante.538

Die als Hendiadyoin wirkende, zweigliedrige Übersetzung des Adjektivs μισητόν (›widerwertig‹) als »odieuse & dégouſtante« ist Ausdruck der neuen Ästhetik des dégoût. Während Pseudo-Longin den allzu realistischen Anthropomorphismus in der Götter-Darstellung kritisiert, dies also der Gattung und dem Gegenstand unangemessen sei, überführt Boileaus Übersetzung die Aussage zugleich in ein anderes emotionales Register, das als Vitalemotion mehr auf die körperlichen Abwehrreaktionen setzt. Insbesondere die Gattung Epigramm erfährt durch die Poetik der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine Neubewertung. 539 Die umfangreichsten Theorien zum Epigramm finden sich in Guillaume Colletets Discours de l’Epigramme (1653) 540 , 538

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Boileau 1674, 19. Vgl. das griechische Original: LONG. sublim 9.5: » ᾧ ἀνόμοιόν γε τὸ Ἡσιόδειον ἐπὶ τῆς Ἀχλύος, εἴγε Ἡσιόδου καὶ τὴν Ἀσπίδα θετέον· τῆς ἐκ μὲν ῥινῶν μύξαι ῥέον· οὐ γὰρ δεινὸν ἐποίησε τὸ εἴδωλον, ἀλλὰ μισητόν.« (»Ganz verschieden davon [sc. von Homers Darstellung, D.W.] ist Hesiods Vers zur Achlys [Düsterheit], zumindest wenn man Hesiod auch die Aspis [der Schild] zuschreiben darf: ›Schleim quoll ihr aus der Nase.‹ Er schuf nämlich kein schreckliches, sondern ein widerwärtiges Bild.«) Vgl. La Harpe 1799, t.1, 126f. Die moderne Epigramm-Theorie beginnt im Jahr 1548 in Italien mit Robortellos Kommentar zu Aristoteles’ Poetik (In librum Aristotelis De arte poeticam explicationes, Florenz, 35– 41) sowie in Frankreich mit Sébillets Art poétique (1548, 39–43), die Geschichte und Form der Gattung thematisieren. Robortello leitet das Epigramm historisch aus Komödie und Tragödie ab und kommt dabei auch auf die Obszönität zu sprechen (Robortello 1548, 37): »Erat [sc. vetus illa Romanorum vrbinitas] enim ferè Domitiani Imp. temporibus abolita, quòd in Vrbem multa eſſet infuſa peregrinitas. Præterquàm quòd vetus comœdia in maledicendo multum operæ ponebat, laſciuis quoq. Vocibus, ac petulcis erat referta, quæ ipſa conſuetudo etiam ad epigrammata tranſiit; nam ſæpe videre eſt iis contineri res obſcenas, ac laſciuiæ cuiuſdãm planè mimicæ plenas, quod ipſum cognoſci poteſt apud Catullum, et Martialem adeò ſæpè, vt vna hæc potiſs. videatur eſſe epigrammatum materies, quae plane eadem est cum comica; neq. vlla in re epigrãma differt à comœdia, præterquàm forma, et ratione tractandarum rerum.« (»[Jene alte hauptstädtisch-feine Ausdrucksweise der Römer] war nämlich ungefähr zur Zeit des Kaisers Domitian erloschen, da in die Hauptstadt viele ausländische Sitten einströmten. Abgesehen davon, dass die Alte Komödie viel Mühe auf das Schmähen verwendete, war sie auch mit frivolen und mutwilligen Worten vollgestopft. Dieser Sprachgebrauch selbst ging auch auf die Epigramme über. Denn es ist oft zu sehen, dass diese auf obszönen Dingen beruhen und ganz und gar voll sind von einer gewissen Frivolität des Mimus. Ebendies kann man bei Catull und besonders oft bei Martial erkennen, sodass dies vornehmlich der einzige Stoff der Epigramme zu sein scheint. Dieser ist ganz derselbe wie der Komödienstoff, und das Epigramm unterscheidet sich in keiner Hinsicht von der Komödie, außer durch Form und Beschaffenheit der zu behandelnden Dinge.«) Im Weiteren referriert Robortello Ciceros Humortheorie aus De oratore (vgl. hierzu Kapitel 2.2.2), um abschließend festzustellen (Robortello 1548, 38): »Hanc [sc. didacitatem] ego exiſtimo non tantùm propriam eſſe oratoris, ſed etiam eius, qui Epigrammata ſcribit.« (»Meiner Einschätzung nach ist dieser [sc. der beißende Witz] nicht nur dem Redner eigen, sondern auch dem Epigramm-Schreiber.«) Zur Epigramm-Theorie im 17. und 18. Jahrhundert siehe Hecker 1979, 15–23. Der Text wurde 1653 zunächst als Discours de l’Epigramme zusammen mit einer Sammlung der Epigramme Colletets publiziert, 1658 dann als eigenständiger Traitté sur l’Epigramme im Rahmen seines Art poetique erneut gedruckt. Insbesondere das Problem der Obszönität

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François Vavasseurs De epigrammate liber (1672) sowie dem anonym publizierten Traité de la beauté des ouvrages d’esprit (1689). 541 Auch Réné Rapins Réflexions sur la Poétique d’Aristote (1674) und Boileaus Art Poetique (1674) widmen dem Epigramm eigene Kapitel. Der Dichter Colletet fordert in seinem Discours: »Le Poëte Epigrammatique […] ne doit pas employer les termes obſcenes qui repreſentẽt les choſes vn peu trop libremẽt, & qui laiſſent de ſalles images dans l’eſprit du Lecteur.«542 Die Idee, dass obszöne Texte schmutzig seien, ist der antiken Poetik fremd, 543 sie ist ideengeschichtlich auf den Sensualismus und die medizinischen Erkenntnisse bezüglich der Ansteckung zurückzuführen. Auch der Traité de la beauté des ouvrages d’esprit (1659/1689) ist der Ansicht, dass tout ce qui choque & qui bleſſe la nature nous déplait; [...] il y a dans la nature de l’homme en général, une pudeur […] qui nous donne de l’averſion pour les ſentimens deshonnêtes & ſales: d’où vient que ces ſentimens, comme contraires à la nature, doivent être réputez ſans élégance & ſans beauté.544

Die Regeln der bienséance und der honnêteté bilden auch für den Epigrammatiker eine poetologische Richtschnur, die Nichtbeachtung dieser Regeln führt zum Ausschluss aus dem literarischen Diskurs. Die immer weiter ausgreifenden Regeln der politesse und

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hängt, wie auch in folgender Fußnote deutlich wird, eng mit seiner eigenen dichterischen Tätigkeit zusammen. Es handelt sich bei dem Text um die französische Übersetzung der Dissertatio de vera pulchritudine & adumbrata, die zu Beginn von Nicoles Epigrammatum delectus (1659) steht und ihm deshalb meist zugeschrieben wird. Zu dem folgenden Zitat vgl. Nicole 1659, f. *** iij r–iij v. Colletet 1653, f. a v r. Im Anschluss zitiert Colletet Catulls und Martials Trennung von vita und versus, »[m]ais ie les renuoye là-deſſus à mon Epigramme du Poëte laſcif«, das sich im selben Band abgedruckt findet (Colletet 1653, 441): »Qu’eſt-ce autre choſe que ta Rime / Qu’un concert d’impudicité? / Tu peux pourtant que l’on t’eſtime / Vn miracle de Chaſteté. / Quoy que ton ſoin le dißimule, / Tes mœurs ſuiuent un meſme ton; / Qui fait des Vers comme un Catule, / Vit rarement comme un Caton.« Vgl. ähnlich Vavasseur 1669, 105f. Andererseits beschreibt Colletet das Epigramm als »[v]ne parole hardie, enchaſſée dãs de beaux Vers, comme vn precieux diamant dans vn riche chaton.« (Colletet 1653, f. a ij r–a ij v), schreibt ihm also ein transgressives Moment durchaus zu, das jedoch nicht in den Wörtern zu liegen habe. Zwar findet sich die Verbindung von obscenus und sordidus bei Seneca (SEN. contr. 1.2.21): »vehementer, non sordide nec obscene« (»heftig, aber nicht unanständig, und nicht obszön«) und Quintilian (QVINT. inst. 8.2.2): »et obscena uitabimus et sordida et humilia«(»Sowohl Obszönes als auch Unflätiges und Ordninäres werden wir meiden«). Es handelt sich dabei allerdings um einen Terminus der Stilhöhe, der sozialhierarchisch konnotiert ist. So nennt Cicero (CIC. Att. 1.16.11) die Unterschicht »Schmutz und Abschaum der Stadt« (»sordem urbis et faecem«). Die Rhetoriker empfehlen entsprechend, sordida et cotidiana verba zu vermeiden. Vgl. Norden 51958, 286. Im 17. Jahrhundert wird der Begriff dagegen, offenbar unter dem Eindruck der Ästhetik des dégoût, auch im Kontext der Nahrungsmetaphorik (~ frz. sale) benutzt. Vgl. Vavasseur 1669, 253: »Ob eam rem tractatos & percurſos Catullum ac Martialem non ſine nauſea & faſtidio, atque etiam cum ſtomacho & idignatione: ita plenos esse ambo ſordium ac fœtere totos.« (»Deshalb wurden Catull und Martial bearbeitet und überflogen, nicht ohne Übelkeit und Ekel, und sogar mit Verdruß und Entrüstung. So voller Schmutz waren beide und stanken gänzlich.«) Traité de la beauté 1689, 43f.

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der bienséance stellen folglich die Anhänger des Epigramms vor ein Dilemma: »Biens des gens ſe formaliſent des obſcénitez qui ſe rencontrent dans les Epigrammes des Anciens; ils ont raiſon: mais, après tout, l’obſcénité leur tient lieu de pointe.«545 Die Beobachtung Ménages, die wohl auf Isaac Vossius zurückgeht (»ſola obſcœnitas facit epigramma«)546, dass Obszönität oft wesentlich für die Pointe und damit gattungskonstituierend ist, steht der neuen Poetik, nach der Obszönität den künstlerischen Charakter eines Textes zerstört, diametral entgegen. Die Funktion der Pointe als Gegenmittel zur Wirkung des Obszönen gilt aufgrund der veränderten Ästhetik nicht mehr. 547 Die Ambivalenz des Epigramms, gleichzeitig gefallen und verletzten zu wollen,548 die sich im Phänomen der obszönen Pointe manifestiert, wird zugunsten einer Eindeutigkeit reduziert. Dies hat vor allem für die Rezeption Martials im Gegensatz zum »naiven« Epigramm »à la Grecque« weitreichende Folgen. Auch Boileau wendet sich in der Behandlung der Kleingattungen im Art poétique (1674) 549 vor allem gegen die pointe, 550 von deren falscher Annehmlichkeit (faux agrement), wie er in einem historischen Rückblick sagt, vor allem das Volk (le vulgaire) geblendet werde. Während es etwa für Gilles Ménage selbstverständlich war, dass gerade die Obszönität die Pointe ausmacht, zeigt sich hier ein sozialhierarchisches Literaturverständnis. Das Epigramm erscheint Boileau als eine Gattung für das niedere Volk, »le vulgaire«, und die Pointe komme aus dem Ausland: »Jadis de nos Auteurs les Pointes ignorées / Furent de l’Italie en nos Vers attirées.« 551 Boileau bettet das Epigramm ferner in eine Fortschrittsgeschichte der Vernunft ein: La Raiſon outragée enfin ouvrit les yeux. La [sc. la Pointe] chaſſa pour jamais des diſcours ſerieux, Et dans tous ces écrits la declarant infame, Par grace lui laiſſa l’entrée en l’Epigramme : Pourveu que ſa fineſſe éclatant à propos Roulaſt ſur la penſée, & non pas ſur les mots. Ainſi de toutes parts les deſordres ceſſerent.552 545 546 547

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Ménage 31715, t.2, 188. Vossius 1694, 40. Dagegen wird Jean Paul in der Vorschule der Äesthetik (1804, III. Abt., 2. oder JubilateVorlesung, Vierte Kautel des Herzens) den Zynismus des Witzes und Humors (wieder) als Möglichkeit zur ästhetischen Aufhebung des Ekels und der sinnlichen Liebe ansehen, denn »ſo zerſetzt der Witz und der Humor eben die Geſtalt zum bloßen Mittel und entzieht ſie durch die Aufloͤ ſung in bloße Verhaͤ ltniſſe gerade der Phantaſie; daher iſt bei den keuſchern Alten und Britten der komiſche Zyniſmus staͤ rker, aber die uͤ ppige Gestalten-Melodie schwaͤ cher; bei den verdorbenen Nazionen hingegen beides umgekehrt. Ein Ariſtophanes, Rabelais, Swift ſind ſo dezent als ein anatomiſches Lehrbuch.«(Jean Paul 1804, 709f.). Vgl. auch § 34 und die Vorrede zu Doktor Katzenbergers Badereise (1809). Für den Hinweis auf diese Stelle danke ich Elisabeth Flucher. Vgl. Sullivan 1991, 250–252. Der Art poetique steht deutlich in der Tradition der horazischen Poetik. Vgl. hierzu Wood 1985. Boileau 1674, 116 (Chant II, v. 136–138): »Mais fuiez ſur ce point un ridicule excés,/ Et n’allez pas toûjours d’une pointe frivole,/ Aiguiſer par la queuë une Epigramme folle.« Boileau 1674, 115 (Chant II, v. 105–106). Boileau 1674, 116 (Chant II, v. 123–129).

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Die Vernunft selbst wird also durch die Obszönität verletzt. Die Obszönität des Epigramms erklärt Boileau auf zwei Weisen: zunächst damit, dass es sich dabei nicht um ernste Dichtung handele. Damit steht er in der Tradition der Apologie, die auch schon Martial und Catull vorbringen (ioci, nugae). Ferner differenziert er in Anlehnung an Cicero zwischen pensée und mots. Die Vernunft sei demnach unabhängig von den Worten, primäre Obszönität könne also toleriert werden. Boileau positioniert sich zwar gegen die Fokussierung auf die verba, die zeitgleich die Logique propagiert und die in den übrigen neuen Poetiken zu einer Erhebung der politesse zur poetologischen Kategorie führt. Gleichzeitig werden aber auch von Boileau chasteté und pudeur als poetische Normen eingesetzt, allerdings historisch perspektiviert. Autoren, die so verführen, seien »Inſipides Plaisans, Bouffons infortunez, / d’un jeu de mots groſſier partiſans ſurannez.« 553 Die Bezeichnung insipide bewegt sich in der Geschmacksmetaphorik. Das Oxymoron Inſipides Plaisans drückt eine historische Distanz und die Relativität des Geschmacksurteils aus. Boileaus Poetik ist ein Fortschrittsgedanke eingeschrieben: In Anklang an die hier mehrfach angesprochene horazische Kritik am plautinischen Witz und Vers (ars 270275)554 werden von Boileau die Anhänger grober Wortspiele als veraltetet (ſurannez) bezeichnet. Dies setzt ebenfalls eine Verfeinerung der Sitten voraus, wie es auch der Kontext des historischen Rückblicks nahelegt. Und auch die Bouffons infortunez deuten auf eine zeitlich entfernte, überwundene Epoche hin. Boileaus Behandlung des Epigramms liegt also eine historisierende Poetik zugrunde. Der Spagat der Tolerierung der antiken Obszönität bei gleichzeitiger Postulierung der doctrine classique, von politesse und bienséance, zwingt Boileau zur Historisierung sowie zur Distanzierung von früheren Epochen der französischen Literaturgeschichte und, in Erweiterung des Gedankens, auch zu einer Historisierung der Antike. 555 Diese wird allerdings in der Poetik nicht einmal mehr behandelt, antike Vorbilder wie Catull und Martial werden nicht genannt. Sie waren nämlich inzwischen zu Anti-Modellen geworden.556 Boileau verzichtet daher gänzlich auf ihre Erwähnung. Diese Beschränkung auf die französische 553 554 555

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Boileau 1674, 116 (Chant II, v. 131f). Siehe Kapitel 1.2 und 4.1. Als Satiriker hält sich Boileau an seine eigenen Normen und hat nicht Unrecht, wenn er in seinem Discours sur la Satire – interessanterweise als Verteidigung gegen den Vorwurf, er selbst würde gegen die politesse verstoßen, sagt, »en comparaiſon de tous mes Confreres les Satiriques, j’ai eſté un Poëte fort retenu« (Boileau 1668b, Discovrs sur la Satire, f. C i v). Wenn er dann im Discours au Roi (1665) programmatisch verkündet, alles bei seinem Namen zu nennen zu wollen, »ma Muſe un peu legere/Nomme tout par ſon nom« (Boileau 1666, 54)– übrigens eine Tätigkeit von den Modernes gerade der lateinischen Sprache als wesentliches Charakteristikum zugesprochen wurde – dann ist dies wohl eher ein satirischer Topos und bezieht sich nur auf die Eigennamen der angegriffenen Persönlichkeiten. Boileau nutzt den Vergleich allerdings in der Verteidigung seiner eigenen Personen-Satire: »Que répondront à cela mes Cenſeurs? Pour peu qu’on les preſſe, ils chaſſeront de la Republique des Lettres tous les Poëtes Satiriques, comme autant de perturbateurs du repos publique. Mais que diront-ils de Virgile, le ſage, le diſcret Virgile, qui dans une Eglogue […] tourne d’un ſeul vers [sc. ecl. 3.90, D.W.] deux Poëtes de ſon temps en riducule. […] En un mot qu’ordonneront mes Cenſeurs de Catulle, de Martial, & de tous les Poëtes de l’antiquité, qui n’en ont pas uſé avec plus de diſcretion que Virgile?« (Boileau 1668b, Discovrs sur la Satire, f. C iij v f.)

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Literaturgeschichte unter Auslassung der Antike ermöglicht die Beibehaltung der zyklischen Geschichtstheorie. Der formale Vorrang der verba und die historische Perspektive lassen einen Spielraum, in der die antike Obszönität akzeptabel bleibt. Diese implizite Akzeptanz der Idee von der Überlegenheit der Moderne über die Antike hinsichtlich der Obszönität stellt allerdings nicht nur die Voraussetzung für die Beilegung der Querelle da, sondern an diesem Punkt wird auch das aufklärerische Fortschrittsnarrativ ansetzen und die Antike gänzlich als historisch überwundene Epoche charakterisieren.557 Die Diskrepanz, die sich im Vergleich zwischen diesen Poetiken und der antiken Dichtungspraxis offenbart, hat im Laufe der Zeit bekanntlich zu Zweifeln an der generellen Vorbildhaftigkeit der Antike geführt. Die Praktik des Vergleichs bildet auch den Anlass für den öffentlichen Höhepunkt des schon länger währenden Konfliktes, der die französische Gelehrtenwelt in zwei Lager spaltete, nämlich die berühmte Sitzung der Académie vom 27. Januar 1687, in der Perrault zu Ehren Ludwigs XIV. das streitbare Gedicht Le siècle de Louis le Grand vortrug558: LA belle Antiquité fut toujours venerable, Mais je ne crus jamais qu’elle fuſt adorable. Je voy les Anciens ſans ployer les genoux, Ils ſont grands, il eſt vray, mais hommes comme nous ; Et l’on peut comparer ſans craindre d’eſtre injuste, Le Siecle de LOUIS au beau Siecle d’Auguſte.559

Der im Rahmen einer rhetorischen Überhöhung des eigenen Zeitalters – eines grundlegenden Elementes der Gattung des Panegyricus – gezogene Vergleich (on peut comparer) mit der Antike, war schon von anderer Seite, etwa von Bouhours oder gar von Furetière, der ein enger Freund Boileaus war und eher zu den Anciens gezählt werden kann, mehrfach geäußert worden, »le parallèle entre Auguste et Louis XIV, entre la gloire d’Athènes et de Rome et la gloire du siècle de Louis le Grand devient à l’Académie le cliché de tous les discours« 560 . Es scheint daher erstaunlich, dass die folgenden Aussagen des Gedichts einen so großen Eklat verursachten, wie es geschehen ist. Gemäß des cartesischen Skeptizimus und Hinterfragens von Gewissheiten stellt Perrault besonders die überkommene Geltung der Antike infrage:561 Si nous voulions oſter le voile ſpecieux, Que la Prevention nous met devant les yeux, Et laſſez d’applaudir à mille erreurs großieres, Nous servir quelquefois de nos propres lumieres, Nous verrions clairement que ſans temerité, On peut n’adorer pas toute l’Antiquité.562 557 558 559 560 561 562

Siehe Kapitel 5.2.1. Vgl. Fumaroli 2013, 303–310. Perrault 1687, 3 (Hervorhebung im Original). Gillot 1914, 319. Vgl. Adam 1948–1956, Bd. 3 (1955), 5f.; Kortum 1966, LXIIf. Vgl. Jauß 1964, 13f. Perrault 1687, 3f.

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Die Separation der Antike zwischen Kontinuität und Diskontinuität, die durch die Praxis des Vergleiches zementiert wird und die in den sprachwissenschaftlichen Texten bei Bouhours und Charpentier noch deutlicher hervortritt, 563 wird auch hier angedeutet (On peut n’adorer pas toute l’antiquité). Die Antithese zwischen den mille erreurs großieres der Antike und den propres lumières 564 offenbart den Gegensatz zwischen Antike und Moderne und verdeutlicht die veränderten Rezeptionsbedingungen. Die Verschleierung der Augen (le voile) wird zum Kennzeichen der Verklärung, demgegenüber die eigenen Augen (nos propres lumieres) ein klares Urteil erlauben. Ein Unterschied zwischen Antike und Moderne trete etwa in einer Übersetzung Platons zutage, die »tout le sel attique« bewahrt habe, weshalb »[u]n dialogue entier ne ſçauroit eſtre lû«.565 Perrault macht deutlich, dass die Charakterisierung der sprichwörtlichen attischen Eleganz negativ ist.566 In den darauffolgenden Jahren macht sich Perrault daran, eben jene mille erreurs großieres der Antike zusammenzutragen, um die These, es handele sich bei der antiken Kunst nicht um einen art incomparable und damit die Praxis des Vergleiches schlechthin zu belegen. Als Konsequenz aus seinen vergleichenden Beobachtungen entwickelt Perrault im Verlaufe des Parallèle die Idee, jede Epoche und jede Nation habe ihren goût particulier, es gebe also keine beautés univerſelles & abſoluës, sondern nur beautés particulières & relatives. 567 Ähnlich formuliert es auch Saint-Évremond, der meint: »C’est toûjours l’Homme, mais la Nature se varie dans l’homme.«568 Im Namen dieses Relativismus ist es folglich möglich, zwischen einer antiken Ästhetik, die Obszönes akzeptiert, und einer modernen Ästhetik, die dieses ablehnt, zu unterscheiden. An diesem Punkt werden aufklärerische Verteidigungsstrategien ansetzen.569 Perraults Parellèle bewegt sich aber selbst auf dem theoretischen Fundament der zeitgenössischen Poetik. Die Relativierung der ästhetischen Kriterien der Bewertung von Kunst führt einerseits zu einer historischen Distanzierung, etabliert aber gleichzeitig den gegenwärtigen bon goût als Instanz des ästhetischen Urteils.570 Perrault legt damit paradoxerweise aber auch das Fundament für eine Beilegung der Querelle. Denn »[a]ls sich diese Ansicht durchsetzt, lässt sich die Bewunderung der Alten durchaus mit dem Bewusstsein und der 563 564

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Siehe hierzu Kapitel 4.2. Kortum 1966, LXXI: »Vielmehr richtete sich seine Polemik gegen die Gelehrtenschicht, deren Existenz und Prestige ausschliesslich auf der Exegese des antiken Erbes beruhten und deren Geisteshaltung in dem bestehenden Bildungssystem ihre vollkommenste Entsprechung und zugleich auch eine Quelle ihrer ständigen Reproduktion fand. Die bereits im Mittelalter begründete und durch den Humanismus zu universaler Geltung erhobene Vorrangstellung der Antike besass nämlich im Bildungswesen des 17. Jahrhunderts noch einen festen institutionellen Rückhalt. Die beherrschende Kraft des französischen Bildungssystems dieses Zeitraums war der Jesuitenorden, in dessen Lehranstalten der grösste Teil des französischen Bürgertums und der Aristokratie seine Bildungsgrundlage empfing.« Perrault 1687, 4. Vgl. Dictionnaire de l’Académie Françoise 1694, s.v. attique, t. 1, 65: »Sel attique, Se dit de la pureté & des graces du langage d’Athenes.« Vgl. auch Furetière 1690, s.v. attique. Vgl. Perrault 1688–1697, t.2 (1690), 48f. Vgl. Zelle 1995, 93–97. Saint-Évremond 1705, t. 2, 265. Siehe hierzu Kapitel 5.2. Vgl. dazu Jauß 1964, 54–60.

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Forderung nach einer neuen Kunst, die dem eigenen Geschmack und dem génie du siècle gemäß ist, verbinden.«571 Diese wird allerdings u.a. erst dadurch möglich, dass ein Konsens hinsichtlich der Ablehnung von Obszönität besteht. 572 Diese Relativierung des bon goût setzt sich folglich auch nicht durch, denn längst hatte sich, auch bei Perrault selbst, der dégoût an der Antike als Distinktionsmittel etabliert und wurde auch in den Poetiken thematisiert: »[I]l n’y a point d’homme de bon goût qui puiſſe ſouffrir ces paroles de Catulle, avec leſquelles il commence une des ſes Epigrammes: Les Annales de Voluſius dont on ſe torche le derriére.«573 Die Aussage, die auf c. 36 rekurriert (Annales Volusi, cacata carta), rückt nun den homme de bon goût in den Fokus. Das Verb ſouffrir deutet auf einen erwarteten dégoût, auf eine inkorporierte Abwehrreaktion hin. Der Geschmack der honnêtes gens wird somit zur poetologischen Richtschnur gemacht, zumindest was das Französische angeht (der traité übersetzt den Catull-Vers zwar umschreibend, gibt aber in der Fußnote das lateinische Original an). Als Reaktion auf die Vergrößerung des Buchmarktes seit dem Beginn des Jahrhundert findet nun also eine normative Reduktion der Leserschaft statt: »[I]l n’importe qu’ils [sc. les poètes] ſoient capables de plaire à quelques eſprits gâtez & corrompus: car ce n’eſt point par leur goût, mais par celui des honnêtes gens, & des perſonnes de bonnes mœurs, qu’on doit juger du beau des choſes.«574 Die Identifizierung des Ästhetischen mit dem Moralischen erfolgt also im Zuge einer Sozialhierarchisierung der Literatur. Fontenelle, Perraults Nachfolger als Wortführer der Modernes, kehrt daher schon bald darauf zu einer ahistorischen, universalistischen Ästhetik zurück, allerdings unter verkehrten Vorzeichen575: Je veux ſeulement faire voir que puis que les Anciens ont pu parvenir ſur de certaines choſes à la derniere perfection, & n’y pas parvenir, on doit en examinant s’ils y ſont parvenus, ne conſerver aucun reſpect pour leurs grands noms, n’avoir aucune indulgence pour leurs fautes, les traiter enfin comme des Modernes.576

Antike Obszönität wird somit nicht als erreur eines einzelnen Kunstwerks, sondern als dispositiver Defekt (défaut) einer ganzen Epoche gewertet, der in der historischen Entwicklung behoben wird. 577 Der bon goût, sagt auch Rollin in seinem Traité des études (1726–1728), »qui eſt fondé ſur des principes immuables, eſt le même pour tous les tems.« 578 Der Effekt auf den Leser eines obszönen Textes bleibe also, unabhängig 571 572

573 574 575 576 577 578

Jauß 1964, 63. Interessanterweise versöhnten sich Boileau und Perrault bereits 1694, also noch vor der Publikation des vierten Bandes des Parallèle, der die Astronomie behandeln sollte, auf Vermittlung öffentlich. Nicht zuletzt der gemeinsame Kampf gegen die Obszönität vermochte es also, Perrault und Boileau zu einen. Das Problem der Obszönität und damit zusammenhängende Fragen gesellschaftlicher Hierarchie scheinen die dringenderen Fragen geworden zu sein und haben so die Kämpfe verlagert und neue Fronten geschaffen. Traité de la beauté 1689 [1659], 47f. Traité de la beauté 1689 [1659], 44. Zum Gegensatz von Historizismus und Universalismus vgl. Norman 2011, 28–33. Fontenelle 1688, 256. Siehe hierzu Kapitel 5.2.1. Rollin 1726–1728, t.1 (1726), xcvij.

»Comme un nouvel Art«

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von Zeit und Ort, identisch: »La lecture des Livres Grecs produit en nous le meſme effet à proportion que ſi nous n’épouſions que des Grecques«. 579 Auch Voltaire vertritt wieder eine ahistorische Ästhetik : »La raison et le goût veulent, ce me ſemble, qu’on diſtingue dans un ancien, comme dans un moderne, le bon & le mauvais, qui ſont très ſouvent à côté l’un de l’autre.«580 ⁎⁎⁎ Die im 17. Jahrhundert entstehenden Poetiken bewegen sich zwischen einer historischen Relativierung des Obszönen und einer Erhebung der modernen Ästhetik zu ahistorischen Kategorien. Beide münden in einer Distanzierung von der antiken Literatur, die als nicht zeitgemäß eingestuft wird. Die Praxis des jugement vollzieht eine Bewertung der antiken Werke unabhängig von Tradition und Autorität, die auf der Naturalisierung des Obszönitätskonzeptes aufbaut: Postuliert man den degoutanten Charakter des Obszönen als natürlich, gilt dies gleichermaßen für die Antike, selbst wenn diese sich dessen nicht bewusst gewesen sein mag. An diesem Punkt wird der Aufklärungsdiskurs ansetzen und die zeitgenössischen Ideale in einer historischdialektischen Beschäftigung mit der obszönen Antike konstruieren. Die neue Poetik, in der die Öffentlichkeit und der soziale Status zu bestimmenden Kategorien werden, stellt besonders für die politische Personen-Satire ein Problem dar. Das folgende Kapitel expliziert am Beispiel des Aristophanes, der insbesondere als obszöner Dichter und politischer Satiriker galt, die Anwendung der neuen ästhetischen und poetischen Regeln auf die Bewertung und Lektüre der antiken Satire. Aristophanes’ Komödien gelten im 17. und 18. Jahrhundert als Paradebeispiel für die negativen Folgen der politischen Satire auf die Öffentlichkeit und die Sitten der Bürger, die vor allem auf die Obszönität, d.h. die obszöne Invektive, zurückgeführt wird. Die historische Betrachtung der gefährlichen zeitgenössischen Wirkung der Aristophanischen Komödien mündet in eine Ablehnung ihrer modernen Lektüre.

3.3 Obszönität und Öffentlichkeit: Aristophanes als empoisonneur publique Unmittelbar nach dem Prozess gegen Théophile de Viau stoppte die satirische Produktion abrupt. Die veränderte soziale Funktion des Schriftlichen, die auch Garasses Doctrine curieuse zum Gegenstand der Zensur gemacht hatte, hat nicht nur 579

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Vgl. Fontenelle 1688, 231; vgl. Dryden 1700 [1683], 52, der den Wert der Geschichte betont: »For Mankind being the ſame in all Ages, agitated by the ſame paſſions, and mov’d to action by the ſame intereſts, nothing can come to paſs but ſome Preſident of the like nature has already been produc’d, ſo that having the cauſes before our Eyes, we cannot eaſily be deceiv’d in the effects, if we have Judgment enough to draw the parallel.« Vg. ferner den berühmten Ausspruch Racines im Vorwort zur Iphigénie (1674): »Le gouſt de Paris s’eſt trouvé conforme à celuy d’Atheenes. Mes ſpectateurs ont eſté émus des meſmes choſes qui ont mis autre fois en larmes le plus ſçavant peuple de la Grece. « (Racine 1675, preface, f. * iij v–iiij r.) Voltaire 1770–1772, s.v. anciens et modernes, t. 1 (1770), 293f.

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dazu geführt, dass ein Autor für seinen eigenen Namen (und Text) verantwortlich ist, sondern auch für den der anderen. Angriffe ad hominem werden zwar von Klassizisten wie Boileau, die auf die Unterscheidung von vita und versus beharren, weiterhin verteidigt,581 doch wird in der namentlichen Kritik nun ein Vergehen gesehen: Ie n’ay nommé perſonne dans mes Vers, parce que mon deſſein eſt de profiter & non pas de nuire. Il ne faut pas deſeſperer ſon prochain comme firent ces anciens Poëtes, qui obligerent leurs adverſaires à ſe pendre. La loy de la Satyre & la loy de la raiſon, c’eſt d’épargner le criminel & non pas le crime. Que ſi les Satyriques anciens, témoins Ariſtophane dans ſes Comedies, & Iuuenal dans ſes Satyres, ont nommé quelques perſonnages de leur temps, leur exemple n’eſt pas à ſuiure. En reprenant les autres, ils ſont blâmables eux-meſmes de leur animoſité particuliere.582

Für die französische Satire des 17. Jahrhunderts gilt folglich größtenteils Martials Maxime, Personen zu schonen und über Laster zu sprechen (»parcere personis, dicere de vitiis«, MART. 10.33.10). Vavasseur (1669, 104–106) spricht sich demgegenüber gegen die Trennung von Leben und Werk aus und argumentiert mit der talis vitaqualis oratio Analogie: Non eſt neceſſe, fateor, vitam ac mores ſemper &vbique & in omnibus reſpondere orationi. Fieri poteſt, non nego, vt qui turpe quid ſcripſerit, nihil egerit tuleritve turpiter. Verumtamen ego idem contendo probaliter vereque dici, non ſapientum modo, ſed communi omnium, qui neque inſaniant neque prorſus hebetes ſint, aſſenſu; talem vtplurimum eſſe vitam, qualis eſſe ſermo ſolet; alterum alterius ſignum, notam, indicium, argumentum, jure ac merito videri.583 Nicht notwendigerweise, muss ich gestehen, entsprechen Leben und Charakter immer und überall und bei allen der Rede. Es kann geschehen, das streite ich nicht ab, dass jemand, der etwas Schändliches geschrieben hat, nichts auf schändliche Weise getan oder erlitten hat. Ich behaupte aber dennoch, dass sich ebendies glaubhaft und wahrheitsgemäß sagen lässt, nicht nur mit allgemeiner Zustimmung der Weisen, sondern aller, die weder wahnsinnig noch ganz und gar stumpfsinnig sind; dass meistenteils das Leben derart ist, wie die Sprache zu sein plegt; dass das Eine mit vollem Recht als Zeichen, Merkmal, Indiz, Beweis des Anderen gilt.

Wenngleich also kein Verweis-Automatismus zwischen Leben und Schreiben besteht, so besteht doch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass ein Charkater, der Schändliches schreibt auch Schändliches tut. Der Gedanke erinnert an Aristoteles’ Warnung vor der Wirkung von Obszönität auf Kinder, dass Aussprechen zur Handlung führe.584 Die 581 582

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584

Vgl. Debailly 2009. Cotin 1663, 453f. Diese Argumentation wird insbesondere in den Angriffen auf Boilaus Satire wiederholt. Vgl. etwa Boursaults Vorwort zu seiner Komödie La Satire des Satires (Boursault 1669, Au Lecteur) und Desmarets de Saint Sorlins Vorwort zu seinem Dialog La deffence du Poëme heroïque (Desmarets de Saint Sorlin 1674, preface, f. ã ij r). Vavasseur 1669, 105f. Im Weiteren führt er entsprechende griechische Aussprüche (Solons, Demokrits und Stobaeus’) an, die eine entsprechende Analogie von Leben/Charakter und Worten behaupten.Vgl. hierzu Kapitel 2.2.3. Colletet (1653, f. a v r.) lehnt die Trennung ebenfalls mit einer Art Wahrscheinlichkeitsargument ab. Vgl. ARISTOT. pol. 1336b5f. Siehe hierzu Kapitel 2.2.1.

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körperlich-geistige Gesundheit und die (richtige) Wahrnehmung (hebetes585, communis aſſenſus 586) werden dabei zu Charakteristika der Allgemeinheit, die gleichermaßen geschützt werden müssen, wie sie sich erst im Akt der Abstoßung manifestieren, sodass Verteidigern von Obszönität diese Eigenschaften abgesprochen werden können (inſaniant). Das Ideal des allgemeinen Nutzens (profiter) der Literatur wird der Schädlichkeit der persönlichen Attacke gegenübergestellt. Wie gesehen, wird die Literatur in den Poetiken als leçon publique konstruiert, die Schriftsteller werden somit zu instructeurs, zu Erziehern des Volkes. Diese Lehrfunktion der Literatur besteht allerdings, anders als in der Renaissance, ausschließlich in positiven exempla. Die Schriftsteller gelten als »empoiſonneurs publics, quand leur Morale n’eſt pas pure«587. Der Begriff Morale ist hier im doppelten Sinne von persönlicher Moral und moralischer Lehre der Texte zu verstehen. Die Satire gilt also nicht mehr als Modus des privaten Gelehrtenstreites, sondern steht im Lichte der Öffentlichkeit. Eine namentliche Kritik stellt folglich eine Ehrverletzung dar: »les ſatires tendent à depouiller un homme de ſon honneur, ce qui eſt une eſpece d’homicide civil, & par conſequent une peine, qui ne doit être infligée que par le Souverain«.588 Der Straftatbestand der Beleidigung besteht gewissermaßen in einer öffentlichen Entkleidung (dépouiller), einer Missachtung der öffentlichen Ordnung. Anders versteht dagegen Bayle die Kritik: »la critique d’un livre ne tend qu’à montrer qu’un Auteur n’a pas tel & tel degré de lumiere.«589 Besonders zu Beginn des 18. Jahrhunderts werden intensive Diskussionen über Status und Nutzen der Satire geführt.590 Die Satire humanistischer Prägung ist nun gänzlich in Verruf geraten und der Terminus satire zum Kampfbegriff geworden. La Motte unterscheidet in den Réflexions sur la critique (1715) explizit die satire, die er als »pernicieuse« und »injuste« charakterisiert, von der maßvollen Kritik, die wiederum »utile« sei.591 Für Voltaire ist sie »poison de la littérature« schlechthin.592 Der Begriff 585

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Das Adjektiv hebes (›stumpf‹) wird insbesondere für die fehlerhafte Sinneswahrnehmung (und entsprechend auch die geringe Geisteskraft) verwendet. Vgl. TLL s.v. hebes [Groth], vol. VI.3, 2582.20–31; 2582.66–2583.6. Assensus ist ein philosophischer Terminus im Kontext antiker Handlungstheorie, der das Fürwahrhalten der sinnlichen Erscheinungen durch den Geist bezeichnet. Siehe etwa CIC. ac. 2.108: »primum enim videri oportet, in quo sit etiam adsensus. dicunt enim Stoici sensus ipsos adsensus esse; quos quoniam adpetitio consequatur, actionem sequi.« (»Zunächst muss nämlich betrachtet werden, worin die Zustimmung überhaupt besteht. Die Stoiker sagen nämlich, die Sinneswahrnehmungen selbst seien schon Zustimmungen; da diesen der Antrieb nachfolge, folge die Handlung.«) Vgl.TLL s.v. assēnsus [Bögel], vol. II, 853.14–34. Rapin 1674, 19. Bayle 1697, s.v. Catius, t. 1.2, 809, remarque D. Ebd. Vgl. Dictionnaire européen des Lumières 2007, s.v. Satire [Mortier]. Diese Dichotomie zieht sich durch das gesamte 18. Jahrhundert. Marmontel unterscheidet in den Elements de la littérature (1787) zwischen politischer und moralischer bzw. persönlicher und genereller Satire. Voltaire 1785–1789, t. 60 (1785), 105: »Toute ſatire en attire une autre, et fait naître ſouvent des inimitiés eternelles. […] Je ne connais aucune ſatire qui ſoit demeurée ſans réponſe. Les familles, les amis entrent dans ces querelles: c’est le poiſon de la littérature. « (Brief an Pezay 9. März 1767). Vgl. hierzu Mortier 1977.

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poison ist besonders im Hinblick auf Aristophanes interessant, da sich an ihm die sich ändernden Rezeptionsvoraussetzungen im Unterschied zwischen dem 16. zum 17./18. Jahrhundert illustrieren lassen. Häufig wird im Zusammenhang mit der Satire auf die Obszönität verwiesen. Mehr als an den römischen Verssatirikern von Lucilius bis Juvenal 593 nehmen die Kritiker aber an Aristophanes Anstoß. Er gilt als Autor der persönlichen Invektive schlechthin. Die obszöne Sprache seiner Komödien bildet ein kontinuierliches Element ihrer Rezeption von den ersten Kritikern bis ins 17. Jahrhundert. 594 Insbesondere die satirische Personenkritik in den Komödien, wie sie Horaz zu Beginn von Satire 1.4 als ihr wesentliches Charakteristikum interpretiert, 595 wird der bestimmende Rezeptionsfilter, vor allem im Mittelalter, als der griechische Text selbst nicht bekannt war. Dass Horaz die römische Satire in der Tradition der griechischen Komödie verortet, führt in der Retrospektive dazu, dass diese zu einer satirischen Gattung verkürzt wird. Gleichzeitig wird Horaz’ Abkehr von der Invektive das Vorbild der Satire im 17. Jahr-hundert – und Aristophanes dementsprechend zum Gegenbild. Eines der einflussreichsten Substrate der Kritik an Aristophanes im 17. und 18. Jahrhundert bildet Plutarchs Vergleich mit Menander.596 Beide werden häufig gemeinsam und in Opposition zueinander behandelt. Die Bewertung orientiert sich stark an den beiden Polen, die Plutarch auf die berühmte Formel gebracht hat, Aristophanes gleiche einer Hetäre und Menander einer verheirateten Frau:597

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Die römischen Satiriker, allen voran Juvenal, wurden im Mittelalter zu Schulautoren und als Ethiker gelesen und im Sinne der praelectio ausgedeutet. Vgl. Brunhölzl 1991; Highet 1954, 194, 202f.; 305. Diese Lesart ist auch in den satirischen Texten von Lucilius bis Juvenal selbst begründet, denn die personae zeichnen weniger durch Kritik als durch Distanz zum geschilderten Werteverfall aus. Vgl. Möller 2004, 294: »Zwar belegen die Beispiele aus der Satirenschriftstellerei den moralischen Verfall der Gesellschaft und den Untergang des von Cato formulierten ethischen Ideals: viri mali beherrschen die Szene. Doch erhebt, wie gesehen, keiner der Satiriker wirklich den moralischen Zeigefinger. Man verlegt sich hier wie dort auf die Ebene des Beschreibens und Darstellens, wobei von Lucilius zu Juvenal eine Intensivierung der Distanz feststellbar ist.« Diese Distanz und das Fehlen einer moralischen Kritik und Auslegung wird im 17. und 18. Jahrhundert zum Problem. Vgl. Morton Braund 1996, 41: »The satirist is the chimney-sweep of sin: he cleans, but gets dirty in the process and so ›blaming others, merits others blames‹.« Vgl. Holtermann 2004, 23–56. Horaz interpretiert ähnlich wie Cicero (CIC. rep. 4.11., überliefert in AVG. civ. 2.9.) den Komödiendichter als eine Art Censor (vgl. HOR. sat. 1.4.5: notabat). Vgl. Holtermann 2004, 43: »Die Verengung der Alten Komödie auf moralische Personalsatire findet in Horaz serm. 1.4 einen Kulminationspunkt, durch den diese Auffassung für fast zweit Jahrtausende kanonisiert wird.« Zu diesem fragmentarischen Text siehe Hunter 2000. Zu Menanders Rezeption in der Antike siehe generell Nervegna 2013, zu Plutarch dort vor allem 1f. und 49–51. Plutarchs Werke waren im 17. Jahrhundert insbesondere durch Amyots Übersetzung, mit der er 1547 begann und die posthum in zwei Bänden 1618 abschließend erschien, äußerst beliebt. Vgl. Guerrier 2012; Frazier 2014; Guerrier 2014. PLUT. mor. 853b/854a/c. Ich setze hier gegenüber Häslers Edition das leicht verständliche ἀκολάστοις (der Baseler Edition 1542) statt des verderbten ἀληθεστέροις in den Text.

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τὸ φορτικόν […] ἐν λόγοις καὶ θυμελικὸν καὶ βάναυσον ὥς ἐστιν Ἀριστοφάνει, Μενάνδρῳ δ’οὐδαμῶς. καὶ γὰρ ὁ μὲν ἀπαίδευτος καὶ ἰδιώτης οἷς ἐκεῖνος λέγει, ἁλίσκεται, ὁ δὲ πεπαιδευμένος δυσχερανεῖ· […] Ἀριστοφάνης μὲν οὖν οὔτε τοῖς πολλοῖς ἀρεστὸς οὔτε τοῖς φρονίμοις ἀνεκτός, ἀλλ᾽ ὥσπερ ἑταίρας τῆς ποιήσεως παρηκμακυίας, εἶτα μιμουμένης γαμετὴν οὔθ᾽ οἱ πολλοὶ τὴν αὐθάδειαν ὑπομένουσιν οἵ τε σεμνοὶ βδελύττονται τὸ ἀκόλαστον καὶ κακόηθες. ὁ δὲ Μένανδρος μετὰ χαρίτων μάλιστα ἑαυτὸν αὐτάρκη παρέσχηκεν, […] ἐπιὼν ἁπανταχόσε μετὰ πειθοῦς ἀφύκτου καὶ χειρούμενος ἅπασαν ἀκοὴν καὶ διάνοιαν Ἑλληνικῆς φωνῆς. […] οἱ δ᾽Ἀριστοφάνους ἅλες πικροὶ καὶ τραχεῖς ὄντες ἑλκωτικὴν δριμύτητα καὶ δηκτικὴν ἔχουσι. […] καὶ τὸ γελοῖον οὐ παιγνιῶδες ἀλλὰ καταγέλαστον, καὶ τὸ ἐρωτικὸν οὐχ ἱλαρὸν ἀλλ´ ἀκόλαστον. Οὐδενὶ γὰρ ὁ ἄνθρωπος ἔοικε μετρίῳ τὴν ποίησιν γεγραφέναι, ἀλλὰ τὰ μὲν αἰσχρὰ καὶ ἀσελγῆ τοῖς ἀκολάστοις, τὰ βλάσφημα δὲ καὶ πικρὰ τοῖς βασκάνοις καὶ κακοήθεσιν. Das Vulgäre […] in den Worten und das Theatralische und Abgeschmackte hat Aristophanes, Menander hingegen keineswegs. Der ungebildete und gewöhnliche Mann wird von den Dingen, die jener sagt, bezwungen, der Gebildete verabscheut sie. […] Aristophanes ist also weder der Masse annehmlich noch den Verständigen erträglich, sondern seine Dichtung ist wie eine verwelkte Hetäre, die sonach eine Ehefrau (nur) nachahmt: Die Masse kann ihre Grobheit nicht aushalten, die Ehrbaren ekeln sich vor dem Ungezügelten und Boshaften. Menander hingegen hat sich zumeist mit den Grazien als selbstbeherrscht erwiesen; […] er zeigte, was und von welcher Art Wortgewandtheit war, ging überallhin mit unentrinnbarer Überzeugungskraft und beherrschte jeden Klang und jede Bedeutung(snuance) der griechischen Sprache. […] Da Aristophanes’ salzige Witze feindselig und barsch sind, haben sie eine verletzende und beißende Schärfe. Und das Lachenerregende ist nicht spielerisch, sondern verächtlich und das Thema Liebe ist nicht heiter, sondern zügellos. Denn der Mensch scheint seine Dichtung nicht für maßvolle Leute geschrieben zu haben, sondern das Schändliche und Ausschweifende für die Zügellosen sowie Lästerworte und Feindseligkeiten für Verleumder und Boshafte.

Menander scheint im Urteil Plutarchs die Ideale der Klassik zu verkörpern598, während Aristophanes diesen diametral entgegen zu stehen scheint.599 Plutarchs Vergleich der 598

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Vgl. PLUT. mor. 854d–e: »Ἡ δὲ Μενάνδρου φράσις οὕτω συνέξεσται καὶ συμπέπνευκε κεκραμένη πρὸς ἑαυτήν, ὥστε διὰ πολλῶν ἀγομένη παθῶν καὶ ἠθῶν καὶ προσώποις ἐφαρμόττουσα παντοδαποῖς μία τε φαίνεσθαι καὶ τὴν ὁμοιότητα τηρεῖν ἐν τοῖς κοινοῖς καὶ συνήθεσι καὶ ὑπὸ τὴν χρείαν ὀνόμασιν· ἐὰν δέ τινος ἄρα τερατείας εἰς τὸ πρᾶγμα καὶ ψόφου δεήσῃ, καθάπερ αὐλοῦ πάντρητον ἀνασπάσας ταχὺ πάλιν καὶ πιθανῶς ἐπέβαλε καὶ κατέστησε τὴν φωνὴν εἰς τὸ οἰκεῖον.« Vgl. die Übersetzung durch Amyot 1574 [1572], t. 2.2., 373: »Là où le ſtile & la phraſe de Menander eſt tellement polie & tellement contemperee en ſoy meſme qu’eſtant proumenee par pluſieurs diuerſes mœurs, & diuerſes paſſions, & ſ’accommodant à toutes perſonnes, neantmoins elle ſemble touſiours eſtre vne meſme, & retient ſa ſemblance à ſoy meſme en mots communs & familiers, & qui ſont tous les iours en vſage. Et ſi d’aduenture quelquefois ſelon la matiere il eſt beſoin de quelque caquet extraordinaire, & de quelque bruit de paroles, aiant debouché, par maniere de dire, tous les trous de la fluſte, tout ſoudain il les recouure de bonne grace & remet ſa voix en ſon naturel.« Hinsichtlich des Obszönitätsdiskurses des 17. und 18. Jahrhunderts fallen hier vor allem die Schlagwörter polie, contemperee en soy meſme und recouure ins Auge, die Menander als Ideal erscheinen lassen. Vgl. Frazier 2014, 569: »Being the most accomplished, and perhaps the most frequently published, version of Plutarch’s works in early modern French, Amyot’s translations are as important for their role in establishing the literary credentials of the French language as for providing a survey of ancient Greco-Roman moral and religious thought, two important factors in the development of French classicism.« Die Dichotomie und Charakterisierung zwischen so genannter Alter und Neuer Komödie (und die Präferenz für letztere) wird bei Aristoteles (als Zeitgenosse der Neuen, die dann wiederum hundert Jahre später von den alexandrinischen Philologen als mittlere angesehen

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beiden Dichter ist offenbar allgemein bekannt, 600 weit besser als die Texte selbst. Dementsprechend genoss Aristophanes im 17. und 18. Jahrhundert einen schlechten Ruf. Marmontel etwa sieht in ihm einen »Comique groſſier, rampant & obſcène, ſans goût, ſans mœurs« 601. Auch Rigoley de Juvigny kritisiert »les obſcénités & les traits licencieux dont il ſouilla trop ſouvent la ſcène.« 602 In der Renaissance war Aristophanes dagegen ein beliebter Autor. In Folge der editio princeps, die 1498 in Venedig erschien, wurden vor allem die Stücke der byzantinischen Trias, allein in Paris vier Editionen des Ploutos und drei der Wolken, veröffentlicht. Ronsard soll in seiner Studentenzeit eine Übersetzung des Ploutos angefertigt haben. 603 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhundert ließ hingegen das Interesse stark nach, sodass zwar über Aristophanes gesprochen wurde, ohne allerdings sein Werk tatsächlich zu kennen. Dies mag mit der geringeren Bedeutung und Verbreitung des Griechischen zusammenhängen, vor allem aber in der Obszönität der Texte begründet sein. Auf das Problem der Obszönität der aristophanischen Komödien in der Schullektüre reagierte der Basler protestantische Theologe Grynaeus in seiner Edition von 1532 mit dem Rat, diese gerade nicht zu verschweigen, da dies die Neugier der Schüler nur umso mehr anstachele: Magna difficultas est, è tam corruptis Comici huius moribus, ueluti è ſpinis, uel (ut rectius dicam), uenenatis herbis, amœnitates illas uerborum colligendi. Eſt enim in hoc præſertim, magna utriuſq; rei copia: ac parum abeſt, quin inter ſpecioſißimos flores in exitiale maximè uenenum incurras, rem tanto periculoſiorem, quanto picturiatores campi huius ſunt; & quãto blandius inſtallitur ſuavitate uerborũ miranda, quam propter in omnes mox puerorum ludos ſuaviloquentißimum uatem diſtractum iri coniecto. Vbi ſi ſpurca profeſſor tranſilit, cupidè magis eruuntur: ſin aperit, periculum est teneræ menti.604 Eine große Schwierigkeit besteht darin, aus den so verdorbenen Sitten dieses Komödiendichters, gleichsam wie aus Dornen oder (wie ich richtiger sagen sollte) Giftkräutern jene Lieblichkeiten der Worte zusammenzustellen. Es gibt nämlich besonders bei ihm [sc. Aristophanes) eine große Fülle an beiden Dingen. Und es fehlt wenig daran, dass man zwischen den prächtigsten Blumen auf ein besonders tödliches Gift trifft, eine umso gefährlichere Sache, je bunter seine Felder sind und je verführerischer es durch bewunderns-werte Süße der Worte eingeträufelt wird. Derentwegen, vermute ich, wird sich dieser äußerst lieblich redende Dichter bald in allen Jungenschulen verkaufen. Sobald der Lehrer Schweinereien überspringt, werden sie umso begieriger aufgestöbert. Wenn er sie aber offenbart, besteht eine Gefahr für ein zartes Gemüt.

600 601 602 603 604

wurde) greifbar (ARISTOT. eth. Nic. 1128a22–25): »ἴδοι δ᾽ἄν τις καὶ ἐκ τῶν κωμῳδιῶν τῶν παλαιῶν καὶ τῶν καινῶν˙ τοῖς μὲν γὰρ ἦν γελοῖον ἡ αἰσχρολογία, τοῖς δὲ μᾶλλον ἡ ὑπόνοια˙ διαφέρει δ᾽οὐ μικρὸν ταῦτα πρὸς εὐσχημοσύνην.« (»Man kann (diesen Unterschied) auch anhand der alten und neuen Komödien erkennen: Den einen war nämlich die Obszönität, den anderen eher der bildliche Ausdruck eigen. Dies macht keinen geringen Unterschied hinsichtlich des Anstandes«). Zu Aristoteles’ Komödientheorie siehe Fuhrmann 2003 [1973], 61–69. Vgl. Marmontel 1763, t.II, 385–387; La Harpe 1799, t.2, 4–6. Marmontel 1763, t.II, 385. Rigoley de Juvigny 1787, 38. Vgl. Binet 1944, 20. Grynaeus 1532, f. a 2 r.

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Die Idee, dass die Obszönität bzw. Aischrologie gerade für die Jugend gefährlich sei, findet sich, wie gesehn in Aristoteles’ Politik. 605 Ähnlich wie der Körper mit dem Konsum von Alkohol umzugehen lerne, führe auch erst die Erziehung den Erwachsenen zu einer Art Unempfindlichkeit (ἀπάθεια) gegenüber derartigen Schädigungen. Generell müsse der Staat allerdings, so Aristoteles, verbale und visuelle Obszönität, da sie Nachahmung obszöner Handlungen sind, die wiederum zu derartigen Handlungen führen können, aus der Öffentlichkeit verbannen. Die dionysischen Feste bilden hierin die Ausnahme, zumindest für die männliche Bevölkerung. Aristoteles sah zunächst keine Gefahr von der Komödie ausgehen, da das Lächerliche, im Gegensatz zur Tragödie keinen Einfluss auf die Affekte habe, keinen Schmerz und kein Verderben verursache (poet. 1449a35). Auch Theophrast bezeichnet in seiner berühmten Definition die Komödie als ungefährliche (ἀκίνδυνος) Nachahmung, bezieht sich dabei aber vermutlich eher auf die Mittlere und Neue Komödie. Diese Beschränkung des Obszönen auf das Rituelle, die sich mit Varros möglicher Etymologie (ling. 7.96: nisi in scaenam publico non dici debet) deckt, wird, wie gesehen, im 17. Jahrhundert nicht mehr geltend gemacht. Auch die aristotelische Insignie der apatheia des Erwachsenen wird nicht mehr grundsätzlich geteilt (mit Ausnahme Bayles606). Grynaeus macht auf die seiner Meinung nach besonders gefährliche Verquickung von Anmut (amoenitas, blanditia) und Obszönität aufmerksam607 und bezieht sich dabei explizit auf Aristoteles, der schon das Theater als corruptum erkannt und deshalb aus der Polis ausgeschlossen habe,608 sowie auf Ciceros Kritik an Aristophanes in De re 605 606 607

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ARISTOT. pol. 1336b4–23. Siehe hierzu Kapitel 2.2.1. Siehe Kapitel 4.4. Ähnlich äußerte auch der italienische Philologe Aemilius Portus, der 1607 ebenfalls eine Aristophanes-Edition vorlegte (Aemilius Portus [1589], zitiert nach Invernizius/Beckius 1809, lxxxvii.): »Multa in Ariſtophane valde damnanda fateor, multa tamen in eodem magnam laudem merentur: omnem dictorum, omnem factorum impuritatem ac impietatem damno: ſed Atticae linguae puritas, elegantia, copia, ſuavitas, in variorum vocum aptiſſima compoſitione felicitas, multorum vocabulorum rerumque ad forum, ad iudicia, variasque ſcientias ſpectantium interpretatio cur a me damnetur? Hic vitiorum accerrimus eſt obſervator ac reprehenſor. Hic virorum, hic mulierum mores et ingenium ſuis coloribus inſignitum vt penicillo nobis depingit.« (»Vieles bei Aristophanes ist sehr zu verurteilen, muss ich gestehen, vieles jedoch verdient bei demselben großes Lob: jegliche Unreinheit und Ruchlosigkeit der Worte und der Taten verurteile ich, doch die Reinheit der attischen Sprache, die Gewähltheit, die Fülle, die Annehmlichkeit, das Gelingen in der äußerst angemessenen Komposition verschiedener Wörter, vieler Ausdrücke und Dinge, die vortrefflich passen, die Auslegung vieler Wörter und Dinge, die auf das Forum, auf die Gerichte und die verschiedenen Wissenschaften zielen, warum sollte es von mir verurteilt werden? Er ist der schärfste Beobachter und Kritiker der Laster. Lebenswandel und Charakter der Männer, der Frauen, mit Färbungen kenntlich gemacht, malt er uns wie mit einem Pinsel.«) In quintilianischer Diktion lobt er vor allem die stilbildenden Vorzüge und betont den satirischen Charakter der Darstellung. Nach Holtermann 2004 bildeten Grynaeus und Aemiulius Portus’ Überlegungen über potenzielle Gefahren im 16. Jahrhundert allerdings die Ausnahmen: »durchweg hatte man zu Aristophanes Obszönitäten ein unbefangenes Verhältnis.« (Holtermann 2004, 52f.) Grynaeus 1532, f. a 3 r: »Equidem cum nihil alienius à diſciplina, nihil infestum magis moribus bonis ſit, quàm ſcurrilitas & leuitas diſſoluta, ſpectaculis iſtis teneram ætatem prorſus excluſit Ariſtoteles, non ignarus theatrum hoc totum corruptum eſſe.« (»Da allerdings nichts dem Unterricht ferner steht, nichts den guten Sitten bedrohlicher ist als

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publica. Assoziiert allerdings Aristoteles die Wirkung des Obszönen noch mit Rausch, vergleicht sie Grynaeus (im Bilde des Blütenlesens) mit der Wirkung giftiger Kräuter, die wie tödliches Gift (exitiale venenum, vetalis virus) wirkten.609 Die Obszönität in den Texten, die hier hauptsächlich mit den derben Witzen (scurrilitas 610 ) assoziiert wird, erklärt Grynaeus mit den damaligen Sitten und Affekten, der Freiheit und mit der Eigenart des Attischen (Atticae linguae proprietas).611 Als pädogogisches Gegengift schlägt er den Vergleich entsprechender Stellen mit Bibelstellen vor, die auf diese Weise die virtus der Schüler sogar noch stärken würden: Ergo cum uerruca incidit, [...] profeſſor bonus quemadmodum dux ille periculum nullo pacto dißimulabit, ne tyrones tanquã ab improuiſo hoſte, circũueniantur: ſed concione aduocata, ea inuidia grauabit hostem, ea nota inuret, ſignabitq; uitium, ut non ſolum in præſentiarum, ſed in omne deinceps tempus norit iuuenis tanquam letale uirus obſeruandum. Hoc ita meo quidem uidere fiet, ſi ostendat ipſum per ſe uitiũ, ut exemplum ſcurrilitatis, obscœnitatis, quàm indignum homine sit mente prædito, & idcirco rebus ſolũ pulcherrimis imbuendo: item ſic Ethnicorum prophanos mores eſſe, ubi quis Ethnicus, quid prophanũ ſit docebit. [...] Addet exemplum contrariũ, ut obſcœnitati castimoniam Ioſephi, cum eo affectu quo iſthic ſcriptura infixit. Poſtremò in comparatione ſacrarum &

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Possenreißerei und enthemmte Leichtfertigkeit [gemeint sind Hinterlist und Intrigen der Komödienfiguren gegeneinander, D.W.], schloss Aristoteles das zarte Jugendalter ganz und gar von diesen Schauspielen aus, wohlwissend, dass dieses Theater gänzlich verdorben ist.«) Die Verbindung von Obszönität und Gift findet sich auch in dem (merowingischen oder karolingischen) Text De habitu et conversatione monachorum (Monumenta Germaniae Historicae, Poeta, IV, 483, Vers. 14.1–4): »Obscena verba, turpia/ Et risum que moventia/ Tantum vitemus plurimum,/Velut venenum aspidum.« (»Lasst uns obszöne und schändliche Wörter, die nur Lachen erregen, möglichst meiden, wie das Gift der Nattern.«) Vgl. Curtius 111993, 421f. Vgl. Eph. 5.3f. (Biblia sacra 1590, 1071, Eph.5.2): »Fornicatio autem & omnis immunditia, aut auaritia nec nominetur in vobis, ſicut decet ſanctos: aut turpitudo, aut ſtultiloquiũ, aut ſcurrilitas, quae ad rem non pertinent: ſed magis gratiatũ actio.« (»Von Unzucht aber und jeder Art Unreinheit oder Habsucht soll bei euch nicht einmal die Rede sein, wie es sich für die Heiligen gehört, auch nicht von schändlichem Tun und von närrischem oder losem Reden, was sich nicht ziemt, sondern vielmehr von Danksagung.« [Luther-Bibel]) Grynaeus 1532, f. a 3 r: »Habes qualis Comœdia fuerit olim, adhæc quæ cõmoda, quæ incommoda ferre iuuentuti poßit: [...] Cætera ut ſunt ætatum, conditionum omnium mores ſui, tum affectus, & in illis rebuspub. finis rerũ libertas, tum ſchemata, tropi, Atticæ linguæ proprietas, ut facilè dicuntur, ita tenenda ſunt prorſus, ſi quis introſpiciendum dare authorem uelit«. (»Du hast eine Komödie (in den Händen), wie sie einst gewesen ist, die noch immer der Jugend Geeignetes und Ungeeignetes bringen kann. […] Da im Übrigen die Sitten aller jeweiligen Verhältnisse, ferner die Stimmung, auch in jenen Staaten die Freiheit als Ziel, sodann rhetorische Figuren, Tropen, die Eigentümlichkeit der attischen Sprache, wie es leicht heißt, Teil der Epoche sind, so müssen sie ganz und gar behalten werden, wenn jemand einen Autor verständlich machen wollte«.) Vgl. Grynaeus 1532, f. a 2v–2r: »Huic libertati, quam facile plebis tum regnantis potentia protexit, ſales & dicacitas histrionica, tum orationis festiuitas & lepos, uelut demulcimentum additi, ut & uoluptate alliceret homines, & doctrinæ ſpecie retineret.« (»Dieser Freiheit, welche die Macht des damals herrschenden Volkes leicht beschützte, wurden salzige Witze und Schauspielerwitzeleien, ferner Heiterkeit und Humor der Rede wie ein Linderungsmittel hinzugefügt, sodass sie [sc. die Komödie] einerseits durch die Lust die Menschen anzieht, andererseits durch den Anblick der Lehre in die Schranken weist.«)

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prophanarum literarum, & hic & in toto genere authorum quotieſcunq; de recto & honeſto mentio est, aßiduus erit. 612 Wenn sie also der Auswuchs überfällt, […] wird der gute Lehrer wie jener Heerführer die Gefahr keinesfalls verheimlichen, damit die Rekruten nicht gleichsam vom Feind umzingelt werden, sondern nachdem er die Versammlung einberufen hat, wird ein solcher Haß den Feind ermatten, wird ein solches Zeichen das Laster einbrennen und erkenntlich machen, dass der Jüngling nicht nur für die Gegenwart, sondern für die gesamte darauffolgende Zeit weiß, dass auf das gleichsam tödliche Virus zu achten ist. So wird es durch mein Zutun geschehen, dass sie sehen, wenn sich das Laster durch sich selbst zeigt, gleichsam als Exemplum von Possenreißerei, von Obszönität, wie unwürdig des vernunftbegabten Menschen, der sich deswegen nur mit den schönsten Dingen vertraut machen muss, das Laster ist und ebenso dass die Sitten der Heiden gottlos sind, wodurch er lehren wird, wer ein Heide und was gottlos ist. […] Er wird der Obszönität ein Gegenbeispiel hinzufügen, wie etwa die Keuschheit des Joseph, das heißt mit demjenigen Affekt, mit dem ihn die (Heilige) Schrift ausgestattet hat. Schließlich wird er beim Vergleich der heiligen mit den gottlosen Texten sowohl hier als auch in der gesamten Sorte von Autoren, sooft vom Rechten und Ehrenhaften die Rede ist, beharrlich sein.

Der Effekt dieser pädagogischen Konditionierung liegt also zunächst im zukünftigen Erkennen von Obszönität im schädlichen Sinne (letale virus observandum). Könnten auf diese Weise die Laster wiederum nicht ausgemerzt werden, führt Grynaeus fort, so lernten die Schüler zumindest, eine solche Pest zu bemerken (pestem certam notare) und das Gift zu meiden (venena cavere). 613 Diese Idee des Obszönen als Gift, also als direkter Inkorporierung von etwas Schädlichem, das zu Krankheit und Tod führen kann, wird in der Folgezeit ausgeweitet. Vor dem Hintergrund der sich ausbreitenden Keimtheorie wird das Obszöne vermehrt mit den Exkrementen (ordure) in Verbindung gebracht. Eine intensivere Beschäftigung mit Aristophanes stellt sich wieder seit der Mitte des 17. Jahrhunderts unter dem Einfluss von d’Aubignacs Pratique du Theatre (1657) ein. »Les trois reproches majeurs que l’on fait à la fin du XVIIe siècle à Aristophane sont 612 613

Grynaeus 1532, f. a 3 v. Grynaeus 1532, f. a 3 v: »Et est præterea viri boni, qualem præceptorem eſſe decet, etiam è uitijs fructum facere poße. Quid enim? an uitiorum omnium seminariũ in omnibus æquè est, plus periculi habens ſcilicet, quàm cum eſt foris? Ergo non ſolum non periculoſum, ſed utile ſit, ſi cautè fiat, ut frugi exemplis radices uirtutum prouocare, ita tetris grauiter e& verè proſcißis, dum in fruge ſunt uitia, prouidenter occurrere, & penetrabili oratione eradicare, aut cũ id non poßis, tanquam peſtem certam notare. Facilè uenena cauentur, cum ſunt deprehenſa, cumq; uenena eſſe constat: quorum utrunq; præceptor diligentia & iudicio ſuo curabit.« (»Es ist überdies Zeichen eines trefflichen Mannes, der der Lehrer sein sollte, sogar aus Verfehlungen einen Ertrag machen zu können. Wie denn? Ist die Pflanzschule aller Laster etwa nicht an allen Orten gleich, und freilich gefährlicher, als wenn sie draußen stattfände? Es sei also nicht nur nicht gefährlich, sondern nützlich, sofern es vorsichtig geschieht, ebensowie durch rechtschaffende Beispiele die Wurzeln der Tugenden hervortreten zu lassen, so auch durch ernstlich abstoßende und wahrlich schimpfliche, solange sich die Verfehlungen in der Frucht befinden, ihnen vorsichtig entgegenzutreten und sie durch eine durchdringende Rede mit der Wurzel auszureißen, oder wenn man dies nicht kann, sie dennoch als Pest zu kennzeichnen. Leicht können Gifte gemieden werden, wenn sie entdeckt wurden, und wenn feststeht, dass es Gifte sind. Um beides (Pest und Gift) wird der Lehrer sich mit Sorgfalt und nach eigenem Urteil kümmern.«)

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les suivants: il est vulgaire, il pratique un style mêlé, il est responsable de la mort de Socrate.« 614 Aristophanische Obszönität generiert sich aus einem sozialen Kontext, die satirische Degradierung öffentlicher Personen übernimmt u.a. die Transgression der Grenze von Privatem und Öffentlichem aus der iambischen Traditon. 615 D’Aubignac lässt allerdings in seiner Pratique du Theatre (1657) das Argument, bei Aristophanes’ Komödien handele es sich um Satire, nicht mehr gelten: La Comedie dans ſon origine […] n’eſtoit qu’vne Poëſie vrayement Satyrique, & qui peu à peu ſous pretexte de reprendre les vices du peuple pour l’inſtruire, s’emporta impunément dans vne inſigne mediſance, non ſeulement contre les Citoiens, mais auſſi contre les Magiſtrats et les Perſonnes les plus illuſtres, dont on mettoit les noms, les actions & les viſages sur le Theatre.616

Für d’Aubignac stellt Aristophanes also bereits eine degenerierte Form der ursprünglich satirischen Komödie dar. Das Satire-Argument werde als Vorwand genutzt, um ungestraft Personen angreifen zu können. Richtige Satire wendet sich dagegen nicht gegen konkrete Personen, sondern gegen fiktive Figuren oder allgemein gegen Typen. Martials Satire-Definition des parcere personis, dicere de vitiis (Mart. 10.33.10) deckt sich auch mit d’Aubignacs Sicht auf die Anfänge der griechischen Komödie: Ce n’eſt pas que dans ſon origine elle [sc. la Vieille Comedie] ne fuſt plus innocente; car ſous Epicharmus & les premiers Comiques qui le ſuiuirent, la Comedie eſtoit rieuſe & non pas iniurieuſe, elle avoit des railleries, & non pas des outrages: elle ſouffroit le ſel, & non pas le fiel, & le vinaigre: Mais cette liberté degenera en licence ſi pleine de fureur, que le Theatre d’Ariſtophane ſervit pour exciter le peuple contre Socrate, & le faire mourir.617

Die Unterscheidung von feinem (railleries) und grobem (outrages) Humor vollzieht d’Aubignac anhand einer Verbindung von Humoralpathologie (fiel) und Essensmetaphorik (ſel, vinaigre). Der bittere Geschmack des Gallensaftes fiel (lat. fel), der traditionell mit der Emotion des Zornes verbunden ist, wird hier auf die Nahrungszufuhr ausgeweitet.618 Fiel wird assoziiert mit Erbrechen, es werden also körperinnere Substanzen ausgeschieden. Diese fallen wiederum in den Bereich der ordure. Demgegenüber bezeichnet le ſel das richtige Maß. Der Geschmackssinn und die Abwehrreaktionen der Komödie selbst waren in ihren Anfängen also noch funktional, während sie zu Aristophanes’ Zeit bereits so anästhesiert waren, dass diese für den

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Bastin-Hammou 2010, 97. Vgl. Henderson 1975, 7f. D’Aubignac 1657, 54. D’Aubignac (1657, 35) beruft sich explizit auf die Poetiken des Aristoteles und des Horaz. D’Aubignac 1657, 54f. Nicot 1606, 286, s.v. Fiel: »utile par excellence, fort eſtimé pour medecine.« Dictionnaire de l’Académie Françoise 1694, s.v. fiel, t. 1 454: »Liquer jaunaſtre & amere, contenuë dans une petite pellicule , qui eſt attachée au foye […] Il ſignifie fig. Haine, animoſité. Un homme plein de fiel. reſpandre ſon fiel. vomir ſon fiel. il y a bien du fiel dans cet eſprit, un diſcours plein de fiel. Et on dit fig. N’avoir point de fiel, pour dire, N’avoir point de reſſentiment, point d’eſprit de vengeance.«

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Gesellschaftskörper schädlichen Bestandteile nicht bemerkt wurden. Auf diese Weise wurde also die Gesellschaft vergiftet und hat, wie im Rausch, Sokrates’ Tod bewirkt. D’Aubignac sieht in der Obszönität der Alten Komödie vornehmlich ein politisches Instrument des Dichters, das im Übergang zum 4. Jahrhundert durch die Regierenden aufgrund der Gefahr entfernt worden sei.619 Die Vermischung des Theaters mit der Wirklichkeit (Namen, Gesichter und Handlungen) wurde dement-sprechend getrennt. Das Theater ist für d’Aubignac ein Mittel der persuasion und der instruction publique,620 in der die Zuschauer nur passiv sind.621 Auf eben diesen, den Zuschauer, ist d’Aubignacs Pratique (zumindest rhetorisch) fokussiert.622 Er unterscheidet streng zwischen dem Repräsentierten und der Repräsentation. Andererseits fordert er Realismus innerhalb der Darstellung, die dramatische Illusion müsse stets aufrechterhalten werden.623 Die Komödie stellt für ihn deshalb einen neualgischen Punkt dar, da sich hier Fiktion und Realität am nächsten berühren. Die Emotionen auf der Bühne sind in der Pratique einer Rationalität unterworfen, sie müssen den Normen der Zuschauer (selon le sentiment public) entsprechen, sodass sie auch beim Zuschauer eine rationale compassion hervorufen.624 Emotionen, die wiederum die dramatische Illusion durchbrechen und die Zuschauer etwa mit dégoût affizieren, führen dazu, dass die persuasion ins Leere läuft.625 D’Aubignac ergänzt seinen Entwurf einer sozialen Disposition für verschiedene Gattungen noch um eine zeitliche Perspektive: Die antike Komödie findet für d’Aubingnac aufgrund der veränderten emotionalen Disposition der

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Vgl. d’Aubignac 1657, 55f. Vgl. d’Aubignac 1657, 418. Vgl. Jouhaud 2000, 127f. Vgl. Hammon/Harcrowft 1995, XXIX; Baby 2001, 494; Harris 2014, 51. Durchbrechungen der vierten Wand durch direktes Ansprechen der Zuschauer lehnt er kategorisch ab. Vgl. d’Aubignac 1657, 271: »Ie ſçay bien que le Theatre eſt vne eſpece d’illuſion, mais il faut tromper les Spectateurs en telle ſorte, qu’ils ne s’imaginent pas l’eſtre, encore qu’ils le ſçachent ; il ne faut pas tandis qu’on les trompe, que leur eſprit le connoiſſe; mais ſeulement quand il y fait reflexion.« Wie Harris (2014, 56) hervorhebt, unterscheidet d’Aubignac hier zwei Modi des Wissens: a) wissen, dass es sich um eine Illusion handelt (savoir) und b) dieses während der Inszenierung (wieder)erkennen (connaître). Die zeitgenössische Komödie ordnet er niederen Sozialschichten zu: »La Comédie eſt longtemps demeurée parmy nous non ſeulement dans la baſſeſſe, mais dans l’infamie.« (d’Aubignac 1657, 187) Vgl. d’Aubignac 1657, 425–431. Vgl. Forestier 1999. D’Aubignac 1657, 91: »[S]’il y a quelque Acte ou quelque Scéne qui n’ait pas cette conformité de mœurs avec les Spectateurs, ou par le ſujet, ou par les ſentimens, on verra auſſitoſt l’applaudiſſement ceſſer, & le dégouſt naiſtre dans leurs ames, ſans meſmes qu’ils en ſçachent la cause.« Der Unterhaltungswert des agreable wird von d’Aubignac als Voraussetzung des instruire gewertet, dem das Degoutante entgegensteht und es somit verhindert. Vgl. d’Aubignac 1657, 381: »[E]lles [sc. les narrations] ſont ennuyeuſes, quand elles ne contiennent pas des choſes agréables, ou neceſſaires […] Car n’apportant aucun ornement au Theatre, le Spectateur ſe dégoûte, ſe relâche & n’écoute plus; & comme il eſt impoſſible qu’il ne perde quelque connoiſſance, dont il peut avoir beſoin dans la ſuitte, il n’approuve plus rien de ce qui ne luy donne aucun plaiſir.« Daneben gilt insbesondere die Ordnung, die sprachliche Ordnung im Sinne der perspicuitas und die textliche als Aufbau und Organisation, als der Instruktion hinderlich. Vgl. Boyer d’Argens 1743, 3: »Un Historien Véridique, mais diffus, qui narre ſans ordre & ſans grace, endort ſes Lecteurs, au lieu de les inſtruire.«

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Zuschauer in der Gegenwart keinen Anklag mehr. 626 D’Aubignac schließt aus der Obszönität der Komödien auf eine Lebenswirklichkeit, die dieses Verhalten nicht als anstößig empfand.627 Wie d’Aubignac machen viele Kritiker Aristophanes für den Tod des Sokrates verantwortlich. 628 Auch La Harpe teilt und zitiert in seinem für die Schule konzipierten Kompendium explizit Ciceros Kritik an der Alten Komödie und an der Personensatire.629 Voltaire sieht in Aristophanes den ersten, der Sokrates als Atheist betrachtet habe: »Voilà l’homme qui prépara de loin le poiſon, dont des juges infames firent périr l’homme le plus vertueux de la Grèce.«630 Sokrates’ Tod ist für Voltaire »ce que l’histoire de la Grèce a de plus odieux.«631 Eindrücklich wirkt Voltaires verkürzte Darstellung, nach der die obszönen Angriffe gewissermaßen die Ingredienzen des Schierlingsbechers waren, der Sokrates’ Tod bewirkte.632 Der Gedanke wird verständlich vor dem medizinischen Hintergrund und der verbreiteten Krankheitsmetaphorik. Voltaire geht folglich mit Aristophanes hart ins Gericht: Ce poëte comique, qui n’eſt ni comique ni poete, n’aurait pas été admis parmi nous à donner des farces à la foire St. Laurent; il me paraît beaucoup plus bas & plus méprisable que Plutarque ne le dépeint. Voici ce que le ſage Plutarque dit de ce farceur: ›Le langage d’Ariſtophane ſent ſon miſérable charlatan; ce ſont les pointes les plus baſſes & les plus dégoutantes; il n’est pas même plaiſant pour le peuple, & il eſt inſupportable aux gens de jugement & d’honneur; on ne peut ſouffrir ſon arrogance, & les gens de bien déteſtent ſa malignité.‹633

Voltaires ninistische Analyse (ni comique ni poete)634 der geläufigen Titulierung Aristophanes’ als poete comique steht im Kontext des »Retour à l’antique« in der zweiten 626

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D’Aubignac 1657, 434f.: »Ainſi les diſcours pathétiques, que nous liſons dans les Comédies Greques & Latines, ne recevront iamais parmy nous tant d’applaudiſſement que ſur les Theatres anciens; parce que le cõmerce infame & la débauche, qui eſtoient lors en pratique, trouvoient de la diſpoſition dans l’eſprit des Spectateurs pour en rendre les paſſions ſensibles; […] les plus debauchez méme parmy nous les condamnent, parce qu’ils en iugent ſelon le ſentiment public, & non pas ſelon leur déreglement particulier.« Vgl. D’Aubignac 1657, 435f; vgl. auch 193. Zu den geschichtstheoretischen Konsequenzen dieser hermeneutischen Position siehe Kapitel 5.2.1. Perrault 1688–1697, t. 3 (1692), 208. Vgl. La Harpe 1799, t. 2., 35–37. Das Urteil geht wohl auf AELIAN. Hist. Var. 2.13 zurück. Der Gedanke wurde auch in der Renaissance übernommen, siehe etwa Frischlin 1586, 2v–3r; 14v–15r. Zur Darstellung des Sokrates in den aristophanischen Komödien siehe Strauss 1966. La Harpe 1799, t.2, 43f. Voltaire 1764, s.v. athée, athéisme, 34. Voltaire 1764, s.v. athée, athéisme, 34. Zu Voltaires Verhätnis zur griechischen Antike siehe generell die Studie Mat-Hasquin 1981. Vgl. Boileau 1674, 130 (art poetique, chant III, 343–345; 361f.): »Et Socrate par lui dans un chœur des Nuées,/d’un vil amas de peuple attirer les huées./Enfin de la licence on arreſta le cours/ […] La Comedie apprit à rire ſans aigreur,/Sans fiel & ſans venin ſçeut inſtruire & reprendre«. Vgl. Colletet 1653, f. a iij v. Voltaire 1764, s.v. athée, athéisme, 34. Vgl. Barthes 1957, 227: »J’appelle ainsi cette figure mythologique [sc. le ninisme] qui consiste à poser deux contraires et à balancer l’un par l’autre de façon à les rejeter tous deux. (Je ne veux ni de ceci, ni de cela.) C’est plutôt une figure de mythe bourgeois, car elle ressortit à une forme moderne de libéralisme. On retrouve ici la figure de la balance: le réel est d’abord

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Hälfte des 18. Jahrhunderts, der sich vornehmlich im gesteigerten Interesse an Homer, Pindar und Theokrit äußerte. 635 Auch das Urteil über die antike Komödie, insbesondere über ihren Hauptvertreter Aristophanes wird erneut auf den Prüfstand gestellt. Wie Bertrand betont, habe man die Urteile zwar nicht revidieren, wohl aber den literarischen Prozess, der während der Querelle gegen die Antike geführt worden war, wieder aufnehmen und einige oberflächliche Urteile korrigieren wollen. An der generellen Überlegenheit der Moderne gegenüber der Antike wird allerdings nicht gezweifelt. Dementsprechend lapidar fasst Voltaire das Ergebnis der Querelle zusammen: »Il y a donc des genres dans leſquels les modernes ſont de beaucoup ſupérieurs aux anciens, & d’autres en très petit nombre dans leſquels nous leur ſommes inférieurs. C’eſt à quoi ſe réduit toute la diſpute.«636 Die als Zitat ausgegebene Kritik an Aristophanes (Voici ce que le sage Plutarque dit) basiert in der Tat auf Plutarch. Dass Voltaire Plutarch überhaupt direkt und mit Namen zitiert, ist bemerkenswert. In der Regel gibt er bei Zitaten antiker Texte keinerlei Quellen an, da er, wie Mervaud mutmaßt, offenbar davon ausgeht, dass diese wiedererkannt würden und dies zum Gelehrtenspiel gehöre.637 Plutarchs Urteil über Aristophanes war allgemein bekannt. Umso erstaunlicher ist es, dass Voltaire diesen »direkt« zitiert. Voltaires Übersetzung stellt hierzu Sätze aus Anfang, Mitte und Ende des kurzen Textes zusammen, wie auch ich es zu Beginn des Kapitels getan habe. Bisweilen handelt es sich auch um Zuspitzungen.638 Auch Voltaire widerspricht nicht generell den ästhetischen Prinzipien der Klassik, relativiert allerdings einige Implikationen. Während das Volk mit einfachem Missfallen (déplaire) auf die Texte reagiert, so Voltaire, seien sie für die honnêtes gens gar unerträglich. Die Erklärung hierfür liegt in den Pointen, die «les plus basses et les plus dégoûtantes« sind. Voltaire macht also

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réduit à des analogues: ensuite on le pèse; enfin, l’égalité constatée, on s’en débarrasse. Il y a ici aussi une conduite magique: on renvoie dos à dos ce qu’il y était gênant de choisir: on fuit le réel intolérable en le réduisant à deux contraires qui s’équilibre dans la mesure seulement où ils sont formels, allégés de leur poids spécifique.« Dabei wird nunmehr zumeist der Terminus antique statt ancien verwendet. Die bestimmenden Vertreter waren Voltaire, Diderot, Marmontel und La Harpe. Vgl. Bertrand 1897, 58f.; Fumaroli 2013, 477–490. Voltaire 1770–1772, s.v. anciens et modernes, t. 1 (1770), 293. Vgl. Mervaud 2008, 46f. Voltaire äußert sich auch selbst zum Zitieren (Voltaire 1764, s.v. tout eſt bien, 54): »Je n’aime point à citer; c’eſt d’ordinaire une beſogne épineuſe; on néglige ce qui précède & ce qui ſuit l’endroit qu’on cite, & on s’expose à mille querelles.« Ferner unterscheidet Voltaire die bloße Nennung des Names von einem direkten Zitat (Voltaire 1770–1772, t.2, 379): »Il y a bien de la différence entre faire mention d’un auteur & citer un auteur. Parler, faire mention d’un auteur, c’eſt dire il a vécu, il a écrit en tel tems. Le citer, c’eſt rapporter un de ſes paſſages.« Zur Praktik des Zitats bei Voltaire siehe Mervaud 2008, 45–51. Zum Vergleich die Übersetzug der wohl zugrunde liegenden Passagen durch Amyot (1574 [1572], t. 2.2., 372–374): »Il dit que le langage d’Ariſtophanes eſt faſcheux, qu’il ſent ſon farceur, ſon triacleur, & ſon artiſan mechanicque. [...] Auſſi vn ignorant & grossier, qui n’aura nulles lettres prendra plaiſir à ce que celuy la dit: mais l’homme docte ſ’en faſchera incontinent. [...] mais quant à Ariſtophanes, il n’eſt ny plaiſant à la commune, ny ſupportable aux gens d’honneur & de iugement, ains est ſa poëſie commune vne putain paſſee, qui veult contrefaire la femme de bien mariee: mais ny le peuple ne peut endurer ſon arrogance, & les gens de bien deteſtent ſon intemperance & ſa malignité.«

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Pathogene Antike

eine graduelle Abstufung der Abwehrreaktion aus, die vom ästhetischen Urteilsvermögen, d.h. dem Geschmackssinn, abhänge. Der Plutarch-Text, auf den diese Aussage rekurriert, birgt allerdings in Voltaires Übersetzung eine bemerkenswerte Neuakzentierung: δριμύτης bezeichnet in der griechischen Literaturkritik in der Tat die Pointe.639 Auch Amyot übersetzt: »là où les ieux ſalez d’Ariſtophanes ſont d’vn ſel aſpre & cuiſant, & qui ont vne pointe & acuité qui mord & ulcere.«640 Die Begriffe bas und dégoutant entwickelt Voltaire hingegen offenbar aus den Adjektiven ἑλκωτικός (›verletzend‹, ›verwundend‹) und δηκτικός (›beißend‹). Beides scheint stark beeinflusst von der Essensmetaphorik (ἅλες πικροὶ καὶ τραχεῖς). Die Verbindung von scharfem, obszönem Witz mit dem emotionalen Register (dégout) sowie sozialhierarchischer Verortung (bassesse) scheint zu dieser Zeit so eng zu sein, dass Voltaire dies, bewusst oder unbewusst, mitliest und die Rezeptionsperspektive in den Vordergrund stellt.641 Plutarch folgend wird Aristophanes im 17. und 18. Jahrhundert häufig mit Menander verglichen und die Opposition in den Römern Plautus und Terenz fortgeführt. Paradoxerweise ist jedoch Aristophanes weitaus bekannter als Menander, der ja auch zu dieser Zeit nur sehr fragmentarisch erhalten war. Trotz seiner Bekanntheit wird Aristophanes bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts kaum gelesen: il faut alors attendre l’abbé d’Aubignac et sa Pratique du théâtre (1657) pour qu’Aristophane soit lu, sans qu’il soit pour autant réhabilité. Au XVIIe siècle en effet c’est à Ménandre et à Térence que l’on compare Molière; et Ménandre et Térence sont les seuls maîtres que l’on avoue. Mais Plaute, et même Aristophane, sont ceux que l’on imite.642

In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts lässt sich eine deutliche Divergenz von Theorie und Praxis der doctrine classique feststellen. 643 Gleiches gilt für die Lektürepraxis. Entgegen der großen Kritik an den antiken Texten, entstehen zahlreiche Übersetzungen (und Editionen) auch der obszönen Autoren.644

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Vgl. LSJ s.v. δριμύτης II.2. Amyot, 1574 [1572], 374. Das Substantiv ἑλκός bezeichnet konkret auch das Geschwür, weshalb die Verbindung zum Degoutanten und eventuell zur Ansteckung nicht so fern ist. Vgl. Delcourt 1934. Vgl. Racines Vorwort zu seiner einzigen Komödie Les Plaideurs (1668), einer Imitation von Aristophanes’ Wolken: «Quand ie lûs les Gueſpes d’Ariſtophane, ie ne ſongeois guere que j’en dûſſe faire les Plaideurs. J’auouë qu’elles me diuertirent beaucoup, & que i’y trouuay quantité de plaiſanteries qui me tenterent d’en faire part au public […] Ie ne me rendis pas à la premiere propoſition qu’ils [sc. mes amis] m’en firent. Ie leur dis que quelque eſprit que ie trouuaſſe dans cet Autheur, mon inclination ne me porteroit pas à le prendre pour modele ſi i’auois à faire vne Comedie ; & que la regularité de Menandre & de Terence me ſembloit bien plus glorieuſe, & meſme plus agreable à imiter, que la liberté de Plaute & d’Ariſtophane. On me répondit que ce n’eſtoit pas une Comedie qu’on me demandoit, & qu’on vouloit ſeulement voir ſi les bons mots d’Ariſtophane auroient quelque grace dans noſtre langue. Ainſi moitié en m’encourageant, moitié en mettant eux-meſmes la main à l’œuvre, mes amis me firent commencer vne Piece qui ne tarda guere à eſtre acheuée.«(Racine 1669, au lecteur, f. ã ij r–v) Siehe hierzu Kapitel 4.3.

Aristophanes als empoisonneur publique

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⁎⁎⁎ Die Poetiken und literaturtheoretischen Traktate in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts konzipieren einen Leser, der seinen Sinnen mechanisch ausgeliefert ist: nicht mündig und erwachsen, nicht apathes, sondern wie die Jugend anfällig für sittlichen Verfall. 645 Die Reduktion der Literatur auf eine didaktische Funktion (instruction) schließt folglich die Obszönität aus, da sie dem Prinzip des plaire entgegengesetzt sei und die ästhetischen Voraussetzungen der instruction verhindere. Inbesondere das Nebeneinander von schön und obszön, von literarischer Anmut und Ekelhaftem wird abgelehnt. Denn diese Verbindung widerspricht nicht nur den Separations- und Homogenisierungsbestrebungen der französischen Oberschicht in der Klassik, die sich in ästhetischen Kategorien wie goût, pureté und ordre niederschlägt, sondern wird als gefährlicher Köder gerade für die moralische Vergiftung gewertet, die auf einer Hierarchisierung von delectare und prodesse basiert. Wurde in der Renaissance der Lektüre der obszönen Literatur ein didaktischer Wert zugeschrieben, der die Jugendlichen kontrolliert mit den Sünden vertraut macht und mit entsprechenden Gegenmitteln gewissermaßen immunisiert, wird diese Möglichkeit nun weitesgehend verworfen.646 Die Pathogenisierung der obszönen Literatur der Antike offenbart eine gefühlte Nähe, die mit einer starken Distanzierung beantwortet wird. Insbesondere die städtische Oberschicht geht von einer verdorbenen Natur des Menschen aus, die sie in der niederen Bevölkerungsschicht verwirklicht sieht und von der sie sich stetig und wiederholt distanzieren muss. Die obszöne Literatur dient gleichermaßen als Beleg dieser Annahme und als Vehikel der historischen und sozialen Distanzierung. Die Beschäftigung mit der obszönen Literatur der Antike dient der Selbstbestätigung der eigenen moralischen Überlegenheit. Die rhethorischen Strategien der Ablehnung bedienen sich vor allem der Äußerung von dégoût als inkorporiertem Abwehrmechanismus. Gutes von Schlechtem, Zuträgliches von Schädlichem, Feines von Grobem unterscheiden zu können, wird zum Charakteristikim des bon gôut. Der Aufstieg des discernement als ästhetischer Richtschnur bildet wiederum die Voraussetzung für die Praxis der Separation des Obszönen, der im folgenden Kapitel nachgegangen wird.

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Voltaire macht die Lektüre des Epigramms gänzlich zur Insignie der Jugend: »Les épigrammes qui ne roulent que ſur des débauches de moines & ſur des obſcénités, sont mépriſées des honnêtes gens. Elles ne font goûtées que par une jeuneſſe effrenée à qui le ſujet plait beaucoup plus que le ſtile. Changez d’objet, mettez d’autres acteurs à la place; alors ce qui vous amuſait paraîtra dans toute fa laideur.« (Voltaire 1770–1772, s.v. épigramme, t. 5 (1771), 225). Eine Ausnahme stellt diesbezüglich Pierre Bayle dar. Siehe hierzu Kapitel 2.1 und 4.4.

4 (Aus)gesuchte Antike: Obszönität und Ordnung »On peut n’adorer pas toute l’Antiquité.« Ch. Perrault, Le siècle de Louis le Grand (1687) »Les livres sont aujourd’hui multipliés à un tel point que non-seulement il est impossible de les lire tous, mais d’en savoir même le nombre & d’en connaître les titres. Heureusement on n’est pas obligé de lire tout ce qui s’imprime«. Voltaire, Dictionnaire philosophique (1764), s.v. livre. »Das Buch, das in der Welt am erſten verboten zu werden verdiente, waͤ re ein Catalogus von verbotenen Buͤ chern.« G. Chr. Lichtenberg, Sudelbücher (1742–1799)

Die Aufklärung hatte es sich wie kaum eine Epoche zur Aufgabe gemacht, Wissen zu sammeln und zu ordnen. Dieses Ordnungsbestreben schlug sich in den großen enzyklopädischen Werken von Bayles Dictionnaire critique et historique (1687) bis zu D’Alemberts und Diderots Encyclopédie (1751–1780) oder Voltaires Dictionnaire philosophique (1764), in den lexikalischen Dictionnaires von Furetière (1690) und Richelet (1680) sowie dem Dictionnaire de l’Académie françoise (1694) nieder. Die Logique de Port Royal (1662) ist sicherlich der radikalste sprachphilosophische Ausdruck dieser Ordnungsbestrebungen. Wörter und Autoren zu klassifizieren, ist zwar von jeher Bestandteil der Rhetorik, das Interesse des 17. und 18. Jahrhunderts ist allerdings weniger ein stilistisches als ein generell (sprach)philosophisches. Die Republique des Lettres unternahm eine Neuordnung des Diskurses, in der die Grenzen von Literatur und Nicht-Literatur ebenso wie die Vorstellungen von Autorschaft verschoben wurden. Die Produktion von Wissen und die Transformation einer Gesellschaft sind eng miteinander verzahnt. Insbesondere in Krisenzeiten, d.h. in Zeiten, in denen sich erhebliche Veränderungen in der Sozialstruktur vollziehen, in denen Hierarchien und gesellschaftliche Gruppen neu geordnet werden, vollziehen sich Wissenstransformationen. Doch auch die Reproduktion einer bestehenden Ordnung bedarf eines steten Sich-Vergewisserns. Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts vollzieht sich dies auch im Rahmen der bis hierhin beschriebenen Distanzierungsstrategien gegenüber der Antike. Neben den Ausdruck einer starken Aversion, einer Distanzierung von etwas Nahem, treten Strategien des Separierens und des Ordnens. Diese Neuordnungen des Wissens, die in den folgenden, exemplarischen Kapiteln anhand des Phänomens antiker Obszönität beschrieben werden, vollziehen sich etwa in einer Reorganisation des Kanons und der Literaturgeschichte (4.1), in der Rekonstruktion der Sprachgeschichte (4.2) und in den philologischen Praktiken des Edierens und Übersetzens (4.3). Diese

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Separations- und Exklusionsbewegungen, die letztlich einer Homogenisierung des literarischen Diskurses dienten, führten aber auch zu Widerspruch, der insbesondere von Pierre Bayle vorgebracht wurde, der seinerseits eine (heterogene) Ordnung des Obszönen (innerhalb des literarischen Diskurses) vornimmt (4.4). Im Streit um den Umgang mit antiker Obszönität werden die drei Spielarten der Historie, die Nietzsche im Rückblick auf das 18. Jahrhundert unterscheidet, deutlich: die monumentalische, die an der Größe der Antike festhält, die antiquarische, die im Sinne eines Positivismus sämtliche Hinterlassenschaften zur Dokumentation bewahren möchte, und schließlich die kritische, die nur dasjenige auswählt, was für die eigene Gegenwart (und Zukunft) relevant und nützlich erscheint.647

4.1 Le bon grain et la paille: Dekanonisierung und Hierarchisierung der obszönen Autoren In David Michel de La Bizardières Caractères des auteurs anciens et modernes, et les jugemens des leurs ouvrages (1704) kommen unter anderen Catull, Properz, Tibull und Martial zum Dichtergott Apollon, der auf Bitten der Musen nach Delphi gekommen war, um die durcheinander geratene Ordnung der République des Lettres wieder herzustellen.648 Der Text inszeniert den Prozess der Neuordnung des Kanons, die sich im Zuge der Querelle vollzogen hat, als quasi juristischen Prozess der (räumlichen) Ordnungsbildung antiker und moderner Autoren (in den Hauptkategorien Philosophen, Historiker, Rhetoren und Poeten). La Bizardières Text steht deutlich in dem Bemühen, die Neuordnung des Kanons und damit die Querelle abzuschließen und auf eine Zeit der Krise, der Analyse und der Reklassifizierung eine Phase der Konsolidierung folgen zu lassen. Bemerkenswert ist der Text nicht zuletzt, da hier auch die behandelten antiken (wie modernen) Autoren selbst zu Wort kommen und, basierend auf ihren Texten, an der Diskussion teilhaben und so die Kontinuität des Diskurses um die antike Obszönität offengelegt wird.649 Die vier einstmals kanonischen Dichter beklagen sich nun bei Apoll über ihren schlechten Ruf und protestieren gegen ihre Degradierung.650 Apollon jedoch bestätigt 647

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Vgl. Nietzsche 1874, 19. Diese drei Modi sind freilich in der Praxis selten so trennscharf zu unterscheiden, sondern sollen hier vornehmlich als Pole verstanden werden, zu denen verschiedene Praktiken und Diskurse streben. La Bizardière 1704, 4f.: »Le Dieu du Parnaſſe avoit negligé toutes les Requêtes qui lui avoient été préſentées; il promettoit, mais les effets ne ſecondoient point ſes paroles: Les Muſes offenſées de tant de mauvais Ouvrages ſupplierent Apollon de remedier à un deſordre capable de déſoler ſon Empire.« In La Bizardières Text wird das Obszöne vor allem mit dem Epikureismus verbunden, der in der Moderne bei den Libertins »Partisanen« fand (vgl. La Bizadière 1704, 31–35). Einen ähnlichen Text schreibt Antoine Gachet D’Artigny (Relation de ce qui s’est passé dans une assemblée tenue au bas du Parnasse, 1739) am Ende der zweiten Querelle-Bewegung, zur Obszönität Catulls und Martials (im Vergleich zu La Fontaine) siehe dort 67–69. La Bizardière, 1704, 100: »Ces quatres Poëtes, mécontens de cette prétenduë injuſtice, ne chercherent qu’à cauſer du deſordre. Ils repreſenterent qu’Ovide étoit à Delphes, qu’il devoit paſſer davant eux; & que d’autres Poëtes lui rendroient la même juſtice.«

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das Urteil: »Vous croyez que je vous ay fait tort? Les obſcenitez répanduës dans vos Ouvrages, doivent faire le ſujet de votre chagrin.«651 Eine etwas nüchternere Begründung für die Degradierung liefert wiederum der Erzähler: Catulle, Tibulle, Properſe & Martial auroient peut-être eu de meilleurs places parmi les Poëtes, s’ils avoient traitté de plus nobles ſujets. On trouva tant de ſaletez dans leurs vers, qu’on fut obligé de les mettre les derniers, pour ne pas offenſer la pudeur des Muſes.652

Hinter der moralischen Argumentation (ne pas offenſer la pudeur des Muſes) versteckt sich eine lange Diskussion über die Literatur und die Öffentlichkeit, die durch die Diskrepanz zwischen den gesellschaftlichen Idealen der bienséance und der politesse auf der einen Seite und der Poetik und Streitkultur humanistischer Tradition auf der anderen Seite entstanden war. Die (De)kanonisierungspozesse der Querelle weisen drei wesentliche Praktiken der Neuordnung auf, die auch in La Bizardières Inszenierung deutlich werden: die Degradierung der Autoren, die gänzliche Verbannung aus dem Kanon und folglich die Verwendung als negatives Paradigma. Trotz des erkennbaren Bestrebens, den (De)kanonisierungsprozess mit seinem Text für die Zukunft abzuschließen, wird auch in der Folgezeit intensiv über die obszönen Autoren gesprochen. Die Urteilsbildung erfolgt bei La Bizardière in Plädoyers und Apologien anderer antiker Autoren für oder wider einen bestimmten Autor, die in der Regel auf entsprechenden Texten basieren. In der Debatte über Plautus sei etwa Horaz als einziger der Meinung gewesen, ihn nicht auf den zweiten Platz, also direkt hinter Terenz zu platzieren: »le seul Horace trouva qu’il étoit trop groſſier, & blâma ceux qui Plautinos / Laudavere ſales«.653 Das im Text als Verse entsprechend eingerückte Zitat, das der Ars poetica entnommen ist (V. 271f.) und hier auch syntaktisch in die Argumentation eingefügt ist, dient dem Beleg für Horaz’ Wertung des Plautus und lässt ihn – in einer Mischung aus Latein und Französisch – gewissermaßen selbst sprechen, wobei der metadiegetische Text unvermittelt in das lateinische Zitat übergeht, das sich jedoch zugleich als Stimme des Erzählers liest und trotz des Sprach- und (eigentlichen) Sprecherwechsels zwischen indirekter und direkter Rede Kontinuität vermittelt. Es handelt sich hierbei um die bereits erwähnte Strategie einer anti-autorisierienden Autorisierung, die die Antike gegen sich selbst wendet. Wie in Kapitel 1.2. gesehen, wird Horaz’ Kritik am plautinischen Witz gern zum Beleg für eine humoristische Evolution herangezogen, die die Frühzeit (sowohl die römische als auch die französische) mit den Attributen der rusticitas belegt. 654 Demgegenüber wird daraufhin angeführt, dass Cicero Plautus lobe, da er dennoch zur Kultivierung der Literatur beigetragen habe.655 In dieser Diskussion blickt also durch, dass es auch in der Antike selbst verschiedene Positionen hinsichtlich der Obszönität und der Bewertung der Autoren gegeben hat. 651 652 653 654 655

La Bizardière, 1704, 101. La Bizardière, 1704, 100. La Bizadière 1704, 99 (Hervorhebung im Original). Siehe Kapitel 1.2. und 5.2.2. Der Passus bezieht sich vermutlich auf CIC. de orat. 3.45. Zur positiven Bewertung der simplicitas der Alten siehe Kapitel 5.2.2.

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Der Glaube der République des lettres an die kulturelle Modellhaftigkeit der Antike wurde zwar seit Beginn des 17. Jahrhunderts nachhaltig erschüttert und hatte eine radikale Neubewertung der Literaturgeschichte zur Folge.656 Doch bleibt man in dieser Zeit der Debatten, Polemiken und der Suche danach, was Literatur ist, in ständigem Dialog mit der antiken Literatur und Literaturtheorie. Die Gattung und der Topos des jugement 657, als das auch La Bizardière im juristischen Sinne die Reorganisation des Kanons inszeniert, sind folglich im 17. Jahrhundert sehr beliebt. Die Beweisführung (representer658) der Ankläger der Antike zielt folglich nicht nur darauf ab, ästhetische Fehlgriffe zu sammeln, sondern manchen Texten gänzlich ihren Kunstcharakter abzusprechen. Im Zuge der generellen Wissensneuordnung werden ästhetische Urteile über nahezu alle Autoren der Literaturgeschichte, besonders über die antiken, gefällt und ihr kanonischer und paradigmatischer Status überprüft. Diese Neuerung ging mit einer veränderten Poetik einher, die im vorherigen Kapitel näher betrachtet wurde. Ausgangspunkt der Neubewertung ist der Absolutismus. Die antiken Autoren müssen, wie es Silvenace im Vorwort seiner Übersetzung der römischen Vers-Satiriker darstellt, vor dem König formal um Einlass bitten: SIRE Voici Juvenal, Perſe, & Horace qui ſe preſentent à VOTRE MAJESTE’, non pas en Poëtes relâchez, & qui cenſuroient autrefois les vices par des expreſſions auſſi dignes d’eſtre cenſurées que les vices mêmes ; mais en Poëtes châtiéz qui ont appris à parler le chaſte langage des Muſes Françoises, & à faire horreur de ces monſtres par une peinture vive qui les faſſe connoître ſans les nommer. Ils quittent la cour licentieuſe de l’ancienne Rome, pour venir prendre les leçons dans la vôtre, & corriger les deſordres de leurs ſiecles par l’impreſſion des vertus que vos Loix établiſſent & que vôtre exemple inſpire.659

Wie Ambramovici betont, handelt es sich hierbei nicht um ein einfaches Elogium des Herrschers, sondern »[i]l montre combien la construction de l’absolutisme monarchique renforça dans l’imaginaire collectif le mythe des pouvoirs et de la pureté du roi.« 660 Die Rolle als purificateur zählt traditionell zu den Herrschertugenden: Der König fungiert als sprachliches exemplum der honnêteté, dem der gesamte Hof folgt, und ist ferner Garant dafür, dass obszöne Wörter dort nicht verwendet werden. 661 656 657

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Vgl. Voltaire 1770–1772, s.v. anciens et modernes, t.1. (1770), 293f. Furetière 1690, s.v. jugement: »Puiſſance de l’ame qui connoiſt, qui diſcerne le bon d’avec le mauvais, le vray d’avec le faux. […] le temperament qui rend l’imagination vive eſt contraire à celuy qui fait le jugement ; […] ſignifie auſſi, Critique; ſentiment d’un Auteur ſur un ouvrage, ſes corrections ou obſervations.« Interesanterweise findet sich der Begriff auch im medizinischen Diskurs im heutigen Sinne von Diagnose: »ſe dit auſſi de conjectures, des predictions. Les Medecins font un mauvais jugement de cette maladie.« Der Begriff findet auch im juristischen Vokabular Verwendung, vgl. Furetière 1690, s.v. repreſenter: »ſignifie auſſi, Remontrer, tâcher à perſuader.« Silvecane 1690, au roy, f. a ij r–ij v. Vgl. die epistre zu seiner Persius Übersetzung (Lyon 1693). Abramovici 2003, 59. Vgl. Balzac 1631, 128f.: »La Volupté auec toutes ſes inuentions, & tous ſes attrais, n’eſt pas capable d’emporter ſur luy vn commencement de volonté, ny de luy plaire meſmes en le ſurprenant. Il purifiera pluſtoſt la Cour par ſon exemple, que la Cour ne le corrompra par ſes delices. En toute ſa vie il n’eſt pas ſorti vn mot de ſa bouche, qui puiſſe receuoir vn ſens deshoneſte; & il ne luy ſeroit pas poſſible non plus, de laiſſer acheuer vne parole ſale, à quiconque oſeroit la proferer deuant luy. La pudeur de ſon viſage, & vn agreable meſlange

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Nicht die antiken Autoren sind also nunmehr das Vorbild, das von den Späteren zur Verbesserung der eigenen Sprache nachzuahmen gilt, sondern im Gegenteil ist es der Spätere, an dessen Exemplum die älteren Autoren ausgerichtet werden. Die Übersetzer sehen sich folglich im Dienste dieser königlichen Effekte der purification : Ne vous attendez pas, Monsieur, à rien voir ici de tout ce qu’il y a d’impur dans Juvénal ; je l’ay ſupprimé, ne me figurant pas qu’il fut pour cela néceſſaire d’être Chretien ni Religieux; […] il ne faût qu’avoir une certaine probité d’honête-home ſelon le monde.662

Die Unterscheidung (discernement) von guter und schlechter Literatur ist ferner Grundlage des bon goût und zeichnet vor allem den honnête homme aus.663 Insbesondere das Nebeneinander hohen und niederen Stils, von Anmut und Obszönität, bei den antiken Dichtern stößt auf Irritation und wird zum Exerzierfeld der Philologen. Es entstehen zahlreiche Editionen, in denen die Herausgeber und Übersetzer die obszönen Partien entfernen und so ihren eigenen bon goût unter Beweis stellen. 664 Diese Art der (negativen) Anthologisierung entspricht dem aufklärerischen Impetus der kritischen Sichtung des Überlieferten665: »c’eſt à nous qui vivons dans un ſiecle plus éclairé, à ſeparer le bon grain d’avec la paille.« 666 Grundlage hierfür ist das sozialhierarchisch konnotierte Konzept des plaisir raisonnable Chapelains, durch das sich die Oberschicht ihrem Selbstbild gemäß auszeichnet.667 Die Obszönität in den Gedichten Martials und Catulls berechtigt folglich im Gegenzug auch, sie aufgrund »tant d’impuretez & d’ordures«, mit denen sie ihre Schriften verunreinigt (rempli) hätten, nicht nur als »corrompus«, sondern als »païſans«, »bouviers« und »rustiques«, zu behandeln, »qui n’ont ni élégance ni pudeur«668. Sie werden folglich gänzlich aus dem Lektüre-Kanon der honnêtes gens ausgeschlossen. Dies geschieht allerdings weniger aus

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de douceur & de ſeverité, qui paroiſſent dans ſes yeux, eſtouffent les mauuaiſes penſées iuſques dans l’ame des hommes, & reforment d’abord tout ce qui s’approche de luy. Si bien qu’en ſa presence les plus desbauchez reſſemblent aux plus modeſtes, & ſon ſeul regard a le pouuoir, ou de changer, ou de ſuſprendre leur inclination.« Tarteron 1689, epistre du traducteur à un ami, f. ẽ v r–v v. Vgl. Baillets Urteil über Martial (Baillet 1722, 189.): »on pourroit néanmoins faire choix d’un petit nombre de ſes Epigrammes qui méritent d’être conſervées, & laiſſer périr le reſte ſans ſrupule. Les raiſons d’un dégoût ſi univerſel ne ſont inconnuës à perſonne. Il n’y en a pas de plus importante que celle de ſon impureté dont il ſouille la meilleure partie de ſes Ouvrages. » Vgl. auch das Vorwort zu Nicoles Übersetzung Juvenals (Nicole 1669, au lecteur, f. ẽ ii r: »I’ay paſſé vingt endroits ſous ſilence pour me diſpenſer de faire portraits, qui m’ont donné de l’horreur, & qui m’ont fait tomber la plume des mains, tant le penchant que i’ay à honorer les Dames a de pouuoir ſur moy.« Vgl. Encyclopédie, s.v. goût [Voltaire], t. 7 (1757), 761. Voltaire expliziert dies an Versen Corneilles: »il [sc. l’homme de goût] ſera ſaiſi d’enthouſiaſme à ce vers des Horaces: Que vouliez-vous qu’il fît contre trois? Il mourût. Il ſentira un dégoût involontaire au vers ſuivant: Ou qu’un beau déſespoir alors le ſecourût.« [Die Zitate entstammen Corneilles’ Horace, iii.vi. 1021f.] Siehe hierzu Kapitel 4.3. Zu dieser Trennungsarbeit siehe Wendt 2013. Bayle 1684 (mars), 3. Zum Bild vgl. Mt. 3.12 und Lc. 3.17. Vgl. Schalk 1968, 259f.; Delon 1976. Siehe hierzu Kapitel 3.2. Traité de la beauté 1689 [1659], 45.

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moralischen als aus ästhetischen und sozialdistinktiven Gründen: »Si l’on réjette donc les Epigrammes ſales & deshonnêtes, ce n’est pas ſeulement pour ne pas bleſſer la piété & les bonnes mœurs ; mais par rapport à l’élégance & à l’urbanité qui sont incompatibles avec les écrits de cette nature«.669 Im Begriff der urbanité scheint die rhetorische Konzeptualisierung der Rede des orator perfectus als vir bonus durch, die das Obszöne vor allem aus Standesgründen von der Rede ausschließt. Die neuen städtischen Eliten markieren so ihre sprachliche Distinktion einerseits gegenüber dem Volk und andererseits gegenüber der ihrer Ansicht nach noch nicht purifizierten Nobilität; sie konstruieren eine Äquivalenz zwischen niederem Rang und antiker Obszönität.670 Die Literatur wird hier also nach den Maßstäben einer öffentlichen Rede bewertet. Die Lizenzen, die der obszönen Dichtung in der Antike zugestanden wurden, gelten nicht mehr. Die gleichermaßen nach Anerkennung wie nach Autonomie strebenden städtischen Literaten wie Perrault übernehmen folglich den königlichen Gestus und stilisieren sich als Richter über die Antike. Perrault etwa thematisiert an Aristophanes im Paralelle vor allem den Spott (raillerie) und den Witz (sel). Für die chansons, die Vaudevilles und das Epigramm seien, dies gestünden selbst die größten »amateurs de l’Antiquité« ein, die Franzosen allen übrigen Völkern zu allen Zeiten überlegen. Diese Gattungen seien »productions d’eſprit, où la raillerie & le mot pour rire sont dans toute leur force«; also komme den Franzosen auch in der Komödie der erste Platz zu, denn »la raillerie & les bons mots« seien die Seele der Komödie.671 Die Ausdrücke plaisanterie und raillerie sind Schlüsselbegriffe für die Konversation der honnêtes gens. Perrault konstatiert eine Differenz zwischen den Franzosen und dem antiken Griechenland: »Ce craignez rien: les François ne ſont pas ſi barbares qu’il ne ſentent bien la difference qu’il y a entre leur plaiſanterie de païs & celle qui nous eſt venüe de l’ancienne Grece«.672 Wie gesehen entfernt der chevalier gleich zu Beginn des dritten Bandes Catull aufgrund der Obszönität seiner Gedichte gänzlich aus dem Kanon. Ebenso, allerdings von Seiten des abbé, wird im zweiten Band des Parellele der antike Roman abgelehnt, denn er ist aufgrund der (inhaltlichen) Obszönität zum Teil nicht mehr »dans le bon gouſt des Anciens.«673 Petron ist hier von besonderem Interesse: Nous avons parmy nous un Auteur de meſme nature, qui narre avec autant de netteté & avec plus de politeſſe que cet arbitre des Elegances: mais comme ſon livre ne merite pas moins d’eſtre ſupprimé pour ses médisances, que celuy de Pétrone pour ſes obſcenités, ne parlons ny de l’un ny de l’autre.674 669

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Traité de la beauté 1689 [1659], 44. Grundlage dieser ästhetische Bewertung ist eine natürliche pudeur, die sich in der Aversion (dégoût) gegenüber der Obszönität äußere: »[O]n peut facilement remarquer qu’il y dans la nature de l’homme en générale, une pudeur oppoſée à toutes ſortes de ſaletez & d’ordures; & cette pudeur eſt encore plus délicate dans une nature bien réglée. C’est cette même pudeur qui nous donne de l’averſion pour tous les ſentimens deshonnêtes & ſales: d’où vient que ces ſentimens, comme contraires à la nature, doivent être réputez ſans élégance & ſans beauté.« (Traité de la beauté 1689 [1659], t.2, 43f.). Vgl. Abramovici 2003, 60. Perrault 1688–1697, t. 3 (1692), 204. Perrault 1688–1697, t. 3 (1692), 205. Perrault 1688–1697, t.2 (1690), 127. Perrault 1688–1697, t.2 (1690), 127.

Le bon grain et la paille

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Die zweigliedrige Ablehnung, das Weder-Noch dieser Aussage (ny de l’un ny de l’autre),675 betont die Analogie (de meſme nature) zwischen moderner médisance und antiker obſcenité bei gleichzeitiger Differenzierung. Der abbé gibt sich richterlich abwägend und rekurriert auf ein Gleichgewicht zwischen Antike und Moderne. Durch die zweifache Negation umgeht er die Wahl und wendet bereits Fontenelles Methodik an: Er legt die gleichen Maßstäbe der politesse an und beurteilt Petron wie einen modernen Autor. Es handelt sich also bei Petron und dem nicht namentlich genannten zeitgenössischen Autor676 um eine negative Parallele, beide Werke verdienen gleichermaßen, dem Vergessen überlassen zu werden. Die betonte Nähe des Obszönen (parmy nous) führt zu einer starken Aversion. Der Akt des Versteckens, des Zum-SchweigenBringens (ſupprimer 677 ) findet seine Doppelung in der Figur der praeteritio (ne parlons) und verdeutlicht vor allem die rhetorische Position des Sprechers. Diese rhetorische Doppelung findet ihre Entsprechung wiederum in der Makrostruktur des Parallele. Während Perrault allerdings den Namen des modernen Autors tatsächlich aus seinem Text löscht (un auteur), zielt seine Strategie hinsichtlich Petrons auf Substitution: Die pejorative Verwendung des Demonstrativpronomens (cet arbitre) verdeutlich den paradigmatischen Status, der Petron zwar allgemein zugeschrieben wurde, der ihm aber nun sogar von den Anciens aberkannt werde. Wie in Kapitel 3 dargelegt wurde, dient Perraults Ablehnung der antiken Autoren seiner eigenen Positionierung und Legitimierung im literarischen Feld. Laut Bourdieu beruht das Monopol literarischer Legitimität darauf, aus eigener Machtvollkommenheit festzulegen, wer sich Schriftsteller nennen darf und wer nicht.678 Der Ausschluss Petrons aus dem literarischen Feld bildet dabei den Knotenpunkt dieser posture. Der gesamte dritte Band des Parallele läuft darauf hinaus, dass Perrault an Petrons Stelle tritt, sich auf diese Weise selbst zum neuen arbiter elegantiae stilisiert und die Urteilsbefugnis des bon goût beansprucht. Der dialogische Charakter des Textes lässt seinen Verfasser dabei als distanziert erscheinen, wie es vom homme de goût verlangt wird. »Das neue Publikum von ›cour et ville‹ und die ihm vermittelten Normen der ›honnêteté‹ verweisen auf den Sachverhalt, daß Interaktionen über die Grenzen der Stände hinweg

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Vgl. auch Jouvancys (1703, 87) Ablehung Petrons: »Neronis familiaris, ejus flagitia deſcripsit, verſibus impuriſſſimis & argumento convenientibus, uterque dignus oblivione, & execratione.« (»Ein Vertrauer Neros, beschrieb er dessen Schändlichkeiten mit äußerst unreinen und zum Gegenstand passenden Versen; beide sind des Vergessens und des Kirchenbannes würdig.«) Zur zweigliedrigen Verneinung vgl. Barthes 1957, 227. Gemeint ist neben Petron vermutlich Bussy-Rabutins Histoire amoureuese des Gaules. Vgl. Collignon 1905, 73–76. Vgl. Dictionnaire de l’Académie Françoise 1694, s.v. ſupprimer, t. 2. 517 »Empeſcher, ou faire ceſſer de paroiſtre un eſcrit, un livre, un libelle, un acte, un contract […] Il ſignifie auſſi, Taire, paſſer ſous ſilence.« Bourdieu 21998, 366f.: »Un des enjeux centraux des rivalités littéraires (etc.) est le monopole de la légitimité littéraire, c’est-à-dire, entre autres choses, le monopole du pouvoir de dire avec autorité qui est autorisé à se dire écrivain (etc.) ou même à dire qui est écrivain et qui a autorité pour dire qui est écrivain; ou, si l’on préfère, le monopole du pouvoir de consécration des producteurs ou des produits.«

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jetzt nicht mehr tabuisierte Ausnahmefälle waren, sondern alltäglich wurden und deshalb eines Rahmens orientierender Normen bedurften.«679 Die Verbindung von Obszönität und poetischer Sprache,680 die viele Leser des 17. Jahrhunderts vor allem an Catull erstaunt, 681 hat auch zu einem zwiegespaltenen Verhältnis gegenüber Petron geführt, 682 die Lipsius in der Formel der purissima impuritas gefasst hat, die von Ménage folgendermaßen gedeutet wird: »Pura à cauſe du ſtyle; impuritas, à cauſe des obſénitez«.683 Die Aussage rekurriert vermutlich vor allem auf die homosexuellen Episoden der Protagonisten des Romans. An Petron werden also weniger die verba, sondern die res als obszön wahrgenommen. Das Urteil ist dementsprechend gespalten, es reicht von starker Ablehnung bis zu Bewunderung. Die Charakterisierung Petrons als Satiriker, der die Missstände seiner Zeit mimetisch abbildet, wird in der Regel abgelehnt, da es hierfür an moralischer Distanz und Kritik seitens des Autors fehle. Stattdessen mache er das lasterhafte Verhalten lächerlich und verhindere eine Abwehrreaktion seitens des Lesers und damit seine instruction. Eine positive Reaktion wie das Lachen steht der Möglichkeit des dégoût entgegen und führt letztlich zu einer Konfusion des Geschmackssinnes.684 679 680

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Gumbrecht 1985, 477. Vgl. Abramovici 2003, 217: »À l’âge classique, bas et haut n’étant plus perçu que dans un rappart antagoniste, il n’est de beauté qu'uniforme et homogène. […] La beauté classique est rétive aux mélanges et aux contrastes. De la réunion ›de termes bas et de termes nobles‹, il ne saurait résulter qu’›un composé très risible‹ [Dacier 1714, 345]«. Vgl. Fénelon (1716, 91), der obscenité und simplicité gegenüberstellt und dann mit Bezug auf c. 85 (odi et amo) gar sagt: »Combien Ovide & Martial avec leurs traits ingenieux & faconnez, ſont-ils au-deſſous de ces paroles negligées, où le cœur ſaiſi parle ſeul dans une eſpece de deſeſpoir?« Nodot drückt diese Zweiteilung bereits im Untertitel seiner Übersetzung aus: »Contenant les galanteries et les débauches de l’Empereur Neron, & de ses Favoris.« Nodot konzentriert sich auf die galante Seite: »Petrone s’adonna particulierement aux belles lettres; & il paroît qu’il s’attacha ſurtout au bon goût, parcequ’on le trouve dans ſes Ecrits, avec toute ſa delicateſſe.« (Nodot 1694, vie de Pétrone, f. 7 v). Gleichzeitig versucht er Petron von der geschichtlichen Epoche (auch sensorisch) abzutrennen (Nodot 1693, f. A viij r.): »Petrone, de ſon côté, prenant de grands dégoûts pour les horreur qu’il voioit, ſe détacha insensiblement de la Cour«. Ménage 31715, t. 2, 299. Vgl. Lipsius 1581, 473 (im Kommentar zu TAC. ann. 16.18). Vgl. Lipsius’ fiktiven Brief an Pierre Pithou (lib. iii, epist. ii), in dem er darlegt, dass die Obszönität Petrons keinen Effekt auf ihn habe (Lipsius 1577, 90f.): »qua [sc. nuda illa nequitia] tamen nihil offendor. ioci me delectant, vrbanitas capit: cetera nec in animo nec in moribus meis magis labem relinquunt; quàm olim in flumine veſtigium, cymba. Vt vina appoſita vinosum mouent; inuinium, vt antiqui loquebantur, non mouẽt: ſic iſta animum iam antè improbum fortaſſe incitẽt; caſto & caſtigato non adhærent.« (»Ich nehme daran [sc. an jener nackten Nachlässigkeit] jedoch keineswegs Anstoß. Die Scherze erfeuen mich, die Feinheit ergreift mich. Das Übrige hinterlässt weder in meinem Charakter noch in meinem Lebenswandel mehr Makel als ein Kahn einst eine Spur im Fluss. Wie aufgetischte Weine den Betrunkenen bewegen, so bewegen sie, wie die Alten zu sagen pflegten, den sich des Weines enthaltenden nicht. Ebenso mag es vielleicht einen schon zuvor unanständigen Charakter erregen, am keuschen und gezügelten bleibt es nicht haften.«) Vgl. de Smet 1996, 41–43. Vgl. Le Clerc 1703–1713, t. 19 (1710), 360f.: »On voit bien que Petrone s’eſt moqué de beaucoup de vices de ſon tems, mais à l’égard de la débauche des femmes, & celle de garçons, il n’a point pris le chemin qu’il falloit, pour en donner de l’averſion. Il ne cenſure nullement ſes profeſſeurs aux Belles-Lettres & ſon poëte pour leur vie ſcandaleuſe, il ne fait qu’en rire,

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Gegenüber der verbreiteten Ansicht, die wahre galanterie sei »inconnuë à tous les Autheurs Anciens« 685 , stellt Nodot wiederum im Vorwort seiner Ausgabe (1694) unter den antiken Autoren Petron besonders heraus: »de tous les Anciens, Petrone eſt le ſeul qui a connu la veritable galanterie, qui fait aujourd’hui le caractere de la politeſſe.«686 Auch Saint-Évremond lobt in seinem berühmten Jugement (1664)687 die pureté seines Stils und charakterisiert ihn als »vn des plus honestes hommes du monde«, der, trotz der Epoche, in der er gelebt habe, »le caractere d’une politeſſe ingenieuſe, fort eſloignée des ſentiments groſſiers d’vn vicieux,« sei.688 Saint-Évremond verteidigt Petron nicht nur gegen die Attacken der Modernes, sondern er charakterisiert ihn entsprechend der kulturellen Codes seiner Zeit. Er konstruiert eine Weltgemeinschaft der honnêtes gens, zu der er auch Petron zählt: Quelque ſuiet qui ſe presente, on ne peut, ny penſer plus delicattement, ny s’exprimer auec plus de netteté. Souuent en ſes Narrations, il ſe laiſſe aller au ſimple naturel, & ſe contente des graces de la naifueté: quelque fois il met la derniere main à ſon Ouvrage, & il n’y à rien de deshonneſte, rien de dur quand il luy plaiſt. Catulle & Martial, traitent les meſmes choſes groſſierement; & ſi quelqu’vn pouuoit trouuer le secret d’enueloper les ordures auec vn langage pareil au ſien, ie repons pour les Dames, qu’elles donneroient des loüanges à ſa diſcretion.689

Der häufig verwendete Ausdruck envelopper les ordures verweist auf die zeitgenössische Praxis, die La Fontaine auf die Formel »on le dit et on ne le dit pas« gebracht hat.690 Die verschleiernde Metaphorik ist Kennzeichen der galanten Sprache. Saint-Évremond sieht ihn also als honnête homme, aber nicht als Zeitgenossen, sondern als Mann von gleicher Natur. Gleichzeitig führt er die naiveté der Antike an. Im Rahmen des Aufklärungsdiskurses wird diese zum Kennzeichen der barbarischen Antike. Petron tendiere also – der menschlichen Natur entsprechend – zu Obszönität, die im Schreibprozess nicht immer ausgemerzt wird (quelque fois il met la derniere main à ſon Ouvrage). Implizit erklärt Saint-Évremond also die Obszönität als Reste einer nicht hinreichend ausgeprägten Selbstbeherrschung. Honnêteté erscheint ihm also relativ zur

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& en fait un portrait ſi vif & ſi burlesque; qu’on voit bien qu’il a deſſin de divertir ceux qui ſe plaisent à ces ordures, & nullement d’inſtruire. Un Peintre, qui a de la pudeur & de l’honêteté, n’entreprend pas de peindre, avec toute la délicateſſe possible, les poſtures de l’Aretin; pour donner de l’horreur, pour le vice. […] Mais ceux qui prennent une Vertu pour un Vice, peuvent bien prendre le Vice pour la Vertu. A la fin, on perd toute ſorte de goût.« Perrault 1688–1697, t.2 (21693), 196. Nodot 1694, f. ** 12 r. Vgl. Saint-Évremond 1664, 55: »Mais ce que Petrone a de plus particulier, c’eſt qu’à la reſerve d’Horace en quelques Odes, il eſt peut eſtre le ſeul de l’antiquité qui ait ſceu parler de galenterie.« Vgl. Barbafieri 2012. Zur Editionsgeschichte dieses Textes, Nachdrucken und Übersetzungen vgl. Astbury 1979. Saint-Évremond 1664, 18f. Saint-Évremond 1664, 53–55. Siehe hierzu Kapitel 4.3.2.

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jeweiligen Epoche.691 Dieser Relativismus bringt Saint-Évremond ebenfalls zur Frage, ob es sich bei den Satyrica um eine Satire handele692: IE ne ſuis pas de l’opinion de ceux qui croyent que Petrone a voulu reprendre les vices de ſon temps, & qu’il a composé vne Satire. […] C’est pluſtoſt un courtiſan delicat, qui trouue ridicule, qu’vn pedant faſſe le cenſeur public, & s’attache à blaſmer la corruptiõ. Et pour dire vray, ſi Petrone auoit voulu nous laiſſer vne Morale Ingenieuse dans la deſcription des voluptés, il auroit taſché de nous en donner quelque deſgouſt.693

Saint-Évremond charakterisiert Petron entsprechend dem Ideal des honnête homme. Er widerspricht der Einordnung Petrons unter die Satiriker – denn der Darstellung fehle es an abstoßenden Mitteln (deſgouſt) – und spricht ihm stattdessen Soziabilität zu. Petron wird bei ihm zur Personifikation der honnêteté stilisiert.694 Er unternimmt eine Rettung seines Status als arbiter elegantiae, relativiert diesen Status allerdings historisch. Saint-Évremond wiederum hierarchisiert, ordnet und wählt antike Autoren in seinem Jugement aus. Auch er erhebt sich somit selbst zum »neuen Petron«, zum neuen arbitre des élégances. In seinem Urteil kommt nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein soziokulturelles Ideal zum Ausdruck. Pétrone ist nicht das Modell für jedermann, sondern ausschließlich das der honnêtes gens. Diese Strategie des Vergleichs695, sowohl bei Perrault als auch bei Saint-Évremond, ist dem Zyklendenken 691 692 693

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Zur Stilisierung der Antike als barbarische Epoche und zur Verteidigung der Obszönität mit den antiken Sitten siehe Kapitel 5.2.1. Die extremeste Positionierung Petrons als Moralist wurde im 20. Jahrhundert sicherlich von Aerosmith 1966 vertreten, dagegen Walsh 1974. Saint Évremond 1664, 24f. Vgl. Durand 1803, 80: »Le litertinage et les débauches du style de Pétrone, loin de cause le moindre dégoût, ont alors un charme auquel on se livre avec une sorte d’ivresse.« Der Einschätzung Petrons als courtisan folgt Boispréaux (1742, v: »Je l’envisage comme un courtiſan voluptueux & poli; habile à ſaiſir les ridicules de ſon tems«), der in den Satyrica dennoch eine Satire (auf Nero) sieht. Eine ähnliche Charakterisierung findet sich auch in Huysmans’ À rebours (1884, 39f.): »L’auteur qu’il aimait vraiment et qui lui faisait reléguer pour jamais hors de ses lectures les retentissantes adresses de Lucain, c’était Pétrone. Celui-là était un observateur perspicace, un délicat analyste, un merveilleux peintre; tranquillement, sans parti pris, sans haine, il décrivait la vie journalière de Rome, racontait dans les alertes petits chapitres du Satyricon, les mœurs de son époque.« Vgl. Saint Évremond 1670–1693, t. 6 (1680), 9–12: »Il [sc. l’honneste homme] eſt circonſpect, il eſt modeſte, il ne fait point l’homme de conſequence, ny le precieux; il eſt diſcret, il remarque les défauts d’autruy, mais il n’en parle jamais, & ne fait pas ſemblant de les voir. […] Les erreurs & les preventions les plus cachées ne luy impoſent pas, & ne font aucune impreſſion ſur ſon eſprit. L’honneſte homme enfin ne dit & ne fait jamais rien qui ne ſoit agreable, juſte, raiſonnable, & qui ne tende à faire que tous les hommes ſoient heureux.« Vgl. Bensoussan 1993, 97. Voltaire wendet diesen internen Vergleich an, um die Hypokrisie des Augustus bei der Exilierung Ovids offenzulegen, (Voltaire 1785–1789, t. 42 (1785), 224f., [Dictionnaire Philosophique], s.v. Ovide): »Octave Auguſte prit le prétexte du livre innocent de l’Art d’aimer, livre très décemment écrit, & dans lequel il n’y a pas un mot obſcène, pour envoyer un chevalier romain ſur la mer Noire. Le prétexte était ridicule. Comment Auguſte, dont nous avons encore des vers remplis d’ordures, pouvait-il ſérieuſement exiler Ovide à Tomes, pour avoir donné à ſes amis, plusieurs années auparavant des copies de l’Art d’aimer? Comment avait-il le front de reprocher à Ovide un ouvrage écrit avec quelque modeſtie, dans le temps qu’il approuvait les vers où Horace prodigue tous les termes de la plus infame proſtitution, & le futuo, & le mentula, & le cunnus? Il y propose indifféremment ou une fille

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verpflichtet; beide inszenieren sich als Wiedergeburt Petrons. Auch Nodot verteidigt Petron als honnête homme, sofern man ihn mit Catull und Martial vergleicht.696 Diese Strategie zielt also auf eine Sozialhierarchisierung der antiken Autoren, nach verba und res. »Deshabiller Horace ou Catulle pour rhabiller Petrone était cependant une tactique risqué et à court terme. Afin de concilier, en théorie, progrès général des Arts et des Lettres et défense des œuvres interdites, on remplaça en premier lieu dans le contexte de leur creation.«697 Der Aufklärungsdiskurs konzipiert die Antike dementsprechend gemäß einer linearen Fortschrittsgeschichte als homogene Epoche, die am Beginn der kulturellen Entwicklung der Menschheit steht. Distinktionsphänomene innerhalb der antiken Gesellschaften werden folglich nivelliert.698 ⁎⁎⁎ Die kritische Neubetrachtung der obszönen Literatur der Antike führt zu einer Einteilung der Autoren in zwei Klassen: Autoren, die obszöne Wörter verwenden wie Catull und Martial, und Autoren, die aufgrund des Beschriebenen als obszön einzustufen sind. Die Fokussierung auf die verba führte dementsprechend zu einer Hierarchisierung, in der Petron zugunsten Martials und Catulls verteidigt wurde. Die Debatte um die Gattungszugehörigkeit der Satyrica offenbart die unterschiedlichen Auffassungen zwischen la cour et la ville. Ist das Werk am Hofe aufgrund der Verbindung des Autors zu Nero als Inkarnation des schlechten Herrschers und aufgrund der häretischen Sexualität gänzlich abzulehnen, beanspruchen Perrault und SaintÉvremond ihrerseits den Titel des arbiter elegantiae. Sowohl in der Ablehnung (Perrault) als auch in der Stilisierung als honnête homme (Saint-Évremond) wird das Bestreben der Substitution erkennbar. Diese Verbindung von Diskontinuität und Sukzession wird auch auf sprachhistorischer Ebene sichtbar. Die Ablehnung der antiken Obszönität führt vor allem für die Bewertung der lateinischen Sprache als

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laſcive, ou un beau garçon qui renoue ſa longue chevelure, ou une ſervante, ou un laquais: tout lui eſt égal. Il ne lui manque que la beſtialité. Il y a certainement de l’impudence à blâmer Ovide, quand on tolère Horace. Il eſt clair qu’Octave alléguait une très-méchante raiſon, n’oſant parler de la bonne. Une preuve qu’il s’agiſſait de quelque ſtupre, de quelque inceſte, de quelque aventure ſecrète de la ſacrée famille impériale, c’eſt que le bouc de Caprée, Tibère, immortaliſé par les médailles de ſes débauches, Tibère, monſtre de laſciveté comme de diſſimulation, ne rappela point Ovide. Il eut beau demander grâce à l’auteur des proſcriptions et à l’empoiſonneur de Germanicus, il reſta ſur les bords du Danube.« Vgl. Nodot 1693, f. B ij r. Vgl. Pithou 1577, f. * i v.: »At tu, ô bone vir, & Anacreontem, & Catullum, & Val. Martialem, cæteroſque eius ordinis, etiam a pueris in ſchola decantari audis, nec irascis. Hos tibi, credo, communis iam vſus tolerabiliores fecit. faciet hunc quoque cæteris aliquando minus improbum videri.« (»Doch Du, guter Mann, hörst, dass sowohl Anakreon als auch Catull und Gaius Martialis Coquus und die Übrigen dieses Ranges sogar von Jungen in der Schule gesungen werden, und du erzürnst nicht. Der allgemeine Gebrauch hat Dir diese, glaube ich, schon erträglicher gemacht. Er wird bewirken, dass auch dieser [sc. Petron] den Übrigen irgendwann weniger lasterhaft erscheint.«) Abramovici 2003, 87. Siehe hierzu Kapitel 5.2.1.

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Vorläufer und Vorbild des Französischen zu Problemen. Im Zuge der Emanzipationsbestrebungen gegeüber der Antike von Seiten des Hofes und der Ideologie Ludwigs des XIV. sind ebenfalls Strategien der Substitution durch Separation erkennbar.

4.2 Klassische und nicht-klassische Antike in der Querelle du françois et du latin Spätestens mit Du Bellays Deffence et illustration de la langue francoyse (1549) wird in Frankreich das Bestreben erkennbar, das Französische auch als Literatur- und Wissenschaftssprache zu etablieren. Zu diesem Zweck, so schlägt Du Bellay vor, müsse der französische Wortschatz durch Imitation der griechischen und lateinischen und Autoren angereichert werden.699 Vor allem in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstanden infolgedessen eine ganze Reihe an Texten,700 die sich mit Ursprung, Geschichte und vor allem der excellence der französischen Sprache beschäftigten. Indem sie das Französische als Literatur- und Wissenschaftssprache etablieren wollen und die Gleichwertigkeit mit dem Lateinischen und Griechischen beanspruchen, stehen sie ganz in der Tradition von Du Bellays Deffence. So scheint der Jesuit Dominique Bouhours (1628–1702), der sich in der Nachfolger Vaugelas’ sah, in den Entretiens d’Ariste et d’Eugène (1671) Du Bellays Hoffnung, die französische Sprache trete bald aus dem Status einer barbarischen Sprache heraus und würde den Grad der Vollendung ihrer antiken Vorbilder erreichen, als abgeschlossen anzusehen, wenn er sagt, das Französische »eſt capable de toutes choſes, auſſi bien que la Latine, & la Grecque.«701 Angesprochen sind mit solchen Äußerungen vor allem die Anciens als »Defenſeurs de la langue Latine«702, die, wie der Gräzist und Literat François Charpentier (1620– 1702) in De l’excellence de la langue Françoise (1683) anprangert, weiterhin behaupten, dass »noſtre Langue eſt baſſe, groſſiere, changeante, au prix de celle des Romains, à qui l’on donne les tiltres glorieux de ſublime, de délicate, d’immortelle«.703 Charpentier, Mitglied der Académie française, der von Colbert gegründeten Académie des Inscriptions und Autor des berühmten Vorwortes zum Dictionnaire de l’Académie, fordert dagegen mit einem patriotischen Impetus, sich von dieser »ſoûmission« zu

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Vgl. Du Bellay 1549, f. b v r – v v (Chap. VIII). Eine chronologische Übersicht über die relevanten Texte vom Ende des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bietet die Ausgabe von Dominique Bouhours’ Entretiens d’Ariste et d’Eugène (Edition établie et commentée par Bernard Beugnot et Gilles Declercq, Paris 2003) 92–95. Bouhours 1671, 72. Vgl. Du Bellay 1549, f. a iiii v: »l’etrange opinion d’aucuns ſcauãs, qui penſent que noſtre vulgaire ſoit incapable de toutes bonnes lettres, & erudition. « Vgl. auch Desmarets de Saint Sorlin 1670, 36: »Noſtre Langue eſt donc arrivée à son plus haut point de richeſſe & de beauté«. Charpentier 1683, 79. Anlass der Schrift war die Einweihung eines Triumphbogens an der Porte Saint Martin zu Ehren Ludwig XIV. und der Plan, dort eine Inschrift in lateinischer Sprache anzubringen. Charpentier 1683, 79. Vgl. Desmarets de Saint Sorlin 1670, 31 mit Bezug auf die Diktion der Komödie. Vgl. auch Du Bellay 1549, f. a viii r–viii v (Chap. IIII).

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befreien und nicht der »Eſclave eternel des Romains« zu sein.704 Die Neubewertung der obszönen Antike erlaubte es in der Folgezeit, diese als diskursive Waffe einzusetzen. So kann Charles Perrault in seinem Parallele des Anciens et des Modernes ganz selbstverständlich das Argument anführen, dass die Moderne der Antike im Bereich der politesse überlegen sei: »Nous avons déja remarqué en paſſant le manque de politeſſe des Grecs & des Romains dans les manieres peu galantes, dont ils traitent l’amour, nous pouvons encore en juger par ce qui nous reſte de leur converſations.«705 Der Mangel an politesse deutet auf die Perfektibilität der Menschheitsgeschichte hin, der antike Mensch wird somit zum Mängelwesen und zur Negativfolie, von dem sich der moderne, im Zivilisierungsprozess weiter fortgeschrittene Mensch absetzt. Mit den Überresten der antiken Konversation ist wohl die überlieferte antike Literatur, insbesondere die Komödie und das Epigramm gemeint, die hier in einem mimetischen Sinne als authentische Gespräche gewertet werden. An Martial etwa wird explizit der Verstoß gegen die politesse kritisiert: »il n’y a point d’injure ni d’infamie que Martial n’ait dites à différentes perſonnes dans les quatre premiers livres de ſes Epigrammes.«706 Allerdings, so der Vertreter der Anciens, seien diese Namen fiktiv, womit er wiederum Martials eigene Apologie wiederholt, die er im Vorwort zum ersten Buch vorbringt.707 Dasselbe Urteil gilt, wenn auch in geringerem Maße, für die Griechen. Hauptangriffsziel ist hier Aristophanes, der im Rahmen eines Vergleiches zwischen griechischrömischer Antike und modernem Frankreich, attackiert wird. On ne ſçauroit trouver dans tout Ariſtophane un ſeul endroit à imiter, qui puiſſe faire rire en France un honneſte homme. Auſſi la France, en ce qui eſt de la Comédie, a bien surpaſſé les Grecques & les Latins, & elle les ſurpaſſera de meſme en tout, par l’élevation d’eſprit, & par ingenieuſe & noble fecondité de ceux de noſtre ſiecle.708

Der Begriff fecondité verweist zugleich auf die Gesundheit des Gesellschaftskörpers und der künstlerischen Schaffenskraft.709 Die Menschheitsgeschichte, so heißt es vermehrt, befinde sich in voller Blüte, im âge viril. Die hier zum Ausdruck kommende Superiorität ist Abbild der französischen Ideologie im Zeitalter Ludwigs XIV., die auch wissenschaftlich untermauert werden soll und den Höhepunkt einer sich seit der Mitte

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Charpentier 1683, 79f. Bouhours (1671, 73) zieht eine implizite Parallele zu den Römern, die im Schatten der Griechen standen, wodurch das Französische in seinem Emanzipationsanspruch an die Stelle des Lateinischen und das Lateinische an die Stelle des Griechischen tritt: »Aprés tout, repartit Ariſte, nôtre langue étant auſſi pauvre qu’elle eſt, je ne ſçay comment vous oſez la faire tant valoir, &la mettre en paralllele avec la Latine, que Ciceron eſtime plus riche que la Grecque. Croyez-moy, repliqua Eugene, la langue Françoise n’eſt pas ſi pauvre que l’on penſe.« Der Verweis auf Cicero und das entsprechende Zitat aus de finibus am Rande Textes stehen im Dienste der bereits beschriebenen anti-autorisierenden Autorisierung (vgl. Kapt.1.2). Perrault 1692, t.2 (1690), 282. Perrault t. 1690, t. 3 (1692), 234. Vgl. Kapitel 2.2.3. Desmarets de Saint Sorlin 1670, 33. Rapin 1674, 81, stellt z.B. Théophiles kindliche fertilité d’imagination der vraye fécondité d’esprit gegenüber.

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des 16. Jahrhunderts hinziehenden Querelle du français et du latin darstellt. In der Tat sehen Bouhours und seine Mitstreiter gut ein Jahrhundert nach Du Bellays Prophezeiung diese als weitestgehend erfüllt an.710 »La langue Françoiſe est vne prude, mais vne prude agreable, qui toute ſage & toute modeſte qu’elle eſt, n’a rien de rude ni de farouche. C’eſt vne fille qui a beaucoup de traits de ſa mere, je veux dire de la langue Latine.«711 Diese familiäre Abstammung des Französischen vom Lateinischen wird in zahlreichen etymologischen Studien untermauert. 712 Die fortschrittsgeschichtliche Altersmetaphorik (âge viril) wird hier verbunden mit der genealogischen ImitationsMetaphorik (fille, mère), die üblicherweise den Nachahmenden als Sohn der Nachgeahmten betrachtet und so das Momentum der Ähnlichkeit mit der Möglichkeit von Veränderung verbindet. 713 Diese Metaphorik erlaubt es, eine Kontinuität mit der Antike bei gleichzeitiger Diskontinuität zu konstruieren, bedient sich hierbei allerdings vermehrt vermeintlich weiblicher Attribute. Neben dieses positive Bild des Lateinischen, den Romanus pudor, das mit den Eigenschaften der Zivilisierung und Rationalisierung (prude, ſage, modeſte) in Verbindung gebracht wird, tritt auch ein negatives. In seiner Ableitung des Französischen vom Lateinischen macht Bouhours eine explizite Einschränkung:

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Weiter heißt es bei Bouhours (1671, 72): »Nous avons non ſeulement des Lettres; des pieces de Theatre; & des Satires, qui valent bien celles des Grecs & des Romains: mais auſſi des harangues, des panégyriques, & des plaidoyers qui approchent aſſez de l’éloquence d’Athenes & de Rome.« Bouhours schränkt allerdings ein, dass bei Epos und Historiographie die Franzosen bislang den Römern und Griechen noch unterlegen seien, doch »ce n’eſt pas tant la faute de la langue, que celle des hiſtoriens, & des poëtes.« Vgl. dazu auch Charpentier 1683, 32. Bouhours 1671, 70. Systematisch vollzieht dies vor allem Gilles Ménage, Les origines de la langue françoise, (Paris 1650), im Jahr 1694 wird der Text erneut unter dem Titel Dictionnaire étymologique ou les origines de la langue françoise herausgegeben. Die Metaphorik greift einen italienischen Diskurs über den Ciceronianismus auf. Poliziano sahe etwa in der sprachlichen Imitation des Stiles Ciceros seine eigene Persönlichkeit unterdrückt. Paolo Cortesi schlug ihm daher in einem Brief vor, die Imitation in dem Verhältnis von Vater und Sohn zu sehen (überliefert in Poliziano 1498, f. l iii r–iiii v): » Similem volo mi Politiane, non ut Simiam hominis, ſed ut filium parentis. Illa enim ridicula imitatrix tantum deformitates, & uitia corporis deprauata ſimilitudine effingit. Hic autem uultum, inceſſum, ſtatum, motum, formam, vocem deniq; & figuram corporis repreſẽtat, & tamen habet in hac ſimilitudine aliquid ſuum, aliquid naturale, aliquid diverſum, ita ut cum comparentur, diſſimiles inter ſe eſſe videãtur.«(»Ich möchte, dass er ähnlich ist, lieber Politianus, nicht wie ein Affe dem Menschen, sondern wie ein Sohn dem Vater. Jener lächerliche Nachahmer [sc. der Affe] formt nämlich nur Verunstaltungen und entstellte Laster des Köpers durch Ähnlichkeit nach. Der Sohn aber vergegenwärtig den Gesichtsausdruck, den Gang, das Stehen, die Bewegung, das Antlitz, die Stimme und schließlich auch das Aussehen des Köpers; und dennoch hat er bei dieser Ähnlichkeit etwas ihm Eigenes, etwas Natürliches, etwas Abweichendes, sodass, wenn man sie vergleicht, sie untereinander ungleich zu sein scheinen.«). Zum Gedanken vgl. SEN. epist. 84.8. Zur Diskussion zwischen Cortesi und Poliziano vgl. Celenza 2009, 201–212, zu dieser Stelle 206–208. Jörg Robert hat auf die gegensätzlichen diagnostischen Auffassungen Polizianos und Cortesis hingewiesen (Robert 2011, 16): »Wo Poliziano optimistisch die Möglichkeit eines Fortschrittes der studia sieht, geht Cortesi von Krise – ›corruptia eloquentia‹ – aus, die nach renovatio verlangt.«

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Je n’entends pas par la langue Latine, la langue qu’on parloit au temps de Néron, & ſous les autres Empereurs qui le ſuivirent: j’entends celle qu’on parloit en temps d’Auguſte, dans le ſiecle de la belle Latinité : & je dis que nôtre langue dans la perfection où elle eſt, a beaucoup de rapport avec la langue Latine de ce temps-la.714

Bouhours legt ausdrücklich Wert darauf, dass er als Vergleichspunkt nur die belle Latinité zur Zeit des Augustus verstanden wissen will. Dieser Vergleich zielt freilich auf eine rhetorische Herrscherpanegyrik Ludwigs des XIV. ab, so wie auch Furetière behauptet: »[N]ôtre ſiecle est devenu plus celebre que ceux d’Auguſte & d’Alexandre«. 715 Hier wird allerdings nicht mehr die gesamte Antike von Homer bis zur Völkerwanderung als monolithischer Block betrachtet, wie es das Mittelalter tat, 716 sondern der Klassizismus auf wenige Jahrzehnte verengt und so zwischen einer klassischen und einer nicht-klassischen Antike, zwischen einer belle Latinité und einer Latinité corrompue unterschieden. Durch die Periodisierung der Antike717 erfolgt hier nun auch eine Separation, indem eine klassische von einer nicht-klassischen Antike getrennt wird. Diese qualitative Einteilung basiert auf der Lehre der quattuor aetates Linguae Latinae, die beispielsweise der Renaissance-Humanist Justus Scaliger vertrat.718 Galt bisher gemäß der Zyklentheorie die Invasion der Germanen als Beginn der Dekadenz, die in diesem Zyklus auf die Antike als Blütezeit folgte, wird der Beginn dieses Niedergangs nun um mehre Jahrhunderte vorverlegt, sodass die »ſiecles Barbares« jetzt diejenigen sind, «qui ont ſuivy celuy d’Auguſte & précedé celuy-cy«.719 Vor allem der Name Nero war untrennbar mit Dekadenz und Ausschweifung verbunden, sein Hof galt als »la Cour du monde la plus corrompue« 720 . Diese Verdorbenheit äußere sich auch in einem sprachlichen Verfall: »Je parle toûjours de la langue du ſiecle d’Auguſte, avec laquelle j’ay comparé la nôtre. Je pourrais néanmoins étendre ce que je dis au Latin des ſiecles ſuivants, nonobſtant la corruption qui commença à s’introduire alors dans la langue.«721 Die nachaugusteische Zeit wird mit dem Beginn der Dekadenz verknüpft. Die Zeit des Augustus gilt dagegen als Epoche des bon goût, 722 die silberne Latinität fällt demgegenüber ab. Indiz hierfür ist die Beliebtheit Martials, wie Rollin in der Übersicht der lateinischen Autoren im Rahmen

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Bouhours 1671, 70. Furetière 1694, 360. Vgl. Curtius 111993, 29f. Siehe hierzu Kapitel 4.1. Vgl. Grafton 1975; Ax 2006. Fontenelle 1688, 162. Larroque 1706, 126. Dieses Urteil ist in Opposition zum Bild des Hofes von Louis XIV zu sehen. Vgl. Dejean 1997, 129. Bouhours 1671, 77. Vgl. auch Charpentier 1683, 605. Die These ist vermutlich Tacitus (ann. 1.16.) entnommen. Die Figur des Eudoxe, die in Bouhours Dialog La Manière de bien parler (1687) die Anciens repräsentiert, wird etwa folgendermaßen charakterisiert (Bouhours 1687, 1f.): »Eudoxe a le gouſt tres-bon, & rien ne luy plaiſt dans les ouvrages ingénieux qui ne ſoit raiſonnable & naturel. Il aime fort les Anciens, ſur tout les Auteurs du ſiécle d’Auguſte, qui ſelon luy est le ſiécle du bon ſens. Ciceron, Virgile, Tite-Live, Horace, ſont ſes Heros.«

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seiner voluminösen Histoire Ancienne (1730–1738) darlegt: »L’amour des ſubtilités, & l'affectation des pointes dans les discours, avoient pris, dès le tems de Tibére & de Caligula, la place du bon goût qui régnoit sous Auguſte. Ce défaut alla toujours croiſſant, & c'eſt ce qui fit ſi fort goûter Martial.« 723 Auch innerhalb der Sprachgeschichte des Lateinischen wird also ein Zyklus von Aufstieg und Niedergang konstruiert. Eine klassische Antike ist also weiterhin notwendig, da eine Argumentation, die durch die kulturelle Hegemonie Frankreichs auch die politische Vorherrschaft der Franzosen in Europa als legitime Nachfolger der Römer zu etablieren sucht, 724 andernfalls ins Leere laufen würde. Gleichzeitig wird aber auch argumentativ der Vergleich mit der nicht-klassischen Antike genutzt: Les Saletez, les Paroles outrageuſes, les Baſſeſſes, n’y ſont point ſouffertes ; Et ſi l’on veut s’expliquer ſur quelque paſſion tendre, il ne faut pas que ce ſoit avec ces vilaines expreſſions que Catulle & Martial ont ſi ſouvent employées. Il faut que cela ſoit dit d’une maniere enveloppée d’un tour fin, & que l’on puiſſe toûjours s’imaginer qu’on a voulu dire autre choſe.725

Charpentiers normative Forderung nach Metaphorik und »double-entendre« findet praktisch schon seit Jahrzehnten statt. Der Vergleich mit der nicht-klassischen Antike dient hier also vielmehr der Überhöhung der eigenen Sprache726 , die wiederum das Ergebnis eines Zivilisierungsprozesses ist. So kann der Verweis auf die obszönen Dichter der Antike, bezeichnenderweise einen voraugusteischen (Catull) und einen nachaugusteischen (Martial), zu folgender verallgemeinernder Schlussfolgerung genutzt werden: »La Langue Françoiſe est plus delicate en ce point que la Latine, qui dit les choſes plus durement & plus groſſierement que la noſtre.«727 Catull und Martial gelten gewissermaßen als Synonyme für Obszönität, die die These der französischen Überlegenheit belegen. Unausgesprochene Kriterien bei der Bewertung sind dabei die zeitgenössischen Normen der politesse und der bienséance, für die Martial und Catull hier die Gegenmodelle darstellen. Auch Adrien Baillet etwa kritisiert an Martial «la mauvaise Latinité & l’impureté de ſon ſtyle.«728 Eine solche Aufteilung der Antike erlaubt ein noch selbstbewussteres Auftreten: 723

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Rollin 1740, t. 6, 208. Das Urteil über die schlechte Qualität seiner Epigramme gewinnt Rollin allerdings aus Martial selbst (MART. 1.16.1):. »Sunt bona, sunt quaedam mediocria, sunt mala plura«. (»Es gibt gute, es gibt manche mittelmäßigen, es gibt viele schlechte«.) Insgesamt stellt Bouhours das Französische weniger über das Lateinische als vielmehr über das Spanische und Italienische als Schwestersprachen. Charpentier 1683, 611f. Zum Ausdruck envelopper vgl. Kapitel 4.3. Vgl. in einem anderen Zusammenhang Bouhours 1671, 50: »Il y a d’autres langues qui repreſentent naïvement tout ce qui ſe paſſe dans l’eſprit: Et entre celles qui ont ce talent, il me ſemble que la langue Françoiſe tient le premier rang, ſans en excepter la Grecque & la Latine.« Louis Le Laboureur verfasst gar eine ganze Schrift über Les avantages de la langue française sur la latine (1667). Charpentier 1683, 614. Es geht hier um die Invektive. Belegt hierfür sind ihm hier – neben dem zuvor genannten Augustus-Epigramm an Fulvia – Ciceros »mille injures atroces contre ſes ennemis«. Baillet 1722, 192.

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Nous parlons d’vne fille qui jouït de la ſucceſſion de ſa mere; c’est à dire de la langue Françoiſe qui tient ſa naiſſance & ſes richeſſes de la langue Latine. Que ſi cette fille a fait valoir par ſon induſtrie, & par ſon travail, le bien que ſa mere luy a laiſſé en partage.729

Bemerkenswert sind an dieser Auseinandersetzung die Kategorien, in denen die Sprachen bewertet werden. Neben Argumenten, die auf lexikalische oder phonetische Qualitäten rekurrieren, werden auch moralische (prude, groſſier, rude) und soziale (bas, délicat, richeſſe, pauvre, miſerable) Attribute in die Debatte eingebracht. Der Kampf gegen die Macht des Lateinischen hat also eine starke synchrone, sozialpolitische Dimension. Das klassische Französisch ist »fondamentalement une langue élitiste«, wie Abramovici bemerkt, 730 die für die neuen Eliten als sprachliches Mittel sozialer Distinktion fungiert und so neue gesellschaftliche Hierarchien zu etablieren erlaubt.731 Obszönität wird hier also im eigentlichen Sinne des Wortes als vulgär, d.h. zum Volk gehörig, angesehen. Das Schönheitsideal der französischen Klassik lehnte Kontraste und Mischungen kategorisch ab. »À l’âge classique, bas et haut n’étant plus perçus que dans un rapport antagoniste, il n’est de beauté qu’uniforme et homogène«. 732 Das klassische Französisch bezieht seine richesse daher gerade aus einer épuration des Wortschatzes.733 Das Prinzip der Obszönität, als eines Ausschlusses von bestimmten Wörtern, kann hier im Sinne Foucaults also als Verknappungssystem (raréfaction)734 gesehen werden. Zum einen strebt vor allem die Logique du Port Royal eine Verknappung der Signifikanten an, zum anderen aber auch eine Verknappung des Signifikats, indem etwa jegliche Form uneigentlichen Sprechens, vor allem die Metaphorik, minimiert werden soll. Das Lateinische hat seine Funktion als Quelle für Neologismen und Bereicherung des Wortschatzes eingebüßt. Neben der beschriebenen Differenzierung bauen die Modernes eine generelle Opposition zwischen der Antike als einer dekadenten und obszönen Ursprungszeit und dem Frankreich der Gegenwart als keuschem und edlem Land auf. Pauschal wird nun das Lateinische als vilain charakterisiert, und behauptet: »La langue Latine ſur tout, dit preſque toute choſe par leur nom«, gegenüber dem prüden und keuschen

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Bouhours 1671, 79. Abramovici 2003, 61f. Vgl. DeJean 2002, 131 Anm. 4: »Throughout the Ancien Régime French was the language only of a cultural elite. In his Histoire de la langue française, Ferdinand Brunot provides several examples that bring his point home: when, for instance, Louis XIV traveled even a few miles from Paris, the speeching honoring his visits were often in the patois of the region.« Vgl. generell Faudemay 1992; Abramovici 1996, 79. Abramovici 2003, 217. Vgl. Plutarchs Kritik an Aristophanes mor. 853c. Vgl. Bouhours 1671, 109f. Als besonders schlecht wertet Bouhours dabei das Lateinische der Königszeit als einer zu starken Vermischung mit dem Griechischen: »[C]e n’étoit qu’vne corruption de ces deux langues. Il n’y avoit rien de plus barbare, de plus rampant, & de plus pauvre qu’elle ſous la domination des Rois. Elle s’épura vn peu dans les premiers temps de la republique: elle s’enrichit enſuite par le commerce qu’eurent les Romains avec les nations étrangeres: elle changea tout-à-fait, & ſe polît fort du temps de Terence, de Scipion, & de Lelius, qui la cultiverent avec beaucoup de ſoin. Mais ſon état floriſſant fut au temps de Ciceron, & sous le regne d’Auguſte.« Foucault 1971, 54

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Französisch, »qui ſe contente de faire entrevoir celles qui peuvent bleſſer la Pudeur«.735 Die poetologische Verankerung hierfür findet sich überraschenderweise bei Boileau. Zwischen 1669 und 1674, also lange vor Perraults Parallele, verfasst er die vier Gesänge seines Art poétique, die insgesamt stark von Horaz beeinflusst sind. Im zweiten Gesang werden Normen für die verschiedenen literarischen Gattungen aufgestellt. Nach einem Lob für Horaz, Persius und Juvenal (V. 151–167) als maîtres savants der Satire, äußert er sich auch normativ über den sprachlichen Stil dieser Gattung: Le Latin, dans les mots, brave l’honneſteté: Mais le lecteur François veut eſtre reſpecté: Du moindre ſens impur la liberté l’outrage, Si la pudeur des mots n’en adoucit l’image. Ie veux dans la Satire un eſprit de candeur, Et fuis un effronté qui preſche la pudeur. D’un trait de ce Poëme en bons mots ſi fertile, Le François né malin forma le Vaudeville, Agreable indiscret, qui, conduit par le chant, Paſſe de bouche en bouche, & s’accroiſt en marchant. La liberté Françoise en ſes Vers ſe déploie: Cet Enfant de plaiſir veut naiſtre dans la joie.736

Boileau bescheinigt hier den römischen Satirikern einen sprachlichen Verstoß gegen die honnêteté. Insbesondere Juvenals sechste Satire, die so genannte Frauensatire, galt zu dieser Zeit als deutlicher Verstoß gegen die pudeur der Frauen und damit der bienséance und der politesse. 737 Indem er das Lateinische dem Französischen gegenüberstellt, wendet Boileau dieselbe Methode an, die schon Desmarets wenige Jahre zuvor benutzt hatte, und die auch Perrault in seinem Parallele des anciens et des modernes verwendet, nämlich die des Vergleiches. Ganz selbstverständlich proklamiert Boileau dabei die rezeptionsästhetischen Normen seiner Zeit, vor allem die pudeur. Die lateinische Sprache wird mit den Begriffen ſens impur, effronté, outrager dem angenehm diskreten Französisch, dessen Wohlklang (conduit par le chant) hervorgehoben wird, gegenübergestellt. Kurz zuvor war auch der französische Leser als lecteur chaſte bezeichnet worden. Boileau operiert also mit derselben Opposition, steht dabei aber auf der Seite der Modernes. Er rückt davon ab, die Antike als ahistorisches Ideal zu begreifen. Bei der Frage nach der honnêteté langagière sieht Boileau von einer Antikenimitation ab und fordert stattdessen die Regeln der bienséance. Der Unterscheidung einer klassischen und einer nicht-klassischen Antike kommt in der Argumentation eine entscheidende Rolle zu, denn sie erlaubt es, gleichzeitig die Autorität und den schlechten Ruf der Antike für die eigene Aufwertung zu nutzen. Das Lateinische wird dabei einerseits als Ursprung der französischen Sprache, als prude, modeste und sage gewertet. Andererseits wird sie auch als langue corrompue betrachtet, 735 736 737

Boursault 1697, t.I., 119. Vgl. generell Dupleix 1651. Boileau 1674, 118 (Chant II, 175–186). Zum philologischen Umgang siehe Kapitel 4.3.

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als le vilain Latin, also gleichzeitig als obszön und nicht obszön, als klassisch und nicht klassisch. Bouhours und seinen Mitstreitern ist so der rhetorische Spagat gelungen, einerseits die umfassende Kritik an den Autoren der frühen Kaiserzeit, namentlich vor allem Petron und Martial, die seit dem Beginn des Jahrhunderts zunehmend Zweifel am normativen Charakter der Antike haben aufkommen lassen, ernst zu nehmen und andererseits dennoch am zyklisch-periodischen Geschichtsbild festzuhalten.738 Die Idee einer separierten Sprachgeschichte, wie sie Charpentier und Bouhours entwerfen, stellt einen Versuch dar, die zyklische Geschichte mit der linearen Fortschrittsgeschichte in Einklang zu bringen, um die ideologische Parallele zwischen Louis XIV. und Augustus aufrecht zu erhalten. Diese Strategie wurde allerdings nur kurzzeitig verfolgt, denn sie widerspricht dem Sukzessionsgedanken des Fortschritts. Dieser führt dazu, dass die antiken Sprachen nunmehr in Umkehrung selbst auf den Status barbarischer Sprachen degradiert werden. Der Schweizer Theologe Jean-Pierre de Crousaz, einer der entschiedensten Gegner Bayles (Examen du pyrrhonnisme ancien et moderne, 1733), sieht in der sprachlichen Kontinuität gleichsam eine Verschlechterung: La langue des Grecs, & celle des Latins ſe trouvérent par là chargés d’un grand nombre d’éxpreſſions qu’un long uſage avoit autoriſées : Elles répondoient à leurs moeurs, & à leurs préjugés. Nôtre langue eſt aujourd’hui plus ſage & plus chaſte. Pourquoi ne nous rendre pas digne d’un avantage qui fait honneur à nôtre ſiécle, & affecter au contraire de ramener les groſſiéretés de ceux qui l’ont précédé.739

Der Einfluss der antiken Sprachen wird von Crousaz als kulturgeschichtlicher Ballast (chargés, ramener les groſſiéretés) empfunden. Die Aussage schließt an Arnaulds Idee der ursprünglichen puritas der Sprache an. Crousaz fordert eine Trennung vom Lateinischen, denn er sieht die puritas des Französischen von der Sprachgeschichte und durch Neologismen gefährdet. Die Perfektibilität der Sprache besteht für Crousaz wie für Arnauld in einer Reduktion des Wortschatzes, die er mit chasteté assoziiert. 740 Dieser Gegensatz zwischen gegenwärtiger pureté und antiker Obszönität verstärkt das Bedürfnis nach Diskontinuität. Gegen die Charakterisierung des Französischen als keuscher Tochter des klassischen Lateins argumentiert wiederum Voltaire ungefähr einhundert Jahre später (gegen La Motte): »Peut-être avaient-ils [sc. les Grecs & les Romains] un talent ſupérieur au vôtre , & ils l’exerçaient dans une langue plus riche & plus harmonieuſe que les langues modernes, qui ſont un mélange de l’horrible jargon des Celtes & d’un latin corrompu.«741 In der Tat gelten seit den Recherches de la France (1560) von Étienne Pasquier die keltischen Gallier als Ahnen der Franzosen. Voltaire wendet also die 738

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Vgl. Jauß 1964 27, der meint, die historische Parallele zwischen Altertum und Gegenwart sei die »historische Denkkategorie, die für die geistige Auseinandersetzung zwischen Klassik und Aufklärung bestimmend ist«. Crousaz 1733, 258. Zur Konzeption von Sprache als Abbild der Sitten im Rahmen des Fortschrittdiskurses siehe Kapitel 5.2.1. Vgl. Crousaz 1733, 257f. Voltaire 1770–1772, s.v. anciens et modernes, t. 1 (1770), 282. Vgl. ähnlich Rigoley de Juvigny 1787, 223f.

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klassische Idee der Reinheit gegen das Französische selbst, indem er es als Mischsprache zweier verdorbener Sprachen deklariert.742 Ausdrücklich bezieht er sich auf das VulgärLatein und wendet sich damit gegen Bouhours’ Argumentation, das Französische stamme vom Latein zur Zeit des Augustus ab. Rousseau greift im Émile (1762) ebenfalls diese Charakterisierung des Französischen an und meint, die französische Sprache sei keineswegs »la plus chaste des langues«, sondern die obszönste. Im Rahmen einer Wendung von den mots zu den choses im 18. Jahrhundert argumentiert Rousseau, dass das Französische zwar die obszönen Wörter vermieden habe, aber nicht die obszönen Gedanken. Denn diese würden durch die Verwendung metaphorische Sprache geradezu erst angeregt, sie führe vermehrt zum Auffinden obszönen Sinns. Rousseau sieht dagegen die pureté gerade in der eindeutigen Bezeichnung der Dinge.743 ⁎⁎⁎ Die Idee der sprachlichen Reinigung durch den König schlägt auf die Konstruktion der Sprachgeschichte über. Wollte Du Bellay das Französische noch mit antiken Vokabeln anreichern, wird sich dies bei Voltaire und Rousseau exakt umkehren: Sie werten den lateinischen Erbwortschatz als Verunreinigung und Balast und betrachten die Sprachgeschichte im Sinne der Aufklärung als Reingungsarbeit. An der Schwelle dazwischen stehen die normierenden Sprachhistoriker Bouhours und Charpentier, die die Sprachgeschichte im Sinne der Zyklentheorie konstruieren und so zwischen einem klassischen und einem nicht-klassischen Latein unterscheiden. Die metaphorische Konstruktion der Genealogie (la chaste fille) verbindet Kontinuität und Diskontinuität über das Prinzip der Ähnlichkeit und integriert so das Prinzip des linearen Fortschritts in die Zyklentheorie. Jede Generation stellt folglich eine Verbesserung dar. Das Bestreben sprachlicher Reinheit hat wiederum Rückwirkungen auf die philologische Praxis, um die es im folgenden Kapitel gehen wird.

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Vgl. Voltaire 1770–1772, s.v. Grec, t. 6 (1771), 329f. : »Je m’étonne qu’il reſte ſi peu de mots d’une langue [sc. la grecque] qu’on parlait à Marſeille du tems d’Auguſte dans toute ſa pureté; & je m’étonne ſurtout que la plûpart des mots grecs conſervés en Provence ſoient des expreſſions de choſes inutiles, tandis que les termes qui déſignaient les choses néceſſaires ſont abſolument perdus. Nous n’en avons pas un de ceux qui exprimaient la terre, la mer, le ciel, le ſoleil, la lune, les fleuves, les principales parties du corps humain; mots qui ſemblaient devoir ſe perpétuer d’âge en age. Il faut peut-être en attribuer la cauſe aux Viſigoths, aux Bourguignons, aux Francs, à l’horrible barbarie de tous les peuples qui dévaſterent l’empire Romain; barbarie dont il reste encore tant de traces.« Vgl. Rousseau 1762, t.3, 241: »La langue Françoiſe est, dit-on, la plus chaſtes des langues; je la crois, moi, la plus obſcene: car, il me ſemble que la chaſteté d’une langue ne conſiſte point à éviter avec ſoin les tours déshonnêtes, mais à ne les pas avoir. En effet, pour les éviter, il faut qu’on y pense; & il n’y a point de langue où il ſoit plus difficile de parler purement en tout ſens que la Françoise. Le lecteur, toujours plus habile à trouver des ſens obſcenes que l’auteur à les écarter, ſe ſcandalise & s’effarouche de tout.«

Gereinigte und bedeckte Textkörper

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4.3 Gereinigte und bedeckte Textkörper: Das Obszöne in Editionen und Übersetzungen Die sprachlichen Reinigungsbestrebungen des bon usage greifen auch auf die antiken Texte selbst aus. Die obszönen Texte werden allerdings, wie in diesem Kapitel dargelegt werden soll, nicht allein zensiert oder dem Vergessen überlassen, sondern es gibt Bestrebungen, sie den aktuellen ästhetischen Anforderungen anzupassen und damit in die bestehende Kultur einzugliedern. Das folgende Kapitel geht von der Prämisse aus, dass die philologische Bearbeitung, d.h. die äußere Gestaltung und Organisation der Ausgabe, die Rezeption des Textes wesentlich beeinflusst.744 Die philologische Praxis der Edition und der Übersetzung bedient sich dabei vornehmlich Praktiken der Separierung und der Überdeckung der Obszönität, die aber auch subversive Strategien ermöglichen. In Anlehnung an die Vorstellung des Text-Körpers greift die benutzte Metaphorik auf Begriffe der Körperpflege (Kleidung, Reinigung) und der Medizin (Kastration, Quarantäne) zurück.745 In Gabriel Guérets Parnasse reformé (1668) tritt (nach Terenz und Horaz) der Dichter ›Martial‹ auf und beklagt sich erzürnt über seine Übersetzung ins Französische: Y eut-il jamais Poëte plus maltraitté que je ſuis? Si l’on vous a rendu barbare, ſi l’on vous a dépoüillé de vos beautez, […] au moins vous a-t-on laiſſé tout entier. Mais voyez, je vous prie, la cruauté de mon Traducteur ; Il ne s’eſt pas contenté d’oſter tout le ſel de mes Epigrammes, d’étouffer leur delicateſſe, de profaner leurs graces, il a mêmes emouſſé toutes leurs pointes, il a condamné toutes leurs libertez ; & pour ne rien oublier de ce qui pouvoit me rendre difforme, le diray-je, il a tranché toutes les parties nobles de mes Epigrammes.746

›Martial‹ macht hier auf zwei Modelle im Umgang mit obszönen Texten aufmerksam, die im 17. und 18. Jahrhundert praktiziert werden: die Verschleierung und Verharmlosung des Obszönen durch verdeckende Metaphorik in der Übersetzung (envelopper, voiler)747 und der Ausschluss ganzer Textpartien (supprimer, expurger, epurer) aus der Edition und der Übersetzung. Der Ausdruck trancher les parties nobles weist, wie Abramovici (etwas verkürzt) bemerkt, auf das Bild einer Kastration hin.748 Die Aussage birgt eine gewisse Ironie in sich, denn als parties nobles werden gewöhnlich »[l]e cœur, le foye & le cerveau«749 als die überlebenswichtigen Körperteile bezeichnet.750 In den

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Vgl. Chartier 1990, 8. Zur Tradition zensierender Ausgaben und Kommentare antiker Texte mit einem Fokus auf dem englischsprachigen Bereich siehe den Sammelband Harrison/Stray 2012. Guéret 1668, 13f. Im Folgenden wiederholt er seine Apologie aus dem Vorwort zum ersten Epigramm-Buch. Der Ausdruck depouiller, den ›Martial‹ benutzt, bezeichnet dagegen eigentlich das Ablegen der Kleidung, birgt also eine gewisse Ironie. Abramovici 2003, 73f. Dictionnaire de l’Académie Françoise 1694, s.v. noble, t. 2, 122. Vgl. Furetière 1690, s.v. noble: »Le corps a auſſi des parties nobles, qui ſont celles ſans leſquelles il ne peut pas vivre, le cœur, le cerveau, le foye.«

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Übersetzungen Martials werden aber die obscena, d.h. die Genitalien751 abgetrennt, die wiederum das Gegenteil von noblesse symbolisieren. Dagegen bringt ›Martial‹ das Argument an, dass einerseits die obszöne Sprache konstitutiv für das Epigramm sei und andererseits, dass er doch in seinem Vorwort diesem Akt habe vorbeugen wollen.752 Das Bild der Kastration entstammt Martials Epigrammen selbst. In Epigramm 1.35 antizipiert er die Probleme, die die Obszönität seiner Verse für die Schullektüre (»versus [...] parum seueros nec quos praelegat in schola magister«) aufwerfen könnten und vergleicht die Obszönität seiner Verse mit dem Penis (mentula), dessen Funktion es ja sei, der Ehefrau Vergnügen zu bereiten (placere). Demgegenüber käme eine Zensur einer Kastration (castrare meos libellos) gleich.753 Immer wieder war von den modernen Verteidigern der Obszönität ins Feld geführt worden, dass sich in der obszönen Pointe gerade der esprit des Dichters zeige. Das Bild der Kastration ist bei Guéret also nicht zufällig gewählt, denn die Obszönität wird von Martial explizit mit dem placere verbunden, während beide Begriffe in der zeitgenössischen Ästhetik einander ausschließende Oppositionen bilden. Der metaphorische Rekurs auf die Kastration weist zudem vor dem Hintergrund der organisch-genealogischen Metaphorik implizit auf den Umstand hin, dass sich die Moderne mit der Entfernung der obscena einer Quelle der Fruchtbarkeit beraube.754 In der rhetorischen Terminologie der Antike wird das Bild der Kastration vor allem in der Polemik gegen den Asianismus verwendet. Quintilian vergleicht die Beschnei-dung des Ausdrucks zur Verschönerung mit dem Sklavenhändler, der mit der Kastration die Attraktivität und damit den Verkaufspreis erhöhen wolle. Der Akt sei etwas Widernatürliches und könne aus einem Monstrum nichts Schönes machen, eine solche Verweiblichung (effeminatio) gefalle nur oberflächlich. Die Kastration sei demnach Anzeichen von schlechten Sitten. 755 Vor 751 752

753 754

755

Vgl. OLD, s.v. obscenus II .B.β. Guéret 1668, 14: »Ie croyois m’eſtre mis à couvert de ce mal-heur par l’Épiſtre de mon premier livre, où j’ay fait voir que les expreſſions licentieuſes & un peu hardies ſont le vray langage des Epigrammes.« Zu Martials Apologie im Vorwort des ersten Buches siehe Kapitel 2.2.3. Vgl. Howell 1980 zur Stelle. Ferner entspricht diese Praktik der antiken punitio membri, d.h. dass dasjenige Körperteil bestraft wird, das die Tat begangen hat. Der plautinische Miles Gloriosus (PLAVT. Mil. 1394– 1437) etwa soll, da er angeblich beim Ehebruch ertappte wurde, auf der Bühne als Strafe kastriert werden, kann sich jedoch davon freikaufen. Diese Art der Bestrafung findet sich z.B. im Zwölf-Tafel-Gesetz und im Alten Testament, wird jedoch im 17. Jahrhundert nicht mehr praktiziert. Eine Kastration Martials bedeutet also aus juristischer Sicht, ihn gerade nicht wie einen modernen Autor (vgl. Fontenelle »les traiter enfin comme des modernes«) zu behandeln, sondern historisch relativistisch. QVINT. inst. 5.12.17/19: »non alio medius fidius uitio dicentium quam quo mancipiorum negotiatores formae puerorum uirilitate excisa lenocinantur. […] Sed mihi naturam intuenti nemo non uir spadone formosior erit, nec tam auersa umquam uidebitur ab opere suo prouidentia ut debilitas inter optima inuenta sit, nec id ferro speciosum fieri putabo quod si nasceretur monstrum erat. Libidinem iuuet ipsum effeminati sexus mendacium, numquam tamen hoc continget malis moribus regnum, ut si qua pretiosa fecit fecerit et bona.« (»Die Deklamatoren sind bei Gott keiner anderen Sache schuldig als die Sklavenhändler, die durch Beschneidung der Männlichkeit der Schönheit der Jungen einen höheren Reiz geben. […] Doch ich betrachte die Natur und werde jeden Mann für schöner erachten als einen Eunuchen; weder wird mir die Vorsehung je so abgewandt von ihrem eigenen Werke

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diesem Hintergrund erscheint also die Bearbeitung der Texte als der eigentlich obszöne und barbarische Akt. An dieses Bild schließt sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts ein Gegendiskurs an, der im Rahmen eines Dekandenzdenkens gerade die kreative Kraft und Energie, die von der antiken Obszönität ausgeht, betont.756 Die Pointe bei Guéret macht die humanistisch-scholastische Haltung zur Obszönität der Epigramme deutlich. Die philologische Bearbeitung, die die Obszönität entfernt, ist nur eine vermeintliche Verschönerung. Die Obszönität, die sich wie gesehen häufig in der pointe äußert, ist das gattungskonstituierende Element und zeigt demnach gerade den esprit des Dichters. Der Text macht sich seinerseits den esprit des Lesers, sein Wissen um die antike Literatur und Rhetorik zu Nutze, ihn also zum Mitwisser. Die Einbeziehung des Lesers wird auch als subersive Strategie im philologischen Umgang mit antiker Obszönität im 17. und 18. Jahrhundert genutzt, der im Folgenden skizziert wird. 4.3.1 Entfernung und Dislokation des Obszönen Die Obszönität antiker Texte bot in der Renaissance immer wieder Anlass zur Kritik und führte gegen Ende des 16. Jahrhundert auch zu Eingriffen in den überlieferten Text.757 Das Instrumentarium für diese philologischen Bearbeitungen obszöner Texte wird zunächst in den Editionen für den Schulgebrauch herausgebildet. Es sind insbesondere die Jesuiten, die als erste dazu übergehen, die obszönen Teile zu entfernen. Sylvius ist mit seiner Ausgabe Martials (Paris, 1514) der erste, der die obszönen Verse (mit Hinweis auf die Keuschheit des Lesers) entfernt hat.758 Geruchs(nares) und Geschmackssinn (irritamenta), so Sylvius, deuten den Leser auf die Verunreinigung (sordidatus) des Textes hin, seine Reinigung erfolgt metaphorisch als oberflächliches Abwischen (detergere, eluere) mit einem Schwamm (spongia). 759 Pierre Pithou kritisiert in seiner Edition Petrons (1577) diese Praxis:

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erscheinen, dass sich eine Schwächung unter dem Besten fände, noch werde ich glauben, dass mit dem Messer schön gemacht werden könnte, was, wenn es (so) geboren worden wäre, eine Ungestalt wäre. Das Trugbild eines verweichlichten Geschlechts mag die Lust selbst fördern, doch niemals wird den schlechten Sitten eine solche Herrschaft zukommen, dass sie, wenn sie (sc. die Lust) etwas wertvoll gemacht hat, dieses dann auch zu etwas Gutem gemacht hätte.«) Die Kastraten werden bisweilen mit Krankheit (morbus) assoziert. Vgl. SEN. epist. 83.2o; IUV. 2.17. Zur Bewertung der Kastraten in der antiken Literatur siehe Guyot 1980, 37–51. Siehe hierzu Kapitel 5.2.2. Vgl. Swann 1994, 82–94; Gaisser 1993. Bayle lobt ihn ausdrücklich dafür. Vgl. Bayle 1697, s.v. Sylvius (François), t. 2.2, 1051: »Il ne faut pas oublier une choſe qui lui est bien glorieuſe, c’eſt qu’afin que les Ecoliers profitaſſent des bons endroits de Martial, ſans corrompre leurs mœurs par la lecture des ſaletez qui ne ſont que trop ordinaires à ce Poëte, il en procura une édition repurgée de beaucoup de ces ſaletez.« Der Jesuit Vavasseur lobt Sylvius dafür ebenfalls (Vavasseur 1669, 256), ihm gingen die Reinigungen allerdings nicht weit genug, auch in der 1535 erschienenen 2. Auflage sieht er das Buch noch als (Vavasseur 1669, 258) »nudis tamen & prætextatis aliquot vocibus ſpurcum atque infamem.« (»durch einige nackte und unzüchtige Wörter schmutzig und schändlich«). Das philologische Programm wird bereits im Titel der Ausgabe deutlich: M. Val. Martialis epigrammatum lectoris castimonia dignorum liber, ubi omnia Veneris illius despuendae quasi irritamenta, quibus passim sordidatus lectorum nares corrugabat, accurata Francisci Sylvii

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(Aus)gesuchte Antike REmitto ad te Petronium tuum, immo noſtrum, immo iam omnium. […] Nõ meminiſti quae Magnus Baſilius de utilitate ex huiuſmodi ſcriptoribus capienda monet? Memini, ais, & probo: Sed Petronii obſcœnitas, ſpurcities, &, ut vno verbo dixerim, nequitia ea eſt, vt ne Lampſaci quidem ferri publice poſſe videatur. […] Quanquam ego quidẽ nec ſpurcitiem iſtam tam accuratã laudo, & vt ab hac religioſe omnes caueant, ſerio moneo […] Quod ad me attinet, hoc teſtor, hoc adfirmo id mihi potius animi fuiſſe, Latinæ elegantiæ Arbitrũ, quam aut Neronis, aut Siliæ Petronium edere. […] Mihi quidem certe caſtrare non libuit, ne, quod imperitis istis ſectoribus & mangonibus accidit, ſimul & euirarem, & occiderem.760 Ich schicke Dir Deinen Petron zurück, nein unseren, nein schon (den Petron) aller. […] Erinnerst Du Dich nicht, was Basilius der Große über die Nützlichkeit, die aus derartigen Schriftstellern zu gewinnen ist, verkündet? Ich erinnere mich, sagst Du, und ich heiße es gut, doch Petrons Obszönität, seine Unflätigkeit, mit einem Wort, seine Nichtsnutzigkeit ist derart, dass sie offenbar nicht einmal in Lampsakos öffentlich ertragen werden kann. […] Indessen lobe ich auch nicht jene ausführliche Unflätigkeit und mahne ernsthaft dazu, dass sich alle gottesfürchtig vor dieser hüten. […] Was mich anbelangt, kann ich versichern, ja beteuern, dass es mir lieber gewesen ist, den Richter der lateinischen Gewähltheit als den Petron Neros oder der Silier herauszugeben. Mir jedenfalls beliebt es sicherlich nicht, ihn zu kastrieren, um ihn nicht, was bei diesen unerfahrenen Zerschneidern und Sklavenhändlern vorkommt, zugleich zu entmannen und zu töten.

Pithou verbindet die quintilianische Kritik am effiminierten Stil der Asianisten und Martials Selbstcharakterisierung (1.35) und begreift einen Eingriff in den Text als Kastration, die gleichbeutend mit einer Entmannung (evirare) ist und letztlich zum Tod des Autors führt (occidere).761 Eine selektierte Lektüre, die die obszönen Texte explizit ausschließt, findet sich zuerst bei den Jesuiten. Die Lektüreliste der Ratio atque institutio studiorum (1599), der für alle Jesuitenschulen verbindlichen Studienordnung, sieht Cicero, die Historiker Sallust, Livius und Tacitus, Vergil (außer den Eklogen und dem 4. Buch der Aeneis), eine Auswahl der Oden des Horaz sowie der Elegiker vor. Ferner werden gelesen: »Epigrammata, & alia poemata illuſtrium poetarum antiquorum, modo ſint ab omni obſcoenitate expurgati.« 762 In der letzten Klasse folgen u.a. im ersten Semester »ſelectæ aliquæ ac purgatæ Ouidij tum Elegiæ, tum Epistulæ« sowie im zweiten

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Ambianatis diligentia spongia detersa sunt et eluta, Paris 1514. (Ein Buch der Epigramme des Marcus Valerius Martialis, die der Sittenreinheit des Lesers würdig sind, wo sozusagen sämtliche Reizmittel jener verabscheuenswürdigen Venus, über die ein durch sie beschmutzter Leser allenthalben die Nase zu rümpfen pflegte, durch die sorgfältige Gründlichkeit des Franciscus Sylvius Ambianas mit einem Schwamm abgewischt und ausgespült worden sind) Wenige Jahrzehnte später bringt der Verleger Michel de Vascosan einen Martialis castus, ab omni obscoenitate perpurgatus (Paris, 1554) heraus. Pithou 1577, f. * i v. Ein ähnlicher Gedanke findet sich bei Petron selbst. Zu Beginn des überlieferten Textes kritisiert der Erzähler die Lehrer des asianistischen Stils (PETRON. 2.2): »levibus enim atque inanibus sonis ludibria quaedam excitando effecistis ut corpus orationis enervaretur et caderet« (»denn aus leichten und leeren Tönen habt ihr manche Täuschungen erweckt und bewirkt, dass der Körper der Rede gelähmt wurde und hinfiel.«) Ratio Studiorum 1616 [1599], 122. Bei den griechischen Autoren stehen vor allem die Reden des Isokrates, ferner Dion Chrysostomos, Basilius sowie die Briefe Platons und Synesios, sowie eine Auswahl aus Plutarch auf dem Programm.

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Semester »ſelecta, & purgata ex Catullo, Tibullo, Propertio & Vergilij Eclogis«. 763 Dieser Anforderung der purgatio kamen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zahlreiche Editionen nach. Besonders um 1600 erschien in ganz Europa eine Reihe an Ausgaben und Kommentaren obszöner Autoren, teils mit den obszönen Gedichten, teils ohne.764 Insbesondere Martials Epigramme wurden in gekürzter Form neu ediert. Bedeutende Philologen wie Lipsius (Epigrammata expurgata, Verona 1597) und Matthäus Rader (Omni rerum et verborum obscoenitate sublata, Ingolstadt 1599) 765 besorgten diese »kastrierten« Editionen. Die Metaphorik für diesen Akt ist recht divers und reicht von Bildern des Reinigens (expurgare, expungere, eradere) bis zu juristischen Ausdrücken (sufferre, vindicare, castigare). Diese Praxis der Entfernung der obszönen Partien war zunächst unter Philologen nicht unumstritten. Es waren vor allem die Jesuiten (Rader, Augerius, Fichetus), die aufgrund des pädagogischen Impetus ihrer Editionen eine Zensur praktizieren. Der spanische Humanist Ramirez de Prado (1583–1658), selbst Herausgeber einer unzensierten Martial-Edition (Paris, 1607), kritisierte wiederum Raders Vorgehen.766 Allein der Verdacht, Rader hätte in seinem Kommentar – am internen Zensursystem des Jesuitenordens vorbei – den ganzen Martial kommentiert,767 veranlasste ihn, ein Exemplar seines Kommentars an die Ordensleitung zu senden.768 Die Frage, wie mit diesen Partien umzugehen sei, war also für die Jesuiten eine dringliche. Die Obszönität führte (nicht nur bei den Jesuiten) zu einer generellen Infragestellung des Nutzens der Martial-Lektüre und anderer als

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Ratio Studiorum 1616 [1599], 129. Z.B. Konrad Gesner (M. V. Martialis, Epigrammata, ad linguae latinae copiam et varias rerum nomenclaturas utilissima, recens ab omni verborum obscoeniate in adolescentium praecipue scholarumque usum expurgata et in locos circiter LXXX / digesta, ac plaeriusque in locis emendata, Zürich 1544); Simon Colinaeus (Martialis epigrammaton libri XIIII summa diligentia castigati, Paris 1553); Edmundus Augerius (M. Val. Martialis epigrammata ab omni rerum obscoenitate vindicata, Antwerpen 1568); Andreas Frusius (M. Valerii Martialis epigrammata: ab omni rerum verborumque obscoenitate ac trupidine vindicata, Köln 1599); Alexander Fichetus (In choro poetarum lustrato et illustrato, Lyon 1617). Dagegen edieren unzensiert: Hadrianus Junius [Adriaen de Jonghe] (M. Val. Martialis Epigrammaton libri XII, Xeniorum liber I, Apophoreta liber I […], Basel 1559); Didier Hérault (Desiderii Heraldi in libros XII epigrammaton M. Val. Martialis Animadversiones, Paris 1600); Domizio Calderino/Giorgio Merula (M. Valerii Martialis Epigrammaton libri XIV, Paris 1601); Janus Gruterus (Martialis Epigrammaton libri XV [...] correcti atque emendati, Frankfurt a. M. 1602); Lorenzo Ramírez de Prado (M. Valerii Martialis Epigrammaton libri XV, Paris 1607). Vgl. Schweiger 1962, 592; Hausmann 1980, 255; 260. Vgl. Rader 1599, 4: »Adulationes non excuſo, quamuis eas improba neceßitas expreſſerit, & egeſtas, laſciua etiam accuſo, immò penitus expungo atq; erado.« (»Die Schmeicheleien entschuldige ich nicht, wenngleich eine unredliche Notwendigkeit sie ausdrückte, und eine Bedürftigkeit, das Zügellose überdies tadle ich, nein, ich streiche es ganz und gar aus und tilge es.«) Ebenso verfährt er in seinem Kommentar von 1602 (M. Valerii Martialis epigrammton libri omnes, novis commentariis […], Ingolstadt, und 2. Auflage, Ingolstadt 1611). Vgl. Sullivan 1991, 291–295. »Quasi integrum Martialem nec purgatum nec castratum enarrassem« (»Ich hätte gewissermaßen den unversehrten, weder gereinigten noch kastrierten Martial kommentiert.«, Archiv der deutschen Provinz der Jesuiten, Abt. 42, Nr. 2,2, Nr. 222, zitiert nach Römmelt 2010, 310, Anm. 9). Vgl. hierzu Römmelt 2010.

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obszön geltenden Autoren.769 Auch Lipsius steht vor dem editorischen Dilemma und entscheidet sich wie Rader zur Entfernung der obszönen Partien. Dennoch sieht er sich offenbar gezwungen, seine Beschäftigung mit Martial als solche zu rechtfertigen. In einem Brief an Lernutius (1577), der die Dichtung Catulls präferiert, schreibt er: Quid cenſes tu? non melius de Martiale Scaliger iudicauit, qui verſus eius cãdidos, numeroſos, plenos, Epigrãmata multa diuina dicit: quàm ille qui ſcurrã de triuio appellat? […] Multa fœda, obscæna in Martiale: & meherclè in vno Catulli libello non pudiciora, ſed pauciora. Ignorat ſęculum illud, qui hoc accuſat. Sunt & ioci aliquot leves, vulgati, pueriles: ſed meliorum maior eſt numerus.770 Was meinst Du? Hat nicht Scaliger besser über Martial geurteilt, der dessen Verse klar, reich an Metren, volltönend, sowie viele Epigramme göttlich nennt, als jener, der ihn als Spaßmacher von der Kreuzung bezeichnet? Viel Abstoßendes, Obszönes gibt es bei Martial, und, beim Hercules, in einem einzigen Büchlein Catulls nicht Schamhafteres, sondern lediglich weniger davon. Wer dies anklagt, kennt nicht jenes Zeitalter. Es gibt auch einige leichte, allgemein bekannte, kindische Scherze, doch die größere Zahl gehört zu den besseren.

Lipsius charakterisiert hier treffend und mit hohem rhetorischem Aufwand (Antithesen, Chiasmus, Paronomasien, asyndetisches Trikolon) die zweiteilige Rezeption Martials. Die Erkenntnis und das Bewusstsein der ästhetischen und historischen Distanz führt Lipsius zu einer historischen Relativierung des Obszönen. Demgegenüber steht die moralische Verurteilung des obszönen Dichters. Die Charakterisierung Martials als scurra,771 d.h. als jemanden, der in Fragen des Humors übertreibe, geht auf Marc-Antoine Muret (1526–1585, Marcus Antonius Muretus), Editor und Kommentator Catulls, zurück, der gegenüber Martials Epigrammen Catulls Gedichte als »liberales ingenui hominis ioci« (»vornehme Witze eines aufrichtigen Menschen«) sieht772 und diese ausnahmslos ediert und kommentiert. Catull und Martial treten in der Kritik häufig paarweise auf, sei es wie hier als epigrammatische Rivalen oder gemeinsam als die beiden obszönsten Dichter der Antike. 773 Das positive Urteil Scaligers über Martial bleibt indes in der Philologie des 17. Jahrhunderts äußerst

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Von Horaz erscheint beispielsweise ebenfalls eine »gereinigte« Edition: Q. Horatius Flaccus ab omni obscoenitate purgatus, ad usum Gymnasiorum Societatis Jesu, Paris 1617. Bereits Enea Silvio Piccolomini (Pius II.) charakterisiert Martial als pernitiosus. Vgl. Howell 2009, 102f. Lipsius 1577, 7. Vgl. MART. 6.44. Zu dieser Figur siehe vor allem HOR. sat. 1.5.50–70; epist. 1.15.26–41; ARISTOT. eth. Nic. 1128a4–b9; PLAT. leg. 935d3–e6; THEOPHR. char. 28; CIC. orat. 88f.; off. 1.104; 1.134; de orat. 1.244. Vgl. Neger 2012, 242. Muret 1554, f. iiir: »inter Martialis autem & Catulli ſcripta tantum intereſſe arbitrer, quantum inter dicta ſcurræ alicuius de triuio, & inter liberales ingenui hominis iocos, multo urbanitatis aſperſos ſale. […] cum ab illo altero, neſcio quo modo, ſemper abhoruiſſem, Catullum contra nunquam non mirabiliter amaui.« (»Zwischen Martials und Catulls Schriften besteht – meine ich – ein solcher Unterschied wie zwischen den Aussagen irgendeines Spaßmachers von der Kreuzung und den anständigen Scherzen eines freigeborenen Menschen, die mit viel Salz des städtischen Esprits bestreut sind.«) Vgl. Swann 1994, 119–139.

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wirkmächtig. 774 Diese beiden, negativen wie positiven Rezeptionsstränge Martials werden dadurch gefestigt, dass die entsprechenden testimonia seit Petrus Sciverius’ Martial-Ausgabe (Leiden 1619) häufig dem Text vorangestellt und mit abgedruckt werden.775 Sie prägen folglich das Bild des Dichters nachhaltig. Eine weitere editorische Hochphase findet gegen Ende des 17. Jahrhunderts, also parallel zu den Debatten der Querelle, statt. Seit 1670 erscheinen die Editionen lateinischer Texte ad usum Delphini, 776 darunter sind auch die Werke Terenz’ (1675 Plautus’ (1679),) Martials (1680), Catulls (1685), Juvenals und Persius’ (1684) sowie Ovids (1686) und Horaz’ (1691), nicht aber Petrons, da dieser von den Jesuiten vehement abgelehnt wurde 777 Die Edition zur Erziehung des Thronfolgers richtet sich laut Vorwort gleichzeitig an ein breites Publikum.778 Die Sammlung, die im Auftrag des Herzogs von Montausier unter der Leitung von Jacques Bénigne Bossuet und Pierre-Daniel Huet in 64 Bänden von 1670 bis 1698 veröffentlicht wurde, wird gewissermaßen als Bibliothek des honnête homme konzipiert. 779 Die Ausgaben sind nach dem Vorbild der jesuitischen praelectio konzipiert und verbinden gelehrte Editionen mit Kommentaren zum Schulgebrauch, d.h. mit Realien, Hinweisen zur Stilistik und Übersetzungshilfen. Auf das Dilemma zwischen humanistischscholastischem Anspruch und edukatorischer Funktion der Edition, d.h. zwischen philologischem Exaktheits- und Vollständigkeitsanspruch und dem öffentlichen Bedürfnis einer »gereinigten« Edition, reagiert z.B. Crispin, der Herausgeber Ovids, dadurch, dass obszöne Stellen in den Amores und der Ars amatoria entfernt und nicht kommentiert werden. 780 Dieser Akt der Zensur wird allerdings durch ein Zeichen kenntlich gemacht und die entsprechenden Stellen werden am Ende des Bandes unter dem Titel »Obscoena quaedam […] praetermissa et in hunc locum rejecta«781 dennoch

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Scaliger 1561, 323: »Multa ſunt eius Epigrammata diuina : in quibus & ſermonis caſtitas, & argumenti ſpecies luculenta eſt. versus verò candidi, numeroſi, pleni, denique optimi. Alia fœda ne legerim quidem, tantùm abeſt vt ad cenſuram vocem.« (»Viele seiner Epigramme sind göttlich. In ihnen sind die Keuschheit der Sprache und der Glanz des Inhalts lichtvoll. Die Verse sind gar klar, reich an Versmaßen, volltönend, kurz: vom Allerbesten. Das Anstößige möchte ich überdies nicht einmal lesen, und bin weit davon entfernt, zur Beurteilung zu laden.«) Vgl. die dort gesammelten sinistra quidam judicia infelicium criticorum de Martiale: Raffaello Maffei (Raphael Volaterranus): »reliquit epigrammatum librum omnino rejiciendum, quippe qui neque elegantiae latinae neque moribus prosit.« (»er hinterließ ein Buch Epigramme, das gänzlich zu verwerfen ist, da es weder der lateinischen Gewähltheit noch den Sitten nutzt.«); Ähnliches wird dort zitiert aus Paolo Giovio (1483–1552) und Andreas Naugerius (1483–1529). Demgegenüber steht eine Reihe positiver Urteile, die von Plinius bis Scaliger und Lipsius reicht. Vgl. generell Volpihac-Auger 2000. Jouvancy (1703, 87) meint etwa Petron sei »dem Vergessen und des Kirchenbannes würdig« (»dignus oblivione, & execratione«). Vgl. Wolff 2000. So Crespin im Vorwort (ad lectorem) zur Edition Sallusts (1674, e iij v), der ersten Ausgabe der Sammlung. Vgl. Volpihac-Auger, 2000, t. I., 38f. Vgl. Chatelain 2000. Publii Ovidii Nasonis opera in tres tomos divisa, interpretatione et illustravit Daniel Crispinus ad usum Delphini, Lyon 1686. Vgl. hierzu Chatelain 2008, 30–34. Vgl. Chatelain 2008, 32–34.

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angeführt. Crespin vollzieht also eine Dislokation des Obszönen in eine Art Quarantäne, an einen speziell gekennzeichneten Ort außerhalb des eigentlichen, »sauberen« Textes. Eine »verstümmelte« Edition Martials in der Kollektion ad usum Delphini besorgt 1680 Vincentius Colleso.782 In seiner Ausgabe, die neben dem Text auch eine Interpretation jedes Gedichtes sowie erklärende Anmerkungen enthält, lässt auch er die obszönen Gedichte aus, nummeriert aber weiter.783 So fehlen beispielsweise in Buch 11 die Epigramme 20–24 und 26–31 (siehe Abbildung unten).

Abbildung 5: Martialis Epigrammatum libros XV, ed. Collesso (Paris 1680), 611. (Quelle: BnF)

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M. Valerii Martialis Epigrammatum libros XV, interpretatione et notis illustravit Vincentius Colleso [...] ad usum [...] Delphini, Paris 1680. Wolff 2000: »Chez Martial, la censure s’exerce sur des épigrammes complètes (plus de 150), qui n’apparaissent dans le corps du texte que par leur numéro, mais l’astérisque n’est pas davantage utilisé que chez Lucrèce. Visuellement, la différence est importante: il n’y a pas chez Lucrèce ni chez Martial, comme chez d’autres auteurs censurés, de pages seulement constituées d’astérisques, et la censure en devient moins patente.«

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Auch Colleso fügt am Ende des Bandes gesondert die Epigrammata obscoena an. 784 Diese Praxis der »selektiven Kanonizität«,785 die durch die Separation der obszönen Gedichte gewahrt wird, erleichtert ironischerweise ihr Auffinden und ermöglich es so, nicht nur den (restlichen) Text den ästhetischen Erfordernissen und Normen des literarischen Betriebes anzupassen, sondern schafft als Nebenprodukt ihrerseits ein Kompendium der obszönen Epigramme Martials. 786 Colleso macht seine Edition somit auch für eine subversive Leserschaft interessant. Und in der Tat ist auch hier ein Widerspruch zwischen den teilweise vernichtenden theoretischen Kritiken und der Lektüre-Praxis festzustellen, denn Martial bleibt ein vielgelesener Autor. 787 Wie Colleso und Crespin verfahren auch andere Editoren (außer bei Horaz)788, sodass en passant als Gegenbild der Bibliothek des honnête homme eine Bibliothek der obszönen Literatur der Antike entsteht. Die Editionen erfreuen sich großer Beliebtheit, zahlreiche Nachdrucke werden im Laufe des 18. Jahrhundert nicht nur in Frankreich, sondern auch in England verbreitet. 4.3.2 Lateinische Obszönitäten in Verkleidung: Übersetzung als Gegen-Zensur Die hier relevanten Autoren werden aber im 17. und 18. Jahrhundert weniger in derartigen Editionen, die eine direkte Konfrontation mit dem lateinischen Text bedeuten, sondern vor allem in Übersetzungen rezipiert, die andere Praktiken im Umgang mit der Obszönität erfordern. Interessant sind in diesem Zusammenhang vor allem zweisprachige Komplett-Ausgaben, die wie hier am Beispiel der Übertragungen Martials und Catulls durch Marolles (1655/1653) und Pezay (1771) demonstriert werden soll, durch die philologische Bearbeitung Strategien der Gegen-Zensur ausbilden, die

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In Buch 1 und 2 sind dies beispielsweise: 1.24; 1.47; 1.59; 1.91; 1.93; 1.94; 2.28; 2.31; 2.47; 2.49; 2.50; 2.51; 2.54; 2.60; 2.61; 2.62; 2.70; 2.72; 2.73; 2.84. Vgl. Roberts 2008, 280. Byron beschreibt dies anschaulich im Don Juan (1819, canto 1, Strophen 43–45): »And then what proper person can be partial / To all those nauseous epigrams of Martial? / XLIV. Juan was taught from out the best edition, / Expurgated by learned men, who place, / Judiciously, from out the schoolboy’s vision, / The grosser parts; but, fearful to deface / Too much their modest bard by this omission, / And pitying sore his mutilated case, / They only add them all in an appendix, / Which saves, in fact, the trouble of an index; / XLV./For there we have them all at one fell swoop, / Instead of being scatter’d through the pages; / They stand forth marshall’d in a handsome troop, / To meet the ingenuous youth of future ages, /Till some less rigid editor shall stoop/To call them back into their separate cages,/Instead of standing staring all together,/Like garden gods–and not so decent either.« (Byron 1819, 24f.) Vgl. Nicerons Vita Ménages (»Mémoire pour servir à la vie de M. Ménage), der aus einem Prostest Ménages gegen die Kritik an seiner Elegie an Mazarin (1660) zitiert: »j’en apporterai ici des exemples, tirez de Martial, Auteur qui est dans les mains de tout le monde.« (Ménage 31715, t. 1., f. ĩ x r) Auch eine Szene aus Molières Komödie La Comtesse d’Escarpagnas (1682, Acte 1, Scène V) zeigt auf ironische Weise Martials Bekanntheitsgrad. Vgl. Mehnert 1970, 179f. Q. Horatii Flacci Poemata interpretatione et notis illustravit Petrus Rodellius e soc. Jesu [...] ad usum serenissimi Delphini [...] 1690. In Philip Prétots Edition (Horatii Carmina, ab omni obscoenitate expuragata cum annotationibus, Paris 1739) fehlen dagegen Epod. 8, 11 und 12 sowie von Epode 17 (dort als zwei getrennte Epoden aufgefasst: XII/XIII) die Verse 50–53.

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sich geschickt an den übersetzungstheoretischen Diskurs anpasst und sich an ein größeres, mondänes Publikum wendet. Das Lateinische hatte in den französischen Bildungseinrichtungen traditionell einen hohen Stellenwert. 789 Die Bildung wurde im Wesentlichen durch drei Institutionen bestimmt: die Sorbonne, die Schulen der Jesuiten und die im Jahr 1611 von Kardinal Pierre de Bérulle gegründete Société de l’oratoire de Jésus. Daneben breiteten sich um die Mitte des 17. Jahrhunderts die Jansenisten in Frankreich aus, denen auch die Anhänger von Port-Royal wie Racine, Pascal, La Rochefoucauld und Antoine Arnauld nahestanden. 790 Jesuiten wie Jansensiten legten, wenn auch untereinander in Gegnerschaft, auf die lateinische Sprache viel Wert, da es sich hierbei um die Sprache der Kirche und der gens de lettres in ganz Europa handele.791 In den Schulen und auch an der Sorbonne war das Lateinische zunächst Unterrichtssprache.792 Um die Mitte des 17. Jahrhunderts büßte es diese Funktion allerdings ein, sodass ab den 1670er Jahren die manuels hauptsächlich auf Französisch verfasst wurden. Dies hatte zur Folge, dass die Kenntnisse des Lateinischen zurückgingen: »On ne sait plus le latin de la même manière à la fin du siècle qu’au début.« 793 Die Sprachkompetenz war nun mehr auf das Literarische als auf den praktischen Gebrauch ausgelegt. Frauen wurden an den religiösen Einrichtungen nicht im Lateinischen unterrichtet. 794 Ausnahmen wie Marie de Gournay oder Anne Dacier, die dennoch altsprachlich ausgebildet waren, erhielten diese Ausbildung durch Privatunterricht. Wie in Kapitel 2.1 dargelegt, galt das Lateinische als Sprache der Gelehrten am Hofe, die pejorativ als pédants tituliert wurden. Von den mondänen Teilnehmern der Pariser Salons hingegen wird das Lateinische rigoros abgelehnt. Auf den veränderten Buchmarkt, d.h. auf eine Leserschaft, die keine humanistische Ausbildung absolviert hatte oder sich von den antiken Sprachen distanzierte, reagierte vor allem der Übersetzungsbetrieb. Im Laufe des 17. Jahrhunderts entstanden eine Vielzahl an Übersetzungen der lateinischen und griechischen Literatur, die wiederum zu methodischen Debatten führten. Offenbar herrschte trotz oder vielleicht gerade wegen des Rufes der Obszönität ein großes Bedürfnis nach Übersetzungen der lateinischen Literatur. Dadurch, dass nun in der Salonkultur Frauen in das literarische Feld drangen, schlug der Geschlechterdiskurs zunehmend auf die philologische Praxis 789

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Zur Rolle und Bedeutung der lateinischen Sprache und Literatur in den französischen Bildungseinrichtungen des 17. Jahrhunderts siehe die ausführliche Darstellung bei Marmier 1962, 19–48 und Waquet 1999, 17–55; vgl. auch Haskell 2014. Die Schule von Port-Royal zählte zwar nur wenige Schüler, die Messieurs du Port-Royal waren aber einflussreiche Persönlichkeiten. Vgl. Fleury 1686, 209–215. Vgl. Marmier 1962, 20f. Marmier 1962, 26. Fleury (1686, 264f.) wehrt sich explizit gegen eine solche Möglichkeit: »Il eſt vray qu’elles [sc. les filles] n’ont pas beſoin de la plûpart des connoiſſances, que l’on comprend aujoud’huy ſous le noms d’études, ny le latin, ny le grec, ny la rétorique, ou la philoloſophie des coléges ne ſont point à leur uſage.« Die explizite Thematisierung zeigt, dass der Ausschluss der Frauen von Bildung nicht mehr völlig selbstverständlich war. Fleury selbst rät den Frauen jedoch noch mit der Begründung, dass sie sonst von anderen Frauen verhasst und von den Männern verachtet würden, explizit von einer Ausbildung ab.

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über. Die Zensur der Texte wird, wie gesehen, vor allem durch Frauen als potenzielle Leserinnen argumentativ begründet. In juristischer Hinsicht besteht, wie Marolles im Vorwort seiner MartialÜbersetzung von 1655 deutlich macht, ein Unterschied zwischen dem französischen und dem lateinischen Text: Pour les Epigrammes licentieuſes, afin qu’on ne m’en faſſe point de reproche par vne fauſſe grauité […], je […] diray […] ou que i’en ai flatté l’expreſſion, en leur donnant bien ſouuent d’autre veuës que celles que preſente le texte original, ou que ie les ai entierement ſupprimées, ſans neanmoins toucher au Latin qui n’eſt pas de ma juriſdiction.795

Der Begriff juriſdiction verweist zunächst auf die Praktik des literarischen jugement, dessen sich Marolles, was das Lateinische angeht, entziehen möchte. Darüber hinaus besteht aber tatsächlich ein juristischer Unterschied zwischen lateinischer und französischer Obszönität, denn von der staatlichen Zensur waren lateinische Texte nicht betroffen, wohl vor allem deswegen, weil die potenzielle Leserschaft weiterhin recht klein war.796 In eben jener Phase, als die säkulare Zensur die kirchliche ersetzte, wurde auch das Lateinische als Sprache der Druckpresse durch das Französische abgelöst.797 Die Ausnahme des Lateinischen von der Zensur mag ferner auch dadurch verständlich werden, dass die Vorstellung herrschte, dass das Obszöne auf Latein weniger als auf Französisch schockiere.798 Für die humanistische Praxis bedeutet die Zensur, wie am Beispiel Garasse gesehen, dennoch ein Problem. Denn die Kommentierung obszöner Stellen wird ebenfalls dem Kommentator angelastet. 799 Dieses Problem stellt sich in verschärfter Form dem Übersetzer der antiken Texte. Vor allem unter dem Einfluss von Nicolas Perrot d’Ablancourt (1606–1664) etabliert sich ein Übersetzungsbetrieb der modernisierenden Übertragungen, die ganz den zeitgenössischen Normen entsprechen. In der Praxis wurden Wörter, die den Leser schockieren konnten (les mots bas) vermieden.

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Marolles 1655, t. 1, f. ã vj r–vj v. Vgl. DeJean 2002, 156: »In this context, one additional factor in the shift from Latin to French should be mentioned, the fact that, with the arrival of mass print culture, Latin began to be considered the language in which dangerous knowledge, and dangerous sexual knowledge in particular, could be hidden from the masses.« Zur Sprachenfrage vgl. Febvre/Martin 1958, 465–480. Zur neolateinschen Literatur im 16. Jahrhundert vgl. de Smet/Ford 1997, xif. Vgl. Fevbre/Martin 1958, 356–414; 480–495. Bayle 1702, 3162: »J’ai évité […] d’exprimer en nôtre langue le ſens d’une citation qui contenoit quelque choſe de trop groſſier, & je ne l’ai rapportée qu’en Latin.« Vgl. Simon 1819, t.1, vii: »[N]ous ne croyons pas que ces obscenités […] puissent être dangereuses dans leur langage original.« Edward Gibbon, ebenfalls konfrontiert mit dem Vorwurf der Obszönität, in seinem Decline and Fall of the Roman Empire, zitiert Boileaus Art poétique und ergänzt: »My Engliſh text is chaſte, and all licentious paſſages are left in the obſcurity of a learned language. Le Latin dans ces mots brave l’honnêteté, ſays the correct Boileau, in a country and idiom more ſcrupulous than our own.« (Gibbon 1796, 187). Zu den BoileauVersen siehe Kapitel 4.2. Vgl. Bayle 1702, 3159, Kategorie VI. Zu Bayles Auseinandersetzung mit diesem Problem siehe Kapitel 4.4.

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»Plaire, telle est la devise des traducteurs français du 17e siècle«.800 Für diese (bis ins 19. Jahrhundert hinein)801 verbreitete Übersetzungspraxis hat Gilles Ménage das Bild der belle infidèle geprägt. 802 Metaphorisch handelt es sich bei den modernisierenden Übersetzungen um Ver-Kleidungen. 803 Die Begriffe voile und gaze bestimmen in diesem Zusammenhang den ästhetischen Diskurs.804 Diese Praktik schreibt sich in die zeitgenössischen literarischen Normen im Umgang mit allem Sexuellen ein, das unter der Wendung envelopper les ordures firmiert.805 Der Übersetzer verschafft den obszönen Texten der Antike auf diese Weise Zugang zum modernen französischen Publikum. Die Verkleidung stellt einen Akt der Aktualisierung und der ReÄsthetisierung dar. Demgegenüber sind es pédants wie Huet, die für eine größtmögliche Treue in der Übersetzung plädieren. Bayle meint gar, all die Vorwürfe, die man der Antike gemacht habe, resultierten nur daraus, dass die Kritiker die Texte nicht im Original gelesen hätten, sondern nur in Übersetzungen. 806 Dennoch gilt diese Praxis der getreuen Übersetzung auch für die Anciens wie Dacier nicht im Bereich des Obszönen. Während also Obszönität auf Latein durchaus zitiert werden durfte, mussten Kommentierungen und Übersetzungen den Standards der bienséance und der politesse gehorchen. Der lateinische Text erhält auf diese Weise ein subversives Potential. Das Übersetzungsideal der belle infidèle ist Ausdruck der Sprachpolitik, die vor allem seitens der Académie verfolgt wird, also auch institutionell verankert ist. Das Übersetzen antiker Texte wird in der Folgezeit zu einem Betätigungsfeld, auf dem man sich für einen Platz in der Académie empfehlen konnte. Es kommt zu einer »nouvelle vague de la traduction en ces premières années de l’Académie«807. Aus der Sicht der humanistischen Gelehrten handelt es sich bei diesen Übersetzern hingegen um 800 801 802

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Zuber 1968, 19. Vgl. Stackelberg 1972, 585. Vgl. Ménage (31715, t. 2, 186): »Lorſque la verſion de Lucien de M. d’Ablancourt parut, bien des gens ſe plaignirent de ce qu’elle n’étoit pas fidele. Pour moi je l’appellai la belle infidelle, qui étoit le nom que j’avois donné étant jeune à une de mes maîtreſſes. ce mot plaiſoit ſi fort à M. le premier Préſident de Lamoignon, qu’il ne me voyoit jamais qu’il ne me parlât de la belle infidele.« Vgl. Perrot d’Ablancourt 1654, t.1, épitre à Monsieur Conrart, f. ẽ iij v: »Les diuers temps veulent non-ſeulement des paroles, mais des penſées differentes; & les Ambaſſadeurs ont coûtume de s'habiler à la mode du païs où on les envoye, de peur d'eſtre ridicules à ceux à qui ils tâchent de plaire. Cependant, cela n'eſt pas proprement de la Traduction; mais cela vaut mieux que la Traduction; & les Anciens ne traduiſoient point autrement.« Wie Perrot d'Ablancourt im Folgenden am Beispiel von Terenz’ Adaptationen der Komödien Menanders expliziert, besteht seine Übersetzungskonzeption also in einer kreativen Aktualisierung und Neuschöpfung. Vgl. Abramovici 2003, 247–277. So Jean Chapelain in einem Brief an Graziani vom 7. Mai 1670: »Les sales amours se traitent mesmes avec des paroles honnestes et l’on voile les turpitudes des pensées de termes qui les signifient bien, mais qui sont ou métaphoriques ou allegoriques, en sorte que l’auditeur, s’il veut, peut dissimuler de les entendre et que l’oreille les admet sans s’en scandalizer. Cela s’appelle en cette Cour envelopper les ordures, c’est-à-dire les desguiser sans les rendre mesconnoissables.« (Chapelain 1883, t. 2, 684f.). Vgl. zu diesem Ausdruck Jeanneret 2004. Vgl. Bayle 1684 (mars), 87. Zuber 1968, 53.

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Amateure (Encyclopädisten), die nichts mit érudition zu tun hätten. Gemäß ihrem Programm808 passten sie die Sprache des antiken Autors den zeitgenössischen Idealen an, »mit all jenen Eigenschaften […], die einen honnête homme des siebzehnten Jahrhunderts auszeichneten: Urbanität, Höflichkeit, Vornehmheit, etwas Galanterie und viel französisches Überlegenheitsgefühl.«809 Dem honnête homme genügt es aber nicht, wie noch in der humanistischen Praxis, vor einer Obszönität gewarnt zu werden, sondern er möchte »sicheres« Material benutzen.810 Dem Übersetzer standen hierzu, wie Larroque (vermutlich zu Pierre Marteaus Petron-Übersetzung [Köln 1687]) ironisch anmerkt, zwei Möglichkeiten zur Verfügung: [L]e Traducteur ſe donna la liberté de retrancher les endroits les plus obſcenes, ou qu’il ſuprima tout-à-fait, ou qu’il adoucit beaucoup; & d’un Auteur trés impur, il trouva le ſecret d’en faire un Poëte enjoüé & agréable, qui peut même être lû par les Dévotes dans leur moments de délaſſement.811

Dem Übersetzer stehen zwei Verfahren zur Verfügung: Entweder er entfernt (wie manche Editoren) lediglich die obszönen Verse oder ganze Gedichte, die obszöne Passagen enthalten. Terminus technicus für diese Praxis des Entfernens ist das Verb retrancher.812 Juvenals sechste Satire wird so in der Übersetzung von Tarteron (1689) von 661 auf 509 Verse reduziert: »Je ſupprime ce qu’il y a de deshonneſte«,813 sagt er deutlich nüchterner auch zu seiner Horaz-Übersetzung, indem er retrancher durch supprimer ersetzt: »mot plus abstrait remplaçant l’idée de censure par celle d’usage, usage auquel le traducteur aurait dû se conformer«814 Gegenüber der Renaissance, die

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Im Jahr 1638, drei Jahre nach der Gründung der Académie, verfassen u.a. Giry und d’Albancourt eine Übersetzung von acht Reden Ciceros, die Zuber (1968, 60) als »manifeste« der »nouvelle école de traducteurs« ansieht. Ihre Verfasser werden in den folgenden Jahren zu Mitgliedern der Académie ernannt. Stackelberg 1972, 35. Vgl. Abramovici 2003, 229f. Larroque 1706, 129. Vgl. Dictionnaire de l’Académie Françoise 1694, t.2, 589, s.v. Trancher; »RETRANCHER, v.a. Separer une partie du tout, oſter quelque choſe d’un tout. Il faut retrancher pluſieurs branches de cet arbre. il y a pluſieurs chapitres à retrancher dans ce livre«. D’Aubignac benutzt den Terminus für die von ihm veranschlagte Entwicklung von der Alten zur Mittleren Komödie : »Mais comme on eſt aſſez ingenieux à mal faire, ils [sc. les Magiſtrats] retrancherent bien de leurs Poëmes les noms veritables de ceux qu’ils vouloient maltraitter, & en conſeruerent neantmoins des Actions, qu’ils rendoient ſi ſensible, qu’il eſtoit facile à chacun de reconnoiſtre ceux dont ils vouloient parler.« (d’Aubignac 1657, 55f.) Tarteron 1685, epistre du traducteur à un ami, f. ã, vj r. Silvecane 1690 entfernt lediglich die Verse 511–515, die die Selbstkastration Bellons beschreiben. Dubois de Lamolignieres JuvenalÜbersetzung (1801) behauptet dagegen, die Passagen nur verhüllt (gazé) und fast nichts getilgt (supprimé) zu haben, denn »supprimer c’est n’est pas traduire«. Wie Ambramovici (2003, 248) bemerkt, handelt es sich bei dieser Übersetzung allerdings um die am stärksten gekürzte Übersetzung der französischen Klassik. Abramovici 2011, 160f. So begründet Tarteron den Schritt zunächst in der Tat mit den Bedürfnissen der Leserschaft, um dann einzuschränken (Tarteron 1685, epistre du traducteur à un ami, f. ã vj r– vj v): »A la vérité je ne retranche pas certains endroit ſatyriques & piquans, qui ſont autant de fortes invectives & de souverains remedes pour guérir d’une folle paſſion ;

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Sprachbereicherung aus dem Lateinischen betrieben hatte, macht sich die Klassik ebenso wie Port Royal die lexikalische Reduktion des Wortschatzes zur Aufgabe. Das Entfernen der expressions impudiqes dient so der Perfektionierung der Sprache. Auch Bouhours unterstützt diese Idee: »il faut tailler & nettoyer vn diamant, afin qu’il ait cette pureté, & ce feu qui fait tout ſon prix. Ainſi pour polir, pour épurer, pour embellir nôtre langue, il a fallu neceſſairement en retrancher tout ce qu’elle avoit de rude & de barbare.« 815 Diese Ästhetik verkehrt also das attizistische Stilideal der natürlichen Virilität des Ausdrucks: Nicht der Akt des Beschneidens ist nunmehr barbarisch, sondern das Abgeschnittene wird zur Insignie der Schwäche und der Krankheit. Der Prozess wird geradenach umgekehrt, puritas steht nicht am Anfang, sondern am Ende und wird somit erst durch den Akt der Beschneidung und der Reduktion erreicht. Die Anpassung der antiken Werke an die zeitgenössischen Sprachnormen durch Entfernung des obszönen Wortschatzes (als Fehler)816 wird demnach als Mittel des Fortschrittsprozesses gesehen. Gegenüber der kritisch selektiven Bearbeitung der antiken Texte begreifen humanistische Gelehrte diese Entfernung als Verlust, teilweise aus einem enzyklopädischen Impetus wie etwa Bayle,817 teilweise aus Bewunderung der antiken Literatur, wie etwa Nodot, der Petron gegen die Zensur verteidigt, da »la lecture des Auteurs entierement purs« letztlich dazu führe, dass man der »plus beaux monumens de l’antiquité« beraubt sei. 818 Nodot stellt dagegen eine vollständige 819 zweisprachige Ausgabe Petrons her, »parce que les ſcrupuleux l’ont mutilé, & rendu difforme, & que les ignorans l’ont habillé en maſque.«820 Nodots Kritik richtet sich an die modernisierenden Übersetzungen, die das Obszöne entfernen. Neben der gänzlichen Entfernung der obszönen Textpassagen bestand die Möglichkeit, sie durch Paraphrase und Verharmlosung in der Übersetzung zu verbergen. 821 Euphemistische Übersetzungen tragen wiederum eher dazu bei, die Antike der Gegenwart näher zu bringen als sie fremd zu machen.822 Denn sie assimilieren die Texte an die aufnehmende Gesellschaft

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mon ſcrupule en cela iroit trop loin. […] & c’eſt encore une des raiſons qui m’a empeſché de tourner les Odes, dont je n’euſſe pu honneſtement ne pas retrancher une grande partie. « Bouhours 1671, 80. D’Amblancourt spricht im Bezug auf die antiken Original-Texte häufig von défauts/ fautes. Zu dieser Charakterisierung siehe Kapitel 5.2.1. Zu Bayle siehe Kapitel 4.4. Nodot, 1694, t. 1, préface, f. *** 11 r. Nodot legt seine Ausgabe des »vollständigen« Petrons ein angeblich wenige Jahre zuvor in Belgrad gefundenes Manuskript zugrunde, das er 1692 edierte. Tatsächlich geht der lateinische Text auf Pierre Lignage de Vauciennes Versuch einer Rekonstruktion zurück. Siehe Stolz 1987. Nodot 1694, t. 1, préface, f. ** 10 v. Vgl. Nicole 1669, au lecteur, f. ẽ i r – i v: »J’ai choiſi choiſi dans Horace, & dans Iuvenal, celles [sc. des Satires]que j’ay crû les plus capables de ſouffrir la traduction. […] Ie les ay rendus les plus agreables qu’il m’a eſté poſſible ; mais ce n’a pas eſté sans retrancher quelques endroits, ſans en paraphraſer d’autres, & y adjoúter quelque choſe pour en faire la liaiſon.« Vgl. Abramovici 2003, 230. Zu den verschiedenen Möglichkeiten, die moderne Übersetzer im Umgang mit Obszönität ergriffen haben, siehe generell Roberts 2008. Vgl. Stackelberg 1972, 35: »Waren die Übersetzer der Renaissance wie Eroberer gewesen, die erstmals in fremde Länder vorstießen und sie sich unterjochten, so sind die Übersetzer des

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und deren kulturelle Praktiken und sie entfernen subversive Elemente. Sie eröffnen aber dadurch auch Raum für Gegendiskurse, die die so entfernten Elemente reintegrieren oder auf den Akt der Entfernung hinweisen. In dieser Gemengelage der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war es vor allem der Abt Michel de Marolles (1600–1681), der sich durch eine beachtliche Anzahl an Übersetzungen hervorgetan hat und einen interessanten Mittelweg fand. Zwischen 1649 und 1661 übertrug er neben den Augusteern Vergil, Horaz und Ovid 823 (bis auf die Metamorphosen) auch Lukrez, die Epiker Lucan und Statius, die Elegiker Tibull und Properz, die Komödien von Plautus und Terenz, die Tragödien des Seneca sowie die Satiriker Persius und Juvenal vollständig. Besonders aufschlussreich für das Problem der Obszönität sind seine Übertragungen der Epigrammatiker Catull (Les poésies de Catulle de Vérone, en latin et en françois, Paris 1653) und Martial (1655). Hervorzuheben ist, dass die Ausgaben entgegen der Tendenz der Zeit zweisprachig sind und den vollständigen lateinischen Text beider Dichter enthalten. Mit den Mitgliedern der Académie befand sich Marolles im permanenten Streit und war im literarischen Betrieb seiner Zeit, wenngleich er im Salon der Madame de Scudéry verkehrte, eher eine Randfigur.824 Dementsprechend stark wurden auch seine Übersetzungen kritisiert, im 18. Jahrhundert vor allem deshalb, weil sie »trop paraphrasé« seien, darüber hinaus für die »images obscènes, […] qui sont nullement voilés dans sa traduction, quoiqu’il soutienne le contraire«.825 Marolles bewirbt seine zweisprachige Ausgabe von Martial schon im Titel als vollständig (Toutes les épigrammes de Martial en latin et en françois, Paris 1655).826 Auch in dieser Entscheidung positioniert sich Marolles gegen die Marktgesetze (und besetzt damit sicherlich ein freies Marktsegment), denn größtenteils wurden die antiken Dichter nur in Anthologien veröffentlicht. Die reklamierte Vollständigkeit bezieht sich allerdings nur auf den lateinischen Text, für den er sich auch nicht verantwortlich sieht und der, wie erwähnt, für die Frage der Zensur irrelavant war. Marolles integriert explizit die 36 von Rader ausgeschlossenen Epigramme (»que la modestie du Pere Raderus a retranché de son édition ou qu’il a mutilié à cause des

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17. Jahrhunderts eher wie Besatzungstruppen, die das Übersetzungsrecht des Siegers, von dem Hieronymus einst gesprochen hatte, gewohnheitsmäßig ausüben.« Zu Marolles Ovid-Übersetzungen siehe Chatelain 2008, 40–56. Vgl. Zuber 1968, 138. Goujet 1741–1756, t.6 (1747), 78 (mit Bezug auf dessen Übersetzung der Amores Ovids). Gleiches gilt für die Anmerkungen: »Ses remarques loin de ſervir de préſervatif contre le poiſon qui eſt répandu dans l’ouvrage d’Ovide, ſont ſouvent elles-mêmes un nouveau poiſon par cette multitude d’endroits des autres Poëtes qui ont quelque reſſemblance avec les idées d’Ovide, qu’il rapporte en latin & qu’il traduit enſuite.« Sorel dagegen verteidigt sie (1664, 204): »M. de Marollles a traduit les Poëtes Romains en noſtre Langue Françoise, auec vne naiue expreſſion, rendant penſée pour penſée autant qu’il l’a pû faire, pour ce qui eſt de ceux qui ont gardé étroitement les Loix de la pudeur ; & pour les autres, il a touché ſi adroitement aux endroits perilleux, qu’on peux dire qu’il les a purifiez«. Vgl. auch Wetzel 2002, 37f. Im Jahr 1667, also kurz nach der Wiederentdeckung der cena Trimalchionis, die einen wahren Wettbewerb der Petron-Supplementierung verursachte, bringt Marollles eine Übersetzung verschiedener carmina, die unter dem Namen Petrons firmierten heraus (Le Pétrone en vers. Traduction nouvelle, Paris 1667), die er ebenfalls als ouvrage complet betitelt.

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jeunes étudians des Colleges des Peres de la Compagnie«) und markiert sie mit den griechischen Buchstaben Δ, Ω oder Π, »pour donner aduis de les paſſer plus legerement que les autres, quoy que i’en aye oſté ce que ie me suis perſuadé qui eſtoit le plus dangereux, ou qui pourroit ſcandaliſer les foibles.« 827 Diese Art der Warnung führt leicht zum gegenteiligen Effekt und ermöglicht es, diese Epigramme schneller zu finden. Marolles’ Umgang mit dem Obszönen in seiner Übersetzung Martials und Catulls betrifft nur die Wortebene. Obszöne Verben werden von ihm verharmlosend übersetzt, futuere wird beispielsweise im Aktiv mit baiſer 828 (MART. 11.21.4/5 =11.20.4/5 Lindsay) entretenir (MART. 2.31.1), coucher avec (MART. 10.81.1) oder ſervir une femme (MART. 6.33.4) und im Passiv mit ſe laiſſer cajoler (MART.1.34.10)829, eſtre baiſée (MART. 6.31.2; 9.5.1 [=9.4,1 Lindsay]), ſe divertir (MART. 6.67.2; 7.75.1) oder faire la coquette (MART. 3.72.1) übertragen. Epigramm 11.30 an die Prostituierte Phyllis, das zwar in der Sache recht explizit ist, aber keine vulgären Wörter benutzt, ist zwar als obszön markiert, aber recht textnah übersetzt. Der Begriff mentula wird in der Übersetzung bisweilen gänzlich übergangen, sodass etwa 11.19830 und 11.20 nicht einmal als obszön markiert sind. Bemerkenswert ist die Übersetzung von 11.31 (=MART. 11.30 Lindsay): Os male caußidicis & dicis olere poëtis. Sed fellatori, Zoile, peijus olet.831

TV dis, Zoile, qua la bouche des Aduocats & des Poetes ſent mauuais : mais elle ſent encore plus mauuais à vn Lecheur d’ordure, comme toy.832

Den Topos des stinkenden Mundes (os impurum)833 des Fellators erweitert Marolles in der Übersetzung um den Ausdruck ordure, sodass die Tätigkeit als dégoûtant erscheint.

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Marolles 1655, f. ã vj v. Offenbar noch ohne obszönen Nebensinn. Vgl. Dictionnaire de l’Académie Françoise 1694, t.1., 78, s.v. baiser. Dictionnaire de l’Académie Françoise 1694, t.1., 140, s.v. cajoler:»Flater, loüer, entretenir quelqu’un de choſes qui luy plaiſent & qui le touchent. Il a cajolé cette Demoiſelle pendant tout le bal. je l’ay tant cajolé qu’il m’a accordé ce que je luy demandois. Il ſignifie auſſi, Taſcher de ſeduire une femme ou une fille par de belles paroles. Il faut avertir la mere qu’un tel cajole ſa fille. une honneſte femme ne ſe doit pas laiſſer cajoler.« Die Verse MART 11.18.21f.: »et cum stet sine falce, mentulaque, / non est dimidio locus Priapo« (»Und obwohl er ohne Sense und Schwanz dasteht, gibt es nicht Raum (genug) für einen halben Priapus.«) werden übersetzt mit »Il n’y pas la moitié de la place qu’il faut pour le Dieu Priape«(Marolles 1655, t. 2, 287). Der obszöne Begriff mentula wird also geschickt ausgelassen. »Du sagst, Anwälten und Dichtern rieche der Mund schlecht, doch einem Schwanzlutscher, Zoilus, riecht er noch schlechter.« Marolles 1655, t. 2, 296f. (Satz und Hervorhebung im Original) Vgl. MART. 12.85. Zum Motiv siehe Grassmann 1966 3f.; 18f.; 25; 28f.; Lilja 1972, 122–131.

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Die Invektive, die auf der Hierarchie des sexuellen Aktes (fellatio)834 beruht, 835 wird von einer Nahrungsmetaphorik überdeckt und somit als gesundheitsgefährdend ausgedeutet. Die Verbindung lecher l’ordure erinnert an Perraults Ablehnung der Gedichte Catulls (goûter l’ordure). Der Begriff ordure wird wie erwähnt im literarischen Diskurs synonym zu obszön verwendet. Die Übersetzung überblendet also die sexuelle Invektive durch eine rein literarästhetische Polemik, die sich allerdings gut in den Kontext des Epigramms (poetae) einpasst. Daneben wendet Marolles weitere Überseetzungsverfahren an.836 Zum einen werden Verben, die Sexualakte bezeichnen, wie beispielsweise irrumare, mit Indefinita wie »faire bien des choſes« (CATVLL. 38.8=37.8 Mynors) übersetzt, die die Imagination des Lesers eher anspornen als den sexuellen Akt zu verschleiern. Zur Übersetzung des Verbes irrumare als »abuſant de ſon oncle d’une eſtrange ſorte« (CATVLL 74.5 = 75.5 Mynors) konzediert er in den Anmerkungen am Ende des Bandes: »Les termes Latins sont plus forts, mais i’en ai éuité la naïue expreſſion à deſſein, parce que l’honneſté ne la pourroit pas ſouffrir.« 837 Das berühmte »Pedicabo ego vos et irrumabo« 838 übersetzt Marolles mit »Ie vous ferai des eſtranges choſes, & ie ne vous epargnerai point du tout«.839 Er ironisiert damit die sprachliche Prüderie der Preziösen, die gar vor der Verwendung des Wortes chose zurückschreckten, da diese eine obszöne Zweideutigkeit darstelle. 840 Zum anderen enthalten die Übersetzungen am Rand kurze, erklärende Glossen, darunter zum Ende von c. 28: »cecy eſt obscur & touche un ſens impur«.841 Worin dieser ſens impur besteht, bleibt dem Leser zu imaginieren. Zugleich entseht ein gewisser Widerspruch, denn wie kann die Bedeutung der Stelle zugleich unverständlich (obscur) und obszön (ſens impur) sein? Die Lektüre dieser Stelle wird hierdurch erst aufs Obszöne gelenkt und der Leser ermuntert, den obskuren Sinn für sich zu klären. In der Übersetzung von c. 29 lässt Marolles wiederum einen Teil aus, der das Wort

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Fellatio bezeichnet das gleiche wie irrumatio, allerdings aus der »passiven« Perspektive. Vgl. Adams 21990 [1982], 130–134. Die Pointe und die Hintergründe des Epigrammes sind in der Forschung bisher nicht befriedigend geklärt. Vgl. den Kommentar zum Epigramm Kay 1985, 137: »[...]why does Zoilus accuse lawyers and poets of having bad breath? It may be because he thought it was factually true, since such people are the most obvious kind of public speaker, subjects to nervousness and abstention from food, which cause bad breath (cf. 4.4.7f., ps. Arist. Probl. 13.7; Ov. A.A. 3.277f.; Lilja, Odours, p. 129). But it is not an observation made elsewhere, or even particularly pointful. So perhaps Zoilus, when he sais ›os male odet‹ was insinuating that lawyers and poets were fellators (and the words could carry such an implication in M.); but M., a poet himself, pretends not to see his meaning and retorts with the same insult explicitly stated. cf. 11.63.5n.« Vgl. Wetzel 2002, 46f. Marolles 1653, 351. CATVLL. 16.1 Siehe hierzu Kapitel 2.2.3. Marolles 1653, 29. Vgl. Marolles 1655, t. 519 (zu MART. 7.10.1) Vgl. Abramovici 2003, 76. Marolles 1653, 47. Nach Mynors Oxoniana XXVIII, 1–8. Marolles teilt das Gedicht, Muret folgend, in zwei Teile, die in seiner Zählung c.28 und c.29 bilden.

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irrumare enthält (»...«), mit dem Hinweis »Cette piece ne ſe peut traduire entierement«.842 Derartige Randnoten (siehe Abbildung unten) erwecken den Eindruck von Letürenotizen bzw. Textvarianten, wie sie etwa in Codices vermerkt werden. Die Ausgabe erscheint dadurch wie ein individuelles, persönliches Exemplar, das etwa ein Lehrer für seine Schüler annotiert hat. Dessen Erkenntnisse lassen sich auf diese Weise nutzen, lenken aber zugleich die eigene Lektüre. Anders als bei Fuß- oder Endnoten, nähert man sich dem Text hier von der Seite und betrachtet die Informationen weniger historisch-fundierend, sondern auf der Höhe des Textes selbst.

Abbildung 6: Les poésies de Catulle, trad. Marolles (Paris 1653), 48f. (Quelle: BnF)

Durch das Verfahren der expliziten Auslassung wird der Leser wiederum zur Mitarbeit aufgefordert, sich die obszönen Handlungen zu imaginieren und dazu den lateinischen Text auf der linken Seite genauer anzusehen. Solche Fälle von angedeuteter, aber verschwiegener Obszönität sind aus der antiken Dichtung wohl bekannt. Martial beschreibt z.B. im mythischen Exemplum der Masturbation Penelopes das Sexualorgan als Leerstelle durch ein Demonstrativum (solebat / illic Penelope habere manum). Am pointiertesten geschieht ein narrativer Abbruch im Moment des Sexualaktes sicherlich in Ovids Amores 1, wo er eine Liebesszene narrativ zuspitzt und an der entscheidenden Stelle mit cetera quis nescit? abbricht. 843 Schmitz’ Deutung dieses Verfahrens bei Ovid als eine Parodie, d.h. ein Bloßlegen der literarischen Konventionen, kann sicherlich auch für Marolles’ Übersetzungsstrategien geltend gemacht werden:

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Marolles 1653, 49. Nach Mynors Oxoniana XXVIII, 9–15. Ebenso bricht er auch c.80 (81) mit der Bemerkung ab: »[le reſte ne ſe peut traduire]« (Marolles 1653, 209). Vgl. Marolles 1653, 39 den Abbruch am Ende von c.21 (inrumatus): »à force de te hanter……«. OV. am. 1.5.24f.: »et nudam pressi corpus ad usque meum. / cetera quis nescit? lassi requieuimus ambo.« (»Und ich presste die Nackte an meinen Körper, das Weitere, wer weiß es nicht? Ermattet legten wir beide uns zur Ruhe.«)

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Der Leser soll […] die Andeutungen nicht in einem schamhaften Dunkel lassen, sondern er wird zur Wachsamkeit aufgefordert, in welcher Metapher, in welchem Indefinitpronomen, in welcher auch nur halbvollzogenen Erzählung etwa eine sexuelle Anzüglichkeit liegen könnte. Somit wird ihm hier recht eigentlich zu Bewusstsein gebracht, was sich hinter den euphemistischen Periphrasen verbirgt.844

Marolles’ Catull-Übersetzung lässt so in der Transformation der antiken Obszönität als Unbestimmtheitsstelle ihr subversives Potenzial aufscheinen und vollzieht durch sie einen Akt der »contre-censure«.845 Die verschleiernde Übersetzung, die die Mitarbeit des Lesers erfordert, bedient sich paradoxerweise gerade der Strategien, die Quintilian und Bayle als besonders obszön und gefährlich gewertet haben. Eine ähnliche subversive Strategie verfolgt Alexandre-Frédéric-Jacques Masson de Pezay (1741–1777) mit seiner zweisprachigen Ausgabe Catulls (Traduction en prose de Catulle, Tibulle et Gallus, 2 Bde., Amsterdam 1771846) mehr als einhundert Jahre später. Im Vorwort und in den Anmerkungen bedient er die ästhetischen Normen der Zeit (»goût«, »bon sens«, »décence«, »pureté«) und schreibt sich damit in die Übersetzungspraxis der belle infidèle ein. Vage spricht er nur von Catulls »réputation un peu ſcabreuſe«,847 die Veränderungen nötig gemacht hätten. Die obszönen Gedichte bezeichnet er als »ordures« und »pieces crapuleuses«. Anders als Übersetzer des 17. Jahrhunderts spricht er allerdings nicht davon, eine Auswahl getroffen zu haben (j’ai choisi), sondern von Bewahren (conserver) und Verbannen (reléguer), d.h. Separieren (séparer),848 vom gänzlichen Tilgen (supprimer) nimmt er allerdings jeweils Abstand: »le texte des morceaux ſupprimés, conſervé en entier à la fin de cette edition«.849 Seine Übersetzungspraxis beschreibt er mit den Verben »adoucir« (162), »retrancher« (253, 255) und »ſupprimer (la verſion)« (317). Auch der Form nach genügt Pezay den Anforderungen der bienséance, die allerdings in dieser Zeit unter vermehrter Kritik stand.850 Insgesamt ist das catullische Textkorpus bei ihm dreigeteilt, diese Einteilung entspricht allerdings nicht der üblichen humanistischen Einteilung nach metrischen oder gattungspoetischen Gesichtspunkten, sondern Pezay unternimmt eine hierarchische Separierung nach sprachlich-stilistischen Kriterien: zunächst die galanten

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Schmitz 1998, 339f. Abramovici 2003, 241. Im Jahr 1771 erschienen in Amsterdam bei Delalain zwei nicht weiter unterschiedene Druckversionen mit unterschiedlicher Paginierung, wobei die vermutlich frühere (mit zahlreichen Druckfehlern, siehe die Errata-Liste am Ende des Bandes) den ersten Band, der Catull enthält, mit 427 Seiten und ein vermutlich späterer, bereinigter Druck mit 327 Seiten ausweist. Aus letzterem wird im Folgenden zitiert. Pezay 1771, t.1, ix. Pezay 1771, t.1, ix: »Ce que j’en ai conſervé, & oſe offrir ſous leur beaux yeux [sc. des Dames], ne les fera jamais baiſſer. J’ai même eu ſoin de reléguer, dans un petit Livre ſéparé, celles des Épigrammes que j’ai cru devoir conſerver.« Vgl. ebd.: »J’ai rejetté dans les Notes les remarques littéraires & critiques. Les Dames ſeront, par-là, encore plus diſpenſées de les lire.« Vgl. ebd. 162f. Pezay 1771, t.1, 163, vgl. auch 304; 308. Vgl. hierzu Kapitel 5.2.2.

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Gedichte, dann die Satyres & Epigrammes, 851 die »[s]ans allarmer abſolument la pudeur, […] ſortent du ton & du genre des autres Piéces«, 852 sowie die obszönen Gedichte (»Carmina Catulli nimium obscoena, obscura aut inelegantia«) 853 – von denen nur der lateinische Text abgedruckt ist. Am Ende des Bandes finden sich »Notes sur les pieces de Catulle, que l’on a pas cru devoir traduire, & dont on n’offre que le texte dans cette Édition.«854 Wie in den Editionen ad usum Delphini erhält der Leser hier also ein Kompendium der obszönen Gedichte Catulls. Bei genauerer Betrachtung enthalten aber auch die ersten beiden Teile Gedichte, die durchaus hätten aussortiert werden können. Zu Beginn des discours préliminaire begründet Pezay seine Übersetzung einerseits damit, »que les gens du monde sçavent très rarement le Latin«, und anderseits, dass »Catulle & Tibulle ne peuvent pas être traduits par un pédant.« 855 Das Vorwort grenzt sich also von (vermeintlichen) konkurrierenden, auf getreue Übertragung ausgerichteten Übersetzungen ab. Pezay wendet sich explizit an eine weibliche Leserschaft: »Je dédie la mienne [sc. la Traduction], telle qu’elle eſt, à toutes les femmes. J’en excepte ſeulement celles qui iront comparer la Verſion avec le Texte. Je n’aime point les Dames qui ſçavent le Latin, & ne courerai jamais riſque de perdre le mien avec elles.«856 Auf diese Weise begründet Pezay auch den Umstand, dass er die obszönen Gedichte auf Latein separat mitveröffentlicht hat. Er habe sie bewahren (conserver) wollen, ohne jedoch die pudeur der Leserinnen zu verletzen.857 Dies kann freilich ebenso leicht als Handlungsanweisung gelesen werden, sich erst recht mit dem lateinischen Original zu beschäftigen. 858 Diese vordergründige Ablehnung der Pedanterie und der Kenntnis des Lateinischen wird dann in den erklärenden Anmerkungen am Ende des Bandes (»notes«) auf zwei Weisen unterlaufen: Einerseits wirken Edition und Ausgabe seltsam unfertig. Der Band ist durchzogen von 851

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Pezay 1771, t. 1, 161–201. Pezay 1771, t. 1, ix. Bei den »Satyres & Epigrammes« handelt es sich nicht um die üblicherweise als Epigramme behandelten c. 69–116, sondern um 12, 17, 29, 22, 23, 39, 36, 89, 91, 42, 43, 14, 40, 47, 52, 53, 58, 78, 83, 93, 110, 44, 35, 49, 96. Pezay 1771, t. 1, ix. Pezay 1771, t. 1, 203–230. Es handelt sich hierbei um die carmina 10, 16, 21, 24, 25, 28, 33, 37, 41, 54, 56, 57, 59, 67, 69, 71, 74, 77, 79, 80, 81, 84, 88, 90, 94, 95, 97, 98, 100, 102, 103, 104, 105, 106, 108, 111, 112, 113, 114, 115, 116, frg. 1, sowie die Priapea 3 und 2 der Appendix Virgiliana. Pezay 1771, t. 1, 311. Pezay 1711, t. 1, iii. Pezay begründet diese mit der praktischen Lebenserfahrung, die ihn von den universitären Experten unterscheide (Pezay 1711, t. 1, iiif.): »Il faut, pour entendre Catulle, connoître un peu l’yvreſſe du vin de Tokay & les caprices des jolies femmes; ce qu’un Émérite de l’Univerſité peut fort bien ne pas ſcavoir. Pour ſaisir l’eſprit de Tibulle, & le rendre, il faut avoir aimé, ce dont Vaugélas & d’Ablancourt ne ſe ſont doutés de leur vie. On peut cependant connoître la bonne compagnie, les jolies femmes, & le bon vin, & faire une mauvaiſe Traduction.« Pezay erweitert hier die horazische Produktionsästhetik, nach der Dichter die emotionalen Zustände, die sie hervorrufen wollen, selbst durcherlebt haben müssten (ars. 101f), auf Taten und macht damit seine Übersetzung gewissermaßen zur Bekenntnisschrift. Pezay 1771, t. 1, viiif. Pezay 1771, t. 1, ix. Wetzel 2002, 64 konstatiert, dass »es allerdings wenig Sinn [macht], daß er trotzdem den lateinischen Text seiner französischen Version direkt gegenüberstellt«, zieht jedoch keine weiteren Schlüsse aus Pezays widersprüchlichen Epitexten.

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Bekundungen des eigenen Unvermögens und der Unabgeschlossenheit. 859 So deutet Pezay an, dass seine Einteilung offenbar nicht besonders durchdacht ist, da er »zugibt«, drei Gedichte zunächst vergessen zu haben, die er dann unter den zweiten »Rang« einordnen musste. Dass diese Einteilung keineswegs fest ist, wird in einer Anmerkung zu c.96 deutlich: Comment le même homme a-t-il compoſé cette philoſophique & dégoûtante Épigramme, sur la conſtipation de Furius, & ces vers, expreſſion du ſentiment le plus tendre comme le plus honnête? Comment pourrai-je me pardonner l’oubli qui me force à mettre cette joli piéce au rang des Épigrammes & des Satyres de Catulle?860

Andererseits wird in den notes durchgängig die Nachrangigkeit der französischen Übersetzung gegenüber dem lateinischen Original und die Schwierigkeit einer adäquaten Übersetzung beklagt. In den notes herrscht diesbezüglich eine Spannung zwischen Aussagen, die von einer Übersetzung der Obszönitäten zurückschrecken und Aussagen, die den Verlust des Witzes (sel)861 oder des sublime862 durch die Übersetzung beklagen. Auf die Obszönität im Lateinischen macht der Übersetzer explizit aufmerksam, indem er noch zusätzlich auf Abweichungen vom Original verweist, das er in der Regel noch einmal explizit anführt und sich für die nicht wörtliche Übersetzung entschuldigt: »Ceux qui ſçavent le Latin, & qui n’aiment pas les ordures, pardonneront, en conſéquence, la verſion peu littérale des mots: Cur non tam latera exfutata pandas & quelques autres.«863 All diese Signale fordern den Leser auf, sich intensiver mit dem Text zu beschäftigen und sich Gedanken über die Zulässigkeit der graduellen Zensur zu machen. Die als Satyres & Epigrammes betitelten Gedichte haben gemeinsam, dass »[l]e ſel de la plûpart conſiſte dans des perſonalités dégoûtantes, qu’il faut toujours adoucir pour les rendre ſupportable.«864 Innerhalb dieses Teils wird nun vermehrt von der Praxis des adouciſſement Gebrauch gemacht. Wie Pezay gleich zur Übersetzung von c. 6 anführt, sei hier ein »très grand adouciſſement de l’expreſſion latine, ſcortum febricolosum [fiebrige Hure]« nötig geworden, welche er als aimable coquine übersetzt. Und er kündigt an, im Folgenden immer so zu verfahren, wenn »Catulle ſe met un peu à ſon aiſe avec ſes amis«.865 Pezay erklärt die Obszönität also mit der intimen Privatheit des Schriftverkehrs. Die graphische Ellipse, die in der Edition von Théophiles Phylis,

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Wetzel 2002, 66 nimmt dagegen diese Aussagen offenbar ernst und führt die Unzulänglichkeiten auf unzureichende Lateinkenntnisse und einen nicht sorgfältigen Umgang mit dem Textkorpus zurück. Gerade vor dem Hintergrund der Übersetzung Marolles’, die sie ebenfalls behandelt, ohne auch hier die Strategien der »Contre-censure« zu bemerken, wird jedoch deutlich, dass Pezay an Marolles anschließt und die Leserlenkung und Aufforderung zur Mitarbeit noch verstärkt. Pezay 1771, t.1, 309. Pezay 1771, t.1, 305f. Pezay 1771, t.1, 306. Pezay 1771, t.1, 239 (Hervorhebung im Original). Pezay 1771, t.1, 162. Pezay 1771, t. 1, 239.

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tout est …outu die Mitarbeit des Lesers offenlegte, nutz Pezay ebenfalls in seiner Übersetzung. Die Auslassung stellt geradezu seine Methode dar, die er in der Übersetzung der Verse 14–16 von c.15 ausdrückt (»Quod si te mala mens furorque vecors / in tantam impulerit, sceleste, culpam, / ut nostrum insidiis caput lacessas« [»wenn aber schlechter Verstand und Wahnsinn eine solche Schuld auf dich, Verbrecher, gebracht hat, dass du mein Leben mit Listen angreifst«]). Indem er in der Übersetzung von Vers 16 (»tu fus assez monstre pour me….Ah Scélérat« 866 ) den Begriff monstre benutzt, charakterisiert er das Verbrechen – verglichen mit dem neutraleren lateinischen Begriff insidiae – stark empörend (Ah Scélérat). Wenn er dann das Verbrechen selbst im Vagen lässt (»…«), zwingt er den Leser, eine Abscheulichkeit zu imaginieren, und macht ihn damit eben zu jenem, der das Verbrechen in seinem Geiste plant. In die Kategorie nimium obscoena gehören vor allem die Gedichte mit sekundärer Obszönität, d.h. mit Erwähnungen oder Beschreibungen sexueller Praktiken. Ebenfalls nicht übersetzt werden Gedichte, in denen Prostitution thematisiert wird, anderseits wird aber wie gesehen c. 6 übersetzt. Von den Lesbia-Gedichten werden c.11 und c.58, die dieser Prostitution vorwerfen, in die obszöne Kategorie degradiert: »Le baiſer ſur la bouche étoit ſans conſéquence chez les Anciens, & de même chez nos grands-peres. Aujourd’hui les levres de deux Amans l’épurent; mais d’homme à homme, il ne ſeroit qu’un objet de dégoût. Il ne me plaît gueres plus de femme à femme.«867 Als Erklärung dafür, dass er bestimmte Gedichte überhaupt übersetzt und in seine Edition aufgenommen hat, führt Pezay interessanterweise ein öffentliches Interesse an. Darüberhina forder er ironisch zur Aktualisierung auf Un moyen de les [sc. des perſonnalités dégoûtantes] rendre piquantes ſeroit, sans doutes, d’y ſubſtituer des Perſonnages vivans aux Romains oubliés & lacérés par les iambes de Catulle. De ce moment, les injures deviendroient de bonnes plaiſanteries, les groſſieretés des faillies, les ordures des gaités; le ſuccès ſeroit certain. Je le laiſſe à d’autre; & ne l’envie pas.868

Pezay funktioniert Catulls Gedichte auf diese Weise zu einem Schlüsselroman um, indem er die Imagination des Lesers auffordert (Je le laiſſe à d’autre), gerade die obszönen Gedichte auf Zeitgenossen zu übertragen. Auf ironische Weise kommentiert er die Oberflächlichkeit und Hypokrisie der modernen politesse und den vermeintlichen Zivilisierungsprozess. Pezay redet damit der seit der Klassik verpönten Personen-Satire das Wort, die aber seiner Meinung nach obszöne Beleidigungen und degoutante Beschreibungen in plaisanterie verwandle. Die Aussage lässt sich auch als ironischer Kommentar auf die Übersetzungspraxis der belle infidèle lesen, der die Forderung nach Aktualisierung und Anpassung an die zeitgenössischen Gegebenheiten konsequent zuende denkt.

866 867 868

Pezay 1771, t. 1, 19. Pezay 1771, t. 1, 241 (zu c.9). Pezay 1771, t. 1, 163.

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⁎⁎⁎ Die philologische Reinigungsarbeit konzentriert sich auf die verba. Die sprachliche Trennung wird formal in die Ordnung der Ausgaben selbst übertragen. Gegenüber denjenigen Herausgebern, die im Sinne des bon gôut besonders gelungene Texte auswählen und den Rest dem Vergessen überlassen, etabliert sich eine philologische Praxis, die die Integralität des Textes durch Anpassung bewahrt. Dies geschieht einerseits durch räumliche Separation, d.h. Marginalisierung (Addendum) oder durch sprachliche Anspassung durch Überdeckung des Obszönen (Ver-Kleidung) an die ästhetischen Normen der honnêtes gens. Hervorzuheben sind hierbei die Ausgaben von Marolles und Pezay, die die Zweisprachigkeit der Edition für subversive Strategien der Gegenzensur nutzen, indem sie sich den Leser durch seine Mitarbeit zum Komplizen machen. Der Impetus, die antiken Texte als Gegenstand des Wissens bewahren zu wollen, wird vor allem die Aufklärungsphilosophen auf den Plan rufen. Die Frage des Bewahrens geht mit einer Theoretisierung des Phänomens der Obszönität einher, die in Pierre Bayle ihren Höhepunkt findet.

4.4 Pierre Bayle und die Rationalisierung des Obszönen Das Projekt der Aufklärung eint ein kritischer Umgang mit überkommenem Wissen und die Suche nach Wahrheit. Rationale Philosophen wie Malebranche und Pierre Bayle sehen, wie Hazard betont, ihre Aufgabe darin, Störungen der Ordnung in der Welt wie etwa die Sünde zu erklären und sie so gewissermaßen unschädlich zu machen.869 Ein solcher »reflektierter Rationalismus« (rationalisme réfléchi, Kojève) geht in der Regel mit einem (naiven oder kritischen) Positivismus einher. 870 Insbesondere Bayles historisch-kritische Methode besteht, wie Cassirer bemerkte, paradoxerweise nicht in der Entdeckung des Wahren, sondern in der Entdeckung des Falschen. 871 In dieser Hinsicht beschäftigt ihn als Historiker auch die antike Obszönität. Bayles Eclaircissement sur les obscénités (1701)872 ist zweifelsohne einer der wichtigsten Texte des Obszönitätsdiskurses der französischen Aufklärung. Als Reaktion auf die immense Kritik an seinem Dictionnaire historique et critique (1697) sah er sich 869

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Sie stehen in dieser Zielführung dem Epikureismus nahe. Vgl. Hazard 1961, 131: »Or, si nous considérons le monde, nous y constatons, à coté d’un ordre général indéniable, des désordres embarrassants. Les phénomènes, les monstres dénoncent l’existence du mal physique; le péché dénonce l’existence du mal moral. Ces désordres, la tâche du philosophe est de les expliquer. Pour que, dans aucun cas, l’anormal ne se produisît.« Vgl. auch Jossua 1977. Kojève 2010, 109. Cassirer 2007 [1932], 214. Vgl. Bayles Lettre à Jean de Naudis vom 22. Mai 1692 (Bayle 1737, t.1, 162): »Environ le mois de Novembre 1690, je formai le deſſein de compoſer un Dictionnaire critique qui contiendroit un recueil des fautes qui ont été faites, tant par ceux qui ont fait des Dictionnaires que par d’autres Écrivains, & qui réduiroit ſous chaque nom d’homme ou de Ville, les fautes concernant cet homme ou cette Ville.« Zu Bayles gesellschaftlicher posture im wissenschaftlichen Feld siehe Abramovici 2003, 175.

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offenbar gezwungen, für dessen Neuauflage mehrere Eclaircissements anzufügen, dessen viertes und längstes der Obszönität gewidmet ist. Die lang anhaltende Kritik bringt Phillipe Joly (Remarques critiques sur le dictionnaire de Bayle, 1748) auf den Punkt: IL EST inutile de dire que ſon Dictionnaire eſt rempli d'obſcénités. […] je me garderai bien d'indiquer les Articles qui mettroient la choſe en évidence. Tout ce que je puis dire en général, ſans crainte d'être démenti, c'eſt qu'il n'y a rien d'impur dans Catulle, Horace, Ovide, Perse, Juvénal, Martial, Pétrone, &c. rien d'infame dans Brantôme, Montaigne, La Mothe le Vayer, Buſſy & La Fontaine; rien d'obſcène dans les Médecins, les Phyſiciens, les Avocats, & dans les Romans ; rien enfin de ce qu'une imagination corrompue peut ſe repréſenter de ſale, que ce cynique Ecrivain n'ait raſſamblé, comme de gayeté de cœur, dans ſon Dictionnaire. On diroit qu'il a voulu que cet Ouvrage fût le répertoire de toutes les ordures dont les Libertins d’une certaine trempe aſſaiſonnent leurs conversations. Mais tirons le rideau ſur tant d'infamies.873

Der Vorwurf, eine obszöne Sammlung für die Libertins geschaffen zu haben, war bereits Garasse gemacht worden.874 Bayles positivistische Methode führt, so der Vorwurf, zur Bewahrung von Dingen, die nicht nur dem Vergessen bestimmt sein sollten, sondern gar schädlich sind (ordures). Dem obszönen Kanon der Antike (Catulle, Horace, Ovide, Perse, Juvénale, Martial, Pétrone) wird im Sinne einer Parallele ein französischer an die Seite gestellt (Brantôme, Montaigne, La Mothe le Vayer, Bussy et La Fontaine), wobei angedeutet wird (»etc.«), dass die Antike noch weitaus mehr »Material« zur Verfügung stellt, das aber dem Topos entsprechend besser ausgespart wird. Bayles kritischer Positivismus (oder Skeptizimus)875 resultiert, so Kojève, aus dem Konflikt von Vernunft (raison) und Fakten oder von Identität und Realität (Meyerson). Bayle vertritt eine relative Wahrheitstheorie, aus der wiederum ein Fortschrittsgedanke resultiert: Gegenüber dem reflektierten Rationalismus, der von einer absoluten Realität ausgeht, zu der nur die Vernunft Zugang hat und dem naiven Positivismus, der von einer kohärenten und daher kommunikablen Realität ausgeht, die man als – wenn auch nur zum Teil – »korrekt« bezeichnen müsse, ist Bayle die Ansicht, dass, da die Theorien, über die die Vernunft verfügt, nicht immer kohärent und kommunikabel sind, auch die Realität durch die Theorie nicht immer korrekt bezeichnet wird.876 Der absoluten Wahrheit könne man sich also nur additiv annähern, wie es Kojève treffend expliziert:

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Joly 1748, xxiv. Wie Abramovici (2003, 53) bemerkt, ist dieser Text fast wortwörtlich von Le Febvre 1737, 12 entnommen. Vgl. Ogier 1623, f. ẽ iiij v :»[Garasse r]amaſſe tout ce qu’il y d’ordure, & de boüe, & ne craint point d’en patroüller ſon Liure, ou pluſtoſt ſon pot pourry.« Siehe hierzu Kapitel 2.3.3. Vgl. Völkel 1987, 212–217. Kojève 2010, 76f.

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»Il suffit que la théorie partielle révèle une partie du réel tel qu’il est ›en soi‹. Elle pourra donc jouer le rôle que les évidences jouaient dans le rationalisme réfléchi – le rôle des théories noyaux, des théories définitives, auxquelles les nouvelles viendront s’ajouter sans jamais les contredire. Et il y aura ainsi un progrès (collective) indéfini vers la théorie-vérité, révélant la totalité du réel.877

Trotz der philosophischen Systematik des Eclaircissement, die ahistorische Unterscheidungen trifft, ist der Essay durchzogen von historisierenden, teleologischen Einordnungen und Moralisierungen. Bayle klärt so auch das Obszöne auf, indem er eine differenzierte Ver- und Anwendung des Begriffes einfordert. Er bringt Licht ins Dunkel, 878 auch an den Ort des Obszönen, das bis dahin von der theoretischen Diskussion der Aufklärung eher marginalisiert und unkritisch behandelt wurde. Er erhebt damit das Obszöne von der Doxa zur Episteme. Zu Beginn des Eclaircissement liefert Bayle neun Lesarten des Satzes »Il y a des obscenitez dans quelque livre.« Von diesen neun Kategorien (classes), die er entwirft, interessieren ihn für den Verlauf seines Textes insbesondere zwei, nämlich die erste, zu der paradoxerweise die erotische Literatur Ovids zählt, und die neunte als deren Extrem, in der Bayle sich als aufklärerischer Wissenschaftler selbst sieht. Seine Kritiker, die er abschätzig als (espèce de) Puristes879 bezeichnet, schienen, so seine Replik, nur die erste zu kennen und ihn fälschlicherweise dort eingeordnet zu haben.880 Gegenüber einer generellen Verdammung von Texten, die Obszönitäten enthalten, vollzieht Bayle eine Diskursivisierung und Polyphonierung des obszönen Textes und schlägt ein differenziertes und abgestuftes Verhältnis von Autor und obszönem Text vor. Die Frage, die Bayle umtreibt, ist also die einer »censure avec raison«. Gegenüber einer rein rezeptionsorientierten Argumentation belebt Bayle die Funktion und Intention des Autors wieder. Denn l’on ſeroit fort injuſte ſi l’on prononçoit la même condamnation contre tous les écrivains qui apartiennent à la ſeconde claſſe. Les cent Nouvelles nouvelles, celles de la Reine de Navarre, le decameron de Boccace, les contes de la Fontaine ne meritent point la même rigeur que les raggionamenti de l’Aretin, & que l’Aloisia Sigæa Toletana. Les auteurs de ces derniers ouvrages meritent d’être envoiez avec Ovide dans la premiere claſſe des auteurs obſcênes.881 877 878 879

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Kojève 2010, 77. Vgl. Bayle 1684 (mars), 211 »Ainſi nous voilà dans un Siecle qui va devenir de jour en jour plus éclairé, de ſorte que tous les Siecles precedens ne ſeront que tenebres en comparaiſon.« Z.B. Bayle 1702, 3172. Bayle sieht daher in der Frage der Obszönität weniger eine Querelle des Anciens et des Modernes als vielmehr einen immer schon währenden Gegensatz zwischen den »Puristes« und der »faction des Anti-puriſtes«: »la Republique des lettres a toûjours été diviſée en deux partis là-deſſus« (ebd.). Vgl. auch Bayle 21686 (Janvier), 79: »ceux qui aiment à ne ſuivre pas le torrent, commence à retourner aux vieux préjugez. Tel eſt le génie de l’homme, ceux qui aiment davantage les choſes nouvelles, ne laiſſe pas de prendre parti pour les anciens, lors qu’ils remarquent que trop de gens critiquent l’Antiquité.« Bayle 1702, 3163: »Il ne ſera pas dificile deſormais de bien connoître ſi mes cenſeurs ont raiſon, ou ſ’ils ont tort. Toute l’afaire ſe reduit à ces deux points; 1. ſi parce que je n’ai pas aſſez voilé ſous des paraphraſes ambiguës les faits impurs que l’hiſtoire m’a fournis, j’ai merité quelque blâme: 2. ſi parce que je n’ai point ſuprimé entierement ces ſortes de faits, j’ai merité quelque cenſure.« Bayle 1702, 3159.

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Bayle nimmt also eine Klassifikation und graduelle Abstufung des Obszönen vor. Zwischen den neun Klassen gibt es Abstufungen der Intensität und der Intentionalität. Der sozialhierarchische Begriff »classe«882 mag hier – in Anspielung auf den Index librorum prohibitorum, der drei classes verbotener Bücher unterteilt – nicht zufällig gewählt sein, da, wie gesehen, im 17. und 18. Jahrhundert eine enge Verflechtung von ästhetischem und sozialem Diskurs besteht. Die hierarchische Wertigkeit wird allerdings umgekehrt. Die sozialhierarchische Zuordnung von Autoren bietet somit Identifikations- und Zuweisungspotenzial im Rahmen sozialer Gruppenbildung. Die erste Klasse obszöner Autoren besteht nach Bayle darin, que l’auteur donne en vilains termes la deſcription de ſes debauches, qu’il s’en applaudit, qu’il s’en felicite, qu’il exhorte ſes lecteurs à ſe plonger dans l’impureté, qu’il leurs recommande cela comme le plus ſûr moien de bien jouïr de la vie, & qu’il pretend qu’il faut ſe moquer du qu’en dira-t-on, & traiter de contes de vielle les maximes des gens vertueux.883

Während sich also nach Bayle die Autoren der ersten Kategorie mit der Obszönität brüsteten, beschreibt er die zweite Klasse als Autoren von avantures amoureuses inventées, die Obszönität in die Erzählung einflechten, »afin que ce ſoient des narrations divertiſſantes, & plus propres à faire naître l’envie d’une intrigue d’amour qu’ à toute autre choſe.«884 Während also im ersten Fall die Obszönität Selbstzweck zu sein scheint und allein der Provokation dient, steht sie im zweiten (und auch in den übrigen Kategorien) im Dienste des Textes und des plaisir. Überraschend ist, dass gerade Ovid zum Exemplum für die größtmögliche Obszönität genannt wird.885 Wie gesehen sieht Bayle Ovids Liebesdichtung gerade dadurch als besonders gefährlich an, dass sie mit Anspielungen und Metaphorik arbeitet und so das Obszöne zur Hälfte das Werk des Lesers wird. 886 Es fällt nicht schwer, diese erste Klasse auch der offensive obscène der Libertins wie Théophile de Viau zuzuordnen.887 Ferner unterscheidet sich die erste Kategorie von allen anderen in ihrem Bezug zum Autor. Während der Autor dieser Kategorie von seiner eigenen, offenbar realen, obszönen Handlung berichte, handele es sich in den übrigen entweder um fiktive Ausschweifungen oder Sekundärberichte. Kriterium der Abstufung sind also Distanz und Distanzierung des Autors von den beschriebenen Handlungen.888 Bayle unterteilt Obszönität im Eclaircissement also nach ihrem Schädlichkeitspotenzial. Obszönität, die moralisch kritisiert wird, sei demnach weniger schädlich und

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Furetière 1690, s.v. claſſe: »Distinction de perſonnes, ou de choſes, pour les ranger ſelon leur merite, ou leur valeur, ou leur nature. Homer, Virgile, & Corneille ſont des Poëtes de la première claſſe. Lucain, Claudian ſont d’une claſſe au deſſous.« Bayle 1702, 3159. Bayle 1702, 3159. Zur Ovid-Rezeption im 17. Jahrhundert siehe generell Taylor 2017, zu Bayle 141–162. Siehe hierzu Kapitel 2.1. Vgl. die Einschätzung Baillet 1722, 143, Anm. 4: »Les Priapées conſiſtent en de courtes piéces pleines de vilaines mots. L’Art d’aimer d’Ovide eſt un ouvrage d’haleine, où il n’y a d’ordures que dans le ſens, & point du tout dans les expreſſions.« Siehe hierzu Kapitel 2.3. Vgl. Crousaz 1733, 221.

Rationalisierung des Obszönen

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wirke gewissermaßen als Gegengift. Diese Sicht auf den Umgang mit dem Obszönen findet sich, wie gesehen, auch in der Aristophanes-Schullektüre des Protestanten Grynaeus.889 Auch im Dictionnaire hatte Bayle Ovid einen eigenen Artikel (anders als Martial, Horaz, Juvenal und Petron) gewidmet und ihn dort als Gipfel der Obszönität gewertet: Les écrits d’amour de ce poëte ſont les plus obſcènes qui nous reſtent de l’antiquité. Ce n’eſt pas que l’on y trouve les expreſſions ſales qui ſe voient dans Catulle, dans Horace, dans Martial, ni les infamies du peché contre nature dont ces trois poëtes ont parlé fort librement; mais la delicateſſe & le choix des termes dont Ovide s’eſt piqué rendent ſes ouvrages plus dangereux, puis qu’au reſte ils repreſentent d’une façon très-intelligible, & très-élegante toutes les friponneries & toutes les impuretez les plus laſcives de l’amour. Il n’en parle point ſur la foi d’autrui, mais comme de choſes qu’il a pratiquées.890

Diese Bewertung Ovids erfolgt in einer umfangreichen Fußnote, in der Bayle Amores 2.10.27–38 anführt und als biographisches Bekenntnis dafür liest891, dass »il fut adonné furieusement au plaisir venerien.« 892 Bayle formuliert auch hier seine These, dass Ovids Sprache (la delicatesse & le choix des termes) weitaus gefährlicher sei als die primärer (les expressions sales) und sekundärer Obszönität (les infamies du peché contre nature), wie sie bei Martial, Catull und Horaz anzutreffen sei. Der Vergleich mit Martial, Catull und Horaz dient hier zur Klassifizierung. Wie gesehen galten etwa Saint-Évremond und Perrault gerade Martial und Catull als die obszönsten Autoren der Antike und wurden als Vergleichspunkt benutzt, um wiederum die Obszönität bei Petron zu relativieren. Gerade die elegante und metaphorische Repräsentation des Sexualaktes ist Bayle Gegenstand der Kritik. Er führt hier also auch eine sprachliche Gradation durch. Gegenüber der etwa bei Cicero greifbaren Differenzierung in res und verba (fam. 9.22), bzw. primäre und sekundäre Obszönität, erfahren die verba eine Klassifizierung in expressions sales und expressions elegantes/delicates. Die Wahl der Worte ist offenbar hierarchisch geordnet. Die Idee der vilains 893 termes, die laut dem Eclaircissement charakteristisch für Klasse eins der Obszönität ist, bezeichnet nun gerade nicht die direkte Obszönität (termes sales), sondern die Metaphorik. Sie erzeugen Obszönität 889 890

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Siehe Kapitel 3.3. Bayle 1702, s.v. Ovide Nason (Publius), t. 3, 2272, remarque AΔ. Diese (insgesamt sehr ausführliche) Anmerkung ist eine Hinzufügung der zweiten Auflage, in der ersten Auflage findet sich lediglich der Verweis auf Amores 2.10.27–38 als Beleg für den plaiſir Venerien (siehe folgende Fußnote). Bayle 1702, s.v. Ovide Nason (Publius), t. 3, 2271, remarque AΔ: »Il nous aprend lui-même les forces qu’il avoit reçuës de la nature à cet égard-là; & l’uſage qu’il en avoit fait. Exigere à nobis anguſta nocte Corinnam/ Me memini numeros ſuſtinuiſſe novem. (h) Ovid. amor. Lib. 3. eleg. 7 p m 149.« (»Ich erinnere mich, dass Corinna in enger Nacht neun Nummern von uns verlangt und ich sie ausgehalten habe«). Bayle 1702, s.v. Ovide Nason (Publius), t. 3, 2271. Furetière 1690, s.v. vilain: »ce qui n’eſt pas agreable, qui deplaiſt. Il ſe peut dire de preſque toutes les choſes. […] ſe dit figurément en choſes morales. Les vilains diſcours ſont particulierement des paroles ſales & impudiques.« Vgl. ebd., s.v. vilenie: »Ordure, ſaleté. Il faut bien bailer cette chambre, il y a bien des vilenies, des ordures.«

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durch die Verkehrung der normativ zu intendierenden Rezeptionswirkung: Ein elegantes Wort diene dem plaisir, werde bei Ovid aber gerade zur Erzeugung von déplaire und dégoût verwendet, was den plaisir wiederum schmälert. Demgegenüber sei eine direkte Obszönität immer als solche erkennbar, sodass sie ihre abstoßende Wirkung voll entfalten kann. Ferner wird am Beispiel Ovids auch die besonders schädliche Wirkung der ersten Klasse auf den Leser deutlich: Il ne ſe contenta pas d’aimer, & de faire des conquêtes de galanterie, il aprit auſſi au public l’art d’aimer, & l’art de ſe faire aimer; c’eſt-à-dire qu’il reduiſit en ſyſtême une ſcience pernicieuſe, dont la nature ne donne que trop de leçons, & qui n’a pour but que le deshonneur des familles, &celui des pauvres maris principalement.894

Wie auch im Eclaircissement wird die ovidische Liebeselegie hier autobiographisch gelesen. Allerdings geschiehe die Darstellung nicht im Sinne eines Bekenntnisses, auf die Läuterung folgt, sondern – und daran nimmt Bayle besonders Anstoß – Ovid rühme sich noch für seine Verfehlungen. Die Tat erscheint hier als weniger verwerflich als der diskursive Umgang damit. Bayles Urteil über Ovid erinnert an Garasses Kritik an Théophile. Die Öffentlichkeit der beschriebenen Liebeskunst macht sie obszön; die Funktion der Dichtung als einer leçon public wird damit in ihr Gegenteil verkehrt, das von Bayle hier unterstellte Ziel des déshonneur macht sie schädlich (ſcience pernicieuſe), denn der Autor distanziert sich nicht. Dem Autor wird also eine soziale Verantwortung und Funktion zugewiesen: er formt den ésprit und den goût seiner Leser. Autoren der ersten Klasse werden dieser Verantwortung nicht gerecht. Den Autoren der ersten Klasse steht also die Obszönität gerade nicht im Dienste der Erzählung, sondern hat den plaisir des Lesers nur vordergründig zum Zweck. Diese rezeptionsästhetische Sicht auf das Obszöne steht im Gegensatz zur zeitgenössischen Poetik.895 Moralisch sieht Bayle allerdings keinen Unterschied zwischen direkter und indirekter Obszönität: impudicité stehe vor Gott als Sünde nicht geringer als Mord.896 Doch »[p]our ce qui eſt des ſuites ruïneuſes à la Société civiles, je ne crois pas qu’à moins qu’elles ayent été dans l’intention du pécheur, elles aggravent ſa faute devant Dieu.«897 Trotz seiner Interpretation der Aufgabe des Historikers, die auf der traditionellen Autorenfunktion basiert, die zwischen verschiedenen Stimmen des Textes unterscheidet, sieht Bayle sich zu moralisierenden Distanzierungen vom Obszönen und damit von der Antike gezwungen. Das journalistische Ethos, das er in den Nouvelles an 894 895 896

897

Bayle 1702, s.v. Ovide Nason (Publius), t. 3, 2271f. Siehe hierzu Kapitel 3.3. Zur Frage, »[s]i les hommes ont raiſon de croire que l’impudicité ſoit un moindre crime que le meutre« führt er aus (Bayle 1683, t.2, 512f. ):»Je doute fort que le poids du plaiſir qui nous emporte, ſoit capable de diminuer le crime; parce que ſi cela étoit, il faudroit dire que les pechez d’habitude, beaucoup plus déteſtable que les autres, ſont neanmoins plus véniels, à cauſe que le poids des habitudes contractées est une eſpéce de determination qui diminuë la liberté.« Bayle 1683, t. 2, 513.

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den Tag legt, prägt auch seine Auffassung von der Aufgabe des Historikers und seiner Auffassung vom Buch.898 Wie Paul Hazard bemerkt, dienen Bayle Bücher einerseits als verstetigte Gegner der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und bieten andererseits überhaupt erst Anlass und Provokation der Beschäftigung, da sie eine Widerlegung zwingend notwendig machen. 899 Aus diesem Grunde gibt es im Dictionnaire zwar einen Artikel zu Ovid, aber keinen zu Petron, Martial und den übrigen obszönen Autoren. Die einzigen obszönen Autoren, die Bayle neben Ovid im Dictionnaire in einem eigenen Artikel behandelt, sind Persius und Catull. Sein Urteil über Persius ist ebenfalls relativierend: Il fut bon ami, encor meilleur fils, meilleur frere & meilleur parent. Il fut fort chaſte quoi que beau garçon: il fut ſobre, doux comme un agneau, & susceptible de honte tout comme une jeune fille : tant il eſt vrai qu’il ne faut pas juger des mœurs d’un homme par ſes écrits ; car les ſatires de Perſe sont devergondées, &toutes remplies d’aigreur & de fiel.900

Die Lizenz, die insbesondere epigrammatische Dichter wie Catull und Martial einfordern, dass nämlich zwischen vita und versus zu unterscheiden sei,901 lässt Bayle also interessanterweise bei Persius– anders als bei Ovid902 – gelten, denn es fehle Ovids Texten ebenso wie dem Sonett Théophiles das distanzierende Moment. In der Behandlung Catulls hingegen wird ein Distanzierungsnarrativ deutlich, das mit einer Historisierung einhergeht: La delicateſſe de ſes vers lui aquit l’amitié & la conſideration des ſavans, & des beaux eſprits qui étoient alors à Rome en grande abondance ; & comme les anciens Romains ne s’etoient point fait ces regles de politeſſe qui font aujourd’hui tomber dans le mepris & dans la haine publique ceux qui compoſent des vers ſales, & remplis d’une debauche devoilée, Catulle ne ſe fit pas beaucoup de tort par les saletez groſſieres, & par les impudicitez infames dont il empoiſonnoit pluſieurs de ſes poëſies.903

Die überbordende Menge an Synonymen, mit der Bayle hier gleich zu Beginn die Poesie Catulls charakterisiert, entstammt überwiegend dem Hygiene- (sale, saleté, empoisonnait) und dem Emotionsdiskurs (impudicités). Noch vor einer konkreten Beschreibung von Leben und Werk des Dichters, scheint Bayle aufgrund des Rufes der Obszönität, den Catull zu dieser Zeit genoss, die Notwendigkeit einer einleitenden Er898 899 900 901 902

903

Vgl. Bost 2006, 43–54. Vgl. Hazard 1961, 100. Bayle 1702, s.v. Perse, t. 3, 2390f. Diese Beurteilung übernimmt Bayle, wie er in der Fußnote angibt, von Tarteron, dem Übersetzer Juvenals und Persius’. CATVLL. 16.5f.; MART. 1.4.5. Siehe Kapitel 2.2.2. Dies mag mit der mittelalterlichen pseudo-Ovidianischen Schrift De vetula (1250) zusammenhängen, in der der Dichter, zum Christentum konvertiert, in einer Art confession, die in seiner Dichtung geschilderten sexuellen Erlebnisse als autobiographisch zugibt. Die Autorschaft Ovids ist allerdings schon früh, u.a. von Petrarca, angezweifelt worden. Vgl. Robathan 2014 [1973], 202f. Jean Lefèvre (1320–80), Procureur am Parlement de Paris, hat den Text im 14. Jahrhundert ins Altfranzösische übersetzt (La Vieille ou Les Dernières Amours d’Ovide). Zur biographischen Interpretation Ovids siehe Taylor 2015. Bayle 1702, s.v. Catulle, t. 1, 863.

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klärung gesehen zu haben. Eine andere emotionale Disposition, ein anderes Empfinden gegenüber obszöner Dichtung, konkret das Fehlen eines physisch emotionalen Regimes, sowohl von Seiten des Dichters (ne ſe fit pas beaucoup de tort), vermutlich einer Art von pudeur/dégoût, als auch von Seiten der Leserschaft, also mépris & haine publique, deutet auf eine niedere zivilisatorische Ebene hin, der die Römer angehörten. Ähnlich wie Huet dienen hier die allgemein gesellschaftlich weniger entwickelten Regeln der politesse als Erklärung der Obszönität der Texte.904 Die Antithese zwischen Antike und Gegenwart (ancien/alors – aujourd’hui) rückt erstere auf eine niedrigere Zivilsationsstufe.905 Bayle verweist an dieser Stelle selbst auf einen seiner Beiträge für die Nouvelles de la Republique des lettres vom Juni 1684. In einer ausführlichen Besprechung von Vossius’ Catull-Kommentar (Caius Valerius Catullus & in eum Isaaci Vossii observationes), der im gleichen Jahr in London erschienen war, führt er allgemeine Überlegungen zu divergierenden Ansichten über den Status von Autorschaft 906 eines philologischen Kommentars bzw. über wissenschaftliche Methoden an, die auch sein Dictionnaire in Verruf bringen werden: Il s’étoit répandu un bruit en ce pais-ci dés qu’on y parla de ce Commentaire, qu’on y trouveroit beaucoup de choſes impures, parce qu’on ſuppoſoit fauſſement qu’un certain homme qui a publié deux petits Ecrits plein d’infamies, & d’impietez, avoit eu le ſoin de cette édition, & avoit mêlé ſes penſées avec celles de M. Voſſius; mais la lecture du Livre a diſſipé cette Fable. On y voit à la verité quelques explications qui ne ſeroient pas bonnes à dire devant tout le monde, mais on y garde toûjours des meſures raiſonnables, & il ſemble qu’en commentant un Poete auſſi impudique que Catulle, on ne pouvoit éviter de dire ce que l’on a dit. Catulle l’un des plus galans Poetes de l’Antiquité, & Horace les délices de la Cour d’Auguſte, ont été ſouvent auſſi libre dans leur Poeſies, que nos Theophiles, nos de Sigognes, nos Motins, & nos Berthelots, qui ſont l’horreur des honnêtes gens, & qui ne plaiſent qu’à des Soldats ou à des Laquais.907

Zunächst entkräftet Bayle das Gerücht, Vossius’ Kommentar sei mit Texten eines anderen Autors (Beverlands de Prostibulis Veterum) vermischt worden. Auch obszöne Lesarten in einem philologischen Kommentar explizit zu machen, war in der Tat ungewöhnlich. Wie Muslow vermutet, war Vossius der erste, der eine Interpretation in obscoenis durchführte.908 Dieses Gerücht zeigt, dass der obszöne Inhalt des Kommentars anscheinend für Aufsehen gesorgt hat und auf diese Weise erklärt werden sollte. Vossius’ Explizierung obszöner Metaphorik verkehrt die moralisierende christliche Exegese, die eine deutliche Distanzierung zum Zitat fordert. Bayle verteidigt Vossius hier mit der philologischen Praxis. Der Kommentar fällt in Klasse VI, die darin besteht, »que l’auteur voulant expliquer le texte Latin de Catulle, 904 905 906

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Siehe hierzu Kapitel 4.3. Zu dieser Antithese siehe Kapitel 5.2.1 Bayle verweist ausdrücklich darauf, dass für Kommentatoren wie Scaliger, Voss oder Lipsius die Kommentierung der obszönen Autoren nicht ehrenrührig war, sie keinerlei soziale Konsequenzen zu fürchten hatten. Bayle 1684 [Juin], 362f. Mulsow 2007, 38–40.

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ou de Petrone, ou de Martial, a repandu beaucoup d’ordures dans ſon commentaire.«909 Auch Bayle verweist mit Catull, Martial und Petron auf die Trias des obszönen Kanons. Der Kommentator, so die Idee, verunreinigt im Zuge der Kommentierung der obszönen Stellen auch seinen eigenen Text (a repandu beaucoup d’ordures dans ſon commentaire). Dagegen wendet Bayle ein, dass es einerseits dem Kommentator nicht möglich sei, anders zu verfahren als die Obszönitäten zu wiederholen, andererseits sei der Kommentar eben nur für eine bestimmte Leserschaft gedacht (pas dire devant tout le monde).910 Mit dem Hinweis auf eine eingeschränkte Öffentlichkeit verweist Bayle auf die humanistische Tradition und ignoriert die Veränderungen des literarischen Diskurses seit dem Beginn des Jahrhunderts. Gleichzeitig wird deutlich, dass für ihn und die Öffentlichkeit ein qualitativer Sprung durch die Übertragung vom Lateinischen ins Französische besteht, da er explizit auf den »texte Latin« hinweist. Zum Lateinischen hat Bayle, wie Weibel betont, ein ambivalentes Verhältnis: »langue davant l’interdit, langue d’un âge d’or où le désir ne connaissait pas d’entraves, et où le dire et le faire s’entremêlaient innocement, sans jamais être étouffés pas la honte ou la conscience du péché.« 911 Ferner zeichnet Bayle hier eine Parallele zwischen antiken (Catulle, Horace) und französischen (nos Theophiles, nos de Sigognes, nos Motins, & nos Berthelots,) obszönen Autoren, welche die Obszönität der Dichtung selbst weniger historisch erscheinen lässt, aber den Geschmack der Leser differenziert. Bei den honnêtes gens lösen derartige Texte Abstoßung (l’horreur) hervor, bei Soldats oder Laquais hingegen plaisir. Es handelt sich hierbei also um zwei verschiedene emotional communities, die über gegensätzliche Rezeptionspraktiken greifbar werden. 912 Die auffallende Anapher des Possesivpronomens nos verdeutlicht die Distanzierung gegenüber der Antike. Auch Bayles Beurteilung Catulls entbehrt nicht einer gewissen Widersprüchlichkeit. Einerseits apostrophiert er ihn als l’un des plus galans Poetes de l’Antiquité, andererseits gibt er jenen recht, die Catull (zusammen mit Martial) auf dem Rang eines Bauern sehen.913 Der soziale Vergleich antiker und moderner Obszönität dient als Beleg zivilisatorischen Fortschritts: 909 910

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Bayle 1702, 3159. Vgl Bayle 1686 (avril), 392: “Certè ipſe concubitus, dit-il [sc. S. Cyprien], ipſe complexus ipſa confabulatio & oſculatio & conjacentium duorum turpis & fæda dormitio quantum dedecoris & criminis confitetur. Pour bien rendre ce Latin, il faudroit s’exprimer d’une manière qui ne ſeroit pas bonne pour tout le monde.« Vgl. auch Bayle 1702, 3174f. Weibel 1975, 91. Bayle sieht dagegen einen Sittenverfall in der eigenen Zeit, vgl. Bayle 1702, 3175. Vgl. auch Ambramovici 2003, 178–180. Nach Barbara Rosenwein (2006, 2) sind »emotional communities« soziale Gruppen, »in which people adhere to the norms of the same emotional expression and value – or devalue – the same or related emotions.« Diese können auch über Texte konstruiert werden. Siehe hierzu Kapitel 4.1. Bayle 1684 (Juin), 364; sehen:» l’Auteur de la Collections des Épigrammes […] a eu raiſon de dire que Martial & Catulle étoient des eſprits groſſiers, & ruſtiques, & plus propres pour les converſations d’un Corps de Garde, que pour celles d’une Ruelle«. Die Aussage bezieht sich auf die Dissertatio de vera pulchritudine & adumbrata die im Vorwort zum Epigrammatum delectus (1659), die später als Traité de la beauté in Französische übersetzt wurde (vgl. Traité de la beauté 1689 [1659], 45). Bayle fungiert hier auch als Vermittler humanistisch geprägter

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(Aus)gesuchte Antike Marque évidente qu’encore que nôtre Siecle ne ſoit pas plus chaſtes que les autres, il eſt du moins plus poli, & plus honnête pour l’exterieur. Les loix de la bien-ſeance ſont à preſent plus ſeveres & plus étenduës, qu’elles n’ont jamais été. Jamais les Auteurs qui ont voulu plaire au beau monde n’ont été obligez d’écrire ſi honnêtement.914

Bayles Vorgehen der Rationalisierung der Obszönität lässt sich ebenfalls als ein Akt der Reinigung, der (äußeren Körper-) Hygiene begreifen. Antike Obszönität, so könnte man schließen, ist also die für die Konstitution und Vergewisserung der bienséance und der politesse, für die auch Bayle eintritt, notwendige Negation des Zivilisierungsprozesses.915 Als Beispiel für diese These dienen ihm die römische Satire und Martials Epigramme: Les Satyres mêmes qui avoient toûjours été un égout de ſaletez, ont pris un caractere de pudeur qui eſt pour le moins auſſi admirable que l’eſprit, le tour, le ſel, & les agrémens que l’Illuſtre M. Des-Preaux y a fait briller. Cette pudeur fut la principale chose qui frappa Monsieur le Premier Presiden de Lamoignon, & qui luy fit aimer le Poete qui avoit composé des Satyres ſi modeſtes.916

Den Vergleich zwischen Juvenal und Boileau (M. Des-Preaux) gewinnt der moderne Autor, er hat gewissermaßen die Satire vom Schmutz (ſaltez) befreit, sodass sie nun glänzt (fait briller). Bayle selbst sieht sich wiederum in Klasse IX917, die darin bestehe que l’auteur raporte des faits hiſtoriques qui lui ſont fournis par d’autres auteurs qu’il a ſoin de bien citer, leſquels faits ſont ſales & malhonnêtes; qu’ajoûtant un commentaire à ſes narrations hiſtoriques pour les illuſtrer par des temoignages, & par des reflexions, & par des preuves &c. il allegue quelquefois les paroles de quelques écrivains qui ont parlé librement, les uns comme medecins, ou juriſconſultes, les autres comme cavalier ou poëtes: mais qu’il ne dit jamais rien qui contienne ni explicitement ni même implicitement l’aprobation de

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Wissenschaften, die weiterhin auf Latein publizieren, indem er dieses recht textnah paraphrasiert, aber auch im Lateinischen Orginal zitiert: »Afin qu’on voye ſi j’ay bien compris ſa penſée je m’en vais rapporter ſes propres paroles. Quod fœda omnia & lasciva Epigrammata reſecuimus, non modo moribus & pietati inervitum eſt, ſed etiam urbanitati & elegantiae, cujus nullum prorsus ſenſum habuiſſe ſe teſtantur veteres illi Catullus & Martialis qui tot illiberalibus ſordibus libros ſuos opplevere, eoque nomine non modo flagitioſi ſed etiam ruſtici, inhumani, & ut Catullianis verbis utar, Caprimulgi ac foſſores habendi ſunt. [=Nicole 1659, dissertatio, f. *** iij v].« Baillet (1722, 49) verweist in seiner Zusammenstellung der Beurteilungen Martials ebenfalls auf diesen Passus und zitiert die Übersetzung durch Bayle. Catull wird auch in den Eclaircissements von Bayle verurteilt. Siehe Bayle 1702, 3161 (zum Zitat siehe unten). Zur Sozialhierarchisierung der obszönen Literatur bei Bayle siehe Kapitel 5.2.1. Bayle 1684 (Juin), 363. Hazard 1961, 100: »[L]es livres […] représentent une pensée arrêtée qu’on peut exactement saisir, qui ne fuit plus sous les prises; ils excitent et provoquent l’esprit. […] A travers le livre on atteint l’auteur, on lui dit son fait, on lui montre sa misère. Mais la personne n’apparaît que comme la conséquence du livre: contre les livres Pierre Bayle mène ses grands combats.« Bayle 1684 (Juin), 363f. Bayle 1702, 3159: »[J]e ne me trouve que dans le neuviéme cas; & il me ſufit d’examiner ce qui concerne cette derniere eſpece d’obſcenitez. Je ferai neanmoins deux ou trois conſiderations generales ſur les autres.«

Rationalisierung des Obszönen

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l’impureté; qu’au contraire il prend à tâche en pluſieurs rencontres de l’expoſer à l’horreur, & de refuter la morale relâchée.918

Bayles wissenschaftliches Ethos besteht also in Exaktheit und Quellenangabe (auteurs qu’il a ſoin de bien citer). Er begibt sich hier also in die Rolle eines Repräsentanten, der historische Fakten kopiert. 919 Gegenüber dem verbreiteten homogenen Textverständnis rekurriert Bayle auf die Polyphonie eines Textes. Er unterscheidet hierzu den auteur (wie die antiken Dichter) vom écrivain, dem Wissenschaftler.920 Sein eigener kreativer wissenschaftlicher Akt bleibt von Obszönität frei; er warnt und verurteilt, wird also seiner moralischen Pflicht als instructeur du peuple gerecht.921 Auf diese Weise dient die Obszönität im Gegenteil gar zur Stärkung der Tugend.922 Bayle verteidigt das Recht des Zitierens einer historische Quelle (temoignages): »il ne faut pas ſouffrir qu’un homme qui cite, altére le moins du monde le rapport de ſon témoin.«923 In der Forderung nach moralischer Auslegung und Distanzierung (horreur) steht Bayle ferner in der Tradition der praelectio.924 Die obszönen Texte der Antike scheinen unter Kategorie I zu fallen. Interessanterweise wird von Bayle wiederum die philologische Praxis (Kategorie VI) von der des Historikers (Kategorie IX) unterschieden. Es werden hierin erneut die unterschiedlichen Autorkonzepte deutlich: In ersterem Fall scheint es sich um so etwas wie Sekundärobszönität zu handeln, die vermeidbar wäre. Der Kommentator hat sich also – und darin besteht sein Vergehen – den obszönen antiken Text zu eigen gemacht, indem er seinerseits, mit eigenen Worten und auf Französisch, obszön spricht und so eine Vermischung stattfindet. Im zweiten Fall scheint es sich um eine Primärobszönität 918 919 920

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Bayle 1702, 3159. Über die Praxis des Kommentierens vgl. Bayle 1684, 353–360. Vgl. Bayle 1702, 3162: »Je me trouve dans un cas infiniment plus favorable que tous les auteurs dont j’ai parlé; car que l’on condamne Catulle, Lucrece, Juvenal, & Suetone tant qu’on voudra, on en pourra point condamner un écrivain qui les cite.« Bayle scheint hier auch begrifflich den Urheber (auteur) des Obszönen von dem des zitierenden Schreibers (Ecrivain) zu trennen. Dies entspricht dem Gebrauch, den Nicot (1606, 250, s.v. Eſcrire »Eſcrivain. Notarius, A manu ſeruus, Scriptor) anbietet. Der Begriff ist traditionell eng mit der auctoritas der antiken Literatur verbunden. Auch Sorel charakterisiert die Autheurs (in etymologischer Nähe zu autos) als diejenigen, die nichts kopiert haben und damit »veritablement des Autheurs, eſtant Createurs de leurs ouvrages« sind (Sorel 1671, 17f., bei Nicot 1606 finden sich beide Begriffe bisweilen synonym, siehe etwa Nicot 1606, 61, s.v. Autheur: »Autheurs & eſcrivains, auſquel on adiouſte plein & entiere foy […] Authores iuratiſſimi«, vgl. Nicot 1584, 277, s.v. Eſcrire, »Gentil eſcrivain, qui a compoſé de beaulx liures. Luculentus author«). Beide Begriffe sind im Gebrauch des 17. Jahrhunderts nicht scharf zu trennen. Vgl. Viala 1985, 270–280. Vgl. Bayle 1684 (Mars), 24: »Les Carteſiens (Je ne ſuis ici que le ſimple Hiſtorien de leurs penſées) diſent …«. Vgl. Bayle 1702, 3167. Siehe hierzu Kapitel 2.1. Bayle 21686, 392 (avril 1686). Vgl. Bayle 1702, 3166: »J’observe […] Que le droit de cette nouvelle politeſſe n’eſt pas si bien établi, qu’il doive avoir force de loi dans la Republique des lettres. L’ancien droit subſiſte encore, & l’on pourra s’en ſervir juſqu’à l’ouverture de la preſcription.« Als Beleg hierzu führt er an (ebd., remarque d): »Les amis de Mr. Menage ont été accuſez d’obſcenité l’an 1695 pour un livre inprimé avec privilege.« Zum »Recht des Zitierens« vgl. auch Bayle 1702, 3174. Siehe hierzu die Kritik von Garasse an Théophile, Kapitel 2.3.3

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zu handeln, d.h. ein fremder Text fungiert als Zeugnis und Beweis für den Wissenschaftler. Zitierter Autor und zitierender Autor werden hier scharf getrennt, die historische Distanz gewahrt. Es wird deutlich, dass Bayle der scholastischen Autorenfunktion anhängt, nach der Obszönes zitiert werden kann, solange es zur moralischen Widerlegung eingesetzt wird. Wie der écrivain hat auch der Wissenschaftler eine soziale Funktion. Jenseits des enzyklopädischen Wissens nimmt Bayle deutlich moralisch Stellung und befolgt damit seine eigenen Prämissen der Obszönitätsklassen. Paradoxerweise beschreibt er allerdings die Aufgabe des Historikers 925 als eine affektlose und ahistorische: Tous ceux qui ſçavent les loix de l’hiſtoire tomberont d’accord qu’un hiſtorien, qui veut remplir fidelement ſes fonctions, doit ſe depouiller de l’esprit de flaterie, & de l’esprit de medisance, & ſe mettre le plus qu’il lui eſt possible dans l’état d’un Stoïcien qui n’eſt agité d’aucune paſſion. Inſenſible à tout le reſte il ne doit être attentif qu’aux interêts de la verité, & et il doit ſacrifier à cela le reſſentiment d’une injure, le ſouvenir d’un bienfait, & l’amour même de la patrie. Il doit oublier qu’il eſt d’un certain païs, qu’il a été élevé dans une certaine communion, qu’il eſt redevable de ſa fortune à tels & à tels, & que tels & tels ſont ſes parens, ou ſes amis. Un hiſtorien entant que tel eſt […] ſans pere, ſans mere & ſans genealogie.926

Bayle ist gewissermaßen journaliste avant la lettre. Er sieht den Historiker als eine Art Reporter. Wie gesehen, spielen aber sozialhierarchische und historische Aspekte sehr wohl eine Rolle in Bayles Arbeit. Wie eingangs erwähnt, hat sein Lexikon aufgrund der darin enthaltenen Obszönitäten enorme Kritik erfahren, die Anlass zum Eclaircissement gab: J’ai aſſez declaré en divers endroits que je condamne pleinement les impuretez de Catulle, & celles de ſes imitateurs, & les excés de Caſuiſtes; & j’ajoûte ici, que les raiſons de ceux qui plaident pour la liberté d’inſerer des obſcenitez dans une épigramme, me ſemblent trèsfoibles par comparaiſon des argumens qui les combatent. J’ajoûte auſſi qu’une obſcenité moins groſſiere deſtinée ſeulement à plaiſanter, me paroît plus condamnable qu’une invective très-obſcêne deſtinée à inſpirer de l’horreur pour l’impureté.927

Bayle nimmt hier Stellung zur Frage der verbalen Obszönität und verteidigt gegen den Zeitgeist gerade die direkte Obszönität des Epigramms. Er führt im Folgenden an einem Beispiel vor, das er in mehreren stilistisch unterschiedlichen Versionen erzählt, dass die Sprache zwar selbst nicht obszön sei, die Reaktionen dennoch verschieden. Bayle greift hier implizit die ciceronische Unterscheidung wieder auf, nach der Obszönität zwar weder eine intrinsische Eigenschaft einer Sache (res) noch der Worte (verba) sei, diese aber im Gebrauch zugeschrieben werde. Bayle bevorzugt gerade die direkte Obszönität, die eine stärkere Reaktion der Distanzierung ermögliche, da, wie erwähnt, der Rezipient in der Entschlüsselung von Metaphorik zum Mittäter wird. Gerade die direkte Obszönität trägt also zur Reinhaltung des Lesers und zur Stärkung

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Vgl. Crousaz’ Auseinandersetzung mit Bayle diesbezüglich Crousaz 1733, 202f. Bayle 1702, s.v. Usson, t.3, 3005, remarque F. Bayle 1702, 3161.

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seiner Moral bei. Bayle betont hier also die festigende Wirkung des direkten Kontaktes mit dem Obszönen. Ausdrücklich widerspricht er dagegen der catullischen vita-versusUnterscheidung und sieht in der Überschreitung der pudeur durch einen Autor das Zeugnis der corruption du coeur.928 Mit der performativen Verdammung des Obszönen schreibt sich Bayle auch in den Diskurs der honnêtes gens ein und teilt deren emotionale Praktik, auf Obszönes mit Ekel und Abstoßung (l’horreur) zu reagieren.929 Im Eclaircissement hatte er mit dem Hinweis auf die Regeln der (alten) Republique des lettres noch abgelehnt, »que deſormait ils [sc. les écrits obſcênes] ſerviroient à diſcerner les honnêtes gens d’avec les mal honnêtes gens.«930 Bayle ist sich also der Möglichkeit der Distinktion anhand emotionaler Praktik durchaus bewusst. In der Frühaufklärung gibt es, ähnlich wie in anderen Wissenschaftsbereichen auch, Bestrebungen zur Reinigung der Geschichte. Francis Bacon etwa sieht diese als gemeinsames Projekt, das nur über Generationen hin erreicht werden kann.931 Diese gereinigte, pure Geschichte ist die Geschichte des Menschen (civil history). Naturgeschichte etwa wird davon separiert und ausgeschlossen. Auch Bayles Werke »durchzieht das Bestreben, die Gefilde menschlicher Geschichte von dem zu säubern, was nicht zu ihnen gehört« 932 . Diese Trennung von Natur und Mensch (Intellekt) ist symptomatisch für derartige Bestrebungen. Der Mensch wiederum erscheint in Bayles Schriften »als Spielball seiner Leidenschaften, der sein Handeln vernünftigen Prinzipien nicht unterzuordnen vermag (PD1, §136, 266)«.933 Diese Leidenschaften sind für Bayle einerseits zurückzuführen auf eine generelle und natürliche Disposition des

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Bayle 1702, s.v. Marot, 2072, Anm. M: »Tel poëte dont les vers ſeroient inſipides, s’il n’oſoit s’émanciper à la moindre liberté, fait des pieces excellentes dès qu’il ſe met au-deſſus de la pudeur. Cela ne ſauroit venir de la nature même de la poëſie: il faut donc que cela vienne de la corruption du cœur de l’homme. Qu’elle qu’en puiſſe être la cauſe, l’efet a paru certain à ceux qui ont donné pour maxime qu’un poëte doit être chaſte quant à ſa personne, mais non pas quant à ſes vers, vu qu’ils ne ſauroient être gracieux & aſſaisonnez de sel, s’ils ne ſont un peuimpudiques [sic]. [es folgt Zitat CATVLL 16.5–11, D.W.] Maxime fauſſe, ou pour le moins très-pernicieuſe, & qui ne meriteroit pas que des gens de bien au fond du cœur la consideraſſent comme une regle. Mais quoi ! il en va de ceci comme de la demangeaiſon des bons mots ; aucune conſideration ne la peut brider; & lors qu’un poëte ſe voit en état de faire merveilles dans une épigramme, pourvu qu’il y faſſe entrer quelques penſées obſcenes, il quitte en faveur de ſon eſprit les ſentimens de ſon coeur«. Vgl. Abramovici 2003, 236f. Siehe hierzu Kapitel 3.1. Bayle 1702, 3159. Die Aussage scheint auf den ersten Blick im Widerspruch zu seiner Ablehnung der vita-versus Trennung zu stehen. Wie die entsprechende Remarque a jedoch verdeutlicht, meint er hier mit écrits obſcênes solche, die innerhalb bestimmter Grenzen operieren, d.h. Klasse 1 wäre hiervon ausgenommen. Vgl. Bayle 1684 (Juin), 366: »S’il y a de l’effronterie & de ſaleté, c’est principalment dans la choſe même, & beaucoup plus que dans les paroles qui l’expriment, comme on le peut voir dans les Contes de M. de la Fontaine. Nous avons dit dans nos Nouvelles du mois d’Avril que ces Contes avoient été cauſe qu’on avoit ſurſis ſa reception dans l’Academie Françoiſe. Preſentement nous diſons que cet obſtacle a été levé, on a bien vû que ce genre de Poeſie, n’empêchoit pas qu’il ne fût un treshonnête homme.« Vgl. Bacons Brief an Fulgentius (Bacon 1663 [1625]. Sommer 2006, 155. Ebd.

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(Aus)gesuchte Antike

Menschen, andererseits kulturell bedingt und erlernt. 934 Vor diesem Hintergrund behandelt Bayle die obszöne Literatur der Antike. Auch die antiken Autoren können und müssen hinsichtlich der Obszönität unterschieden werden, in honnêtes gens und mal honnêtes gens. Gerade in diesem Akt der Bewertung zeigt sich auch der Charakter des Lesers. Bayle übersetzt hier also die christliche Praxis der Distanzierung (horreur), wie sie Garasse fordert, in einen aufklärerischen geschichtsphilosophischen Impetus. Die Distanzierung von der Obszönität wird zur Insignie der raison. Bayle ist also, wie es Cassirer ausdrückt, »zum Logiker der Geschichte«935 geworden, und gleichermaßen »auch zu ihrem Ethiker«.936 ⁎⁎⁎ Die Neuordnung und Abtrennung der obszönen Literatur der Antike vom literarischen Diskurs geht mit einer Assoziierung potenzieller Leser einher. Die moralische Unterscheidung verschieder Lesertypen, wie sie sich etwa in Martials Vorwort findet, wird um eine sozialdistinktive Komponente erweitert. Die obszöne Literatur wird folglich mit niederen Ständen assoziiert. Zugleich zeigt sich in der Auswahl und Kategorisierung der Texte, d.h. im Akt des Wählens und Unterscheidens, der bon goût ebenso wie die Rationalität der Oberschicht, die sich durch strenge Regeln von den Leidenschaften entfernt hat, aber jederzeit auf diese Stufe zurückfallen kann und folglich vor der Obszönität geschützt werden muss. Die Praxis des Bedeckens und die Marginalisierung der Obszönität wird wiederum (durch die Hintertür) in der philologischen Bearbeitung zu ihrer Reintegration in das literarische Feld genutzt. Gegen eine solche Gleichsetzung und soziale Kategorisierung des Lesers wehrt sich Pierre Bayle aus einem wissenschaftlichen Impetus heraus und betont in der Konfrontation mit der antiken Obszönität gerade eine moralische Stärkung des Lesers. In Bayles Konzeption ist die moralische Verfasstheit des Lesers präexistent zur Lektüre der obszönen Literatur und in der charakterlichen Disposition des Einzelnen begründet. So lässt sie sich seiner Ansicht nach nicht bereits an der Wahl der Lektüre, sondern in 934

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Bayle 1683, t.1, 402 (§136): »D’où vient tout cela [sc. Que l’homme n’agit pas ſelon ſes Principes] ſinon de ce que le véritable principe des actions de l’homme […] n’eſt autre choſe que le tempérament, l’inclination naturelle pour le plaiſir, le goût que l’on contracte pour certains objets, le deſir de plaire à quelqu’un, une habitude gagnée dans le commerce de ſes amis, ou quelque autre diſpoſition qui réſulte du fond de nôtre nature, en quelque Pays que l’on naiſſe, & de quelque conoiſſances que l’on nous rempliſſent l’eſprit?«. Cassirer 2007 [1932], 214: »Für ihn ist die ›Tatsache‹ nicht mehr Anfang der historischen Erkenntnis, sondern sie ist in gewissem Sinne ihr Ende; ihr ›terminus ad quem‹, nicht ihr ›terminus a quo‹. Er geht nicht von ihr, sondern er geht auf sie aus; er will den Weg freimachen, der erst zu einer ›Wahrheit von Tatsachen‹ führt. Man glaube nicht, diese Wahrheit mit Händen greifen, sie unmittelbar sinnlich erfassen zu können; sie kann vielmehr immer nur das Resultat einer gedanklichen Operation sein, die an Komplexion, an Feinheit, an Schärfe den schwierigsten mathematischen Denkprozessen nicht nachsteht. Denn nur aus der schärfsten Sonderung und aus der sorgfältigsten kritischen Untersuchung und kritischen Bewertung der Einzelzeugnisse lässt sich der Kern eines bestimmten historischen ›Faktums‹ gewinnen und herausschälen.« Cassirer 2007 [1932], 217.

Rationalisierung des Obszönen

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der Reaktion auf die Texte erkennen. Sprachliche Reinigung der Texte führe also gerade nicht zu einer Besserung der mœurs. Bayle schreibt dem Obszönen somit, ähnlich wie der protestantische Humanismus (Grynaeus), eine edukatorische Kraft zu. Bayles Konzeption des Lesers und der reinigenden, kathartischen Funktion der Lektüre obszöner Texte arbeitet wiederum einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit der antiken Obszönität vor, die besonders in der geschichtlichen Betrachtung zum Tragen kommt.

5 Entfernte Antike: Obszönität und Geschichte »Le fil célèbre a été rompu, lui qu’on pensait si solide; Ariane a été abandonnée un temps plus tôt qu’on ne le croyait: et toute l’histoire de la pensée occidentale est à récrire.« M. Foucault, Ariane s’est pendu (1969) »La grandeur a beſoin d’eſtre quictée pour eſtre ſentie. La continuité degouſte en tout.« B. Pascal, Pensées (