Aber ich lebe: Vier Kinder überleben den Holocaust [2 ed.] 3406790453, 9783406790454

"ERSCHÜTTERND, POETISCH UND SCHÖN." NORA KRUG Emmie Arbel überlebte als kleines Mädchen die Konzentrationslag

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German Pages 176 Year 2022

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Table of contents :
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Titel
Widmung
Inhalt
Aber ich lebe von Barbara Yelin — Nach den Erinnerungen von Emmie Arbel
Jenseits der Regeln von Miriam Libicki — Nach den Erinnerungen von David Schaffer
Dreizehn Geheimnisse von Gilad Seliktar — Nach den Erinnerungen von Rolf und Nico Kamp
Anhang
Hinter den Kulissen — Von Miriam Libicki, Gilad Seliktar und Barbara Yelin
Wie das Leben weiterging
«Ich fürchte mich vor nichts und niemandem» — Von Emmie Arbel
«Wenn ich mich an die Regeln gehalten hätte, wäre ich nicht hier» — Von David Schaffer
«Ein Bild, das mich nicht loslässt» — Von Nico Kamp
«Wir versuchten, ein normales Leben zu führen» — Von Rolf Kamp
Die historischen Hintergründe
Emmie Arbel und das nationalsozialistische Lagersystem — Von Andrea Löw
David Schaffer und der Holocaust in Transnistrien — Von Alexander Korb
Die Brüder Nico und Rolf Kamp und das Überleben in Verstecken — Von Dienke Hondius
Über dieses Projekt — Von Charlotte Schallié, Matt Huculak, Ilona Shulman Spaar und Jan Erik Dubbelman
Zum Buch
Die Autorinnen und Autoren
Impressum
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Aber ich lebe: Vier Kinder überleben den Holocaust [2 ed.]
 3406790453, 9783406790454

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Emmie Arbel überlebte als kleines Mädchen die Konzentrationslager Ravensbrück und Bergen-Belsen. David Schaffer entkam dem Genozid in Transnistrien, weil er sich nicht an die Regeln hielt. Die Brüder Nico und Rolf Kamp versteckten sich in den Niederlanden dreizehn Mal vor ihren Mördern. Zusammen mit den Überlebenden haben drei international bekannte Zeichner:innen deren Geschichten in Graphic Novels erzählt, die unvergesslich vor Augen führen, was der Holocaust für Kinder bedeutete – und nicht nur für sie.

BAr BaRa Y E l I n · m iR iA m LIbIc K i · g iLaD s eL iK tA r

ABeR IcH LeBe Vier Kinder überleben den Holocaust

Nach den Erinnerungen von Emmie Arbel, David Schaffer, Nico Kamp und Rolf Kamp

Aus dem Englischen von Rita Seuß

Herausgegeben von Charlotte Schallié

C.H.Beck

Für die Familien von Emmie Arbel, Nico Kamp, Rolf Kamp und David Schaffer

Inhalt

Aber ich lebe Von Barbara Yelin Nach den Erinnerungen von Emmie Arbel 9

Jenseits der Regeln Von Miriam Libicki Nach den Erinnerungen von David Schaffer 47

Dreizehn Geheimnisse Von Gilad Seliktar Nach den Erinnerungen von Rolf und Nico Kamp 85

Anhang Hinter den Kulissen Von Miriam Libicki, Gilad Seliktar und Barbara Yelin 131

Wie das Leben weiterging «Ich fürchte mich vor nichts und niemandem» Von Emmie Arbel 141

«Wenn ich mich an die Regeln gehalten hätte, wäre ich nicht hier» Von David Schaffer 143

«Ein Bild, das mich nicht loslässt» Von Nico Kamp 146

«Wir versuchten, ein normales Leben zu führen» Von Rolf Kamp 147

Die historischen Hintergründe Emmie Arbel und das nationalsozialistische Lagersystem Von Andrea Löw 149

David Schaffer und der Holocaust in Transnistrien Von Alexander Korb 154

Die Brüder Nico und Rolf Kamp und das Überleben in Verstecken Von Dienke Hondius 162

Über dieses Projekt Von Charlotte Schallié, Matt Huculak, Ilona Shulman Spaar und Jan Erik Dubbelman 170

Von

Jenseits der

Regeln

Miriam Libicki Nach den Erinnerungen von

David Schaffer

Ich kann nichts dagegen machen. Ich versuche es von mir fernzuhalten. Ich bemühe mich, so gut ich kann, aber es taucht immer wieder auf: Warum haben sie uns das angetan? Jeden Morgen, wenn ich mir das Gesicht wasche.

Du kannst es nicht vergessen. Es lässt dich nicht los, und es zermürbt dich.

Ich wurde 1931 in Vama, Bukowina, geboren. Ich sage gern, dass ich am selben Ort geboren bin wie meine Eltern, aber in einem anderen Land. Meine Eltern wurden in Vama geboren, als es noch Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie war, die nach dem Ersten Weltkrieg zerfiel. Meine Eltern sind also in Österreich geboren. Ich bin am selben Ort geboren, aber in Rumänien.

Die Probleme für meine Familie und mich begannen 1939. Ich war erst ein paar Wochen in der zweiten Klasse, da kam mein Lehrer, Herr Twardowski, zu uns nach Hause. „Sie können ihn nicht mehr zur Schule schicken“, sagte er zu meiner Mutter. „Es wurde entschieden, dass jüdische Kinder keine staatlichen Schulen mehr besuchen dürfen.“

Herr Twardowski wollte mich nicht vor der ganzen Klasse rauswerfen und mich bloßstellen. Deshalb kam er zu mir nach Hause, um es uns persönlich zu sagen. Trotz der Umstände war ich froh über diese Geste. Die rumänische Regierung hatte angeordnet, jüdische Schülerinnen und Schüler von staatlichen Bildungseinrichtungen auszuschließen. Ich wurde nicht von der Schule verwiesen, weil ich undiszipliniert war. Dass ich ein guter Schüler war und Auszeichnungen bekam, spielte keine Rolle.

An einem Samstag im Jahr 1940, ich war neun, kam die Verordnung, dass Juden nicht mehr auf dem Land leben durften. Am Morgen hatten wir ein Zuhause und einen schönen Garten. Wir waren eine normale Familie.

Am Abend besaßen wir nur noch das, was wir auf einem Pferdekarren mitnehmen konnten. Zum ersten Mal brach mein Vater die Schabbat-Gebote und zündete sich eine Zigarette an.

Von dem Moment an ging es nur noch abwärts, und wir konnten nichts dagegen tun.

Wir wurden nach Gura Humorului geschickt und bald in einem Ghetto zusammengepfercht.

Eines Freitags kam ein Trommler vom Rathaus mit einer amtlichen Verordnung. Die Soldaten richteten ihre Bajonette auf uns. „Alle Juden werden zum Bahnhof evakuiert“, sagte er.

Die Kranken mussten auf Tragen hingebracht werden. Meine Urgroßmutter mütterlicherseits lebte bei uns. Sie war sehr alt und konnte nicht gehen, deshalb mussten wir sie in einer Art Rikscha zum Bahnhof schaffen.

„Warum hast du mich hierhergebracht? Ich will in die Küche“, sagte sie zu meiner Mutter. Sie begriff nicht, was vor sich ging. Von Zeit zu Zeit denke ich immer noch über diese Frage nach – Warum haben sie mich hierhergebracht? Niemand hat mir je eine Antwort gegeben.

Wir erreichten Ataki. Hier, am Dnjestr, wurde es wirklich schlimm. Man hatte die Türen und Fenster herausgerissen und alles weggeschafft, was irgendeinen Wert besaß. Es standen nur noch die Mauern.

Im Untergeschoss des heruntergekommenen Hauses, in dem wir schlafen mussten, war ein Verwundeter gewesen. An der Wand über ihm, in hebräischen Buchstaben, die Worte: „Sie bringen uns um.“ Das war die Botschaft, die er hinterlassen hatte, geschrieben mit seinem Blut.

Sie schafften uns auf ein behelfsmäßiges Floß und warfen alle unsere Bündel und Habseligkeiten übereinander. Die Überfahrt dauerte zwanzig Minuten, dann wurden wir ausgeladen. Jetzt waren wir in Transnistrien, das heißt so viel wie „jenseits des Dnjestr“.

Hier stellten die rumänischen Soldaten Konvois zusammen. Sie nahmen ein paar hundert Juden und befahlen uns loszumarschieren, während sie neben uns herritten. Wir mussten meine Urgroßmutter zurücklassen.

Wir waren Familien.

Wir hatten Kinder, wir hatten Eltern, wir hatten Sachen, die uns gehörten. Man konnte nicht alles mitnehmen. Was wirft man weg? Seine Kinder, seine Eltern, seine Sachen?

Meine Urgroßmutter konnte nicht gehen. Man sagte uns, es gebe ein Heim oder so etwas. Man werde „es“ mitnehmen. Sie mitnehmen.

Tatsache ist, dass wir sie im Straßengraben zurückließen. Sie wusste es. Das war das Ende eines Lebens. Eines von sechs Millionen.

Wir mussten alle unsere Habseligkeiten auf dem Rücken tragen.

Ein Mann, den wir von Gura Humorului kannten, trug sein dreijähriges Kind.

Es war klar, dass der Mann zusammenbrechen würde, nachdem er das Kind stundenlang getragen hatte. Mein Vater nahm es ihm für eine Weile ab,

damit er sich ausruhen und etwas erholen konnte, während wir weitergingen. Das half ihm zu überleben.

Der Ort, wo uns die Soldaten zurückließen, hieß Kopaigorod. Mein Vater ging los und erkundete die Gegend. Als er zurückkam, sagte er, dass Kopaigorod nichts Gutes verhieß und wir sofort wegmüssten. Er wusste jetzt, dass uns niemand helfen würde und wir den Mut haben mussten aufzubrechen.

Und so zogen wir in der Nacht los, als niemand uns sehen konnte, mit unseren Bündeln auf dem Rücken. Ich am Schluss.

Ich würde es nicht Flucht nennen. Es war nicht wie im Kino, eine heroische Flucht, gut geplant und mit Soldaten auf Wachtürmen; das ist ein großes Ding. Bei uns war es anders, wir verirrten uns nur. Aber wenn uns jemand entdeckt hätte ... Es war November 1941, als wir endlich Halt machten, an einem Ort namens Iwaschkowzi, einem kleinen Dorf, das von rumänischen Soldaten besetzt war.

Zu dritt waren wir in Kopaigorod aufgebrochen, zu acht kamen wir in Iwaschkowzi an.

Irgendwo unterwegs stieß die Familie Landau zu uns. Sie gingen in der Dunkelheit und nicht auf der Straße, und sie erkannten, dass wir Juden waren. Marcus und Nellie mit ihren beiden Töchtern Annie und Fritzi und der Großmutter. Fritzi! Könnt ihr euch vorstellen, ein so deutscher Name! Aber das half ihr nicht.

Wir acht beschlossen zusammenzubleiben. Unser Vorteil war, dass wir mit den Soldaten Rumänisch sprechen konnten, was der einheimischen ukrainischen Bevölkerung nicht möglich war. Weil wir uns verständigen konnten, nahmen uns die Dorfbewohner auf.

Eine ukrainische Familie im Dorf überließ uns eine Sommerküche, die sie nicht benutzte und die von ihrem Haus getrennt war. Dort blieben wir mit den Landaus.

Wir waren von unserem Fußmarsch so durchnässt und durchgefroren, dass einer von uns, als wir an einem Zaun aus trockenen Ästen und Zweigen vorbeikamen, ein paar Zweige als Brennholz abbrach. Der Zaun war nichts Besonderes, er bestand nur aus aufeinandergeschichteten Zweigen.

Aber am nächsten Morgen gab es großen Ärger. Der Besitzer des Anwesens mit dem Zaun war sehr wütend.

Es dauerte nicht lange, bis wir mit den Dorfbewohnern Probleme bekamen.

Hat man nichts zu essen, bekommt das Wort Hunger eine andere Bedeutung. In dieser Situation beherrscht der Hunger dein Denken. Wo bekomme ich etwas zu essen her? Alles andere ist bedeutungslos. Ich bin hungrig ... wo bekomme ich etwas her? Es zermürbt dir den Kopf.

Man spürt, der Körper verlangt Nahrung, und dieses bohrende Gefühl hört erst auf, wenn man etwas isst. Man kann seinen Geist nicht vom Essen ablenken.

Brennholz sammeln wurde in Iwaschkowzi bald zu einer meiner Hauptaufgaben. Ich ging in den Wald, sammelte Zweige und band sie mit einer Schnur zusammen, dann lud ich das Bündel auf meinen Rücken, um es im Dorf gegen lebensnotwendige Dinge wie Milch oder Brot einzutauschen. Das war eine der Möglichkeiten, an diesem neuen Ort zu überleben.

Die Soldaten verboten uns, in den Wald zu gehen, wo ich Holz sammelte. Die in der Nähe stationierte Einheit kontrollierte regelmäßig das Dorf, um sicherzustellen, dass wir ihre Vorschriften befolgten.

Wenn man einem Soldaten begegnete und ihn nicht ansah, fragte er: „Warum siehst du mich nicht an?“

Wenn man ihn ansah, sagte er: „Warum siehst du mich an?“

Man konnte nie wissen. Vielleicht wollte der Soldat keine Gelegenheit auslassen, einen zu schlagen.

Aber wir missachteten ständig die Vorschriften, weil wir überleben mussten. Als Fremde im Dorf gab es für uns keine Nahrungsmittel, wir mussten Möglichkeiten finden, uns welche zu beschaffen. Der Verstoß gegen die Regeln der Soldaten war hier ein wichtiger Teil des Überlebens.

Nach ein paar Wochen hatte Herr Landau eine Idee. Er war Bauer gewesen, verstand also etwas vom Ernten. Er führte uns zu einem nahe gelegenen Acker, wo kurz zuvor Kartoffeln geerntet worden waren.

Herr Landau und mein Vater gruben mit kleinen Schaufeln flache Gräben. Ich ging hinter ihnen her und tastete in der umgegrabenen Erde nach Kartoffeln, die die Bauern bei der Ernte vergessen hatten.

Wenn man in den Kartoffeläckern erwischt wurde, konnte man getötet werden. Sie lagen außerhalb der für Juden erlaubten Grenzen. Einige Juden wurden getötet.

Wir kehrten mit einer Handvoll Kartoffeln zurück. Sie wurden gewaschen und kleingeschnitten, um eine Suppe zu kochen. Wir hatten keine Brühe oder Gewürze, nur Wasser und Kartoffeln, aber es war etwas zu essen. Herrn Landaus Idee hielt uns am Leben.

Einmal, nach einem Tag Arbeit irgendwo, brachte mein Vater einen halben Liter Öl mit nach Hause. Wir nahmen immer nur ganz wenig davon, damit es länger hielt.

Jeder bekam drei Tropfen in seine Kartoffelsuppe. Meine Mutter war diejenige, die das Öl verteilte, und ich beobachtete sie sehr genau. Ich wollte nicht, dass auch nur ein Tropfen von unserem Öl verschwendet wurde. Noch bevor das Öl den Flaschenrand erreicht hatte, rief ich: „Es reicht! Es reicht!“

Sie gab mir einen Klaps und sagte: „Es reicht mit dir!“ Aber am Ende hatten wir eine gute Suppe. Wenn man ein klein wenig Öl dazugibt und es oben auf der Suppe schwimmt ...

Es ging uns besser.

Aber im Winter 1942 gab es neue Probleme für uns. Wir lebten zu acht in unserem kleinen Schuppen, und einige von uns bekamen Typhus.

In Herrn Landaus Familie erkrankten die Großmutter, die Mutter und die beiden Töchter. Alle Frauen außer meiner Mutter waren krank, aber keiner der Männer.

Es war tiefer Winter, aber uns war klar, wir mussten gehen, denn Typhus ist eine hochansteckende Krankheit. Meine Familie und ich kamen in einer nahe gelegenen Scheune unter. Sie bot Schutz, aber absolut keine Wärme. Man spürte die Kälte in den Knochen, es war schlimm.

Herr Landau blieb bei seiner Familie, er musste ja für sie sorgen. Ab und zu brachte er uns ein wenig heißes Wasser, das half ein bisschen. Trotzdem war es sehr, sehr hart, im Winter im Freien zu leben. Wir rückten eng zusammen, um unsere Körperwärme nicht zu verlieren. Wir zitterten entsetzlich und versuchten, ein bisschen Wärme voneinander zu bekommen.

Eine jiddische Redewendung lautet: „Du wirst nicht geprüft werden.“ Das bedeutet, dass dir nicht mehr aufgebürdet wird, als du ertragen kannst. Unter normalen Umständen denkst du, du schaffst es nicht, aber wenn du vor großen Herausforderungen stehst, kannst du überleben. Nach sechs Wochen war die Typhus-Angst vorbei. Leider starb die Großmutter der Familie Landau, aber die anderen wurden gesund. Meine Eltern und ich kehrten in die Sommerküche zu den Landaus zurück. Es war eine Erleichterung, wieder unter besseren Bedingungen zu leben.

Mein Vater und Herr Landau arbeiteten auf dem kollektiven Bauernhof des Dorfes, wann immer es eine Möglichkeit gab. Ich half, wo ich konnte. Ich war zu klein, um körperlich so schwer zu arbeiten wie sie. Nach der Weizenernte ging ich mit einem Sack aufs Feld und fand hier und da eine Ähre. Wenn der Weizen geerntet war, wurde das Stroh so geschnitten, dass fünf bis acht Zentimeter hohe Stoppeln übrig blieben. Ich musste barfuß gehen, weil mir meine Schuhe zu klein geworden waren. Aber ohne Schuhe stachen die spitzen Stoppeln wie Nägel in meine Füße. Ich band mir Lumpen um die Füße, aber sie verrutschten ständig.

Schließlich fand ich ein Stück Stacheldraht und wickelte es um die Lumpen, damit sie hielten. Trotzdem verrutschten sie alle paar Minuten, und die Stoppeln stachen in meine Füße, sodass sie bluteten.

Ich wartete im Graben neben der Straße, und wenn eine Rübe herunterfiel, lief ich hin und holte sie mir.

Zu den Feldfrüchten des Dorfes zählten Zuckerrüben, die die Bauern in eine Fabrik brachten. Sie luden ihre Wagen immer zu voll, weil die Rüben ineinander rutschten oder einige herunterfielen und der Wagen bei der Ankunft am Ziel voll sein musste. Das Gewicht der Zuckerrüben drückte den Wagen Richtung Pferde, die nicht anders konnten, als bergab zu rennen. Wenn die Pferde anfingen zu rennen, wackelte der Wagen noch mehr, und ab und zu fiel eine Zuckerrübe herunter.

Ich rannte nach Hause, um meiner Mutter zu sagen, was passiert war. Wenig später kam mein Vater, und als Erstes fragte er mich nach den Zuckerrüben. Er wurde böse auf mich.

Plötzlich erschienen zwei Soldaten bei der Mühle auf der anderen Straßenseite, wo mein Vater und Herr Landau mit dem gesammelten Weizen warteten. Die Mühle lag natürlich außerhalb der für Juden erlaubten Grenzen. Ein Soldat schlug meinen Vater mit dem Gewehrkolben so auf den Kopf, dass sein Ohr in der Mitte einriss.

Ein anderes Mal trieben die rumänischen Soldaten in Iwaschkowzi jüdische Männer zur Arbeit zusammen. Das taten sie regelmäßig, wenn es etwas zu bauen oder zu reparieren gab – immer wenn sie Arbeitskräfte brauchten –, und sie mussten bestimmte Quoten an Arbeitern erfüllen, die sie in den Dörfern zusammentrieben.

Viele der Männer, die mitgenommen wurden, kehrten nicht mehr zurück.

In Iwaschkowzi gab es nicht viele Juden, aber wir erfuhren von dem Arbeitsbefehl, bevor die Soldaten kamen, um meinen Vater zu holen.

Mein Vater ging in den Wald, um den Soldaten zu entkommen. Er wollte meiner Mutter nicht sagen, wohin er ging, aus Angst, die Soldaten würden sie foltern, um zu erfahren, wo er war. Mein Vater sagte nur mir Bescheid.

Ich brachte ihm jeden Tag Essen und Wasser.

Ich nahm jedes Mal einen anderen Weg, damit jemand, der mich sah, keinen Verdacht schöpfte.

Mein Vater blieb vorsichtshalber ein paar Wochen im Wald, bis sich die Lage beruhigt hatte.

Ich weiß nicht, wie er überlebte, denn er hatte keinen Schlafsack oder sonst etwas. Er hatte nur die Kleider, die er am Leib trug.

Bei den Diskussionen über den Holocaust habe ich Schwierigkeiten mit dem Wort Widerstand. Die traurige Wahrheit ist, dass jeder, der aufstand und offen oder aktiv Widerstand leistete, sofort getötet wurde. Es blieb niemand übrig, der diese Geschichte hätte erzählen können. Aber viele leisteten Widerstand, indem sie die Regeln missachteten. Sogar meine Eltern und ich beteiligten uns an dieser Art Widerstand. Es war kein Widerstand, der uns gegenüber den Nazis oder den Rumänen zu Verrätern machte. Wir leisteten Widerstand, weil wir überleben wollten. Unser Überleben war Widerstand gegen diese Leute. Sie ergriffen tausende Menschen und schickten sie an einen Ort im Nirgendwo, ohne Hilfsmittel. Um zu überleben, mussten wir ihre Regeln übertreten. Man kann es Widerstand nennen, man kann es Überlebensinstinkt nennen, wie man will. Weglaufen war Widerstand. Nahrung finden war Widerstand. Den Horror zu überstehen war Widerstand.

Unzählige Male hatte ich wirklich Angst um mein Leben. Wir entkamen einigen gefährlichen Situationen. Einmal, als ich allein war, hörte ich Schüsse in der Umgebung. Nebenan war eine Scheune, und unter dieser Scheune war ein Kriechgang, in dem ich mich versteckte. Ich hörte die rumänischen Soldaten näher kommen, ich hörte sie brüllen und in die Luft schießen.

Nach einer kurzen Weile kam ein großer schwarzer Hund und legte sich neben mich. Es war der Hund der Soldaten, und ich hörte, wie sie ihn suchten. Ich vermutete, dass sie ihn misshandelt hatten und er weggelaufen war. Ich versuchte, den Hund zu verscheuchen. Was, wenn die Rumänen mich mit ihm entdeckten? Daraufhin fing er an zu knurren. Ich wurde mucksmäuschenstill und hoffte, der Hund würde gleichfalls still sein.

Es dauerte sehr lange, bis die Schüsse aufhörten und ich wusste, dass die Soldaten fort waren. Auch der Hund schien zu spüren, dass sie fort waren. Er stand auf und verließ die Scheune. Ich brauchte ein paar Augenblicke, bis ich mich gefasst hatte. Ich hatte Glück gehabt.

Alle wollten befreit werden. Es wurde ein Dauerwitz unter den Juden, einander zu fragen: „Wo ist die Front?“ Und die Antwort lautete: „Drei Wochen unter Lemberg.“ Lemberg ist der deutsche Name der Stadt Lwow in Polen, heute Lwiw in der Ukraine. „Drei Wochen unter Lemberg“ war eine unsinnige Antwort.

Aber sie rief ein Lächeln hervor, und der Witz war eine gute Möglichkeit, jemanden aus Trübsinn und Verzweiflung herauszureißen. Statt „Hallo“ sagte man: „Wo ist die Front?“ Wenn ich jetzt daran denke, glaube ich, es war gut, dass wir diese Kraft besaßen, über unsere Situation Witze zu machen.

Als 1943 die Front näher rückte, wurden in der Gegend die russischen Partisanen aktiv. Bei ihrer Ankunft waren sie sehr müde. Fanden sie ein Haus zum Schlafen, legten sie sich hin, so dicht nebeneinander, dass man kaum noch den Boden sah.

Gewöhnlich blieben sie im Wald, nur mit ihren Pferden. Unter diesen Bedingungen zu überleben und dabei noch zu kämpfen, erschien mir unvorstellbar schwierig.

Wir waren froh, dass die Partisanen bei uns blieben. Sie behandelten uns gut.

Dezember 1943. Ich war den ganzen Tag mit einem Bündel Holz auf dem Rücken im Wald gewesen und kehrte auf einem Feldweg nach Hause zurück. Der Boden war völlig gefroren und der Weg uneben, mit tiefen Spuren von Pferdehufen, Füßen und Karren. Es war gefährlich, aber ich musste diesen Weg nach Hause nehmen.

Plötzlich hörte ich hinter mir ein Geräusch und fing an zu rennen. Nach ein paar Schritten stolperte ich und stürzte. Das Bündel Holz fiel von meinem Rücken und traf meinen linken Arm. Der Schmerz brannte wie Feuer, es war kaum zu beschreiben.

Das Bündel hatte meinen Arm gebrochen und meinen Ellbogen ausgerenkt. Jemand holte eine ukrainische Babuschka aus dem Dorf. Sie versuchte, meinen Arm zu richten und meinen Ellbogen wieder einzurenken. Es tat unglaublich weh.

Ich bekam keine richtige Behandlung für meinen Arm. Während er heilte, wuchsen die Knochen nicht richtig zusammen, und ich kann ihn bis heute nicht gut bewegen. Ich habe Schwierigkeiten, mit Messer und Gabel zu essen, weil ich die Gabel mit der Hand nicht bis zum Mund führen kann.

An einem kalten Morgen im Jahr 1944 kamen zwei Deutsche auf Pferden nach Iwaschkowzi.

Sie stiegen drei oder vier Häuser von uns entfernt ab und gingen zu einem der Häuser, um Rast zu machen und ihre Pferde zu füttern. Die Familie, die dort wohnte, ließ sie hinein. Aber es war der 18. März, der Tag unserer Befreiung durch die Russen. Die Partisanen in der Gegend erfuhren von den Deutschen und lauerten ihnen auf. Einer der Deutschen kam heraus, um sein Pferd zu satteln, und die Partisanen erschossen ihn sofort. Er hatte seine schwere Bewaffnung im Haus gelassen, weil er nicht ahnte, dass ihm Gefahr drohte.

Der Deutsche, der im Haus geblieben war, verfügte jetzt über die doppelte Bewaffnung und Munition und begann, sich gegen die Partisanen zu verteidigen.

Die Partisanen befanden sich in einer misslichen Lage. Sie wussten, dass im Haus fünf Kinder waren, hatten aber keine Ahnung, wo. Der Deutsche tötete einen der Partisanen, bevor er selbst erschossen wurde.

In einem anderen Teil des Dorfes waren vier Deutsche, die zu den Bewohnern sagten, sie wollten sich ergeben. Jemand informierte die Partisanen, und die Partisanen beschlossen, sie zu hängen, um für die Erschießung zuvor Rache zu nehmen. In der Dämmerung sah ich sie baumeln.

Drei der vier Deutschen, die gehängt wurden, starben. Bei dem vierten riss das Seil, und er konnte entkommen. Am nächsten Morgen betrat ein Bauer unweit unserer Behausung seine Scheune und fand dort den vierten Deutschen. Zu Tode erschrocken rannte er hinaus und schrie: „Njemtz, njemtz!“, was auf Russisch „Deutscher“ heißt.

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, aber wir wussten nicht, was für ein Deutscher das war. Auf der Türschwelle unseres Schuppens warteten mein Vater und ich mit einer Axt, entschlossen, gegen den Deutschen zu kämpfen.

Am Ende kam niemand. Nichts passierte. Aber wir hatten Angst.

Ein paar Wochen nach den Zwischenfällen mit den Deutschen beschlossen wir, dass wir uns im Gefolge der Sowjets nach Hause aufmachen konnten.

Zu Fuß, eine andere Möglichkeit hatten wir nicht.

Ich umwickelte meine Füße mit Lumpen, aber das war nicht ideal, weil bitterkalter Winter war und die Lumpen nass wurden und an meinen Füßen gefroren.

Wir gingen den ganzen Tag, und wenn es dunkel wurde, fanden wir irgendwo einen Platz zum Schlafen. Es war inzwischen Frühling oder Sommer geworden.

Wir gelangten in eine größere Stadt namens Tschernowitz. Zu diesem Zeitpunkt war das umliegende Gebiet für die Russen feindliches Territorium, deshalb bewachten sie die Brücke. Sie ließen uns nicht hinüber.

Schließlich kam eine große Gruppe Partisanen, um die Brücke zu überqueren, und weil ich klein war, konnte ich mich hinter ihnen durchschmuggeln, während die Russen ihre Papiere kontrollierten.

Ich lief ganz allein durch die Stadt. Ich ging zum Haus meines Onkels und sagte ihm, dass meine Eltern auf der anderen Seite der Brücke waren und Hilfe brauchten.

Wir blieben ein paar Wochen bei meinem Onkel in Tschernowitz.

Er gab uns Kleidung, denn wir hatten nur Lumpen. Jedes Hemd und jede Hose, die ich besaß, war mir entweder zu klein geworden oder war verschlissen. Es tat so gut, bessere Kleidung zu tragen.

Wir verließen meinen Onkel und setzten unseren Weg nach Hause fort. Wir besaßen nicht mehr viele Sachen, hatten also kaum noch etwas zu tragen. Wir brauchten ziemlich lange, ein paar Monate oder so, um nach Hause zu kommen, weil wir hinter der Front bleiben und feindliches Gebiet meiden mussten. Wir wussten nie genau, wo die Front verlief oder wie weit wir an einem Tag kommen würden. Unterwegs mussten wir auch etwas zu essen finden.

Bessarabien und die Bukowina waren ein Teil Rumäniens, und da Rumänien mit den Deutschen verbündet war, betrachtete die russische Besatzungsmacht es als feindliches Territorium. Sie waren misstrauisch gegen jeden, der dort war, auch gegen uns. Aus diesem Grund wollten wir nicht in der nördlichen Bukowina bleiben, da diese Region 1939 von den Russen/Ukrainern besetzt gewesen war.

Und nach Gura Humorului konnten wir nicht zurück, weil es immer noch von den Deutschen besetzt war. Die deutsche Front verlief sehr lange dort.

Und so überquerten wir den Fluss zur Stadt Mihaileni, wo neue Herausforderungen auf mich warteten.

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Im Dezember 2019 reiste Gilad Seliktar nach Amsterdam, um sich mit den Brüdern Nico und Rolf Kamp zu treffen, Holocaust-Überlebenden, die sich während des Zweiten Weltkriegs vor den Deutschen versteckt hielten. Die Kamp-Brüder kamen mit Gilad mehrmals an verschiedenen Orten zusammen und erzählten ihm von ihren Erfahrungen während des Krieges. Als jüdische Kinder wurden sie in dreizehn verschiedene Verstecke gebracht. Während sie untergetaucht waren, mussten sie ihr Geheimnis für sich behalten, um zu überleben.

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Rolf, kann ich anfangen?

Ja

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Wir sind hier in dem Haus in Amersfoort, wo Sie als Kind gelebt haben,

und ich möchte Sie fragen - was können Sie mir über Ihre Kindheit vor dem Krieg erzählen?

Wir haben hier als ganz normale Familie gelebt. Mein Vater Fritz ging zur Arbeit nach Barneveld. Er leitete dort zusammen mit jemand anderem eine Fabrik.

Mein Vater sprach Niederländisch, weil er in Holland Geschäfte tätigte. Meine Mutter Inge nahm wahrscheinlich Niederländischunterricht.

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Ich war sechs. Mein Bruder Nico war drei Jahre alt.

Mein Vater war vermutlich sehr stolz auf seine Jungs. Wir gingen Hand in Hand spazieren. Er machte Traubensaft für uns.

Wenn mein Vater uns zu Bett brachte, drehte er unsere Strümpfe bis zur Mitte auf links, damit er sie uns am nächsten Morgen leichter über die Füße ziehen konnte.

Das mache ich heute noch so, wenn ich Mühe habe, mir die Socken anzuziehen.

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Mein Bruder Nico hatte eine Freundin im Nachbarhaus. Betty.

Manchmal liefen sie hinaus auf die Felder. Ich wusste nicht, was sie dort machten, aber sie waren natürlich noch klein.

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Und dann kamen eines Tages Leute, die ich nicht kannte, und brachten uns zu unserem ersten Versteck.

Bevor wir gingen, musste meine Mutter den Stern abtrennen, der auf unsere Kleider genäht war.

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Ohne einen Stern durfte man nicht auf die Straße.

Wenn man ihn abtrennte, musste man achtgeben, dass keine Spuren mehr zu sehen waren.

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Schalom

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Schalom, Nico, wie alt waren Sie, als Sie und Ihr Bruder Rolf von Ihren Eltern getrennt wurden?

Ich war fünf Jahre alt, als wir im Juni 1942 untergetaucht sind.

Wir wurden von einem sehr netten Herrn und einer Dame zum Bahnhof von Amersfoort gebracht. Es war dunkel. Ich wusste nur, dass wir von nun an kein Deutsch mehr sprechen durften, denn zu Hause mit meinen Eltern sprachen wir Deutsch und auf der Straße Niederländisch.

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Erzählen Sie mir, was im ersten Versteck geschah.

Es war ein junges Paar. Wir nannten sie Onkel und Tante. Sie hatten ein Haus mit einem deutschen Schäferhund.

Wir bekamen neue Namen, und mein Bruder wurde Roelof statt Rolf genannt,

und ich hieß von nun an Klaas statt Nico.

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Die Leute, bei denen wir wohnten, bekamen einen solchen Schreck, dass sie sich sofort mit dem Untergrund in Verbindung setzten, und die kamen und brachten uns fort.

Wir waren also zwischen einer Woche und zehn Tagen dort gewesen,

jetzt kamen wir auf einen Bauernhof in Leusden. Nach etwa drei Monaten mussten wir wieder weg, weil die Bäuerin schwanger wurde und fand, es sei zu gefährlich, uns zu verstecken.

Und danach kamen wir zu einer Familie in Stoutenburg.

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Sie hatten eine kleine Tochter. Und wir spielten zusammen..

Da wir nicht in die Schule gingen, mussten wir irgendetwas anderes machen. Und sie gaben uns zwei Kaninchen, ein weißes und ein schwarzes,

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wir fütterten sie und kümmerten uns jeden Tag um sie.

Und eines Tages kamen zwei Männer und sagten, sie seien von der deutschen Gestapo oder so. Natürlich wussten wir nichts von ihnen, und die Leute, bei denen wir wohnten, kannten sie auch nicht. Aber die Frau sagte, wir müssten uns verstecken.

Wir liefen über die Felder in den Wald. Dort blieben wir, bis es Nacht wurde.

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Wir landeten in einem Hühnerstall.

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Wenn ich mich recht erinnere, kam später auch meine Mutter. Aber wir hatten natürlich nichts zu essen und zu trinken. Nach einer Weile bat mich mein Vater, zum Bauernhof zu gehen und zu fragen, ob ich ein wenig Milch bekommen könnte.

Ich ging hin, und der Bauer gab mir Milch. Aber er hatte Angst und sagte, wir könnten nur ein paar Tage bleiben. 105Und dann zogen wir weiter. Unterdessen hatte jemand eine neue Adresse für uns gefunden. Wir haben an 13 verschiedenen Orten gelebt, auch in einem Hühnerstall.

Im Frühjahr 1944 kamen wir zur Familie Traa, einer Bauernfamilie in dem kleinen Dorf Achterveld.

Der Vater hieß Hendrikus und die Mutter Regina. Wir nannten sie Onkel Henk und Tante Regina. Sie hatten 10 Kinder, wir waren Nummer 11 und 12. Das jüngste war noch ein Baby.

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Wir kannten ihre Gewohnheiten nicht, und sie kannten unsere nicht, und so war es für beide Seiten ein richtiger Kulturschock. Damals legten viele Bauern keinen großen Wert auf Hygiene, und deshalb ließen sie das Baby während des Essens auf dem Tisch herumkrabbeln.

Wir gingen früh zu Bett, denn wir hatten kein elektrisches Licht, und wir standen früh auf. Wir gingen nicht zur Schule. Aber wir halfen auf dem Bauernhof. Und alle zwei Wochen mussten wir in einer Wanne baden. Dafür mussten wir Holz nehmen, in der Küche Wasser heiß machen und es dann in die Wanne gießen. Zum Glück hatten wir einen Bach in der Nähe, und so konnten wir uns im Sommer dort waschen.

Die Familie hatte zwei Hilfskräfte: ein vierzehnjähriges Mädchen namens Phietje und Marinus, der Anfang zwanzig war. Er war untergetaucht, weil er Angst hatte, nach Deutschland geschickt zu werden und dort in ein Zwangsarbeiterlager zu kommen. Später kam Hendrik Oppenheimer, ein dreißigjähriger jüdischer Fotograf aus Holland, um sich zu verstecken. Leute kamen und gingen, und am Ende des Kriegs waren wir 17 Personen auf dem Hof. 107

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In dem Bauernhaus war der vordere Teil für die Menschen und der hintere Teil für die Tiere. Und über dem Kuhstall befand sich ein Heuboden.

Wir Kinder hatten dort einen Durchschlupf geschaffen.

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Und dieser Durchschlupf führte zu einem rückwärtigen Raum in Form eines kleinen Dreiecks.

Ich sagte also zu ihm: „Geh da rein“, und dann stopfte ich den Eingang mit Heu zu.

Unterdessen waren die Schwarzhemden auf den Hof gekommen und fragten den Bauern, der vorn aus dem Gebäude herauskam: „ Haben Sie einen flüchtenden Mann gesehen?“ Der war doch erst 17. Und der Bauer sagte Nein. Er hatte ihn tatsächlich nicht gesehen, denn er versteckte sich ja im hinteren Teil. Später aßen wir zu Abend, und als wir fertig waren, fragte ich den Bauern: „Kann ich noch einen Teller haben?“

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Er meinte: „Du hast doch gerade gegessen!“ Ich sagte Ja, und dann musste ich ihm die Geschichte erzählen.

Er war nicht gerade begeistert, sagte aber: Na gut, er kann drei Tage bleiben. „Dann muss er den Hof verlassen.“

Der Junge muss irgendwohin gegangen sein. Ich nehme an, er wusste, was er zu tun hatte. Aber wir Kinder hatten keine Ahnung, was um uns herum vor sich ging ... wie schlimm es war. Wir wussten nur, dass wir uns nicht erwischen lassen durften.

111

Weihnachten kam, und die Kaninchen waren verschwunden.

Es hieß, sie seien ausgebrochen.

Später, nach dem Krieg, wurde mir klar, dass sie an Weihnachten au f den Tisch gekommen waren.

112

113

Ostern ist das Fest, das wir Pessach nennen. Es ist ein christliches Fest, und das Essen an Ostern war sehr wichtig. Und sie hatten wirklich nichts mehr zu essen. Deshalb wurden die Kaninchen geschlachtet. Aber Juden essen nun mal keine Kaninchen. Ich bekam den Kopf des Kaninchens, und obwohl man ihm das Fell abgezogen hatte, erkannte ich, dass es das Kaninchen war.

Und ich sagte: „Ich esse kein Kaninchen.“ Seither habe ich nie welche gegessen. Es war schrecklich, fast traumatisch. Aber so war das, da haben wir unsere Kaninchen verloren. Gab es viele Situationen, in denen es schwierig war mit Ihrer jüdischen Identität?

Wir waren untergetaucht, wir konnten uns nicht allzu 114 sehr beschweren.

Diese Leute waren katholisch. Und ich erinnere mich, dass eines Tages der Bauer sagte: Sonntag gehen wir alle in die Kirche.“ Ich „Nächsten wusste, meine Eltern würden nicht wollen, dass ich in die Kirche gehe. Aber das konnte ich nicht als Argument anführen.

Na ja, du hast die Kämpfe mit dem Bauern immer verloren.

Ja, aber ich sagte: „Ist das nicht viel zu gefährlich?“ Und er dachte eine Weile nach und meinte dann: „Ja, vielleicht ist es gefährlich.“ Denn da waren jetzt diese beiden Jungs vom Bauernhof, von denen sie immer sagten, sie seien Verwandte von weit her. Aber wir waren mit der Religion nicht vertraut und wussten nicht, was man in einer Kirche macht. Zum Glück sind wir also nicht gegangen.

115

116

Die neue Adresse war bei einem Verwandten des Bauern, der ein Stück die Straße runter wohnte. Um dorthin zu kommen, mussten wir die Hauptstraße überqueren, die gepflastert war. Wir mussten leise sein, denn die Deutschen patrouillierten in der Gegend, und mein Bruder und ich trugen Holzschuhe.

Marinus, der selbst in Gefahr war, begleitete uns. Und er nahm Nico auf seine Arme.

117

Nico fiel ein Holzschuh aus der Hand. Die deutsche Patrouille hörte den Krach und rief: „Wer ist da?“

118

Sie fingen an zu schießen.

Ich dachte, mein Bruder wäre getroffen worden.

119

Als er mich sah, war er glücklich, und ich war glücklich, und alles ging gut.

Wir blieben zwei Wochen bei dem Verwandten des Bauern in Barneveld. Das war das nächste Versteck, könnte man sagen.

120

Als unsere Eltern am 6. September in Auschwitz ankamen, mussten sie den Selektionsprozess bei Doktor Mengele durchlaufen. Und da mein Vater nicht arbeitsfähig war, musste er in die Reihe mit den Arbeitsunfähigen und wurde sofort in die Gaskammer geschickt.

Es war das letzte Mal, dass meine Mutter ihn sah.

121

Erzählen Sie mir von der Nacht, als die Deutschen hierherkamen, auf den Hof, und angriffen.

Es war schrecklich.

Der Bauer von gegenüber warnte uns,

Es wurde die ganze Nacht geschossen.

er gab uns den Rat, Sandsäcke vor das Haus zu legen, weil es einen Kampf geben werde zwischen den Kanadiern, die von da drüben kamen, und den Deutschen, die von der Rückseite des Bauernhofs kamen.

Und es gab Landminen und drei Handgranaten.

122

Wir versteckten uns in diesem kleinen Keller. Alle hatten Angst.

Als die Handgranaten explodierten, ging die einzige Kerze aus, die wir im Keller hatten, und musste mit einem Streichholz wieder angezündet werden.

Rolf - ich habe nie erfahren, ob er Angst hatte oder nicht - musste unter der Treppe sitzen und auf die Kerze achtgeben.

123

Am nächsten Morgen mussten wir evakuiert werden.

Die Deutschen hatten das Pferd des Bauern beschlagnahmt. Jetzt hatten wir einen Karren , aber kein Pferd. Dieser Karren wurde wohl von dem Bauern und von dem Mann gezogen, der sich vor den Deutschen versteckte. Der Bauer lud Essen und Decken und solche Sachen auf den Karren.

124

Die Deutschen hatten Landminen vergraben und mit Erde zugedeckt, um sie zu tarnen. Vielleicht traten wir deshalb nicht auf die Minen, weil wir kein Pferd hatten. Aber der Bauer hinter uns mit seiner Tochter, einem kleinen Mädchen, trat auf eine Mine.

125

F ra g W ie

E rz

ä h le

en a n

Rolf

-

nS ie m w are ir v on nS ü b er ie , a da s ls S erst ie e Ve rste ck alt

Ein paar Wochen später kehrten wir auf den Bauernhof zurück.

Anna, eine Tante von uns, die Schwester meines Vaters, war vor dem Krieg zum Protestantismus konvertiert, und man hatte sie in Ruhe gelassen. Sie kam und holte uns ab.

126

Am 13. Juni fanden wir unsere Mutter wieder.

Sie war sehr dünn - ganz abgemagert. Sie war, glaub ich, einszweiundsiebzig groß und wog um die 34 , 35 Kilo ...

127

Sie trug etwas auf dem Kopf ... eine Art Tuch , weil sie komplett kahlgeschoren war. Und die Nummer auf ihrem Arm ... niemand verstand, was das war. Sie hat Auschwitz und Liebau überlebt.

Und als ich auf meine Mutter zuging ... war das Erste, was sie zu mir sagte: Ich bin so glücklich, euch zu sehen. „Aber sag, was wünschst du dir zu deinem Geburtstag nächste Woche?“ Und ich sagte: „ Dass du wieder da bist, reicht mir.“

Damit möchte ich unsere Geschichte beenden.

128

Anhang

Miriam Libicki (Vancouver)

Gilad Seliktar (Israel)

Barbara Yelin (München)

Ich gestehe, ich habe keine Ahnung, wo wir anfangen sollen. Es geht um die Überlebenden. Wir können mit ihnen anfangen.

Miriam, vielleicht du zuerst?

David Schaffer und ich haben zusammengearbeitet, weil er in Vancouver lebt. Er hat einen scharfen Verstand, aber er beschreibt die Dinge auch in lebendigen Details und macht einen Witz, wenn man nicht damit rechnet.

Gut.

David hat drei Söhne und neun Enkelkinder. Seine Frau Sidi ist Malerin, ihre Bilder handeln oft von Trauer und Verlust von Holocaust-Überlebenden. Das Haus der beiden ist freundlich und voll mit Kunst.

David spricht viel mit den Händen, was mir als Künstlerin gefällt. Ich habe auch das Glück, dass er eine Mappe mit Dokumenten und Bildern zu seinen Erlebnissen als Überlebender besitzt. Sein Zeitungsausschnitt über die Struktur von Weizenähren hat mich inspiriert, grafische Illustrationen in die Erzählung einzuarbeiten.

Emmie Arbel lebt mit ihrer Familie in Israel. Jedes Jahr im Sommer nimmt sie am Generationenforum in Ravensbrück teil.

Dort bin ich ihr zum ersten Mal begegnet, im Sommer 2019.

Sie sprach zu jungen Erwachsenen aus der ganzen Welt. Emmie erzählte ihnen ihre Erinnerungen. Danach war es still im Raum. Und ich begann zu verstehen, was für eine schwere Aufgabe es ist, eine Zeitzeugin zu sein.

Ich habe mit den Brüdern Nico und Rolf Kamp gearbeitet. Rolf ist drei Jahre älter als Nico, sie leben in Amsterdam, nicht weit voneinander entfernt, und sind Holocaust-Überlebende, die sich im Zweiten Weltkrieg vor den Deutschen versteckten. An dreizehn verschiedenen Orten.

Im Laufe der Jahre haben sie vor Zuhörern über ihre Erfahrungen gesprochen und ein Buch veröffentlicht, an dem auch ihre Mutter mitgearbeitet hat, die den Holocaust ebenfalls überlebt hat.

Im Dezember 2019 kam ich nach Amsterdam, um Nico und Rolf zu treffen. Sie waren wunderbar, Gentlemen aus einer anderen Zeit. Sie und ihre Frauen erinnerten mich an meine Großeltern. Ich interviewte sie an verschiedenen Orten. Jeder Ort brachte etwas anderes zum Vorschein, und mit jedem Interview lernte ich sie besser kennen.

Erstaunlich ist, dass sie beide dieselbe Geschichte erzählen, aber so unterschiedlich, dass ich dieselbe Geschichte aus zwei Perspektiven kennenlernte. Das hat mich fasziniert und wurde schließlich zu einem Erzählmotiv.

Ich weiß noch, wie Charlotte und die Filmcrew mein erstes Treffen mit David arrangierten. Als ich ihn sah und seine Stimme hörte, wollte ich ihn einfach umarmen. Wir haben uns umarmt, sobald wir uns getroffen hatten. Etwas an seiner Art erinnerte mich an meinen Großvater, der auch Ingenieur war mit viel Humor.

Davids Erfahrungen wiederum erinnerten mich an meine Großmutter. Sie lebte unter sowjetischer und dann unter deutscher Besatzung. Sie wurden irgendwohin deportiert, und die Besatzungsarmee sagte nur: Tschüss. Hoffentlich sterbt ihr. Ich bin froh, dass ich diese Geschichten erzählen kann, denn es ist nicht die übliche Holocaust-Geschichte mit Lagern, Wachposten und Gaskammern.

Es ist kein Projekt mit drei einzelnen Geschichten. Es ist eine Zusammenarbeit.

Zwischen den Überlebenden und uns, zwischen uns drei Zeichnern, aber auch in der größeren Gruppe.

Unsere Projektpartner sind in der ganzen Welt. Sie sind Historiker, Forschungsassistenten, Lektoren, Kuratoren und Archivare.

CHARLOTTE SCHALLIÉ - HOST

Hallo, können mich alle hören? Gut? Ihr seid stummgeschaltet. Hebt einfach den Daumen!

Mehr als 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es immer weniger HolocaustÜberlebende, die ihre Geschichte erzählen können – Und deshalb ist es wichtiger denn je, diese Geschichten zu sammeln und zu teilen.

Die Idee zu diesem Projekt stammt von meinem dreizehnjährigen Sohn, der keine Lust hatte zu lesen, aber plötzlich ein Interesse an Graphic Novels entwickelte.

Die meisten Bild- und Textdokumente, die wir über den Holocaust besitzen, stammen von den Tätern, und deshalb ist es extrem wichtig, dass Überlebende ihre eigene Geschichte erzählen.

Ich glaube, dass wir neue Ansätze für die Sammlung von Zeugnissen finden müssen, die die Geschichte des Holocaust auf eine umfassendere, tiefere Art und Weise erzählen.

Es erscheint uns sehr wichtig, dass die Schöpfer von Graphic Novels nicht nur Illustratoren sind, sondern die Geschichte aktiv und in direktem Austausch mit den Überlebenden erzählen.

Visuelles Erzählen in Form von Graphic Narratives eignet sich ganz besonders für die Geschichten von Überlebenden, die im Holocaust noch Kinder waren. Denn Bilder prägen sich tief in das Gedächtnis von Kindern ein.

Die drei Zeichner haben die Freiheit, in den Geschichten ihren eigenen künstlerischen Zugang zu gestalten.

CHARLOTTE SCHALLIÉ - HOST

n n

Sh

tm nl r  K  s  na

n

Wie ihr wisst, hat meine Familie einen anderen Hintergrund. Ich bin aus Deutschland, und einer meiner Großväter war bei der SS. Er ist im Krieg gefallen, ich habe ihn also nicht gekannt. Aber ich weiß es, und ich spüre eine Verantwortung.

Wir verlieren heute viele aus der Generation der Überlebenden ...

Mich an die Opfer zu erinnern, nie zu vergessen.

Ja. Wir wollten gemeinsam etwas Neues schaffen ...

... aber ihre Geschichten sind nicht verloren. Ich glaube, wir alle wollten nicht einfach die Vergangenheit nacherzählen.

Ihre Stimmen am Leben erhalten. Mama?

Den Erinnerungen der Überlebenden eine Form geben ...

Ich muss Schluss machen. Bis zum nächsten Mal!

Ich muss anfangen zu zeichnen, bevor mein Sohn auch aufwacht!

Ich kann nächste Woche!

Wie das Leben weiterging

«Ich fürchte mich vor nichts und niemandem» Von Emmie Arbel

as während der Schoah geschah, ist schwer

W

gen oder traurig sind. Ich begleitete meinen älte-

zu verstehen. Manchmal kann ich gar nicht

ren Bruder Menachem auf seinen Reisen nach

glauben, dass ich am Leben geblieben bin. Der

Deutschland, wo er jahrelang in Schulen ging und

Krieg war vorbei, und ich war krank, schwach und

seine Geschichte erzählte. Ich ging mit, um ihm

einsam, aber auch sehr rebellisch. Ich weiß, was

Kraft zu geben und ihn zu unterstützen. Aber ich

ich will und was ich nicht will. Ich fürchte mich

schwieg. Mit den Jahren wurde er schwächer, und

vor nichts und niemandem. Was ich in den Lagern

sein Gesundheitszustand erlaubte es ihm nicht

erlebt habe, hat mich gelehrt, mutig und stark zu

mehr zu reisen. Man fragte mich, ob ich an seiner

sein, und diese Erfahrungen prägen mich bis zum

Stelle weitermachen würde, und ich war einver-

heutigen Tag.

standen.

Ich sehe meinen Beitrag zur Holocaust-Erziehung

Ich wurde 1937 in den Niederlanden geboren, in

als eine Mission. Immer weniger von uns Über-

Den Haag. Mein Vater floh aus Ungarn, weil er

lebenden sind noch da. Ich weiß, wie wichtig es

nicht in die ungarische Armee eintreten wollte.

ist, der Welt diese entsetzliche Geschichte zu

Meine Mutter ist in den Niederlanden geboren. Ich

erzählen, damit so etwas nie wieder geschieht.

hatte zwei Brüder, Menachem und Rudi.

Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals mit einer

Für meine Familie begann der Krieg im Jahr 1942,

Comic-Künstlerin zusammenarbeiten würde. Und

als drei Polizisten kamen und uns in das Lager

doch ist es so gekommen. Sie heißt Barbara Yelin.

Westerbork brachten. Ich war damals viereinhalb

Sie ist eine bemerkenswert begabte Künstlerin

Jahre alt. Jede Woche kam ein Zug und brachte

und ein sehr liebenswürdiger und einfühlsamer

Leute in Konzentrationslager nach Deutschland

Mensch. Ich habe viel von ihr gelernt und eine

und Polen. Mein Großvater und meine Großmutter

gute Freundin gewonnen.

waren mit uns zusammen im Lager Westerbork,

Viele Jahre habe ich geschwiegen, um meine

aber eine Woche nach unserer Ankunft wurden sie

Töchter und mich zu schützen. Ich wollte nicht,

nach Auschwitz deportiert und dort mit Gas er-

dass meine Kinder sich meinetwegen beunruhi-

mordet. Wir blieben eineinhalb Jahre in Wester-

141

bork. Mein Vater wurde nach Buchenwald gebracht

Barbara hat das Chaos in ihren Zeichnungen ein-

und kehrte nicht mehr zurück. Meine Mutter, meine

gefangen. Zum Glück waren wir nur ein paar

Brüder und ich kamen in das große Frauenlager

Monate in Bergen-Belsen, sonst hätte ich nicht

Ravensbrück. Dort hatten wir wirklich Angst, da-

überlebt. Wir blieben dort, bis wir von der briti-

von erzählen Barbara und ich in meiner Geschichte.

schen Armee befreit wurden. Meine Mutter starb

Was wir ausgeklammert haben, war die Zeit, als

in Bergen-Belsen eine Woche nach der Befreiung.

mein älterer Bruder eine Hautkrankheit bekam

Von Bergen-Belsen wurden wir zusammen mit

und ins «Revier» (die Krankenstation des Lagers)

polnischen Kindern nach Malmö in Schweden ge-

musste. Er fehlte mir sehr, und obwohl es streng

schickt, um uns zu erholen. Wir blieben neun Mo-

verboten war, ging ich zu ihm. Ich war damals

nate dort, bis Menachem, der den Krieg gleichfalls

etwa sechs Jahre alt. Als der «Kapo» (der Häftling

überlebt hatte und in die Niederlande zurückge-

im Konzentrationslager, der andere Häftlinge

kehrt war, uns mithilfe von Listen des Roten Kreu-

beaufsichtigte) hereinkam, versuchte ich, mich hin-

zes fand und zu sich in die Niederlande holte. Wir

ter Menachem zu verstecken, der oben in einem

kamen in ein großes Haus, wo ein Ehepaar mit drei

Etagenbett lag. Der Kapo warf mich vom Bett her-

Kindern andere jüdische Kinder aufnahm, deren

unter und schlug mich mit einem Stock, bis ich

Eltern den Krieg nicht überlebt hatten. Wir waren

ohnmächtig wurde. Ich habe das Geräusch die-

insgesamt fünfzehn Kinder. Dort machte ich ein

ser Schläge immer noch in den Ohren und höre

paar gute und ein paar nicht so gute Erfahrungen.

schlechter, als es normal wäre. Irgendjemand

Ich musste ein Jahr lang im Bett liegen, weil ich

brachte mich zu meiner Mutter zurück.

Tuberkulose hatte, und fühlte mich sehr einsam,

Barbara und ich beschreiben in der Graphic Novel,

wenn alle anderen Kinder vergnügt zur Schule

dass ich in den Lagern fast gestorben wäre. Als

gingen. Mit neuneinhalb besuchte ich eine Mon-

man mich fragte, ob ich an diesem Projekt teilneh-

tessori-Schule, wo den Kindern viel Freiheit und

men würde, gefiel mir die Vorstellung, dass meine

individuelle Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Geschichte als Comic erscheinen würde, über-

Dieses System entsprach mir sehr, aber eineinhalb

haupt nicht. Ich dachte, Comics seien nur für Kin-

Jahre später gingen wir nach Israel. Ich wäre sehr

der. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto

gern in den Niederlanden geblieben, aber ich war

besser verstand ich, warum Comics so wirkungs-

noch zu klein, um selbst entscheiden zu können.

voll sind. Inzwischen finde ich, es ist eine wunder-

Am 17. Februar 1949 trafen wir in Kiryat Shmuel

bare und kreative Idee, Erwachsene und vor allem

ein, einem ehemaligen britischen Militärlager, in

Kinder zu erreichen, die nicht gerne Bücher lesen.

das die neu Zugewanderten gebracht wurden. Ich

Comics erleichtern es auch, im Schulunterricht

fühlte mich unwohl dort, es erinnerte mich an ein

dieses schmerzliche Thema zu vermitteln. Darum

Konzentrationslager. Etwa einen Monat später gin-

habe ich beschlossen mitzumachen.

gen wir in ein Kibbuz. Nach all den Geschichten,

Von Ravensbrück aus wurden meine Mutter, mein

die wir über das schöne Land Israel gehört hatten,

jüngerer Bruder Rudi und ich nach Bergen-Belsen

war meine Enttäuschung groß. Wir kamen an

gebracht. Mein älterer Bruder Menachem war nicht

einem grauen Wintertag an, überall war Matsch,

mehr bei uns. Er kam ins Männerlager von Ravens-

und viele Leute kamen, um «die große Familie» zu

brück, da er mit elf Jahren schon ein «Mann» war.

sehen, «die die Schoah überlebt hatte». Ich fühlte

142

mich wie im Zoo und beschloss sofort, diesen Ort

Haifa und traf meine eigenen Entscheidungen.

zu verlassen, sobald ich erwachsen war. Zu die-

1961 wollte ich die Welt sehen und ging nach Brasi-

sem Zeitpunkt war ich elf Jahre alt.

lien. Dort heiratete ich meinen Freund, den ich

In der Schule hatte ich Probleme. Ich hatte das

während meines Militärdienstes in Israel kennenge-

Gefühl, dass niemand mich versteht. Es gab Leh-

lernt hatte. Als Menachem für drei Jahre nach Afrika

rer, vor denen alle Kinder Angst hatten, aber ich

ging, fragte er mich, ob ich nach Israel zurückkeh-

begriff nicht, warum. Ich wusste, dass sie mich

ren und in seinem Haus leben wolle. So kehrten wir

nicht umbringen würden, wovor sollte ich also

1962 zurück und lebten in Menachems Haus in ei-

Angst haben? Nachdem ich die fünfte Klasse wie-

ner Kleinstadt. Obwohl wir nicht mehr zusammen

derholt hatte, beschloss ich, mit dem Lernen auf-

sind, leben mein Exmann und ich immer noch dort.

zuhören. Manchmal besuchte ich den Unterricht,

Wir hatten drei Töchter. Meine Tochter Tammi, die

aber meistens verließ ich das Klassenzimmer und

1968 geboren wurde, starb 2005.

las ein Buch. Ich lernte die Sprache schnell und

Ich begann als Sekretärin in einer großen psychia-

las gerne. Mein Wissen habe ich vorwiegend aus

trischen Klinik zu arbeiten, und nach ein paar Jah-

Büchern, nicht aus der Schule. Manchmal, wenn

ren wurde ich Leiterin der Verwaltung und blieb

ich in die Schule ging, saß ich im Klassenzimmer

es, bis ich in Rente ging. Das zeigt, dass man auch

und sagte kein Wort, auch wenn man mich an-

ohne Abitur oder Universitätsabschluss erfolg-

sprach. Ich habe keine Hausaufgaben gemacht

reich sein kann, wenn man nur zielstrebig und

und keine Klassenarbeiten mitgeschrieben. Dort

entschlossen ist. Im Ruhestand habe ich mich

habe ich gelernt zu schweigen. Ich bin auch nicht

ehrenamtlich in verschiedenen Einrichtungen

gern unter vielen Menschen.

engagiert, die sich um hilfsbedürftige oder in Not

Als meine Schulzeit vorbei war, musste ich arbei-

geratene Menschen kümmern.

ten. Ich wollte nicht, dass andere für mich ent-

Meine Worte richten sich besonders an euch,

scheiden, wo oder was ich arbeiten sollte. Das

die jüngere Generation: Akzeptiert Menschen, die

brachte mir viele Probleme, bis ich mich ent-

anders sind. Und verbreitet das Gute in der Welt,

schloss, den Kibbuz zu verlassen. Ich ging nach

nicht das Schlechte!

«Wenn ich mich an die Regeln gehalten hätte, wäre ich nicht hier» Von David Schaffer

ch habe den Holocaust überlebt, indem ich still-

I

ten die Künstlerin Miriam Libicki und ich eine

schweigend die Regeln und Anordnungen der

Graphic Novel, die davon erzählt, wie meine Fami-

faschistischen Behörden missachtete.

lie nach Transnistrien in der Ukraine deportiert

Unter der Leitung von Charlotte Schallié gestalte-

wurde und wie wir um das Überleben kämpften.

143

Im März 1944 wurden wir von den russischen

schickten Pakete. Infolge der Kämpfe in der Re-

Streitkräften befreit. Wir machten uns zu Fuß auf

gion lag die Innenstadt in Trümmern. An vielen

den Rückweg zu unserem Haus in Vama in der

Orten waren Minen gelegt worden, die Menschen

Bukowina. Von Iwaschkowzi in der Ukraine wan-

töteten oder verwundeten. Man wies uns an, zu

derten wir nach Mihăileni in Rumänien. Mit sehr

unserer Sicherheit in der Straßenmitte zu gehen.

wenig Essen, Kleidung und Schuhwerk war es eine

In der Gegend gab es auch noch große Mengen

schwierige und lange Reise. Schließlich ließen wir

Gewehre und Munition. Meine Freunde und ich

uns in einem leerstehenden Haus in Mihăileni nie-

benutzten scharfe Munition als Spielzeug, was

der. Nach Vama in der Bukowina konnten wir nicht

meine Mutter in helle Aufregung versetzte. Wir

weiter, denn durch jene Gegend verliefen noch die

fanden einen Schaumstoffreifen von einem Mili-

Frontlinien. Vor dem Krieg hatte ich die erste

tärfahrzeug und schnitten Bälle daraus, um damit

Klasse beendet, aber zum Zeitpunkt unserer Be-

barfuß Fußball zu spielen.

freiung hatte ich das meiste von dem vergessen,

Die jüdische Gemeinde von Gura Humorului er-

was ich in der Schule gelernt hatte. In Mihăileni

öffnete eine Schule mit Intensiv- und Schnellkur-

bemühten sich meine Eltern mit einem intensiven

sen für Kinder, die überlebt hatten. In Suceava,

Unterrichtsprogramm, mir erneut das Lesen und

einer größeren Stadt in der Nähe, bot die Regie-

Schreiben beizubringen. In der Nähe war ein Ge-

rung monatliche Prüfungen an, damit die Schüler

richtsgebäude, und davor lag ein Haufen Gerichts-

in einem Jahr mehrere Klassenstufen absolvieren

dokumente. Ich benutzte die leere Rückseite der

konnten. Ich meldete mich für die sechste Klasse

Blätter, um darauf das Alphabet und später ganze

an, aber mein Zeugnis für die fünfte Klasse wurde

Sätze zu schreiben.

nicht anerkannt. Ich musste in einer höheren

Mein häuslicher Unterricht endete, als die Zahl

Schule in der nicht weit entfernten Stadt Kimpo-

der Vertriebenen in dem Gebiet zunahm und eine

lung eine extra angesetzte eintägige Prüfung

«Grundschule für die Evakuierten» eröffnet wurde.

ablegen, erhielt ein zweites Abschlusszeugnis für

Ich war dreizehn Jahre alt, und meine Eltern mel-

die fünfte Klasse und wurde damit für die sechste

deten mich für die vierte Klasse an. Der Lehrer

zugelassen. Ich besuchte die Schnellkurse und

war von meiner schnellen und präzisen mathe-

absolvierte die sechste, siebte und achte Klasse in

matischen Auffassungsgabe beeindruckt und ver-

einem einzigen Jahr. Nach der achten Klasse

setzte mich in die fünfte Klasse. Ein paar Monate

musste ich eine Prüfung machen, das «Kleine

später machte ich meine Prüfungen und erhielt

Abitur», und alle meine Zeugnisse vorlegen. Mein

ein Zeugnis, dass ich die fünfte Klasse bestanden

Zeugnis für die fünfte Klasse wurde wieder nicht

hatte. Um diese Zeit hatten sich die Kämpfe

als gültig anerkannt. Ich musste die Prüfungen

aus der Bukowina verlagert, aber meine Eltern be-

noch einmal machen!

schlossen, nicht in unsere Heimat zurückzukeh-

Ich kam in die neunte Klasse, aber nach ein paar

ren.

Monaten wurde die Schule geschlossen. Meine

Wir entschieden, uns in Gura Humorului anzu-

Familie verlor ihr Geschäft und verfügte nicht

siedeln. Es war nicht leicht, Lebensmittel und

über die finanziellen Mittel, mich auf eine höhere

die grundlegenden Dinge zu beschaffen. Unsere

Schule in einer nahe gelegenen Stadt zu schicken.

Verwandten aus Kanada unterstützten uns und

Ich arbeitete zusammen mit meinem Vater und

144

belud und entlud Eisenbahnwaggons von Hand.

guter Mensch. Er leitete mich an und überwachte

Es war eine anstrengende Arbeit, unregelmäßig

meine Tätigkeit. Ich arbeitete drei Jahre in der

und schlecht bezahlt.

Werft, bis ich von meinem Vater einen Anruf er-

Als ich achtzehn war, fand ich Arbeit als Gehilfe

hielt, dass wir endlich die Erlaubnis zur Einwande-

eines Schmieds in einer Kartonagenfabrik. Der Tag

rung nach Israel erhalten hätten.

begann damit, dass ich eine mit Kohle beladene

Sidi und ich heirateten. Ich lernte Hebräisch und

Schubkarre hereinbringen musste, und dann häm-

begann in einer Schiffswerft in Haifa zu arbeiten.

merte ich den ganzen Tag das heiße Eisen. Ich be-

Ich absolvierte eine Reihe von Prüfungen und er-

schloss, neben meiner Arbeit zu lernen und die

hielt endlich mein Diplom als Bauingenieur vom

höhere Schule zu absolvieren. Nach den Prüfun-

Israelischen Institut für Technologie.

gen und einer Tätigkeit in einem Büro beschloss

Sidi und ich waren sehr glücklich und bekamen

ich, Maschinenbau zu studieren. Ich schaffte die

drei Söhne.

Aufnahmeprüfung nicht und arbeitete ein Jahr

1975 wurde ich zu einer Familienfeier nach

lang weiter, um mich vorzubereiten. Ich bestand

Edmonton, Alberta, eingeladen. Dort hatte ich

die Aufnahmeprüfung, und 1955 begann ich mit

ein Vorstellungsgespräch bei einem Maschinen-

einem Studium an der Polytechnischen Universi-

bauunternehmen. Man machte mir ein gutes

tät Bukarest. Das erste Semester war sehr schwer

Jobangebot, und ich zog mit meiner Familie nach

für mich. Ich fiel durch ein paar Prüfungen, büf-

Edmonton, wo ich als Leitender Ingenieur der

felte aber intensiv und bestand die Wiederho-

Vormontage eingestellt wurde. Die Jahre vergin-

lungsprüfung, mit der ich das erste Studienjahr

gen, und ich arbeitete in verschiedenen Jobs als

beendete.

technischer Berater, Projektingenieur, Projektma-

Der 31. Dezember 1956 war ein denkwürdiger Tag.

nager und sogar als stellvertretender Direktor.

Ein Freund hatte mich zu sich nach Hause eingela-

Ich habe meine Karriere als Ingenieur wirklich

den, um Silvester zu feiern. Dort lernte ich Sidi

sehr genossen.

kennen, meine spätere Frau. Wir verstanden uns

Nach meiner Pensionierung ließen wir uns in Van-

auf Anhieb.

couver, British Columbia, nieder, wo ich heute mit

Mein Studium verlief gut  – bis zum 24. Dezem-

meiner Frau lebe. Wir sind mit neun Enkelkindern

ber 1959, als ich ohne Angabe von Gründen der

gesegnet, die alle in Kanada geboren sind.

Universität verwiesen wurde. Ich suchte mir eine

Meine Geschichte, so hoffe ich, ermuntert euch

Arbeit als Konstrukteur in einer Werft und baute

dazu, wachsam zu sein, aus der Geschichte zu

Maschinenteile für verschiedene Schiffe. Der Ma-

lernen und wenn nötig zu handeln, um eure Frei-

nager war ein kenntnisreicher Ingenieur und ein

heit und euren Lebensstil zu schützen.

145

«Ein Bild, das mich nicht loslässt» Von Nico Kamp

etty Rosa van Os, die Tochter unserer Nach-

B

bedingter schwerer Leiden» erfasst wurden, aber

barn, war erst viereinhalb Jahre alt, als sie

man konnte hier auch «Ausschuss» im Sinne von

am 21. August 1942 zusammen mit ihren Eltern

fehlerhafter Ware und Abfall verstehen. Mindes-

nach Auschwitz verschleppt und dort zwei Tage

tens 275 000 deutsche jüdische und nichtjüdische

später mit ihrer Mutter vergast wurde. (Bettys

Kinder fielen dem «Euthanasie»-Programm zum

Vater wurde für die Zwangsarbeit selektiert. Er

Opfer. Zuerst wurden sie in sogenannte «Kinder-

starb fünf Wochen später, am 30. September 1942,

fachabteilungen» in den «Heil- und Pflegeanstal-

in Auschwitz.) Betty wurde in Amersfoort am

ten» gebracht. Kurz nach der Ankunft wurden sie

12. Januar 1938 geboren. Ein Lockenkopf von vier-

dort durch Giftinjektionen getötet oder erlitten in

einhalb Jahren. Ein Bild, das mich nicht loslässt:

sogenannten «Hungerhäusern» einen langsamen

Die Kinder mussten nach der Ankunft oft bei Wind

und qualvollen Tod durch Mangelernährung.

und Wetter und manchmal in eisiger Kälte in einer

Das geschah unter anderem in Einrichtungen in

Schlange warten, bis sie vergast wurden.

Ansbach, Berlin, Brandenburg-Görden, Eglfing-Haar

Ich möchte in meinem Nachwort zu diesem Buch

bei München, Eichberg, Hamburg, Bernburg sowie

auf den Massenmord an jüdischen und nicht-

in den Tötungsanstalten Grafeneck südlich von

jüdischen Kindern während der Schoah eingehen.

Reutlingen und Hartheim in der Nähe von Linz.

Ich selbst war fast acht Jahre alt, als der Krieg vor-

Diese Kinder hatten verschiedene Beeinträchtigun-

bei war. Wir wissen heute, dass in jenen Jahren

gen, die in normalen Zeiten in der Gesellschaft

insgesamt eineinhalb Millionen jüdische Kinder

akzeptiert sind. Zum Beispiel Schizophrenie, Epi-

unter zwölf Jahren aus Europa ermordet wurden.

lepsie, Lähmungen, Gehirnhautentzündungen oder

Die Ermordung von Kindern begann schon früh in

schwere körperliche Missbildungen. Ärzte ent-

Nazideutschland und Österreich. Sowohl jüdische

schieden, wer leben durfte und wer nicht. Diese

als auch nichtjüdische Kinder wurden getötet. Es

Kinder mit einer Beeinträchtigung waren ein zen-

begann mit Deportationen und dem Massenmord

trales Element von Hitlers Vision für eine Säube-

an behinderten und chronisch kranken Kindern,

rung seines zukünftigen deutschen Staates.

jüdischen und nichtjüdischen.

Aus den Niederlanden wurden nur jüdische

Zwischen 1939 und 1945 ermordete das Nazire-

Kinder  – mit und ohne Beeinträchtigungen  – de-

gime im Rahmen des sogenannten «Euthanasie»-

portiert und ermordet. Das begann im Juli 1942.

Programms Hunderttausende Kinder mit funktio-

Die Kinder kamen unter anderem aus den jüdi-

nellen Beeinträchtigungen oder chronischen Krank-

schen Einrichtungen Beth Azarja (75 Kinder), der

heiten. Die Nazis bezeichneten sie als «Reichsaus-

Rudelsheim-Stiftung in Hilversum (88 Kinder), der

schusskinder», weil sie vom «Reichsausschuss

Berg-Stiftung in Laren (48 Kinder) sowie der psy-

zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlage-

chiatrischen Klinik für jüdische Kinder Het Apel-

146

Quellen

doornsche Bosch (87 Kinder bis zu 17 Jahren wurden im Januar 1943 von hier aus deportiert und wenig später ermordet). Außerdem wurden viele

De Stentor, 21. Januar 2013. Namenliste aller Opfer der

jüdische Kinder aus den Niederlanden bei Razzien

Klinik Apeldoornsche Bosch, die am 21. Januar 1943 deportiert und Ende Januar 1943 in Auschwitz er-

und in Verstecken aufgegriffen.

mordet wurden.

Mein Bruder und ich gehören zu den Glücklichen,

Louis de Jong, Het koninkrijk der Nederlanden in de

die die Schoah überlebt haben. Wir waren aller-

Tweede Wereldoorlog, 11  Bände, Den Haag 1970 –

dings oft in Gefahr an den dreizehn Orten, an

1984.

denen wir einen geheimen Unterschlupf gefunden

Jan Noordman, Om de kwaliteit van het nageslacht.

hatten. An Betty van Os denke ich noch immer

Eugenetica in Nederland, 1900 –1950, Nimwegen

zurück.

1989.

«Wir versuchten, ein normales Leben zu führen» Von Rolf Kamp

as mich bewogen hat, an dieser Graphic

W

am längsten auf einem kleinen Bauernhof, wo wir

Novel mitzuarbeiten, ist mein Wunsch,

im letzten Kriegsjahr bei dem Bauern Hendrik

heutigen und künftigen Generationen davon zu

Traa und seiner Frau Regina mit ihren zehn Kin-

erzählen, was mir während des Zweiten Welt-

dern und weiteren untergetauchten Personen

kriegs in den Niederlanden widerfahren ist. Ich

lebten. Ich habe viel über die Natur und das Wet-

möchte meine Nachbemerkung in die guten und

ter gelernt, über das Säen und Ernten, über die

die schlechten Erlebnisse gliedern.

Tiere auf dem Bauernhof und all das, was auf so einem Hof zu tun ist. Wir bekamen holländisch klingende Namen und mussten den Dialekt der

Zunächst die guten Erfahrungen

Orte lernen, wo wir untergetaucht waren. Als Kinder spielten wir auf dem Heuboden über den

Meine Mutter, die zwei Konzentrationslager über-

Kuhställen, der auch als Versteck diente. Eines

lebte und im hohen Alter von achtundneunzig Jah-

Tages tauchte ein siebzehnjähriger jüdischer

ren starb, pflegte zu sagen: Bei Kriegsende waren

Junge, der von holländischen Schwarzhemden

wir zu dritt, zwei kleine Jungs und sie, jetzt sind wir

verfolgt wurde, hinter dem Bauernhof auf und

eine neue Familie mit zweiundzwanzig Personen.

fragte mich, ob wir ihn verstecken könnten. In

Mein Bruder und ich hielten uns an dreizehn ver-

weniger als einer Minute zeigte ich ihm den Weg,

schiedenen Orten versteckt. Unter anderem wa-

und er kletterte die Leiter zum Heuboden hinauf.

ren wir ein paar Tage in einem Hühnerstall und

Er kroch in den Heuhaufen, ich verdeckte den Ein-

147

gang, zog schnell die Leiter weg und legte sie auf

Vor ein paar Jahren machte mein Bruder die Fami-

den Boden. Als die Helfershelfer der Nazis ka-

lie Traa in Kanada ausfindig. Im Juni 2018 besuch-

men, fragten sie den Bauern, ob er einen Flüchti-

ten wir sie in Winnipeg. Sie sind heute eine große

gen gesehen habe. Er verneinte wahrheitsgemäß,

Familie mit 183 Personen. Wir haben die Freund-

denn er hatte ihn ja nicht gesehen. Sie glaubten

schaft zwischen unseren Familien wiederaufge-

ihm und verschwanden wieder. Der jüdische

frischt und stehen seither miteinander in Kontakt.

Junge durfte ein paar Tage bei uns bleiben, dann ging er in ein anderes Versteck. Ich war glücklich,

Die schlechten Erfahrungen

als ich erfuhr, dass er überlebt hatte und später bei der israelischen Luftwaffe Dienst tat. Nach dem Krieg kam meine Mutter zurück, nach-

Zu den 102 000 jüdischen Kindern, Frauen und

dem sie zwei Lager überlebt hatte, und wir ver-

Männern aus den Niederlanden, die von den Na-

suchten ein normales Leben zu führen. Wir gingen

zis ermordet wurden – 75 Prozent der jüdischen

zur Schule, bekamen Zeugnisse und fingen an zu

Bevölkerung vor dem Krieg –, zählten mein Vater,

arbeiten. Über unsere Kriegstraumata dachten wir

der in Auschwitz vergast wurde, und meine

nicht allzu viel nach, denn wir waren beschäftigt.

Großeltern väterlicherseits, die in Bergen-Belsen

Als unsere eigenen Kinder achtzehn, neunzehn

ermordet wurden. Die holländische Polizei fand

Jahre alt waren, führte meine Mutter lange Gesprä-

mithilfe holländischer Verräter die Adressen her-

che mit ihnen über den Krieg und ihre Erfahrungen.

aus, wo sich meine Eltern und Großeltern ver-

Unsere Söhne besuchten die Gedenkstätte und das

steckt hielten. Sie verhaftete zuerst meine Eltern

Museum Auschwitz-Birkenau, um mehr über den

und ein paar Wochen später meine Großeltern

Ort zu erfahren, wo ihre Großmutter gewesen war.

und lieferte sie der deutschen Vernichtungs-

Während des Kriegs konnte ich drei Jahre nicht zur

maschinerie aus. Die Nazis haben nicht nur

Schule gehen, aber am Ende bin ich das geworden,

meine Jugend, sondern auch mein Alter zerstört,

was ich schon immer hatte werden wollen: Maschi-

denn ich denke jetzt sehr viel über die Gräuel-

nenbauingenieur. Wir zogen oft um und lebten in

taten nach, die während des Holocaust gesche-

den Niederlanden, den Vereinigten Staaten, Israel

hen sind. Vergessen kann ich nicht.

und dann wieder in den Niederlanden. Deshalb sprechen unsere Kinder drei Sprachen. Marion

Zum Schluss noch etwas Positives

Kamp-Berets und ich sind glücklich verheiratet und haben drei Kinder und sechs Enkelkinder. Meine Enkelin war die Erste, die mich gebeten hat,

Ich freue mich, dass dieses Buch als Graphic Novel

in ihrer Schule in New Jersey über meine Erfahrun-

erscheinen kann. Mein besonderer Dank gilt Char-

gen als untergetauchtes Kind zu sprechen, und

lotte Schallié, die das Projekt initiiert hat, und

ich erklärte mich dazu bereit. Ich bin nun schon

Gilad Seliktar, der die Bilder zu unserer Geschichte

seit vierzehn Jahren Gastredner, erzähle Schulkin-

gezeichnet hat. Ich danke allen, die uns geholfen

dern von unseren Erfahrungen im Krieg und hoffe,

haben, diese Zeit zu überstehen, und die unser

sie werden die Anfänge des Bösen erkennen und

Leben, das unserer Familien und schließlich auch

mithelfen, es rechtzeitig zu stoppen.

dieses Buch ermöglicht haben.

148

Die historischen Hintergründe

Emmie Arbel und das nationalsozialistische Lagersystem Von Andrea Löw

mmie Arbel, die damals noch Emmie Kallus

E

Emmie und ihre Familie lebten in ihrer Heimat-

hieß, hat als kleines Mädchen die grauenhaf-

stadt Den Haag, bis sie im November 1942 verhaf-

ten Konzentrationslager Ravensbrück und Bergen-

tet und nach Westerbork gebracht wurden. Emmie

Belsen überlebt. Schon in ihrer Heimat, den Nieder-

war fünf Jahre alt. Ihr vier Jahre älterer Bruder

landen, machte ihre Familie die ersten Erfahrungen

Menachem, damals hieß er noch Otto, erinnert

damit, verfolgt und in einem Lager eingesperrt zu

sich: «Wir verließen die Welt der gewöhnlichen

sein. Am 10. Mai 1940 hatte die deutsche Wehr-

Leute, die ein Haus, Arbeit und Sorgen haben.»1

macht die Niederlande überfallen, der kurze Kampf

Das Lager Westerbork war im Herbst 1939 als zen-

endete fünf Tage später mit der Kapitulation. Nun

trales Flüchtlingslager gegründet worden, in dem

stand das Land unter deutscher Besatzung, und

viele aus Deutschland geflohene Juden interniert

besonders für die jüdische Bevölkerung, darunter

wurden. 1942 übernahm die Sicherheitspolizei

auch zahlreiche Flüchtlinge aus dem Deutschen

der deutschen Besatzer die Verwaltung von den

Reich, war die Situation bedrohlich. Seit dem Som-

Niederlanden. Seit Juli diente Westerbork als ein

mer 1940 schloss die deutsche Verwaltung die

«Durchgangslager», von dem aus Juden in den

Jüdinnen und Juden in den Niederlanden nach und

Osten deportiert wurden. Manche lebten hier

nach aus dem öffentlichen Leben aus, immer schär-

mehrere Jahre. Bereits Ende 1942 war das Lager

fere antijüdische Maßnahmen folgten. Seit Anfang

ziemlich überfüllt. An Privatsphäre in den Bara-

1942 vertrieben die deutschen Behörden die jüdi-

cken war nicht zu denken. Es gab zwar eine jüdi-

sche Bevölkerung aus der Provinz und konzentrier-

sche Selbstverwaltung, doch sie unterstand dem

ten sie entweder in Amsterdam oder brachten sie

deutschen Kommandanten Albert Gemmeker und

in die Lager Westerbork und Vught. Dies erleich-

musste neben verschiedenen Organisationsaufga-

terte ihnen den Zugriff auf die Juden im Land,

ben vor allem Befehle ausführen. Hierzu gehörte

als im Sommer 1942 die Deportationen aus den

es auch, Deportationsanordnungen zu übermit-

Niederlanden begannen: Am 15. Juli 1942 rollte der

teln. Die in Westerbork Inhaftierten lebten in stän-

erste Zug aus Westerbork nach Auschwitz.

diger Angst davor, auf einer der nächsten Depor-

149

tationslisten zu stehen. Gerüchte über die Zielorte

Gegner eingerichtet, wurden sie im Laufe der Zeit

machten mit der Zeit im Lager die Runde. Kaum

immer mehr zum Instrument der nationalsozialis-

jemand glaubte noch daran, dass es zum Arbeiten

tischen Rassenpolitik. Ende 1938 kam es im Zuge

in den Osten ging. Für viele hieß der Endpunkt

der Novemberpogrome zur massenhaften Inhaf-

ihrer Reise Auschwitz-Birkenau oder Sobibor im

tierung von jüdischen Männern in den Konzentra-

besetzten Polen, wo die allermeisten unmittelbar

tionslagern. Mit Kriegsbeginn weitete sich die Ver-

nach ihrer Ankunft ermordet wurden.

folgung erheblich aus, und es kamen immer mehr

Für Emmie, ihre beiden Brüder und ihre Mutter

Häftlinge aus den vom Deutschen Reich überfalle-

hieß das Deportationsziel im Februar 1944 Ravens-

nen Ländern in die Konzentrationslager. Zugleich

brück. Ihr Vater war schon zuvor in das Konzen-

begann die SS, auch in den neu eroberten Gebie-

trationslager Buchenwald bei Weimar deportiert

ten Lager zu errichten. Mehr und mehr rückten

worden, wo er ums Leben kam. Nach Ravensbrück

die Konzentrationslager als Orte der rücksichts-

gebracht zu werden vergrößerte die Überlebens-

losen Ausbeutung der Arbeitskraft der Häftlinge

chancen, machte im Falle der kleinen Emmie

in den Fokus der deutschen Verantwortlichen. Mit

ein Überleben überhaupt erst möglich: In Ausch-

den «Außenlagern», die oft an Produktionsstätten

witz-Birkenau wäre sie als «nicht arbeitsfähiges»

lagen, gab es bald über tausend Lager. Zwischen

Kind mit großer Wahrscheinlichkeit unmittelbar

1933 und 1945 wurden ungefähr 2,3  Millionen

nach ihrer Ankunft ermordet worden. Auschwitz

Menschen verschleppt, von denen gut 1,7 Millio-

war ein Konzentrations- und Vernichtungslager.

nen in den Lagern umkamen.

Wer hier nicht direkt nach der Ankunft als zu

Auch die beiden Konzentrationslager, die Emmie

schwach, zu alt, zu jung oder zu krank «aussor-

Arbel überlebte, Ravensbrück und Bergen-Belsen,

tiert» und in den Gaskammern in Birkenau getötet

erfüllten in unterschiedlichen Phasen verschie-

wurde, musste Zwangsarbeit verrichten, solange

dene Funktionen, und die Häftlingsgruppen ver-

die Kräfte reichten. In Sobibor (Sobibór) war Über-

änderten sich.

leben nahezu unmöglich. Im Osten des besetzten

Das Konzentrationslager Ravensbrück in der

Polens gelegen, war dies, wie auch Treblinka,

Nähe des mecklenburgischen Luftkurorts Fürs-

Belzec (Bełżec) und Kulmhof (Chełmno), eine reine

tenberg existierte vom Frühjahr 1939 bis Ende

Vernichtungsstätte. Diese Vernichtungslager sind

April 1945. Neben dem Frauenlager in Auschwitz-

von den Konzentrationslagern zu unterscheiden.

Birkenau war es das größte Frauenlager des natio-

Zwei Lager waren Konzentrations- und Vernich-

nalsozialistischen Lagersystems. Insgesamt etwa

tungslager zugleich, und zwar Auschwitz und

120 000 Frauen und Kinder waren dort inhaftiert.

Majdanek bei Lublin.

Zum Lagerkomplex gehörte seit April 1941 auch

Das nationalsozialistische Lagersystem war gigan-

ein kleines Männerlager, dazu seit Juni 1942 das

tisch. Es war das zentrale Mittel des Terrors und

«Jugendschutzlager» Uckermark, außerdem gab

der Ausübung von grenzenloser Macht über poli-

es im Lager den «Industriehof» mit verschiedenen

tisch oder «rassisch» Unliebsame. Die Funktionen

Produktionsstätten, die Werkshallen der Firma

der Konzentrationslager wandelten sich zwischen

Siemens & Halske neben dem Lagergelände sowie

1933 und 1945, und es kamen immer neue hinzu.

über 40 Außenlager. Das Lager durchlief verschie-

Zunächst vor allem zur Unterdrückung politischer

dene Phasen, in denen sich auch die Häftlings-

150

gesellschaft veränderte. Das Jahr 1944, in dem

Holzbaracken. Mehrere Frauen mussten sich in

Emmie nach Ravensbrück kam, war mit insgesamt

den Etagenbetten eine Schlafstelle teilen. Es war

70 000 neuen Häftlingen das Jahr der großen Mas-

schmutzig, verlaust und es stank. Nie gab es aus-

sendeportationen in das Lager. Es war überfüllter

reichend zu essen. Die Frauen und die Kinder

als je zuvor. Da nun weit mehr Frauen im Lager

hungerten und wurden immer schwächer. Wegen

waren, als Arbeitskräfte benötigt wurden, war die

der katastrophalen Bedingungen erkrankten die

Gefahr für jede Einzelne erheblich vergrößert,

Häftlinge, doch mussten sie zugleich versuchen,

denn nur die als nützlich angesehenen Häftlinge,

dies zu verbergen, um nicht bei der nächsten

also Arbeitskräfte, hatten in der zynischen Sicht-

«Selektion» in den Tod geschickt zu werden. Die

weise des Kommandanten und der Aufseherinnen

Krankenstation, das sogenannte Revier, galt als

das Recht weiterzuleben.

ein Ort des nahezu sicheren Sterbens. Selbst

Alle Häftlinge erlebten bei der Ankunft die für

schwerkranke Häftlinge schleppten sich zur Ar-

die Konzentrationslager typische erniedrigende

beit, um nicht dort zu enden. Emmie war in Ra-

Prozedur, die aus Menschen Nummern machen

vensbrück an Typhus erkrankt und kam in das

sollte: Ihnen wurden die Haare geschoren, sie be-

Krankenrevier. In dieser gefährlichen Situation

kamen eine Häftlingsnummer und Häftlingsklei-

hatte sie Glück: Es kümmerte sich eine Polin um

dung und mussten alles abgeben, was sie noch

sie, die eine Freundin hatte, die im Krankenrevier

besaßen, etwa die Fotografien ihrer Liebsten. Me-

arbeitete. Überleben im Lager konnte von vielen

nachem Kallus beschreibt dies: «Auf dem Boden

Dingen abhängen, vom Zufall, manchmal auch da-

blieb unser ganzes Leben, alle Dinge, die uns zur

von, im richtigen Moment gute Beziehungen zu

Familie machten.»2 All dies geschah unter Beleidi-

haben. Emmie überlebte, schwach und abgema-

gungen, Einschüchterungen und Schlägen. Nicht

gert, aber sie überlebte.

nur ihre äußerliche Individualität verloren sie bei

Die Bedrohung durch den Tod war allgegenwärtig

der Ankunft im Konzentrationslager, sondern

in Ravensbrück. In medizinischen Experimenten

auch all ihre Rechte. Sie waren der Willkür des

wurden Häftlinge grausam verstümmelt oder er-

Wachpersonals ausgeliefert. Emmie erinnert sich:

mordet. Immer wieder kam es vor, dass Frauen

«In Ravensbrück begann das Gefühl von Angst

und auch Kinder ohne Vorwarnung erschossen

und Erniedrigung.»

wurden. Seit Anfang 1945 gab es eine provisori-

Emmie durfte als kleines Mädchen mit ihrer

sche Gaskammer, in der die zur Ermordung aus-

Mutter und ihrem sieben Jahre alten Bruder Rudi

gesuchten Frauen qualvoll erstickten. Insgesamt

in einer Baracke wohnen und musste nicht wie

kamen ungefähr 25 000 bis 26 000  Menschen in

die älteren Häftlinge arbeiten. Ihr Bruder Mena-

Ravensbrück ums Leben, starben entweder auf-

chem wurde nach einiger Zeit von ihnen getrennt

grund der miserablen Bedingungen oder wurden

und in das Männerlager eingewiesen. Während

ermordet.

ihre Mütter Zwangsarbeit leisten mussten, waren

Ein Horror für die geschwächten Häftlinge waren

die Kinder tagsüber im Lager sich selbst über-

die Appelle. Wachleute gingen durch die Reihen

lassen.

und prüften, wer noch «arbeitsfähig» war und Frauenkonzentrationslager

daher noch eine Zeit lang weiterleben durfte  –

Ravensbrück waren furchtbar. Es war eng in den

und wer nicht. Manchmal ließen sie die Menschen

Die

Zustände

im

151

aus reiner Schikane stundenlang stehen. Es war

Unter den gut 120 000 Häftlingen dieses Konzen-

lebensgefährlich, sich zu rühren. Eine solche Situ-

trationslagers waren insgesamt ungefähr 3500 Kin-

ation beschreibt auch Emmie, die schon als klei-

der unter fünfzehn Jahren. Wie viele davon im

nes Kind wusste, dass sie reglos stehen bleiben

Lager starben, lässt sich nicht mehr genau fest-

musste, als ihre Mutter ohnmächtig geworden

stellen, da die SS kurz vor Kriegsende die Doku-

war. Seit dem Herbst 1944 wurden systematisch

mente des Lagers verbrannte. Insgesamt starben

Häftlinge, die als «nicht arbeitsfähig» galten, die

ungefähr 52 000 Menschen, also fast die Hälfte der

also zu schwach zum Arbeiten waren, «selektiert»,

Häftlinge, an den schlimmen Bedingungen. Vor

das heißt, zur Ermordung ausgesucht. Gerade die

allem die letzte Phase, in der auch Emmie hier

jüngsten Häftlinge, die keinerlei schwere Arbeit

ankam, war für viele tödlich. Die Zustände waren

verrichten konnten, waren permanent vom Tod

katastrophal. Seit Ende 1944 war Bergen-Belsen

bedroht.

das Ziel für die sogenannten Todesmärsche und

Über 4300 Frauen und Kinder wurden im Frühjahr

für Transporte aus anderen Konzentrationslagern

1945, also noch kurz vor dem Ende des Zweiten

vor allem im Osten, die wegen der herannahenden

Weltkriegs, von Ravensbrück nach Bergen-Belsen

Roten Armee bereits geräumt worden waren. Min-

verschleppt, darunter am 1. März 1945 auch Em-

destens 85 000 Häftlinge kamen nun noch zusätz-

mie, ihr Bruder Rudi und ihre Mutter. Hier muss-

lich hier an. Eine von ihnen war Anita Lasker-Wall-

ten sie die letzten Wochen bis zur Befreiung ver-

fisch. Sie wurde im November 1944 von Auschwitz

bringen. Das Konzentrationslager Bergen-Belsen

nach Bergen-Belsen deportiert und beschrieb

in der Nähe von Celle bestand vom Frühjahr 1943

später, wie die ausgezehrten Überlebenden der

bis zum April 1945. Zuvor hatte es hier schon ein

Todesmärsche das Lager erreichten: «Tausende

Kriegsgefangenenlager gegeben. In einem «Aus-

von diesen Halbtoten kamen in Belsen an. Sie

tauschlager» waren Juden untergebracht, die als

rutschten buchstäblich auf Knien ins Lager. Tau-

Geiseln gegen Geld oder internierte Deutsche aus-

sende gingen zugrunde.»3

getauscht werden sollten. Dies war zunächst der

In der Zeit, in der auch Emmie, Rudi und ihre

eigentliche Zweck des Lagers gewesen, seit März

Mutter nach Bergen-Belsen kamen, war das Lager

1944 erweiterte die SS es jedoch: Es wurde auch

vollkommen überfüllt und wurde zugleich kaum

eine Art Auffanglager für erschöpfte und kranke

noch versorgt, so dass es extrem wenig Verpfle-

Häftlinge, die mehr oder weniger sich selbst über-

gung in schlechter Qualität gab. Die Menschen

lassen wurden, um zu sterben. Nun gab es ein

hungerten furchtbar. Die völlig geschwächten

Männerlager, in das nicht mehr «arbeitsfähige»

Häftlinge, auch die Kinder, starben in Massen.

Häftlinge aus anderen Konzentrationslagern ver-

Dicht gedrängt lagen sie auf den Pritschen in den

schleppt wurden, und ein Frauenlager. Hier wur-

überfüllten, kalten und schmutzigen Baracken.

den auch Mütter mit ihren Kindern untergebracht

Krankheiten und Seuchen brachen aus. Die Ver-

sowie Kinder, die allein aus anderen Lagern hier-

sorgungssituation spitzte sich in diesen letzten

her deportiert worden waren. Für «arbeitsfähige»

Monaten und Wochen immer mehr zu. Wie schon

Frauen war Bergen-Belsen ein Durchgangslager,

in Ravensbrück war auch in Bergen-Belsen das Le-

sie wurden häufig zur Zwangsarbeit in andere

ben von der ständigen Konfrontation mit dem Tod

Lager verschickt.

geprägt. Auch hier fürchteten die Häftlinge die

152

stundenlangen Appelle, zu denen schon Kinder ab

Gefühl, zu einer Familie zu gehören, den Halt,

vier Jahren antreten mussten. Anita Lasker-Wall-

den eine nahestehende Person geben konnte. Vor

fisch erinnerte sich an das Frühjahr 1945: «Die Zu-

allem Mütter versuchten, ihre Kinder zu schützen

stände wurden täglich schlechter, es gab immer

und zu betreuen. Sie gaben ihnen häufig etwas

weniger zu essen. Dann kamen die Tage, da es

von ihren eigenen, nicht ausreichenden Rationen

überhaupt nichts mehr zu essen gab. Die Men-

ab, in der Hoffnung, dass zumindest sie überleben

schen starben wie die Fliegen. Die Leichenhaufen

würden. So machte es auch Julia Kallus, die Mutter

wurden höher und höher, und bei dem wärmeren

von Emmie und Rudi, die so selbst immer schwä-

Wetter begannen sie schnell zu verwesen. Wir be-

cher wurde. Ohnmächtig mussten die Geschwis-

wegten uns in dieser Landschaft wie Zombies.»4

ter dies mit ansehen.

Die Kinder waren auch in diesem Lager tagsüber

Als britische Truppen am 15. April 1945 Bergen-

oft sich selbst überlassen, da die erwachsenen

Belsen erreichten, fanden sie etwa 10 000 Leichen,

Häftlinge, dazu zählten alle ab fünfzehn Jahren,

die auf dem Lagergelände verstreut lagen. Etwa

arbeiten mussten. Kinder, die noch die Kraft dazu

55 000  Häftlinge, darunter ungefähr 800  Kinder,

hatten, spielten, doch dies unter permanenter

lebten zu diesem Zeitpunkt noch. Sie waren krank,

Bedrohung und immer mit der Angst vor dem, was

verlaust und nahezu verhungert. Noch etwa 12 500

als Nächstes passieren könnte. Es reichte ein übel-

von ihnen starben innerhalb der nächsten vier

launiger Aufseher, der seine Macht willkürlich an

Wochen an den Folgen der Lagerhaft. Auch Em-

einem der jüngsten Häftlinge auslebte. Die Kinder

mies Mutter starb wenige Tage nach der Befreiung

wurden Zeugen von brutaler Gewalt, sahen, wie

völlig entkräftet. Emmie und Rudi saßen bei ihr

Menschen starben, in manchen Fällen die eigenen

und konnten nichts tun.

Eltern. Die Jüngsten kannten gar keine andere Welt

Gemeinsam mit ihrem Bruder gelangte Emmie

als die des Lagers. Sie waren kleine Erwachsene,

nach Schweden, wo sie in einem Flüchtlingsheim

die bereits gelernt hatten, wie sie sich zu verhalten

für gerettete Kinder unterkam und lange in einem

hatten beim Appell oder in anderen bedrohlichen

Krankenhaus gepflegt wurde. Ihr Bruder Mena-

Situationen. Täglich waren sie mit Sterben und Tod

chem hatte ebenfalls überlebt und fand seine

konfrontiert, und so hatten auch ihre Spiele mit

jüngeren Geschwister über das Rote Kreuz wieder.

der grausamen Lagerrealität zu tun. Einige spiel-

In den Niederlanden kamen die drei wieder zu-

ten, sie seien Häftlinge, die anderen spielten

sammen.

die Aufseher. Kinder lernten zählen, indem sie die

Von den 140 000  Juden, die bei Kriegsbeginn in

Toten zählten, und versuchten zu erraten, wer als

den Niederlanden lebten, wurden 107 000 in ver-

Nächstes stirbt. Die Lehrerin Hanna Lévy-Hass

schiedene Konzentrations- und Vernichtungslager

schrieb in Bergen-Belsen in ihr Tagebuch: «Die Kin-

deportiert. Nur etwa 5000 von ihnen überlebten.

der sind wild, enthemmt, ausgehungert. Sie füh-

Menachem, Rudi und Emmie Kallus waren drei der

len, dass ihr Leben eine außerordentliche und

Überlebenden. Doch begleitete sie das Erlittene

anormale Wendung genommen hat, und sie reagie-

ihr Leben lang. 1949 wanderten sie nach Israel

ren darauf instinktiv und brutal.»5

aus. Im Kibbuz fühlte Emmie sich fremd. Sie kam

Gerade die jüngsten Häftlinge waren auf die Hilfe

ihrem Alter entsprechend in eine Schulklasse, in

von Erwachsenen angewiesen. Sie brauchten das

der sie überhaupt nicht zurechtkam, da sie zu viel

153

versäumt hatte. Während die anderen Kinder

Konzentrationslagern sind Krankheit und Gewalt,

ihre ersten Schuljahre verbrachten, hatte Emmie

Hunger und Tod die vorherrschenden Themen.

in den deutschen Konzentrationslagern ums

Diese Erfahrungen prägten ihr Leben nach dem

Überleben gekämpft. Sie erinnert sich: «Ich war

Überleben. Und wenn Emmie und viele andere

ein trauriges Mädchen, introvertiert und rebel-

dieser Child Survivors anfingen, zu erzählen und

lisch.»

gerade auch jungen Menschen davon zu berich-

Wie viele andere Überlebende auch versuchte

ten, dann war einer der entscheidenden Gründe

Emmie lange, das Erlebte zu verdrängen. Erst viele

dafür ihre Botschaft, dass ein Verbrechen wie der

Jahre später brach sie zusammen und begab sich

Holocaust sich niemals wiederholen dürfe.

in psychologische Behandlung. Das niemals Vergessene war mit aller Wucht wieder da: «Der ganze

Anmerkungen

Holocaust kam plötzlich hoch, die Trennung von den Eltern, um die ich nie getrauert hatte,

1 Menachem Kallus, Als Junge im KZ Ravensbrück,

alle schwierigen Ereignisse, die ich während des

Berlin 2005, S. 39.

Krieges durchgemacht hatte.» Langsam begann

2 Kallus, Als Junge im KZ Ravensbrück, S. 59.

Emmie, sich mit ihrer Vergangenheit zu beschäfti-

3 Anita Lasker-Wallfisch, Ihr sollt die Wahrheit erben.

gen und auch, darüber zu erzählen, was ihr bis

Die Cellistin von Auschwitz. Erinnerungen, Reinbek

heute schwerfällt. Für die Überlebenden war der

bei Hamburg 2000, S. 150.

Holocaust nie vorbei, und dies zeigt auch die Ge-

4 Lasker-Wallfisch, Ihr sollt die Wahrheit erben, S. 150.

schichte von Emmie Arbel. In den Erinnerungen

5 Hanna Lévy-Hass, Tagebuch aus Bergen-Belsen 1944 – 1945, hg. von Amira Hass, München 2009, S. 43.

überlebender Kinder an ihre Zeit in deutschen

David Schaffer und der Holocaust in Transnistrien Von Alexander Korb

avid Schaffer wurde 1931 im Dorf Vama

D

gen Dörfern und sogar Städten wie Rădăuţi oder

in der nordrumänischen Region Bukowina,

Gura Humorului war die Bevölkerungsmehrheit

dem «Buchenland», geboren. Die Bukowina war

jüdisch. Die Hauptstadt der Region, Tscherniwzi

bis 1919 Teil der Österreichisch-Ungarischen

(dt., jidd. Tschernowitz, rumän. Cernăuţi), gehört

Monarchie. Laut einer Volkszählung im Jahr 1910

heute zur Ukraine. Die Schönheit und die Multi-

sprachen 34 Prozent der Bevölkerung als Mutter-

kulturalität der Bukowina werden oft romantisch

sprache Rumänisch, 38  Prozent Ukrainisch und

verklärt.

27 Prozent entweder Deutsch oder Jiddisch. Rund

Der Fotograf Roman Vishniac popularisierte die

13 Prozent der Bevölkerung waren jüdisch. In eini-

Bukowina in seinem Buch The Vanished World

154

(1947, deutsch unter dem Titel Verschwundene

allgegenwärtig. Die politisch einflussreiche faschis-

Welt, 1983), und der Dichter Paul Celan sprach von

tische Bewegung, «Eiserne Garde» genannt, ver-

einem Ort, «an dem Menschen und Bücher lebten»

suchte mit Gewalt und mit Angriffen auf die jüdi-

(1958). Das bezieht sich auf die alte Franz-Josephs-

sche Bevölkerung an die Macht zu kommen. Für

Universität in Tschernowitz, auf die vielen Kaffee-

König Carol  II. und sein Regime hingegen stand

häuser, in denen man sich traf und Zeitungen aus

die Angst vor einer kommunistischen Bedrohung

ganz Europa las, aber auch auf die Liebe der Juden

durch die Sowjetunion im Vordergrund; und die

zum geschriebenen Wort, die in den Synagogen

Elite des Landes konzentrierte sich auf den Erhalt

und Schulen der Region in so reichem Maße vor-

der territorialen Integrität Rumäniens. Die meis-

handen war. Andererseits gab es vor, während

ten Nachbarländer wie Ungarn, Bulgarien und die

und nach dem Ersten Weltkrieg durchaus natio-

Sowjetunion beanspruchten rumänische Territo-

nale Konflikte, auch wenn die Bukowina eine der

rien für sich. Die Grenzgebiete in Ost- und Süd-

ruhigsten Regionen Österreich-Ungarns gewesen

osteuropa waren ethnisch und religiös sehr viel-

war. Diese Konflikte schürten den Antisemitis-

gestaltig  – nur etwa 70  Prozent der Bevölkerung

mus. Das Ende des Krieges und der Zusammen-

Rumäniens sprachen Rumänisch als Mutterspra-

bruch des Österreichisch-Ungarischen und des

che. Aus Sicht der rumänischen Regierung war

Russischen Reiches führten zu einer Reihe von

dies ein Problem, denn je diverser eine Region

antijüdischen Pogromen. In den osteuropäischen

war, desto komplizierter war der Nachweis, dass

Grenzgebieten wurden Tausende Juden getötet,

sie historisch und kulturell rumänisch war, und

Zehntausende flohen nach Westeuropa und nach

desto schwerer waren die Ansprüche der Nach-

Übersee.

barstaaten zurückzuweisen. Dies war ein Teufels-

Rumänien zählte zu den Gewinnern des Ersten

kreis, der bewirkte, dass fast alle Staaten auf dem

Weltkriegs und wurde mit beträchtlichen Territo-

Balkan versuchten, Minderheiten zu assimilieren,

rien belohnt, einschließlich der Bukowina. Doch in

umzusiedeln oder sogar zu vertreiben. In den

den 1930er Jahren hatte sich Rumänien in einen

1930er Jahren begann Rumänien mit einer Viel-

autoritären und instabilen Staat verwandelt. Es

zahl von «Rumänisierungs»-Programmen, die das

war die Zeit der Weltwirtschaftskrise, und das

Ziel hatten, die Rumänisch sprechende Bevölke-

Land war politisch gespalten. 1938 begann die

rung des Landes zu vergrößern.

Verfolgung der Juden zu eskalieren. Davids Ge-

Mit dem Aufstieg der deutschen militärischen,

schichte zeigt, dass jüdische Familien ihre Kinder

wirtschaftlichen und politischen Macht in den

nicht länger in staatliche Schulen schicken durf-

Jahren nach 1936 erkannten nach und nach die

ten, und die rumänische Mehrheit diskriminierte

meisten südosteuropäischen Staaten Deutschland

die Juden, wo sie nur konnte. Davids Familie

als Führungsmacht an. Für Rumänien jedoch be-

musste ihr Dorf verlassen und in die Stadt Gura

gann die Zugehörigkeit zu der entsprechenden

Humorului ziehen, da Juden auf dem Land nicht

«neuen europäischen Ordnung» mit einem herben

mehr geduldet wurden. Zwar hatte sich Rumänien

Schlag. Hitlers Versprechen, die Pariser Friedens-

im Krieg noch nicht auf die Seite Deutschlands

verträge, die den Ersten Weltkrieg beendet hatten,

gestellt, aber deutsche Soldaten und Militärange-

rückgängig zu machen, brachte eine Reihe von

hörige waren in Vorbereitung des Bündnisses

Grenzveränderungen mit sich, die für Rumänien

155

nachteilig waren. Gestärkt durch den Hitler-Stalin-

inhaftiert, ihre Führung floh ins nationalsozialis-

Pakt besetzte die Sowjetunion im Juni 1940 Rumä-

tische Deutschland. Interessanterweise hatte die

niens östliche Provinz Bessarabien und die nörd-

Eiserne Garde nicht die Unterstützung Hitlers.

liche Bukowina. Der Süden, wo Davids Familie

Denn dieser zog es vor, mit den größeren autori-

lebte, blieb rumänisch. Bessarabien war bis 1918

tären Kräften Europas zu kooperieren, die er

ein Teil Russlands gewesen, und Sowjetrussland

als zuverlässiger ansah, den kleineren radikalen

hatte die Region nie als rumänisch anerkannt. Die

Bewegungen traute er nicht. Diese Strategie er-

Besetzung der nördlichen Bukowina jedoch war

möglichte es deutschen Diplomaten zudem, Druck

schwieriger zu rechtfertigen.

auf bestehende Regierungen auszuüben. Wenn

Am 30. August 1940 erklärten von Deutschland

sich zum Beispiel eine Regierung weigerte, anti-

und Italien eingesetzte «Schlichter», Rumänien

jüdische Maßnahmen umzusetzen, drohten die

müsse einen Großteil seiner nördlichen Territo-

Deutschen damit, den Radikalen zu helfen, an die

rien (Siebenbürgen) mit seiner großen Ungarisch

Macht zu kommen. Das Antonescu-Regime ver-

sprechenden Minderheit an seinen ungarischen

stand dieses Arrangement sehr genau und wurde

Nachbarn abtreten. Mit anderen Worten: Im Som-

zu einem der treuesten Verbündeten Nazideutsch-

mer und Herbst 1940 verlor Rumänien etwa

lands. Es lieferte das Öl, das die Deutschen für

30 Prozent seines Territoriums und seiner Bevöl-

ihre Kriegsmaschinerie benötigten, ließ deutsche

kerung. Diese Entwicklungen waren für das poli-

Soldaten ins Land und half bei der Vorbereitung

tische System des Landes ein Schock. König

des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion im

Carol  II. dankte zugunsten seines jungen Sohnes

Juni 1941, der einen Weg zur Rückgewinnung

Michael I. ab. Politisch wurde Rumänien zu dem

Bessarabiens und der nördlichen Bukowina bot.

«Nationalen Legionärsstaat», der auf einem auto-

Am 22. Juni 1941 begann der deutsche Überfall auf

ritären Bündnis zwischen dem Militär und der

die Sowjetunion. Er wurde von rumänischem Ter-

faschistischen Eisernen Garde basierte. Damit

ritorium aus von der deutschen 11. Armee gemein-

verwandelte sich das Land in die nach Nazi-

sam mit zwei rumänischen Armeen mit mehr als

deutschland gewalttätigste Diktatur auf dem eu-

325 000 Mann und 200 Kriegsflugzeugen geführt.

ropäischen Kontinent. Die Eiserne Garde brachte

Damit begann der rumänische Holocaust: Mit den

ehemalige Gegner um und attackierte in immer

Armeen marschierte ein deutsches Tötungskom-

stärkerem Ausmaß die jüdischen Gemeinden. Ein

mando, die Einsatzgruppe D, die mit rumänischer

Machtkampf zwischen dem Militär unter General

Hilfe die jüdische Bevölkerung in den nun

Antonescu und der Eisernen Garde führte im Ja-

von den Deutschen besetzten Gebieten durch Er-

nuar 1941 zu einem Putschversuch der Faschis-

schießen zu massakrieren begann. Gleichzeitig

ten. Dieser Aufstand ging Hand in Hand mit der

nahm das rumänische Regime die jüdische Bevöl-

Ermordung von Gegnern und einem Pogrom in

kerung in ihren Grenzgebieten ins Visier. Bevor

Bukarest, bei dem 125 Juden getötet wurden.

die rumänischen Soldaten in sowjetisches Territo-

Für Europa überraschend, war das Ergebnis

rium eindrangen, verübten sie in Iași (dt. Jassy),

des Aufstands im Jahr 1941 nicht der Sieg der Ra-

der zweitgrößten Stadt Rumäniens, ein Massaker

dikalen, sondern ihre Vernichtung durch das Mili-

und töteten 13 000 Juden. Rumänische und deut-

tär. Viele Angehörige der Eisernen Garde wurden

sche Einheiten ermordeten systematisch die

156

Das Überleben der Familie Schaffer während des Holocaust in Transnistrien 1941–1944

Iwaschkowzi

g

Mogilew-Podolski

Ataki

T

Sutschka

Tscherniwzi

(Tschernowitz, Cernauti) ˘

˘ Mihaileni

tr

etzt n nion bes tu ie b owje r a er S a nd o s v 41 th 19 ru

Chisinau ˘

Iasi

(Jassy)

Nordsiebenbürgen

Bacau ˘

1940 von Ungarn besetzt ch

ros

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Odessa

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Gura Humorului

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Ju ni 19 40

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B u k o w i n a

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19 r a 41 n vo n s n Ru m i s än ie n

Bilhorod-Dnistrogskyi (1940/41 Akkerman)

Se

s M ee r

Chotyn

Reichskommissariat Ukraine

Kopaigorod

KamenezPodolski

Bu

Generalgouvernement (Polen)

h

ret

Kilija Galati

(Galatz)

Braila ˘

Die Deportation der Schaffers Der Rückweg der Schaffers

sch

Târgoviste

a

RUMÄNIEN

ze

Alt

Tulcea

ar

(Kronstadt)

Ploiesti

u

na

Do

Bukarest

Silistra

hw

(Hermannstadt)

Sc

Brasov

Dobrud

Sibiu

Constanta 0

50

100 km

C i

Juden von Chișinău (dt. Kischinau, russ. Kischin-

zelnen europäischen Land verantwortlich. Es ist

jow), der Hauptstadt Bessarabiens.

schwer vorstellbar, wie der Holocaust in Rumänien

Trotz des deutschen Einflusses trug der rumäni-

ausgesehen hätte, wenn die noch radikalere

sche Staat die hauptsächliche Verantwortung für

Eiserne Garde während des Krieges an der Macht

die sich 1941 entfesselnde Gewalt. Die rumänische

gewesen wäre. Schon in den 1930er Jahren hatte

Obsession von ethnischer Homogenität führte zu

die Regierung Pläne zur ethnischen Säuberung der

einem Genozid an Juden und Roma. Das Anto-

rumänischen Bevölkerung und zur Säuberung des

nescu-Regime war für die  – nach Deutschland  –

Landes von seinen Minderheiten der Juden und

zweitgrößte Zahl ermordeter Juden in einem ein-

Roma entwickelt. Der Krieg bot Antonescu das Um-

157

feld, um solche Pläne zu entwickeln, und Hitlers

Der rumänische Völkermord an Juden und Roma

Angriff auf die Sowjetunion ermöglichte es ihm,

hatte verschiedene Ebenen. Während der Beset-

diese Pläne auszuführen. Mit dem Überfall auf die

zung Bessarabiens, der nördlichen Bukowina und

Sowjetunion erteilte Hitler seinen rumänischen

Transnistriens ermordeten rumänische Polizei-

Verbündeten die Erlaubnis zur erneuten Annektie-

und Armeeeinheiten Zehntausende Zivilisten. Ru-

rung Bessarabiens und der nördlichen Bukowina,

mänische Nationalisten machten die Juden kollek-

die ein Jahr zuvor an die Sowjetunion verloren

tiv für den Verlust Bessarabiens an die Sowjetunion

worden waren. Außerdem konnte Rumänien von

verantwortlich und verübten «Vergeltungs»-Morde.

1941 bis 1944 ein weiteres Territorium besetzen,

Entsprechend der antisemitischen Obsession jener

das nie rumänisch gewesen war. Die Region Trans-

Zeit galten alle Juden als Kommunisten. Das

nistrien ist ein 450 Kilometer langer und 150 Kilo-

stimmte nicht, obwohl einige Juden die Sowjets

meter breiter Landstreifen zwischen den Flüssen

gegenüber dem Antonescu-Regime bevorzugten,

Dnjestr und Bug. Aus rumänischer Sicht ist es das

weil sie weniger antisemitisch waren.

Land im Osten jenseits des Dnjestr, daher der

Die Überlebenden der Massaker wurden in Ghet-

Name Transnistrien. Seine größte Stadt ist die be-

tos und Durchgangslager zusammengetrieben

rühmte Hafenstadt Odessa. Seine Bevölkerung war

und warteten auf ihre Deportation. Im Septem-

zu jener Zeit überwiegend ukrainisch, mit großen

ber 1941 begann das Antonescu-Regime, Juden zu

jüdischen, Roma-, russischen, deutschen, rumäni-

deportieren, nicht nur aus den neu besetzten Ge-

schen und anderen Minderheiten.

bieten, sondern auch aus der südlichen Bukowina.

Seit 1941 deportierte das Regime Juden und

Insgesamt wurden 150 000 Juden und 25 000 Roma

Roma aus den Grenzgebieten Rumäniens nach

nach Transnistrien verbracht. Es herrschte ein

Transnistrien mit dem Ziel, diese ethnisch zu

organisiertes Chaos. Davids Familie wurde zu-

homogenisieren und für immer und ewig die Wie-

sammen mit den jüdischen Bewohnern von Gura

derholung einer Situation wie 1940 zu verhindern,

Humorului mit dem Zug nach Ataki geschickt,

als Rumänien ethnisch gemischte Grenzgebiete

einer ehemaligen Grenzstadt am Dnjestr. Die lo-

an Nachbarstaaten abtreten musste. So wie die

kale jüdische Bevölkerung war bereits ermordet

Deutschen mit dem polnischen «Generalgouver-

worden, und die Spuren des Völkermords waren

nement» ein Gebiet geschaffen hatten, in das un-

überall zu sehen. An den Wänden der leeren,

erwünschte Bevölkerungsgruppen deportiert wur-

zerstörten Häuser klebte Blut. Von Ataki aus wur-

den, begann Rumänien, Transnistrien als einen

den die Juden auf behelfsmäßigen Flößen über

solchen Zielort zu nutzen. Das Regime behandelte

den Fluss nach Mogilew-Podolski (ukrain. Mohyliw-

Transnistrien nicht als Teil Rumäniens und annek-

Podilskyj) geschafft.

tierte es nicht. Es hatte keine großen wirtschaft-

Transnistrien war ein Ort des Grauens, die Hölle

lichen oder strategischen Interessen in der Re-

auf Erden, wie sich viele Überlebende erinnern.

gion – Transnistrien sollte der «Abladeplatz» des

Leichen trieben in den Flüssen, lagen auf den

Regimes für unerwünschte Minderheiten sein

Feldern und entlang den Straßen. Die Juden wur-

sowie eine Pufferzone zwischen Rumänien und

den in großen Konvois zu Fuß nach Transnistrien

der Ukraine (1941 war deren Zukunft mehr als un-

gebracht. Der Herbst hatte begonnen, und die

klar).

Straßen verwandelten sich in tiefen Morast. Es war

158

kalt und nass, und es gab nichts zu essen. Die

von den Deutschen durchgeführten Massaker

rumänischen Wachen, die lokale Bevölkerung und

nicht weniger brutal waren als das, was einheimi-

sogar die Natur waren feindselig. Es waren Todes-

sche Nationalisten den Juden antaten. Sexuelle Ge-

märsche, noch bevor die Deutschen sie erfunden

walt und Raub waren ein Teil davon. Dennoch ge-

hatten. Unterwegs beraubte die rumänische Gen-

hörte es wesentlich zum Selbstbild der Deutschen

darmerie die Juden oft all ihrer Habseligkeiten.

zu behaupten, ihre Gewalt werde «geordnet»

Überlebende berichteten, dass Polizisten manch-

durchgeführt und unterscheide sich damit von

mal wahllos in die Menge schossen, um den Druck

den Aktionen ihrer osteuropäischen Verbündeten,

zu erhöhen, die Wertsachen auszuhändigen. Die

auf die sie herabblickten. Sie nahmen für sich in

Juden konnten nicht glauben, was sie sahen. Da-

Anspruch, eine neue Ordnung zu schaffen, nicht

vids Vater brachte ein weit verbreitetes Gefühl

einfach nur Chaos und Leid. Die Brutalität, die Gier

zum Ausdruck: Wenn die Deutschen wüssten, was

und die fehlende Systematik der Nationalisten vor

hier vor sich geht, würden sie diesem Durcheinan-

Ort, in Litauen und der Ukraine ebenso wie in Kro-

der ein Ende bereiten. «Ich muss die Deutschen

atien und Rumänien, erleichterte es den Deut-

finden. Sie sind gebildete Menschen – sie würden

schen, an dieser Illusion festzuhalten. Ironischer-

sich nicht so verhalten!» Natürlich sollten die

weise übernahmen auch viele Historiker dieses

rumänischen Juden später erfahren, dass es

Narrativ, wenn sie schrieben, «sogar SS-Offiziere»

die Deutschen waren, die hinter den Massenmor-

seien «schockiert» gewesen von dem, was sie in

den steckten, auch wenn die Taten vor Ort durch

Transnistrien sahen. Es ist jedoch wichtig, das Zu-

rumänische Soldaten verübt wurden. Die Ein-

sammenspiel der Gewalt zwischen den Deutschen

schätzung von Davids Vater spiegelt eine weit ver-

und ihren lokalen Verbündeten zu verstehen.

breitete Wahrnehmung der Deutschen wider, die

Das Bemerkenswerte an Davids Geschichte und

diese selbst aktiv förderten.

den Geschichten der meisten Überlebenden aus

Als die Nazis im Sommer 1941 Osteuropa überfie-

den von deutschen Verbündeten beherrschten

len, verübten Nationalisten und Opportunisten

Regionen und Ländern  – Kroatien, Ungarn oder

vor Ort Angriffe auf Juden, darunter Pogrome,

Rumänien  – allerdings ist, dass die Deutschen

Plünderungen, Raub, Vergewaltigungen und Mas-

mehr oder weniger unsichtbar bleiben. Bis 1944,

saker. Die Deutschen nahmen eine Haltung der

als sich die Deutschen zurückzogen und der Holo-

moralischen Überlegenheit ein und gaben sich

caust in Transnistrien beendet war, sah David

schockiert über die brutalen Methoden, die sie

keine deutschen Soldaten. Die rumänischen Juden

in Wahrheit erst ermöglicht und in Gang gesetzt

wurden von rumänischen Tätern verfolgt und ge-

hatten (einige Deutsche waren tatsächlich scho-

tötet, die von den Deutschen weder kontrolliert

ckiert). Ihr Antisemitismus, so behaupteten sie,

noch angeleitet wurden. Und das ist der Grund,

basiere auf wissenschaftlichen Methoden und

warum der Holocaust in Rumänien so anders war

nicht auf roher Gewalt; sie würden «die Juden-

als in Ländern, in denen die Deutschen die Kon-

frage» ohne Plünderungen oder sexuelle Gewalt

trolle hatten. Es war weder ein «Holocaust durch

«lösen». Das war der Tenor zweier Reden, die der

Gewehrkugeln» (außer im Sommer 1941, beim

Chef der SS, Heinrich Himmler, im Oktober 1943

Durchzug der Einsatzgruppe D durch Bessarabien

vor Offizieren hielt. Überflüssig zu sagen, dass die

und Transnistrien) noch ein Holocaust durch Gift-

159

gas – es gab kein größeres Konzentrations- oder

starben. Die Überlebenschancen für alte Men-

Vernichtungslager auf rumänischem Boden. Die

schen und Kinder, insbesondere für Waisen, wa-

meisten rumänischen Juden starben an Hunger,

ren gering. Viele verhungerten oder starben am

Kälte oder Erschöpfung. Die wenig systematische

Typhus. Verlassene Häuser waren zerlegt worden,

Art der Verfolgung verschaffte ihnen bessere

um Brennholz zu beschaffen. Juden hatten kei-

Überlebenschancen, denn es gab Möglichkeiten,

nen Unterschlupf. Außerdem konnten die Häft-

sich zu wehren und die Regeln zu brechen. Das

linge nicht viel tun, um ihre Situation zu verbes-

Überleben von Davids Familie zeigt dies ganz

sern.

deutlich, und David gab der Geschichte seines

Erst nach 1943 wurde es besser. Zum einen waren

Überlebens schließlich dieses Motto.

die jüdischen Gemeinden in Rumänien in ihren

In der Hölle von Transnistrien angekommen,

humanitären Bemühungen sehr aktiv und unter-

gingen die Deportationen zu Fuß weiter. Die Fami-

stützten ihre jüdischen Mitbürger, die in Transnis-

lie Schaffer musste von Mogilew-Podolski in die

trien dem Völkermord ausgeliefert waren. Obwohl

Stadt Kopaigorod (ukrain. Kopajhorod) marschie-

viele Pakete, die sie in die Ghettos schickten, ge-

ren, das waren rund 130  Kilometer. David war

stohlen wurden, linderte die Hilfe von außen die

zehn Jahre alt. Alle Juden, die Transnistrien

Not der Juden im Gebiet jenseits des Dnjestr. Ein

überlebten, erinnern sich an diese Fußmärsche

zweiter Grund war, dass nach der Schlacht von

ins dunkle, kalte Unbekannte. Viele mussten von

Stalingrad die meisten Verbündeten Hitlers all-

ihren Familienmitgliedern zurückgelassen wer-

mählich erkannten, dass Deutschland den Krieg

den oder starben unterwegs, so wie Davids Ur-

verlieren würde und dass die weitere Unterstüt-

großmutter, andere wurden von Wachen erschos-

zung des deutschen Holocaust eine verlorene

sen. In den kalten Nächten war es überlebens-

Sache war. Sie begannen, sich um ihre eigene Zu-

notwendig, ein Dach über dem Kopf zu haben,

kunft zu kümmern, und beschäftigten sich daher

und meist war es reines Glück, ob eine Familie

weniger mit den Juden. Mit der Folge, dass der

eine Bleibe fand oder nicht. Die Überlebenden

Druck auf die Juden in Transnistrien deutlich ab-

quälten sich oft mit der Frage, warum gerade sie

nahm. Glücklicherweise wurde die Region im

überlebt hatten und ihre geliebten Angehörigen

Frühjahr 1944 rasch von der Roten Armee befreit,

nicht. In Davids Familie war der Vater entschei-

bevor die Deutschen den Massenmord an den

dend für das Überleben. David erinnert sich, dass

Juden in die eigenen Hände nehmen konnten, wie

nach der Ankunft an ihrem Bestimmungsort «Va-

sie es in Ungarn taten.

ter losging und die Gegend erkundete. Als er zu-

Anders als die meisten Juden, die in Transnistrien

rückkam, sagte er, dass Kopaigorod nichts Gutes

in Ghettos lebten, erreichte Davids Familie das

verhieß». In der Nacht trennte sich die Familie von

kleine Dorf Iwaschkowzi links des Dnjestr, wo sie

der großen Gruppe der Deportierten und machte

eine Bleibe fanden. Es war eine Art Ghetto ohne

sich allein auf den Weg. Das hat ihnen wahrschein-

Zaun. Das Leben dort war etwas einfacher, auch

lich das Leben gerettet. Die meisten Juden wur-

wenn sie von rumänischen Patrouillen schikaniert

den in Ghettos wie Kopaigorod oder, noch schlim-

wurden, die in der Gegend stationiert waren. Zwei

mer, Berschad getrieben, wo allein im ersten

weitere Faktoren trugen zu ihrem Überleben bei:

Winter 60 Prozent der 25 000 jüdischen Insassen

Die Schaffers schlossen sich mit einer anderen

160

Familie, den Landaus, zusammen und schufen

den rumänischen, polnischen und baltischen Ge-

damit ein System der gegenseitigen Unterstüt-

bieten, die nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 ihre

zung, bei dem jeder seine Fähigkeiten und Stär-

Unabhängigkeit an die Sowjetunion verloren hat-

ken einbrachte. Und sie lebten in einer relativ

ten, um dann 1941 von den Deutschen erobert zu

nichtfeindlichen Umgebung, denn die ukrainische

werden, waren lokale Übergriffe auf Juden bis hin

Bevölkerung wurde ebenfalls von den rumäni-

zu tödlichen Pogromen weit verbreitet. Der Grund

schen Behörden schikaniert und war deshalb den

liegt darin, dass das soziale Gefüge in jenen Jahren

Juden gegenüber hilfsbereiter.

Schaden genommen hatte und dass die meisten

Die Geschichte der lokalen Bevölkerungen wäh-

lokalen Autoritäten wie Bürgermeister, Priester

rend des Holocaust ist kompliziert. Überall in

und Lehrer entweder von den Sowjets oder von

Osteuropa trugen Einheimische zur Judenverfol-

den Deutschen deportiert oder getötet worden

gung bei und profitierten von ihr. Das führte

waren. In den weiter östlich gelegenen Regionen

manchmal zu dem vereinfachten und einseitigen

wie Transnistrien war dies nicht der Fall. Anders

Bild von «den Ukrainern», die Hitler während des

als zum Beispiel in Bessarabien wurden die Juden

Holocaust unterstützten. Es wurde in jüngster

nicht mit der sowjetischen Besatzung in Verbin-

Zeit durch die russische nationalistische Propa-

dung gebracht, daher gab es keine «Vergeltungs»-

ganda verstärkt, die die Ukraine als Gegner

Angriffe. Außerdem duldeten die sowjetischen

betrachtet und daher die Ukrainer mit Hitlers

Behörden vor dem Krieg keinen Antisemitismus,

Holocaust in Verbindung zu bringen sucht. Auch

was sicherlich auch die lokale Ebene beeinflusste.

wenn Juden andere Erfahrungen mit Ukrainern

Ein weiterer Faktor wurde bisher kaum untersucht,

in Transnistrien gemacht haben, ist Davids Ge-

aber David hat ihn deutlich wahrgenommen. 1933

schichte ein wichtiges Korrektiv zu den unbe-

war die Ukraine von einer durch Stalin und seine

streitbaren Fällen, da Ukrainer Juden verfolgten.

Truppen gezielt herbeigeführten Hungersnot, dem

David sagt über das Leben in dem ukrainischen

Holodomor, heimgesucht worden. Hunderttau-

Dorf: «Das war eine große Hilfe für uns. Die Uk-

sende Bauern, die meisten von ihnen Ukrainer,

rainer hier waren freundlich zu uns.» In der Tat

fielen ihr zum Opfer. David beschreibt die Auswir-

lebten diese beiden untergetauchten jüdischen

kung auf den Holocaust folgendermaßen: «Die

Familien während des Holocaust mehr als zwei

Menschen hatten schon einmal eine Hungersnot

Jahre lang in diesem Dorf relativ friedlich neben

erlebt, also hatten sie Mitleid.»

ihren ukrainischen Nachbarn. Es gab sehr wenig

Bemerkenswert ist, dass von den neun Mit-

Austausch, das gemeinsame Motto war «leben

gliedern der Familien Landau und Schaffer «nur»

und leben lassen».

zwei starben. Davids Urgroßmutter starb auf dem

Es ist eine traurige Wahrheit, dass eine solche nicht

Transport, und die Großmutter der Familie Lan-

existente Feindseligkeit im Europa der Kriegszeit

dau erlag dem Typhus, der auch die kleinen Dörfer

einer Erklärung bedarf. Transnistrien hatte seit

nicht verschonte. Das schwindende Kriegsglück

dem Ende des Ersten Weltkriegs zur Sowjetunion

der Deutschen war auch in Iwaschkowzi zu spü-

gehört. In anderen Regionen, in denen Grenzen

ren. David erinnert sich, dass «es eine Art Unruhe

und Regierungen häufiger gewechselt hatten, war

unter den Soldaten gab; sie schossen nicht mehr

das Ausmaß der lokalen Gewalt sehr viel größer. In

so schnell auf uns». Die rumänische Gendarmerie

161

begann, sich in größere Städte zurückzuziehen,

Partisanen gelang es, die meisten von ihnen zu

und sowjetische Partisanen wurden in der Gegend

töten, sobald sie in das Dorf kamen.

zunehmend aktiver. Für David war es eine Ermuti-

«Befreiung» ist ein zu großes Wort für das, was die

gung zu sehen, dass unter ihnen auch Juden wa-

Familie Schaffer im Frühjahr 1944 erlebte. Die

ren. Es war auch die Zeit, als die ersten Deutschen

Deutschen und die Rumänen waren besiegt und

nach Iwaschkowzi kamen. Davids Schilderung ist

verschwunden, aber der Krieg in Europa und der

typisch dafür, wie Juden den Holocaust in dieser

Holocaust gingen noch ein Jahr weiter. Die Familie

Region erlebten: Die einzigen Deutschen, die Da-

wanderte die ganze Strecke von der Ukraine zu-

vid jemals zu Gesicht bekam, waren keine starken

rück nach Rumänien. Wie sie dies schafften und

Männer in glänzenden Uniformen, die Juden miss-

nach dem Krieg ein neues Leben in Rumänien,

handelten, sondern gehetzte Soldaten in Lumpen,

Israel und Kanada begonnen haben, ist eine an-

die im Begriff waren, den Krieg zu verlieren. Den

dere Geschichte.

Die Brüder Nico und Rolf Kamp und das Überleben in Verstecken Von Dienke Hondius

ie Geschichte von Rolf und Nico Kamp be-

D

dern, um zu diskutieren, was man tun sollte. Doch

ginnt in Deutschland, in Krefeld, wo sie ge-

die Konferenz scheiterte in beschämender Weise,

boren wurden. Rolf kam 1934, Nico 1937 zur Welt.

als ein Land nach dem anderen erklärte, es habe

Das Leben der jüdischen Familie wurde durch die

keinen Platz für Flüchtlinge. Durch diesen Mangel

Nazis bedroht, die seit 1933 an der Macht waren.

an internationaler Solidarität fühlten sich die

1938 flüchteten Rolf und Nico mit ihrem Vater Fritz

Nazis ermuntert, ihre Pläne weiterzuverfolgen.

(Friedrich Wilhelm) und ihrer Mutter Inge (Inge-

Ein paar Monate später, Anfang November 1938,

borg) Kamp-Meijer in die Niederlande. Zu diesem

kam es zu einem massiven Ausbruch von Gewalt

Zeitpunkt war es für jüdische Flüchtlinge schwer

gegen Juden. In Deutschland und Österreich wur-

geworden, Nazideutschland zu verlassen. Alle eu-

den jüdische Geschäfte, Häuser, Synagogen und

ropäischen und auch viele nichteuropäische Staa-

Gemeindehäuser angegriffen und in Brand ge-

ten weigerten sich, jüdische Flüchtlinge aufzuneh-

steckt; Fensterscheiben gingen zu Bruch. Viele

men. Ihr Land sei schon voll, sagten sie. Im Sommer

Juden wurden zusammengeschlagen und ver-

1938 fand in Évian am Genfer See eine internatio-

haftet. Polizei und Feuerwehr erhielten von der

nale Konferenz zur Lage der Flüchtlinge in Europa,

Gestapo in Berlin die Anweisung, sich mit dem

besonders der jüdischen Flüchtlinge, statt. In einer

Löschen der Brände Zeit zu lassen. Die Nacht

großartigen Landschaft mit Luxushotels und fei-

vom 9. auf den 10. November wurde als Reichs-

ner Küche trafen sich Diplomaten aus vielen Län-

kristallnacht bekannt, die «Nacht der zerbroche-

162

nen Scheiben». Heute spricht man meist von

gehegt hatten, wurden sich jetzt der Gefahr be-

«Reichspogromnacht» (einen Ausbruch von Ge-

wusst und beschlossen, ihre Häuser zu verlassen

walt gegen Juden nennt man ein Pogrom). Auch

und sich in einem anderen Land eine Heimat zu

diesmal gab es so gut wie keine Bekundungen der

suchen. Doch inzwischen war es sehr schwierig

Solidarität in der Bevölkerung. Viele Juden, die bis

geworden, über die Grenzen zu kommen, und

dahin noch Hoffnung auf eine Besserung der Lage

nicht vielen Juden gelang die Flucht.

Ausreise aus Deutschland, Einreise in die Niederlande Fritz Kamp, der Vater von Nico und Rolf, wurde im

gewesen sind. Ihre Mutter Inge, die den Krieg und

September 1938 in Krefeld verhaftet. Man ließ ihn

die Vernichtungslager überlebte, erzählte ihnen

bald wieder frei, aber von da an hegte die Familie

später, wo sie untergetaucht waren. Nachdem sie

den Plan, Deutschland zu verlassen. Am späten

die Grenze überquert hatten, ging die Familie zu-

Abend des 9. November fuhr die Familie nach

erst nach Roermond, von dort nach Venlo und

Düsseldorf, um von dort aus in die Niederlande

schließlich nach Dinxperlo, ein Dorf an der deutsch-

weiterzureisen, ohne etwas von den unmittelbar

holländischen Grenze. Dort blieb die Familie ein

bevorstehenden Ausschreitungen gegen Juden zu

Jahr. Als sie eine Arbeitserlaubnis für Amersfoort

ahnen. Am nächsten Morgen wurde sie vom nie-

erhielten, zogen sie dorthin um.2

derländischen Vertreter der Firma Kamp1 geweckt.

Auch in den Niederlanden war die Stimmung

Er sagte, «dass wir sofort flüchten müssen. Die

gegenüber jüdischen Flüchtlingen nicht positiv.

Synagoge und das kulturelle Zentrum der jüdi-

Ihre Erfahrungen in Deutschland hatten die Fami-

schen Gemeinde stünden in Flammen und es gebe

lie Kamp wachsam gemacht, und diese Wachsam-

Unruhen in der Stadt», schreibt Inge Kamp. «Trotz

keit und Tatkraft half ihnen auch in den Nieder-

dieser Nachricht», so Inge, «gingen mein Mann

landen. Als das Land am 10. Mai 1940 von den

und mein Schwiegervater noch in die Firma.» Von

Nazis besetzt wurde, wurden die deutsch-jüdi-

der Welle der Gewalt und Zerstörung wussten sie

schen Flüchtlinge verhaftet. Inge Kamp erinnert

noch nichts. Dann kam die Gestapo. Da der 10. No-

sich, dass sie in einer Kaserne festgehalten wur-

vember 1938 als Ausreisedatum schon in ihren

den, die Männer von den Frauen getrennt. Zusam-

Pässen eingetragen war, durften sie abreisen. Hät-

men mit Nico und Rolf kam sie in einen kleinen

ten sie länger gewartet, wäre ihnen die Ausreise

Ort in Nordholland, Heerhugowaard. Ihr Mann

verwehrt worden. Am 10. November 1938 erreich-

Fritz und dessen Vater wurden verhaftet und nach

ten Nico und Rolf mit ihren Eltern die Niederlande.

Den Haag gebracht, aber nach einiger Zeit freige-

Die Graphic Novel Dreizehn Geheimnisse beschreibt

lassen. Wieder in Amersfoort, organisierten sie die

das Leben von Nico und Rolf Kamp in der holländi-

Rückkehr der restlichen Familie. Im Sommer 1940,

schen Stadt Amersfoort, aber sie hielten sich auch

schreibt Inge Kamp, konnten sie in Amersfoort als

an anderen Orten auf. 1938 waren die Jungen noch

Juden «anfangs noch relativ ruhig leben» («tame-

klein, Nico ein, Rolf vier Jahre alt, deshalb erinnern

lijk rustig leven»). 1941 erließen die deutschen Be-

sie sich nicht mehr genau, an welchen Orten sie

satzer dann eine antijüdische Verordnung nach

163

der anderen. Die Deportationen begannen im Juli

tertauchen war ein radikaler Akt, ein Sprung ins

1942. Es gab nur sehr wenige Möglichkeiten, der

Ungewisse, ein Schritt in die Illegalität. Nur wenige

Deportation zu entgehen. Eine Anstellung beim

Menschen hatten Erfahrungen mit so einem Leben,

«Judenrat» bot vorübergehend Schutz, eine Misch-

und viele zögerten. Wohin sollte man gehen? Für

ehe konnte schützen, aber sicher war nichts. Un-

wie lange? Und wen sollte man fragen?

Verstecke finden Ab Sommer 1942 versuchten viele Juden unterzu-

und unweit des Verstecks ihrer Eltern. Das war im

tauchen. Inge und Fritz Kamp begannen, Verste-

Jahr 1943.

cke zu suchen und vorzubereiten. Nicht nur

Der Augenblick, in dem Inge und Fritz beschlos-

für sich und ihre beiden Söhne, sondern auch für

sen, ihr Haus zu verlassen, kam, als sie irgend-

die Eltern von Fritz, Nicos und Rolfs Großeltern.

wann im Juli 1942 hörten, dass es am nächsten

Sie fanden drei verschiedene Adressen, alle in

Tag eine Razzia geben werde (bei der Juden zu-

der Nähe von Amersfoort. Wie haben sie das ge-

sammengetrieben wurden und eine Familie nach

schafft? Nico Kamp erzählt, dass der dringende

der anderen verhaftet wurde). Unauffällig verlie-

Rat, sich zu trennen und drei verschiedene Ver-

ßen sie das Haus in der Voltastraat 55 und gingen

stecke zu suchen, von einem holländischen

kilometerweit zu ihrem ersten Versteck. Sie han-

Widerstandskämpfer kam, der in der Soemba-

delten vorsichtig und bewusst. Es war wichtig,

straat neben ihrem Großvater wohnte. Sie nannten

möglichst unsichtbar zu sein. Von nun an lebten

ihn «Onkel Piet» (oom Piet). Sein richtiger Name

auch sie als Untergetauchte. Irgendwann im Jahr

war Wouter van Egdom.3 Die beiden Jungen waren

1943 befanden sich die Jungen und ihre Eltern in

die Ersten, die im Juni 1942 untertauchten. Nico

zwei verschiedenen Verstecken nur wenige Kilo-

Kamp erwähnt eine zweite Helferin, «Tante Gijsje»,

meter voneinander entfernt. Jetzt gingen die El-

deren richtiger Name Van Garderen war. Van

tern das Risiko ein, ihre Söhne zu besuchen. «Ein-

Egdom und Van Garderen brachten Nico und Rolf

mal in der Woche besuchten wir unsere Kinder,

mit ihren kleinen Koffern hinten auf dem Fahrrad

aber erst, wenn es dunkel wurde», schreibt Inge.5

zum Bahnhof, und Van Garderen brachte sie zu

Welches Widerstandsnetzwerk half der Familie

ihrem ersten Versteck. Sie arrangierte auch den

Kamp? Nico und Rolf erwähnen, dass die Fami-

Wechsel in andere Verstecke, wie Nico berichtet.

lien, bei denen sie Unterschlupf fanden, in vieler

Rolf erinnert sich, dass «ein Mann in unser Haus

Hinsicht unterschiedlich waren, dass es zumeist

in Amersfoort kam, der sich sehr geheimnisvoll

protestantische Kleinbauern waren und dass die

mit meinen Eltern unterhielt» und dass dieser

Familie Traa, bei der sie am längsten, bis zur Be-

Mann ein paar Tage später wiederkam und sie mit

freiung, lebten, römisch-katholisch war. Frau van

ihm zum Bahnhof gingen.4 Die Brüder versteck-

Garderen blieb ihre wichtigste Kontaktperson.

ten sich zunächst in Ommen bei Zwolle, dann in

Neuere Erkenntnisse legen nahe, dass Wouter van

Lunteren, dann in Stoutenburg und schließlich in

Egdom und Gijsje van Garderen verwandt waren,

Oud-Leusden, ganz in der Nähe von «Tante Gijsje»

vielleicht Bruder und Schwester oder Cousin und

164

Cousine, denn auch Gijsjes Mädchenname war

Versteck beschlagnahmt worden.9 Als Überlebende

Van Egdom. Gijsberta van Garderen-van Egdom

hat Inge Kamp mehrfach über ihre Erlebnisse und

wurde verhaftet und im Juli 1944 als politische

die ihres Mannes berichtet und geschrieben. Sie er-

Gefangene in das berüchtigte Konzentrations-

innert sich an scharfe Verhöre durch die Gestapo

lager Vught (’s Hertogenbosch) deportiert. Von dort

und den Sicherheitsdienst im Amsterdamer Haupt-

wurde sie in die Konzentrationslager Ravensbrück

quartier in der Euterpestraat. Dabei ging es vor

und Dachau gebracht; sie überlebte.6 Geboren

allem um den Verbleib ihrer Kinder. Wo hielten sie

wurde sie in Stoutenburg, wo sich mehrere der

sich versteckt? Wer half ihnen? Inge Kamp sagte

Verstecke befanden. Wahrscheinlich bildeten van

nichts und beharrte darauf, dass sie es nicht wisse

Garderen-van Egdom und ihre Familie ein klei-

und schon lange nichts mehr von ihnen gehört

nes, umsichtiges und unabhängiges Netzwerk

habe. Inge Kamp: «Mein Mann hatte so schreckli-

von Helferinnen und Helfern. Ob sie mit größeren

che Angst, dass er nicht sprechen konnte. Sie hör-

Widerstandsorganisationen verbunden waren, ist

ten nicht auf, nach unseren Kindern zu fragen. Ich

bisher nicht bekannt.

sagte, ich hätte keine Ahnung, wo sie denn seien.

Fritz Kamp und Inge Kamp-Meijer wurden am

Ich hätte sie schon lange nicht mehr gesehen und

23. Mai 1944 in ihrem Versteck auf dem Bauernhof

dachte daher, dass sie längst aufgegriffen und mit-

von J. Kok am Hessenweg in Stoutenburg (bei Leus-

genommen worden seien. Die Nazis aber woll-

den) verhaftet. Sie wurden von vier holländischen

ten uns weismachen, dass wir alle zusammen an

Polizisten abgeführt, aktiven Mitgliedern der Orga-

einem Ort für Familien wohnen könnten, wenn wir

nisation, die mit dem Sicherheitsdienst der Nazis

ihnen das Versteck preisgeben würden. Ich aber

zusammenarbeitete: Jan Johannes Cabalt (Natio-

blieb stur bei meiner Aussage.» Es funktionierte,

naal-Socialistische Beweging in Nederland und

und es fanden keine weiteren Verhöre statt.10

deutsche SS), Jacob Tol (NSB), Diederik Lutke Schip-

Was sie hier erlebten, ähnelt dem, was vielen ande-

holt (NSB und holländische SS) und Lubbertus Beu-

ren verhafteten und untergetauchten Juden wider-

mer. Den Befehl zur Durchsuchung des Hofes er-

fuhr. Auch Anne Frank und ihre Familie wurden an

hielten sie von ihrem Vorgesetzten Jacob Breugem

diese Orte gebracht, nachdem ihr Versteck an der

(NSB und SS), nachdem ein holländisches NSB-Mit-

Prinsengracht 263 entdeckt worden war. Rolfs und

glied das Versteck verraten hatte.7 Von diesen fünf

Nicos Eltern kamen in ein Gefängnis am Kleinen

holländischen Nazis wurden drei nach dem Krieg

Gartmanplantsoen unweit des Leidseplein im Ams-

vor Gericht gestellt: Cabalt, Beumer und Tol.8 Jacob

terdamer Stadtzentrum. Dort gab es zwei große

Breugem kam Ende November 1944 bei einer Schie-

Zellen, eine für Männer und eine für Frauen. Nach

ßerei ums Leben, Diederik Lutke Schipholt wurde

zwei Tagen wurden sie zum Amsterdamer Haupt-

am 14. Mai 1945 von Widerstandskämpfern getötet.

bahnhof und dann mit dem Zug ins Durchgangs-

Das Ehepaar Kamp und Bauer Kok wurden zu-

lager Westerbork gebracht. J.  Kok, der Bauer, bei

nächst zur Polizeiwache Amersfoort und von dort

dem sie untergetaucht waren, musste viel länger,

am nächsten Tag nach Amsterdam gebracht. Die

insgesamt sechs Wochen, in Amsterdam im Ge-

Polizei in Amersfoort erstellte einen Bericht über

fängnis bleiben. Auch er wurde unter starken Druck

die Verhaftung. Darin heißt es, es seien ein Radio-

gesetzt und mehrfach verhört, und auch er gab das

gerät, Kleidung, Geld und andere Sachen aus dem

Versteck von Nico und Rolf Kamp nicht preis.11

165

Situationen großer Gefahr und des knappen Überlebens Den Holocaust überlebt zu haben verdankt sich

los. Die Nazis zählten in Amersfoort 632 Personen,

nie nur einem einzigen Moment, sondern meist

die sie als «Volljuden» oder Juden betrachteten

einer langen Abfolge von Situationen, unerwarte-

(Personen mit drei oder vier jüdischen Großeltern).

ten Ereignissen und Augenblicken der größten Ge-

Die Deportationen begannen im Juli 1942.13 Die

fahr und des knappen Überlebens. So war es auch

Situation für staatenlose Juden war schon vor

bei der Familie Kamp. Den Eltern und ihren Kin-

Beginn der Deportationen sehr gefährlich gewor-

dern gelang es, schnell zu handeln und hochge-

den. Am 17. Juni 1942 führten zwei Amersfoorter

fährliche Situationen zuerst in Krefeld, dann in

Polizisten den Befehl der Gestapo in Amsterdam

Amersfoort und schließlich in den verschiedenen

aus und verhafteten einen staatenlosen Juden, der

Verstecken zu überstehen.

in Amersfoort lebte: Joseph Adamski, 43 Jahre alt

Die Entscheidung, Krefeld 1938 zu verlassen, er-

und in Warschau geboren, und seinen zwölfjähri-

höhte ihre Chance zu überleben. Die Encyclopae-

gen Sohn Isidoor, die beide in der Sint Andries-

dia Judaica spricht von 1481 Juden in Krefeld im

straat wohnten. Joseph wurde nach Westerbork

Jahr 1933. Antijüdische Gewalt gab es bereits am

gebracht, ein holländisches Konzentrationslager

5./6. Februar 1933, noch vor Hitlers Machtüber-

unweit der deutschen Grenze, und von dort mit

nahme; es wurden die Fensterscheiben der Syna-

dem ersten Zug nach Auschwitz deportiert, wo er

goge eingeschlagen. In der Reichspogromnacht

am 30. September 1942 ermordet wurde. Sein Sohn

wurden die Synagoge und andere Gebäude der

Isidoor überlebte zunächst, wurde aber am 3. Mai

jüdischen Gemeinde in Brand gesteckt. Später

1943 in Sobibor ermordet.14

wurden 1374 Juden aus Krefeld deportiert, und im

Aus den Niederlanden wurden zwischen Juli 1942

Jahr 1946 gab es in Krefeld nur noch 56 Juden.12

und September 1944 insgesamt 107 000 Juden in

Klug war auch die Entscheidung der Kamps,

die Vernichtungslager deportiert. Aus Amersfoort

Amersfoort zu verlassen und unterzutauchen. Wie

wurden 353 der 632 von den Nazis als «Volljuden»

der Historiker Kees Ribbens schreibt, lebten im

eingestuften Personen ermordet, das sind 56 Pro-

August 1941 – gemäß der Definition der Nazis, wer

zent der im Jahr 1941 als Juden registrierten Per-

als Jude zu gelten hatte – in Amersfoort insgesamt

sonen. Von den 133  Juden nichtholländischer

731 Juden, «Halb»- und «Viertel»-Juden, darunter

Staatsangehörigkeit, die 1941 in Amersfoort ge-

115 deutsche Juden wie die Familie Kamp. Ihnen

meldet waren und sich in einer ähnlichen Situa-

allen wurde im November 1941 die deutsche

tion wie die Familie Kamp befanden, wurden 85

Staatsbürgerschaft entzogen. Sie wurden staaten-

ermordet, das sind 64 Prozent.15

Rückkehr aus dem Versteck, eine Stimme finden Die Zeit der Befreiung, der Rückkehr aus ihren

ßerst schwierig. Viele sahen sich mit ungläubiger

Verstecken und aus den Konzentrationslagern

Skepsis und mit Formen des Antisemitismus sei-

war für die meisten jüdischen Überlebenden äu-

tens der Nichtjuden konfrontiert. Oft mussten die

166

jüdischen Überlebenden feststellen, dass ihnen

Nico und Rolf Kamp und ihre Ehefrauen Hélène

ihre Häuser und Wohnungen weggenommen, ihr

Kamp-van Dam und Marion Kamp-Berets kennen-

Besitz geraubt worden war. Güter, die sie Nach-

zulernen, war für mich und meinen Mann Jan Erik

barn zur Aufbewahrung anvertraut hatten, wur-

Dubbelman, den ehemaligen Leiter der internatio-

den nicht zurückgegeben.16 Jüdische Kinder, die

nalen Bildungsprojekte im Anne-Frank-Haus in

einen oder beide Elternteile verloren hatten, wur-

Amsterdam, eine bewegende Erfahrung. Bald er-

den manchmal von anderen Überlebenden der

fuhren wir, dass nicht nur Nico und Rolf, sondern

Familie aufgenommen. Andere kamen in Waisen-

auch ihre Ehefrauen in den Niederlanden unterge-

häuser, für einige fanden sich Pflegefamilien. Es

taucht waren und überlebt hatten. Marion wurde

gab viele Spannungen und Konflikte rund um die

in Amersfoort geboren, ihre Familie stammte eben-

Hilfe, die Fürsorge und das Eigentum, was zu wei-

falls aus Krefeld. Auch sie lebte mit ihren Eltern

teren seelischen Wunden und Traumata führte.17

und ihrem Bruder als Untergetauchte, zuerst in

Anfang der 1990er Jahre entstand im Rahmen

Amersfoort und später bei Voorthuizen auf dem

von internationalen Konferenzen und Initiativen

Land. Dort baute ihr Vater unweit eines Bauern-

in Kanada, den Vereinigten Staaten und Europa

hofs eine Hütte. Eines Tages kam der Bauer, um sie

ein Forum für Kinder, die in Verstecken überlebt

zu warnen, die Deutschen seien auf dem Weg hier-

hatten. Sie fanden durch Selbsthilfe- und Unter-

her, und sie müssten sofort verschwinden. «Wir

stützerkreise, Schreibgruppen, Zeitschriften und

liefen in den Wald! […] Wir blieben drei Tage und

Newsletter eine Stimme und sind bis heute aktiv.18

drei Nächte dort», erzählt Marion in einem Inter-

Wenn wir das Buch von Inge, Rolf und Nico Kamp

view.20 Sie schliefen «im Wald, auf den Blättern der

und ihre Zeitzeugenberichte lesen, finden wir

Bäume. Es war Ende März. Kalt. Wir hatten nichts,

viele schockierende Momente. Rolf und Nico leb-

um uns zuzudecken. Später kam Hendriks und

ten jahrelang unter lebensbedrohlichen Umstän-

brachte uns ein paar Decken. Er brachte uns auch

den und konnten doch irgendwie Kinder bleiben.

Holz. Mein Vater grub Löcher für uns und meine

Sie spielten mit den Kindern der Familien, bei

Eltern. Wir konnten darin nicht liegen, nur sitzen.

denen sie untergetaucht waren, passten sich

Nicht sehr tief. Aber tief genug, dass wir sitzen

immer wieder plötzlich und unerwartet wechseln-

konnten und man unsere Köpfe nicht sah.» Nach

den Bedingungen an. Es hat lange gedauert, bis sie

einiger Zeit fand der holländische Untergrund ein

in der Lage waren, einige ihrer Erinnerungen mit-

anderes Versteck für sie, einen Hühnerstall. Dort

zuteilen. Dennoch gehörten sie zu denen, die rela-

waren auch andere Leute, und sie mussten sich

tiv früh zu erzählen begannen, und sie waren un-

mit dem Schlafen abwechseln. «Ich erinnere mich,

ter den ersten untergetauchten Kindern, die 1987

dass ich auf dem Boden schlief. Es war natürlich

einer Einladung der Stadt Krefeld folgten und für

sehr eng. Wir bekamen … [kratzt sich an den

eine Woche in ihre Geburtsstadt zurückkehrten.

Armen] … Hautprobleme.»21 Sie kann sich nicht er-

Auch ihre Mutter Inge und Rolfs Schwiegervater

innern, ob der Stall ein richtiges Dach hatte. «Wir

waren in Krefeld dabei; insgesamt kamen hundert

waren zu acht. Jeder durfte zwei Stunden schlafen.

aus Krefeld stammende Juden zusammen.19 Auf

Auf dem Boden. Mit Decken, die er uns brachte. […]

Bitten ihrer Enkelkinder begannen Rolf und Nico

Oft waren wir mit Hühnerdreck verschmiert. Wir

später, häufiger in der Öffentlichkeit zu sprechen.

blieben dort, bis der Krieg vorbei war.»22

167

Hélènes Versteck befand sich in der Stadt. Sie

nicht einmal auf dieser inoffiziellen Liste einen

lebte während des gesamten Krieges bei einer

Platz  […]. Als Holocaust-Überlebende der ersten

Familie in Amsterdam. Der emotionale Preis war

Generation waren wir zu jung, um für unsere Exis-

hoch, obwohl ihre Adoptivfamilie im Allgemeinen

tenz und unsere Erfahrungen Fürsprecher zu fin-

liebevoll war. Sie stand meist in der Obhut eines

den.»24

strengen Kindermädchens, während die anderen

Angesichts dieser gewaltigen Hindernisse nach

Kinder zur Schule gingen. «Das Kindermädchen

dem Krieg sind wir sehr dankbar, dass Nico und

war sehr rigide […] Ich vermisste die Zärtlichkeit

Rolf, Hélène und Marion bereit sind, uns ihre Ge-

und die Liebe meiner Mutter. Sie waren wunder-

schichten zu erzählen. Die Geschichten von un-

bar, aber distanziert. Es war anders als bei uns zu

tergetauchten Juden bergen eine Fülle historisch

Hause  […] Man hat keine Freiheit  […] Das war

bedeutsamer Informationen und Erkenntnisse,

sehr, sehr schwierig. Ich musste im Haus blei-

die noch nicht ausreichend gesammelt und aus-

ben.» Der Verlust der Freiheit ist bis heute eine

gewertet worden sind.25 Zum Glück gibt es immer

leidvolle Erinnerung, und auch das Leben mit

noch viele Familien, deren Erinnerungen an das

ihren leiblichen Eltern nach dem Krieg war nicht

Leben in einem Versteck viel Stoff für die For-

einfach. Der Kontakt zu ihrer Adoptivfamilie

schung bereithalten.

blieb gut. Hélène sagt, es sei wichtig für sie, jetzt mehr darüber zu erzählen. «Ja, ich denke, es ist

Anmerkungen

sehr wichtig. Denn je älter man wird, desto öfter kommt es hoch.»23

1 Die Firma Kamp stellte Wurstdärme und Fleischerei-

Marion und Hélène, Nico und Rolf – sie alle tragen

bedarfsartikel her und vertrieb sie auch in den Nie-

auf ihre Weise bis heute eine schwere Last mit

derlanden.

sich. Ihre Geschichten enthalten vieles, was aus

2 Zeitzeugenbericht von Inge Kamp: Inge, Rolf und

anderen Erzählungen Untergetauchter und deren

Nico Kamp, De laatste trein naar Auschwitz, Amster-

schwierigen Erinnerungen an diese Zeit bekannt

dam, 2. Auflage 2018, S. 19 –21; hier und im Folgenden

ist. Robert Krell, der als kleines Kind in Den Haag

zitiert nach der deutschen Ausgabe: Karin Kammann,

untergetaucht lebte, wurde später Kinderpsychia-

Inge, Nico und Rolf Kamp, Coen Hilbrink, Die Geschichte der jüdischen Familie Kamp aus Krefeld,

ter, er initiierte das Vancouver Holocaust Center

Amsterdam 2017, S. 179 –181. Inge Kamp hat auch bei

und internationale Treffen von Kinderüberleben-

der USC Shoah Foundation Zeugnis abgelegt.

den. Er hat diese Erinnerungen in einen größeren

3 Nico Kamp, «Von Hü nach Hott», in: Kammann,

Kontext gestellt. Viele Kinderüberlebende haben

Kamp, Hilbrink, Familie Kamp, S. 229. Yad Vashem

jahrzehntelang geschwiegen. Es entwickelte sich

forscht derzeit zu Wouter van Egdom. Ein Foto von

in der Nachkriegszeit eine informelle Hierarchie

ihm und seiner Frau sowie Berichte, dass die beiden

bei den Holocaust-Überlebenden und anderen.

zu der Zeit ein Kinderheim leiteten, in dem sie weitere Kinder aufnahmen, erschienen 2019. Algemeen

Kinderüberlebende wurden oft übersehen oder

Dagblad, 7. März 2019, Artikel von Wichard Maassen;

zum Schweigen gebracht. In den 1980er Jahren,

https://www.ad.nl/amersfoort/amersfoorts-stel-

so Krell, «hatte sich eine Hierarchie bezüglich

postuum-geeerd~a9154221/

der Frage herausgebildet, wer das Schlimmste

4 Rolf Kamp, «Untertauchen auf dem Land», in: Kam-

durchgestanden hatte. Kinderüberlebende fanden

mann, Kamp, Hilbrink, Familie Kamp, S. 205.

168

5 Inge Kamp, in: ebd., S. 182.

hoff (Redaktion), Krefelder Juden (Krefelder Studien 2),

6 Gijsberta van Garderen-van Egdom wurde am

Röhrscheid 1980.

4. September 1902 in Stoutenburg geboren. Am

13 Ribbens, Zullen wij nog terugkeeren, S. 31.

6. Juli 1944 kam sie in das Konzentrationslager

14 Ribbens, Zullen wij nog terugkeeren, S. 49f.

Vught, am 9. September 1944 in das Konzentrations-

15 Ribbens, Zullen wij nog terugkeeren, S. 124.

lager Ravensbrück und am 15. Oktober 1944 in

16 Dienke Hondius, Return: Holocaust Survivors and Dutch Anti-Semitism, Westport, CT 2004.

das Konzentrationslager Dachau. Sie überlebte und wurde am 29. April 1945 befreit. Siehe die

17 Diane L. Wolf, Beyond Anne Frank: Hidden Children

Arolsen Archives https://collections.arolsen-archi

and Postwar Families in Holland, Berkeley, Los Ange-

ves.org und das Archiv der KZ-Gedenkstätte Da-

les und London 2007. In den Niederlanden publizier-

chau; siehe zu Ravensbrück auch https://www.

ten Bloeme Evers-Emden und Bert Jan Flim zu den

oorlogslevens.nl/tijdlijn/Gijsberta-van-Garderen-

Beziehungen zwischen versteckten Kindern und ihren Helfern.

van-Egdom/24/1786w sowie das Archiv des Verzets

18 Robert Krell zum Beispiel initiierte im kanadischen

Resistance Museum: https://www.verzetsmuseum. org/dachau/gijsbertha-van-garderen-van-egdom

Vancouver Treffen von Menschen, die im Versteck

7 Kees Ribbens, «Zullen wij nog terugkeeren …».

überlebt hatten; und in New York nahm Anfang der

De jodenvervolging in Amersfoort tijdens de Tweede

1990er Jahre die Hidden Child Foundation ihre Arbeit

Wereldoorlog, Amersfoort 2002, S. 100 und S. 137,

auf und begann mit der Veröffentlichung eines News-

Fußnote 243. Quellen: Stadtarchiv Amersfoort (Ge-

letters. Diese Initiativen führten zu eindrucksvollen

meentearchief), Archiv der Stadtverwaltung (Archief

Sammlungen von Zeitzeugenberichten.

Gemeentebestuur), Dossier 1021: IV 07, tägliche Poli-

19 Karin Kammann, «Das Wiedersehen der jüdischen

zeiberichte, und Archiv der Stadtpolizei (Archief Ge-

Bürger mit Krefeld 1987», in: Kammann, Kamp,

meentepolitie), Polizeibericht, 23. und 24. Mai 1944.

Hilbrink, Familie Kamp, S. 266 –272.

Nationalarchiv Den Haag (Nationaal Archief), Archief

20 Interview am 16. Mai 2007 von Hilde Gattmann

Bureau Juridische Zaken/Zuivering van de Afdeling

und Anne Grett Saldinger, JFCS San Francisco

Politie en Taakvoorganger, Dossier 643, Dossier 5978.

Holocaust Center, Bay Area Holocaust Oral History

Diese Archive enthalten Berichte vom Verhör der

Project. USHMM Oral History Collection, no. 1999.

Polizisten Beumer und Tol aus den Jahren 1946 und

A.0122.1491; RG Number: RG-50.477.1491. https://col

1947. Der Name des NSB -Mitglieds, der das Versteck

lections.ushmm.org/search/catalog/irn47804

verriet, ist darin nicht verzeichnet. Weitere Informa-

21 Interview mit Marion Kamp, a. a. O. https://collecti ons.ushmm.org/search/catalog/irn47804

tionen finden sich im Nationaal Archief, Centraal

22 Dienke Hondius, Interview mit Marion Kamp-Berets,

Archief Bijzondere Rechtspleging. 8 Sie wurden zu 10 bzw. 5 Jahren Haft verurteilt, siehe

15. Dezember 2019, Amsterdam.

https://archiefeemland.courant.nu/issue/ DVA /

23 Dienke Hondius, Interview mit Hélène Kamp-van Dam, 15. Dezember 2019, Amsterdam.

1948-10-29/edition/0/page/2?query=

9 Ribbens, Zullen wij nog terugkeeren, S. 100.

24 Robert Krell, «30  years of friendship, healing and

10 Kammann, Kamp, Hilbrink, Familie Kamp, S. 183.

education – our legacy», in: Mishpocha! World Federa-

11 Ribbens, Zullen wij nog terugkeeren, S. 100. Ob J. Kok

tion of Jewish Child Survivors of the Holocaust and

Informationen über andere Aspekte der Widerstands-

Descendants, Frühjahr 2013; zitiert nach Marcel Tenen-

gruppe und andere Ereignisse weitergab, wird von

baum, Of Men, Monsters and Mazel. Surviving the

Ribbens nicht erwähnt.

«Final Solution» in Belgium, Montreal 2016.

12 Stichwort Krefeld in der Jewish Virtual Library,

25 Dienke Hondius, Mapping Hiding Places Research

https://www.jewishvirtuallibrary.org/krefeld. Quel-

Project, Vrije Universiteit Amsterdam, www.mapping

len: Encyclopaedia Judaica. Siehe auch Guido Rott-

hidingplaces.org.

169

Über dieses Projekt Von Charlotte Schallié, Matt Huculak, Ilona Shulman Spaar, Jan Eric Dubbelman

ie drei in diesem Buch versammelten

D

Gräueltaten besitzt, sondern auch über die Art und

Graphic Narratives entstanden im Rahmen

Weise, wie sie ihre Erinnerungen teilen und gestal-

eines Forschungsprojekts, das Holocaust-Überle-

ten, war es für die Künstler unerlässlich, ihre Bild-

bende, Graphic Novelists, Fachleute für Holocaust-

erzählungen in den Stimmen der vier Kinderüber-

und Menschenrechtspädagogik, Historikerinnen

lebenden zu verankern. Wenn wir also Aber ich

und Historiker, Lehramtsstudierende, Gymnasial-

lebe lesen, hören wir die Stimmen der Überleben-

lehrerinnen und -lehrer, Bibliothekare und Archi-

den in den visuell re-imaginierten, vielschichtigen

vare über einen Zeitraum von drei Jahren zusam-

Erzählungen, in denen manchmal Vergangenheit

menführte. Zwei Comic-Künstlerinnen und ein

und Gegenwart nahtlos ineinander übergehen.

Comic-Künstler wurden eingeladen, sich mit vier

Zeitzeugnisse sind der Schlüssel zum Verständnis

Kinderüberlebenden des Holocaust zu treffen, zu-

unserer Vergangenheit und unserer Gegenwart,

nächst persönlich (zwischen Dezember 2019 und

aber sie sind traumatisch sowohl für die, die sie

Februar 2020), dann auch über Zoom, als persön-

weitergeben, als auch für die, die sie rezipieren. Da

liche Kontakte wegen der COVID-19-Pandemie

unser Projekt Erinnerungen an erlittenes Leid wach-

nicht mehr möglich waren. Wir stellten den drei

ruft, mussten wir unsere Vorgehensweise auf die

Künstlern jeweils eine(n) Kinderüberlebende(n) an

sich verändernden und neu auftauchenden Bedürf-

die Seite – in einem Fall zwei Brüder, die zusam-

nisse der Überlebenden, ihrer Familien und auch

men in Verstecken überlebt hatten – und baten sie,

der Künstler abstimmen, mit denen wir zusam-

gemeinsam Handlungsstränge, Settings und The-

menarbeiteten. Als das Projekt angelaufen war,

men zu erkunden. Auf der Grundlage dieser krea-

stellten wir fest, dass unser künstlerischer Ansatz

tiven Sitzungen entwickelten Miriam Libicki, Gilad

den Überlebenden half, neue Erinnerungen abzu-

Seliktar und Barbara Yelin erste Entwürfe und

rufen und mit den Zeugnissen, die sie schon viele

Storyboards, um die Erinnerungen und Reflexio-

Male zuvor abgelegt hatten, neu umzugehen. Dabei

nen von David Schaffer, Nico und Rolf Kamp und

wurde uns vor Augen geführt, dass das visuelle

Emmie Arbel in visuelle Erzählungen umzusetzen,

Erzählen in Form von Graphic Narratives für Le-

die die Integrität, Individualität und Würde der

bensgeschichten und Erinnerungen von Kinder-

Überlebenden und ihre Erfahrungen respektieren.

überlebenden ganz besonders geeignet ist, da

Da jeder und jede Überlebende ein einzigartiges

diese Erinnerungen in einem lebendigen assoziati-

Wissen nicht nur über die massenhaft begangenen

ven Kontext wachgerufen werden, der sich für eine

170

visuelle Darstellung intuitiv anbietet. Während

zeitig verweisen sie auf die unzähligen stummen

schriftliche und als Video aufgezeichnete Zeug-

Stimmen und Erinnerungen, die nie tradiert wur-

nisse dazu tendieren, die Auseinandersetzung mit

den und deshalb bereits verschwunden sind.

den Überlebenden zu verengen, und deren Zeugnis

Dank der Unterstützung durch Bibliotheken und

allzu oft als statisches Dokument behandeln, för-

Archive steht die Arbeit an diesem Projekt (zeich-

dert visuelles Erzählen – wie in Form von Graphic

nerische Entwürfe, Filme und Audiodateien) in

Novels – die Interaktion von Interviewten und Inter-

den University of Victoria Libraries künftigen For-

viewenden und zeigt damit die ganze Bandbreite

scherinnen und Forschern zur Verfügung. Die

des Prozesses des Zeugnisablegens und -empfan-

Geschichten der vier Überlebenden jedoch leben

gens auf. Wir behaupten daher, dass die breitere

durch unsere Veröffentlichung weiter.

Einbeziehung von Visualisierungstechniken in das

In diesen graphischen Dokumenten gibt es ein Mo-

Geschichtenerzählen das Potenzial besitzt, innova-

ment, das von dem Projekt selbst weder theoretisch

tive Wege des Sammelns von Zeitzeugenberichten

noch praktisch vorweggenommen werden kann:

zu eröffnen – und dies wird immer wichtiger, da wir

die Wirkung auf die Leserinnen und Leser. Die Gra-

uns der Post-Zeitzeugen-Ära nähern, in der es keine

phic Narratives vermitteln nicht nur den Austausch

Überlebenden des Holocaust mehr gibt.

zwischen Interviewtem und Interviewendem, sie

Das Projekt wirft auch die Frage auf, wie man

sind auch ein neuartiges Medium, durch das wir als

den Holocaust darstellen kann. Das Zeugnis der

Leser die Erfahrungen von David, Emmie, Nico und

Überlebenden – eigentlich sollten wir «Zeugnisse»

Rolf mit- und nacherleben können. Diese Geschich-

sagen, das betont den fortschreitenden Erinne-

ten sind in unseren Köpfen und in unseren Herzen,

rungsvorgang während der Zusammenarbeit zwi-

und die von den Künstlern visuell umgesetzten Er-

schen Künstlern und Überlebenden – wird bildlich

innerungen der Überlebenden werden in unserer

wie auch sprachlich in mehreren Stimmen und

Vorstellungskraft zum Leben erweckt. Wir tragen

visuellen Stilen vermittelt. Diese Geschichten zei-

sie weiter, Hand in Hand und gemeinsam.

gen, dass es nicht eine einzige, allgemein gültige

Wir sind Emmie Arbel, Nico Kamp, Rolf Kamp und

Erfahrung des Holocaust gibt. Die Vielfalt der Er-

David Schaffer zutiefst dankbar dafür, dass sie

fahrungen wird durch den graphischen Stil, die

ihre Holocaust-Erfahrungen nicht nur den Künst-

Farbe, ja den individuellen Akzent der Sprecherin-

lerinnen und dem Künstler, sondern auch dem

nen und Sprecher zum Ausdruck gebracht. Jede

gesamten Projektteam in Europa, Israel und Nord-

einzigartige Stimme und Erfahrung wird in einen

amerika anvertraut haben. Keiner der Überleben-

Rahmen eingebettet und ist eine Stimme, die so da-

den hatte Erfahrungen in der Zusammenarbeit

vor bewahrt wird, mit der Zeit verloren zu gehen.

mit Graphic Novelists, umso mehr bewundern wir

Diese illustrierten Geschichten sind ein physi-

ihre Neugier und ihre Bereitschaft, sich auf die-

sches, graphisches Medium, um weit zurücklie-

sen gemeinsamen Schaffensprozess einzulassen,

gende Erinnerungen zu vergegenwärtigen, durch

der anfangs ungewöhnlich, ja radikal erscheinen

Bilder zu übermitteln und festzuhalten. Auf diese

mochte. Auch Miriam Libicki, Gilad Seliktar und

Weise schaffen die Graphic Novels ein neues Ar-

Barbara Yelin möchten wir ganz herzlich danken.

chiv für künftige Leser, das über die von den Tä-

Ohne ihre tief empfundene und gelebte Empathie,

tern angelegten Sammlungen hinausgeht. Gleich-

ihr Mitgefühl, ihre Großherzigkeit und ihre Bereit-

171

schaft, sich auf eine Arbeit einzulassen, die sich in

die Rolle und Verantwortung von Individuen und

vieler Hinsicht den Zwängen der herkömmlichen

Staaten angesichts kollektiver Gewalt befähigt.

Zeitzeugenberichte widersetzt, wäre unser Pro-

Für den Einsatz im Unterricht an weiterführenden

jekt nicht zustande gekommen.

Schulen wird Aber ich lebe durch menschenrechts-

Da uns persönliche Holocaust-Zeugnisse aus ers-

zentrierte Bildungsmaterialien, kurze Dokumen-

ter Hand bald nicht mehr zur Verfügung stehen

tarfilme, Interviews und Archivmaterial ergänzt.

werden, müssen wir neue Wege erkunden, um die

Sie sind auf unserer Projektwebsite für den Prä-

individuellen Erfahrungen von Genozid-Überle-

senz- und Fernunterricht weltweit frei verfügbar

benden zugänglich zu machen, zu verstehen und

(www.holocaustgraphicnovels.org). Unter Leitung

zu kontextualisieren. Visuell erzählte Geschichten

von Andrea Webb haben Bildungswissenschaftle-

helfen Schülerinnen und Schülern, unterschied-

rinnen und -wissenschaftler sowie Museumsfach-

liche Perspektiven wahrzunehmen und die Fähig-

leute in Kanada, Deutschland, Israel und den Ver-

keit zu kritischem Denken zu entwickeln. Obwohl

einigten Staaten mit unseren drei Graphic Novels

unsere Graphic Novels dazu ermuntern, über die

gearbeitet und mehrsprachige Unterrichtsmittel

Einzigartigkeit der Erfahrungen von Holocaust-

entwickelt, die das Lehren und Lernen über den

Überlebenden nachzudenken, sind sie auch eine

Holocaust mit dem Thema soziale Gerechtigkeit

Herausforderung, auf Menschenrechtsverletzun-

und einer Antirassismus-Erziehung verknüpfen.

gen in der heutigen Welt kritisch zu reagieren. Die

Durch empathische Führung und ein globales

in diesem Band versammelten kurzen Essays der

Netzwerk hoffen wir, die nächste Generation

Überlebenden verdeutlichen, dass Emmie Arbel,

von Wissenschaftlern, Pädagogen, Kuratoren und

Nico und Rolf Kamp und David Schaffer beispiel-

Menschenrechtsverfechtern zu inspirieren und zu

haft dafür stehen, wie wir das Lernen über den

schulen. Schülerinnen und Schüler übernehmen

Holocaust in umfassendere Fragen des Menschen-

das Erbe der Erinnerungen von Holocaust-Überle-

rechtsschutzes integrieren können. Wir sind der

benden, und ihr Umgang mit diesen Erinnerungen

Ansicht, dass das Lernen über, durch und für

ist von entscheidender Bedeutung, um die Würde

Menschenrechte zu kritischem Nachdenken über

dieser Erfahrungen zu bewahren und grobe Men-

den Gebrauch und Missbrauch von Macht, über

schenrechtsverletzungen zu verhindern.

Dank Wir danken unseren Lektoren Natalie Fingerhut

Zeit und Raum für einen umfassenden Austausch

(New Jewish Press) und Ulrich Nolte (C.H.Beck) für

mit den Überlebenden, den Graphic Novelists,

ihre anteilnehmende und unverzichtbare Unter-

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie

stützung. Sie waren neugierige, aufmerksame und

weiteren Partnerinnen und Partnern verschiede-

sehr engagierte Leser, die uns kluge Einsichten

ner Institutionen, bevor wir endgültige Entschei-

und ein wertvolles Feedback übermittelt haben.

dungen getroffen haben. Wir danken Lynn Fisher

Natalie Fingerhut und Ulrich Nolte waren offen für

(University of Toronto Press) und Jonathan Beck

diese Form der Zusammenarbeit und ließen uns

(Verlag C.H.Beck), die bereits in einer frühen Phase

172

des Projekts mit uns in Kontakt getreten sind. Sie

Lehrerausbildungsprogramms der University of

haben uns ermutigt und uns signalisiert, dass wir

British Columbia (Vancouver) sowie den Lehr-

auf dem richtigen Weg sind. Vielen Dank!

amtsstudenten der Universität Haifa und der Uni-

Ganz besonders bedanken wir uns auch bei

versität Osnabrück, die unter fachkundiger Anlei-

Dienke Hondius, Alex Korb und Andrea Löw, die

tung und Betreuung durch Andrea Webb (Education

die Graphic Novels in ihren historischen Kontext

team lead), Arie Kizel, Maja Sturm und Christoph

stellten. Dienke, Alex und Andrea haben sich mit

Sturm Lern- und Lehrmaterialien entwickelt ha-

den Überlebenden und den Künstlern beraten,

ben, die Traumaerfahrung berücksichtigen. Päda-

um ihre historischen Essays bestmöglich auf die

goginnen und Pädagogen auf der ganzen Welt

Graphic Novels abzustimmen. Darüber hinaus

haben das von uns entwickelte Material erstmals

sind wir für die unschätzbare Unterstützung von

in ihren Klassen und Kursen eingesetzt.

Wilhelmina Mensing (Traa) und Caroline Slegers-

Wir danken den zahlreichen Kollegen, Partnern

Boyd dankbar, die Gilad Seliktar Fotos aus dem

und Mitarbeitern der University of Victoria für

Privatarchiv der Familie Traa zur Verfügung ge-

ihre engagierte Unterstützung: Jonathan Bengt-

stellt haben. Wir danken Kristin Semmens, die

son, Philip Cox, Alexandra D’Arcy, Emmanuelle

diese Texte durchgesehen und weitere wichtige

Guenette, Stephanie Harrington, Lytton McDonnell,

Anregungen gegeben hat.

Rosemary Omner, Jennifer Sauter, Ray Siemens,

Unser kunstbasierter, partizipatorischer Ansatz

Jennifer Swift, der Fakultät für Geisteswissen-

hat Synergien quer durch sehr unterschiedliche

schaften, den UVic-Libraries, dem Electronic Text-

Disziplinen, Sektoren, Sprachen und Kulturen ge-

ual Cultures Lab, den Legacy Art Galleries und

schaffen. Und so gilt unser herzlichster Dank un-

dem Centre for Global Studies.

seren Projektpartnern (in alphabetischer Reihen-

Unser großer Dank gilt auch den wertvollen

folge): Frank Bajohr, Gillian Booth, Anna Bucchetti,

Beiträgen und der Unterstützung durch unsere

Mark Celinscak, Tim Cole, Randa El Khatib, Stefanie

Partner in den folgenden Institutionen und

Fischer, Martin Friedrich, Matthias Heyl, Andrea

Universitäten: dem Vancouver Holocaust Educa-

Hopp, Akim Jah, Kobi Kabalek, Chorong Kim, Arie

tion Centre (Vancouver, Kanada), dem Canadian

Kizel, Fransiska Louwagie, Noa Mkayton, Lise

Museum for Human Rights (Winnipeg, Kanada),

Pinkos, Kees Ribbens, Christoph Sturm, Maja

dem Anne-Frank-Haus (Amsterdam, Niederlande),

Sturm, Katarina Türler und Andrea Webb. Auch

den Arolsen Archives (Bad Arolsen, Deutschland),

Dorothee Wierling, Michael Groenewald, Anna

der

Fuchs und Susanne Hellweg haben uns dankens-

Havel, Deutschland), dem Stanley Burton Centre

werterweise unterstützt. Unsere studentischen

for Holocaust and Genocide Studies (Leicester,

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben einen

Großbritannien), dem Zentrum für Antisemitis-

wertvollen Beitrag zu diesem Projekt geleistet. Wir

musforschung (Berlin, Deutschland), Yad Vashem –

danken Janine Wulz, Betsy Inlow, Maria Dechant,

International School of Holocaust Studies (Jerusa-

Giles Bennett, Patricia Piberger und Franziska Uhl

lem, Israel), der Fakultät für Erziehungswissen-

sowie unseren Übersetzerinnen Rita Seuß und

schaften der University of British Columbia

Waltraud Hüsmert. Besonderer Dank gebührt den

(Kanada), der Fakultät für Erziehungswissenschaf-

Community-Field-Experience-Studenten (CFE) des

ten der Universität Haifa (Israel), dem Institut für

173

Gedenkstätte

Ravensbrück

(Fürstenberg/

Erziehungswissenschaften der Universität Osna-

zügige und wichtige Unterstützung wäre unser

brück (Deutschland) und der Sam & Frances Fried

Gemeinschaftsprojekt Narrative Art and Visual

Holocaust & Genocide Academy der University of

Storytelling in Holocaust and Human Rights Educa-

Nebraska Omaha (USA). Das Social Sciences and

tion nicht durchführbar gewesen. Und schließlich

Humanities Research Council in Kanada (SSHRC)

wäre ohne die Begeisterung eines kleinen Jungen

unterstützte uns bei all unseren Recherchen, bei

für Graphic Novels der erste Keim für dieses Pro-

unserer Mobilisierung von Wissen und unseren

jekt vielleicht nie gelegt worden. Danke, Sebastian

kreativen Forschungsaktivitäten. Ohne diese groß-

Schallié.

Die Autorinnen und Autoren

Emmie Arbel wurde 1937 in Den Haag als jüngs-

Essays «Toward A Hot Jew» wurde sie 2017 mit dem

tes von drei Kindern geboren. Sie überlebte drei Kon-

Vine Award for Canadian Jewish Literature ausgezeich-

zentrationslager. Nach dem Krieg wanderte sie mit

net. Sie lebt in Vancouver.

ihren beiden Brüdern nach Israel aus. Als Erwachsene arbeitete sie in einer psychiatrischen Klinik und

Andrea Löw ist stellvertretende Leiterin des Zentrums

wurde später dort Verwaltungsdirektorin. Emmie

für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in

Arbel lebt mit ihren Töchtern und Enkeln in der Nähe

München und Honorarprofessorin an der Universität

von Haifa.

Mannheim. Sie forscht und lehrt insbesondere zum Holocaust in Osteuropa. Bei C.H.Beck erschien von ihr «Das Warschauer Getto» (mit Markus Roth, 2013).

Dienke Hondius ist Assistant Professor für Geschichte an der Vrije Universiteit Amsterdam und arbeitet am Anne-Frank-Haus an internationalen pädagogischen

David Schaffer, geboren 1931 in Vama (Bukowina,

Projekten mit. Von ihr erschien u.a. «Return: Holocaust

Rumänien), überlebte zusammen mit seinen Eltern

Survivors and Dutch Anti-Semitism» (2004).

den Holocaust in Transnistrien. Er arbeitete bis 2011 als Ingenieur für große Firmen in Rumänien, Israel und

Nico Kamp, geboren 1937, war von 1974 bis 2016 nie-

Kanada. David Schaffer lebt mit seiner Frau, seinen

derländischer Honorarkonsul in Florenz und für die

Kindern und Enkelkindern in Vancouver.

jüdische Vereinigung B’nai Brith aktiv. Der zweifache Vater und Großvater berichtet regelmäßig in Schulen

Charlotte Schallié, Professorin an der University of

über seine Erfahrungen während des Krieges. Er lebt in

Victoria in Kanada, lehrt Germanistik und Holocaust

Amsterdam.

Studies. Von ihr erschien u. a. «Unter Schweizer Schutz: Die Rettungsaktion von Carl Lutz während des Zwei-

Rolf Kamp, geboren 1934, arbeitete als Maschinenbau-

ten Weltkriegs in Budapest  – Zeitzeugen berichten»

Ingenieur in den Niederlanden und als Dozent an einer

(Hg. mit Agnes Hirschi, 2020).

technischen Fachhochschule in den USA. In Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Lager Westerbork

Gilad Seliktar, Autor von vier in mehrere Sprachen

spricht er als Zeitzeuge in Schulen. Er hat drei Kinder

übersetzten Graphic Novels, wurde 2018 bei der Ver-

und sechs Enkelkinder und lebt in Amsterdam.

gabe des Israel Museum Ben-Yitzhak Award mit einer Ehrenvollen Erwähnung ausgezeichnet. Er lehrt an der

Alexander Korb lehrt als Associate Professor für euro-

Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem und

päische Zeitgeschichte an der University of Leicester.

lebt in Pardes Chana-Karkur, Israel.

Er forscht vor allem über den Holocaust in Ost- und Südosteuropa. Von ihm erschien u. a. «Im Schatten des

Barbara Yelin wurde mit ihrem Comic-Roman «Irmina»

Weltkriegs: Massengewalt der Ustaša gegen Serben, Ju-

international bekannt. 2015 erhielt sie den Bayerischen

den und Roma in Kroatien 1941–1945» (2013).

Kunstförderpreis für Literatur und 2016 den renommierten Max-und-Moritz-Preis als beste deutschspra-

Miriam Libicki ist Autorin der Graphic Novel «Jobnik!»

chige Comic-Künstlerin. Bei C.H.Beck erschien das von

über ihren Wehrdienst in Israel sowie zahlreicher kur-

ihr illustrierte «Tagebuch eines Zwangsarbeiters» von

zer Nonfiction Comics. Für ihren Band mit Graphic

Jan Bazuin (2022). Sie lebt in München.

175

Die Forschung für dieses Buch wurde gefördert vom Social Sciences and Humanities Research Council of Canada.

Die englische Ausgabe erschien 2022 bei University of Toronto Press. Das Nachwort von Andrea Löw wurde auf Deutsch geschrieben. Das Nachwort von Nico Kamp wurde von Waltraud Hüsmert aus dem Niederländischen übersetzt. Mit 1 Karte von Peter Palm, Berlin

Für die deutsche Ausgabe: © Verlag C.H.Beck oHG, München 2022 www.chbeck.de Satz: Fotosatz Amann, Memmingen Lettering: Anna Fuchs, München Umschlaggestaltung: geviert.com, Michaela Kneißl Umschlagillustration: Gilad Seliktar *4#/ ISBN F#PPL FQVC 978 3 406 

*4#/F#PPL 1%' 

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