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German Pages 170 Year 2022
Ingmar Mundt, Julia Sellig, Anna Henkel (Hg.) 10 Minuten Soziologie: Stress
10 Minuten Soziologie | Band 7
Editorial Das Programm der Soziologie ist: das Soziale zu verstehen und zu erklären. Dabei zeichnet sie sich durch eine Vielfalt theoretischer Ansätze, empirischer Gegenstände und konzeptioneller Zielsetzungen aus. Die Reihe »10 Minuten Soziologie« sieht diese Heterogenität als Stärke. So wie es für die Betrachtung der modernen Gesellschaft keinen »Archimedischen Punkt« (Luhmann) gibt – also keine Beobachtungsperspektive, von der aus das Soziale ›von außen‹ oder ›objektiv‹ beobachtbar wäre –, trägt auch die Disziplin diesem Umstand der modernen Gesellschaft als einer Welt ohne letzte Wahrheit Rechnung. Sie kehrt sich weder von der Welt ab, noch proklamiert sie in einem kontrafaktischen Duktus absolute Wahrheiten. Stattdessen bietet die Soziologie Beobachtungsmöglichkeiten an, die es erlauben: zu erklären und zu verstehen. Der soziologische Blick sensibilisiert dabei für ein Auch-anders-möglich-Sein sozialer Tatsachen. Die Beiträge eines Bandes der Reihe »10 Minuten Soziologie« nähern sich dem jeweiligen Gegenstand begrifflich aus unterschiedlichen Perspektiven und wenden das gewonnene Verständnis jeweils auf einen spezifischen Fall an. Im Mittelpunkt steht dabei die analytische Denkbewegung, also: ein theoretisches Konzept auf einen empirischen Gegenstand zu beziehen und diesen damit neu zu verstehen und zu erklären. Die Reihe wird herausgegeben von Anna Henkel. Ingmar Mundt, geb. 1985, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung der Universität Passau. Er studierte Volkswirtschaftslehre, Zukunftsforschung und Soziologie in Berlin und Edinburgh. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der soziologischen Theorie von Zukünftigkeit sowie praxistheoretischen und soziotechnischen Hervorbringung von Zukunftsentwürfen, insb. durch prädikative Algorithmen. Julia Sellig, geb. 1993, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung der Universität Passau. Sie studierte Soziologie und Politikwissenschaft und absolvierte den binationalen Masterstudiengang Interkulturelle Studien in Deutschland und Frankreich. In ihren Forschungen verbindet sie leibphänomenologische Perspektiven mit medizin- und techniksoziologischen Fragestellungen. Anna Henkel (Dr. phil.), geb. 1977, ist Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung an der Universität Passau. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der soziologischen Theorie sowie der Wissens-, Materialitäts- und Nachhaltigkeitsforschung.
Ingmar Mundt, Julia Sellig, Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Stress
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Inhalt 10 Minuten Soziologie: Stress Einleitung Julia Sellig, Ingmar Mundt und Anna Henkel � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 7
I Theorie und Grundlagen Situationsanalyse: Sozialer Stress Das Problem des double-binds in doppelt gerahmten Situationen Anna Henkel � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 15
Pragmatismus: Stressbare Subjekte Frithjof Nungesser � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 29
Physiologie: Stress und Gesundheit Judith Gutberlet � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 43
II Kritik und Krise Theorien Sozialer Reproduktion: »Es schlaucht schon« Sorgestress und Sorgekrise Tine Haubner � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 55
Machtanalytik: Fear of Missing Out Andreas Spengler � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 67
III Anpassungsstrategien und Resilienz Pragmatisches Dilemma Jugendliche DaZ-Lerner*innen zwischen dem gleichzeitigen Anspruch sprachlichen und fachlichen Lernens Julia Ricart Brede � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 81
Coping-Strategien von Frauen in Führung Kohärenzgefühl im Umgang mit Stress Claude-Hélène Mayer � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 95
Stresstests bei Banken: Simulation Kai v. Lewinski � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 109
IV Zeit- und Selbstverhältnisse Leibphänomenologie Wenn ein Technologiewechsel zum Identitätsstress wird Julia Sellig � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 123
Systemtheorie: ›#fuckthealgorithm‹ Zukunft und Autonomie im Angesicht prädiktiver Algorithmen Ingmar Mundt � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 137
Interdisziplinäre Nachhaltigkeitswissenschaften: Zeitwohlstand Erkenntnisse aus den pandemiebedingten Einschränkungen als Chance für eine gesellschaftliche Entschleunigung Sonja M. Geiger und Stefanie Gerold � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 151
Autor*innen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 163
10 Minuten Soziologie: Stress Einleitung Julia Sellig, Ingmar Mundt und Anna Henkel Gesellschaftliche Entwicklung ist seit jeher von Krisen, Katastrophen und Umbrüchen geprägt. Der Beginn des 21. Jahrhunderts macht keine Ausnahme. Dabei wird eine Diagnose für die (spät-)moderne Gesellschaft häufiger: Stress. Zunächst bezieht sich Stress auf ein spezifisches individuelles Erleben im Kontext sozialer Konstellationen und Herausforderungen. Bspw. gehören dazu Zeitstress angesichts von Beschleunigung (Rosa 2005), Sicherheits- und Sorgestress gegenüber zunehmenden Risiken in der Zukunft (Sasse 2019) oder Eco-Anxiety als Stress durch Klimawandel, wie der Sachstandsbericht des IPCC von 2022 konstatiert (Ahne 2022). Stress betrifft zudem gesamtgesellschaftlich geteilte Erfahrungsmuster, denkt man etwa an den Begriff »Burn-out«. Und auch soziale Systeme und Institutionen geraten in Stress und werden StressTests unterzogen. Es fehlt nicht an Anpassungs- und Reaktionskonzepten. Zur Unterstützung des individuellen Umgangs mit Stress liegt ein breites Angebot an Ratgeber- und Selbstmanagementliteratur vor. Hinzu treten auf der Ebene digitaler Technologien etwa Smartphone-Apps und Online-Tutorials zur Entscheidungsund Organisationshilfe, für mehr Achtsamkeit, zur Selbstoptimierung oder digitalen Selbstvermessung. Für Organisationen, Staaten und sogar Umweltsysteme lässt sich beobachten, dass Maßnahmen zur Resilienz in Stress- und Krisensituationen angestrebt werden. Diese Angebote und Maßnahmen sind teils ihrerseits stressig, indem sie selbst zu einer zusätzlichen Verpf lichtung werden. 7
Julia Sellig, Ingmar Mundt und Anna Henkel
Stress ist komplexer, als man meinen könnte. Denn Stress wird nicht nur von außen an ein Individuum herangetragen, Stress entspringt auch aus individuellen Praktiken. Stress ist nicht nur eine Herausforderung für die Handlungsfähigkeit der Akteure, sondern auch für die Stabilität gesellschaftlicher Institutionen. Trifft die Diagnose Stress für die moderne Gesellschaft zu, hat das Auswirkungen nicht nur für die sich wandelnden Rahmenbedingungen sozialen Handelns, sondern auch für Veränderungen in den Selbstverhältnissen der Subjekte. Die Soziologie hat dazu einiges beigetragen, etwa zur Hyperindividualisierung und Selbstvermarktung (Bröckling 2007), zu Ängsten vor sozialem Abstieg und Kontrollverlusten (Bude 2014; Nachtwey 2016; Reckwitz 2019), zum Erschöpfungszustand der Wettbewerbsgesellschaft (Neckel 2014), zum Zerfall von Basisselbstverständlichkeiten in der Risikogesellschaft (Beck, Giddens und Lash 2007), zur Überforderung des Ich (Ehrenberg 2015) oder zur Gereiztheit in der Gesellschaft (Pörksen 2018). In jüngerer Zeit wird Stress außerdem konkret als soziales Phänomen untersucht (z. B. Endreß 2015; Fuchs, Iwer und Micali 2018; Henkel und Peters 2019; Henkel und Block 2022, im Erscheinen). Der vorliegende Band schließt an solche Ansätze und Überlegungen an und trägt die spezifische Perspektive der »10 Minuten Soziologie« bei, nämlich ausgehend von der Verbindung jeweils eines konkreten empirischen Falls und einer spezifischen theoretischen Perspektive Stress besser zu verstehen und zu erklären – und zwar gerade durch die Heterogenität der Fälle und die Vielfalt der theoretischen Perspektiven. Von den vier thematischen Schwerpunkten befasst sich der erste »Theorie und Grundlagen« in drei Beiträgen mit gesellschaftstheoretischen und konzeptionellen Fragestellungen. In ihrem Beitrag »Situationsanalyse: Sozialer Stress. Das Problem des double-binds in doppelt gerahmten Situationen« untersucht Anna Henkel, dass und wie Stress in sozialen Situationen ent8
Einleitung
steht, die zwei nicht miteinander in Einklang zu bringende Erwartungen an die Selbstdarstellung des sozialen Akteurs richten. Wenn es dauerhaft nicht gelingt, eine derart doppelte Rahmung aufzulösen und der Akteur die Situation auch nicht verlassen kann, lässt sich die Situation als toxisch bezeichnen – für die Akteure und für das Soziale. An einem Beispiel aus dem Unternehmenskontext werden die Überlegungen exemplarisch angewendet. Im zweiten Beitrag »Pragmatismus: Stressbare Subjekte« legt Frithjof Nungesser ausgehend von einer Verbindung zwischen Pragmatismus und der psychologischen Stressforschung dar, wie ein besseres Verständnis stressbarer Subjekte gelingen kann. Dies beleuchtet er unter Heranziehung von Beispielen für Stress als Interaktionsspannung, als Interpretationsprozess und als Verletzungsrisiko. Schließlich zeigt Judith Gutberlet in ihrem Beitrag »Physiologie: Stress und Gesundheit« zunächst anhand eines Patienten mit Magenschleimhautentzündung, wie sich der Zusammenhang von Stress und dem Entstehen der Symptome physiologisch erklären lässt. Dabei wird klar, dass eine erfolgreiche Behandlung stressbedingter Erkrankungen verlangt, die Komplexität der menschlichen Natur anzuerkennen, und ein umfassenderes Verständnis der Wechselwirkung physiologischer Organsysteme erfordert. Der zweite Schwerpunkt beschäftigt sich mit Fragen zu »Kritik und Krise« von gesellschaftlichen Stressverhältnissen. Diese entstehen vor allem aus der kapitalistischen Strukturierung der modernen Gesellschaft, welche wiederum auf Effizienz- und Rationalisierungsprinzipien als Strukturmerkmale setzen. Damit gehen of tmals individuelle Erfahrungen von Druck und Exklusion einher, wie sich an den beiden hier diskutierten Fällen zeigt. Tine Haubner geht in ihrem Beitrag »Es schlaucht schon: Sorgestress und Sorgekrise« aus Perspektive der Theorien Sozialer Reproduktion dem Verhältnis von Stress und Care auf den Grund. Mit einem feministischen Blick auf die 9
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Pf lege von Angehörigen zeigt sie auf, dass die Aufrechterhaltung bzw. Reproduktion der modernen kapitalistischen Hochleistungsgesellschaft nur durch Ausbeutungspraktiken im Bereich Care- und Sorgearbeit und auf Kosten von überwiegend weiblichen Bevölkerungsgruppen und deren Stresssituationen zu bewerkstelligen ist. Mit seinem Artikel »Machtanalytik: Fear of Missing Out« ermöglicht Andreas Spengler den Leser*innen, einen anderen Blick auf die Organisation des Sozialen dieser Gesellschaft zu werfen. Mit dem Beispiel der stetigen Angst, etwas zu verpassen – Fear of Missing Out –, wird eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung aufgezeigt: Der fortwährende Wille zum Wissen und zur Information innerhalb einer leistungsbezogenen Gesellschaft. Welche Umgangspraktiken in zunehmenden Stress-Situationen entwickelt werden, ist Schwerpunkt der Beiträge zum Thema »Anpassungsstrategien und Resilienz«. Da sich vielen stressverursachenden Situationen nicht entzogen werden kann, müssen entsprechende Strategien entwickelt werden, um handlungsfähig zu bleiben und auf gegenwärtige oder zukünftige Krisensituationen vorbereitet zu sein. Dies kann das Individuum, die Praktiken in einer Organisation oder ein soziales System als Ganzes betreffen. Die mit dem Einstieg in das deutsche Bildungssystem verbundenen Herausforderungen für jugendliche Seiteneinsteiger*innen mit Deutsch als Zweitsprache schildert Julia Ricart Brede im Artikel »Pragmatisches Dilemma. Jugendliche DaZLerner*innen zwischen dem gleichzeitigen Anspruch sprachlichen und fachlichen Lernens«. Aufgezeigt wird die persönliche Dilemmasituation der Seiteneinsteiger*innen, die die deutsche Sprache erlernen und zugleich an den spezifischen Sachfächern partizipieren wollen bzw. müssen. In ihrem Beitrag »CopingStrategien von Frauen in Führung: Kohärenzgefühl im Umgang mit Stress« arbeitet Claude-Hélène Mayer heraus, was für eine Gesunderhaltung von Frauen am Arbeitsplatz aus der Sicht der 10
Einleitung
Frauen selbst beiträgt. Aufgeschlüsselt wird hierfür der Begriff des Kohärenzgefühls, der als eine Lebensorientierung aus erlebten soziokulturellen Erfahrungen des Individuums zusammengefasst werden kann. Kai von Lewinski schließlich untersucht in seinem Beitrag »Recht: Stresstests bei Banken – Simulation« aus der Perspektive einer kritischen Ref lexion von Taxonomie als Steuerungsressource, wie die Resilienz von Banken in Stresstests proaktiv durch Simulationen festgestellt werden kann. Am Fall der Funktionsweise der Bankenaufsicht wird deutlich, dass in solchen Stresstests herangezogene Kriterien notwendigerweise selektiv sind und daher möglicherweise zu viel, zu wenig oder an falscher Stelle stressen können. Der Sammelband schließt mit drei Beiträgen, die sich mit unterschiedlichen Schwerpunktlegungen mit »Zeit- und Selbstverhältnissen« von Stress auseinandersetzen. Insbesondere Technologien versprechen für viele Stress-Situationen eine Komplexitätsreduktion und Unterstützung für eine bessere Entscheidungsfindung. Dabei können diese jedoch auch über das Ziel hinausgehen und selbst wiederum zu einem Stressfaktor werden. Sie wirken damit auf die Zeitverhältnisse und Selbstwirksamkeitsempfindungen von Subjekten ein. Im Beitrag »Leibphänomenologie. Wenn ein Technologiewechsel zum Identitätsstress wird« von Julia Sellig wird anhand eines selbstregulierenden Technologiearrangements für Diabetiker*innen herausgearbeitet, dass neben, am oder im Körper getragene Technologie zum Bestandteil der körper-leiblichen Person werden kann. Ein Technologiewechsel provoziert dementsprechend eine Veränderung im Personsein der Nutzenden und führt zu Stress. Ingmar Mundt geht in seinem Beitrag »#fuckthealgorithm – Zukunft und Autonomie im Angesicht prädiktiver Algorithmen« dem Fall nach, dass zunehmend prädiktive Algorithmen eingesetzt werden, um immer komplexere Entscheidungen gegenüber einer ungewissen Zukunft zu treffen, welche die Subjekte 11
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aufgrund zu vieler Informationen selbst nicht mehr treffen wollen oder können. Der Einsatz von Technologien ist auf der einen Seite eine bewährte Strategie, um Entscheidungsstress zu reduzieren, dahinter verbirgt sich aber auch ein problematisches Verhältnis zwischen einem autonomen Subjekt und der prädiktiven Technologie. Dass Selbst- und Zeitverhältnisse eng miteinander verzahnt sind, zeigt schließlich der Beitrag »Zeitwohlstand. Erkenntnisse aus den pandemie-bedingten Einschränkungen als Chance für eine gesellschaftliche Entschleunigung« von Sonja Geiger und Stefanie Gerold. Die Autorinnen gehen damit der Frage nach, wie sich die Zeitnutzung in Deutschland durch die Corona-Pandemie verändert hat. Aus der Perspektive der Interdisziplinären Nachhaltigkeitswissenschaften stellt der Beitrag der Beobachtung eines Gefühls der ständigen Zeitnot das Konzept des Zeitwohlstands gegenüber und identifiziert dabei solche Faktoren und Praktiken, die diesen oftmals verringern, aber auch begünstigen und fördern können. Der Band eröffnet mit dem vorgelegten Spektrum an Beiträgen eine Perspektivenvielfalt und ein tiefergehendes Verständnis für die Entstehung und Wirkung von Stress in der modernen Gesellschaft mit ihren Systemverf lechtungen, Anpassungsstrategien und Rückkopplungen.
Literatur Ahne, Petra (2022): »Man kann sich nicht verfühlen«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, (07.03.2022). Beck, Ulrich/Giddens, Anthony/Lash, Scott (2007): Ref lexive Modernization. Politics, Tradition and Aesthetics in the Modern Social Order. Reprint. Cambridge: Polity Press. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. 1. Auf l. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1832).
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Einleitung Bude, Heinz (2014): Gesellschaft der Angst. Hamburg: Hamburger Edition. Ehrenberg, Alain (2015): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. 2., erweiterte Auf l. Frankfurt a. M., New York: Campus Verlag. Endreß, Martin (2015): Resilienz im Sozialen. Theoretische und empirische Analysen. Wiesbaden: Springer VS. Fuchs, Thomas/Iwer, Lukas/Micali, Stefano (Hg.) (2018): Das überforderte Subjekt. Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft). Henkel, Anna/Block, Katharina (2022): »Stress. Phänomenologische Perspektiven auf ein soziales Problem«. In: Sociologia Internationalis 58, 1-2. Henkel, Anna/Peters, Achim (2019): »Stress-Steigerungen. Erwartungsenttäuschungen zwischen sozialer Struktur und subjektiver Erwartung«. In: Anna Henkel/Isolde Karle/Gesa Lindemann/ Micha Werner (Hg.). Sorget nicht – Kritik der Sorge. Baden-Baden: Nomos, S. 117–154. Nachtwey, Oliver (2016): Die Abstiegsgesellschaft. Über das Auf begehren in der regressiven Moderne. Berlin: Suhrkamp. Neckel, Sighard (2014): Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft. 2. Auf l. Berlin: Suhrkamp. Pörksen, Bernhard (2018): Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. München: Carl Hanser Verlag. Reckwitz, Andreas (2019): Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin: Suhrkamp. Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Sasse, Ulrike (2019): »Sorge(n) um die Zukunft. Eine soziologische Betrachtung der Zukunftsbewältigung von Risiken und Neogefahren in der Spätmoderne«. In: Anna Henkel/Isolde Karle/ Gesa Lindemann/Micha Werner (Hg.). Sorget nicht – Kritik der Sorge. Baden-Baden: Nomos.
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Situationsanalyse: Sozialer Stress Das Problem des double-binds in doppelt gerahmten Situationen Anna Henkel ›Stress‹ ist ein viel und vielfältig gebrauchter Begriff, der sich meist auf das Individuum bezieht. Auch die diskutierten Lösungsmöglichkeiten für Stress setzen typischerweise beim Individuum an. So wird unter dem Stichwort Resilienz erforscht, was jene auszeichnet, die gerade nicht in Stress geraten – und den weniger Glücklichen sollen Veränderungen in ihrer individuellen Lebensführung helfen, Stress zu ›managen‹ durch Bewegung, gesunde Ernährung, Meditation, Entspannung in der Natur, ausreichend Schlaf, soziale Kontaktpf lege, Prioritätenlisten usw. Dieser Beitrag schlägt einen gewissen Blickwechsel vor. Zwar manifestiert sich Stress in typischen, am Individuum feststellbaren Symptomen. Die Ursachen für Stress liegen jedoch vielfach in bestimmten sozialen Situationen, nämlich solchen, die zwei nicht miteinander in Einklang zu bringende Erwartungen an die Selbstdarstellung des sozialen Akteurs richten. Eine derart doppelt gerahmte Situation verursacht Stress. Dieser kann dann als toxisch bezeichnet werden, wenn es dauerhaft nicht gelingt, die doppelte Rahmung aufzulösen, und wenn es dem betroffenen sozialen Akteur auch nicht möglich ist, eine solche Konstellation zu verlassen. In dem im Folgenden zunächst dargestellten Fall erzeugt eine soziale Situation von ihrer Struktur her Stress – für die beteiligten sozialen Akteure und für die Situation selbst. Der anschließend vorgestellte Ansatz der Situationsanalyse nach Erving Goffman ist eine gekürzte Fassung des zweiten Kapi15
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tels meines Aufsatzes »Toxischer Gesellschaftsstress. Erwartungsmodelle und irritierte Irritationsfähigkeit«, der 2022 im Sonderheft »Stress. Phänomenologische Perspektiven auf ein soziales Problem« in der Zeitschrift Sociologica Internationales erscheint (Henkel 2022 [im Erscheinen]). Mittels dieser theoretischen Perspektive erfolgt sodann die Interpretation des eingeführten Falles. Deutlich wird, wie toxischer Stress in doppelt gerahmten Situationen entstehen kann. Das Fazit diskutiert die Frage, unter welchen Bedingungen Gesellschaft die Entstehung von strukturell Stress erzeugenden toxischen double-bind Situationen begünstigt und dadurch selbst in Stress geraten kann.
(1) Der Fall: Eigenständig verantwortlich? Stress ist so allgegenwärtig, dass es wohl jedem leichtfiele, eine oder mehrere als stressbehaf tet erlebte Situationen zu beschreiben. Diese alle lassen sich, so die These dieses Beitrags, grundsätzlich mit dem nachfolgend dargestellten Ansatz der Situationsanalyse verstehen und erklären, und zwar als Situationen mit einer doppelten Rahmung, einem double-bind, die je nach Gesamtkonstellation einen toxischen Charakter haben. Wie eine solche Situationsanalyse konkret aussehen kann, soll exemplarisch verdeutlicht werden an einem Fall, der in einem Buch zur »seelischen Gewalt im Alltag« beschrieben ist: »Myriam ist Designerin bei einem bestens eingeführten Werbeunternehmen. Grundsätzlich ist sie allein verantwortlich für ihre Kreationen, aber alles wird koordiniert von einem Direktor, der unmittelbaren Zugang hat zum Generaldirektor. Verantwortlich für ihre Arbeit, setzt sie sich mit aller Kraft ein, arbeitet sogar am Wochenende und auch Nächte hindurch, die ihr nicht bezahlt werden. Doch sobald sie ihre Selbständigkeit allzu offen zeigt und sich Gedanken macht über das, was aus ihren Entwürfen wird, weist man sie zurecht. 16
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Wenn sie einen Entwurf abliefert, ›überarbeitet‹ der Direktor, der kein Designer ist, was sie gemacht hat, ändert es nach Gutdünken ab, ohne sie zu informieren. Wenn sie Erklärungen verlangt, antwortet er ungeniert und mit breitem Lächeln: ›Aber hören Sie mal, Myriam, das ist doch ohne Bedeutung!‹ Myriam kocht innerlich vor Zorn, kann sich aber nur selten Luft machen: ›Drei Tage habe ich an diesem Entwurf gearbeitet, und er radiert in ein paar Sekunden alles aus, ohne sich die Mühe zu machen, mir Erklärungen dafür zu geben. Ich soll mich wohl noch darüber freuen, für jemanden arbeiten zu dürfen, der meine Arbeit ohnehin nicht gelten lässt!‹ Nichts wird ausdiskutiert, alles bleibt unausgesprochen. Bei diesem Direktor kann kein Angestellter sagen, was er denkt, alle haben Angst von seiner Unberechenbarkeit. Die einzige Lösung ist, dauernd geschickt auszuweichen. Misstrauen macht sich breit. Jeder fragt sich, worauf er hinauswill. Über Humor oder Spott erreicht er, dass jeder seinen Erwartungen entspricht. Sobald er auftaucht, sind alle sogleich angespannt, fühlen sich ertappt. Um Ärger zu vermeiden, hat der größte Teil der Angestellten den Entschluss gefasst, Selbstzensur zu üben.« (Hirigoyen 2002: S. 94)
(2) Situationsanalyse als theoretische Perspektive Zur Untersuchung einer Alltagssituation dient das von Goffman entwickelte Konzept der Situations- bzw. Rahmenanalyse. Ausgangspunkt ist die Vorstellung des Sozialen als Bühne, auf der der Einzelne jeweils eine Rolle darstellt. Für die überzeugende Darstellung der jeweiligen Rolle ist entscheidend, die mit dieser Rolle verbundenen Erwartungen zu erfüllen – und zwar sowohl hinsichtlich der Fassade, also etwa der Kleidung oder anderer Requisiten, als auch hinsichtlich der dramatischen Gestaltung, also der Art des Ausfüllens der Rolle. Damit eine solche Rolleninszenierung gelingt, bedarf es nicht nur einer gelungenen 17
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Leistung des darstellenden Akteurs inklusive Ausdruckskontrolle und Anwendung von Mechanismen der Idealisierung und Mystifikation. Mitspielen müssen genauso die anderen Darsteller: die Ensemblemitglieder, die gemeinsam mit dem Darsteller eine bestimmte Inszenierung darbieten, und das Publikum, das taktvoll über Inszenierungsfehler hinwegsieht und insgesamt die gebotene Darstellung mitträgt (Goffman [1959] 2000). Indem die Konzeption des eigenen Selbst ein wichtiger Bestandteil der jeweiligen Darstellung ist und der Darsteller sich zugleich in seiner Rolle als Repräsentant einer Gruppe fühlt, sind Störungen der Darstellung nicht nur für den Einzelnen direkt persönlich peinlich oder demütigend, sondern ebenso störend bezüglich seiner langfristigen Darstellung als integrer Persönlichkeit und bezogen auf den Ruf der repräsentierten Gruppe (ebd.: S. 221 ff.). Goffman sieht als Schlüsselfaktor der Struktur sozialer Interaktion »die Erhaltung einer einzigen Bestimmung der Situation, und diese Definition muss ausgedrückt, und dieser Ausdruck muss auch im Angesicht zahlreicher potentieller Störungen durchgehalten werden« (ebd.: S. 233). Diese Anforderung der Erhaltung einer einzigen Bestimmung der Situation birgt für die beteiligten Darsteller immer Herausforderungen, gilt es doch, zum Gelingen gemeinsamer Situationsbestimmungen beizutragen und dafür Fehler taktvoll zu übergehen, eine Demonstration verletzter Gefühle zu unterdrücken oder gerade umgekehrt zur Rettung von Ehre und gutem Ruf eine Interaktion zu zerstören. Immer dann, wenn mehrere mögliche Bestimmungen einer Situation konkurrieren, eine Situation also gleichzeitig mehrfach gerahmt ist bzw. mehrere widersprüchliche Erwartungsstrukturen gleichzeitig bestehen, sind die beteiligten Darsteller bestrebt, diese mehrfache Rahmung aufzulösen und die Situation zu vereindeutigen. Konf ligierende Erwartungsstrukturen bzw. mehrfache Rahmungen sozialer Situationen sind nicht an sich problema18
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tisch – im Gegenteil können sie Ausgangspunkt individuellen und sozialen Lernens sein. Humor und Takt sind institutionalisierte Formen doppelter Rahmungen, die gerade dadurch geeignet sind, Darstellungsfehler oder sonstige Störungen von Interaktionen zu überwinden und zu einer gelungenen – d. h.: eindeutigen – gemeinsamen Darstellung zurückzukehren. Eine solche Vereindeutigung ist möglich einmal, indem trotz Erwartungsenttäuschung normativ an der Erwartung eindeutig festgehalten und die Enttäuschung entschuldigt (es war nur ein Scherz) bzw. der Gültigkeitsbereich der Erwartung spezifiziert wird (in der Schule gelten andere Regeln als zu Hause). Eine andere Möglichkeit der Vereindeutigung ist, kognitiv die Erwartung anzupassen und also aus der Erwartungsenttäuschung zu lernen (auf mündliche Zusagen kann man sich nicht verlassen). Mehrfache Rahmungen von Situationen sind nur dann problematisch, wenn eine Synchronizität normativen und kognitiven Erwartens zu einer Pseudo-Vereindeutigung führt, die eine Auf lösung der doppelten Rahmung verhindert. In einer solchen toxischen double-bind Situation wird die gültige Erwartung dadurch geschützt, dass Enttäuschungen dieser Erwartung (und damit Störungen der Darstellung im Rahmen dieser Situation) als Bestätigung der Erwartung (und damit Teil der aufrichtigen Darstellung) behandelt werden. Wenn dies nicht nur überbrückungsweise erfolgt, sondern dauerhaf t erwartet wird, entsteht eine neue Rahmung der Situation, nämlich die Erwartung, die Erwartungsenttäuschung als Erwartungsbestätigung zu behandeln. Die Erwartung wird also trotz Enttäuschung normativ weiter erwartet, indem kognitiv gelernt wird, dass Erwartungsenttäuschungen als Erwartungsbestätigungen darzustellen sind. Im toxischen double-bind wird dann zwar weiter gemeinsam eine Darstellung inszeniert – jedoch um den Preis, dass Enttäuschungen der die Situation rahmenden Erwartung als Bestätigung dieser Erwartung behandelt werden. Im Er19
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gebnis gelten damit dauerhaft zwei widersprüchliche Erwartungen gleichzeitig. In der dauerhaften Unauf lösbarkeit der Widersprüchlichkeit zeigt sich eine Parallele zum Konzept des toxischen Stresses in der medizinisch-psychologischen StressForschung: Dieser ist dort definiert als eine Konstellation, in der dauerhaft eine Erwartung nicht aufgegeben, aber auch nicht erreicht werden kann (Peters, McEwen und Friston 2017). Einmal entstanden, verändert ein toxischer double-bind den Gesamtcharakter der Situation. Erwartungsenttäuschungen der normativen Erwartung als deren Bestätigung zu behandeln bringt mit sich, die normative Erwartung faktisch aufzugeben (also in einen kognitiven Erwartungsmodus zu wechseln). Die Erwartungsenttäuschung der normativen Erwartung als das, was sie ist, nämlich als Erwartungsenttäuschung zu behandeln (und also am normativen Erwartungsmodus festzuhalten) bringt mit sich, die Gesamtdarstellung zu stören und selbst als derjenige dazustehen, der die Erwartungen enttäuscht. Wenn der Hinweis auf eine Erwartungsenttäuschung als taktvoll zu ignorierende Störung der gemeinsamen Darstellung von Erwartungsenttäuschungen als Erwartungsbestätigungen behandelt wird, ist eine Enttäuschung der normativen Erwartung nicht mehr kommunizierbar, ohne zugleich die Erwartung der Behandlung von Enttäuschung als Bestätigung zu enttäuschen. Im Ergebnis lässt sich die Interaktion im toxischen double-bind durch Erwartungsenttäuschungen nicht mehr irritieren, worin eine Beschädigung ihrer Irritationsfähigkeit liegt; zugleich besteht für keinen der an der Interaktion Beteiligten mehr die Möglichkeit, ›richtig‹ zu handeln.
(3) Toxischer double-bind und Stress der Situation Mithilfe von Goffmans Situationsanalyse lässt sich der oben ausgeführte Fall untersuchen. Die erste Frage der Situationsanalyse ist immer, welche Darstellung in der Situation insze20
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niert wird. Auf den ersten Blick scheint diese Frage mit dem Stichwort Sachkompetenz beantwortbar: Die Situation ist klar gerahmt als ein professioneller Kontext. Bühne der Darstellung ist ein »bestens eingeführtes Werbeunternehmen«, ein Rahmen also, der Kompetenz und Professionalität erwarten lässt. Sachkompetenz wird auch von den Mitarbeitern verlangt, insbesondere durch die Attribution von Verantwortung der fachlich ausgebildeten Mitarbeiter für ihre Leistungen. Die Darstellerin der Situation, Myriam, entspricht diesen Erwartungen. Sie ist ausgebildete Designerin und setzt sich »mit aller Kraft« für ihre Arbeit ein, wobei sie unbezahlte Arbeit nachts und am Wochenende in Kauf nimmt. Sie stellt damit die Rolle der sachkompetenten Mitarbeiterin dar, die eigenständig Verantwortung für ihre Leistung übernimmt – wie dies der Rahmung der Situation auch entspricht. Dennoch ist diese Darstellung nicht erfolgreich. Zu einer insgesamt erfolgreichen Inszenierung von Sachkompetenz würde gehören, dass Myriams Entwürfe entweder unverändert bleiben und ihr dafür von Kollegen und Vorgesetzten Anerkennung kommuniziert wird – oder aber, dass sachliche Kritik an ihren Entwürfen geübt wird, die dann zu nach Sachgesichtspunkten nachvollziehbaren Änderungen führen. Myriams Vorgesetzter, der Direktor, würde in einer solchen Situation ein Ensemble mit Myriam bilden, in dem sie gemeinsam vor dem Publikum, insbesondere vor den anderen Mitarbeitern, potentiell aber auch dem Generaldirektor und den Kunden, die Darstellung des sachkompetenten Werbeunternehmens mit sachkompetent-eigenverantwortlichen Mitarbeitern inszenieren. Offiziell erfolgt diese Inszenierung auch. Praktisch kollidiert sie jedoch mit einer zweiten Rahmung der Situation, die man auf den Begriff der Unterwerfung bringen kann. Der Rahmen dieser Darstellung ist ein Hierarchieverhältnis, das eine Unterordnung der Mitarbeiter unter den Direktor strukturell 21
Anna Henkel
verlangt. Das ist an sich unproblematisch. Hierarchieverhältnisse sind zunächst neutral. Wenn Anweisungen sachlich begründet werden, ist die Unterordnung in einem Hierarchieverhältnis mit der Darstellung von Sachkompetenz kompatibel, ja bietet gar geeignete Möglichkeiten gemeinsamer Inszenierung professionellen Lernens. Im hier vorliegenden Fall wird von Myriam jedoch nicht die Unterordnung in einer an Sachkompetenz orientierten Hierarchie erwartet, sondern die Unterwerfung unter eine willkürliche Ausübung hierarchischer Macht. Änderungen werden »nach Gutdünken« vorgenommen, also nicht sachlich begründet. Über Änderungen wird nicht informiert. Die Erwartung, dass Willkür hinzunehmen ist, drückt sich aus in der kommunizierten Darstellung, dass Änderungen nach Gutdünken und ohne Information »doch ohne Bedeutung« sind. Die Erwartung der Unterwerfung manifestiert sich schließlich in der Verweigerung von Kommunikation – »nichts wird ausdiskutiert, alles bleibt unausgesprochen«. Im dargestellten Fall handelt es sich also um eine mit Sachkompetenz und Unterwerfung doppelt gerahmte Situation. Die Darstellerin Myriam ist bestrebt, diese doppelte Rahmung aufzulösen und die Situation zu vereindeutigen – sie verlangt Erklärungen. Indem solche Erklärungen verweigert werden, ist eine Auf lösung der Situation in Richtung der Rahmung Sachorientierung nicht möglich. Allerdings ist es auch nicht möglich, die Situation in Richtung Unterwerfung zu vereindeutigen. Zwar »hat der größte Teil der Angestellten den Entschluss gefasst, Selbstzensur zu üben«, die Orientierung an Sachkompetenz also der Orientierung an Unterwerfung nachzuordnen. Jedoch bleibt die Bühne der Situation weiterhin ein »bestens eingeführtes Werbeunternehmen«, so dass mindestens gegenüber Kunden und Generaldirektor Sachkompetenz weiter dargestellt werden muss. Da die beiden Rahmungen nicht kompatibel sind und eine erfolgreiche Darstellung weder des sachkompetenten 22
Situationsanalyse
noch des sich unterwerfenden Mitarbeiters möglich ist, »sind alle sogleich angespannt, fühlen sich ertappt«, versuchen »dauernd geschickt auszuweichen« und »Misstrauen macht sich breit«. Humor und Spott, beides kommunikative Mittel, die nur durch die Doppelorientierung an zwei Rahmungen überhaupt funktionieren, werden nicht eingesetzt, um eine doppelte Rahmung zu vereindeutigen, sondern im Gegenteil, um Druck aufzubauen, damit »jeder seinen Erwartungen entspricht«. Diese Erwartungen aber, denen die Mitarbeiter zu entsprechen haben, sind weder die Erwartung der Darstellung von Sachkompetenz noch die Erwartung der Darstellung von Unterwerfung – sondern die Darstellung von Unterwerfung als Sachkompetenz, also konkret die Darstellung von Selbstzensur, willkürlichen Änderungen und Verweigern von Sachargumenten als sachliche Kompetenz und Professionalität. Im diskutierten Fall liegt genau jene toxische double-bind Situation vor, bei der eine Struktur der Pseudo-Vereindeutigung die Auf lösung der doppelten Rahmung verhindert. Die gültige Erwartung der Darstellung von Sachkompetenz wird dadurch geschützt, dass Enttäuschungen dieser Erwartung (Unterwerfung durch willkürlich-unbegründetes Ändern von Entwürfen, Unterwerfung durch Selbstzensur) als Bestätigung der Erwartung (und damit Teil der gemeinsamen Darstellung von Sachkompetenz) behandelt werden. Auf diese Weise verändert sich der Gesamtcharakter der Situation. Indem die Situation verlangt, Enttäuschungen der Sachkompetenzerwartung als deren Bestätigung zu behandeln, wird die Sachkompetenzerwartung faktisch aufgegeben. Myriam und die anderen Mitarbeiter lernen, dass Sachkompetenz von ihnen nicht erwartet wird und sie auch von ihrem Vorgesetzten keine Sachkompetenz zu erwarten haben. Jedoch ist es nicht möglich, dies so zu benennen und entsprechend darzustellen. Denn indem in der Situation erwartet wird, dass Erwartungsenttäuschungen (Willkür, 23
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Kommunikationsverweigerung, Selbstzensur) als Erwartungserfüllung (Sachkompetenz) dargestellt werden, wäre derjenige, der Willkür, Kommunikationsverweigerung und Selbstzensur als solche benennt und sich vielleicht gar unter Umgehung der Hierarchie bei Generaldirektor oder Kunden darüber beschwert, dann derjenige, der die Erwartung (der Darstellung von Erwartungsenttäuschungen als Erwartungserfüllung) enttäuscht. Es würde dies bestenfalls als taktvolle, mit Humor oder Spott zu ignorierende Störung der gemeinsamen Darstellung behandelt werden. Damit besteht für die beteiligten Darsteller keine Möglichkeit mehr, ›richtig‹ zu handeln. Diese toxische double-bind Situation erzeugt Stress bei den beteiligten Darstellern – »Myriam kocht innerlich vor Zorn«, »alle haben Angst«. Dies ist aber in gewisser Weise ein nachgelagerter Effekt. Denn für die an einer solchen Situation beteiligten Individuen liegt die Ursache für den Stress nicht etwa an individuellen Dispositionen oder fehlenden StreSSMangement-Kompetenzen. Sie liegt vielmehr in der Beschädigung der Irritationsfähigkeit der Situation. Da Erwartungsenttäuschungen in der pseudo-vereindeutigten Situation nicht mehr kommunizierbar sind, kann die Situation nicht vereindeutigt werden. Stattdessen bietet die Unsicherheit darüber, was als Erwartungsenttäuschung und was als Erwartungsbestätigung gilt – »Misstrauen macht sich breit«, »Keiner weiß, was er will« –, Spielraum für auch weitergehende Erwartungsenttäuschungen. Das einem Of fenlegen der Erwartungsenttäuschung innewohnende Bedrohungspotential sowie der Druck, zu Selbst- und Situationsschutz die Erwartungsenttäuschung als Erwartungserfüllung zu behandeln, wachsen damit sukzessive (zu Stress-Steigerungen in der Interaktion vgl. auch Henkel und Peters 2019). Veränderungen in der individuellen Lebensführung (Bewegung, gesunde Ernährung usw.) mögen dem Individuum helfen, in solchen Situationen länger zu funktionieren. Da die Situa24
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tion aber keine für das Beheben der Stressursache erforderliche Vereindeutigung zulässt, kann das Ergebnis auch eines professionellen StreSSManagement-Coachings bestenfalls ein Verlassen der toxisch-stressbehafteten Situation sein – indem das Individuum angesichts der unabänderlichen Ausweglosigkeit kündigt und sich damit, vermutlich beschädigt, entzieht. An der Situation ändert dies freilich nichts, da die Stelle mit einer anderen Person besetzt wird, die dann wiederum an der Unmöglichkeit einer aufrichtigen Darstellung von Sachkompetenz scheitert – oder aber selbst eine Sachkompetenz nur vorgibt und von der Uneindeutigkeit der Situation zum Verbergen der eigenen Inkompetenz profitiert. Für an Sachkompetenz eigentlich orientierte Darsteller wie Myriam wird es dadurch natürlich nicht leichter. Die Situation selbst könnte nur von außen aus ihrer Pseudo-Vereindeutigung gelöst werden – wenn etwa Kunden wegen im Ergebnis unzureichender Leistung in der Sache ausbleiben und sich ein Generaldirektor zum Einschreiten gezwungen sieht; oder wenn es, warum auch immer, zu einer Veränderung der Organisationsstruktur kommt; oder wenn sich die Situation zu derart krassen Übergriffigkeiten steigert, dass diese schließlich einen öffentlichen Skandal oder rechtliche Konsequenzen auslösen. All dies ist aber, nüchtern betrachtet, eher unwahrscheinlich.
(4) Fazit: Stress der Situation – Gesellschaft im Stress? Abschließend lässt sich fragen, unter welchen Bedingungen Gesellschaft die Entstehung von strukturell Stress erzeugenden toxischen double-bind Situationen begünstigt und dadurch selbst in Stress geraten kann. Sind toxische double-bind Situationen bereits zugleich Ausdruck einer toxischen Gesellschaft? So einfach ist es nicht. Der toxische double-bind in der Situation ist zunächst auf diese Situation beschränkt. Vielleicht ist 25
Anna Henkel
sie Ausdruck einer problematischen Führungsstruktur eines Unternehmens oder schlicht Ergebnis einer personellen Fehlbesetzung. Das Problem bleibt aber situativ, solange erstens die beteiligten Akteure die Möglichkeit haben, die Situation, hier also das Unternehmen, zu verlassen, und zweitens es in solchen Situationen um nicht mehr geht als hier um Kreationen eines Werbeunternehmens, das mit anderen Werbeunternehmen konkurriert. Solange diese Bedingungen gegeben sind, verbleiben über kurz oder lang keine sachkompetenten Mitarbeiter mehr im Unternehmen, das angesichts besser aufgestellter Konkurrenz vom Markt verschwinden wird. Problematisch, und zwar gesellschaftlich problematisch, kann es jedoch werden, wenn diese beiden Bedingungen nicht erfüllt sind. Das Unternehmen zu verlassen, ist nur möglich, solange alternative Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen und eine soziale Grundsicherung erlaubt, Grundbedürfnisse auch über eine notfalls längere Phase der Arbeitssuche zu befriedigen. Je schlechter Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt, je höher die Kosten zur Befriedigung von Grundbedürfnissen und je geringer eine soziale Sicherung, desto größer ist für das Individuum der Druck, sich einer toxischen double-bind Situation unter Inkaufnahme der stressbedingten Beschädigung der eigenen Gesundheit auszusetzen. Gesellschaft ist dann zwar nicht selbst toxisch, bietet aber auch keinen Schutz vor toxischen double-bind Situationen. Endgültig heikel wird es, wenn auch die zweite Bedingung nicht erfüllt ist. Toxische double-bind Situationen sind geeignet, die Darstellung von Erwartungsenttäuschungen als Erwartungsbestätigung, von Falschem als Wahres und von Wahrem als Falsches zu erzwingen. Wenn dies nicht nur in gesellschaftlich relativ peripheren Bereichen (wie hier exemplarisch der Werbebranche) erfolgt, sondern Gerichte, Zentralbanken, öffentliche Verwaltung, Schulen, Universitäten, öffentliche Rundfunkan26
Situationsanalyse
stalten – generell: Einrichtungen von gesellschaftlich wesentlichem Belang – betrifft, hat die in der Situation erzeugte Zweideutigkeit über die Situation hinausgehende gesellschaftliche Bedeutung. Wenn es strukturell möglich ist, dass in den genannten Bereichen Beteiligte in ihrer Darstellung von Sachkompetenz gezwungen sind, die Darstellung von Erwartungsenttäuschungen als Erwartungsbestätigungen hinzunehmen, erzeugt dies Stress nicht nur für sie und für die Situation, sondern auch für die Gesellschaft. Denn ob das, was als Recht, als zinspolitische Entscheidung, als hoheitlicher Verwaltungsakt, als Bewertung einer schulischen oder wissenschaftlichen Leistung oder als Information mit Tatsachengehalt dargestellt wird, dieser Erwartung tatsächlich entspricht, ist dann nicht gewährleistet. Eine funktional differenzierte Gesellschaft und ein als rechtsstaatliche Demokratie verfasster Staat gehen unter solchen Bedingungen sukzessive ihrer eigenen Bestehungsbedingungen verlustig.
Zum Weiterlesen Goffman, Erving (1967): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Henkel, Anna (2022 [im Erscheinen]): »System und Leib. Leib-Körperhaftigkeit als notwendige Dimension der Analyse sozialer Krisen«. In: Aida Bosch/Joachim Fischer/Robert Gugutzer (Hg.). Körper – Leib – Sozialität. Philosophische Anthroplogie und Leibphänomenologie. Helmuth Plessner und Hermann Schmitz im Dialog. Peters, Achim/Junge, Sebastian (2018): Unsicherheit. Das Gefühl unserer Zeit. Und was uns gegen Stress und gezielte Verunsicherung hilft. München: Bertelsmann.
Literatur Goffman, Erving ([1959] 2000): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München: Piper.
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Anna Henkel Henkel, Anna (2022 [im Erscheinen]): »Toxischer Gesellschaftsstress. Erwartungsmodelle und irritierte Irritationsfähigkeit«. In: Sociologica Internationales Sonderheft »Stress. Phänomenologische Perspektiven auf ein soziales Problem«. Henkel, Anna/Peters, Achim (2019): »Stress-Steigerungen. Erwartungsenttäuschungen zwischen Sozialer Struktur und subjektiver Erwartung«. In: Anna Henkel/Isolde Karle/Gesa Lindemann/Micha Werner (Hg.). Sorget nicht – Kritik der Sorge. Baden-Baden: Nomos, S. 117–150. Hirigoyen, Marie-France (2002): Die Masken der Niedertracht. Seelische Gewalt im Alltag und wie man sich dagegen wehren kann. München: dtv. Peters, Achim/Mcewen, Bruce/Friston, Karl (2017): »Uncertainty and Stress. Why It Causes Diseases and How It Is Mastered by the Brain«. In: Progess in Neurobiology 156, S. 164–188.
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Pragmatismus: Stressbare Subjekte Frithjof Nungesser
Problemstellung: Viel Stress, wenig Stressbarkeit ›Stress‹, so zeigt auch dieser Band, ist ein vielgestaltiger Begriff, der sich f lexibel auf unterschiedliche Phänomene und Analyseebenen anwenden lässt. Ab den 1930er Jahren avancierte der zuvor materialwissenschaftliche Begriff des Stresses zu einem physiologischen und psychologischen Kernkonzept, dem von Beginn an eine markante Unschärfe anhaftete (Selye 1991; Bienertova-Vasku, Lenart und Scheringer 2020). Womöglich war es gerade diese Unschärfe, die den Stress zu einem »ubiquitären Konzept« (Haller, Höhler und Stoff 2014: S. 362) werden ließ, das nicht nur auf physikalische, physiologische und psychologische, sondern auch auf institutionelle, organisationale, gesamtgesellschaftliche oder ökologische Größen übertragen wurde (Jackson 2013; Haller, Höhler und Stoff 2014). Eingang fand der Stressbegriff zudem in die alltägliche Sprach- und Deutungspraxis und wurde so ab den 1970er Jahren »auch im deutschsprachigen Raum zu einer maßgeblichen Kategorie der Selbstwahrnehmung und Selbstdiagnose« (Haller, Höhler und Stoff 2014: S. 362). In Anbetracht dieser Konjunktur überrascht es nicht, dass das Stresskonzept auch in der Soziologie in unterschiedlicher Weise in den Blick genommen wird. Diskursanalytische Perspektiven betrachten hierbei primär, wie über Stress gesprochen wird, in welchen gesellschaftlichen Bereichen er auftaucht und mit welchen anderen Diskurs-Phänomenen – wie etwa der ›Burn-out‹-Semantik – er verknüpft ist (Bröckling 2017: S. 260 ff.; Hirschfeld 2019). Teils eng hiermit verklammert sind gesellschaf tstheoretische Zugänge, die sich darauf konzentrieren, warum Stress vermehrt wahrgenommen und thematisiert wird. Im Zentrum steht dann vor allem die Suche nach 29
Frithjof Nungesser
den gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozessen, die dafür sorgen, dass Erfahrungen von »Stress, Hektik und Zeitnot« in »allen westlichen Industriestaaten seit dem Beginn entsprechender Erhebungen in den 1960er Jahren nahezu kontinuierlich dominanter geworden« (Rosa 2016: S. 11, 214; siehe auch Ehrenberg 2004; Henkel und Peters 2019) sind. Weniger ausgreifend, aber phänomennäher sind im Vergleich bereichsfokussierte Studien, die untersuchen, wo Stress empfunden, thematisiert und bearbeitet wird. Ganz konkret geht es etwa um Stressdynamiken durch Technologiewechsel (Sellig in diesem Band), allgemeiner bspw. um stressinduzierende Mechanismen in Organisationen (Vollmer 2014). Während die Soziologie also zunehmend darüber nachdenkt, wie, warum und wo in der Gesellschaft Stress erfahren, diskutiert und problematisiert wird, hat sie in anderer Hinsicht wenig über Stress zu sagen. Kaum eine Rolle spielt Stress innerhalb der grundlegenden sozialtheoretischen Begriffsrahmen, in denen sich die Soziologie vorwiegend bewegt. Anna Henkel und Achim Peters führen diese Ausblendung darauf zurück, dass »für die Mehrzahl sozialtheoretischer Ansätze [gilt], dass sich die mit dem Sozialen korrespondierenden Personen, Akteure oder Individuen von der konzeptionellen Grundanlage her in einem kühl-distanzierten Weltverhältnis befinden, das ein rational abwägendes Erwarten und Umgehen mit Erwartungsenttäuschungen impliziert.« (Henkel und Peters 2019: S. 142 f.) Eine komplexe Problematik zuspitzend ließe sich sagen, dass die Soziologie zwar über Stress als Diskursphänomen und Folge gesellschaftlicher Transformationen und Strukturen gut sprechen, aber stressbare Subjekte grundbegriff lich meist schlecht denken kann. Verbunden sein dürfte dieser Umstand mit weitverbreiteten Verengungen der Sozial- und Handlungstheorie, 30
Pragmatismus
der Hans Joas etwa eine »Schlagseite zu einem aktivistischen Verhältnis zur Welt« (Joas [1992] 2002: S. 246) attestiert und der Fritz Schütze die Ausblendung des »Erleidens- und Chaos-Aspekt[s] der sozialen Realität« (Schütze 2016: S. 125) vorhält (vgl. auch Junge, Šuber und Gerber 2008; Nungesser 2019a). Vor diesem Hintergrund treten die folgenden Ausführungen einen Schritt zurück. Sie fragen nicht nach gesellschaftlichen Stressdiskursen und -dynamiken, sondern danach, ob und wie sozialtheoretische und psychologische Überlegungen verknüpft werden können, um die grundsätzliche Stressbarkeit von Subjekten konzeptuell zu erfassen. Im Zentrum steht der Stress hierbei als Aspekt des gewöhnlichen Handlungsvollzugs, der problematisch, überfordernd und verletzend sein kann, aber nicht muss. Die theoretische Perspektive, welche im Folgenden mit der psychologischen Stressforschung verbunden wird, ist der Pragmatismus und die an ihn anschließende interaktionistische Tradition in der Soziologie. Warum gerade der Pragmatismus geeignet ist, die menschliche Stressbarkeit in den Blick zu nehmen, wird im nächsten Abschnitt knapp skizziert. Im Hauptabschnitt werden dann die pragmatistischinteraktionistische Theorie und die Stressforschung verknüpft, um sich in drei Schritten einem besseren Verständnis stressbarer Subjekte anzunähern. Zum Abschluss werden die wechselseitigen Anregungspotentiale von psychologischer Stressforschung und Soziologie ausblickhaft zusammengefasst.
Der Pragmatismus als stresssensible Perspektive Den Pragmatismus in einen Dialog mit der Stressforschung zu verwickeln, um zu einem Verständnis stressbarer Subjekte zu gelangen, bietet sich aus mehreren Gründen an. Inhaltlich erscheint dies naheliegend, da aus pragmatistischer Sicht das Verhalten aller Lebewesen als konstitutiv relational verstanden werden muss – als Wechselwirkung zwischen Organismen und 31
Frithjof Nungesser
ihrer Umwelt (Nungesser 2021a: S. 196 ff.). Zentrales Ziel der Organismen ist es, ein stabiles Verhältnis zu ihrer Umwelt aufrechtzuerhalten. Tritt ein Problem oder eine Spannung auf, so zielen Lebewesen auf die Wiederherstellung der Stabilität. Der Lebensvollzug kann John Dewey zufolge »als ein fortgesetzter Rhythmus von Verlust und Wiederherstellung des Gleichgewichts betrachtet werden.« (Dewey [1938] 2002: S. 42) Handlungsprozesse werden daher aus pragmatistischer Perspektive weder als Exekution zuvor erdachter Handlungspläne noch als Resultate sozialer Zwänge und Prägungen gedeutet. Ins Zentrum rückt vielmehr das stete Ineinandergreifen von aktiven Phasen, in denen das Individuum die Welt deutet und in sie hineinwirkt, und passiven Phasen, in denen die Dynamiken der Umwelt auf das Individuum einwirken. Da dieser Prozess des »action-undergoing« (Dewey [1925/29] 1958: S. 23) zudem als ein konstitutiv verkörperter und affektiv grundierter gedacht wird (z. B. Johnson 2006; Pettenkofer 2012), befindet sich der Pragmatismus in einer guten Ausgangsposition, Stressdynamiken in einen handlungstheoretischen Rahmen integrieren zu können. Auch wissenschaftsgeschichtlich erscheint ein Dialog zwischen pragmatistischer Sozialtheorie und psychologischer Stressforschung potentiell vielversprechend. Nicht nur nahm der Pragmatismus ursprünglich im engen Austausch mit Biologie und Psychologie Kontur an (Nungesser 2021a: S. 79 ff.). Darüber hinaus wurde das pragmatistische Denken im weiteren Verlauf auch ganz konkret durch die auf kommende Stresssemantik beeinf lusst. Mark Jackson (2013: S. 69, 88, 183) verweist in »The Age of Stress« darauf, dass Dewey in den 1930er Jahren wie viele andere angesichts des zeitgenössischen Gefühls allgemeiner Instabilität auf Konzepte physiologischen und sozialen Gleichgewichts aufmerksam wurde. Wie noch zu sehen sein wird, ist entsprechend auch eine vermehrte Nutzung des Terminus ›Stress‹ in Deweys Schriften zu erkennen. 32
Pragmatismus
Stress als Interaktionsspannung, Interpretationsprozess und Verletzungsrisiko Die skizzierte Ausrichtung ermöglicht es dem Pragmatismus, in einen produktiven Austausch mit der psychologischen Stressforschung zu treten. Hierbei wird Stress 1) als ein Ergebnis unterschiedlicher Spannungen zwischen Individuen und ihrer Umwelt erkennbar. Diese Spannungen wiederum bedürfen 2) der Deutung, welche stets sozial grundiert ist. Mit der Deutung beginnt schließlich bereits 3) der Prozess der Bearbeitung und Bewältigung, der darauf abzielt, das Verletzungsrisiko von Stress zu reduzieren. Die drei genannten Aspekte werden nun vorgestellt und jeweils anhand von Beispielen erläutert. 1) Um die Stressbarkeit von Subjekten zu verstehen, ist aus pragmatistischer Warte zunächst die Einsicht zentral, dass das Gleichgewicht zwischen Individuum und Umwelt auf sehr unterschiedliche Weise gestört werden kann (Nungesser 2021a: 205 f.). Zu Spannungen in der Umweltinteraktion kommt es oftmals im Zuge von alltäglichen Ding- und Sozialinteraktionen, die anders ablaufen als erwartet. Spannungen können aber auch aus sehr viel einschneidenderen Ereignissen folgen. Der platte Fahrradreifen, der überraschende Lottogewinn oder die niederschmetternde Krankheitsdiagnose – gemeinsam ist diesen Vorkommnissen, dass sie Gewohnheitsbrüche mit sich bringen. Parallel zur beschriebenen Entwicklung des Wissenschaftsdiskurses nutzt vor allem Dewey in späteren Schriften für diese spannungsgeladenen Phasen wiederholt den Stressbegriff (z. B. Dewey 1958: S. 201, 283, 286, 298). Ungewohnte Vorkommnisse fordern unsere habituellen Muster heraus und zwingen zur Bewältigung der Situation. Bewähren sich die Bewältigungsversuche, so verstetigen sie sich und die Erfahrung sinkt unter die emotions- und/oder ref lexionsauf lösende Spannungsschwelle. Es etablieren sich neue oder modifizierte »habits« (James [1890] 1950: S. 104 ff.; Dewey [1922] 2002; Nungesser 2021a: S. 228 ff.) 33
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bzw. »Automatisierungen« (Lazarus und Folkman 1991), wie es in der Stressforschung genannt wird. Ein Beispiel, das in beiden Ansätzen vorkommt (z. B. Lazarus und Folkman 1991: S. 198; Strauss [1993] 2014: S. 115), ist das Erlernen des Autofahrens, das zunächst viele unbekannte Situationen und Reize mit sich bringt, für die wenig habituelle Bewältigungsmuster zur Verfügung stehen. Entsprechend wird der Lern- und der damit verbundene Prüfprozess von den allermeisten Menschen als ausgesprochen stressig erfahren. Erst nach und nach werden Hände, Füße und Sinne besser koordiniert, die entscheidenden Umweltelemente schneller erkannt und die Regeln sicherer beherrscht. Schlussendlich ist das Autofahren ein meist stark habitualisierter Vorgang, der nur in bestimmten Situationen wiederum stärkere Aufmerksamkeit und Stress mit sich bringt. 2) Wesentlich für ein Verständnis der Stressbarkeit von Subjekten ist zweitens die soziale Grundierung von Situationsdeutungen. Individuelles Verhalten beruht aus pragmatistischer Perspektive weder auf objektiven, der Handlungsumwelt innewohnenden Bedeutungen noch auf subjektiven, dem individuellen Verstand entspringenden Sinngehalten. Vielmehr lernt das Individuum durch die Einbindung in gemeinsame Aktivitäten, welche Aspekte der Umwelt relevant sind, was sie bedeuten und wie sie genutzt werden können (Dewey [1916] 2008: S. 25). In Interaktion werden also »soziale Objekte« konstituiert, die das Handeln anleiten. Sogar das eigene Selbst ist – wie insbesondere Mead zeigt – ein solches »soziales Objekt« (z. B. Mead [1912] 1980: S. 239). Es war vor allem Herbert Blumer ([1969] 1998), der die soziologische Tragweite dieser pragmatistischen Grundidee erkannte und sie in das Forschungsprogramm des »symbolischer Interaktionismus« übersetzte. Soziale Phänomene, so Blumer, lassen sich nicht allein durch den Blick auf soziale Strukturen 34
Pragmatismus
oder individuelle Dispositionen erklären. Die Dinge sprechen nicht für sich selbst, sondern gewinnen erst durch Interaktion und Interpretation eine Bedeutung und Relevanz. »The nature of an object – of any and every object – consists of the meaning that it has for the person for whom it is an object. […] An object may have a different meaning for different individuals.« (Blumer 1998: S. 11) Ein instruktives Beispiel für dieses Argument findet sich in Howard Beckers (1953) klassischer Marihuana-Studie. Wie Becker zeigt, erfahren die interviewten Personen den Drogenkonsum sehr unterschiedlich: als angsteinf lößend, irritierend, beruhigend oder euphorisierend. Verständlich werden diese Unterschiede ihm zufolge, wenn man berücksichtigt, wie, durch wen und in welchen sozialen Situationen die Personen an den Marihuana-Konsum herangeführt wurden. Die Annahme einer sozial grundierten Situationsdeutung ist auch für die Appraisal-Theorie zentral, welche die Grundlage eines großen Teils der psychologischen Stressforschung bildet. Diese Theorie geht zunächst von der Beobachtung aus, dass die psychischen Belastungen und emotionalen Reaktionen, die durch bestimmte Stressoren ausgelöst werden, individuell stark variieren (Thoits 2013: S. 361). Eine Stressreaktion folgt demnach nicht zwangsläufig auf einen bestimmten Umweltreiz, sondern ist Ergebnis einer spezifischen und sozial vermittelten »Einschätzung« des Stressors (daher der Name der Theorie) (Lazarus und Folkman 1984: S. 294 f.). Ganz ähnlich wie Blumer argumentiert diese Position: »According to appraisal theories, it is interpretations of events, rather than events themselves, that cause emotions.« (Roseman und Smith 2001: S. 6) Ein für die Entwicklung der Stressforschung wichtiges Beispiel für diese Position findet sich in frühen Studien von 35
Frithjof Nungesser
Richard Lazarus und anderen aus den 1960er Jahren, welche die Reaktionen von Personen untersuchen, denen ein kurzer dokumentarischer Stummfilm zu Beschneidungsritualen bei männlichen Aborigines (Subinzision) gezeigt wurde (v. a. Lazarus und Alfert 1964). Die Filmvorführung wurde hierbei auf drei Weisen variiert. Eine Gruppe sah nur den Stummfilm, einer anderen wurde vor und einer dritten Gruppe während des Films eine ethnologische Erläuterung des Rituals präsentiert. Sowohl die physiologischen Reaktionen als auch das subjektiv erlebte Stressniveau unterschieden sich deutlich bei den Gruppen. Am niedrigsten war es, wenn das Gesehene bereits vor der Filmvorführung kontextualisiert wurde. Experimentell wird hier also bestätigt, was Becker durch die Auswertung von Interviews zeigt: Die Sozialisation, das Vorwissen und die soziale Situation prägen die Wahrnehmung und Einschätzung von Umweltreizen. Teils können die Einschätzungen sogar vollkommen unterschiedlich sein. 3) Die psychologische Stressforschung untersucht seit Jahrzehnten intensiv individuelle Belastungen und damit verbundene Leidensprozesse und Verletzungsrisiken. Sie tut dies in sehr unterschiedlichen Kontexten und in allen Altersstufen (z. B. Folkman 2012). Darüber hinaus nimmt sie mittels des Begriffspaars ›Stress‹ und ›Coping‹ die Verknüpfungen zwischen Verletzungsdynamiken und Bewältigungshandeln in den Blick (z. B. Skinner et al. 2003). Trotz aller methodischer und begrifflicher Schwierigkeiten stellt die psychologische Forschung damit einen wichtigen Fundus an Forschungen bereit, um zu einem empirisch fundierteren Verständnis des Zusammenhangs von »Tun und Erleiden« (Dewey 1958: S. 23) zu gelangen. Stärker berücksichtigt werden sollte diese Forschung etwa in der Gewaltsoziologie (Nungesser 2021b). So belegt die Stressforschung die massiven Verletzungseffekte bestimmter psychologischer Straf- und Verhörtechniken, wie sie vor allem in Lagern und 36
Pragmatismus
Foltergefängnissen angewendet werden (z. B. Leach 2016). Teils wurden diese Techniken sogar unter Mitwirkung der Psychologie entwickelt (z. B. Mausfeld 2009). Wenngleich ein einheitlicher Begriffsrahmen noch fehlt (z. B. Skinner et al. 2003), ließen sich diese Konzepte nutzen, um Bewältigungs- und Widerstandshandlungen in Gewaltsituationen oder anderen Zwangskontexten systematisch zu analysieren (z. B. Dimsdale 1974), was bisher in der Soziologie selten geschehen ist (Goffman 1961; Nungesser 2019b: S. 392 f.; Därmann 2020). Im Anschluss an die Stressforschung könnten Reaktionen auf Zwang und Gewalt etwa danach differenziert werden, auf welche Weise sie mit Stressoren umgehen (emotional, veränderungsorientiert und/oder die Situation umdeutend), auf welche Stressoren sie sich beziehen (etwa Gefahren für das soziale Umfeld oder für die eigene Autonomie) und als wie gravierend diese Stressoren wahrgenommen werden (als bewältigbar, bedrohlich oder überwältigend) (Lazarus und Folkman 1984: S. 148 ff.; Skinner et al. 2003).
Ausblick: Wechselseitige Anregungspotentiale Die präsentierte Argumentation sollte – freilich skizzenhaft – die wechselseitigen Anregungspotentiale von psychologischer Stressforschung und (pragmatistisch-interaktionistischer) Soziologie verdeutlicht haben. Die Stressforschung kann die Soziologie weiterbringen, da sie den aktivistischen Bias und die weit verbreitete konzeptuelle Ausblendung von Stress, Leiden und Verletzbarkeit offenlegt. Zudem liefert die Stress- und Coping-Literatur experimentelle Befunde für wesentliche sozialtheoretische Kernannahmen, etwa zur Bedeutung von Deutungsprozessen für physiologische Reaktionen, Wahrnehmung und Emotionen. Umgekehrt kann auch die Soziologie die Stressforschung weiterbringen: einerseits indem sie jene soziokulturellen Deutungsmuster und Kontexte untersucht, die vor allem von der Appraisal-Theorie immer wieder erwähnt werden, mit 37
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experimentellen Forschungsmethoden aber schwer zu erfassen sind (Folkman 2012: S. 13; Iwasaki 2014: S. 1294); andererseits indem sie die sozialen Strukturen und organisationalen Mechanismen identifiziert, die Stresserfahrungen wesentlich begünstigen (Abbott 2001: S. 52; Vollmer 2014: S. 410).
Zum Weiterlesen Haller, Lea/Höhler, Sabine/Stoff, Heiko (2014): »Stress – Konjunkturen eines Konzepts«. In: Zeithistorische Forschungen 11, 3, S. 359–381. Lazarus, Richard S./Folkman, Susan (1984): Stress, Appraisal, and Coping. New York: Springer. Nungesser, Frithjof (2021): »Organisierter Stress. Verletzungsstrukturen und Verletzungserfahrungen im Gefangenenlager Guantánamo«. In: Sociologia Internationalis 2.
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Physiologie: Stress und Gesundheit Judith Gutberlet Es ist ja eigentlich bekannt, dass Körper, Geist und Seele zusammenhängen. Trotzdem werden körperliche Beschwerden häufig allein auf körperlicher Ebene betrachtet und behandelt. Dies kann kurzfristig Abhilfe schaffen, insgesamt aber der Gesundheit auch schaden. Stress ist in diesem Zusammenhang ein interessantes Phänomen, weil es einerseits massive körperliche Beeinträchtigungen mit sich bringt, bis hin zu schwerwiegenden Erkrankungen wie Diabetes, Herzinfarkt, Schlaganfall oder Depression. Andererseits ist chronischer Stress auch sozial-psychologisch mitverursacht und seine Folgen sind entsprechend nur unter Einbeziehung dieser Ebene langfristig erfolgreich therapierbar. In diesem Text wird Stress aus der Perspektive der Physiologie näher erläutert und ausgehend von der Analyse eine Perspektive für die Weiterentwicklung medizinischer Therapie entwickelt. Dabei wird zugleich gezeigt, dass es für die erfolgreiche Behandlung stressbedingter Erkrankungen erforderlich ist, die Komplexität der menschlichen Natur anzuerkennen und dem in einem umfassenderen neuen Verständnis der Physiologie Rechnung zu tragen. Im Folgenden wird zunächst von dem Fall eines Patienten mit Magenschleimhautentzündung berichtet. Danach wird die theoretische Perspektive vorgestellt, mit der die Entstehung dieser Erkrankung erklärt werden kann – die Physiologie. Im dritten Teil wird die Stressregulation und damit die Interpretation der Krankheitsentstehung aus physiologischer Sicht erklärt. Ich schließe mit einem Ausblick und einer kurzen Empfehlung zum persönlichen Umgang mit Stress.
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Judith Gutberlet
Der Fall: Ein Patientenbericht Beginnen wir zunächst mit dem Bericht eines Patienten (44 Jahre). Er stellte sich 2019 mit etwa folgendem Bericht in der Praxis vor: »Vor ein paar Wochen war ich wegen Schmerzen im Oberbauch beim Arzt. Er sagte, ich habe eine Magenschleimhautentzündung und verschrieb mir Omeprazol. Das senke die Magensäurebildung. Zunächst wurden die Schmerzen auch besser. Aber jetzt, nach dem Absetzen des Mittels, kamen sie wieder und zusätzlich habe ich jetzt noch saures Aufstoßen und Sodbrennen, das schmerzt richtig hinter dem Brustbein. Es ist schlimmer als vorher.« Auf Nachfrage berichtet der Patient, dass er schon seit einiger Zeit viel Stress auf der Arbeit habe, er fühlt sich immer verantwortlich und kann nicht »nein« sagen. Natürlich sei er verspannt: »besonders im Schulter-Nacken-Bereich – wie jeder«, so seine Analyse. Schlecht geschlafen? – hat er auch: »Man macht sich ja Gedanken …« Patienten mit ähnlichen Beschwerden wie dieser Patient bekommen in der Regel von ihrer Hausärztin oder ihrem Hausarzt Säureblocker, sog. Protonenpumpeninhibitoren wie Omeprazol, Pantoprazol, Esomeprazol u. a. verschrieben. Diese führen zu einer schnellen Linderung der Beschwerden. Doch häufig kehren diese nach dem Absetzen des Arzneimittels ebenso rasch zurück (Glaser 2020). Eine Dauertherapie ist keine wirkliche Alternative, da in den letzten fünf bis zehn Jahren in Studien erhebliche Nebenwirkungen dieser Medikamente dokumentiert wurden (steigendes Herzinfarktrisiko, Leber- und Nierenschäden, Demenz) (Christoph 2019). Häufig suchen Menschen dann nach Alternativen und kommen so zu ganzheitlichen Therapieansätzen. 44
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Die Perspektive: Physiologie als medizinisch-theoretischer Ansatz Die theoretische Perspektive, die zur Interpretation des Falls verwendet und davon ausgehend weiterentwickelt werden soll, ist die Physiologie. Die Physiologie ist ein Teilgebiet der Medizin und beschäftigt sich mit den physikalischen und biochemischen Vorgängen der Zellen, Gewebe und Organe und ihrem Zusammenwirken im Gesamtorganismus. Als physiologisch werden normale bzw. gesunde Abläufe im menschlichen Organismus bezeichnet (Ohling 1995). Natürlich gibt es auf der ganzen Welt verschiedene medizinische Konzepte. Drei Beispiele für medizinische Konzepte sind die westliche Medizin (auch konventionelle Medizin oder Schulmedizin), die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) und der Ayurveda (traditionelle indische Heilkunst) (Gesundheit.GV.AT 2020). Die physiologischen Ansichten, die hier näher vorgestellt werden, sind Grundlage der westlichen Medizin, die dem Denkansatz von Ursache und Wirkung folgt und häufig mit medikamentöser Substitution oder Suppression behandelt (Heines 2003). Die beim oben ausgeführten Beispiel-Fall gewählte Therapie folgt der physiologischen Erkenntnis, dass eine Magenschleimhautentzündung durch zu viel Magensäure entstehen kann. Entsprechend wurde die Magensäureproduktion durch das Medikament supprimiert. Die Physiologie kann hier also als theoretische Perspektive herangezogen werden, um die herrschenden Therapieansätze zu erklären. Nun soll aber die Perspektive der Physiologie auch genutzt werden, um das Phänomen Stress auf seiner körperlichen Ebene zu verstehen. In der Physiologie werden verschiedene Organsysteme getrennt voneinander beschrieben. Zwei davon, die mit der Stressreaktion zu tun haben, werde ich kurz vorstellen: 45
Judith Gutberlet
(1) Das Nervensystem: Beim Nervensystem, das über Nervenfasern den gesamten Körper steuert, gibt es einen bewussten Anteil und einen unbewussten. Bewusst steuern wir z. B. unsere Skelettmuskulatur und nehmen Berührungen wahr. Unbewusst werden unsere inneren Organe gesteuert. Dieser unbewusste Anteil ist auch verantwortlich dafür, dass wir z. B. immer atmen, ohne darauf achten zu müssen, dass wir es nicht vergessen, denn das steuert unser Körper von ganz alleine wie auch alle Verdauungstätigkeiten, die Magen-Darm-Bewegungen und die Sekretion von Verdauungssäften. Dieses unbewusste Nervensystem heißt vegetatives Nervensystem. Es hat v. a. zwei Anteile, die antagonistisch wirken: Sympathikus und Parasympathikus. Der Sympathikus ist für körperliche Aktivität wichtig, er steuert alles, was die körperliche Leistungsfähigkeit steigert, z. B. erhöht er den Blutdruck sowie die Herzschlagund Atemfrequenz. Der Überträgerstof f hier ist Adrenalin. Das parasympathische System ist genau für die gegenteilige Regulation verantwortlich: Es regt die Durchblutung der Verdauungsorgane und ihre Sekretion an. Dafür wird unsere Skelettmuskulatur dann weniger durchblutet (Golenhofen 1997: S. 437). (2) Das Hormonsystem: Hormone sind lösliche Kommunikationsstoffe, die im Blut von den hormonbildenden Organen (Hormondrüsen) zu allen Körperzellen transportiert werden. Beispiele für Hormondrüsen sind die Hirnanhangsdrüse, die Schilddrüse, die Keimdrüsen und die Nebenniere. In der Nebenniere werden die sog. Stresshormone Adrenalin und Cortisol gebildet. Adrenalin wird hier bei jeder Aktivierung des Sympathikus – der ja das Adrenalin als Überträgerstoff bei der Nervenübertragung nutzt – auch ins Blut abgegeben. Dort wirkt es als Hormon. Das Hormon Cortisol bewirkt z. B., dass der Blutzuckerspiegel steigt, so dass Energie zur Verfügung steht, aber es reduziert auch die Körperabwehr, das Immunsys46
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tem wird also gehemmt. Das Immunsystem befähigt unseren Körper dazu, sich gegen Keime zu wehren, und es wird – wie gerade gesehen – vom Hormonsystem in seiner Aktivität beeinf lusst. Das Zwischenhirn und die Hirnanhangsdrüse stellen auf der einen Seite über die Sinnesorgane die Verbindung zur Außenwelt dar und auf der anderen Seite nach innen zu unserer Psyche. Das Zwischenhirn hat außerdem Sensoren und bekommt so auch Rückmeldungen aus dem Körper. Hier wird z. B. die Körpertemperatur überwacht, hier befinden sich das Hunger- und Sättigungszentrum, Fortpf lanzung und Schlafverhalten werden von hier aus gesteuert. Auch Gedanken und Emotionen lösen biochemische Reaktionen im Körper aus und führen so zu Hormonausschüttungen. Mit all diesen Reaktionen passt sich also der Körper ständig an wechselnde Umweltbedingungen an (Golenhofen 1997: S. 403 ff.).
Stress aus der Perspektive der Physiologie Die Entstehung der Erkrankung im oben ausgeführten Fall lässt sich aus der Perspektive der Physiologie erläutern. Wenn – nach Lazarus – Stress entsteht, nämlich »wenn eine Diskrepanz zwischen der Anforderung einerseits und unseren eigenen Bewältigungskompetenzen andererseits besteht« (Kaluza 2007: S. 8), dann beginnt die physiologische Stressreaktion, die immer gleich abläuft. Der Biochemiker und Mediziner Hans Selye prägte 1946 den Begriff »Stress« für die 1936 von ihm entdeckten stereotyp physiologisch-hormonell ablaufenden Mechanismen als »die unspezifische Reaktion des Körpers auf jede Anforderung, die an ihn gestellt wird.« (Selye 1981: S. 126) Dann ordnet sich alles nur noch dem Überleben unter. Das liegt daran, dass in Stresssituationen früher eben genau diese Reaktionen notwendig zum Überleben waren: schnell f liehen oder stark im Kampf sein. Bei jeder Stressreaktion wird der Sympathikus ak47
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tiviert und das Hormonsystem schüttet Cortisol aus. Das führt dazu, dass der Blutdruck und die Herzfrequenz steigen, dass die Verdauungsorgane weniger durchblutet werden, die Muskelanspannung und -durchblutung erhöht wird und der Blutzuckerspiegel steigt (Cannon 1929). Nach einer Stressreaktion folgt normalerweise die Abreaktion, dann ist der Parasympathikus aktiv. Alle Körperfunktionen können sich wieder normalisieren und beruhigen. Ist es nicht möglich, diese Entspannungsphasen regelmäßig zu haben und so wieder ins Gleichgewicht zu kommen, dann entstehen zunächst Symptome und schließlich auch Krankheiten. Und zwar sind es genau die Reaktionen auf die Stresshormone, die dann bei ständiger Aktivierung zu den Symptomen führen. Adrenalin bedingt Bluthochdruck und Herzrasen, was dann auch zu Kopfschmerzen führen kann. Die verminderte Durchblutung des Magen-Darm-Trakts führt zu Verdauungsbeschwerden bis hin zu Magen- oder Darmgeschwüren. Stress kann auch zu Unfruchtbarkeit führen, wie es von den Trümmerfrauen nach dem Zweiten Weltkrieg bekannt ist. Schmerzen im Rücken- und Nackenbereich entstehen durch die ständige Anspannung der Muskulatur (Dobos und Paul 2011: S. 45 ff.). Der oben ausgeführte Fall lässt sich aus dieser Perspektive näher betrachten. Es wird deutlich, dass sich seine Symptome alle durch die Wirkungen der Stresshormone erklären lassen. Er hatte berichtet, dass er Schmerzen im Oberbauch und Übelkeit hatte, auf Nachfrage erst machte er sich seine anderen Symptome wie die Verspannungen und Muskelschmerzen bewusst, die er schon hatte, bevor dann die Magenschleimhautentzündung auftrat. D. h. seine Symptome können als Folgen der Stressreaktion interpretiert werden. Die körperlichen Vorgänge lassen sich also durch die physiologischen Reaktionen bei Stress erklären. Obwohl das mög48
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lich ist, wird die Perspektive der Physiologie im Therapieansatz verkürzt verwendet. Wie im hier berichteten Fall werden Symptome mechanisch medikamentös therapiert und damit zwar momentan gelindert, insgesamt aber können sie dem Gesundheitszustand abträglich sein, da die Ursache der gesteigerten Magensäureproduktion nicht behoben wurde. Die Physiologie bietet zwar eine geeignete Perspektive, um körperliche Symptome bei Stress entsprechend zu deuten, jedoch ist unsere Vorstellung vom menschlichen Organismus noch zu vereinfacht. Die Zusammenhänge und Wechselwirkungen sind weit komplexer, als wir heute verstehen.
Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es aus der Perspektive der Physiologie verschiedene Regulationssysteme im menschlichen Organismus gibt (Immunsystem, Hormonsystem, Nervensystem). Diese werden durch psychisch-emotionale Einf lüsse und Rückmeldungen aus dem Körper sowie durch Wahrnehmungen von außen beeinf lusst. Die Regulationssysteme interagieren miteinander, um den Organismus an wechselnde Umweltbedingungen anzupassen. Gelingt diese Anpassung nicht oder nicht mehr, gerät der Organismus aus dem Gleichgewicht und es entsteht Krankheit. Die gewählte Perspektive bietet also einen Ansatzpunkt, die Vorgänge im menschlichen Körper zu identifizieren, aufeinander zu beziehen und mit der physiologischen Stressreaktion zu erklären. Für eine erfolgreiche Therapie der entstehenden Krankheitssymptome ist es jedoch erforderlich, den Ansatz zu überdenken. Die symptomzentrierte medikamentöse Behandlung benötigt eine Ergänzung durch Behandlungsverfahren, welche die Ursachen und übergeordnete Regelkreise berücksichtigen. Seit dem Beginn der Stressforschung hat sich die Vorstellung davon, was Stress ist, immer wieder gewandelt. 49
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Mittlerweile beschäftigen sich unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen mit dem Thema Stress. Es gibt Forschungen im Bereich der Psychologie, Psychosomatik, Immunologie, Neurologie und Soziologie. Die Wissenschaft entwickelte sich von einer rein physiologisch-medizinisch orientierten zu einer verhaltenspsychologischen Wissenschaft (Kury 2021). Die Stressforschung gibt also Anlass dazu, das mechanistische Modell der Medizin zu einem dynamisch-systemischen Modell zu erweitern (Heines 2003). Schon 2004 forderte die WHO die Politik auf, die Ursachen von chronischem Stress zu bekämpfen, anstatt die stressbedingten Krankheiten wie Infektionen, Diabetes, Bluthochdruck oder Depressionen mit Arzneimitteln zu behandeln (Wilkinson und Marmot 2004: S. 13 f.). Momentan entsteht ein neues medizinisches Fachgebiet, das sich mit der Wechselwirkung zwischen der Psyche, dem Nervensystem, dem Hormonsystem und dem Immunsystem beschäftigt. Es geht dabei um Wechselwirkungen der einzelnen Organsysteme, die in der Physiologie bislang einzeln betrachtet und beschrieben wurden. Entsprechend der Komplexität heißt dieses neue Forschungsfeld: Psycho-neuro(-endokrino-)immunologie (PN(E)I) (Wülfing 2020). Aus der ganzheitlichen Sicht unter Einbeziehung der Erfahrungsheilkunde mit dem physiologischen Hintergrundwissen, das die Wirkweise der Methoden erklären kann, möchte ich zum Schluss noch eine Empfehlung zum privaten Umgang mit Stress geben: Wir leben in einer sympathisch aktivierten Zeit. Verschiedenste Stressoren wirken täglich auf uns. Sie können physikalischer Natur sein wie Hitze, Kälte, Licht oder Lärm, körperliche Stressoren wie Schmerz, Juckreiz, Hunger, Durst, zu wenig Schlaf, Leistungssport, Genussgifte, Medikamente oder Umweltgifte. Auch unsere westliche Ernährung bedeutet Stress für unseren Stoffwechsel. Es gibt mentale Stressoren durch z. B. Existenzängste oder Leistungsanforderungen bei 50
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Prüfungen und das soziale Umfeld kann durch Konf likte, Verlust oder Isolation zum Stressor werden (Kaluza 2007: S. 7 f.). Immer wird dabei unser Sympathikus aktiviert. Um dem entgegenzuwirken, sollten wir unseren Parasympathikus pf legen. Das können wir z. B. über den Atem, indem wir häufiger am Tag auf die Atmung achten und die Ausatmung verlängern (Dobos und Paul 2011: S. 130 ff.). Berührung stoppt die Stressreaktion (Uvnäs-Moberg, Handlin und Petersson 2015) und wir sollten regelmäßig für Entspannungsphasen sorgen, also entweder täglich oder nach einer längeren anstrengenden Phase bewusst am Wochenende oder im Urlaub wieder in die Ruhe kommen. Mit einer guten Ernährung können wir unseren Körper mit den notwendigen Mineralstoffen, Vitaminen, Aminosäuren und sekundären Pf lanzenstoffen versorgen (Lalouschek und Zika 2016: S. 81 ff.). Über moderaten Sport können wir schließlich zu viel produzierte Stresshormone abbauen (Dobos und Paul 2011: S. 161 ff.) und damit deren negative Wirkung im Stoffwechsel verhindern (Dungler 2011).
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Theorien Sozialer Reproduktion: »Es schlaucht schon« Sorgestress und Sorgekrise Tine Haubner Die Soziologie ist eine Wissenschaft der Moderne. Der historische Entstehungskontext des Faches hat auch dazu geführt, dass den klassischen Arbeiten der frühen Soziologie ein Menschenbild eingeschrieben war (und bis heute vielerorts fortdauert), das den modernen Menschen als mündiges, unabhängiges, freies und autonom handelndes Subjekt versteht. So überzeugend dieses Selbstverständnis vor dem Hintergrund des Aufstiegs der Wissenschaften und der Entmachtung von Adel und Kirche für die moderne Gesellschaft zunächst ist, so trügerisch ist es zugleich: Wie unabhängig und autonom sind wir, wenn wir krank sind, Kleinkinder sind, pf legebedürftig sind oder im Sterben liegen? Wir sind alles andere als grundlegend autonom. Wir sind vielmehr konstitutiv abhängig. Abhängig von der Hilfe, Fürsorge, Betreuung, Pf lege und Zuwendung durch andere. Diese Einsicht in die Sorgebedürftigkeit des Menschen ist eigentlich naheliegend. Und dennoch hat es Jahrhunderte gedauert, bis Frauen- und Geschlechterforschung das vorherrschende Selbstverständnis des modernen Subjekts als männlich-partikularistisches Ideal dechiffrierten und herausforderten. Dass es vor allem feministische Denkerinnen gewesen sind, die den Autonomieanspruch moderner Subjektivität infrage stellten, ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die mit der Abhängigkeit und Angewiesenheit des Menschen verbundene Sorgearbeit mehrheitlich auf den Schultern von Frauen lastete – und lastet. Im Folgenden soll es um diese Form der Arbeit und die Frage gehen, wie es kommt, dass sie – wenngleich unverzichtbar und 55
Tine Haubner
grundlegend für jede Gesellschaft – noch immer abgewertet und unsichtbar gemacht wird. Dafür wird eine theoretische Erklärungsgrundlage geliefert und Einblicke in den Alltag dreier Frauen gewährt, die im Rahmen einer mehrjährigen Studie zu häuslicher Pf legearbeit, die informell von Laien in Deutschland erbracht wird, befragt wurden (vgl. Haubner 2017).
Who Teaches the Teacher? Theorien Sozialer Reproduktion und die Care-Krise Die soziologische Care-Forschung, die aus der feministischen Forschung der späten 1960er hervorgegangen ist (vgl. Kontos 2015) und sich seit den 1980er Jahren international formiert (vgl. Aulenbacher und Dammayr 2014), befasst sich mit sog. Care-, Sorge- oder Reproduktionsarbeiten. Mit diesen können alle »praktischen Relationen zwischen Menschen, die sich aus den Bedingungen der Kontingenz, d. h. aus dem Werden und Vergehen des Lebens ergeben« verstanden werden (Klinger 2014: S. 82 f.). Es handelt sich dabei um häufig von Frauen unbezahlt verrichtete Arbeitstätigkeiten, die auf die Befriedigung der Bedürfnisse von (menschlichen) Lebewesen nach Fürsorge, Betreuung, Ernährung, Erholung, Pf lege, Sexualität, Bildung oder Erziehung abzielen und daher den eigenwilligen Rhythmen des Lebens folgen müssen, um ihren Zweck zu erfüllen (vgl. Knobloch 2013). »Das bisschen Haushalt …« hat lange gebraucht, um zumindest teilweise als ›richtige‹ Arbeit zu gelten, und noch immer werden selbst die verberuf lichten Formen von Sorgearbeit (wie personenbezogene Dienstleistungen in Pf lege, Hauswirtschaft oder Erziehung) schlecht bezahlt oder sogar unbezahlt und informell (d. h. jenseits der Geltungsmacht bestehender arbeitsvertraglicher Regularien) erbracht. Außerdem, so zeigt die Care-Forschung, befinden sich Sorge und Sorgearbeit seit einigen Jahrzehnten im Zustand einer Krise, die als »Krise so56
Theorien Sozialer Reproduktion
zialer Reproduktion« (Jürgens 2010) bezeichnet wird. Um zu verstehen, in welchem Zusammenhang die spezifischen Merkmale von Sorgearbeit und ihre gesellschaftliche Bedeutung stehen, lohnt sich der Blick in eine für die Care-Forschung zentrale Theorietradition – die Theorien Sozialer Reproduktion. Mit Theorien Sozialer Reproduktion (oder Social Reproduction Theory, kurz: SRT; Bhattacharya 2017) sind das Nachdenken über kapitalistische Gegenwartsgesellschaften und die darin eingelassenen Reproduktionsbedingungen menschlicher Arbeitskraf t verbunden. Der Begrif f der sozialen Reproduktion bezeichnet im Kontext marxistisch-feministischer Gesellschaf tstheorie »die unter den jeweiligen kapitalistischen Bedingungen zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendigen Tätigkeiten« (Winker 2015: S. 18; siehe auch: Dück und Hajek 2018). Tithi Bhattacharya fasst das Anliegen von Theorien Sozialer Reproduktion als Antworten auf folgende Frage: »If workers’ labor produces all the wealth in society, who then produces the worker?« (Bhattacharya 2017: S. 1) Theorien Sozialer Reproduktion fragen so nach den Ermöglichungsbedingungen von Arbeitskraftnutzung und kapitalistischer Akkumulation und verknüpfen dabei die Analyse ökonomischer Ausbeutungsprozesse mit den verschiedenen Formen der Unterdrückung. Einer Grundannahme von Theorien Sozialer Reproduktion zufolge stehen kapitalistische Gesellschaften auf zwei Grundpfeilern: Dem ›people making‹ auf der einen und dem ›profit making‹ auf der anderen Seite (vgl. Arruzza, Bhattacharya und Fraser 2019: S. 68). Während das ›profit making‹ Strategien der ökonomischen Gewinnerwirtschaftung bezeichnet, geht es beim ›people making‹ um die Tätigkeiten, die zur (Wieder-)Herstellung menschlicher Arbeits- und Lebenskraft notwendig sind (zum Wechselverhältnis von Arbeits- und Lebenskraft siehe: Jürgens [2006] 2009). Dabei bildet das ›people making‹ stets die Voraussetzungen des ›profit making‹, basiert doch die Gewinnerwirt57
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schaftung in kapitalistischen Gesellschaften auf dem profitablen Einsatz menschlicher Arbeitskraft als Kapital. Gleichzeitig gerät das ›people making‹ aber mit den Imperativen der Gewinnerwirtschaftung auch in Konf likt, weil menschliche Bedürfnisse und ihre Befriedigung nicht reibungslos im Imperativ der kapitalistischen Gewinnerwirtschaftung aufgehen und Reproduktionsarbeiten mit Rationalisierungsanforderungen nicht ohne Weiteres kompatibel sind. Reproduktionsarbeiten sind in kapitalistischen Gesellschaften deshalb von einem Paradoxon gekennzeichnet: Einerseits bilden sie die Voraussetzungen kapitalistischer Warenproduktion, weil erst mit ihrer Hilfe Arbeitskräfte geboren, erzogen, gepf legt, ›produziert‹ und ›reproduziert‹ werden, die den Reichtum in kapitalistischen Gesellschaften erzeugen. Auf der anderen Seite stehen diese Reproduktionsarbeiten aber in Spannung zu kapitalistischen Verwertungsimperativen, weil sie nicht primär auf Profit, sondern auf menschliche Bedürfnisbefriedigung abzielen. Dabei lassen sie sich nicht ohne Weiteres beschleunigen, rationalisieren oder durch Robotik substituieren, ohne dass ihre Qualität darunter leidet: Kinder kann man ebenso wenig schneller besser erziehen, wie man auch pf legebedürftige alte Menschen nicht schneller besser pf legen kann. Aus diesem Grund sind Reproduktionsarbeiten im Vergleich zu anderen Arbeiten (wie etwa der Güterproduktion) in kapitalistischen Gesellschaften weniger profitabel. Dieses Paradoxon führt dazu, dass kapitalistische Gesellschaften auf Reproduktionsarbeit nicht verzichten können. Zugleich müssen sie sie aber so organisieren, dass sie möglichst wenig Kosten erzeugt und Profite nicht schmälert. Das ist auch ein Grund, warum Pf legearbeit als eine Form von Reproduktionsarbeit noch immer mehrheitlich unbezahlt von weiblichen Angehörigen verrichtet wird. Soziale Reproduktion, so können wir festhalten, ist im Kapitalismus immer krisenhaft und umkämpft. Allerdings ver58
Theorien Sozialer Reproduktion
birgt sich hinter der von der Care-Forschung aufgestellten These einer ›Krise sozialer Reproduktion‹ die Annahme, dass wir seit einigen Jahrzehnten eine Verschärfung dieses stets krisenhaften Verhältnisses von kapitalistischer Verwertung und den reproduktiven Bedürfnissen von Arbeitskräften beobachten können. Die Arbeitswelt hat sich stark verändert und fordert immer Mobilität, Flexibilität und spezifische Qualifikation, weshalb die Ansprüche an Kinderbetreuung und Bildung gestiegen sind. Die Gesellschaft altert und ein immer größerer Teil der Bevölkerung ist auf Pf lege angewiesen. Immer mehr Frauen gehen zudem einer Erwerbstätigkeit nach, nicht nur weil das ihr erkämpftes Recht ist, sondern weil aufgrund gesunkener Löhne ihr Zuverdienst zum Familieneinkommen notwendig ist. Last but not least ist auch die Politik des Sozialstaats einem Wandel unterworfen und hinkt mit einer Pf legekrise nach der nächsten und dem Mangel an ausreichenden Kita-Plätzen den reproduktiven Versorgungsbedarfen der Bevölkerung hinterher, um Sozialausgaben möglichst gering zu halten (damit diese wiederum nicht mit dem ›profit making‹ in Konf likt geraten). In der Folge all dieser Veränderungen kommt es zu Versorgungsengpässen mit Reproduktionsarbeit, die von irgendjemandem aufgefangen werden müssen. Wie das konkret aussehen kann und was es für jene Menschen bedeutet, die Sorgearbeit verrichten, soll in den folgenden beiden Abschnitten an drei Fallbeispielen aus der Altenhilfe und -pf lege gezeigt werden.
Das who is who informeller Pflegearbeit – drei Fallbeispiele Ich möchte Sie mit drei Frauen bekannt machen: Frau Voß ist 59 Jahre alt und arbeitet als Mikrobiologin Vollzeit in einem Forschungsinstitut. Sie lebt mit ihrer schwer pf legebedürftigen 89-jährigen Mutter in einem Haus. Ihre Mutter ist nahezu blind, sitzt aufgrund eines steifen Beins im Rollstuhl, hat bereits di59
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verse Operationen und Herzinfarkte hinter sich und zeigt zunehmend Symptome einer Altersdemenz. Frau Voß erhält Unterstützung durch einen ambulanten Pf legedienst. Dieser ist aber jeden Tag nur eine Stunde im Einsatz, weil die Leistungen der Pf legeversicherung, die Frau Voß erhält, nur einen Teil des anfallenden Versorgungsbedarfes abdecken. Neben alltäglichen Hausarbeiten für ihre Mutter muss Frau Voß sie beinahe jede Nacht bei den Toilettengängen begleiten, was ihren Schlafrhythmus und damit auch ihre beruf liche Leistungsfähigkeit stark beeinträchtigt. »Ja es schlaucht. Es schlaucht schon. Es ist so, […] wenn ich versuche, so meine ganzen häuslichen Dinge – man hat ja auch noch eigenen Haushalt zu machen […]. Also zehn Minuten Ruhe irgendwo hingesetzt, fang’ ich an zu schlafen ja. Also ich hab’ rigoroses Schlafbedürfnis ne immer. Ich schlafe sogar hier am Schreibtisch, muss ich zugeben, ein …« Frau Wagner ist 57 Jahre alt und hat viele Jahre als Pf legehilfskraft in einem ambulanten Pf legedienst gearbeitet. Im Rahmen ihrer Arbeit ist sie in ländlichen Regionen im Einsatz gewesen und pendelte jahrelang von Dorf zu Dorf. Als sie schließlich für 36 Pf legebedürftige allein verantwortlich ist, erleidet sie nach 25 Berufsjahren einen Zusammenbruch und zieht die ›Notbremse‹: »… ich hatte Burnout. Hatte fast einen Verkehrsunfall. Also es war ganz schlimm. Und dann hab’ ich die Bremse gezogen. Also Notbremse gezogen. […] Da konnt’ ich dann nicht mehr.« Aufgrund ihrer Tätigkeit als Pf legehilfskraf t und aufgrund ihrer krankheitsbedingten vorzeitigen Entlassung erhält Frau Wagner nun so geringe Rentenleistungen, dass sie trotz ihrer gesundheitlichen Einschränkungen gezwungen ist, mit gering60
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fügiger Beschäftigung aufzustocken. Sie arbeitet anschließend vier Jahre lang bei einem Catering-Unternehmen und nimmt dabei Arbeitsbedingungen in Kauf, die den vorherigen im Pf legedienst ähneln. Schließlich entdeckt sie in einer Zeitungsannonce die Werbeanzeige eines Freiwilligenvereins und beschließt, sich fortan freiwillig für Alte und Pf legebedürftige für eine kleine Aufwandsentschädigung zu engagieren. Auf diese Weise kann sie zumindest all die Betreuungstätigkeiten verrichten, zu denen sie früher in ihrem beruf lich eng getakteten Alltag nie gekommen ist. Frau Stoll ist 56 Jahre alt und arbeitet in Teilzeit als technische Zeichnerin. Seit zehn Jahren ist sie neben ihrer Berufsarbeit Bürgerbusfahrerin in ihrem kleinen Wohnort und bietet auf ehrenamtlicher Basis Fahrdienste für ältere Menschen und Senioren an. Dies ist nötig, weil der ÖPNV nicht pf legegerecht ist, selten fährt und auch bestimmte Ziele gar nicht anfährt. Als freiwillige Busfahrerin fährt Frau Stoll jede Woche drei Stunden Bus. Hinzu kommen regelmäßige Vereinssitzungen und Treffen mit den anderen Fahrer*innen. Oft hat sie nach fünf Stunden Arbeit als technische Zeichnerin keine Lust, nachmittags zu fahren, aber es macht ihr dennoch Freude. In der Regel sind es ältere Menschen, die sich beim Bürgerbus engagieren. Nicht nur, weil Menschen im Ruhestand die Zeit haben, sich zu engagieren, sondern weil junge Menschen, wie Frau Stoll sagt, sehr mit ihrer beruf lichen und familiären Arbeit beschäftigt sind: »Ich sehe es bei uns. Die jungen Leute, da wird erwartet, dass man, was weiß ich, bei zehn Stunden in der Arbeit sitzt. Und dann sollst du noch deine Freunde haben. Dann sollst du noch in das Fitnessstudio. Und dann sollst du gekocht haben ordentlich, weil die Ernährung ist auch sehr wichtig. Und ich weiß gar nicht, wie man das alles unter einen Hut bringen soll, heutzutage, wenn man wirklich allem gerecht werden möchte.« 61
Tine Haubner
»Auf fünf Hochzeiten tanzen« – der alltägliche Wahnsinn in der Pflegekrise Was haben nun eine vollzeitbeschäftigte pf legende Angehörige, die auf der Arbeit vor Erschöpfung einschläft; eine ausgebrannte und von Altersarmut betroffene Pf legekraft und eine freiwillig Engagierte mit Nachwuchssorgen eigentlich gemeinsam? Sie alle sind Beispiele für das, was mit der ›Krise sozialer Reproduktion‹ bezeichnet wird. Dass Frau Voß auf der Arbeit einschläft, liegt nicht nur daran, dass der Pf legedienst in ihrem Haus den eigentlichen Bedarf nicht deckt. Es liegt auch daran, dass Pf legearbeit in Deutschland noch immer in erster Linie auf Familien und ihre unbezahlte Pf legearbeit abgewälzt wird, um in einer alternden Gesellschaft Pf legekosten einzusparen. Zugleich kann sich Frau Voß nicht mit unbezahlter Pf legearbeit für ihre Mutter über Wasser halten und muss parallel einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen. Ihr Arbeitgeber wiederum legt wenig Wert darauf, die Vereinbarkeit von Pf lege und Erwerbsarbeit zu verbessern. Da sie als erwerbstätige und pf legende Angehörige zwei Vollzeitjobs hat, ist es kein Wunder, wenn sie vor Erschöpfung auf der Arbeit einschläft. Den Balanceakt zwischen Beruf und Pf lege beschreibt sie daher folgendermaßen: »… und es ist nur schade, wenn es wirklich einfach abgetan wird, so nach dem Motto, du bist jetzt die Tochter, dann kümmere dich bitte darum, ja? Ich kann nicht auf fünf Hochzeiten tanzen. Ich kann nur entweder meine volle Arbeitskraft dort reinstecken, dann brauch ich aber auch die Unterstützung, meinen zweiten Beruf in Anführungsstrichen eine Pflegeperson zu sein …« Pf legearbeit, so sehen wir hier, hat in einer kapitalistischen Wachstumsgesellschaf t des ›profit making‹ einen schweren Stand. Um Kosten des nur begrenzt profitablen ›people making‹ für den Staat aber auch die Arbeitgeberseite einzusparen, wird 62
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Pf legearbeit in Deutschland überwiegend unbezahlt und informell an private Haushalte und darin vor allem an weibliche Familienmitglieder ausgelagert. Die damit anfallenden Belastungen, so zeigt der Fall von Frau Voß, schränken jedoch zugleich die Arbeitsfähigkeit und damit letztlich auch das ›profit making‹ ein, lässt sich die Übernahme häuslicher Pf legearbeit doch langfristig kaum mit den Anforderungen kapitalistischer Lohnarbeit vereinbaren. Frau Wagner wiederum musste ihren Beruf als Pf legekraft aufgeben, weil sie dem großen Zeitdruck und Stress nicht mehr gewachsen war und weil ihr Wunsch nach guter Pf legearbeit immer mehr in Widerspruch mit ihren Arbeitsbedingungen geriet. Das liegt daran, dass sich professionelle Pf legearbeit immer stärker an ökonomischen Effizienzkriterien ausrichtet und Pf legearbeit fast wie in einer Fabrik am Fließband verrichtet wird. Auf diese Weise werden Kosten gering gehalten und sogar Gewinne aus der Pf lege gezogen. Weil Pf legearbeit außerdem noch immer abgewertet wird, hat Frau Wagner wenig verdient und ist jetzt im vorzeitigen Ruhestand von Altersarmut betroffen, obwohl sie jahrzehntelang gesellschaf tlich notwendige Arbeit geleistet hat. Im Ehrenamt füllt sie nun die Lücken, die professionelle Pf legedienste, wie ihr früherer Arbeitgeber, in der Versorgung alter Menschen hinterlassen. Hier zeigt sich eine weitere Facette des Widerspruchs aus ›profit making‹ und ›people making‹: Wenn das ›people making‹ zunehmend auf ökonomische Ef fizienz getrimmt und am ›profit making‹ ausgerichtet wird, bleibt die Qualität der Sorgearbeit auf der Strecke. Die Leidtragenden sind die Pf legekräfte, die im Stakkato der Minutenpf lege ihren eigenen Ansprüchen an gute Sorgearbeit hinterherrennen und sich in der Pause oder nach Feierabend Zeit für Gespräche und Zuwendung für ihre Patient*innen nehmen, für die sie nicht bezahlt werden. Die hohe Belastung in den Pf lege- und Gesundheitsberufen führt wiederum dazu, 63
Tine Haubner
dass viele Pf legekräfte ausgebrannt sind und den Beruf vorzeitig verlassen. Der daraus resultierende Mangel an Fachpersonal hat sich schließlich in der Corona-Pandemie dramatisch geltend gemacht. Dass Frau Stoll freiwillig Bürgerbus für ältere Leute fährt, liegt schließlich nicht nur daran, dass sie eine hilfsbereite Frau ist. Durch Kürzungen im kommunalen Haushalt ihres Wohnortes ist auch der ÖPNV stark eingeschränkt worden. Überall fehlt es an Mobilitäts- und Versorgungsangeboten für alte und pf legebedürftige Menschen. Deshalb springen Freiwillige ein, um die Lücken, die der Staat hinterlässt, kostengünstig zu füllen. Es bräuchte dafür dringend junge Leute, aber diese sind auch von der Krise sozialer Reproduktion betroffen und wissen im Spagat zwischen Job, Berufspendeln, Haushalt, Kindern und der Pf lege älterer Angehöriger selbst nicht, wo ihnen der Kopf steht. Weil der Staat auf der einen Seite das ›profit making‹ im Pf lege- und Gesundheitssektor ausbaut und anderseits das ›people making‹ größtenteils den Privathaushalten überlässt, springt schließlich die Zivilgesellschaft ein, wenn Familien an Kapazitätsgrenzen gelangen oder Pf legebedürftige sich keine umfängliche Versorgung durch private Pf legedienste leisten können. Den wachsenden Profiten im privaten Pf lege- und Gesundheitssektor stehen so die Überlastung der Familien und die Ausbeutung freiwillig Engagierter gegenüber.
Fazit: Auf den Schultern eines zerbrechlichen Riesen … Dass die Reproduktion in unserer Hochleistungsgesellschaf t trotz der sich zuspitzende Sorge-Krise weiterläuft, ohne längst zusammengebrochen zu sein, verdankt sich der Ausbeutung vieler, überwiegend weiblicher Bevölkerungsgruppen, die für wenig Geld oder sogar unbezahlt Alte pf legen, Kinder betreuen, Trost spenden, Einkäufe erledigen, Nahrung zubereiten 64
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und Familien unterstützen. Damit steht unsere Gesellschaft auf den Schultern eines großen und unverzichtbaren, zugleich aber auch zerbrechlichen Riesen. Zuletzt hat die Corona-Krise anschaulich gezeigt, was passiert, wenn es an professionellen Pf legekräf ten in den Krankenhäusern und ambulanten Diensten fehlt und Familien im Home-Office Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung vereinbaren müssen. Die Krise sozialer Reproduktion hat sich dabei schmerzlich in der Sterblichkeit von Altenheimbewohner*innen, der Überlastung erwerbstätiger Mütter oder den schrumpfenden Teilhabechancen sozial benachteiligter Schulkinder offenbart. Die Corona-Krise hat so gezeigt, wie schlecht es um Sorge in unserer sich als hochmodern verstehenden Gesellschaft steht. Mit ihr steht und fällt jedoch die Frage nach einem guten und menschengerechten Leben. Es wird deshalb Zeit, darum zu kämpfen!
Zum Weiterlesen Federici, Silvia (1975): Wages Against Housework. New York: Power of Women Collective and Falling Wall Press. Haubner, Tine (2018): »Dienstboten der Nation. Ausbeutung informeller Laienpf lege und die Revitalisierung eines totgeglaubten Klassikers«. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 43, 3, S. 267–282. Winker, Gabriele (2015): Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft. Bielefeld: transcript.
Literatur Arruzza, Cinzia/Bhattacharya, Tithi/Fraser, Nancy (2019): Feminism for the 99 %. A Manifesto. New York: Verso. Aulenbacher, Brigitte/Dammayr, Maria (Hg.) (2014): Für sich und andere sorgen. Krise und Zukunft von Care in der modernen Gesellschaft. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.
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Tine Haubner Bhattacharya, Tithi (Hg.) (2017): Social Reproduction Theory. Remapping Class, Recentering Oppression. London: Pluto Press. Dück, Julia/Hajek, Katharina (2018): »›Intime Verhältnisse‹. Eine gesellschaftstheoretische Erweiterung der Debatte um soziale Reproduktion«. In: Alexandra Scheele/Stefanie Wöhl (Hg.). Feminismus und Marxismus. Weinheim, Basel: Beltz Juventa, S. 218–231. Haubner, Tine (2017): Die Ausbeutung der sorgenden Gemeinschaft. Laienpf lege in Deutschland. Frankfurt a. M., New York: Campus. Jürgens, Kerstin ([2006] 2009): Arbeits- und Lebenskraft. Reproduktion als eigensinnige Grenzziehung. 2. Auf l. Wiesbaden: VS. Jürgens, Kerstin (2010): »Deutschland in der Reproduktionskrise«. In: Leviathan 38, S. 559–587. Klinger, Cornelia (2014): »Krise war immer … Lebenssorge und geschlechtliche Arbeitsteilungen in sozialphilosophischer und kapitalismuskritischer Perspektive«. In: Erna Appelt/Brigitte Aulenbacher/Angelika Wetterer (Hg.). Gesellschaft. Feministische Krisendiagnosen. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 82–104. Knobloch, Ulrike (2013): »Sorgeökonomie als kritische Wirtschaftstheorie des Sorgens«. In: Hans Baumann/Iris Bischel/Michael Gemperle/Ulrike Knobloch/Beat Rigger/Holger Schatz (Hg.). Care statt Crash. Sorgeökonomie und die Überwindung des Kapitalismus. Denknetz Jahrbuch 2013, S. 9–23. Kontos, Silvia (2015): »Von der Hausarbeitsdebatte zur ›Krise der Reproduktion‹?«. In: Alex Demirović/Sebastian Klauke/Etienne Schneider (Hg.). Was ist der »Stand des Marxismus«? Soziale und epistemologische Bedingungen der kritischen Theorie heute. Münster: Westfälisches Dampf boot, S. 78–103. Winker, Gabriele (2015): Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft. Bielefeld: transcript.
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Machtanalytik: Fear of Missing Out Andreas Spengler
Alltagsstress aus soziologischer Perspektive Gemeinhin verbindet man mit Stress ein Gefühl der Überforderung, das sich aus einer nicht zu bewältigen erscheinenden Fülle an Aufgaben oder Anforderungen und dem dahinterstehenden Druck ergibt, diese dennoch bewältigen zu müssen. Seit wenigen Jahren scheint sich jedoch ein erweitertes Bild zu konturieren: In ihm wird Stress zwar nach wie vor als subjektiv empfundener ›Druck‹ oder eine ebensolche »Belastung« verstanden – die je nach Dauer und Intensität pathologisch werden können. Neu hinzu kommt jedoch, dass Stress zunehmend auch ex negativo, also mehr aus potentiell versäumten Gelegenheiten als aus konkret vorhandenen Aufgaben und Anforderungen entstehen kann. Mit dem Akronym FoMO tauchte in der jüngeren Vergangenheit auch schon eine Bezeichnung für dieses Phänomen auf, mit dem kurz gesagt die Angst, etwas zu verpassen, beschrieben wird. Unklar bleibt dabei, wie sich eine solche Angst und der damit zusammenhängende Stress begründen und in welche soziokulturellen Dynamiken sie eingebunden sind. Der folgende Beitrag betrachtet dieses Phänomen daher aus machtanalytischer Perspektive. Es geht dabei darum, »[…] die Formen zu untersuchen, in denen Subjektivität ein essentielles Objekt, Ziel und Ressource für bestimmte Strategien, Taktiken und Regulierungsprozeduren geworden ist.« (Rose 2000: S. 9) Hierzu folgt der Beitrag dem Prinzip einer aufsteigenden Analyse und konturiert zunächst gängige Situationen des Alltags, bevor diese mithilfe des methodischen Zugriffs ›Machtanalytik‹ neu perspektiviert werden. Am Ende soll so gezeigt werden, dass diese Alltagsphänomene Rückschlüsse auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen zulassen und eine Fear 67
Andreas Spengler
of Missing Out auch als Teilaspekt der Organisation des Sozialen verstanden werden kann.
Von verpassten Gelegenheiten und der Suche nach der verlorenen Zeit Man kennt sie, diese Alltagssituationen: Ein Online-Meeting, ein Online-Seminar oder eine andere Form virtuellen Arbeitstreffens beginnt in Kürze und man überlegt, die Kamera auszulassen. In der Regel basiert dieser Impuls jedoch nicht auf datenschutzrechtlichen Bedenken oder dem Glauben an die Unmöglichkeit, die Aura eines solchen Treffens am Bildschirm simulieren zu können, sondern ist viel banaler. Tatsächlich ist es oft die To-do-Liste, die im Hinterkopf kratzt und das viele andere noch zu Erledigende, was gerade ebenso wichtig erscheint. Fehlen will man aber genauso wenig. Beim Einkaufen – on- wie off line – stößt man auf zeitlich begrenzte Angebote und überlegt oft zweimal, den personalisierten Rabatt doch zu nutzen oder die Marmelade zu testen, bevor die Gelegenheit verpasst ist. Abends im Bett wollte man eigentlich noch etwas lesen, doch ein kurzer Mailcheck kann sich dann rasch in den unendlichen Weiten des Internets verlieren, wo man Newsfeeds durchscrollt, die qua ihrer listenhaften Unendlichkeit weder Anfang noch Ende zu kennen scheinen. Schnell wird dann aus elf Uhr abends drei Uhr morgens. Man ist ja noch auf etwas Interessantes gestoßen und wollte noch diesen einen, letzten Post sehen. Festgestellt hat man am Ende womöglich nur, dass manche Jugendfreunde anscheinend gerade ein wesentlich aufregenderes Leben führen oder ihr Feed eine viel größere Reichweite hat. Vibriert es am Nachttisch, in der Hosentasche oder am Handgelenk, fühlt man den Drang, schnellstmöglich nachzusehen, denn das, was sich rasch als Newslettermail entpuppt, hätte ebenso eine lang erwartete Terminbestätigung oder eine
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Machtanalytik
wichtige Nachricht der Partnerin oder des Partners sein können. Tagtäglich sind Menschen mit solchen oder ähnlichen Situationen konfrontiert. Sie sind Teil eines ubiquitären Informationsf lusses, sollen selektieren, Entscheidungen treffen – und dies bestmöglich. Doch ergibt sich genau darin die paradoxe Situation, dass mit Zunahme des Wissens auch die Möglichkeiten steigen, aus denen abermals gewählt werden muss, will man nichts verpassen. Diskutiert werden die Folgen dieses Verhältnisses seit etwa 2004 (Knowles 2016) unter dem Akronym FoMO, kurz für Fear of Missing Out – der Angst, etwas zu verpassen. Gemeinhin verbirgt sich dahinter ein pathologischer Befund über die Gegenwartsgesellschaf t; nämlich, dass die Sorge des oder der Einzelnen, etwas verpassen zu können, den Anschluss zu verlieren, in Stress und Belastung mündet. Kurzum kann die Sorge um die eigenen Möglichkeiten zum latenten Stress innerhalb der Informationsf lut avancieren. Aber mit der JoMO, der Joy of Missing Out, scheint sich bereits ein Heilmittel gefunden zu haben. Man sollte lediglich lernen, sich dem gefühlten Druck bewusst zu entziehen. Die Techniker Krankenkasse gibt diesbezüglich den Ratschlag, sich daran zu erinnern, dass das eigene Leben gut sei, wie es ist. »Auch wenn [man] an einem Freitagabend mit der Katze auf dem Bauch auf dem Sofa [liege] und fernsehe […].« (Soltau 2021) – Und ein wenig Digital Detox kann ohnehin nie schaden. Doch diese Lösung scheint nur auf einen ersten Blick das Symptom zu bekämpfen. Wesentlich interessanter wird die sich durch einen zweiten Blick eröf fnende soziokulturelle Bedeutung dieses Phänomens. Mithilfe der Perspektive einer Machtanalytik lässt sich dann nachvollziehen, dass es sich dabei um ein komplexes Verhältnis handelt, das spezifische Ausprägungen gegenwärtiger Vergesellschaftungsprozesse offenlegt.
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Macht: Theorie und Methode? Perspektive und Analytik! Um sich aus einer solchen Perspektivierung dem Gegenstand nähern zu können, ist es notwendig, die dahinterstehenden Prämissen zu klären. Denn der Begriff Macht ist, wie viele andere der Sozialwissenschaften, eng mit der Alltagssprache verwoben – von dem sich allerdings wissenschaftliche Verständnisse in der Regel maßgeblich unterscheiden. Wie lässt sich also Macht fassen und operationalisieren? Das hier vertretene Verständnis orientiert sich nicht an Max Webers klassisch gewordener Definition von Macht als »[…] jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht« (Weber [1922] 1972: S. 28), sondern maßgeblich an Michel Foucault. Dieser versteht im Unterschied zu Weber Macht weniger handlungstheoretisch-akteur*innenzentriert, sondern fasst sie als den »[…] Name[n], den man einer komplexen strategischen Situation einer Gesellschaf t gibt« (Foucault [1976] 1983: S. 94). Bereits hier wird ein deutlicher Unterschied sichtbar: Es scheint aus einer solchen Perspektive weniger darum zu gehen, Macht nur auf spezifische Personen oder Institutionen beschränkt zu begreifen (im Sinn von ›Macht haben‹), sondern sie viel umfassender zu deuten. Mit solch einem Verständnis gehen jedoch weitreichende Folgen einher, die sich anhand folgender sieben Punkte (Bröckling 2018) konturieren lassen: Erstens ist Macht relational zu verstehen »[…] und deshalb […] ist jede Erläuterung von Macht die Form der Explikation von vielfachen Beziehungen und Verhältnissen zwischen vielfachen Punkten und Elementen im sozialen Feld […]« (Saar 2007: S. 207). Eine solche Auseinandersetzung ist damit auch keine allgemeine Theorie der Macht, sondern vielmehr eine analytische Perspektivierung (vgl. Foucault [1978] 2015: S. 13 f.). Eine 70
Machtanalytik
solche zeigt als »aufsteigende Analyse« durch die Auseinandersetzung mit Mikropraktiken die verwobenen Verhältnisse, Wege und Mechanismen der Macht und kann so Aufschluss auf Makrophänomene geben (Bröckling und Krasmann 2010: S. 26). Demgemäß handelt es sich bei Macht um eine Kräftekonstellation, die sich beschreiben, aber nicht zählen oder messen lässt. Oder in Foucaults Worten: »Die Gesellschaft ist ein Archipel aus verschiedenen Mächten.« (Foucault 1981a: S. 297) Und »[w]eil Macht ein Kräfteverhältnis darstellt, ist zweitens jede Machtausübung konfrontiert mit Gegenkräften, die sie bremsen, neutralisieren, umlenken oder blockieren« (Bröckling 2018: S. 35). Drittens kann Machtausübung damit auch scheitern oder unbeabsichtigte Nebeneffekte hervorbringen. So lässt sich bspw. die Geschichte des Internets als eine Geschichte der ›Befreiung‹ oder ›Auf klärung‹ lesen, die den Zugang zu Informationen respektive Wissen drastisch erhöht und Selbstermächtigung fördert. Sie lässt sich aber im gleichen Atemzug als eine konterkarierende Geschichte lesen, im Rahmen derer sich ein Ökonomisierungsprozess vollzieht und für wahr Gehaltenes neu bzw. anders oder von hegemonialen Normen abweichend ausgehandelt wird. Viertens ist Freiheit die Voraussetzung von Macht (Foucault 1982: S. 287) und daher fünftens unauf löslich mit Wissensformationen verbunden. Nicht nur bringt Wissen Macht hervor, sondern Wissen selbst ist immer ein Machteffekt. »Denn nichts kann als Wissenselement auftreten, wenn es nicht mit einem System spezifischer Regeln und Zwänge konform geht – […] [u]mgekehrt kann nichts als Machtmechanismus funktionieren, wenn es sich nicht in Mittel-Zweck-Beziehungen entfaltet, welche in Wissenssystemen fundiert sind.« (Foucault 1992: S. 33) 71
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Macht ist damit sechstens und im größten Unterschied zum Alltagsverständnis nicht verkürzt, rein repressiv zu verstehen. »Der Grund dafür, daß die Macht herrscht, daß man sie akzeptiert, liegt ganz einfach darin, daß sie nicht nur als neinsagende Gewalt auf uns lastet, sondern in Wirklichkeit die Körper durchdringt, Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert; man muß sie als produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper überzieht und nicht so sehr als negative Instanz, deren Funktion in der Unterdrückung besteht.« (Foucault 1977: S. 35) Zu guter Letzt und siebtens gibt es spezifische Formen von Machtausübungen, die meist indirekt agieren und auf Aktivierungsaktivierung im Sinn einer »Führung zur Selbstführung« setzen. Solche Machtformen, die sich mit Foucault als gouvernemental bezeichnen lassen, »[…] schaffen Anreize oder definieren einen Rahmen, um so bestimmte Verhaltensweisen wahrscheinlicher zu machen als andere« (Bröckling 2018: S. 36). Jene gouvernementalen Machtformen stehen im Fokus der hier eingenommenen Perspektivierung. Übersetzen lässt sich der Begriff mit ›die Regierung betreffend‹. Regierung ist dabei jedoch weitgefasst zu verstehen und nicht nur auf Politik zu beschränken. Dieses Verständnis von Regieren beinhaltet Formen der Selbst- wie Fremdführung, -lenkung und -leitung. Um einen Titel Foucaults zu verwenden, steht also im Zentrum eine Untersuchung von Praktiken der Regierung des Selbst und der Anderen. Es geht um die Rekonstruktion von Praktiken, »[…] mit denen man die Strategien konstituieren, definieren, organisieren und instrumentalisieren kann, die die Einzelnen in ihrer Freiheit wechselseitig verfolgen können« (Foucault 1984: S. 901). Weiter zeichnen solche Untersuchungen »[…] Konturen 72
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›produktiver Macht‹ nach, die spezifisches Wissen erzeugt und auf diese Weise Problemdefinitionen und Interventionsfelder des Regierens erst herstellt« (Bröckling und Krasmann 2010: S. 27). Dabei ist zu beachten, dass solche Untersuchungen keine allgemeinen Wahrheiten beanspruchen. Sie offenbaren sich vielmehr als kritisch versierter, stellenweise überspitzter Blick auf den Untersuchungsgegenstand. »Die Machtanalytik bleibt [also] nicht dabei stehen, das heterogene Feld von Machtverhältnissen abstrakt zu beschreiben. Sie versucht auch, die Dynamik sich verändernder Beziehungen zu erfassen.« (Saar 2007: S. 211) Es geht dabei darum, entlang der Achsen Wissen-Macht-Selbstverhältnisse Praktiken zu untersuchen, die »[…] erfahrbare und die Erfahrungen von Individuen prägende Wirklichkeiten« (Vogelmann 2017: S. 13) konstituieren.
Fit In or Stay Out? Blickt man also aus dieser Perspektivierung auf eine Fear oder Joy of Missing Out, erweisen sich diese schnell als möglicherweise unbeabsichtigte Nebeneffekte einer produktiven Macht – als desires to fit in –, die die Gesellschaft am Laufen halten. Um dies genauer verstehen zu können, hilft ein Blick in die Geschichte dieses Zusammenhangs. Einen möglichen Einstieg bieten das Sozialisationsverständnis und dessen Wandel: Als Begriff tauchte ›to socialize‹ erstmals 1828 im Englischen auf und wurde als »to render social, to make fit for living in society« (Geulen 1991: S. 21) begriffen. Deutlich zeigen sich in diesem Verständnis noch eine andere Gesellschaftsformation und die Rolle der Menschen darin. Im Unterschied zur Fear of Missing Out scheint dieses Verständnis noch eine Gesellschaft zu vergegenwärtigen, im Rahmen derer Individuen ›fit‹ gemacht, normiert werden sollten, um in diese zu passen. Gegenwärtig haben sich dieses Verständnis wie auch die Gesellschaf t geändert. Man versteht heute Sozialisation 73
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als produktive Realitätsverarbeitung (Hurrelmann und Bauer 2020: S. 90–105), im Rahmen derer Subjekte qua Entwicklungsaufgaben und derer individuellen Bewältigung sich möglichst eigenverantwortlich und aktiv normalisieren, wobei ›Normalität‹ eben nicht mehr als von außen gesetzte, eindeutige Norm zu verstehen ist, sondern technologie- und medial gestützt f lexibilisiert wird (vgl. Spengler 2018; 2020). Darin zeigt sich sowohl in begriffsgeschichtlicher wie auch modernisierungstheoretischer Perspektive eine zentrale Verschiebung: die Freisetzung von Individuen. Es ist die sich langsam, aber kontinuierlich vollziehende Auf lösung klassischer Lebenslaufregime, die Menschen vor nie dagewesene Möglichkeiten stellt, ihnen aber gleichzeitig die Selbstverantwortung überträgt, dies auch eigenaktiv zu bewerkstelligen. Gesellschaftliche Organisationsformen laufen weniger durch strikte Ge- oder Verbote, sondern stellen Handlungsrahmen – also Freiheiten – zur Verfügung. Verbildlicht am Kontext Schule rückt man zunehmend davon ab, frontal kanonisiertes Wissen zu vermitteln, sondern versucht, Schülerinnen und Schüler kompetent zu machen. Diese sollen weniger eingetrichtertes Wissen wiedergeben, als durch Performanz zeigen, dass sie eigenverantwortlich und motiviert Aufgaben lösen können, fähig sind, mit Problemen umzugehen. Was also zunächst wie ein Gewinn (an Freiheit) daherkommt, so könnte man Deleuze (1993) paraphrasieren, ist selbst wiederum Kontrollmechanismus, Regierungstechnologie. Denn die sich zur Verfügung stellenden Möglichkeiten wollen klug genutzt werden; und hierzu ist Wissen allererste Grundlage. Während auf der einen Seite Wissensbestände getrieben durch die Entwicklung von Informations- und Kommunikationstechnologien kontinuierlich wachsen und von Einzelnen längst nicht mehr vollumfänglich erschließbar sind, sind die Einzelnen auf der anderen Seite dazu gedrängt, aus dem zur Verfügung Stehenden zu wählen und es wettbewerbsfähig produktiv 74
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zu nutzen – auch, um auf den, in Hartmut Rosas Worten, »slipery slopes« einer schrumpfenden Gegenwart nicht abgehängt zu werden. »Wer sich nicht ständig um Aktualisierung bemüht, wird anachronistisch in seiner Sprache, […] seinem Welt- und Sozialwissen, seinen Fähigkeiten […].« (Rosa 2012: S. 190) Damit einhergeht unter dem Begriff »Pädagogisierung« (Pollak und Spengler 2019: S. 41) die Ausweitung des Pädagogischen auf nahezu alle Lebensbereiche; meist in Form von Selbstbeobachtung, -kontrolle und -ref lexion und mit am deutlichsten in rekursiver Form eines Quantified Selfs. Ein Punkt, den auch Foucault für zentral hält: »Man könnte das Problem auch der ›Gouvernementalität‹ unter einem anderen Blickwinkel angehen, nämlich als Herrschaft über sich selbst im Zusammenhang mit den Beziehungen zu den anderen (wie wir sie in der Pädagogik, den Ratgebern zur Lebensführung, der spirituellen Anleitung oder den Anweisungen für ein vorbildliches Leben finden).« (1981b: S. 260) Sichtbar wird dies insbesondere in pädagogischen Programmatiken, Rationalitäten und Technologien; exemplarisch in der Zumutung zum lebenslangen Lernen, dessen über die vergangenen 50 Jahre gewandelten Modalitäten Pongratz folgendermaßen und formelhaft auf den Punkt bringt: »Lebenslang lernen dürfen, können, sollen, müssen – und schließlich wollen.« (2008: S. 163) Zu denken ist hierbei nur an gängige Kompetenzdefinitionen, die den betroffenen Subjekten neben der Fähigkeit auch schon vorab die Bereitschaft, also das Wollen, attestieren. Lernen vollzieht so betrachtet einen Wandel von der Grundlage zur Welterschließung hin zur notwendigen, funktionalistischen Anpassungsleistung an gesellschaftliche Erfordernisse, die lebenslänglich zu aktualisieren ist.
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Fazit: FoMO – eine Masche der Macht? Sich diesem lebenslangen Lernen zu entziehen, würde bedeuten, den Anschluss zu verlieren, nicht mehr mithalten zu können. In Verbindung damit lässt sich eine Fear of Missing Out als weitreichendes gesellschaftliches Organisationsprinzip bzw. als Subjektivierungsform greifen und gibt in ihren Mikropraktiken Aufschlüsse über Makrophänomene. Ebenso zeigt sich, dass eine Joy of Missing Out nicht das grundlegende Problem angeht, sondern es stabilisiert und Individuen zuschreibt. Die kurze Freude des bewussten Verzichts verkennt, dass auch währenddessen der Informationsstrom am Fließen bleibt und auch die vermeintliche Achtsamkeit bleibt ambivalent. »Die alleinige Verantwortung für das effektive Management subjektiver Ressourcen liegt beim Individuum, das nicht einfach überfordert ist, sondern überfordert wird und das dieser Überforderung nur durch Arbeit an sich selbst begegnen kann.« (Hardering und Wagner 2018: S. 274 f.) Das Sich-Leisten-Können einer Auszeit vom Informationsfluss erscheint dann eher als Statuslegitimation, eben nicht (so sehr) auf diesen angewiesen zu sein. Denn ›reinpassen‹ kann nur, wer informiert ist und auf dem Laufenden bleibt. Die Angst, den Anschluss zu verlieren und abgehängt zu werden, betrifft nicht nur wenige Einzelne. Sie evoziert einen leistungsbezogenen, also nur vermeintlich bedingungslosen Willen zum Wissen, der dafür Sorge trägt, dass die Einzelnen das gerade Beste für sich herausholen. In der hier akzentuierten Perspektivierung verweist das Phänomen FoMO also auf weiterreichende Fragestellungen und eine konstitutive Aporie, die die Pädagogik als Praxis wie Wissenschaft mindestens seit der Aufklärung beschäftigen: Wie schafft man es, dass Menschen wollen, was sie sollen? Warum will man, was man soll? Und damit andererseits: Muss man immer wollen, was man soll? 76
Machtanalytik
Zum Weiterlesen Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.) (2015): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. 7. Auf l. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2005): Analytik der Macht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Spengler, Andreas (2020): »Vernetzung als Subjektivierungsform. Konturierung einer Forschungsperspektive«. In: Jens Holze/ Dan Verständig/Ralf Biermann (Hg.). Medienbildung zwischen Kollektivität und Subjektivität. Ref lexionen im Kontext des Digitalen. Wiesbaden: VS, S. 59–75.
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Pragmatisches Dilemma Jugendliche DaZ-Lerner*innen zwischen dem gleichzeitigen Anspruch sprachlichen und fachlichen Lernens Julia Ricart Brede In meinem Beitrag möchte ich ausführen, inwiefern jugendliche Seiteneinsteiger*innen mit Deutsch als Zweitsprache (kurz: DaZ) im Bildungssystem besonderem Stress ausgesetzt sind und inwiefern die (scheinbare) Unlösbarkeit der Situation dazu führt, dass sich die Schüler*innen (gefühlt) in einem pragmatischen Dilemma befinden. Hierzu werde ich zunächst erläutern, was die Gruppe der Seiteneinsteiger*innen kennzeichnet und was unter einem pragmatischen Dilemma zu verstehen ist, bevor ich darauf folgend darzulegen versuchen werde, inwiefern sich jugendliche Seiteneinsteiger*innen einem solchen Dilemma gegenübersehen, weil die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen als nicht hinreichend empfunden werden, um die Stresssituation – die es in diesem Zusammenhang ebenfalls zu beschreiben gilt – in der zur Verfügung stehenden Zeit zu bewältigen.
Die Gruppe der Seiteneinsteiger*innen In meinen Ausführungen bezeichne ich solche Schüler*innen als Seiteneinsteiger*innen, die ›von der Seite her‹ in das deutsche Schul- und Bildungssystem ›einsteigen‹, dieses also nicht von Beginn an durchlaufen, und die zum Zeitpunkt ihres Seiteneinstiegs erstens über keine oder nur geringe Kenntnisse in der Zweitsprache Deutsch verfügen und sich zweitens bereits im Schulalter befinden. Durch die erstgenannte Einschränkung schließe ich demzufolge bspw. Schüler*innen aus, die aus einem 81
Julia Ricart Brede
anderen deutschsprachigen Land wie Österreich nach Deutschland migrieren – auch wenn Sprachgebrauch sowie Transitionsund Migrationserfahrungen dieser Schüler*innen ohne Frage ebenfalls interessante Forschungsgegenstände darstellten. Die zweitgenannte Einschränkung hat zur Folge, dass die Seiteneinsteiger*innen i. d. R. bereits über Schulerfahrungen verfügen – aus ihren Herkunftsländern und teilweise auch aus Transitländern. Einschränkend sei hierzu allerdings angemerkt, dass, »soweit es sich bei d[ies]en SchülerInnen um Geflüchtete handelt, […] diese Schulerfahrung jedoch durch eine längere Fluchtbiographie unterbrochen sein [kann] oder auch völlig fehlen [kann]« (Ahrenholz, Ohm und Ricart Brede 2017: S. 246). Häufig wird zur Beschreibung des Seiteneinstiegs von DaZ-Lerner*innen in das deutschsprachige Bildungssystem aufgrund der zahlreichen Herausforderungen, die es dabei in äußerst knapper Zeit zu bewältigen gilt, das Bild des »Aufspringen[s] auf einen fahrenden Zug« (Maak 2014: S. 319, auch Liebe-Harkort 1981: S. 4) bemüht. Auf dieses Bild werde ich in meinem Beitrag noch mehrfach zurückkommen.
Pragmatische Dilemmata als Belastungssituationen Zunächst jedoch zum theoretischen Rahmen und damit zum Dilemma-Begriff: Ein Dilemma bezeichnet eine Situation, in der sich zwei Möglichkeiten bzw. Handlungsoptionen bieten, die allerdings beide in gewisser Hinsicht zu einem unerwünschten Resultat führen (vgl. Regenbogen und Meyer 2013: S. 151 f.). Aufgrund der Unmöglichkeit, zu einer gänzlich zufriedenstellenden Lösung zu gelangen, wird die Situation paradoxerweise trotz der beiden sich bietenden Handlungsalternativen i. d. R. als ausweglos und belastend empfunden. Dieses negative Empfin82
Pragmatisches Dilemma
den kann dabei zu verschiedenen Zeitpunkten der Situationsbewältigung virulent werden: So kann die Situation bereits während des Entscheidungsprozesses, d. h. beim Abwägen der beiden unzulänglichen Handlungsalternativen und noch bevor überhaupt einer der beiden Wege beschritten worden ist, als ausweglos empfunden werden. Im Extremfall mündet die Situation dann in einem sog. Deadlock, d. h. es wird keine der beiden Alternativen ergriffen und es findet keine Handlung statt (vgl. hierzu auch Rescher 1960). Aber auch ›auf dem Weg‹, d. h. selbst wenn eine der beiden Alternativen gewählt und somit ein Weg beschritten worden ist, kann die Unzulänglichkeit der gewählten Handlungsoption immer wieder oder sogar fortwährend als belastend wahrgenommen werden. Damit sind Dilemmata geradezu prädestiniert dafür, um Stress auszulösen und individuell zu einem Stresserleben zu führen. So kommt es gemäß Lohaus dann zu einem Stresserleben, »wenn die Ausgangslage als potenziell stresserzeugend bewertet wird und wenn gleichzeitig die Bewältigungsressourcen als nicht hinreichend bewertet werden, um dem ausgelösten Stress zu begegnen.« (Lohaus 2018: S. 812) Dilemma-Situationen haben häufig eine ethisch-moralische Dimension. Ein Beispiel hierfür ist die strukturierte Triage, d. h. die aufgrund unzureichender Ressourcen notwendige Priorisierung medizinischer Hilfeleistungen. Andere Dilemmata haben keine derartige ethisch-moralische Implikation, kennzeichnend ist für sie aber dennoch, dass keine Entscheidung und damit letztlich keine Handlung zu einem gänzlich zufriedenstellenden Ergebnis führt. Um derartige Dilemmata von solchen abzugrenzen, deren Problem ethisch-moralischer Natur ist, spreche ich hierbei von pragmatischen Dilemmata. 83
Julia Ricart Brede
In welcher Hinsicht jugendliche Seiteneinsteiger*innen besonderem Stress ausgesetzt sind bzw. inwiefern sie sich sogar einem pragmatischen Dilemma gegenübersehen, möchte ich im Folgenden ausführen. Damit greife ich den von Henkel et al. (2018: S. 166) im Kontext der Nachhaltigkeitsdebatte unternommenen Versuch auf, den Dilemmata-Ansatz fruchtbar zu machen, um etwaige Lösungspotentiale mit Blick auf gesellschaftliche Herausforderungen zu eruieren.
Seiteneinsteiger*innen zwischen dem gleichzeitigen Anspruch fachlichen und sprachlichen Lernens Arnold Lohaus (2018: S. 812) unterscheidet an potentiellen Stressoren für Schüler*innen zwischen alltäglichen Stressoren (dazu zählen bspw. Streitigkeiten mit Mitschüler*innen), Stressoren, die auf Entwicklungsaufgaben zurückzuführen sind, und solchen Stressoren, die kritischen Lebensereignissen geschuldet sind. Zu letzteren würde denn auch die Migration zählen, die für die jugendlichen Seiteneinsteiger*innen eine Kaskade an zu bewältigenden Anforderungen nach sich zieht, um im deutschen und vor allem im deutschsprachigen (!) Schul- bzw. Bildungssystem erfolgreich bestehen zu können. Vor allem besteht die Anforderung, die deutsche Sprache möglichst rasch so zu erwerben, dass eine Partizipation im Fachunterricht möglich ist. Hierfür bedarf es eines strukturierten Unterrichts in Deutsch als Zweitsprache, weshalb Seiteneinsteiger*innen in Bayern zunächst in sog. Deutschklassen beschult werden, in denen der Deutscherwerb im Mittelpunkt steht. Auch wenn die zur Verfügung stehenden Ressourcen zur Bewältigung der einzelnen Problemsituationen und kritischen Ereignisse individuell unterschiedlich aussehen (mit Blick auf die hier fokussierten Seiteneinsteiger*innen abhängig von ihrer bereits gesammelten Schulerfahrung, von ihren intellektuellen 84
Pragmatisches Dilemma
Ressourcen, von den ihnen verfügbaren Lernstrategien, von ihrer Selbstwirksamkeitserwartung, von ihrer emotionalen Verfasstheit u. d. m.), also auch wenn große Unterschiede in Bezug auf die individuellen Bewältigungsressourcen bestehen, ist doch davon auszugehen, dass die Gesamtsituation inklusive der darin an sie gestellten Anforderungen und Erwartungen von vielen Seiteneinsteiger*innen als stresserzeugend bewertet wird. In Interviews, die Kolleg*innen und ich im Rahmen des EVASek-Projektes (vgl. Ahrenholz, Ohm und Ricart Brede 2017) mit jugendlichen Seiteneinsteiger*innen geführt haben, kam dies vielfach und sehr eindrücklich zum Ausdruck. Ein besonderer Stressor stellt dabei das im Folgenden skizzierte Dilemma dar: Während die Seiteneinsteiger*innen Deutsch lernen, um dem sog. Regel- oder Fachunterricht sprachlich folgen zu können, schreitet der Unterricht in der Regelklasse für die gleichaltrigen Peers weiter voran. Soll heißen: Je mehr Zeit die jugendlichen Seiteneinsteiger*innen im DaZ-Unterricht mit dem Erwerb der deutschen Sprache zubringen, desto mehr Unterrichtsstoff versäumen sie derweil in anderen Fächern wie bspw. Biologie, Geographie, Geschichte, Mathematik, Politik – die Liste ließe sich fortsetzen. Hinzu kommt, dass das Curriculum vieler Unterrichtsfächer stark landesspezifisch bzw. kulturell geprägt ist – dies gilt in Bezug auf die heimische Flora und Fauna, die im Biologieunterricht auf den Plan gerufen wird, betrifft aber ebenso die im Geschichts- oder Politikunterricht fokussierten Ereignisse. Erforderlich ist daher ein sowohl in sprachlicher wie in fachlicher Hinsicht akzelerierter Wissenserwerb. Dies ist bereits an und für sich eine Herausforderung und eben Grund dafür, dass für den Seiteneinstieg das Bild des Aufspringens auf einen fahrenden Zug gewählt wird. Potenziert wird die Herausforderung nun allerdings noch insofern, als die Fokussierung auf den Spracherwerb als Voraussetzung dafür, dem Fachunterricht dann überhaupt folgen zu können, impliziert, dass der im 85
Julia Ricart Brede
Bild bemühte Zug (der in diesem Fall für den Fachunterricht mit seinen Inhalten steht) an den Schüler*innen vorbeizieht und ein Seiteneinstieg weiter erschwert wird. Es gilt dann also nicht mehr nur, auf den fahrenden Zug aufzuspringen, sondern den Zug ziehen zu lassen, zunächst die Fahrkarte in Form der notwendigen Deutschkenntnisse zu erwerben, um dann quasi auf der Überholspur zum bereits vorbeigezogenen Zug aufzuschließen und schließlich aufspringen zu können. Insbesondere sofern bislang gar keine oder nur kaum Schulerfahrungen vorliegen, misst die Länge der Überholspur bis zum Erreichen des anvisierten Zugabteils dabei vermutlich nicht nur eine Sprintdistanz von 100 Metern, sondern gleicht eher einer über 40 km langen Marathonstrecke. Eine immense, ja geradezu unmöglich zu meisternde Herausforderung! Wird der alternative Weg gewählt und ein Zugeinstieg ohne vorigen Fahrkartenerwerb gewagt – d. h. wird der Versuch unternommen, ohne zuvor die erforderlichen Deutschkenntnisse erworben zu haben, direkt am Fachunterricht teilzunehmen – so wird die Zugfahrt aus anderen Gründen zur Herausforderung: Die Durchsagen und Anzeigetafeln im Zug bleiben für die Seiteneinsteiger*innen dann weitestgehend unverständlich; überhaupt ist die Zugfahrt für sie (nicht nur) in diesem Fall sehr viel anstrengender als für die übrigen Mitschüler*innen, die sich bereits im Zugabteil orientiert und ihre Sitzplätze eingenommen haben. Seiteneinsteiger*innen hingegen müssen sich nach dem Zustieg zunächst zu einem Sitzplatz durchkämpfen – je weniger gern sie das jeweilige Fach mögen oder je weniger gut ihnen das jeweilige Fach liegt, desto weiter und anstrengender ist der Weg bei voller Fahrt auf möglicherweise kurvenreicher Strecke von der Waggontür bis zu einem Sitzplatz. Ein Straucheln ist wahrscheinlich, ein Stürzen möglich – doch wären beides lediglich Kollateralschäden, sofern immerhin ein Sitzplatz erreicht wird. 86
Pragmatisches Dilemma
Kurzum: Wenden sich die Schüler*innen intensiv der einen Aufgabe (bspw. dem Spracherwerb) zu, bleibt die andere (in diesem Fall das fachliche Lernen) ›auf der Strecke‹ – ein pragmatisches Dilemma. Eine Besonderheit am skizzierten Dilemma ist freilich, dass die Seiteneinsteiger*innen selbst nicht am Entscheidungsprozess beteiligt werden. D. h. vor die Entscheidung, entweder zunächst intensiv Deutsch zu lernen und dann die Auf holjagd im Fachunterricht aufzunehmen oder alternativ quasi ›im Blindf lug‹ am Fachunterricht teilzunehmen und die deutsche Sprache ›en passant‹ zu lernen, werden sie gar nicht gestellt. Denn welche der beiden Alternativen gewählt wird, ist durch die Beschulungsstrukturen bereits vorgegeben. Interessanterweise haben sich die einzelnen Bundesländer in Bezug auf diese Strukturfrage nicht einheitlich entschieden – ein Hinweis darauf, dass eben beide Alternativen unzulänglich sind: Bspw. hat Bayern, wie bereits erwähnt, die Variante der vorgeschalteten Deutschklassen gewählt, wohingegen in NRW u. a. nach dem sog. ›Go-In-Modell‹ vorgegangen wird, das eine Direktintegration in den Regelunterricht vorsieht (vgl. dazu auch Fuchs, Birnbaum und Ahrenholz 2017). Auch wenn damit ein Deadlock verhindert wird, indem die Seiteneinsteiger*innen zumindest ›irgendwie‹ auf den Weg geschickt werden, so ist dennoch anzunehmen, dass die Schüler*innen die Unzulänglichkeit der jeweils gewählten Handlungsalternative spüren und als belastend und stresserzeugend empfinden.
Mögliche Lösungsansätze? Im Folgenden möchte ich nun allerdings nicht näher auf die Frage eingehen, über welche Bewältigungsressourcen und -strategien die Schüler*innen selbst verfügen, um diesem Dilemma bestmöglich begegnen zu können und mit dieser Stresssituation umzugehen. Vielmehr möchte ich danach fragen, welche Mög87
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lichkeiten seitens der Institution Schule in Form von Lehrkräften und Schulleitungen, aber auch seitens der Bildungspolitik bestehen, um die Seiteneinsteiger*innen bestmöglich zu unterstützen. Bildlich gesprochen geht es um die Frage, wie die Zugfahrt für die Seiteneinsteiger*innen möglichst barrierefrei und angenehm gestaltet werden kann. Ich werde dabei auf zwei Aspekte eingehen: nämlich auf die Strukturen und auf die Unterrichtsgestaltung. Strukturell gilt es m. E. zunächst zu fragen, auf welchen Zug und in welches Abteil die Schüler*innen aufzuspringen haben: Handelt es sich um einen ICE? Oder um eine Regionalbahn? Und können die Seiteneinsteiger*innen auch einige Abteile vorüberziehen lassen, um dann erst ein wenig weiter hinten zuzusteigen? Die Frage nach der Zugart soll ein Bewusstsein für die Schulform schaffen, der die jugendlichen Seiteneinsteiger*innen zugewiesen werden. In Bayern ist dies in der Regel entweder die Mittelschule oder eine berufsbildende Schule. Realschule oder Gymnasium scheiden meist aus – weil dort keine Deutschklassen vorgesehen sind. Eine klare Form institutioneller Diskriminierung (vgl. dazu auch Gomolla 2009, Gomolla 2016). Je älter die Seiteneinsteiger*innen zum Zeitpunkt der Migration nach Deutschland sind und je weniger Zeit demnach bis zum Schulabschluss bleibt, desto virulenter wird die Frage nach der Schulform. Daten aus dem bereits erwähnten EVA-Sek-Projekt zeigen, dass ein Einreisealter von 16 Jahren in diesem Zusammenhang den Wendepunkt markiert: Ab diesem Zeitpunkt werden die Schüler*innen sehr viel häufiger an berufsbildende denn an allgemeinbildende Schulen verwiesen. Dort bleibt mehr Zeit für die ›Auf holjagd‹ in sprachlicher und fachlicher Hinsicht – und zugleich scheint der Wissenserwerb hier nicht derart akzeleriert wie bspw. auf einem allgemeinbildenden Gymnasium. Gleichwohl gilt es zu bedenken, dass mit der Zuweisung zu einer bestimmten Schulart eine erste Wei88
Pragmatisches Dilemma
chenstellung mit Blick auf den künftigen Berufs- und Lebensweg erfolgt. Auch davon berichteten die im EVA-Sek-Projekt befragten Jugendlichen im Übrigen teilweise in den Gesprächen, zumal wenn sie sich aufgrund einer hohen Bildungsaspiration weniger in einer Ausbildung als vielmehr in einem Studium gesehen hätten. Selbstverständlich ist es auch noch zu einem späteren Zeitpunkt, also nach erfolgreich abgeschlossener Berufsausbildung, möglich, ein Studium zu ergreifen – doch ist der Weg lang und es braucht dafür einen besonders langen Atem – sozusagen eben das Leben auf der Überholspur. Die Frage nach dem richtigen bzw. möglichen Zugabteil verweist auf die Klassenstufe. Um die Dinge zumindest ein wenig zu entschleunigen, wird häufig in Erwägung gezogen, Seiteneinsteiger*innen eben nicht altersentsprechend einer Klasse zuzuweisen, sondern sie in eine darunterliegende Klassenstufe zu integrieren. Eine Rückstufung in Form von ein oder eventuell auch zwei Jahren mag in vielen oder einigen Fällen sinnvoll sein, doch je größer der Altersabstand zu den Mitschüler*innen in der Regelklasse wird, desto schwieriger wird auf der anderen Seite die soziale Integration in den Klassenverband. Für das Jugendalter und die Phase der Adoleszenz dürfte dies in potenzierter Form gelten. So viel zu den Strukturen, die demnach nur sehr bedingt ›Lösungsansätze‹ bereithalten. Mit Blick auf die Gestaltung des Unterrichts wird der sog. sprachsensible Fachunterricht (vgl. Daberkow 2017) mitunter verheißungsvoll als Ausweg angeführt, um der Anforderung gerecht zu werden, zugleich sprachliches und fachliches Lernen zu bewältigen. Vermag ein sprachsensibler Fachunterricht das Dilemma tatsächlich aufzuheben? Ein sprachsensibler Fachunterricht ist ein Fachunterricht, in dem die Lehrkraft den Anspruch hat, sprachlich sensibel zu agieren, und die Schüler*innen nicht nur behutsam an die Denkstrukturen, sondern auch an den jeweiligen Sprachgebrauch 89
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des Faches heranzuführen. Als Teil dessen gilt es, sprachliche Lernziele klar zu formulieren, die sprachlichen Stolpersteine in Fachtexten oder Aufgaben zu erkennen und den Schüler*innen entsprechend ihres Lernstandes Unterstützung zuteilwerden zu lassen, so dass sie die Aufgaben lösen und die Lernziele erreichen können. Übertragen auf die Zugfahrt-Metapher wäre ein sprachsensibler Fachunterricht an mehrsprachigen Zugdurchsagen und Anzeigetafeln erkennbar, aber auch an einer guten WLAN-Verbindung, durch die es den Reisenden möglich wird, selbständig Dinge nachzuschlagen – und zwar in Texten, die in Sprachen ihrer Wahl verfasst sind. Auch die Lehrkraft in Form des Zugbegleiters bzw. der Zugbegleiterin könnte in dieser Analogie jederzeit per Knopfdruck gerufen und um Auskunft oder Unterstützung gebeten werden. All das klingt in der Theorie gut und ich selbst bin auch unbedingt dafür, dass Lehrkräfte ihren Fachunterricht sprachsensibel gestalten sollten, doch darf m. E. nicht verkannt werden, dass Lehrkräfte (die Zugbegleiter*innen) hierfür entsprechend qualifiziert sein müssen. Hinzu kommt, dass selbst bei einer sprachsensiblen Unterrichtsgestaltung zumindest grundlegende Deutschkompetenzen auf Seiten der Lernenden vorhanden sein müssen, damit die Partizipation am Fachunterricht sinnvoll möglich ist. Insofern kann ein sprachsensibler Fachunterricht eventuell als ausgestreckte Hand bezeichnet werden, die den Schüler*innen helfen kann, nachdem der Sprint zum entsprechenden Zugabteil bzw. der Weg zum Sitzplatz endlich bewältigt worden ist – aber mehr denn leider auch nicht. Dennoch mag die Erfahrung, dass einem symbolisch eine Hand gereicht wird und dass man im Zug als Reisender willkommen ist, emotional stärkend wirken und deshalb einen positiven Einf luss auf die Stressbewältigung bzw. für das Bewältigen der langen und anstrengenden Zugreise haben. Da jugendliche Seiteneinsteiger*innen neben den lernbedingten Stressoren i. d. R. mit einer 90
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ganzen Reihe weiterer Stressoren (bspw. die soziale Integration, mitunter aber auch die Bleibeperspektive betreffend) umzugehen haben, könnte dies für sie in besonderer Weise gelten.
Fazit Jugendliche Seiteneinsteiger*innen stehen beim Eintritt in das deutsche Bildungssystem großen Herausforderungen und im Besonderen dem Dilemma gegenüber, gleichzeitig in möglichst rascher Zeit sowohl die deutsche Sprache zu lernen als auch in den einzelnen Sachfächern fachlich aufzuschließen. Auch wenn dieses Dilemma, das sich durch die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Anforderungen ergibt, nicht lösbar ist, d. h. auch wenn das kräftezehrende Aufspringen auf den fahrenden Zug von den Seiteneinsteiger*innen in jedem Fall bewältigt werden muss – ob nach Fahrkartenkauf mit Sprinteinlage oder ohne Fahrkarte als ›blinde*r Passagier*in‹ –, so sollte doch zumindest alles daran gesetzt werden, die Zugfahrt so reibungslos und angenehm wie möglich zu gestalten, d. h. bereits im Bahnhof, aber dann auch im Zug sollte bestmögliche Orientierung geboten werden und der Zug sollte auf jeden Fall über gut ausgebildetes Zugpersonal verfügen und ein gut bestücktes BordRestaurant zur gelegentlichen Stärkung vorhalten.
Zum Weiterlesen Fuchs, Isabel/Birnbaum, Theresa/Ahrenholz, Bernt (2017): »Zur Beschulung von Seiteneinsteigern. Strukturelle Lösungen in der Praxis«. In: Isabel Fuchs/Stefan Jeuk/Werner Knapp (Hg.). Mehrsprachigkeit. Spracherwerb, Unterrichtsprozesse, Seiteneinstieg. Beiträge zum 11. Workshop »Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund«. Stuttgart: Fillibach bei Klett, S. 259–280. Liebe-Harkort, Klaus (1981): »Seiteneinsteiger = Seiteneinsteiger?« In: Ausländerkinder 2, 4, S. 4–8.
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Pragmatisches Dilemma Henkel, Anna/Bergmann, Matthias/Karafyllis, Nicole/Siebenhüner, Bernd/Speck, Karsten (2018): »Dilemmata der Nachhaltigkeit zwischen Evaluation und Ref lexion. Begründete Kriterien und Leitlinien für Nachhaltigkeitswissen«. In: Nico Lüdtke/Anna Henkel (Hg.). Das Wissen der Nachhaltigkeit. Herausforderungen zwischen Forschung und Beratung. München: oekom, S. 147–172. Liebe-Harkort, Klaus (1981): »Seiteneinsteiger = Seiteneinsteiger?« In: Ausländerkinder 2, 4, S. 4–8. Lohaus, Arnold (2018): »Stress in der Schule«. In: Detlef H. Rost (Hg.). Handwörterbuch Pädagogische Psychologie. 5. Auf l. Weinheim: Beltz, S. 809–817. Maak, Diana (2014): »›es Wäre SCHÖN, wenn es nich (.) OFT so diese RÜCKschläge gäbe‹ – Eingliederung von Seiteneinsteiger Innen mit Deutsch als Zweitsprache in Thüringen«. In: Bernt Ahrenholz/Patrick Grommes (Hg.). Zweitspracherwerb im Jugendalter. Berlin: De Gruyter, S. 319–337. Regenbogen, Arnim/Meyer, Uwe (2013): »Dilemma«. In: Dies. (Hg.). Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg: Felix Meiner Verlag, S. 151–152. Rescher, Nicholas (1960): »Choice Without Preference. A Study of the History and of the Logic of the Problem of ›Buridan’s Ass‹«. In: Kant-Studien, 51, S. 142–175.
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Coping-Strategien von Frauen in Führung Kohärenzgefühl im Umgang mit Stress Claude-Hélène Mayer
Einleitung zum Kontext und Frauen in Führung Die schnellen Veränderungen in der Welt durch Maßnahmen von Arbeit 4.0 und der 4. Industriellen Revolution, zunehmender Digitalisierung, künstlicher Intelligenz, maschinellem Lernen, komplexen globalen Interaktionen und vernetzter Zusammenarbeit bringen neue Herausforderungen an die Arbeitswelt und die Führungskräfte mit sich (Nikitina und Lapina 2017; Schwab 2017). Führungskräfte brauchen neue Kompetenzen, um sich geeignet und schnell auf neue Ereignisse einzulassen, globale Komplexitäten im Blick zu haben und dabei f lexibel und gesund zu bleiben (Mendenhall et al. 2012). Führung in Zeiten globaler Herausforderungen hat zudem noch einmal in den Blick gerückt, dass Führung mehr braucht als nur den Verweis auf Leistung und Unternehmensstärke, es bedarf vor allem auch Empathie, das Einbeziehen von emotionaler Intelligenz und mentaler und körperlicher Gesundheit von Mitarbeitenden (Mayer 2011; Minárová, Malá und Smutný 2020). Im Folgenden wird aus qualitativer, hermeneutischer Forschungsperspektive der Frage nachgegangen, was Frauen in Führung gesund erhält und was ihnen dabei behilf lich ist, mit Herausforderungen bei der Arbeit gesunderhaltend und gesundheitsfördernd umzugehen. Dabei wird anhand einer Fallstudienmethodik aufgezeigt, was Frauen in Führungspositionen hervorheben, das sie gesund erhält. Es stellt sich die Frage, wie Frauen in Führungspositionen während des rasanten gesellschaftlichen Wandels mit Gesundheit am Arbeitsplatz umgehen und welche Coping-Strategien sie entwickeln, um mit Stress umzugehen. 95
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Für diese Studie wurden Frauen in Führungspositionen in einem deutschen Ingenieurunternehmen befragt, in dem überwiegend Männer arbeiten. Letztlich nahmen 15 Frauen in Führungspositionen an der Untersuchung teil, die entweder im oberen, mittleren oder unteren Management Positionen im Unternehmen besetzen. Die Untersuchung beinhaltete halb-strukturierte Interviews von ein bis zwei Stunden, die im Unternehmen durchgeführt wurden. Die Auswertung wurde mit dem Programm Atlas-ti durchgeführt auf Basis einer Inhaltsanalyse nach Terre-Blanche, Durheim und Kelly (2006). In dem vorliegenden Kapitel werden lediglich Teile der Ergebnisse der Gesamtuntersuchung vorgestellt. Die Studie folgte qualitativen Qualitätskriterien und den üblichen ethischen Standards qualitativer Studien. Die Forschungsfragen, die in diesem Kapitel beantwortet werden, sind folgende: Welche Lebensorientierung von Frauen in Führung trägt zur Gesundheit am Arbeitsplatz bei? Wie stellen Frauen in Führung ihre Einstellung zu den drei Kohärenzkomponenten dar? Zuerst wird ein Fall zu Frauen in Führung dargestellt, dann werden Aspekte zur Salutogenese und Frauen in Führung beleuchtet. Schließlich wird ein Fazit gezogen.
Falldarstellung: Frauen in Führung Das Thema der Gesundheit am Arbeitsplatz ist durch Covid-19 weiter in den Blick von Organisationen und Führungskräften gerückt. Unterschiedliche Autoren haben darauf hingewiesen, dass es gerade in Bezug auf Covid-19 zu erheblichen Einbrüchen der mentalen Gesundheit gekommen ist (Ripp, Peccoralo und Charney 2020), wie auch bereits in vorherigen Pandemien (Shigemura et al. 2020). Besonders negativ erlebte Emotionen, wie bspw. Angst oder Depressionen oder das Erleben von vermehrtem Stress, haben 96
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zu erheblichen Gesundheitsbeeinträchtigungen geführt (Jungmann und Witthölft 2020) und Veränderungen der mentalen Gesundheit – insbesondere während des Covid-19-Ausbruchs – konnten festgestellt werden (Sun et al. 2020). Gleichzeitig können wir sehen, dass gerade Frauen als Führungskräfte während der Pandemie in das Interesse von Forschung gerückt sind (Freizer 2020), da sie besonders durch ihre kollaborative Haltung, die Sorge um das Wohl ihrer Mitmenschen und ihre empathische Haltung in der Führung aufgefallen sind (Mclean 2020). Der Zweck dieser vorliegenden Studie war es, die mentale Gesundheit bei Frauen in Führungspositionen in den Blick zu nehmen und deshalb das Kohärenzgefühl (SOC), das die Komponenten Verständlichkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit beinhaltet, bei Frauen in Führungspositionen zu untersuchen. Zudem wurde vorab erforscht, was Frauen in Führung besonders gesund erhält und was ihnen wichtig ist, um ihre Gesundheit zu fördern und zu stützen.
Theoretische Perspektive: Salutogenese und Kohärenzgefühl in Organisationen Frauen in Führung sind mit vielfältigen und hochkomplexen Herausforderungen konfrontiert (Mayer und Oosthuizen 2020; Mayer und May 2021; Sueda et al. 2020). Bei der Bewältigung dieser Herausforderungen ist es ein Ziel der Führungskräfte, gesund zu bleiben (Mayer 2011). Aktuelle Forschungen legen nahe, dass die Gesundheit von Frauen in Führung eher beeinträchtigt ist als die von Männern (Mayer und Van Zyl 2013). Daher ist es besonders wichtig, sich dem Thema in Forschung und auch auf praktischer Ebene anzunehmen, um zu ergründen, was zur Gesunderhaltung von Frauen am Arbeitsplatz aus ihrer eigenen Sicht beiträgt. Mit dem Fokus auf Gesundheit und Wohlbefinden erkannte der Medizinsoziologe Antonovsky (1979, 1987) die Tatsache, dass 97
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Individuen trotz der Anwesenheit überwältigender Stressoren gesund bleiben können. Er entwickelte das Konzept der Salutogenese als Antwort auf die Frage: »Was hält Menschen gesund?« Ein Kernelement der Salutogenese ist das Kohärenzgefühl (Sense of coherence, SOC), einer Lebensorientierung, die als in den historischen und gegenwärtigen soziokulturellen Erfahrungen eines Individuums verankert gilt. Der SOC entwickelt sich im Laufe der Lebenszeit, sofern die allgemeinen Widerstandsressourcen wiederholt, konsistent und regelmäßig vom Individuum erlebt werden können (Rothmann, Jackson und Kruger 2003). Im Gegensatz dazu führen Erfahrungen, die als unvorhersehbar, unkontrollierbar und unsicher erlebt werden, zu einem schwachen SOC und sind mit Mustern von abnehmender Gesundheit verbunden (Morrison und Clift 2006). Das Kohärenzgefühl besteht aus drei Komponenten, nämlich aus dem Gefühl der Verstehbarkeit (in Bezug darauf, wie man die Welt versteht), dem Gefühl der Handhabbarkeit (wie man mit Herausforderungen durch den Einsatz von Ressourcen umgeht) und dem Gefühl der Sinnhaftigkeit (wie man motiviert ist und wie man seinen Lebenssinn definiert). Parallel zum SOC existieren die generellen Widerstandsressourcen (General Resistance Resources, GRR), wobei das spezifische GRR im Arbeitskontext die Arbeitsplatzkontrolle, die Bedeutung der Aufgabe und die sozialen Beziehungen umfasst (Lindström und Eriksson 2006). Da es offensichtlich ist, dass der Arbeitsbereich von dynamischen Veränderungen begleitet wird, die sowohl die Organisation als auch das Individuum betreffen, sollte der Gesundheitsförderung in der Organisation Aufmerksamkeit geschenkt werden. Bauer und Jenny (2017) definieren eine gesunde Organisation als eine solche, die sowohl geringe pathogene (krankheitsbezogene) Prozesse als auch hohe salutogene (gesundheitsbezogene) Prozesse hervorbringt. Der Fokus der organisationalen 98
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Gesundheitsentwicklung sollte entsprechend die Individuen in ihrer Interaktion mit der Organisation in den Blick nehmen, um Gesundheit nachhaltig zu entwickeln. Das Modell der Salutogenese kann als Intervention zur Förderung der organisationalen Gesundheitsentwicklung eingesetzt werden (Bauer und Jenny 2017). Darüber hinaus können diese Interventionen genutzt werden, um Arbeitsanforderungen (arbeitsbezogene Stressoren) und Arbeitsressourcen (arbeitsbezogene GRR) zu adressieren, um ein besseres Gleichgewicht zwischen Stressoren und GRR zu gewährleisten, um die Arbeitserfahrung von Führungskräften zu verbessern (Bauer und Jenny 2017). Unterschiedliche Studien zeigen, dass das Kohärenzgefühl Einf luss auf das Empfinden von Stress am Arbeitsplatz, Burnout, Arbeitsengagement und persönliche Leistungen nimmt (Griffiths, Ryan und Foster 2011). Personen mit einem hohen Kohärenzgefühl engagieren sich bei der Arbeit mehr als Personen mit einem geringen Kohärenzgefühl (Mitonga-Monga und Mayer 2020). Menschen, die ihre Arbeit als strukturiert empfinden, engagieren sich ebenfalls stärker als Menschen, die sie als chaotisch und unstrukturiert erleben (Van der Westhuizen 2018). Weiterhin bestimmt das Kohärenzgefühl auch die Fähigkeit, interkulturelle Kompetenzen am Arbeitsplatz und in der Führung auszubauen und einzubringen (Mayer 2011). Dies geht einher mit weiteren Annahmen, die davon ausgehen, dass Personen mit einem höheren Kohärenzgefühl Stressoren mithilfe von adaptiven Strategien bewältigen (Pallant und Lae 2002) und eher alternative und komplexe Konf liktlösungsmechanismen einsetzen wie Drittparteienintervention und Mediation am Arbeitsplatz (Mayer 2011). Es existieren unterschiedliche, internationale Untersuchungen zu Kohärenzgefühl und Gender, die von höheren Werten von SOC für Männer als für Frauen ausgehen (Antonovsky und Sagy 99
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1985; Lindström und Eriksson 2005). Im südafrikanischen Kontext, bspw., wurde der Befund bestätigt, dass Frauen in männerdominierten Arbeitsumgebungen einen geringeren SOC aufweisen als Männer (Mayer 2011; Oosthuizen 2005). Eine andere südafrikanische Studie hebt einen signifikanten Unterschied in der durchschnittlichen Bedeutsamkeitsbewertung zwischen Männern und Frauen hervor, was darauf hindeutet, dass weibliche Führungskräfte in einem männerdominierten Umfeld höhere Werte in der Bedeutsamkeit, aber niedrigere Gesamt-SOCWerte erzielten (Louw, Mayer und Baxter 2012). Volanen (2011) betont jedoch für den skandinavischen Kontext, dass bestimmte geschlechtsspezifische Faktoren sich auf den SOC auswirken: Keinen Partner zu haben oder seine Fähigkeiten bei der Arbeit nicht nutzen zu können, bedroht den SOC von Männern, während ein Mangel an sozialer Unterstützung dasselbe für Frauen tut.
Salutogenese bei Frauen in Führung Im Folgenden werden kurz die Untersuchungsergebnisse im Überblick dargestellt. Ein Kernelement der Untersuchung ist, dass Frauen in Führung ganzheitlich denken, wenn sie ›gesund‹ denken. Ein ganzheitlicher, gesunder Lebensstil als Grundlage: In dieser Untersuchung antworteten Frauen in Führungspositionen, dass ein ganzheitlicher, gesunder Lebensstil das ist, was besonders zu ihrer Gesundheit im Unternehmen beiträgt. Unter dieser übergeordneten Sicht des gesunden Lebensstils ist es besonders wichtig, dass man andere Menschen so behandelt, wie man selber behandelt werden möchte. Dabei ist ein zentrales Element, dass Menschen miteinander respektvoll umgehen. Ohne einen respektvollen Umgang im Arbeitsleben und in der Organisation ist nach Meinung der Frauen in Führung kein gesundes Arbeitsklima aufzubauen. Gesundheit können Menschen, nach Meinung der besagten Frauen, zu einem Großteil 100
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selber schaffen, indem sie positiv denken und das Positive in ihrem Leben in den Blick nehmen. Gleichzeitig sind sich die Führungskräfte natürlich bewusst, dass es negative und kritische Aspekte im Leben und in der Organisation gibt, sie meinen jedoch auch, dass diese oftmals überbewertet werden. Weiterhin erwähnen sie, dass es besonders wichtig ist, sich gegenseitig zu unterstützen und Netzwerke auszubilden, die gemeinschaftlich dazu beitragen, Erfolg zu haben und die Organisationen weiterzuentwickeln. Diese gegenseitige Unterstützung sollte darauf gebaut sein, dass man für andere im erweiterten Sinn Sorge trägt. Diese Sorge um andere muss jedoch gleichzeitig ausbalanciert werden, mit einem gesunden Bewusstsein und der eigenen, individuellen Kraft, für sich selber und die eigenen Werte einzustehen und zu diesen zu stehen. Dies erscheint gerade in einer Organisation wichtig, da die Grundwerte der Führungspersonen als Pfeiler der gesamten Organisation gesehen werden. Um zu den eigenen Werten zu stehen und diese zu leben, ist es wichtig, eine Selbstsicherheit zu haben, die auch in einem männlich dominierten Umfeld nicht ins Wanken gerät. Gesundheit wird entsprechend geschaffen, wenn eine Person für sich und ihre Interessen eintreten kann und gleichzeitig an sich selber, ihre Karriere, ihre Fähigkeiten und Kompetenzen glaubt. Weiterhin meinen Frauen in Führung, dass sie mit Mitgefühl führen, um sich selber und andere gesund zu erhalten. Das Mitgefühl ist für sie ein Kernelement von Gesundsein oder Gesundung, denn nur eine Person, die Mitgefühl mit sich selber hat, kann auch für andere Mitgefühl empfinden. Verstehbarkeit als Komponente des Kohärenzgefühls: Für Frauen in Führung ist es wichtig, ihren Arbeitsplatz und die Menschen, die in ihm agieren, zu verstehen. Am allerwichtigsten ist dabei, die Menschen in ihren Arbeitskontexten zu verstehen und die Art und Weise, wie sie Beziehungen aufbauen, leben und mit ihnen 101
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umgehen. Weiterhin ist es ihnen wichtig, die Organisationsprozesse zu durchschauen und alle Informationen zu bekommen, die dafür notwendig sind. Um gesund zu bleiben, ist es ihnen auch wichtig, die Transformation am Arbeitsplatz hin zu einer gerechteren und gleichberechtigten Situation nachvollziehen und erleben zu können. Schließlich betonen die Frauen, dass es wichtig für die eigene Gesundheit ist, zu verstehen und anzuerkennen, dass Geschlechtergleichberechtigung noch nicht vorhanden ist und dass es schmerzvoll ist, Diskriminierung zu erleben und die Mechanismen von Diskriminierung zu durchschauen. Handhabbarkeit als Komponente des Kohärenzgefühls: Frauen sind sich ihrer Ressourcen bewusst und sind der Meinung, dass sie besonders gut ihre Arbeit bewältigen können, wenn ihre Beziehungen unterstützend und harmonisch sind. Ihren eigenen Zielen gehen sie nach, indem sie sich persönlich anstrengen und dem Gegenstand der Arbeit widmen, von anderen unterstützt werden und sich frei fühlen, die Arbeit so zu erledigen, wie es wichtig für sie ist. Um gesund zu bleiben, ist es für sie wichtig, ihre Fertigkeiten ausleben zu dürfen, gebildet zu sein und sich immer weiterzubilden, Informationen zu bekommen und diplomatisch und mit Mitgefühl andere zu führen. Sinnhaf tigkeit als Komponente des Kohärenzgefühls: Für Frauen in Führung ist die Sinnhaftigkeit der Arbeit besonders wichtig. Sinnhaftigkeit wird ihrer Meinung nach gestärkt, wenn im Netzwerk gemeinsam gearbeitet und darüber ein Ziel erreicht wird. Im Netzwerk kann dann auch Mentoring stattfinden, das Frauen in Führung auch in ihrem Sinnhaftigkeitsempfinden stärkt. Höhere Sinnhaftigkeit bei der Arbeit führt, nach Frauen in Führung, zu einem besseren Arbeiten mit untergeordneten Mitarbeiter*innen, einem allgemein besseren Gefühl bei der Arbeit, verstärkter Leidenschaft bei der Arbeit und dem Gefühl, dass man durch die Arbeit die eigene Berufung erfüllt. Frauen in Führung meinen, dass all diese Aspekte, wenn sie gegeben 102
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sind, zu ihrer Gesundheit beitragen, dass sie durch sie als Person wachsen und sich entwickeln und dies wiederum Stärke, Wohlbefinden und Gesundheit bringt. Unterstützung durch Organisationen: Insgesamt empfinden Frauen in Führung, dass sie mehr von den Organisationen in ihrer Tätigkeit und in ihren Fähigkeiten unterstützt werden sollten und dass eine stärkere Unterstützung zu ihrer mentalen Gesundheit und zum Wohlsein beitragen könnte. Diese Unterstützung sollte darauf basieren, dass Organisationen eher das Positive als das Negative in den Blick nehmen sollten. Ein besseres Verstehen könnte geschaf fen werden, indem Dialoge zwischen männlichen und weiblichen Führungskräften gefördert werden und Prozesse in den Organisationen, z. B. bezüglich des Karriereaufstiegs, transparenter gestaltet werden. Dabei wäre es wichtig, Diskriminierungen anzusprechen und ihnen gezielt entgegenzuwirken, auf Makro-, Meso- und Mikroebene. Zudem meinen Frauen in Führung, dass ihnen gleiche Ressourcen wie den männlichen Führungskräften zugesprochen werden sollten und dass Organisationen f lexibler und vertrauensvoller geleitet werden müssten, um Frauen, auch in ihren Doppelrollen als Familienmitglieder und Führungskräfte, entgegenzukommen. Schließlich heben Frauen hervor, dass der wichtigste Punkt sei, Sinnhaftigkeit in Organisationen zu schaffen, dass Organisationen verstärkt einen positiven, sozialen und ökologischen Beitrag leisten sollten, um für Frauen in Führungspositionen auch langfristig attraktiv zu bleiben. Werte und Tugenden sollten offengelegt werden und müssten einen Fit mit denen der Frauen bilden. Zudem betonen die befragten Frauen, dass jede Organiation dazu beitragen müsste, das Leben und die Welt zu verbessern, um ein attraktiver Arbeitgeber zu sein.
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Fazit Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Frauen in Führung sich sehr bewusst darüber sind, was sie gesund erhält und was sie gegebenenfalls krank macht. Sie kennen ihre eigenen Coping-Mechanismen und versuchen, das Positive in den Blick zu nehmen und in herausfordernden Zeiten an den Problemen zu wachsen. Sie sehen sich selber als ressourcenvoll an und sind der Auffassung, dass Organisationen proaktiver, als sie es tun, für Gleichheit der Geschlechter eintreten müssen, um aktiv zur Gesundheit von Frauen in Führung beizutragen.
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Stresstests bei Banken: Simulation Kai v. Lewinski Die Resilienz von Banken kann proaktiv durch Simulationen festgestellt werden. Durch solche Stresstests wird geprüf t, ob und wie eine Bank belastende Geschäfts- und Marktsituationen übersteht. Hierfür werden Stressszenarien entworfen und mit bestimmten bilanziellen Kennzahlen durchgespielt. Gleichwohl hat dies die Finanzkrise von 2008 nicht verhindert, was den damals angewandten Kriterien (»Basel II«) zugeschrieben wird (Thiele 2010: S. 127 f f.; Hopt 2019: S. 1773 f.). Aus einer theoretischen Perspektive der kritischen Ref lexion von Taxonomie als Steuerungsressource wird deutlich, dass die Kriterien, nach denen die Bankenaufsicht Stresstests durchführt, zwar das gesamte geprüfte Feld jeweils abschließend abzubilden beanspruchen, dabei aber als Taxonomien notwendigerweise selektiv und daher maßgeblich für Umfang und Art des hervorgerufenen Stresses sind, also auch zu viel, zu wenig oder an falscher Stelle stressen können. Wie sich dies vollzieht, soll nach einer kurzen Darstellung der Funktionsweise der Bankenaufsicht und einer theoretischen Grundlegung zu Taxonomien konkret an der Bankenaufsicht illustriert werden.
Der Fall: Bankenstresstests Stresstests dienen dazu, Einwirkungen auf Systeme zu simulieren und potentielle Auswirkungen zu messen, indem verschiedene Parameter variiert werden. Insbesondere in der Finanzwirtschaft werden sie von Bankaufsichtsbehörden und Zentralbanken als Risikomanagementinstrumente eingesetzt, um die Tragfähigkeit der Finanzsysteme im Falle extremer, aber dennoch plausibler Stressszenarien zu beurteilen. Bei der 109
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Entwicklung der erforderlichen Stabilitätskriterien gibt die Richtung der Basler Ausschuss für Bankenaufsicht vor. Es handelt sich um ein informelles Gremium, das sich seit seiner Gründung 1974 mit der Entwicklung der maßgeblichen Standards befasst. Ihm gehören 45 Zentralbanken und Bankaufsichtsbehörden aus aller Welt an (Basler Ausschuss für Bankenaufsicht 2016), formelle Regeln für Mitgliedschaft und Verfahren gibt es jenseits einer nicht justiziablen selbstauferlegten Charta aber nicht. Rein formell können seine Entscheidungen keine rechtliche Bindungswirkung entfalten (so auch ausdrücklich Ziff. 3 der Charta), was den Ausschuss aber nicht davon abhält, sich selbst als »primary global standard setter« (Ziff. 1 der Charta) zu definieren. In der Praxis kommt seinen Empfehlungen eine ganz erhebliche Bedeutung zu. Insbesondere wenden die deutschen wie europäischen Bankaufsichtsbehörden innerhalb des sog. Einheitlichen Aufsichtsmechanismus (Single Supervisory Mechanism, SSM) bei der Bankenaufsicht Stresstestkriterien an, die auf diese Empfehlungen zurückgehen. Um geeignete Stresstests zu entwickeln, ist ein Risikoprofil als Basis heranzuziehen. Den Empfehlungen des Basler Ausschusses zufolge ist dieses in finanzielle und nichtfinanzielle Gefährdungen zu unterteilen, wobei der Schwerpunkt auf den finanziellen und dort auf Kreditrisiken – also Änderungen der Zahlungsfähigkeit des Vertragspartners – zu liegen hat, da diese die Hauptgefahrenquelle für Finanzsysteme bilden. Die hieraus f ließenden Kriterien haben seit der ersten Basler Eigenkapitalvereinbarung von 1988 (Basel I) Veränderungen erfahren, die sich 2004 in Basel II und insbesondere 2009 infolge der Finanzkrise in Basel III manifestieren. 2017 wurde Basel III mit weiteren Kriterien ›finalisiert‹, nur um schon 2019 durch das ›Basel Framework‹ abgelöst zu werden, das in 14 Einzelstandards zerfällt, die nun unabhängig und in noch kürzeren Intervallen aktualisiert werden. 110
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Die Umsetzung der Vorgaben von Basel III ist auf europäischer Ebene durch die Eigenkapitalrichtlinie 2013/36/EU (CRD IV) und die in Deutschland als EU-Mitgliedsstaat unmittelbar geltende Kapitaladäquanzverordnung 2013/575/EU (CRR-VO) erfolgt; die Umsetzung der Änderungen seit Basel III ist noch nicht abgeschlossen. In Deutschland finden sich diese Vorgaben umgesetzt im Kreditwesengesetz (KWG), in der Solvabilitätsverordnung (SolvV) und v. a. in den Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk). Die MaRisk werden von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) lediglich in Form von informellen Bankenrundschreiben bekanntgegeben, in denen die BaFin ihr Verständnis von § 25a Abs. 1 KWG darlegt, der den Instituten eine »ordnungsgemäße Geschäftsorganisation« vorschreibt. Da die praktische Wirkung dieser Rundschreiben derjenigen von Gesetzen gleichkommt, hat dieses Vorgehen mit Blick auf den Vorbehalt des Gesetzes und die Kompetenzabgrenzung zwischen Legislative und Exekutive Zweifel an Rechtsnatur und Rechtmäßigkeit der MaRisk geschürt (Bauerfeind 2020: S. 112 f.), auf die der Gesetzgeber mit der Schaf fung einer ausdrücklichen Verordnungsermächtigung in § 25a Abs. 4 KWG reagiert hat; diese ist indessen ungenutzt geblieben. Auch die jüngste Fassung der MaRisk erging dessen ungeachtet wieder in Form eines Rundschreibens (Dürselen und Schulte-Mattler 2018: S. 1237 f.). Inhaltlich teilen die MaRisk sich in einen Allgemeinen Teil (AT) und einen Besonderen Teil (BT), wobei AT 4.3.3 MaRisk die regelmäßige Durchführung von Stresstests durch die Bank verlangt. Dieser Stresstest versucht, die zuvor aufgeführten Risiken zu berücksichtigen und anhand dieser die Banken ›zu stressen‹. Das jeweilige Institut muss ausgehend von Art, Umfang, Komplexität und Risikogehalt seiner Geschäftsaktivitäten geeignete übergeordnete Szenarien unter Berücksichtigung von 111
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sowohl institutseigenen als auch marktweiten Ursachen definieren. Dabei muss es deren potentielle Auswirkungen auf die wesentlichen Risikoarten in Kombination mit den Wechselwirkungen zwischen den Risikoarten abbilden. Seit 2009 sind zu diesen internen Stresstests noch externe Stresstests durch die Aufsichtsbehörden wie namentlich der von der Europäischen Zentralbank durchgeführte »Supervisory Review and Evaluation Process« (SREP) nach Art. 97, Art. 100 CRD IV hinzugetreten, bei denen u. a. in einem »Adverse Scenario« (Stressszenario) Kapitalauswirkungen über einen dreijährigen Zeitraum berechnet werden (Bellarz 2020: S. 309). Im Stressszenario wird u. a. die negative Entwicklung des BIP, der Inf lationsrate, der Arbeitslosigkeit und der Kapitalmarktzinsen je Land vorgegeben und anhand dessen der Kernfrage nachgegangen, ob die Eigenkapitalquote der Banken ausreichend ist, um eine erneute Krise zu überstehen. Seit 2016 wurde auf die Vorgabe einer Eigenkapital-Zielquote verzichtet und somit das Urteil im Sinne von ›bestanden‹ oder ›durchgefallen‹ aufgehoben. Die Ergebnisse bleiben deshalb nun ohne direkte Konsequenzen für die Banken.
Perspektive: Taxonomie als Steuerungsressource »›[D]ie Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.‹« (Borges, zit. n. Foucault 1974: S. 17) Diese bewusst irritierende und angeblich chinesische Einteilung (Taxonomie) der Tierwelt stellt Foucault seiner Abhandlung »Die Ordnung der Dinge« voran. Der Leser verzweifelt 112
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an ihr, denn die einzelnen Elemente der Aufzählung verbindet nichts als die Tatsache, dass sie in einer alphabetischen Serie hintereinander genannt werden, wiewohl man doch Gemeinsamkeiten erwartet (Foucault 1974: S. 18). Auf diese Weise wird deutlich, wie sehr Taxonomien das menschliche Denken bestimmen. Durch die Errichtung einer Taxonomie in einem Gebiet werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der eingeteilten Objekte sichtbar, wird aber gleichzeitig die Diskussion über diese Eigenschaften auf die gewählten Unterscheidungskriterien beschränkt. Dem Menschen ist das Denken in Kategorien evolutionär vorgegeben. Die Kategorisierung dient dazu, die sonst unüberschaubar große Fülle von Informationen auf ein für den Einzelnen handhabbares Maß zu reduzieren, d. h. sie dient der Komplexitätsreduktion. Ohne die Einteilung der Welt in Kategorien wäre die Welt ein einziges Chaos, und wir wären überwältigt, wenn jedes einzelne Ding mit einem eigenen Namen versehen werden müsste (Smith und Medin 1981: S. 1; den evolutionären Vorteil durch Kategorieneinteilung betonend Woods 1981: S. 313 f.). Diese Bildung von Kategorien betrifft nicht nur die Erfassung physischer Objekte, sondern auch den Umgang mit abstrakten Konzepten (Smith und Medin 1981: S. 5), d. h. sie durchzieht das menschliche Denken insgesamt. Der von Foucault festgestellte Verengungseffekt ist die notwendige Konsequenz hieraus und wird von der Psychologie unter dem Begriff der Schematheorie erfasst. So ist nachgewiesen worden, dass Menschen, die die Welt unter dem Blickwinkel der Sicherheit betrachten (sog. »Polizistenschema«), deutlich mehr Waf fen zu sehen glauben als andere (Solso 2005: S. 311 f.); was außerhalb des Schemas liegt, wird dagegen eher übersehen. Die Kategorisierung ist allerdings durchaus variabel: Wo Phänomene auftreten, die sich nicht in die bisherigen Kategorien fügen, kann die Taxonomie erweitert werden (vgl. Woods 1981: S. 313 f.; 113
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Smith und Medin 1981: S. 7). Soziologisch betrachtet sind die so angelegten Kriterien Teil der Umwelt in ihr befindlicher sozialer Systeme, die sie zugleich beeinf lussen wie auch von ihr beeinf lusst werden und denen sie die Abgrenzung von der komplexeren Umwelt überhaupt erst ermöglichen (Luhmann 1987: S. 244). Das hat, wie etwa die Vereinheitlichung von Qualitätskriterien für Buchführung zeigt, seinen guten Sinn, läuft aber Gefahr, die Erfüllung der Kriterien zum Selbstzweck ohne Realitätsbezug zu erheben (Power 1996: S. 295). Die mit der Komplexitätsreduktion einhergehende Auswahlentscheidung birgt Gefahren des Informationsverlusts. Besonders deutlich ist das bei der Festlegung naturwissenschaftlicher Messgrößen: Erst, indem man an gewisse Sachverhalte Messkriterien anlegt, ermöglicht man eine sachliche Diskussion über sie unabhängig von Kultur und Ort (Porter 1994: S. 389). Die Auswahl der Messkriterien – sprich: der Kategorien – ist notwendigerweise Komplexitätsreduktion und damit einhergehend Verlust von Aspekten, die in den Kriterien nicht vorkommen. Was nicht Teil der Messtaxonomie ist, fällt unter den Tisch. So war es um der Vergleichbarkeit willen notwendig, bei der wissenschaftlichen Festlegung der Messgröße Temperatur all die Nuancen wegzulassen, die eine ortsunabhängige Messung verunmöglicht hätten (Porter 1994: S. 396 ff.). Die Naturwissenschaften haben die herausgefallenen Kriterien an anderer Stelle berücksichtigt, um das Problem des Informationsverlusts zu vermeiden. Wo das nicht geschieht, drohen Gefahren: Wer etwa in einem Polizistenschema gefangen ist, wittert überall Angreifer. Es ist daher wichtig, bei der Festlegung von Taxonomien eine fachlich qualifizierte Debatte zu ermöglichen. Die in der Wirtschafts- und Umweltprüfung üblichen Berichte z. B. entstehen nach sich beständig verändernden fachlichen Kriterien im Zusammenspiel mit den Geprüften (Power 1996: S. 291 ff.). 114
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Interpretation: Fehlsteuerung durch unvollkommene Taxonomie Eine Aufgabe des Rechts ist seit jeher die Einhegung von Macht. Nach Max Weber bedeutet »Macht […] jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eignen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht« (Weber [1921] 2013: S. 210). Wenn jemandem die Möglichkeit zukommt, eine allgemeinverbindliche Taxonomie aufzustellen, kann er durch die Festlegung der Kriterien gezielt steuern, welche Informationen verloren gehen und welche erhalten bleiben und damit relevant sind. Wenn es nicht mehr am Einzelnen liegt, ob er eine Taxonomie akzeptiert und eine Veränderung dieser Taxonomie für den Einzelnen nicht mehr möglich ist, liegt Machtausübung vor. Das gilt in besonderem Maße, wenngleich nicht nur, für staatlicherseits vorgegebene Taxonomien. Es ist dann Aufgabe des Rechts, die Festlegung dieser Taxonomien in geordnete rechtsstaatliche Bahnen zu lenken. Geschehen ist dies etwa bei der Entscheidung, dass es die Möglichkeit eines positiven Personenstandseintrags des Geschlechts neben dem weiblichen und dem männlichen (»Drittes Geschlecht«) bedarf (Bundesverfassungsgericht 2017: Leitsatz 3; zur Auswirkung der binären Taxonomie auf das Identifikationsverhalten des Einzelnen Kieck 2019: S. 195). Gleichwohl bestehen entsprechende Kategorisierungen noch in vielen anderen Bereichen. So kam es wohl auch aufgrund nicht möglicher Erfassung fünfteiliger arabischer Namen in Polizeidatenbanken zu tragischen Todesfällen, bei denen der Verdacht im Raum steht, dass durch ungenügende Datenstrukturen »als Abbild eines Dr. Jekyll ein Mr. Hyde« (Golla 2019: S. 206 f.; weiterführend v. Lewinski 2020: S. 68 f.) entstanden sein könnte. Erlangen Taxonomien eine derartige 115
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Allgemeingültigkeit, verhält es sich mit ihnen wie mit ausgetretenen Wegen: Es ist schwierig, sie wieder zu verlassen, auch wenn sie vielleicht nicht optimal sind. Soll sich das ändern, muss das Recht eingreifen. Es fällt nicht schwer, in den Bankenstresstestkriterien eine solche Taxonomie zu erblicken. Durch die Basel-Kriterien wird die Stabilität der Banken gemessen. Weil ›Stabilität‹ natürlich ein amorphes und unmessbares Konzept ist, war es notwendig, Messkriterien festzulegen, die Stabilität als Begriff überhaupt diskutabel und operabel gemacht haben. Die Taxonomie der Kriterien führt aber zugleich zur oben beschriebenen Komplexitätsreduktion (und soll es ja auch); denkbare Kriterien, die außerhalb des Kanons liegen, fallen zur Beurteilung aus. Wie die Bankenkrise gezeigt hat, war der dadurch verursachte Informationsverlust auch keineswegs unwesentlich, vielmehr waren die Kriterien von Basel II falsch gewählt: Bis zur Finanzkrise war man in weiten Teilen der Wirtschaft der Meinung, zu optimieren seien Banken (wie alle Unternehmen) vor allem hinsichtlich der Interessen der Aktionäre (shareholders), was sich dann als unzutreffend herausstellte, da Aktionäre oft risikofreudiger sind als Gläubiger (Hopt 2019: S. 1772); man litt also gewissermaßen an einem Shareholder-Schema. Gleichzeitig schätzte man die Gefahr wilder, unvorhersehbarer Kursverläufe aufgrund fehlerhafter Annahmen als zu gering ein (Thiele 2010: S. 137 ff.). Nach den Erfahrungen der Bankenkrise werden nun zumindest die Interessen der Allgemeinheit (stakeholders), namentlich in Form der Finanzmarktstabilität, vom Basler Ausschuss ausdrücklich und in Abkehr vom Shareholder-Prinzip in den Vordergrund gerückt (Hopt 2019: S. 1773). Während man bis dahin Gefahren für die Aktionäre rasch erkannte, war man blind gegenüber den vom Schema nicht erfassten Allgemeininteressen. Die Kriterien von Basel II sahen derlei nicht vor, und weil das geprüfte System sich auf die von seiner Umwelt ange116
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legten Prüf kriterien ausrichtete, schien alles in Ordnung, denn diesen (unzureichenden) Kriterien war ja Genüge getan. Auf diese Weise haben sich zwei ungünstige Entwicklungen gegenseitig verstärkt (Faust und Kädtler 2009: S. 8 f.): Normalerweise hätte aufgrund einer offenen fachlichen Diskussion unter Beteiligung von Prüfern und Geprüften irgendwann auffallen müssen, dass die Kriterien nicht ausreichten. Kritische Stimmen gab es jedenfalls schon vor der Finanzkrise (Thiele 2010: S. 137 ff.). Dass dies nicht geschah, begründet die rechtliche Dimension des Problems. Die von den Bankenprüfern hoheitlich angewandten, gleichwohl oft mangelhaften, häufig revidierten und deshalb Stress verursachenden Stresstestkriterien gingen und gehen letztlich vom Basler Ausschuss aus, auf den die Geprüften keinen Einf luss haben. Im Sinne Webers ist die Festlegung dieser Kriterien damit als eine Machtausübung einzustufen, zu deren Einhegung in Deutschland das Recht berufen ist. Zur Form der Regelung ist darauf zu verweisen, dass die Auswirkungen der Bankenkrise bis hinab zum einzelnen Sparer spürbar waren, was so weit ging, dass die Bundeskanzlerin sich genötigt sah anzukündigen: »Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind.« (F. A. Z. 2008: S. 1) Wie die denkwürdige Intervention der Bundeskanzlerin damals zeigt, können Taxonomien grundstürzende und existentielle Bedeutung haben. Für Vorgaben dieser Art und Schwere hält das Bundesverfassungsgericht die Wesentlichkeitslehre mit der Anforderung eines Parlamentsgesetzes bereit (Kingreen und Poscher 2019: § 6 Rn. 315 ff.; Bundesverfassungsgericht 1978: S. 126 f.). Hieran fehlt es aber: Die Regelung der gemeinwohlorientierten Bankensteuerung, der sog. Governance, wird auf deutscher Ebene stattdessen den nur zweifelhaft legitimierten MaRisk überantwortet. Das Wirken des Basler Ausschusses entzieht sich insgesamt parlamentarischer Kontrolle und ent117
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behrt insoweit einer spezifischen Legitimation (Möllers 2005: S. 382 ff.; Classen 2009: S. 28 ff.). Stattdessen wird verbreitet auf eine formelle Unverbindlichkeit der Basler Beschlüsse verwiesen und darauf, dass diese immer noch demokratischer seien als mancher umsetzende Staat (Barr und Miller 2006: S. 28 ff. und 41 ff.). Angesichts der immensen Bedeutung der Bankenstabilität ist die Bedeutung der Basler Kriterien unbestritten. Was aber noch stärker ref lektiert werden muss, ist, dass es sich bei den Kriterien (Taxonomie) um eine Machtressource handelt. Diese muss nach den demokratischen Kriterien gesetzlich legitimiert oder jedenfalls durch Gesetz eingehegt sein. So könnte man bspw. überlegen, dass der bzw. die demokratisch legitimierte(n) Gesetzgeber den Diskussionsrahmen der entscheidenden Gremien (wie etwa des Basler Ausschusses) schaffen. Ob man sich für eine stärkere politische Einf lussnahme, bestimmte finanzwirtschaftliche Kriterien oder gar fachliche Pluralität entscheidet, ist dann eine politische Frage. Jedenfalls aber sollten die Effekte der Taxonomienbildung, ihre Modellierung und die Ausblendung nicht abgebildeter Aspekte ebenfalls ref lektiert werden, um die Regulierungsrisiken (sog. Risiken zweiter Ordnung) jedenfalls nicht aus dem Blick zu verlieren.
Fazit Die vom Basler Ausschuss festgelegten Stresstestkriterien bilden eine Taxonomie, an der die Banken sich orientieren (müssen). Sie dienen dazu, das ansonsten nicht fassbare Konzept ›Bankenstabilität‹ messbar zu machen, wobei sie sich notgedrungen psychologisch wie soziologisch wie informatisch der Komplexitätsreduktion bedienen. Wie bei allen Taxonomien droht deshalb Informationsverlust: Nicht im Katalog enthaltene Kriterien werden nicht berücksichtigt. Handelt es sich dabei
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um wesentliche Kriterien, wie dies bei Basel II der Fall gewesen war, können weltwirtschaftliche Verwerfungen die Folge sein. Die einseitige Festlegung der Stresstestkriterien durch den Basler Ausschuss stellt überdies eine erhebliche faktische Machtressource dar. Aufgabe des Rechts ist es, derartige Machtpositionen in demokratisch legitimierte Bahnen zu lenken, was im Falle des Basler Ausschusses bisher nicht geschehen ist. Seine wenig rückgekoppelte Stellung und das bezeichnende Fehlen positivrechtlicher Verankerung erscheinen aus verfassungsrechtlicher wie demokratietheoretischer Perspektive defizitär. Dieser Beitrag beruht auf Arbeiten aus dem Forschungsprojekt »Datenräume als Machtressource« aus dem Jahre 2020. Für die umfangreiche Mitarbeit danke ich meinem Assistenten Marvin Gülker. Die nachstehenden »Hinweise zum Weiterlesen« sind jeweils sehr generell und betreffen jeweils nur einen bestimmten Teilaspekt des Beitrags. So behandelt Möllers die demokratischen Defizite des Basler Ausschusses, Luhmann allgemein die Wechselwirkung von System und Umwelt und mein eigener Beitrag betrachtet generell Taxonomien als Machtressource.
Zum Weiterlesen Lewinski, Kai v. (2020): »›Data Spaces‹. Data Structures as a Question of Law«. In: The Global Consitutionalism and the Internet Working Group (Hg.). Don’t Give Up, Stay Idealistic and Try to Make the World a Better Place. Liber Amicorum for Ingolf Pernice. Berlin: Alexander von Humboldt Institute for Internet and Society, S. 65–69. Luhmann, Niklas (1987): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 242 ff.
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Kai v. Lewinski Möllers, Christoph (2005): »Transnationale Behördenkooperation«. In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht [ZaöRV], S. 351 ff.
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Stresstests Foucault, Michel (1974): Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Golla, Sebastian (2019): »Risiken der polizeilichen Informationsordnung«. In: Alexander Dix/Henning Blatt (Hg.). Jahrbuch Informationsrecht 2019. Berlin: Lexxion Verlagsgesellschaft, S. 199–216. Hopt, Klaus J. (2019): »Corporate Governance von Banken und Nichtbanken«. In: Wertpapier-Mitteilungen [WM] 73, S. 1771– 1779. Kieck, Annika (2019): Der Schutz individueller Identität als verfassungsrechtliche Aufgabe. Berlin: Duncker & Humblot. Kingreen, Thorsten/Poscher, Ralf (2019): Grundrechte. Staatsrecht II. 35. Auf l. Heidelberg: C. F. Müller. Lewinski, Kai v. (2020): »›Data Spaces‹. Data Structures as a Question of Law«. In: The Global Consitutionalism and the Internet Working Group (Hg.). Don’t Give Up, Stay Idealistic and Try to Make the World a Better Place. Liber Amicorum for Ingolf Pernice. Berlin: Alexander von Humboldt Institute for Internet and Society. Luhmann, Niklas (1987): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Möllers, Christoph (2005): »Transnationale Behördenkooperation. Verfassungs- und völkerrechtliche Probleme transnationaler administrativer Standardsetzung«. In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht [ZaöRV] 65, S. 351– 389. Porter, Theodore M. (1994): »Making Things Quantitative«. In: Science in Context 7, 3, S. 389–407. Power, Michael (1996): »Making Things Auditable«. In: Accounting, Organisations and Society 21, 2/3, S. 289–315. Smith, Edward E./Medin, Douglas L. (1981): Categories and Concepts. Cambridge/London: Harvard University Press. Solso, Robert L. (2005): Kognitive Psychologie. Heidelberg: Springer Medizin.
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Leibphänomenologie Wenn ein Technologiewechsel zum Identitätsstress wird Julia Sellig Stress hier, Stress dort, Stress beinahe überall – Stress begleitet uns alltäglich und kann so zur Normalität unseres Alltags werden. Wir nehmen ihn aber oftmals wahr und verfügen ebenso über Techniken zur Stressreduktion. Eine solche Stressreduktion erhoffen wir uns u. a. von Technologien. Technologien nutzen wir rund um die Uhr, tragen sie am Körper oder sie dringen gar in uns ein; mehr noch: Wir sind mit der Technologie zu einer Einheit geworden. Eine Sportuhr motiviert so zum Fitnesstraining, Autos erkennen Müdigkeit und ermutigen zur Fahrpause oder auch medizintechnische Sensoren verringern zukünftige Folgeschäden für Erkrankte. Wenn aber Technologie bspw. kaputtgeht, schwindet dieser scheinbare Stressschutz. Wir haben dann wesentlich mehr zu beklagen als nur einen materiellen Verlust: Die entstandene Einheit ist nicht nur funktionslos, sondern sie ist zu einer verletzten Einheit geworden. Eine körperleibliche Reaktion folgt hierauf: ›Identitätsstress‹. Da wir alle mit Technologie-Arrangements unseren Alltag strukturieren, betrifft das Konzept des Identitätsstresses uns alle gleichsam. Was aber genau auf einer körper-leiblichen Ebene in einer Einheit aus Mensch und Technologie geschieht und warum ein Technologiewechsel zu einem Identitätsstress führen kann, soll hier am Fallbeispiel der Medizintechnologie für Diabetiker*innen unter leibphänomenologischer Betrachtung genauer expliziert werden. So wird im folgenden Abschnitt zunächst die Funktionsweise einer bestimmten Medizintechnologie für Diabetiker*in123
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nen – ein Closed-Loop-System – kurz dargelegt. Daran schließt eine Einführung in die Leibphänomenologie von Schmitz ([2009] 2014) an, die Subjektivität als ein leibliches Spüren und Wahrnehmen auffasst und somit die Betrachtungsweise von Beziehungen zwischen Identität und Technologien leibphänomenologisch bereichert. In der darauffolgenden Anwendung wird das Konzept von Identitätsstress exemplarisch herausgearbeitet und auf den gewählten Fall übertragen. Das Fazit schließt die Überlegungen ab.
Der Fall: Medizintechnologien für Diabetiker*innen Zur Behandlung der chronischen Autoimmunerkrankung Diabetes mellitus Typ 1 gibt es verschiedene Medizintechnologien. Egal welche verwendet wird, bleibt es unabdingbar, eine Zuführung des Hormons Insulin sicherzustellen: Insulin sichert das Überleben und minimiert Folgeerkrankungen. Im Folgenden wird ein selbstregulierendes System, das sich aus verschiedenen Medizintechnologien zusammensetzt, als Fallbeispiel herangezogen: ein ›Closed-Loop System‹ (fortan in abgekürzter Form CLS) (Hermanns und Kulzer 2021). Dieses System kann nicht nur als Hilfsleistung dienlich sein und u. a. im Hintergrund ablaufend für einen konstanten Blutzuckerwert trotz Nahrungsaufnahme und individuell gestalteter Wechsel zwischen körperlicher Betätigung und Ruhephasen sorgen, sondern es geht den Erkrankten auch ›unter die Haut‹: Das System besteht aus einer an den Körper gekoppelten Insulinpumpe mit einer Nadel im Unterhautfettgewebe, einem Blutzuckersensor, der ebenso ins Unterhautfettgewebe eindringt und den Blutzucker minütlich ermittelt und schließlich aus einer Steuereinheit (vgl. Hermanns und Kulzer 2021). Das Besondere dieses Systems besteht darin, dass je nach dem aktuellen Blutzuckerwert die jeweils benötigte Insulinmenge automatisch von der Insulinpumpe über Schlauch und 124
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Nadel in den Patient*innen-Körper rund um die Uhr abgegeben wird. Die Insulinpumpe erhält Körper-Daten (Blutzuckergehalt aus Gewebef lüssigkeit) von einem Blutzuckersensor, um eine minütliche Berechnung der notwendigen Insulinzufuhr generieren zu können. Nimmt sie eine zunehmende Veränderung mit Gefahrenpotential wahr, wie eine Unterzuckerung (Hypoglykämie), meldet sich die Insulinpumpe via Alarm und/oder Vibration. Hierauf verlassen sich die Nutzenden und reagieren mit der Betätigung verschiedener Tastenkombinationen auf der Insulinpumpe. Auf dieses Reagieren re-reagiert dann wiederum die Pumpe. Es ist quasi ein Hin- und Herwerfen von Zuständigkeit und damit eine Form von Kommunikation zwischen Nutzer*in und Insulinpumpe. Die Technologie wird also nicht nur inkorporiert – es entsteht vielmehr eine kommunikative, verbundene Einheit. Diese Einheit findet ein jähes Ende, wenn Technologien gewechselt werden können, müssen oder sollen.
Theoretische Perspektive: Leibphänomenologie von Schmitz Für diesen Fall lohnt es sich, die Einheit aus Identität und Technologie einer phänomenologischen Perspektive zu unterziehen. Hierfür liefert die Leibphänomenologie von Schmitz (2014) einen besonderen Anschluss, da Subjektivität bei Schmitz – und in diesem Sinne auch Identität – an ein leibliches Spüren und Wahrnehmen gekoppelt ist (vgl. Fuchs 2000, S. 73, 81). Subjektivität bietet daher eine neue Aufdeckung von Identitätsstress durch vollzogene Technologiewechsel. Der Ausgangspunkt von Subjektivität ist das eigenleibliche Spüren. Schmitz erklärt hieran den Vorgang, wie Gefühle den Menschen ergreifen (vgl. ebd., S. 81). Hierfür stattet er den Phänomenbegriff mit einer inhaltlichen Freiheit aus (vgl. Soentgen 1998, S. 154): Ein Phänomen ist existent, wenn eine x-beliebige Person davon überzeugt ist, dass für diese etwas wirklich ist 125
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(vgl. Soentgen 1998, S. 154 f.). Durch diese phänomenologische Wendung wird es möglich, auch Gegenstände wie bspw. Medizintechnologien aus ihrem Gegenstandszustand herauszuheben. Eine Besitzergreifung durch Gefühle gliedert Schmitz in zwei Vorgänge: In Situationen tritt das Subjekt in sog. Atmosphären ein und wird gestimmt. In diesem passiven Vorgang werden Atmosphären leiblich gespürt und der Leib wird von ihnen in Besitz genommen. Erst durch diesen Moment wird das Atmosphärische zum Gefühl im Menschen selbst (vgl. Schmitz 2019, S. 27). Damit gehen Atmosphären dem Subjekt voraus (vgl. Gugutzer 2008, S. 324). In dieser atmosphärischen Ergriffenheit kann der Mensch sich jedoch auch aktiv gegen diese positionieren. In einer Stellungnahme gelingt es dem Menschen entweder, sich dem Gefühl hinzugeben oder sich diesem und somit der Atmosphäre zu widersetzen (vgl. Schmitz 2019, S. 37 f.). Angemerkt sei hier, dass eine aktive Stellungnahme nicht immer ablaufen kann (vgl. Schmitz [1964] 1998, S. 207 ff.). Verankert ist dieser Vorgang in den Begriffen von Körper und Leib. Der Körper hat nach außen eine scharfe, f lächige Grenze, die sichtbar und ertastbar ist: die Haut. Damit wird der Körper sprachlich fassbar für alle. Anders ist dies beim Leib. Er hat keine solche Haut. Wahrnehmbar wird der Leib über das leibliche Spüren und Wahrnehmen, welches ausschließlich für das fühlende Subjekt selbst sprachlich zugänglich ist. Für diesen weiteren Sinn (vgl. Schmitz [1965] 1982, S. 6) bedarf es keines Nachsehens, Nachfühlens, Nachriechens oder Nachtastens (vgl. ebd., S. 36 f.) – Leiblichkeit ist dem Menschen schlichtweg gegeben. Bemerkbar wird dieser Sinn bspw., wenn ein Fuß amputiert werden musste. Es gibt Patient*innen, die danach ihren Fuß ebenso noch leiblich spüren können, obwohl er rein physisch nicht mehr da ist (vgl. ebd. 2015, S. 194; Waldenfels 2000, S. 25). Der Leib hat sich in diesem Fall über die körperliche Grenze hinaus ausgedehnt. 126
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Dieser körperliche Leib mit seiner Fähigkeit des leiblichen Spürens und Wahrnehmens kann aber hierzu erst fähig sein, wenn eine Strukturierung in »Enge« und »Weite« (Schmitz 1982, S. 75) vorliegt. Anders nämlich als der Körper mit seiner Hautgrenze befindet sich der Leib immer in Veränderung: Mal zieht er sich bspw. bei Angst unter ›Spannung‹ zusammen (vgl. ebd., S. 90 f.), mal weitet er sich unter ›Schwellung‹ wie bspw. im Schlaf (vgl. ebd., S. 83 f.). So geht von Enge und Weite ein leiblicher Urimpuls aus, der in Engung und Weitung mündet: Diese Engung als Spannung verhält sich antagonistisch zur entstandenen Weitung bzw. Schwellung. Beide Gegenspieler sind so aneinandergebunden und konkurrieren miteinander (vgl. ebd., S. 74 ff.). Ein solches ›Anstacheln‹ vollzieht sich dann in rhythmischen, sukzessiven Schritten, einem sog. »Rhythmus« (ebd. 1982, S. 111), oder in simultanem Zusammenwirken, einer »Intensität« (ebd., S. 111). Diese immerwährende leibliche Veränderung gilt es alltäglich leiblich auszubalancieren (vgl. ebd., S. 5 ff.). Das Paar von Enge (Spannung) und Weite (Schwellung) ist zugleich der Beginn »leiblicher Kommunikation« (ebd. 1994, S. 123), die für die vorliegende Fragestellung zum Geschehen auf einer körper-leiblichen Ebene in der Einheit aus Mensch und Technologie zentral ist: Zum einen beginnt ein innerleiblicher Dialog im Menschen, der sich durch Rhythmus und Intensität auszeichnet. Zum anderen ist diese leibliche Kommunikation nicht nur auf diese Innerleiblichkeit beschränkt: »Dieselbe Struktur kommt in größeren, den einzelnen Leib übergreifenden und mit anderen Gegenständen vereinigenden Zusammenhängen vor und wird dann von mir [Schmitz] als Einleibung bezeichnet.« (Ebd., S. 125). Und nicht nur dies: Eine leibliche Kommunikation und die hieraus resultierende Einleibung vollzieht sich auch mit leib127
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losen Gegenständen (vgl. Schmitz 2015, S. 42) – und dementsprechend auch mit Medizintechnologien. So kann mithilfe von Einleibungen gezielt auf den ersten Frageteil ›Was geschieht auf einer körper-leiblichen Ebene bei einer Kopplung zwischen Mensch und Technologie?‹ reagiert werden. Leibliche Kommunikation findet also auch mit Anderem statt. Dabei bleibt der oder die Andere als Phänomen offen: Der oder die Andere kann ein Mensch, Tier, aber auch ein (technischer) Gegenstand sein. Dabei können sich Typen von Einleibungen bilden: Für die vorliegende Arbeit ist die antagonistische wechselseitige Einleibung von Interesse (vgl. ebd. 1980, S. 24 ff.). Ist eine Einleibung antagonistisch, liegt eine Asymmetrie vor, d. h. über die Rolle der Enge und die Zuwendung als Bedingung für eine Einleibung verfügt ein*e Teilnehmende*r (vgl. ebd., S. 39 f.; 2015, S. 63). Wechselseitig wird diese Einleibung, wenn die beiden Teilnehmenden oder mehrere Teilnehmende die Enge »einander oszillierend zuspielen« (ebd. 1980, S. 24). Vollzieht sich Einleibung, spricht Schmitz von der Entstehung von »Quasi-Leibern« (ebd. 1999, S. 131). Dieser Quasi-Leib – hervorgegangen aus Medizintechnologie(n) und einer Person und nun im Folgenden als Tandem bezeichnet – verfügt über eine neue und eigene leibliche Kommunikation zwischen den Polen der Enge (Spannung) und der Weite (Schwellung). Eröffnet wird damit nicht nur eine Debatte zu Fragen der Identität, sondern ebenso des Konzepts Identitätsstress bei Verlust des Quasi-Leibes durch Technologiewechsel.
Identitätsstress bei Diabetiker*innen Mittels der so skizzierten Schmitz’schen Leibphänomenologie – insbesondere unter Betrachtung der Einleibung als Form der leiblichen Kommunikation – gelingt es nun, die Beantwortung der leitenden Fragestellung ›Was geschieht auf einer körperleiblichen Ebene in der Einheit aus Mensch und Technologie 128
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und warum kann ein Technologiewechsel als ein Identitätsstress betrachtet werden‹ zu unternehmen. Hierdurch soll v. a. ersichtlich werden, dass durch Technologiewechsel nicht nur Stress entsteht, sondern vielmehr ›Identitätsstress‹. Um dies zu veranschaulichen, soll anhand einer qualitativen Einzelerhebung mit einer Diabetikerin (hier anonymisiert als Antonia) aus dem Jahr 2020 ein Medizintechnologiewechsel (CLS), einschließlich der Techniken des Umgangs mit ihm, in drei Schritten betrachtet werden. Im ersten Schritt werden so Erwartungen (1) an das künftige CLS skizziert. Hierauf werden Aushandlungen (2) im anfänglichen Tandem beleuchtet, um final das Fallbeispiel eines einverleibten Tandems (3) und somit ein neues Körper-Leib-System präsentieren zu können. Die Diabetikerin hat die neue Insulinpumpe, die erstmals mit selbstregulierenden Funktionen (CLS) ausgestattet ist, noch nicht erhalten. Zu dem anstehenden Medizintechnologiewechsel (1) äußert sie sich wie folgt: »Ich weiß, dass ich mich auf diese Pumpe einlassen muss. Mich teilweise sicher überwinden muss und auch anfangs erst einmal Vertrauen aufbauen muss. So hat dann die Pumpe die Kontrolle, das ist seltsam, weil man das nicht gewohnt ist. Eigentlich habe ich gerne die Kontrolle, doch hier kann die Pumpe einem vielleicht tatsächlich eine ›Pause‹ verschaffen.« (Interview Antonia) Die Diabetikerin möchte sich »auf diese Pumpe einlassen« (Antonia 2020) und verdeutlicht im Zitat, dass sie bereits Stellung zu den Gefühlen, die sie anfangs passiv ergriffen haben, eingenommen hat: Sie möchte aktiv Vertrauen auf bauen und willigt hierfür ein, auch Gewohnheiten abzuändern. Dieser Vertrauensauf bau hat also bereits begonnen, indem die Diabetikerin über ihre Erwartungen spricht: Sie erhofft sich Pausen von der Erkrankung und erteilt damit dem CLS 129
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eine Kontrollaufgabe; wohl aber wissend, dass diese Kontrolle wieder an sie selbst, die Diabetikerin, zurückgespielt werden kann. Hierbei handelt es sich bereits um eine antagonistisch wechselseitige Einleibung als Kommunikationsform zwischen der Diabetikerin und der Insulinpumpe. Resümierend verdeutlicht die Selbsteinschätzung im Zitat, dass eine Grund(an)spannung in der Diabetikerin vorliegt: Der Technologiewechsel kann nicht lediglich als materieller Verlust betrachtet werden, sondern das, was bisher unter, auf und an der Haut ist und somit ebenso körper-leiblich verbunden ist, wird verschwinden und hinterlässt nicht nur eine Körperverletzung, sondern ein verwundetes Tandem, das eine funktionslose Einheit darstellt: Die gewohnte Sicherheit des Überlebens, aber auch Alltagsroutinen sind schlagartig nicht mehr vorhanden. Der Verlust der bisher verwendeten Technologie bedeutet das Ende einer Einleibung und damit den Beginn einer Entleibung. Die Diabetikerin bleibt alleine mit existentiellen Fragen zurück: Wie abhängig bin ich von der Technologie? Wer bin ich? Wird es mir erneut gelingen, in ein Tandem einzutreten? Der darauffolgende Versuch einer neuen Einleibung mit der zukünftigen Technologie bedarf nicht nur Neuaushandlungen von Rollen, sondern die Diabetiker*in benötigt ebenso Kraft, Durchhaltevermögen und ein hohes Maß an Vertrauensvorschuss in die neue Medizintechnologie. Beide Vorgänge der Ein- und Entleibung sind Auslöser von Identitätsstress. In dieser komplexen Situation stellt sich eine Balance zwischen Enge (Spannung) und Weite (Schwellung) nicht ein; vielmehr gleitet der Rhythmus und/oder die Intensität in eine gesteigerte Enge ab. Mit der anfänglichen Nutzung des neuen Closed Loop Systems inklusive der neuen Insulinpumpe zeigt sich ein neues leibliches Spüren und Wahrnehmen mit Aushandlungen (2) im Tandem. 130
Leibphänomenologie
»Ich glotze grade permanent auf die Pumpe und bin am Staunen, was sie so macht. […] Das fehlende Vertrauen äußert sich durch permanentes Gucken auf das Pumpendisplay.« (Antonia 2020) In die Atmosphäre hauptsächlich passiv eingetaucht, gerät nach kurzer Benutzung das ›Glotzen‹ oder ›Gucken‹ auf das Pumpendisplay in das Handlungsrepertoire der Diabetikerin. Dieser ›Blick‹ ist Zeichen einer Stellungnahme und somit als Aktivität zu betrachten. Mit diesem Blick lässt sich ein weiterer wichtiger Verweis zur Leibphänomenologie aufzeigen. Wer kann sich einem liebenden, strafenden oder verächtlichen Blick entziehen? Dies würde eine höchste Anstrengung erfordern; so werden Betrachtete als auch Betrachtende vielmehr in ein neues Kräftefeld bestehend aus Enge und Weite mit eingezogen. Dieses Kräftefeld teilen sich die Beteiligten. Langsam bildet sich ein eigener Rhythmus und/oder eine Intensität des Tandem-Leibes aus. Blicke sind also Einleibungen und Formen der leiblichen Kommunikation. Hiermit wird zudem nochmals die Differenz zwischen Leib und Körper deutlich: Im ›Blick‹ gelingt es dem Leib, die anatomische Grenze des Körpers für sich zu überwinden und sich mit einem Gegenüber leiblich zu vereinigen (vgl. Burger 2012, S. 22). Das CLS und die Nutzerin werden via Einleibung zum QuasiLeib (vgl. Schmitz 1999, S. 131). So kann darüber hinaus dieses entstandene Kräftefeld den Diabetiker*innen Abhilfe leisten: Ein ›Glotzen‹ und ›Gucken‹ suggeriert eine (technische) Sicherheit aus der entstehenden, neu zu bildenden Kopplung im Tandem; ein Wiederfinden einer Balance zwischen Enge und Weite wird möglich. Der Identitätsstress muss nicht überhandnehmen und ein körper-leibliches Wohlbefinden kann zurückgewonnen werden. 131
Julia Sellig
Nach längerer Nutzung der Medizintechnologie (3) fühlt sich die Diabetikerin »[…] definitiv freier. [Ich] Bin mit niedrigerem Blutzucker unterwegs und fühle mich trotzdem sicherer, weil ich der Pumpe vertraue und weiß, sie regelt das. Es gab natürlich schon auch mal Unterzucker, aber es braucht eben auch bestimmte Vorgehensweisen, die man erst einmal entwickeln muss. Es braucht eben auch Erfahrung. Es ist eben ein anderes System.« (Antonia 2020) Antonia spricht von Sicherheit, weil ein Vertrauensverhältnis zwischen ihr und dem CLS aufgebaut worden ist. Dies bedeutet: Eine Einleibung »als Hauptform der leiblichen Kommunikation« (Schmitz 2015, S. 143) findet fortlaufend zwischen beiden Partner*innen statt und hält auch über einen langen Zeitraum stand. Die Diabetikerin hat nicht nur ein neues technisches System in ihren Körper-Leib integriert, d. h. einverleibt und somit zugleich auch ihr Körper-Leib-System gewandelt: Es bildet sich ein übergreifender Leib, der neue Balance für die Diabetikerin bieten kann: Sicherheit im Alltag – der Identitätsstress entschwindet.
Fazit: Digitalisierung – Herausforderung Aufmerksamkeit für den Körper-Leib?! Der Identitätsstress nimmt in diesem Fallbeispiel ein positives Ende, wenn auch eingestanden wird, dass »das Spannungsgefühl […] immer noch da [ist]. Ich [Antonia] bin jetzt irgendwie immer noch aufgeregt, was das alles angeht. Es ist noch nicht ganz Normalität geworden« (Antonia 2020). Selbstverständlich gibt es aber auch Fälle, die anders verlaufen: Der Identitätsstress steigert sich weiter, eine Einleibung gelingt nicht und ein Pol dominanter Spannung kann bis zu einem Aussetzen des Bewusstseins führen (vgl. Schmitz 1994, S. 121). Wie lange die Nutzenden diesem Identitätsstress aus132
Leibphänomenologie
gesetzt sind, ist unterschiedlich. Für eine physische und psychische Gesundheit ist es jedoch wichtig, dass dieser Identitätsstress nicht als Normalität betrachtet wird. Das Dilemma, dass eine Omnipräsenz von Identitätsstress zu einer Schein-Normalität führen kann, betrifft wie im Fallbeispiel wiederum nicht nur Diabetiker*innen, sondern uns alle: Wir nutzen immer wieder neue Technologien, führen Updates durch – oder dies geschieht für uns automatisch. Somit durchleben wir dieses Verlieren eines einverleibten Tandemteils, spüren folglich diesen Verlust und sind auf ein immer wiederkehrendes Einlassen auf neue Technologien angewiesen. Wir können diesen Stress leiblich spüren und wahrnehmen: Wir ziehen uns unter Spannung zusammen und verlieren eine wichtige Balance unseres Körper-Leibes. Im digitalisierten Zeitalter wird daher eine besondere Aufmerksamkeit gegenüber unserem Körper-Leib nötig: So bezeichnen wir zwar unser Smartphone oder unseren PC als Partner*in, verschließen uns aber fast gänzlich der leiblichen Berührung durch Technologienutzung. Eine Aufmerksamkeit gegenüber Technologien im digitalisierten Zeitalter umfasst also nicht nur ein kognitives Know-how, sondern ebenso eine Integration des leiblich Gespürten in unsere Entscheidungsfindungen. Nur so können wir Stress und insbesondere Identitätsstress reduzieren und von der Debatte zu Identität und Technologie profitieren.
Zum Weiterlesen Schmitz, Hermann ([2009] 2014): Kurze Einführung in die neue Phänomenologie. 4. Auf l. Freiburg i. Brg.: Verlag Karl Alber. Soentgen, Jens (1998): Die verdeckte Wirklichkeit. Einführung in die neue Phänomenologie von Hermann Schmitz. Bonn: Bouvier.
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Julia Sellig Wiedemann, Lisa (2019): Self-Tracking. Vermessungspraktiken im Kontext von Quantified Self und Diabetes. Wiesbaden: Springer VS, Springer Fachmedien Wiesbaden.
Literatur Burger, Walter (2012): Der Beitrag der Neuen Phänomenologie zum Verständnis chronischer Krankheit. Überlegungen und Erfahrungen am Beispiel des Diabetes mellitus. Rostock: Univ., Inst. Für Philosophie. Fuchs, Thomas (2000): Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie. Stuttgart: Klett-Cotta. Gugutzer, Robert (2008): »Transdifferente Leiblichkeit. Leibphänomenologische Überlegungen zu einer Soziologie der Transsubjektivität«. In: Britta Kalscheuer/Lars Allolio-Näcke (Hg.). Kulturelle Differenzen begreifen. Das Konzept der Transdifferenz aus interdisziplinärer Sicht. Frankfurt a. M., New York: Campus-Verlag, S. 317–336. Hermanns, Norbert/Kulzer, Bernhard (2021): Forschung FIDAM Forschungsinstitut Diabetes. Verfügbar unter: https://www.fidam. de/forschung#111 (zuletzt abgerufen am 01.08.2021). Schmitz, Hermann (1999): »Anthropologie ohne Schichten«. In: Annette Barkhaus, Matthias Mayer, Neil Roughley und Donatus Thürnau (Hg.). Identität, Leiblichkeit, Normativität: neue Horizonte anthropologischen Denkens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 127–145 Schmitz, Hermann (1980): Die Auf hebung der Gegenwart. Bonn: Bouvier. Schmitz, Hermann ([1964]1998): Die Gegenwart. 3. Auf l. Bonn: Bouvier. Schmitz, Hermann ([2009] 2014): Kurze Einführung in die neue Phänomenologie. 4. Auf l. Freiburg i. Brg.: Verlag Karl Alber. Schmitz, Hermann ([1965]1982): Der Leib. Erster Teil. Bonn: Bouvier. Schmitz, Hermann (1994): Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. Bonn: Bouvier.
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Leibphänomenologie Schmitz, Hermann (2015): Selbst sein. Über Identität, Subjektivität und Personalität. Freiburg: Verlag Karl Alber. Schmitz, Hermann (2019): Wie der Mensch zur Welt kommt. Beiträge zur Geschichte der Selbstwerdung. Freiburg; München: Karl Alber. Soentgen, Jens (1998): Die verdeckte Wirklichkeit. Einführung in die neue Phänomenologie von Hermann Schmitz. Bonn: Bouvier. Waldenfels, Bernhard (2000): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Regula Giuliani (Hg.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Systemtheorie: ›#fuckthealgorithm‹ Zukunft und Autonomie im Angesicht prädiktiver Algorithmen Ingmar Mundt Die Ungewissheit vor der Zukunft ist in modernen Gesellschaften ein Thema mit zunehmender Bedeutung geworden. Die Offenheit bzw. Komplexität der Zukunft und die dadurch notwendige Entscheidungsvielfalt verursachen Stress, welchen wir durch planerische Vorsorge oder durch technische Hilfsmittel versuchen zu reduzieren. In den letzten Jahren ist hierbei eine starke Zunahme algorithmischer Entscheidungsprozesse, sog. automated decision making (ADM) Systeme, zu beobachten. Aufgrund der scheinbar endlosen Verfügbarkeit von Daten und Informationen sowie der dadurch bedingten Steigerung kontingenter Zukunftsmöglichkeiten bieten algorithmische Verfahren der predictive analystics die Option, Zukunft zu berechnen, eine Entscheidungsgrundlage bereitzustellen und Komplexität zu reduzieren. Doch wie und auf welche Weise Algorithmen Zukunft berechnen, bleibt dabei verborgen. Gleichzeitig besitzt Autonomie, verstanden als Fähigkeit gegenüber der Zukunft unsere eigenen Entscheidungen treffen zu können, einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert, welcher mit der Technologie in Konf likt geraten kann. Der folgende Beitrag stellt dieses praktische Problem in den Mittelpunkt und wird dies mit dem Theoriewerkzeug der soziologischen Systemtheorie erklären. Im Blickpunkt dieses Aufsatzes steht daher die Frage, welche Auswirkungen algorithmische Prädiktionen auf die Zukunft als temporalen Bezugspunkt aufweisen und in welchem Verhältnis sich diese auf die Autonomie- und Temporalitätsverhältnisse der Subjekte auswirken. Dabei liegt dem Beitrag 137
Ingmar Mundt
die These zugrunde, dass eine Stressreduktion nur durch eine stückweite Aufgabe von Autonomie gegenüber der Zukunft zu bewerkstelligen ist. Als Beispielfall für diese Fragestellung wird zunächst die zugrundeliegende Problematik mit der Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann beschrieben. Anhand des Beispiels der ›#fuckthealgorithm‹-Bewegung im Vereinigten Königreich soll in einem zweiten Schritt der Einsatz algorithmischer Entscheidungssysteme kontextualisiert und problematisiert werden. Schließlich wird gezeigt, welche Probleme in der Anwendung dieser Überlegungen sich für die autonomen Subjekte und für die Idee einer offenen Zukunft stellen, wenn Algorithmen die Zukunft berechnen.
Vorausschauende Algorithmen aus gesellschaftstheoretischer Perspektive Techniken zur Vorausschau der Zukunft finden sich zu allen Zeiten der Geschichte. In der Moderne öffnet und erweitert sich der Zeithorizont in der Form, dass die Zukunft nicht deterministisch, sondern in der Gegenwart verhandelt und von autonomen Entscheidungen der Subjekte hervorgebracht wird. Erwartungen an das Neue und Unbekannte beschreiben die Zukunft dabei als gegenwärtige Vorstellung zukünftiger Sachverhalte. Die Zukunft ist in der Moderne sowohl der Raum der Möglichkeiten, welcher Innovation und Fortschritt gestaltbar macht. Demgegenüber bereitet die Ungewissheit und Kontingenz der Zukunft aber auch Sorgen und verursacht Stress (Sasse 2019) – nicht zu wissen, ob die eigene Entscheidung die richtige ist oder ob nicht doch alles ganz anders kommen wird. Daher wird mittels statistisch-rationaler Verfahren – beschrieben von Niklas Luhmann als »Techniken der Defuturisierung« (Luhmann 1976: S. 141) – versucht, den Möglichkeitsraum durch Kalkulation und Antizipation handhabbarer bzw. planba138
Systemtheorie
rer werden zu lassen und die Komplexität der offenen Zukunft zu reduzieren. Es bleibt aber offen und risikobehaftet, welche Zukunft sich am Ende realisieren lässt. Diese Feststellung führt in der sich beschleunigenden Moderne zu einem Gefühl, wonach sich vergangenes und gegenwärtiges Handlungswissen immer weniger in die Zukunft übertragen lassen (Rosa 2012). Vor diesem Hintergrund tun sich viele Menschen schwer, autonome Entscheidungen mit geringem Enttäuschungscharakter zu tref fen: Wenn jede Entscheidung unter Dauerrevisionsvorbehalt steht, jede neue Information das Komplexitätslevel steigert und jede neue Option die Kontingenz des Möglichen multipliziert, richtet sich die Gegenwart als Dauerzustand ein, während die Zukunft in ihrer Unverfügbarkeit verharrt – als Folge können u. a. Stress- und Depressionserkrankungen entstehen (Fuchs, Iwer und Micali 2018). Vorstellungen über die Zeit haben keinen beobachtungsunabhängigen Gegenstand; sie sind selbst auch immer zeitliche und gegenwärtige Beobachtungen. Für den Beobachtenden neuzeitlicher Temporalverhältnisse differenziert sich die Zeit in ein Vorher und Nachher sowie in eine Gleichzeitigkeit und Kontingenz dieser Verhältnisse: Alles, was passiert, geschieht gleichzeitig und hätte auch anders passieren können. Vergangenheit kann erinnert, aber Zukunft nicht gleichermaßen antizipiert werden und wird somit zu einem Risiko. Es gibt für richtige Einschätzungen kaum mehr objektive Standpunkte. Zukunf tsref lexionen des Beobachtenden fügen sich keinem rationalen Kalkül, es muss mit vielen möglichen Systemzuständen gerechnet werden. Rationalität nimmt ab, in dem Maße, als erkannt wird, dass nicht die Zeit besteht, um sich die nötigen Informationen zu besorgen (Luhmann 2003). An dieser Bestandsaufnahme knüpfen Technologien der Digitalisierung im Allgemeinen sowie algorithmisch-gestützte Entscheidungssysteme im Besonderen an. Sie versprechen 139
Ingmar Mundt
einerseits einen Umgang mit dem ›information overload‹ der digitalen Gesellschaft (Big Data) sowie eine auf das Individuum abgestimmte Empfehlung bzw. Entscheidungsunterstützung. Drei verschiedene Typen algorithmischer Zukunftsvorhersage können hier genannt werden, wobei diese unterschiedlich auf die Temporalität- und Autonomieverhältnisse ihrer Nutzer*innen zugreifen (Kerr und Earle 2013): (1) Consequential predicitions haben das Ziel, es Subjekten zu ermöglichen, Risiken zu vermeiden, indem sie Entscheidungsfindungen unter Berücksichtigung individueller Interessen unterstützen. Aus Sicht eines autonomen Subjekts bieten diese aber eine freie Entscheidungsfindung, da die Algorithmen lediglich eine Dienstleistungsrolle einnehmen, bspw. Apps zur Rechtsberatung. (2) Preferential predictions beziehen sich verstärkt auf solche Prozesse, die auf algorithmische Auswertung großer Datenmengen bei gleichzeitigem Abgleich dieser mit Nutzungsdaten spezialisiert sind, z. B. der individuellen Kaufempfehlungen in Online-Shops. Diese Algorithmen generieren Vorhersagen über persönliches Verhalten, für das autonome Subjekt erscheinen diese als eine Auswahloption, die den Möglichkeitsraum nicht zwangsläufig einschränkt, aber eine Präfiguration möglicher Entscheidungen erstellt. (3) Die dritte Form von algorithmischen Vorhersagemodellen basiert auf dem intentionalen Ansatz, den Möglichkeitsraum des Subjekts gegenüber der Zukunf t einzuschränken. Diese preemptive predictions bewerten die wahrscheinlichen Konsequenzen von Handlungen und entscheiden für und über das Subjekt. Während die ersten beiden Formen der algorithmischen Vorhersage sich den multiplen Perspektiven seiner Nutzer anpassen, reduziert der präemptive Algorithmus den Möglichkeitsraum, indem dieser jene Zukunft mit der höchsten Eintrittswahrscheinlichkeit bildlich absolut setzt. 140
Systemtheorie
Dieses problematische Verhältnis zwischen Subjekt und Technologie soll im Folgenden anhand eines Falls algorithmischer Zukunftsentscheidungen untersucht werden, der aufgrund seiner weitreichenden Auswirkungen zu einer polarisierenden Debatte geführt hat.
#fuckthealgorithm: Protestbewegung gegen die ›Blackbox‹ Im Pandemie-Sommer 2020 versammeln sich tausende junge Studierende auf den Straßen des Vereinigten Königreichs, um gegen eine Entscheidung der britischen Regierung zu protestieren. Diese hatte unter den durch Covid-19 verursachten Bedingungen des Lock-downs und der Schulschließungen die Abschlussprüfungen an Schulen und Universitäten ausgesetzt. Was auf den ersten Blick als eine stressreduzierende Maßnahme wirkt, entpuppt sich auf den zweiten Blick als ein höchst problematisches Verhältnis zwischen Gesellschaft und digitaler Technologie, welcher im Zentrum der Betrachtung dieses Beitrags liegt. Um die notwendige Abschlussnote und damit der einhergehende Schulabschluss dennoch möglich zu machen, beauftragte das britische ›Office of Qualifications and Examinations Regulation (OFQUAL)‹ des Bildungsministeriums die Entwicklung eines Algorithmus, der die Abschlussnote der Schüler*innen berechnen sollte (Kolkman 2020). Nachdem die Black Box des Algorithmus geöf fnet wurde, zeigten sich die Daten- und Berechnungsgrundlagen, mit denen die Abschlussnoten ermittelt wurden. Zum einen wurde durch die Lehrkraft, basierend auf den bisherigen Leistungen, die wahrscheinliche Abschlussnote geschätzt (›predicted grade‹) sowie die Schüler*innen hinsichtlich ihrer Wahrscheinlichkeit des Erreichens dieser Abschlussnote in einer Liste kardinal geordnet. Diese Daten wurden statistisch auf bereitet und standardisiert sowie mit sozialen Daten wie Wohnlage 141
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und mit Informationen der bisherigen historischen Leistungen der jeweiligen Schule verrechnet, da zum einen ansonsten die Datengrundlage für eine algorithmische Wahrscheinlichkeitsrechnung inakkurat gewesen wäre, aber auch, um mögliche subjektive Bevorzugen oder Wahrnehmungsverzerrungen (biases) der Lehrkräfte zu vermeiden. Aus diesem Grund wurden letztere Daten durch das ›OFQUAL‹ auch im Algorithmus höher gewichtet als die Einschätzungen der Lehrkräfte. Das Ergebnis, welches vom Algorithmus berechnet wurde, wird als »the most likely distribution of grade […] based on the previous performance of the centre« (Stratton, Zanini und Noden 2021), als wahrscheinlichste Note unter Berücksichtigung einer Normalverteilung, tituliert und bewertet. Das Ergebnis der algorithmischen Berechnung der wahrscheinlichen Abschlussnote hatte reale Konsequenzen: Insgesamt erhielten ca. 28 Prozent der Schüler*innen in England, Wales und Nordirland eine der beiden Bestnoten des britischen Schulsystems (A und A*), was der bisher beste jemals erreichte Wert ist, wobei 2,2 Prozent durch den Algorithmus eine Notenverbesserung erhielten. Gleichzeitig erhielten ca. 40 Prozent aller Schüler*innen eine schlechtere Note, als diese selbst erwartet hatten, insbesondere Schüler*innen aus ökonomisch ärmeren Haushalten und Wohnorten sowie Angehörige ethnischer Minderheiten. Zudem wurden Leistungen an sog. ›Independent Schools‹ in der Regel aufgewertet, während Leistungen an öffentlichen Schulen häufiger von Abwertungen betroffen waren. Nach publik werden der Ergebnisse protestierten landesweit Schüler*innen unter dem Slogan ›#fuckthealgorithm‹ gegen die Verwendung von Algorithmen zur Berechnung der Abschlussnote und der Beeinf lussung ihrer Zukunftschancen. Dies führte zu einer Rücknahme der Ergebnisse durch das britische Bildungsministerium.
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Systemtheorie
Das autonome Subjekt im algorithmischen Zeitalter – ein Spannungsverhältnis Wie lassen sich der gesellschaftstheoretische Rahmen sowie die Fallbeschreibung zusammenbringen und welche Beobachtungen für den Umgang mit Stress lassen sich daraus schlussfolgern? Stress in Prüfungssituationen sollte ein bekanntes Phänomen sein, nicht nur in Schule und Studium. Auch gegenüber der Zukunft müssen Subjekte nicht nur immer mehr, sondern auch immer weitreichendere Entscheidungen treffen. Hierzu werden vermehrt digitale Technologien in Kombination mit algorithmischen Entscheidungssystemen verwendet und in den Entscheidungsprozess der Subjekte mit einbezogen. Aus der Fallbeschreibung lässt sich feststellen, dass es sich bei dem Entscheidungsalgorithmus des britischen Bildungsministeriums um einen – wie oben beschrieben – präemptiven Algorithmus handelt. Im Weiteren soll aber nun die Frage im Fokus stehen, inwiefern sich aus dem beschriebenen Fall und anhand der Theorie von Niklas Luhmann ein problematisches Verhältnis zwischen Subjekt und Algorithmus gegenüber der Zukunft erklären lässt. Hierzu werden zwei zuvor erwähnte Begrif fe ausführlicher untersucht, um anschließend die eingangs aufgestellte These zu beantworten: Die Differenz in der Zeitunterscheidung sowie die Beobachtung von Zukunft. Eine erste Feststellung lässt sich anhand der von Luhmann getroffenen Zeitunterscheidung von gegenwärtigen Zukünf ten und zukünf tigen Gegenwarten vornehmen, wobei er erstere den menschlichen Akteuren und letztere vor allem Technologien zuschreibt, insb. denen der Defuturisierung. Beide Unterscheidungen stehen für unterschiedliche Be- bzw. Verarbeitungsformen von Zukunft. Subjekte können die Zukunft niemals ›erreichen‹, sondern nur aus der Gegenwart heraus auf diese Bezug nehmen. Sie projizieren die Zukunft als einen offenen 143
Ingmar Mundt
Möglichkeitsraum, dem sich nur mittels Negation – also durch Auswahl – angenähert werden kann, indem sie eine Entscheidung für eine Zukunft aus vielen anderen Möglichkeiten treffen und somit andere Möglichkeiten nicht (bzw. noch nicht) realisieren können (Luhmann 1976: S. 131). Nehmen wir bspw. eine fiktive Schülerin, die sich bei den Protestmärschen beteiligt hat. Sie ist in der Stresssituation gefangen, die sich aus der Tatsache einer zu schreibenden und für ihre weitere Zukunft relevanten Abschlussprüfung ergibt. Vor der Entscheidung stehend, ob sie für diese Prüfung lernen will, rekurriert sie dabei aus der Gegenwart auf vergangene Erfahrungen und zukünftige Erwartungen. Vielleicht sind ihr Prüfungen immer leichtgefallen, so dass sie von einer hohen Wahrscheinlichkeit ausgeht, dass sie auch diese Prüfung wieder meistern wird. Oder sie hatte immer Stress in Prüfungssituationen, möchte aber jetzt beweisen, dass sie es kann. Eventuell hat sie auch bisher kein Interesse an guten Noten gehabt, will aber jetzt intensiv lernen. Egal welche vergangenen Erfahrungen sie gemacht hat, die Schülerin kann nicht allein darauf vertrauen, dass ihre bisherige Strategie für die Zukunft erfolgversprechend ist oder sie damit ihre Erwartungen erfüllen kann (Luhmann 2014). Natürlich kann sie sich eine konkrete zukünftige Gegenwart vorstellen, in der sie die Prüfung erfolgreich abgeschlossen hat, doch können wir als Menschen uns eine Zukunft nicht im Singular, sondern nur im Plural vorstellen. Neben dem ›best-case‹ ist immer auch ein ›worst case‹ oder ein ›business as usual‹ vorstellbar. Die Zukunft eröffnet sich der Schülerin im besten Fall als ein Möglichkeitsraum unterschiedlicher Wahrscheinlichkeiten, die wiederum mit unterschiedlichen Sinnstrukturen verbunden sind (z. B. lernen oder nicht lernen). Das Vorher steht in einem komplexen und kontingenten Spannungsverhältnis mit dem Nachher. Egal wie viel die Schülerin lernt, sie kann sich nicht sicher sein, ob die von ihr bevorzugte Zukunft auch wirklich eintritt. Sie kann 144
Systemtheorie
sich unnötige Sorgen machen und zu viel lernen oder aber das Gelernte ist für die Prüfung von geringer Relevanz. Eine offene Zukunft in Form gegenwärtiger Zukünfte verursacht daher Stress für die Subjekte, da diese autonome Entscheidungen treffen und für diese einstehen müssen. Und vom gegenwärtigen Beobachtungspunkt der Schülerin eröffnen sich zu viele kontingente Möglichkeiten, die weder hier alle besprochen noch von der Schülerin berücksichtigt werden können. Wenn die individuelle Entscheidungsautonomie gegenüber der Zukunft Stress verursacht, liegt es nahe, diese Komplexität und mögliche Enttäuschung einer falschen Entscheidung auszulagern. Digitale Technologien, welche auf algorithmischen Entscheidungssystemen basieren, versprechen eine Stressreduktion, indem diese die Komplexität und Kontingenz der Entscheidungsfindung abnehmen. Auf bauend auf der Extrapolation bisheriger Leistungen sowie individueller Daten berechnet der Algorithmus gleichzeitig viele verschiedene Zukünfte und wählt für die Abschlussnote der Schülerin die Zukunft mit der höchsten Eintrittswahrscheinlichkeit. Die Zukunft erscheint jetzt jedoch nicht mehr als ein offener Möglichkeitsraum, sondern als dominantes, determiniertes Bild des künftigen Geschehens. Der Algorithmus hebt die Differenz zwischen Gleichzeitigkeit und Kontingenz sowie zwischen Vorher und Nachher auf. Kontingenz wird aufgehoben, da der Algorithmus das Nachher mit dem Vorher gleichsetzt, indem die Vergangenheit die Grundlage der Zukunftsberechnung wird. Nicht die noch offenen Entscheidungen der Schülerin sind Grundlage, sondern die bisherigen Leistungen sowie sozioökonomischen Metadaten. Sie schaffen damit die künstliche Realität einer zukünftigen Gegenwart, indem diese bspw. ausrechnen, warum die Schülerin eben jene Abschlussnote bekommt und – zugespitzt formuliert – nichts anderes verdient hätte. Für präemptive Algorithmen, wie jene des britischen Bildungsministeriums, 145
Ingmar Mundt
ist die Idee einer offenen Zukunft schlicht irrelevant (Esposito 2018). Sie gehen der Vorstellung nach, dass mit genug Daten über menschliches Verhalten sowie Informationen über bisherige Entscheidungen die Zukunft auf die Gegenwart reduziert und die Zukunft dadurch »a-temporalisiert« (Andrejevic, Dencik und Treré 2020) werden kann. Beim Versuch, die Komplexität zu steuern, unterminiert der Algorithmus zugleich den Moment subjektiver und autonomer Entscheidungsfindung. Indem der ›OFQUAL-Algorithmus‹ soziostatistische Metadaten miteinbezieht, entscheidet nicht die Schülerin über ihre eigene Zukunft, welche ihre Chancen und Risiken abwägen muss. Die nicht-änderbaren Faktoren wie Wohnlage oder Familienstand, in die die Schülerin hineingeboren und hineinsozialisiert wurde, werden zu mitausschlaggebenden Kriterien. Dies widerspricht dem Freiheitsprinzip der Moderne, nachdem ein jeder ›seines eigenen Glückes Schmied ist‹, also die Fähigkeit besitzt, autonome Entscheidungen für das eigene Leben zu treffen. Das problematische Verhältnis wird vor allem dadurch deutlich, wenn die Formen der Beobachtung von Zukunft in den Blick genommen werden. Subjekte beobachten die Zukunft aus ihrer unmittelbaren und augenblicklichen Perspektive, in der diese Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eine sinnhafte Verbindung bringen. Die Schülerin beobachtet Zeit aus einer Beobachterposition erster Ordnung. Es sind ihre zeitlichen Ref lexionen und Entscheidungen, welche unabänderbar mit der Gegenwart verknüpft sind und dadurch Zukunft erst performativ hervorbringen. Algorithmen analysieren Zeit aus einer Beobachtung zweiter Ordnung. Grundlage dieser Beobachtung sind nicht aktive Entscheidungen, sondern deren Wissen stammt aus der Sammlung und Auswertung von Nutzungsund Verhaltensdaten ähnlicher Personen, welche auf Basis von Kalkulation und Wahrscheinlichkeiten auf die Schülerin angewandt werden (Dreyer 2018). 146
Systemtheorie
Menschliche und algorithmische Techniken der Prädiktion besitzen demnach unterschiedliche Formen der Bearbeitung und Beobachtung von Zeitunterscheidungen. Luhmann selbst hat dieses Verhältnis bereits problematisiert: Beide Formen der Zeitunterscheidungen, die gegenwärtigen Zukünfte der Subjekte und die zukünftigen Gegenwarten der Algorithmen, widersprechen sich, sie können nicht gleichzeitig auftreten und verhalten sich zueinander inkommensurabel. Da Algorithmen jedoch verstärkt zur Unterstützung der Entscheidungsfindung eingesetzt werden, bedeutet dies übersetzt, dass vorausschauende Algorithmen die Autonomievorstellungen der Subjekte gegenüber der Zukunft herausfordern und die Kontrolle schrittweise vom Subjekt an die Maschine übergeht (Block und Dickel 2020). Es gilt also, eine bewusste Entscheidung zu treffen: Entweder die Autonomie gegenüber der Zukunft schrittweise an präemptive Algorithmen abzugeben oder den Entscheidungsstress gegenüber einer of fenen Zukunft zu berücksichtigen. Dies ist selbst wiederum eine stressverursachende Entscheidung, die uns letztendlich aber kein Algorithmus abnehmen kann.
Zum Weiterlesen Luhmann, Niklas (1976): »The Future Cannot Begin«. In: Social Research 43, 1, S. 130–152. Mundt, Ingmar (2020): »Über die Vorwegnahme der Zukunft. Digitale Technologien und ihr Verhältnis zur Zeit«. In: engagée Journal for Philosophy, Politics and Art 9: Disobedient Futures, S. 70–74. O’Neil, Cathy (2017): Weapons of Math Destruction. How Big Data Increases Inequality and Threatens Democracy. London: Penguin Press.
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Ingmar Mundt
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Systemtheorie Luhmann, Niklas (2014): Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 5. Auf l. Konstanz, München: UVK, Lucius. Rosa, Hartmut (2012): Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik. Berlin: Suhrkamp. Sasse, Ulrike (2019): »Sorge(n) um die Zukunft. Eine soziologische Betrachtung der Zukunftsbewältigung von Risiken und Neogefahren in der Spätmoderne«. In: Anna Henkel/Isolde Karle/ Gesa Lindemann/Micha Werner (Hg.). Sorget nicht – Kritik der Sorge. Baden-Baden: Nomos, S. 49–56. Stratton, Tim/Zanini, Nadir/Noden, Philip (2021): An Evaluation of Centre AsseSSMent Grades From Summer 2020. Office of Qualifications and Examinations Regulation. London: Ofqual.
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Interdisziplinäre Nachhaltigkeits wissenschaften: Zeitwohlstand Erkenntnisse aus den pandemiebedingten Einschränkungen als Chance für eine gesellschaftliche Entschleunigung Sonja M. Geiger und Stefanie Gerold
Zeitnot als weitverbreitetes Phänomen Zeitnot ist ein weitverbreitetes gesellschaftliches Phänomen. Umfragen aus verschiedenen Ländern bestätigen dieses Bild: Viele Menschen leiden unter Zeitmangel und fühlen sich oft gehetzt (Deutschland: Statista 2021, Österreich: Statistik Austria 2011, UK: Southerton 2003). Eine im Februar 2020 von den Autorinnen durchgeführte repräsentative Umfrage gestattet einen Einblick in den Status quo der zeitbezogenen Lebenssituation in Deutschland vor der Pandemie. Für die Umfrage wurden etwas mehr als 2.000 Menschen u. a. gefragt, wofür sie eine zusätzliche Stunde pro Tag verwenden würden. Das Stimmungsbild, das sich beim Auszählen der Antworten ergab, zeigt v. a. drei Bereiche, in denen sich die Zeitnot manifestiert. Zum einen wurde das Bedürfnis nach Regeneration thematisiert: schlafen, ausruhen, entspannen und weitere Synonyme wie chillen oder relaxen wurden am häufigsten genannt. An nächster Stelle wurden lesen, verschiedene Hobbys oder Sport genannt, also Freizeitbeschäftigungen, für die keine direkte Verwertungslogik gilt. Der dritte große Bereich, der in der Lebensgestaltung vor Corona offensichtlich zu kurz kam, sind soziale Beziehungen; so nannten die Befragten am dritthäufigsten die Begriffe Familie, Freund*innen, Kinder und Beziehung (Gerold und Geiger 2020). 151
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Mögliche Folgen davon, dass Menschen im Alltag nicht genug Zeit für diese wichtigen Lebensbereiche einräumen, finden sich in der psychologischen Forschung zu Folgen von chronischem Zeitmangel wieder. So präsentiert Zuzanek (2004) empirische Ergebnisse, die negative Zusammenhänge von subjektiv erlebtem Zeitdruck offenlegen: Menschen mit hohem Zeitdruck klagen über einen schlechteren Gesundheitszustand, niedrigere Lebensqualität und geringer ausgeprägtes Wohlbefinden. Auf der positiven Kehrseite konnten Kasser und Sheldon (2009) zeigen, dass ein Zustand, den sie »time aff luence« nennen, positiv mit subjektivem Wohlbefinden zusammenhängt. Das Fehlen oder Vorhandensein von ausreichend Zeit hat jedoch nicht nur Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit von Menschen, sondern auch auf den Zustand der Umwelt, zeitgemäß auch als planetare Gesundheit bezeichnet (Rodin 2015). Unter Zeitnot werden vor allem solche Dienstleistungen und Produkte, die uns im Alltag Zeit sparen, attraktiver (wie z. B. Dinge neu zu kaufen oder das Transportmittel Auto). Diese sind allerdings auch meistens ressourcenintensiver und damit umweltschädlicher als ihre langsameren Alternativen, wie z. B. Gegenstände zu reparieren oder Wege mit dem Fahrrad oder ÖPNV zurückzulegen. Wegen seiner positiven Auswirkungen auf menschliche und planetare Gesundheit ist Zeitwohlstand ein erstrebenswerter Zustand, der bei einem Großteil der Menschen in unserer Gesellschaft aktuell in nicht ausreichendem Maße realisiert werden kann. Wie wir zeigen werden, ist Zeitwohlstand nicht lediglich als Abwesenheit von Zeitnot zu verstehen und wird sowohl von individuellen als auch von strukturellen Einf lussfaktoren bestimmt. Als im März 2020 die ersten Corona-Beschränkungen in Deutschland greifen, ergeben sich massive Veränderungen in allen genannten Einf lussfaktoren auf Zeitwohlstand. Erwerbs152
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tätige Personen wechseln ins Homeoffice, in Kurzarbeit oder verlieren im Extremfall ihre Arbeit komplett. Für viele – sofern nicht systemrelevant beschäftigt – fällt damit auch der Zwang weg, zu einer bestimmten Zeit aufstehen zu müssen. Kinder werden zu Hause beschult und für alle Menschen fallen zahlreiche Zeitvertreibe wie Ausgehen, Freund*innen treffen, kulturelle Veranstaltungen oder Sport in Gruppen oder im Fitnesscenter weg. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Menschen ihre Zeit verbringen und erlaubt Rückschlüsse darauf, welche strukturellen Bedingungen besonders zeitwohlstandsfördernd sind.
Zeitwohlstand – ein mehrschichtiges Konstrukt Die zunächst eher politisch und arbeitssoziologisch geführte Debatte um Zeitwohlstand fokussierte sich v. a. auf kürzere Arbeitszeiten und mehr Freizeit. Ein Blick auf die Entwicklung der Arbeitszeiten seit Beginn der Industrialisierung zeigt, dass Beschäftigte die Früchte des enormen Wirtschafts- und Produktivitätsfortschritts nicht nur in höheren Löhnen, sondern auch in Form von mehr Zeit ausbezahlt bekamen. Die Einführung von Achtstundentag, Fünftagewoche oder bezahltem Urlaub sind alles Errungenschaften, die den Wohlstand an Zeit vermehrten. Allerdings ist in diesem Zusammenhang auch all die unbezahlte, und damit oft ungesehene Arbeit, zu berücksichtigen, die für das Funktionieren unserer Gesellschaft notwendig ist. Neben der eigenen Reproduktion (Körperpf lege, Schlaf) muss auch Zeit für Pf lege und Betreuung anderer Haushaltsmitglieder aufgewandt werden. Die daraus resultierende »discretionary time« (Goodin et al. 2008) – oder frei verfügbare Zeit – ist dann per definitionem kleiner als Freizeit, die sich lediglich als Gegenstück zu bezahlter Arbeitszeit auszeichnet. In der interdisziplinären Weiterführung der Diskussion um Zeitwohlstand wird zunehmend Kritik daran laut, Zeit153
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wohlstand beschränke sich lediglich darauf, rein quantitativ über mehr Zeit zu verfügen (Rinderspacher 2012). Zusätzlich zu dem Aspekt ausreichend verfügbarer Zeit wird das stark damit verbundene Lebenstempo berücksichtigt. Je mehr Aktivitäten oder »Handlungsepisoden« (Rosa 2013) wir in die uns verfügbare Zeit legen, desto höher wird das Tempo. Da die absolute Verfügbarkeit von Zeit begrenzt ist, wird sich Zeitwohlstand immer auch in einem angemessenen Tempo ausdrücken. Bezugnehmend auf Scherhorn (1995), der schreibt, es »lebt im Zeitwohlstand, wer selbstbestimmt über seine zeitliche Lebensgestaltung entscheiden kann, weil man auf auskömmlichem materiellen Niveau ausreichend Zeit – zum richtigen Zeitpunkt, gemäß den eigenen sozialen und biologischen Rhythmen – pro Zeitverwendung zur Verfügung hat«, plädiert Reisch (2001) für Zeitsouveränität und gelungene Synchronisierung als weitere Bedingungen für Zeitwohlstand. Mit letzterem Aspekt ist gemeint, dass Zeitwohlstand auch die gelungene Abstimmung mit den zeitlichen Abläufen unserer Umwelt und uns wichtiger Personen beinhaltet. Dazu gehört auch die Ermöglichung gemeinsam verbrachter Zeiten, die durch gesellschaf tliche Zeitinstitutionen wie Feiertage, freie Wochenenden und Feierabend geschützt werden (Mückenberger 2002). Darüber hinaus plädiert Garhammer (2002) dafür, eine gewisse Sicherheit bzw. Planbarkeit als weiteren Aspekt von Zeitwohlstand zu berücksichtigten, da sie die Voraussetzung für eine sinnvolle und zufriedenstellende Lebensgestaltung sei. Diese kann sich sowohl in mittelfristigen Zeithorizonten, wie z. B. in vorhersehbaren Arbeits- und Schichtplänen, ausdrücken als auch in langfristigen, wie die Gesamtlaufzeit von Arbeitsverträgen oder Rentenabmachungen. Aus diesen Überlegungen resultiert die der Befragung zugrundeliegende Definition von Zeitwohlstand (Geiger et al. 2021) als einem Zustand, in dem Menschen 154
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(1) einen angemessenen Umfang frei zur Verfügung stehender Zeit (ausreichend Zeit) haben, (2) der genügend Zeit pro Zeitverwendung (angemessenes Tempo) erlaubt bei (3) ausreichend stabilen Erwartungshorizonten (Planbarkeit) und (4) zufriedenstellender Abstimmung unterschiedlicher zeitlicher Anforderungen (Synchronisierung) unter (5) hinreichend selbstbestimmten Bedingungen (Zeitsouveränität). Diese hier aufgezählten Dimensionen von Zeitwohlstand sind auf viel- und wechselseitige Weise untereinander verbunden. So kann man ausreichend freie Zeit als Bedingung dafür verstehen, Aktivitäten in einem angemessenen Tempo durchführen zu können; weiterhin mag eine selbstbestimmte Zeitgestaltung eine Voraussetzung sein, verschiedene Lebensbereiche erfolgreich zu synchronisieren. Dieses mehrdimensionale Modell von ineinander verwobenen Zeitwohlstandsdimensionen wurde anhand der empirischen Daten aus der Repräsentativbefragung mit einem speziellen MeSSModell aus der psychologisch-diagnostischen Forschung bestätigt. Sog. S-1 Modelle (Eid et al. 2017) zeichnen sich durch eine grundlegende Referenzkategorie aus. In unserem Zeitwohlstandsmodell ist die Referenzkategorie ausreichend freie Zeit. Weitere Ausprägungen von Zeitwohlstand (wie z. B. zusätzliche zeitliche Anforderungen im Alltag gut unterzubringen) werden von den vier weiteren mit ausreichend freier Zeit eng verbundenen Sub-Dimensionen (hier Tempo, Planbarkeit, Souveränität und Synchronisierung) erklärt. Über die empirische Bestätigung des Zeitwohlstandsmodells hinaus erlauben uns die Ergebnisse beider Untersuchungen, vor und während der ersten Corona-Maßnahmen (jeweils Februar und April 2020), Einblicke in Treiber und Hürden zum Erleben von Zeitwohlstand. 155
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Was beeinflusst unseren Zeitwohlstand und wie können wir ihn fördern? Als generelle Einf lussgröße aus der ersten Studie hat sich wenig überraschend die Arbeitszeit als negativer Faktor auf Zeitwohlstand herausgestellt. Dabei ist es bemerkenswert, dass hier weniger das eigentliche Ausmaß der Arbeitszeit ausschlaggebend ist als vielmehr die Diskrepanz zwischen tatsächlicher und gewünschter Arbeitszeit. Das deutet darauf hin, dass es für Beschäftigte oft nicht möglich ist, ihre präferierten Arbeitszeiten zu realisieren. Während Menschen in Teilzeitjobs oft mehr arbeiten wollen, möchten viele Vollzeitbeschäftigte ihre Arbeitszeit reduzieren (Destatis 2020). Können sie dies nicht umzusetzen, dann leidet der empfundene Zeitwohlstand. Weiterhin zehren sowohl Kinder als auch die Verantwortung für pf legebedürftige Angehörige am Zeitwohlstand; eine genauere Betrachtung ergab, dass grundsätzlich jedes zusätzliche Kind den Zeitwohlstand mindert (bei mehr als drei Kindern gibt es nicht genug Messdaten). Relevant ist im Zusammenhang auch die Freiheit, dem eigenen chronobiologischen Rhythmus folgen zu können. Ähnlich wie bei der Arbeitszeit ist auch hier weniger die absolute Schlafdauer ausschlaggebend, sondern ob Menschen früher aufstehen müssen, als es dem freien Wunsch entsprechen würde. Über diese eher strukturellen Einf lüsse genereller Lebensbedingungen hinaus haben sich Überlegungen von Rosa (2013) über negative Zusammenhänge zwischen Zeitsparstrategien und erlebtem Zeitwohlstand bestätigt. Menschen, die vermehrt zeiteffiziente Praktiken anwenden, wie z. B. Dinge gleichzeitig zu erledigen oder Pausen mit Tätigkeiten zu füllen, berichten tendenziell über weniger Zeitwohlstand. Dieser Zusammenhang gilt allerdings nicht für die Strategie, Dinge schnell zu Ende zu bringen; diese Praktik wirkt sich tendenziell eher positiv auf den Zeitwohlstand aus.
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Während des ersten Lockdowns erhobene Zeitnutzungsdaten unter Erwerbstätigen erlauben einen direkten Vergleich mit der Zeitverwendung vor Corona (Gerold und Geiger 2020). Es zeigt sich, dass die Menschen bei der zweiten Befragung im Schnitt fast 70 Minuten weniger täglich arbeiteten. Damit sank auch die Diskrepanz zwischen gewünschten und tatsächlich gearbeiteten Stunden. Wollten die Befragten vor Corona durchschnittlich noch 7,6 Wochenstunden weniger arbeiten, als sie es tatsächlich taten, war diese Diskrepanz im Lockdown nur noch 1,7 Wochenstunden. Entsprechend dem vor der Pandemie geäußerten Wunsch nach Erholung nutzten Menschen diese Zeit tatsächlich zum Schlafen (+ 7 min täglich) und Ausruhen (+ 21 min). Ebenfalls wurden im Schnitt mehr Zeit für die Kinderbetreuung (+ 22 min) und Hausarbeit (+ 15 min) aufgewendet. Das in der ersten Befragung weitere Defizitfeld Hobbys und Sport wurde allerdings nur sporadisch bedacht (+ 6 min), was wohl auf die pandemie-bedingten Einschränkungen im Freizeitbereich zurückzuführen ist. Diese einschneidenden Änderungen im Alltagsleben aller lässt auch den empfundenen Zeitwohlstand nicht unberührt. So stieg dieser über alle Befragten hinweg im Schnitt, allerdings nicht im gleichen Maße. Während systemrelevant Beschäftigte und Frauen grundsätzlich über weniger Zeitwohlstand verfügen, konnten vor allem Frauen ihren Nachteil gegenüber Männern etwas ausgleichen. Selbst für Eltern stieg der Zeitwohlstand während des Lockdowns generell leicht an, trotz der Belastung durch Homeschooling. Anhand von Regressionsanalysen lässt sich analysieren, welche der vielen Veränderungen den Zuwachs an Zeitwohlstand während des Lockdowns am besten erklären können. Dabei zeigt sich, dass in erster Linie die verringerte Arbeitszeit, der nachgeholte Schlaf und mehr Ausruhen für einen erhöhten Zeitwohlstand sorgten. Auch wenn mit dem Wechsel ins Homeoffice 157
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Pendelzeiten und die fixe Anwesenheit am Arbeitsplatz wegfallen, hatte dieser Aspekt nur einen kleinen positiven Einf luss auf den Anstieg des Zeitwohlstands. Vielmehr waren es (ggf. indirekt durchs Homeoffice mitverursachte) veränderte Arbeitsbedingungen, wie weniger Zeitdruck bei der Arbeit, eine höhere Selbstbestimmung in der Arbeitszeitgestaltung und eine bessere Vereinbarkeit von beruf lichen und privaten Anforderungen, die zu einer generellen zeitlichen Entspannung während des Lockdowns beigetragen haben (Gerold, Buhl und Geiger 2022).
Fazit Zeitwohlstand ist ein vielschichtiges Phänomen, das in unserer Gesellschaft ungleich verteilt ist: Frauen, systemrelevant Beschäftigte und Eltern haben in Schnitt weniger davon (was nichts Gutes für Mütter in systemrelevanten Berufen verheißt). Um negative Auswirkungen von Zeitnot auf die menschliche und planetare Gesundheit abzumildern, ist die gezielte Förderung von Zeitwohlstand wünschenswert. Aus den hier berichteten Forschungsergebnissen lässt sich ableiten, dass dies mit unterschiedlichen Maßnahmen erreicht werden kann. Zusätzliche Möglichkeiten der Arbeitszeitverkürzung, wie eine VierTage-Woche oder eine »kurze Vollzeit« (Reiner 2015), würden nicht nur die zeitliche Belastung von Beschäftigten reduzieren. So könnte auch erreicht werden, die Erwerbsarbeit gerechter zu verteilen und somit Diskrepanzen zwischen gewünschten und tatsächlichen Arbeitszeiten zu vermeiden. Das Ausmaß der Arbeitszeit begrenzt auch die Zeit, die für andere selbstgewählte Tätigkeiten zur Verfügung steht, wie Schlaf und Ausruhen, Freizeitbeschäftigungen oder soziale Beziehungen – jene Tätigkeiten, die unserer Umfrage zufolge vor dem Lockdown zu kurz kamen. Darüber hinaus spielt auch die Autonomie in der Arbeitszeitgestaltung und damit zusammenhängend die Wahl 158
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der eigenen Schlafzeitpunkte eine wichtige Rolle. Hier kann ein Schlüssel zu mehr Zeitwohlstand eine größere Flexibilität von Öffnungs- und Anfangszeiten von Arbeit, Schule und öffentlichen Einrichtungen einen ersten wichtigen Schritt bedeuten. Was können Menschen über diese strukturellen Änderungen hinaus zu ihrem eigenen Zeitwohlstand beitragen? Davon ablassen, mehrere Dinge gleichzeitig zu machen und jede Brückenzeit produktiv nutzen zu wollen. Bei der nächsten ungewollten Pause deshalb besser mal tief durchatmen, dem Vogelgezwitscher zuhören und den Reichtum des Augenblicks wahrnehmen: denn Wartezeit ist geschenkte Zeit.
Zum Weiterlesen Geiger, Sonja M./Freudenstein, Jan-Philipp/von Gerrit, Jorck/Gerold, Sefanie/Schrader, Ulf (2021): »Time Wealth. Measurement, Drivers and Consequences«. In: Current Research in Ecological and Social Psychology 2, S. 100015. DOI: https://doi.org/ 10.1016/j.cresp.2021.100015 Reisch, Lucia/Bietz, Sabine (2014): »Zeit für Nachhaltigkeit – Zeiten der Transformation. Elemente einer Zeitpolitik für die gesellschaftliche Transformation zu nachhaltigeren Lebensstilen«. In: TEXTE 68. Dessau: Umweltbundesamt. Verfügbar unter: https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/zeit-fuernachhaltigkeit-zeiten-der-transformation (zuletzt abgerufen am 22.02.2022). Rinderspacher, Jürgen P. (2002): Zeitwohlstand. Ein Konzept für einen anderen Wohlstand der Nation. Berlin: Ed. Sigma.
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Sonja M. Geiger und Stefanie Gerold Eid, Michael/Geiser, Christian/Koch, Tobias/Heene, Moritz (2017): »Anomalous Results in G-Factor Models. Explanations and Alternatives«. In: Psychological Methods 22, 3, S. 541–562. DOI: https://doi.org/10.1037/met0000083 Garhammer, Manfred (2002): »Pace of Life and Enjoyment of Life«. In: Journal of Happiness Studies 3, S. 217–256. Geiger, Sonja M./Freudenstein, Jan-Philipp/von Gerrit, Jorck/Gerold, Sefanie/Schrader, Ulf (2021): »Time Wealth. Measurement, Drivers and Consequences«. In: Current Research in Ecological and Social Psychology 2, S. 100015. DOI: https://doi.org/10.10 16/j.cresp.2021.100015 Gerold, Stefanie/Geiger, Sonja (2020): »Arbeit, Zeitwohlstand und Nachhaltiger Konsum während der Corona-Pandemie«. In: Arbeitspapiere des Fachgebiets Arbeitslehre/Ökonomie und Nachhaltiger Konsum 2. TU Berlin. Gerold, Stefanie/Buhl, Johannes./Geiger, Sonja (2022): »How to Enhance Time Wealth? Insights From Changes in Time Use and Working Conditions During the COVID-19 Lockdown in Germany«. Unveröffentlichtes Manuskript. Goodin, Robert E./Rice, James Mahmud/Parpo, Antti/Eriksson, Lina (2008): Discretionary Time. A New Measure of Freedom. Cambridge: Cambridge University Press. Kasser, T./Sheldon, K. M. (2009): »Time Aff luence as a Path Toward Personal Happiness and Ethical Business Practice. Empirical Evidence From Four Studies«. Journal of Business Ethics 84, 2, S. 243–255. DOI: https://doi.org/10.1007/s10551-008-9696-1 Mückenberger, Ulrich (2002): »Zeitwohlstand und Zeitpolitik. Überlegungen zur Zeitabstraktion«. In: J. P. Rinderspacher (Hg.). Zeitwohlstand. Ein Konzept für einen anderen Wohlstand der Nation. Berlin: Ed. Sigma, S. 117–142. Reiner, Sabine (2015): »Kurze Vollzeit für alle als Leitbild?«. In: Ökologisches Wirtschaften 30, 4, S. 26–27. DOI: https://doi.org/ 10.14512/OEW300426
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Autor*innen Geiger, Sonja M. hat an der Humboldt-Universität zu Berlin Psychologie studiert und 2007 im selben Fach an der Universität Potsdam promoviert. 2020 hat sie sich an der TU Berlin zu dem Thema nachhaltiger Konsum habilitiert. Seit 2021 forscht und lehrt sie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Forschungsschwerpunkte: Zeitwohlstand, Achtsamkeit, nachhaltige Lebensführung und Ernährung, Gesundheit und Wohlbefinden. Gerold, Stefanie studierte Volkswirtschaftslehre und SocioEcological Economics and Policy an der WU Wien. Ihre Promotion in Sozioökonomie schloss sie 2020 an der WU Wien ab. Seit 2022 arbeitet sie als Postdoc an der BTU Cottbus – Senftenberg am Fachgebiet für Technik- und Umweltsoziologie. Forschungsschwerpunkte: Nachhaltige Arbeit und sozial-ökologische Transformation, Zeitwohlstand und Zeitnutzung, Plattformarbeit, Arbeitskritik. Gutberlet, Judith promovierte 2006 am Institut für Anatomie und Zellbiologie in Würzburg aufgrund des vorangegangenen Studiums der Humanbiologie (Marburg) zum Dr. rer. physiol. Nach dem Fernstudium an der Akademie für ganzheitliche Lebens- und Heilwesen und staatlicher Prüfung erhielt sie 2011 die Erlaubnis zur berufsmäßigen Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung. Es folgten Fortbildungen in Akupunktur, klassischer Homöopathie, pf lanzenbasierter Ernährung, Fastenbegleitung, Stressbewältigung und -management. Seit 2006 Dozententätigkeit an der Universität in Würzburg, der Hochschule Fulda, den Medischulen und der Deutschen Heilpraktikerschule. Sie ist in eigener Praxis in Fulda tätig, beglei163
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tet regelmäßig Fastengruppen und leitet Workshops zur Burnout-Prävention. Seit 2016 ist sie im ehrenamtlichen Vorstand der Interessengemeinschaft für Gesunde Lebensmittel. Sie hält allgemeinverständliche Vorträge und schreibt Artikel über Gesundheitsthemen. Haubner, Tine studierte Soziologie, Philosophie und Psychologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Dort wurde sie mit einer Arbeit zur Ausbeutung informeller Laienpf legearbeit in der Soziologie 2016 promoviert, die 2017 unter dem Titel »Die Ausbeutung der sorgenden Gemeinschaft« im Campus-Verlag erschienen ist. Seit 2016 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich für Politische Soziologie in Jena. Dort hat sie gemeinsam mit Silke van Dyk ein Forschungsprojekt zu freiwilligem Engagement im Strukturwandel des Sozialstaates geleitet, aus dem das 2021 publizierte Buch »Community Kapitalismus« hervorgegangen ist. Nach einer Vertretungsprofessur an der Universität Chemnitz im Sommer 2021 hält sich Tine Haubner derzeit an der Pennsylvania State University/USA im Rahmen eines von ihr geleiteten Forschungsprojektes zu Armut in ländlichen Räumen auf. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten in Forschung und Lehre gehören die Vielfalt und der Wandel von Arbeit im Spannungsfeld sozialstaatlicher Regulierung und sozialer Ungleichheit. Henkel, Anna ist Professorin und hat seit 2019 den Lehrstuhl für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung an der Universität Passau inne. Zuvor war sie Juniorprofessorin für Sozialtheorie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Professorin für Kultur- und Mediensoziologie an der Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der soziologischen Theorie sowie der Wissens-, Materialitäts- und Nachhaltigkeitsforschung. Sie 164
Autor*innen
verbindet gesellschaf tstheoretische Perspektiven mit empirischer Forschung, etwa bei der Frage nach dem Wandel von Verantwortungsverhältnissen. Sozialtheoretisches Denken zum Verstehen und Erklären sozialer Tatsachen zu nutzen, ist ihr zentrales Anliegen. v. Lewinski, Kai lehrt seit 2014 Öffentliches Recht an der Universität Passau; von 2018–2021 war er dort auch Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs »Privatheit und Digitalisierung«. Nach Studium in Heidelberg, Berlin (FU) und Freiburg und Rechtsreferendariat in Berlin, Speyer und London war er zunächst Rechtsanwalt in Frankfurt a. M. und später in Berlin. 2002 kehrte er an die Universität zurück und habilitierte sich 2010 an der Humboldt-Universität mit einer finanzverfassungsrechtlichen Arbeit. Seine Forschungen haben ihren Schwerpunkt im Datenschutz- und Medienrecht. Mayer, Claude-Hélène (Dr. habil., PhD, PhD) ist Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie am Department of Industrial Psychology and People Management an der Universität Johannesburg, Privatdozentin an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), Deutschland und Senior Research Associate an der Rhodes University, Grahamstown, Südafrika. Sie hält Doktortitel in Psychologie (University of Pretoria, Südafrika), Management (Rhodes University, Südafrika), in Politikwissenschaften (Ethnologie, interkulturelle Didaktik und Sozioökonomik) (Georg-August-Universität, Deutschland). Ihre Habilitation (Europa-Universität Viadrina, Deutschland) ist in Psychologie mit Schwerpunkt Arbeits-, Organisations- und Kulturpsychologie. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: transkulturelle psychische Gesundheit und Salutogenese, Frauen in Führung in kulturell vielfältigen Arbeitskontexten, Scham, transkulturelles Konf liktmanagement und Mediation, Arbeit 4.0 und Psychobio165
10 Minuten Soziologie: Stress
graphien. Ihre Ansätze sind vorwiegend in den Bereichen positiver und existentieller Psychologie anzusiedeln. Zusätzlich zu ihrer wissenschaftlichen Arbeit ist sie in der internationalen Unternehmensberatung tätig und arbeitet als Mediatorin, Therapeutin und Lehrtherapeutin. Mundt, Ingmar ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung an der Universität Passau. Er studierte Volkswirtschaftslehre (B. A.) und Zukunftsforschung (M. A.) in Berlin sowie Soziologie (M. Sc.) an der University of Edinburgh. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Beobachtung von gesellschaftlichen und technologischen Zukunftskonstruktion, den Theorien, Methoden und Praktiken der Zukunftsprädiktion sowie den Auswirkungen von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz in der digitalen Gesellschaft. In seinem Promotionsvorhaben untersucht er die sozialen Praktiken des Zukünftigen im Zusammenspiel von Akteuren und prädiktiven Algorithmen. Nungesser, Frithjof ist Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und lehrt Soziologie an Universität Graz. Er studierte Wissenschaftliche Politik, Soziologie und Philosophie an der Universität Freiburg und an der University of Toronto. 2017 promovierte er an der Universität Graz und am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. Die Dissertation erschien unter dem Titel Die Sozialität des Handelns. Eine Aktualisierung der pragmatistischen Sozialtheorie (2021). Seine Arbeiten bewegen sich in und zwischen den Bereichen der Sozialtheorie, Kultursoziologie, Anthropologie, Soziologiegeschichte, politischen Soziologie und Gewaltsoziologie. Zurzeit forscht er im Rahmen eines dreijährigen ÖAW-Projekts zu einer »Soziologie der Verletzbarkeit«.
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Autor*innen
Ricart Brede, Julia ist Ordinaria für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Universität Passau. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der angewandten Linguistik in den Themenfeldern Lernersprachentwicklung, Sprachgebrauch im Fachunterricht und Mehrsprachigkeit. Studiert hat sie das Lehramt an Realschulen mit den Fächern Deutsch, Mathematik und Biologie an der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Nach der Promotion im Jahre 2011 ebenda war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena tätig, wo sie sich 2020 habilitierte. Vor der Rufannahme nach Passau war sie als Juniorprofessorin an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg (2012–2013) sowie als Professorin an der Universität Flensburg (2013–2018) tätig. Sellig, Julia ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung der Universität Passau. Sie studierte Soziologie und Politikwissenschaft und absolvierte den binationalen Masterstudiengang Interkulturelle Studien in Deutschland und Frankreich. In ihren Forschungen verbindet sie leibphänomenologische Perspektiven mit medizin- und techniksoziologischen Fragestellungen. Spengler, Andreas studierte an der Universität Passau Medien und Kommunikation, wo er im Anschluss von 2011–2020 am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war. 2017 promovierte er in Erziehungswissenschaft mit der Arbeit »Das Selbst im Netz – Eine Untersuchung des Zusammenhangs von Sozialisation, Subjekt, Medien und ihren Technologien«. Seit 2020 ist er Juniorprofessor für Medienpädagogik und Medienbildung an der Universität Rostock. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Medienbildung und -sozialisation, dort insbesondere Machtverhältnisse und Subjektivierung, sowie Medienkulturen und Medienanthropologie. 167