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German Pages 200 Year 2022
Katharina Block, Anne Deremetz, Anna Henkel, Malte Rehbein (Hg.) 10 Minuten Soziologie: Digitalisierung
10 Minuten Soziologie | Band 6
Editorial Das Programm der Soziologie ist: das Soziale zu verstehen und zu erklären. Dabei zeichnet sie sich durch eine Vielfalt theoretischer Ansätze, empirischer Gegenstände und konzeptioneller Zielsetzungen aus. Die Reihe »10 Minuten Soziologie« sieht diese Heterogenität als Stärke. So wie es für die Betrachtung der modernen Gesellschaft keinen »Archimedischen Punkt« (Luhmann) gibt – also keine Beobachtungsperspektive, von der aus das Soziale ›von außen‹ oder ›objektiv‹ beobachtbar wäre –, trägt auch die Disziplin diesem Umstand der modernen Gesellschaft als einer Welt ohne letzte Wahrheit Rechnung. Sie kehrt sich weder von der Welt ab, noch proklamiert sie in einem kontrafaktischen Duktus absolute Wahrheiten. Stattdessen bietet die Soziologie Beobachtungsmöglichkeiten an, die es erlauben: zu erklären und zu verstehen. Der soziologische Blick sensibilisiert dabei für ein Auch-anders-möglich-Sein sozialer Tatsachen. Die Beiträge eines Bandes der Reihe »10 Minuten Soziologie« nähern sich dem jeweiligen Gegenstand begrifflich aus unterschiedlichen Perspektiven und wenden das gewonnene Verständnis jeweils auf einen spezifischen Fall an. Im Mittelpunkt steht dabei die analytische Denkbewegung, also: ein theoretisches Konzept auf einen empirischen Gegenstand zu beziehen und diesen damit neu zu verstehen und zu erklären. Die Reihe wird herausgegeben von Anna Henkel.
Katharina Block, geb. 1981, ist Juniorprofessorin für Sozialtheorie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg sowie assoziierte Forscherin am Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft in Berlin. Sie hat den Arbeitskreis »Digitalisierung als Herausforderung für die Soziologische Theorie« in der Sektion Soziologische Theorie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie initiiert und gegründet. Anne Deremetz (M.A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Graduiertenkolleg 1681/2 »Privatheit und Digitalisierung« der Universität Passau. Anna Henkel (Dr. phil.), geb. 1977, ist Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung an der Universität Passau. Malte Rehbein (Dr. phil.) ist Inhaber des Lehrstuhls für Digital Humanities an der Universität Passau.
Katharina Block, Anne Deremetz, Anna Henkel, Malte Rehbein (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Digitalisierung
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Inhalt 10 Minuten Soziologie Digitalisierung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Katharina Block, Anne Deremetz, Anna Henkel und Malte Rehbein
Anthropologie der Digitalisierung: Mensch, Leib, Psyche Wissenstheorie Michael Polanyi und Künstliche Intelligenz (KI) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Marina Fiedler Leibphänomenologie Surfen mit Google als Erfahrung des Unverfügbaren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Katharina Block Diskursanalyse Digitalisierung des Psychotherapeutischen und digitale Therapiepraktiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Moritz von Stetten
Beziehungen im digitalen Zeitalter Einsamkeitsforschung und Digitalisierung Gibt es eine digitale Einsamkeit?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Anne Deremetz Theorie der Bewertungsspiele Digitale intime Bewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Thorsten Peetz
Digitale Wirtschaftsweisen Regulationstheorie Chinas Sozialkreditsystem und die Plattformökonomie.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Lia Musitz Karl Polanyi und die gesellschaftliche Entbettung der Kryptowährungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Yannick Kalff
Digitalisierung und Nachhaltigkeit Soziologie der Rechtfertigung Digitale Technologien und Nachhaltigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Sarah Lenz Systemtheorie der Gesellschaft Digital Farming. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Anna Henkel
Digitalisierung im Lichte der Geistes- und Rechtswissenschaften Kultursemiotik Entwürfe des Sozialen im Marketing digitaler Technologien . . . . . . . . . . . . . . 149 Martin Hennig Wissenschaftstheorie Verdatung des Nicht-Verdatbaren und die Ebenen der Digitalisierung in der Geschichtswissenschaft.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Malte Rehbein und Simon Donig Digitalrecht Formatierung des Sozialen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Kai von Lewinski Autor:innen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
10 Minuten Soziologie Digitalisierung Einleitung Katharina Block, Anne Deremetz, Anna Henkel und Malte Rehbein Digitalisierung ist zum Schlüsselbegriff der modernen Gesellschaft avanciert: Von der Wissenschaft, über die Politik und die Bildung bis hin zum Recht ist Digitalisierung nicht mehr aus dem Begriffsrepertoire gegenwärtiger Debatten und Diskurse wegzudenken. Dabei ist Digitalisierung mit gravierenden Transformationsprozessen sowohl technologischer wie auch sozialer Art verbunden. Der Begriff Digitalisierung bezieht sich auf eine sozio-technische Konstellation, deren Entwicklung zwar historische Prozesse von Technologisierung, Vernetzung und Globalisierung sowie nicht-digitale Verdatung vorausgehen, die nun aber einen Punkt erreicht, an dem daraus resultierende tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen offenbar werden, die bei Weitem noch nicht abgeschlossen sind. Digitalisierungsprozesse werden dabei nicht nur als Katalysator unserer bisherigen Lebensbedingungen wahrgenommen, sondern gleichzeitig als eine Zäsur, deren Eingriffstiefe und Auswirkungen noch kaum abzusehen sind. Schon jetzt erfasst Digitalisierung eine Vielzahl von Lebensbereichen, im Privaten wie im Öffentlichen, von Kommunikation über Konsum bis hin zu Arbeitsprozessen in nahezu allen Zweigen menschlichen Schaffens. Die Digitalisierung ist aus unseren Lebensbereichen somit nicht mehr wegzudenken. Durch Digitalisierung verändert sich, wie wir Zeit, Raum und gar uns selbst wahrnehmen – 7
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und damit verbunden, wie wir zwischenmenschliche Beziehungen führen und uns die Welt aneignen. Auch das Verhältnis von Gesellschaft und Individuen ist betroffen, wandeln sich doch gleichermaßen die Möglichkeiten zur Kontrolle der politischen Partizipation und die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe insgesamt. Lösungsansätze globaler wie regionaler Herausforderungen werden zumindest in ihrer technologischen Dimension immer mehr mit Digitalisierung in Verbindung gedacht, oft gar mit ihr gleichgesetzt. Darüber scheinen die ökologischen und sozialen Herausforderungen selbst zeitweise in den Hintergrund zu geraten. Dabei stehen digitale Technologien in einer engen Wechselwirkung mit umfassenden Möglichkeiten, Daten zu generieren, zu sammeln, zu speichern und auszuwerten. Neben den Vorteilen birgt dieser technologische Komplex, oft unter dem Begriff Big Data vereinfachend subsumiert, ebenso ein Missbrauchspotenzial, das die Ambiguität von Digitalisierungsprozessen offenbart. Zudem erscheint die Frage der Nachvollziehbarkeit von häufig intransparent herbeigeführten Entscheidungsprozessen, die auf maschinell-gestützter oder zunehmend autonom durchgeführter Auswertung großer Datenmengen basieren, als ein zunehmendes rechtliches, ethisches wie auch wissenschaftlichepistemologisches Problem: Welche Daten werden von wem zu welchem Zweck erhoben, ausgewertet und weiterverarbeitet? Die welterschließenden Möglichkeiten der Digitalisierung gehen entsprechend mit neuen Unsicherheiten einher, die fundamentale Fragen aufkommen lassen, die bis zu existenziellen Fragen des Menschseins reichen. Wer oder was steuert eigentlich wen? Wie viel Wirkmacht muss Algorithmen zugesprochen werden? Schränkt die Digitalisierung die Freiheit menschlicher Individuen ein oder garantiert sie überhaupt? Welche ethischen Probleme ergeben sich für Gesellschaften, deren normative Leitwerte durch digitale Technologien herausgefordert werden? 8
Einleitung
Digitalisierung zeigt sich damit als ein schillerndes Phänomen. Sie ermöglicht optimistische und pessimistische Perspektiven, vermag Euphorie und Angst in Individuen und Gesellschaften auszulösen, utopische und dystopische Imaginationskraft in Gang zu setzen und ganz praktisch unser bisheriges Denken und Handeln vor vielfältige Herausforderungen zu stellen. Die hier versammelten Beiträge nehmen Digitalisierung als sozio-technische Konstellation aus verschiedenen Perspektiven in den Blick. Die gesellschaftlichen Bedingungen von Digitalisierung wie die Wechselwirkungen zwischen Digitalisierung und Gesellschaft werden in ihrem Potential und in ihren Herausforderungen an konkreten Gegenständen diskutiert: Eine weit verbreitete Debatte, die im Kontext der Digitalisierung geführt wird, geht der anthropologischen Frage nach dem Akteursstatus von Künstlicher Intelligenz nach: Wird sich KI eines Tages so verhalten, dass es keinen Unterschied mehr zum Menschen gibt? Genau dieser Frage geht Marina Fiedler aus einer ökonomischen Perspektive in ihrem Beitrag »Wissenstheorie: Michael Polanyi und Künstliche Intelligenz (KI)« nach. Sie untersucht, inwieweit sich Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Entscheidungsfindung bei KI und beim Menschen identifizieren lassen. Im Fall des Machine Learning als einer weit verbreiteten Umsetzung von KI, lernt das Programm über Einspeisung von Daten bis hin zu konkreten Prognosen und Entscheidungen. Anders als beim Menschen basiert dies jedoch nicht auf kausalem Verständnis. Mithilfe der Wissenstheorie von Polanyi wird deutlich, dass somit zwar Gemeinsamkeiten bestehen, der Mensch aber anders als die KI auch unter der Bedingung hoher Umweltkomplexität Fragestellungen erfolgreich bearbeiten kann. Nichtsdestotrotz gewinnt der Eindruck eigener Wirkmacht digitaler Technologien auch in der Alltagspraxis an Relevanz 9
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und stellt etablierte Umgangsformen vor Herausforderungen. In ihrem Beitrag »Leibphänomenologie: Surfen mit Google als Erfahrung des Unverfügbaren« folgt Katharina Block einer Alltagsbeobachtung und nimmt diese zum Anlass einer leibphänomenologischen Analyse von Mensch-Technik-Interaktionen. Die Beobachtung ist, dass es im Umgang mit digitalen Technologien zu Erfahrungen des Unverfügbaren kommt, d.h. der Erfahrungsgehalt zeichnet sich wesentlich durch Unkontrollierbarkeit und Unsicherheit aus. Ursächlich dafür scheint u.a. die Intransparenz algorithmischer Datenverarbeitung zu sein sowie das eigene Nicht-Wissen darüber, was digitale Technologie eigentlich kann. Diese Beobachtung stellt Block zudem in einen gesellschaftstheoretischen Kontext, denn die Problematisierung von Mensch-Technik-Interaktionen als Erfahrungen des Unverfügbaren, ist nur sinnvoll, wenn man sie vor dem Hintergrund des (spät-)modernen Selbstverständnisses betrachtet, ein autonomes Selbst zu sein. Erst dadurch wird verständlich, warum der Umgang mit digitalen Technologien Erfahrungen des Unverfügbaren erzeugen kann. Die Frage danach, welche Qualität die digitale Vermittlung in einem genuin analogen Praxisbereich annehmen kann, stellt sich ebenfalls in psycho-sozialer Hinsicht. Moritz von Stetten untersucht in seinem Beitrag »Diskursanalyse: Digitalisierung des Psychotherapeutischen und digitale Therapiepraktiken« aus einer diskurstheoretischen und -analytischen Perspektive die Folgen der Digitalisierung für die soziale Praxis der psychotherapeutischen Diagnose und Behandlung. Der Einsatz von Apps, Chat-Beratungen, moderierten Foren oder Online-Sprechstunden im psychotherapeutischen Feld verspricht zum einen eine Entlastung des bisherigen analogen Systems – sowohl personell als auch finanziell. Zum anderen schwingt dabei die Frage mit, ob das Digitale zukünftig die unentbehrliche Interaktion zwischen Patient:innen und Therapeut:innen zu ersetzen vermag. 10
Einleitung
Er stellt dabei die Frage nach der diskursiven, historischen und politischen Kontextualisierung bzw. Einbettung digitaler sozialer Praktiken generell und speziell für die psychotherapeutische Versorgung und Behandlung. Am Beispiel von GesundheitsApps zeigt von Stetten auf, wie die Digitalisierung im therapeutischen Diskurs immer auch Fragen nach den vorherrschenden Wissensordnungen, Machtkonstellationen und gesellschaftlichen Bezugsproblemen mittransportiert. Dabei bleibt zunächst offen, ob die Digitalisierung als eine Fortsetzung oder als eine Zäsur im bisherigen ›therapeutischen Diskurs‹ fungiert. Anne Deremetz beschäftigt sich mit den Folgen der Digitalisierung für soziale Integrationsprozesse und fragt danach, ob sich durch die Digitalisierung eine zunehmende Vereinsamung in heutigen Gesellschaften abmildern lässt oder ob sich diese durch die Digitalisierung sogar noch verstärkt. Sie unternimmt dabei den Versuch, das Phänomen Einsamkeit als soziologischen Gegenstand zu fassen. Zunächst definiert Deremetz Einsamkeit als qualitativen und quantitativen Mangel an sozialen Kontakten und unterscheidet dabei das positiv konnotierte Alleinsein vom negativ konnotierten Einsamsein. Eine Zunahme von Einsamkeit führt sie auf drei gesellschaftliche Prozesse zurück: die Individualisierung, die Flexibilisierung der Arbeitswelt und zuletzt die Digitalisierung. Letztere zeigt sich darin gleichermaßen als Chance gegen eine soziale ›Vereinsamung‹ wie auch als ein Hindernis bestimmter Personengruppen für gesellschaftliche Teilhabe. Im Digitalen entstehen damit auch neue Formen von Einsamkeit, wobei vor allem die ›haptische Einsamkeit‹, also der Mangel an körperlichem Kontakt, verstärkt werde. Zugleich lernen immer mehr Menschen ihre Intimpartner:innen vermittelt über digitale Plattformen und Apps kennen. Onlinedating ist aus der Sphäre der Intimität nicht mehr wegzudenken. Thorsten Peetz führt in seinem Beitrag »Theorie der Bewertungsspiele: Digitale intime Bewertung« in das Phänomen 11
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des Onlinedatings ein und stellt die Theorie der Bewertungsspiele vor, die theoretische Werkzeuge zur Analyse dieses und anderer Phänomene der digitalen Gesellschaft bereithält. Beobachtet mit diesem theoretischen Instrumentarium zeigt sich, dass das Kennenlernspiel ein Intimitätsspiel ist und bleibt. Was sich verändert, ist das Spielzeug – die Dating-Plattformen und -Apps –, die über ihre Empfehlungssysteme im Spiel mitspielen. Neben den im Zuge der Digitalisierung möglich gewordenen Bewertungspraktiken zwischenmenschlicher Beziehungen treten vermittelt über Plattformen auch neue digitale Wirtschaftsweisen hervor, die grundlegend auf der digitalen Technikentwicklung basieren. Der Beitrag von Lia Musitz »Regulationstheorie: Chinas Sozialkreditsystem und die Plattformökonomie« schaut auf eine durch die Digitalisierung hervorgebrachte Entwicklung digitaler Governance: das von der chinesischen Regierung anvisierte Sozialkreditsystem. Während im sogenannten Westen Chinas Sozialkreditsystem unter dem Aspekt eines digitalen Updates eines totalitären Überwachungsstaats politisch verhandelt wird, begründen chinesische Staatsmedien seine Einführung wirtschaftlich mit der Entwicklung einer digitalen Plattformökonomie. Diesem Zusammenhang von Sozialkreditsystem und digitaler Plattformökonomie geht der Beitrag angeleitet durch die Regulationstheorie nach, die das Aufkommen von neuen Regulationsweisen auf wirtschaftliche Veränderungen bezieht. Ein Vergleich der Regierungsstrategie des Sozialkreditsystems mit den Geschäftsstrategien des Plattformunternehmens Alibaba lässt Musitz drei Faktoren identifizieren, durch die Chinas Sozialkreditsystem Policy sowohl darauf abzielt, die Entwicklung der digitalen Plattformökonomie zu fördern als auch im Interesse sozialen Zusammenhalts zu regulieren. Während das Sozialkreditsystem die Funktion einer digital vermittelten Vertrauensherstellung hat, widmet sich Yannick Kalff 12
Einleitung
in seinem Beitrag »Karl Polanyi und die gesellschaftliche Entbettung der Kryptowährungen« letzteren als spezifischem Phänomen des digitalen Kapitalismus. Kryptowährungen genießen einen ambivalenten Ruf. Immer neue Höhenflüge haben sich zuletzt jäh mit Werteinbrüchen abgewechselt. Ihre zugrundeliegende Idee, mittels digitaltechnischer Verfahren wie der Blockchain und Kryptographie eine technisch-selbstregulierte Währung zu schaffen, ist Ausdruck einer Utopie, die Geld und Geldpolitik aus ihrer gesellschaftlich-sozialen Einbettung lösen möchte. Kurzgefasst: Kryptowährungen sollen Vertrauen durch technische Rationalität ersetzen. Dies widerspricht jedoch der sozialen Beschaffenheit von Währung als sozial vermittelnder Institution, die ganz wesentlich auf Vertrauen aufbaut. Anhand Karl Polanyis Analyse der Doppelbewegung von Entbettung und Einbettung von Märkten in soziale Strukturen untersucht dieser Beitrag wie Kryptowährungen trotz technischer Rationalität auf sozial konstituierte Märkte angewiesen sind und weiterhin Vertrauen mobilisieren, wenn sie ihre Funktion als Währung wahren wollen. Kryptowährungen berühren darüber hinaus das ebenfalls soziologisch relevante Verhältnis zwischen Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Denn der Energieverbrauch des sogenannten Minings, bei dem etwa Bitcoins generiert werden, lässt generell die Frage aufkommen, wie nachhaltig eine digitale Gesellschaft eigentlich sein kann. In ihrem Beitrag »Soziologie der Rechtfertigung: Digitale Technologien und Nachhaltigkeit« nimmt Sarah Lenz die Konfrontation digitaler Technologien mit ihren negativen Auswirkungen auf die natürliche Umwelt in den Blick. Bezogen auf Nachhaltigkeitsfragen werden digitale Technologien wie bspw. Smart Homes einerseits als Problemlöser diskutiert, andererseits jedoch auch als Brandbeschleuniger einer nicht-nachhaltigen Entwicklung. Die Soziologie der Bewertung als theoretische Perspektive ist geeignet, diese Diskussion zu ordnen, werden Digitalisierung und Nachhaltigkeit doch in der 13
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Regel in langwierigen Prozessen des Wertens, Bewertens und Abwägens zwischen unterschiedlichen Akteuren ausgehandelt. Harmonisierung der Umweltproblematik und umkämpfte Digitalisierung werden so als konfligierenden Rechtfertigungsordnungen zugehörig beobachtbar und die Vermarktung des Digitalen als einer gemeinschaftlichen Ressourcennutzung wenig zuträglich sichtbar. Diese ambige Dimension der Digitalisierung im Kontext einer ökologischen Lebensweise nimmt Anna Henkel in ihrem Beitrag »Systemtheorie der Gesellschaft: Digital Farming« für den Fall der digitalen Landwirtschaft in den Blick. Digitalisierung verspricht Lösungspotentiale für Probleme der Landwirtschaft zwischen Effizienzsteigerung und Nachhaltigkeit. Aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive wird jedoch deutlich, dass Digitalisierung die bereits erfolgte gesellschaftliche Transformation hin zu funktionaler Differenzierung und autonomer Materialität voraussetzt und dann fortführt und verstärkt. Damit bietet Digitalisierung zwar Lösungspotentiale, kontinuiert aber auch die bekannten Risiken und negativen Effekte, sodass Nachhaltigkeitsprobleme eine fortbestehende Herausforderung bleiben. Die Nutzung eines Potentials durch Digitalisierung erfordert daher, die möglichen Risiken in der Implementierung der Technologien zu berücksichtigen. Neben den problematischen Dimensionen der Digitalisierung, die sich u.a. in neuen digital vermittelten Formen der Ökonomisierung und Politisierung finden, sind mit dem Einzug digitaler Technologien in soziale Strukturen aber auch Hoffnungen verbunden. In diesem Kontext nimmt Martin Hennig in seinem Beitrag »Kultursemiotik: Entwürfe des Sozialen im Marketing digitaler Technologien« das Phänomen Digitalisierung aus einer medien- und kultursemiotischen Perspektive in den Blick. Solche Zugänge konzentrieren sich auf die Strukturen konkreter Medienprodukte und untersuchen die damit trans14
Einleitung
portierten Bedeutungen sowie den kulturellen Gebrauch medialer Artefakte und Prozesse. Mithilfe dieses Zugangs lassen sich für das Phänomen Digitalisierung Denkmuster und Vorstellungen identifizieren, wie das gesellschaftlich Wünschenswerte des ›Digitalen‹ gedacht, auf digitale Technologien projiziert und vermittelt wird. Dabei stellt Hennig zwei Modelle von Sozialität aus kultursemiotischer Perspektive vor, die in Marketingkampagnen für digitale Technologien zum Einsatz kommen: Zum einen die klassische Natur-Kultur-Dichotomie, zum anderen die ›Vermenschlichung‹ und damit einhergehende Rollenzuschreibung digitaler Technologien. Am Beispiel sozialer Netzwerke und digitaler Assistenzsysteme veranschaulicht Hennig, wie eine praktische medien- und kultursemiotische Untersuchung vonstattengeht. Welche Wechselwirkungen zwischen Digitalisierung und dem Gewinnen geisteswissenschaftlicher Erkenntnis bestehen können, zeigen Malte Rehbein und Simon Donig in ihrem Beitrag »Wissenschaftstheorie: Verdatung des Nicht-Verdatbaren und die Ebenen der Digitalisierung in der Geschichtswissenschaft«. Sie erörtern am Beispiel der Geschichtswissenschaft, wie Erkenntnisweisen durch die Digitalisierung befruchtet, zugleich aber auch grundlegend herausgefordert werden. Sie machen dabei deutlich, wie sich Geschichte als ein methodisch fundiertes ›Modell‹ der Vergangenheit darstellt, das ihren Gegenspieler in den ebenfalls modellierenden Abbildungsfunktionen auf vier epistemologischen Ebenen der Digitalisierung und Verdatung wiederfindet. Schließlich kommt eine Analyse der Digitalisierung nicht an Fragen der rechtlichen Regulierung des digital Möglichen vorbei. Das Thema der informationellen Selbstbestimmung hat Konjunktur und betrifft ganz grundsätzliche Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Vor diesem Hintergrund geht Kai von Lewinski in seinem Beitrag »Digitalrecht: Formatierung des 15
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Sozialen« von der Feststellung aus, dass zwischenmenschliche Beziehungen im Netz nicht unverändert dargestellt werden. An den Fällen Facebook, Internetbewertung und Social Credit wird dies exemplarisch deutlich. Überraschend dabei ist, dass für die Einhegung und Begrenzung der mit solchen Verdatungskonstellationen verbundenen sozialen Macht keine geeigneten Rechtsinstrumente bestehen. Der umfassende Regelungsanspruch des modernen Rechts wird trotz eines unterdessen etablierten Digitalrechts insofern nicht eingelöst. Lewinski diskutiert ausgehend von den genannten Fällen bestehende Regelungsmodelle und deren Grenzen sowie Perspektiven, Datenräume als Herrschaftsgebiete zu fassen und kollisionsrechtliche Mechanismen für die Weiterentwicklung eines Digitalrechts aufzunehmen. Die Autor:innen widmen sich dem Thema Digitalisierung aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachbereichen und Perspektiven und geben Einblick in die Vielfalt der Digitalisierung unseres Lebens und deren Erforschung. Die Beiträge machen sichtbar, auf welchen Wegen sich diesem schillernden Phänomen Digitalisierung genähert werden kann, um die Vielfalt der Veränderungen und Konsequenzen, die mit einer digitalen Gesellschaft einhergehen, zu reflektieren. Die Erforschung dieser transformativen Prozesse steht noch am Anfang und damit auch deren Verständnis. Dieser Band möchte einen Beitrag hierzu leisten.
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Wissenstheorie Michael Polanyi und Künstliche Intelligenz (KI) Marina Fiedler Kostendruck, Innovations- als auch Wachstumsorientierung führen zunehmend dazu, dass wir uns auf Automatisierung in der Arbeitswelt verlassen (vgl. Mayer, Strich und Fiedler 2020; Neuburger und Fiedler 2020; Strich, Mayer und Fiedler 2020). Das ist keine neue Entwicklung. Sie wurde schon in den späten 70er Jahren des letzten Jahrhunderts vor allem im Bereich der Produktion oder Textverarbeitung diskutiert. Neu ist nun, dass diese Entwicklung in die Welt sog. ›intelligenter Arbeitender‹ Einzug nimmt. So verwendet mittlerweile fast jedes größere Unternehmen Künstliche Intelligenz (KI)-Systeme in unterschiedlichen Formen, um Mitarbeitende zu ersetzen bzw. zu unterstützen. KI wird typischerweise definiert als die Fähigkeit von Maschinen, menschenähnliche kognitive Aufgaben auszuführen, einschließlich der Automatisierung von physischen Prozessen wie Manipulieren und Bewegen von Objekten, Wahrnehmung, Problemlösung, Entscheidungsfindung und Innovation (vgl. Benbya, Davenport und Pachidi 2020). Beispiele sind Systeme zur Kreditsachbearbeitung, das Schreiben von journalistischen Texten, die Abwicklung von Rechtsangelegenheiten, Diagnosen von bildgebenden Verfahren, Sprachsteuerung, Empfehlungssysteme, Gesundheitsversorgung oder Kameraführung. Dabei zeigt sich, dass die hier zum Einsatz kommenden Algorithmen in ihren Vorhersagen im Durchschnitt genauer als der Mensch sind (vgl. Dietvorst, Simmons und Massey 2016), interessanterweise nicht nur bei sachlich-neutralen, sondern selbst bei emotionalen Themen. So zeigen Yeomans et al. (2019) bspw., dass 17
Marina Fiedler
Algorithmen treffsicherer als Freunde und Familienmitglieder vorhersagen können, welchen Witz ein Mensch lustig findet. Dennoch reagieren Menschen häufig mit Ablehnung und wenig Vertrauen auf diese Systeme. Das ist wenig verwunderlich, gibt es doch zahlreiche Beispiele für falsche Entscheidungen durch KI-Systeme. So wurde die Glatze eines Linienrichters als Fußball, wurden Hunde als Wölfe und, weit bedeutsamer und folgenschwerer, Menschen aufgrund ihrer Ethnizität fehlerhaft als potenziell straffällig (vgl. Hatmaker 2020) oder nicht behandlungswürdig (vgl. Obermeyer et al. 2019) eingestuft. Zu den bekanntesten Negativ-Beispielen im Managementbereich gehört das Aussortieren weiblicher Bewerbungen bei Amazon für Stellen als Softwareentwickler und andere technische Aufgaben. Das System wurde auf Basis tatsächlicher Einstellungsdaten über einen Zehnjahreszeitraum trainiert. Aufgrund dieser Datenbasis hat es geschlussfolgert, dass Frauen ungeeignet für diese Stellen sind (vgl. Dastin 2018). Das letzte Beispiel zeigt, dass nicht nur KI-Systeme, sondern auch Menschen Fehler in der Entscheidungsfindung begehen, und dass die Qualität dieser Systeme häufig sehr stark an die Qualität menschlicher Entscheidungen gebunden ist, da diese Daten in vielen Fällen zum Training der KI-Systeme eingesetzt werden. Das verzerrte Einstellungsergebnis bei Amazon lag weniger an fehlerhaften Algorithmen, die falsch klassifizieren, sondern vor allem an Verzerrungen bei den durch menschliches Entscheidungsverhalten entstandenen Trainingsdaten. Ich möchte mich deshalb sowohl mit Entscheidungsfindung bei KI als auch beim Menschen auseinandersetzen, um so Ähnlichkeiten und Unterschiede zu identifizieren. Im Folgenden wird zunächst Entscheidungsfindung durch KI und insbesondere Machine Learning dargestellt, dann auf menschliche Entscheidungsfindung nach Michael Polanyi eingegangen und schließlich ein Fazit gezogen. 18
Wissenstheorie
Der Fall: Entscheidungsfindung durch Künstliche Intelligenz (Machine Learning) Zu den am weitesten verbreiteten technologischen Umsetzungen von KI gehört derzeit das sog. Machine Learning, das auch den Schwerpunkt der folgenden Ausführungen bildet (vgl. Neuburger und Fiedler 2020). Ziel beim Machine Learning ist, dass über die Einspeisung von Daten durch Lernen ein Programm zur Handlung entwickelt wird (vgl. Domingos 2015; Tang et al. 2020). Diese Fähigkeit unterscheidet Machine Learning fundamental von bisherigen Informationssystemen, bei denen die zugrundeliegenden kausalen Handlungszusammenhänge weitgehend einprogrammiert sind und deren Aufgabe es ist, basierend auf eingegebenen Daten ein Ergebnis zu produzieren (vgl. Adler 2019). Diese Fähigkeit, ein Programm zur Handlung zu entwickeln, kann sowohl durch beaufsichtigtes Imitationslernen als auch nicht-beaufsichtigtes oder auch bestärkendes Lernen trainiert werden (vgl. Russel und Norvig 2010). Beaufsichtigtes Imitationslernen basiert auf markierten Daten, die Input-Beispiele für den jeweils korrekten Output beinhalten. Ziel ist, dass aufbauend auf diesen ›richtig‹ gelösten Aufgaben gelernt wird, selbständig Klassifikationen durchzuführen. Unbeaufsichtigtes Lernen basiert dagegen auf nicht-markierten Daten mit dem Ziel, dass inhärente Strukturen innerhalb der Daten entdeckt und geclustert werden. Beim bestärkenden Lernen fußt das Training dagegen auf bestärkendem Feedback. So führt das System eine Aktion durch und wird direkt belohnt oder bestraft (ebd.). Durch die Möglichkeiten der KI, zu lernen, vorherzusagen und zu entscheiden, wird erstmalig in der Geschichte der Menschheit neues Wissen nicht ausschließlich durch Menschen, sondern auch durch Informationssysteme geschaffen (vgl. Domingos 2015). Dabei können KI-Systeme nicht nur allgemeine Verhaltensregeln lernen, sondern auch situationsspezifische As-
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pekte mit in ihrem Lernverhalten berücksichtigen. Einschränkend ist jedoch hinzuzufügen, dass momentan vor allem gut planbare Aufgaben durch diese Systeme zu erlernen sind, die sich durch geringe Umweltkomplexität auszeichnen (vgl. Neuburger und Fiedler 2020). Alle drei Arten von Machine Learning basieren auf möglichst großen, unverzerrten Trainingsdaten. Die Bausteine des Machine Learning sind dabei Repräsentation (z.B. Entscheidungsbäume, Bayesian Networks/Markov-Ketten, neuronale Netze), Evaluation (z.B. Genauigkeit, quadrierte Fehler, Wahrscheinlichkeit, Kosten/Nutzen-Analyse, Marge) und Optimierung (z.B. kombinatorische Optimierung, konvexe Optimierung, beschränkte Optimierung) (vgl. Domingos 2015). Verzerrungen sowie falsche Identifikation und Klassifizierung durch KI sind, wie schon in der Einleitung dargestellt, kein Einzelfall. Weitere Beispiele für nutzlose und teilweise auch gefährliche Empfehlungen durch KI können in fehlerhaften Empfehlungen durch Watson for Oncology für Krebsbehandlungen (vgl. Ross und Swetlitz 2018) und dem korrumpierten Microsoft AIChatbot Tay gesehen werden, der über das Training mit öffentlichen Daten Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus gelernt hat (vgl. Blier 2020). Im Kontext mit KI wurde zudem vielfach über ethische Fragen und Vorurteile des Menschen diskutiert, die über das Training Einfluss auf die Vorhersagen und Handlungen der KI nehmen (vgl. Neuburger und Fiedler 2020). Zusammenfassend ist festzustellen, dass Machine Learningbasierte KI-Systeme kein kausales Verständnis der Zusammenhänge haben. Ihre Entscheidungen und Lernvorgänge basieren auf Trainingsdaten und Bausteinen des Machine Learning. Das ist insbesondere dann problematisch, wenn ein KI-System mit Mitteln der staatlichen oder privaten Machtausübung verbunden ist (z.B. Ablehnung des Kreditkartenantrags, Straffälligkeitsprognose oder Einreiseverbot). Ein Aspekt, der in diesem Kontext stark diskutiert wird, ist die Forderung nach Erklärbarkeit der 20
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so getroffenen Entscheidungen. Gesetze wie die Datenschutzgrundverordnung in der EU oder der Fair Credit Reporting Act in den USA sind erlassen worden, um die Nachvollziehbarkeit und Erklärbarkeit der Entscheidung eines KI-Systems zu gewährleisten und etwaige Verzerrungen zu erkennen. Dabei ist es wichtig zu definieren, wie und in welchem Ausmaß diese Systeme erklärbar zu sein haben. Geht es ausschließlich um die Offenlegung einzelner Variablen, um deren Verbindung oder um das gesamte Modell mit allen Gewichtungen? Wie gut müssen die Menschen ausgebildet sein, die mit diesen Systemen arbeiten? Wie nachvollziehbar sind die Machine Learning-Elemente? Wer ist berechtigt zur Prüfung des Systems? Kritiker dieser Richtlinien zur Nachvollziehbarkeit und Erklärbarkeit thematisieren insbesondere das Manipulationspotential, das durch die Erklärbarkeit entsteht. Wenn alle Nutzer, Designer und Auditoren den gesamten Algorithmus nachvollziehen können, ist eine entsprechende Anpassung des Verhaltens zu erwarten. Das führt wiederum zur Änderung des Algorithmus, da dieser in der Lage ist, eigenständig ein Programm zur Handlung zu entwickeln.
Die theoretische Perspektive: Menschliche Entscheidungsfindung nach Michael Polanyi Menschliche Entscheidungsfindung ist nach Michael Polanyi mittels der Bildung einer impliziten Triade zu beschreiben (zu den folgenden Ausführungen zu Polanyi vgl. Fiedler 2004). Diese ergibt sich aus dem Zusammenspiel zwischen dem Individuum, dem proximalen Term und dem distalen Term. Zwischen proximalem und distalem Term wirken zwei Kräfte: Imagination und Intuition (vgl. Polanyi 1966a; Polanyi und Prosch 1975). Dabei ist die Imagination die bewusste, aktive Kraft, während die Intuition der spontane Prozess der Integration ist. Polanyi definiert den distalen Term derart, dass er die Bedeutung des proximalen Terms darstellt (vgl. Polanyi 1966a; Polanyi und Prosch 1975). Das 21
Marina Fiedler
Zusammenspiel zwischen den beiden Termen sowie den zwei Kräften folgt nach Polanyi immer dem folgenden dreistufigen Vorgehen: Finden eines Problems (1), Untersuchung des Problems (2) und, falls die Untersuchung erfolgreich war, Lösung des Problems (3) (vgl. ebd.). Im Rahmen der ersten Prozessstufe (Finden eines Problems) lokalisiert die Intuition verborgene Ressourcen zur Problemlösung, liefert eine Idee respektive Problemstellung und richtet die Imagination in ihrem Streben nach Problemlösung aus (vgl. ebd.). Dabei stellt Polanyi fest, dass es keine Probleme oder Entdeckungen an sich gibt (vgl. Polanyi 1957, 1966a). Ein Problem existiert nur dann, wenn es jemanden beschäftigt und eine Entdeckung ist nur insoweit eine Entdeckung, als sie jemanden von der Last eines Problems befreit (vgl. Polanyi 1957). Zur Verdeutlichung führt er ein Schachproblem mittleren Schwierigkeitsgrads an. Dieses beschäftigt weder einen Schimpansen noch Schach-Großmeister. Ersterer ist von dem Problem nicht betroffen, Zweiterer fühlt sich davon unterfordert. Nur Spieler, deren Fähigkeiten dem Problemgrad entsprechen, werden sich intensiv damit beschäftigen. Nur derartige Spieler werden die Lösung des Problems als Entdeckung schätzen (vgl. ebd.). Das bedeutet aber nicht, dass diese Entdeckung nicht universal gültig sein kann, nur ist der Prozess der Entdeckung persönlich an das Individuum gebunden (vgl. Polanyi 1966a). Aufbauend auf dem so identifizierten Problem wird nun die Imagination aktiv, um geleitet von der Intuition einen Weg möglicher Lösungen aufzuspüren (vgl. Polanyi und Prosch 1975). Die Imagination muss vor allem deshalb von der Intuition geleitet werden, da der Mensch nicht wie ein Computer Millionen von möglichen, aber nutzlosen Alternativen verfolgen kann (vgl. ebd.). Stattdessen funktioniert die Imagination derart, dass sie Ideen produziert, die von einem feinen Sinn für Plausibilität geleitet sind, Ideen, die von Beginn an einen Lösungsaspekt be22
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inhalten (vgl. ebd.). Nicht die Produktion möglichst vieler Thesen zeigt Expertise, sondern die überdurchschnittlich schnelle Entdeckung zutreffender Thesen. In einem dritten Schritt wählt dann wiederum die Intuition aus dem von der Imagination mobilisierten Material die relevanten Beweisstücke aus, um diese in die Problemlösung zu integrieren und eine Idee als mögliche Lösung anzubieten, die dann wiederum im Licht der Imagination untersucht wird (vgl. ebd.; Polanyi 1966a). Erkenntnis/Entdeckung ergibt sich dementsprechend nicht einfach, sondern entsteht durch die aktive Formung der Erfahrung während des Erkenntnisvorgangs (vgl. Polanyi [1966b] 1985). Der eben beschriebene dreistufige Problemlösungsprozess der beiden Problemlösungskräfte findet im Individuum statt und führt zum Aufbau von Wissen in Form von distalem und proximalem Term, wobei diese wiederum den Erfolg der beiden Kräfte bestimmen. Ein häufig von Polanyi verwendetes Bild zur Verdeutlichung des Zusammenspiels zwischen proximalem und distalem Term sind Dozierende, die mit ihrem Zeigefinger auf ein Objekt deuten, bzw. Handwerker, die mit einem Hammer einen Nagel einschlagen (vgl. Polanyi 1967). Dabei achten Dozierende bzw. Handwerker nicht aktiv auf den Zeigefinger bzw. Hammer (symbolisiert den proximalen Term), sondern richten ihre Aufmerksamkeit auf das Objekt bzw. den Nagel (symbolisiert den distalen Term). Neben dem Kriterium ›Bedeutung‹ (handelt es sich um einen proximalen oder distalen Term) thematisiert Polanyi auch die ›Aufmerksamkeit‹ des Individuums. Diese kann entweder fokal oder subsidiär sein. Steht ein Ereignis also im Fokus der Aufmerksamkeit, ist es fokal, ansonsten subsidiär wirksam (vgl. ebd.). Im Normalfall wirkt der proximale Term subsidiär, während der distale Term im Fokus der Aufmerksamkeit steht. »Allgemein läßt sich sagen, daß wir den proximalen Term eines Aktes impliziten Wissens im Lichte 23
Marina Fiedler
seines distalen Terms registrieren; wir wenden uns von etwas her etwas anderem zu und werden seiner im Lichte dieses anderen gewahr« (Polanyi 1985: S. 20). Nur in diesem Normalfall kann sich die sog. implizite Triade aufbauen. Sie besteht aus dem Zusammenspiel zwischen Individuum, proximalem Term und distalem Term. Eine der wichtigsten Erkenntnisse Polanyis ist es, sich in seinem Tun auf den distalen Term und nicht den proximalen Term zu konzentrieren, da dieser die Bedeutung der Handlung beinhaltet. Problemlösung und damit Entscheidungsfindung erfolgen seiner Ansicht nach im Allgemeinen nur durch die Fokussierung der Problemstellung, nicht durch die Fokussierung der Lösungselemente (vgl. ebd.). Obgleich es häufig schwierig ist, die dem distalen Term zugrundeliegenden proximalen Terme zu identifizieren, ist es in manchen Fällen jedoch möglich, entweder den proximalen oder den distalen Term in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Allerdings ist beides nicht gleichzeitig möglich (vgl. Polanyi, [1958] 1964).
Machine Learning aus der Perspektive der Entscheidungsfindung Das Finden, die Untersuchung und die Lösung von Problemen sind nach Polanyi an den Menschen gebunden. Damit ist festzustellen, dass anders als bei der Entscheidungsfindung durch KI menschliche Entscheidungsfindung auf kausalem Verständnis basiert. Dies ermöglicht Menschen, auch solche Fragestellungen zu bearbeiten, die sich durch hohe Umweltkomplexität und geringe Planbarkeit auszeichnen (vgl. Neuburger und Fiedler 2020). Ähnlich wie im Fall von KI-Systemen ist jedoch festzustellen, dass die getroffene Entscheidung nicht immer erklärbar ist. Zwar kann der Mensch die dem distalen Term zugrundeliegenden proximalen Terme identifizieren, jedoch ändert dies deren Charakter. Das erklärt auch, weshalb Experten sich oft schwertun, ihre Einschätzungen zu begründen. Fokale und subsidiäre 24
Wissenstheorie
Aufmerksamkeit schließen sich gegenseitig aus (vgl. Polanyi 1964). Richtet sich der Fokus der Aufmerksamkeit auf den proximalen Term, so verliert dieser seinen eigentlichen Sinn (dem distalen Term Bedeutung zu geben) und die implizite Triade zerfällt, was zugleich bedeuten kann, dass Verständnis ausbleibt (vgl. Polanyi 1968). Dieser Vorgang ist sinnvoll, um die Gültigkeit der bestehenden proximalen Terme zu überprüfen, ermöglicht aber keine Anwendung der eigenen Expertise in diesem Augenblick. KI-Systeme basieren auf Methoden des maschinellen Lernens und werden mithilfe von Daten und Training in die Lage versetzt, ein Programm zur Handlung zu entwickeln. Große Potentiale bieten KI-Systeme in der Arbeitswelt vor allem durch ihre Effizienz und Lernfähigkeit in planbaren Umgebungen, die sehr datenintensiv sind (zu den folgenden Ausführungen vgl. Neuburger und Fiedler 2020). Auch ermöglicht ein konsequentes Audit von KI-Vorhersagen und den zugehörigen Elementen eine Offenlegung, Identifikation und Hinterfragung menschlicher Verzerrungen in der Entscheidung in noch nicht gekannter Weise, wie das Beispiel von Amazon sehr eindringlich verdeutlicht. Erst durch die Prüfung der KI-Empfehlung sind die Verzerrungen im menschlichen Entscheidungsverhalten der Vergangenheit offengelegt worden. Sind die verwendeten Trainingsdaten und das Training jedoch verzerrt, die Machine Learning Bausteine ungeeignet und das Modell falsch bestimmt, sind die so ermittelten Vorhersagen fragwürdig bis falsch. Zudem kommen KI-Systeme derzeit noch nicht mit schlecht zu planenden Aufgaben und hoher Umweltkomplexität klar. Hier hat der Mensch Vorteile. Er ist in der Lage sich mit Fragestellungen auseinanderzusetzen, die durch komplexe Umweltsituationen und geringe Planbarkeit gekennzeichnet sind. So kann er plausibilitätsgeleitet und basierend auf seinen proximalen Termen, seiner Intuition und Imagination zu zutreffenden Einschätzungen gelangen. 25
Marina Fiedler
Fazit Gemeinsam ist sowohl dem menschlichen als auch dem KI-basierten Entscheidungsprozess, dass die getroffenen Entscheidungen nicht unbedingt erklärbar sind. Beim menschlichen Entscheidungsprozess ist das in der Veränderung der Natur des Wissens begründet. So kann der Mensch zwar versuchen, seine proximalen Terme offenzulegen, nur ist dann seine Fähigkeit zur Entscheidung in diesem Moment ausgesetzt, da die implizite Triade zerstört ist. Bei KI-Systemen ist die Erklärbarkeit oft aufgrund der gewählten Machine Learning Komponenten beeinträchtigt. Hinzu kommt, dass in einer Welt, in der zunehmend mehr Aufgaben durch KI-Systeme übernommen werden, die Gefahr besteht, dass das notwendige Verständnis für diese Aufgaben beim Menschen verloren geht.
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Leibphänomenologie Surfen mit Google als Erfahrung des Unverfügbaren Katharina Block
Prolog: »Google hört schon wieder zu!« Vor Kurzem saß ich mit einer älteren Verwandten vor dem Tablet. Während wir uns etwas anschauten, unterhielten wir uns über Reisen. Kurz darauf erschien auf dem Tablet die Werbeanzeige eines Reiseunternehmens. Ich sagte spontan zu meiner Verwandten: »Schau mal, Google hört schon wieder zu!« Meine Verwandte erschrak und schaute mich ganz perplex an. Ihr war sichtlich unwohl bei dem Gedanken, dass ihr hier gerade etwas widerfährt, ein technisch vermitteltes Ereignis, das sie nicht durchschauen und dementsprechend auch nicht steuern kann (es sei denn, sie ginge in den digital detox, sodass sie von solchen Vorgängen gar nichts mitbekäme). Für mich hingegen war das Geschehen als Ereignis und ihre Reaktion darauf ein interessantes zu beforschendes Fundstück, das zum Nachdenken anregt, da es zu einer leibphänomenologisch informierten Analyse der spätmodernen sozio-technischen Konstellation einlädt. Denn obwohl es weniger eine wissenschaftlich gesicherte Tatsache ist, dass ›Google und Co.‹ rund um die Uhr über die Mikrophone in PCs, Laptops, Smartphones und Tablets (Sprachassistenten ausgenommen) aktiv zuhören, als mehr ein medial diskutierter Sachverhalt im Konjunktiv und die zeitliche Koinzidenz von Gespräch übers Reisen und Werbeanzeige vermutlich Zufall war (oder Ergebnis marktanalytischer Studien dazu, welche Altersgruppe wann am häufigsten digitale Medien nutzt), zeigt dieses Beispiel dennoch Interessantes: Es zeigt, dass die Kombination 31
Katharina Block
aus Nicht-Wissen darüber, was digitale Technik eigentlich kann und wozu sie imstande ist bzw. wäre, gepaart mit dem medialen Diskurs über die technischen Möglichkeiten ihrer Anwendung, auf unseren Erfahrungsgehalt, d.h. wie wir den Umgang mit digitaler Technik erleben, Einfluss nimmt. Mit ›wir‹ sind dabei die spätmodernen Selbste, die wir sind und die eine konstitutive Rolle in der leibphänomenologischen Analyse der spätmodernen sozio-technischen Konstellation spielen, angesprochen. Im Folgenden werde ich für diese Analyse im ersten Schritt den leibtheoretischen Ansatz der Erfahrung des Unverfügbaren vorstellen und in einem zweiten Schritt den exemplarischen Fall – das Surfen mit Google – beschreiben, wobei das Surfen mit Google stellvertretend für eine digitale Praxis steht, die ebenso gut Amazon u.a. einschließen könnte. Anschließend werden Theorie und Fall aufeinander bezogen, sodass letzterer als Ereignis verständlich wird, das Erfahrungen des Unverfügbaren hervorbringt, wie sich hier auch am soziologisch-gesellschaftstheoretischen Diskurs über die Folgen der sozio-technischen Konstellation namens Digitalisierung zeigen lässt. Dies führt abschließend noch zu einigen gesellschaftstheoretischen Überlegungen über die spätmoderne Lebensweise.
Die Theorie: Leibphänomenologie Der theoretische Ansatz, den ich für die Analyse des Gegenstandes wähle, ist ein im Anschluss an Helmuth Plessners Kategorie der exzentrischen Positionalität entwickelter leibphänomenologischer Ansatz, mit dem sich erstens der Bezug eines Selbst zu seinem Umfeld als leiblich vermittelt beschreiben lässt und zweitens der Leib als eine zum Umfeld relationale Vollzugsstruktur sichtbar wird (vgl. dafür und für Folgendes Plessner [1928] 1975; Lindemann 2014, 2017; Block 2016, 2018). Der Begriff ›relationale Vollzugsstruktur‹ bezeichnet dabei den Sachverhalt, dass leibliches Erleben kein einseitig vom 32
Leibphänomenologie
Selbst aktiv in Gang gesetzter Vorgang ist, in dem es seinen Leib, den es hat, zum Wahrnehmen einsetzt. Dies würde erfordern, dass es – chronologisch betrachtet – zunächst ein Selbst gibt und dieses Selbst begegnet dann einem Umfeld, welches zu seiner Wahrnehmung schließlich erfordert, dass das Selbst aktiv seinen Leib in Gang setzt, um sein Umfeld wahrzunehmen. Vielmehr beschreibt Plessner den Leib bzw. Leiblichkeit als ein Vollzugsgeschehen, durch das hindurch Selbst und Welt (Umfeld) relational zueinander vermittelt werden. Dadurch stehen Selbst und Welt nicht als Relata am Anfang des leiblichen Wahrnehmungsvollzuges, sondern gehen in ihren Bedeutungen füreinander aus diesem Vollzug erst hervor. Der Leib wird somit nicht als eine physische und haptisch greifbare Substanz bzw. Materialität begriffen (wie dies beim Körper der Fall ist) und auch nicht – wie dies etwa noch die von Husserl inspirierte phänomenologische Soziologie von Schütz vorgeschlagen hatte – als die subjektive Bewusstseinseinstellung, von der aus sinnhaftes Handeln entsteht (Schütz 2004). Selbst und Welt sind nach Plessner keine vorgängigen Größen, sondern realisieren sich immer wieder aufs Neue relational zum involvierenden, leiblich vermittelten Geschehen. Gleichwohl: In leiblichen Vollzügen wird bereits bestehendes ordnungsimmanentes Wissen, das sich in relationalen Bezügen bewährt hat, selbstverständlich auch stabilisiert und institutionalisiert, aber der leibliche Vollzug selbst ist dadurch nicht auf diese strukturformenden Bezüge festgelegt. Ein kurzes Beispiel zur Verdeutlichung: Postsendungen waren vor der E-Mail mit einem spezifischen, leiblich vermittelten Zeiterleben verbunden, das ein Selbst hervorgebracht hat, das eine gewisse (meist mehrtägige) Dauer erwartet, bevor es eine Antwort bekommt, und eine Welt, in der Postsendungen eine gewisse Zeit dauern. Die E-Mail hat dieses Zeiterleben und die damit verbundenen stabilisierten Erwartungen irritiert. Nun 33
Katharina Block
konnte ein leiblich vermitteltes Selbst-Welt-Verhältnis hervorgebracht werden, in dem Postsendungen und die Antworten darauf lediglich die Erwartung einer extrem kurzen Dauer erfordern und die leiblichen Vollzüge im involvierenden Geschehen der Postsendungen so Selbste erzeugen, die nun mit einem neuen Zeiterleben umgehen müssen, das relativ dazu ebenso eine neue Welt der Postsendungen mit einer anderen zeitlichen Struktur als die der Welt der Briefpostsendungen erzeugte. Eine Anpassung der routinierten Erwartungen wurde so erstens möglich und auch durchaus notwendig, jedoch geriet mit der Einführung der E-Mailpostsendungen unser Selbstverständnis nicht aus den Fugen. Heute können wir mit beiden Postsendungsformen routiniert umgehen und je nach zeitlichem Bedarf entscheiden, welche Form wir nutzen. Der Ausgang einer Relation ist kein zuvor bereits determinierter, aber auch kein determinierender, der nur eine bestimmte Möglichkeit eines Selbst-Welt-Verhältnisses zulässt. Der Ausgang ist vielmehr stets eine offene Frage, die Zukunft somit prinzipiell kontingent. Zwar bildet das leibliche Erleben eine »historisch gewachsene Reaktionsbasis« (Lindemann 2017: S. 63), ohne die Routinen und wiederkehrende Muster in einem Selbst-Welt-Verhältnis in Relation zum involvierenden Vergesellschaftungsprozess kaum zu verstehen wären, es ist »aber nicht mit ihm identisch« (ebd.). Entsprechend entsteht die Möglichkeit, dass ein leiblicher Vollzug damit endet, dass eine bislang vertraute Erfahrung in ihren Grundfesten erschüttert werden kann, wenn der leibliche Vollzug einen gänzlich unerwarteten Ausgang nimmt. Die meiste Zeit können wir uns zwar darauf verlassen, dass wir mit Differenzen, die zwischen Intention und Ausdruck entstehen, dank unserer leiblichen Reaktionsbasis umgehen können. Selbstverständlich widerfahren uns immer wieder kleinere und auch größere Irritationen; grundsätzlich sind wir aber in der Lage, erfahrungsbasierte 34
Leibphänomenologie
Selbst-Welt-Verhältnisse zu realisieren. Im Fall der grundlegenden Erschütterung bleibt jedoch zwischen Intention und Ausdruck eine nicht überbrückbare Differenz bestehen, die im Erleben als eine Bruch/Zwang-Dialektik spürbar wird (vgl. dazu Block und Ernst-Heidenreich 2021): Es »bleibt die Differenz zwischen Intention und Ausdruck und nimmt qualitativ den Erfahrungsgehalt eines Bruches an, während der unerbittliche, expressive Zwang, sich Ausdruck verleihen zu müssen, ohne Erfüllungsgarantie bestehen bleibt« (ebd.: S. 10f.). Im leiblichen Vollzug einer Bruch/Zwang-Dialektik realisiert sich nun – dem dialektischen Prinzip gemäß – ein Selbst-WeltVerhältnis »situativer Nichtalltäglichkeit« (Ernst-Heidenreich 2019), das sich einer Kontrolle oder Beherrschung durch Erfahrungswissen oder routinierten Zugriffen entzieht. Diesen Erfahrungstypus nenne ich eine Erfahrung des Unverfügbaren (vgl. Block 2020). Er zeichnet sich dadurch aus, dass es im Vollzug seiner leiblichen Vermittlung unbestimmt ist, wie mit den von ihr provozierten Irritationen umgegangen werden kann und/oder soll. Das ›Unverfügbarsein‹ bleibt als Erfahrungsgehalt bestehen. Erfahrungen des Unverfügbaren können im Weiteren als eine formal-universalistische sozialtheoretische Prämisse verstanden werden, von der ausgehend nun der empirische Fall verständlich gemacht wird (vgl. dazu Lindemann 2014). Auf welche Weise mit einem Erfahrungsgehalt des Unverfügbaren umgegangen wird sowie die involvierenden Phänomene, die ihn provozieren (können), sind gleichwohl je sozio-historisch spezifisch. An diese Überlegungen anschließend lautet die These somit: In der Spätmoderne verdichten sich die Hinweise, dass die soziotechnische Konstellation Digitalisierung phänomenale Aspekte zeigt, die für viele (aber nicht alle) Erfahrungen des Unverfügbaren hervorbringen. Der Begriff der Spätmoderne markiert dabei in der Soziologie den aktuellen sozio-historischen Horizont, in dem Vergesellschaftungsprozesse hervorgebracht werden. Diese 35
Katharina Block
zeichnen sich insbesondere durch eine sich aufdrängende Permanenz der offenen Zukunft und Unbestimmtheit aus (vgl. Rosa, Strecker und Kottmann 2007) und sind insofern in hohem Maße geeignet dafür, Erfahrungen des Unverfügbaren zu erzeugen.
Der Fall: Surfen mit Google Das Surfen im Internet unter der Verwendung der Suchmaschine Google dürfte für viele von uns so selbstverständlich geworden sein, wie das ständige Herumtragen eines mobilen Telefons. Das Klingeln von letzterem versetzt uns ebenso wenig mehr in eine situative Nichtalltäglichkeit, wie die Flut an Suchergebnissen, die es zu bewerkstelligen gilt, wenn wir etwas mit Google suchen. Ebenso die Nutzung sog. Social Media, die von Facebook über Twitter bis zu Telegram reichen. Die ganze Welt der Informationen und des Wissens über Andere und Anderes ist mit wenigen Klicks und in Sekundenschnelle verfügbar – ein new normal, das seinen Neuheitscharakter für viele längst verloren hat. Kaum eine Frage, auf die man keine Antwort bekommt, kaum eine Person, mit der sich nicht ›connecten‹ lässt und kaum ein Ding, das nicht über Google zu finden ist. Es gibt natürlich ein sehr breites Spektrum an Möglichkeiten der Internetnutzung bzw. der Nutzung digitaler Devices, Plattformen etc. und entsprechend auch sehr unterschiedliche soziologische Analysen dazu – u.a. aus kultursoziologischer (Reckwitz 2017), ungleichheitssoziologischer (Mau 2017) oder wirtschaftssoziologischer (affirmativ: Mason 2015; kritisch: Zuboff 2018) Perspektive. Was diese Perspektiven allerdings eint, ist, dass sie die sozio-technische Konstellation der Digitalisierung immer im Kontext eines bestimmten Akteurtypus bzw. Erfahrungstypus betrachten, der seinen Ausdruck in leiblichen Selbsten der (Selbst-)Ermächtigung findet. In der Spätmoderne ist das autonome Ich, das mit der Entwicklung der modernen Gesellschaft erst die Bühne der Welt be36
Leibphänomenologie
trat, nun alles, was wir an Selbsterfahrung haben. Nichts ist gegeben, alles muss erarbeitet, entschieden, erworben werden. Das Leben spannt sich zwischen einem umfangreichen Verhandlungs-, Revisions- und Suchprozess auf, in dem die Einzelne Urheberin ihres Lebens und die eigene Verfügungsgewalt darüber rechtlich abgesichert ist. Praktiken der Selbstermächtigung sind also nicht nur Bürde, sondern gleichsam erwünscht und zeigen sich entsprechend auch in leiblichen Vollzügen als gewachsene Reaktionsbasis. Dieser Typus der Selbsterfahrung ist natürlich kein Auswuchs des Internets, aber es – wie Shoshana Zuboff festhält – »verstärkte seine Ansprüche« (Zuboff 2018: S. 55). Das Internet verspricht zunächst einmal, ein Instrument der Welterschließung mit immensem Potential zu sein, was auf diesen spätmodernen Erfahrungstypus dynamisierend wirkt: Die Verfügungsgewalt im Prozess der Weltaneignung wird beim Surfen durch das World Wide Web als gesteigert erfahren: »Die Bürde eines Lebens ohne ein vorbestimmtes Schicksal sorgte dafür, dass wir uns den befähigenden informationsreichen Ressourcen des neuen digitalen Milieus zuwandten, bot es uns doch neue Möglichkeiten zur Verstärkung der eigenen Stimme und zur Ausbildung von Beziehungsmustern unserer Wahl.« (Ebd.: S. 55) Zu diesen unglaublichen welterschließenden Möglichkeiten scheint sich nun jedoch mehr und mehr ein weiterer Erfahrungsgehalt im Rahmen der sozio-technischen Konstellation Digitalisierung zu gesellen, gleichsam als die andere Seite der Medaille: ein »Gefühl der Unabwendbarkeit« (ebd.: S. 25), wie Zuboff die Erfahrung nennt, d.h. ein Gefühl, dass die Kontrolle darüber verloren geht, welche Informationen von einem Selbst wie digital verarbeitet werden. Die Selbstbeobachtung lehrt: Zwar gibt es eine diffuse Ahnung davon, wie persönliche Informationen und Daten digital weitergetragen werden, aber wirklich einsichtig sind die automatisierten Datensammeltechniken nicht. 37
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Diese »Unlesbarkeit« (ebd.) bringt das spätmoderne Ermächtigungsselbst ins Wanken. Hinzu kommen mediale Berichterstattungen über die Speicher-, Sammel- und Auswertungsmöglichkeiten digitaler Technologien, in denen vor dem Hintergrund unserer (spät)modern geprägten Selbsterfahrung alarmistisch erscheinende Sätze fallen wie: »Per Sprachsteuerung sprechen wir Texte in unsere Handys und vergessen dabei, dass die Handys unsere Worte und Gedanken speichern, analysieren und auswerten. Die ›anderen‹ verstehen uns dank ausgefeilter Algorithmen und leistungsfähiger Software.« (Yogeshwar 2013) Oder es werden Headlines gesetzt wie: »Privatsphäre ade. Google zeichnet alles auf, was Sie sagen – hier können Sie es sich anhören« (Mansholt 2016). Das eigene Nicht-Wissen, gepaart mit einem medial bestärkten, aber dennoch diffusen Gefühl des Kontrollverlustes, realisiert sich als konkreter Erfahrungsgehalt und lässt Fragen – ganz gleich, wie realistisch die unterstellte Kausalität darin ist – aufkommen wie: Warum bekomme ich plötzlich Werbeangebote zu Kreuzfahrtreisen angezeigt, obwohl ich nie danach im Internet gesucht habe, sondern mich lediglich mit meiner Verwandten darüber unterhalten habe? Wer oder was hört durch die digitale Technik eigentlich die ganze Zeit mit? Und was alles wird gehört und anschließend digital verarbeitet? Wo gehen diese Daten schließlich hin? Was kann mit diesen Daten alles angestellt werden? Und warum kann ich selbst über sie eigentlich nicht verfügen, Google aber schon? Surfen mit Google, das macht dieses Geschehen aus soziotechnischer Konstellation, spätmodernem Erfahrungstyp, medial vermitteltem Diskurs und Konfrontation mit dem eigenen NichtWissen sichtbar, evoziert offenbar Erfahrungen des Unverfügbaren, die Selbst-Welt-Verhältnisse erzeugen, in denen es im Vollzug ihrer leiblichen Vermittlung unbestimmt ist, wie mit den provozierten Irritationen umgegangen werden kann und/oder soll. 38
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Die Konklusion: Verlustgeschichte Autonomie? Die exemplarisch gestellten, möglichen Fragen müssen soziologisch vor dem Hintergrund der sozio-historischen Situation eingeordnet werden, in der der spätmoderne Erfahrungstyp bislang einen dominanten Erfahrungsgehalt darstellt. Zum Vergleich: Vor der Individualisierung, d.h. vor der Freisetzung des/der Einzelnen aus feudalen Strukturen, gehörte es durchaus zur Normalität, keine Kontrolle über weitreichende Entscheidungen des eigenen und gesellschaftlichen Lebens zu haben. Erfahrungen des Unverfügbaren zeichneten dieses sog. ›vor-moderne‹ Leben aus. Entsprechend stellten sie im Großen und Ganzen keinen problematischen, sondern einen normalisierten Sachverhalt dar. Im 21. Jahrhundert, in dem der (spät-) moderne Erfahrungstyp voll entfaltet ist, ist die Situation eine völlig andere. Erfahrungen des Unverfügbaren kehren nun im Umgang mit digitalen Technologien offenbar zurück und nun sind sie höchst problematisch, da sie direkt auf diesen Erfahrungstyp bezogen sind. Wo das freie Individuum keine Grundeinheit von Vergesellschaftungsprozessen ist, kann es auch nicht zum Problem werden. Wo sich die Vorstellungen von Selbst- und Weltverfügung aber durchgesetzt haben, können Erfahrungen des Unverfügbaren hingegen existenziell bedrohlich wirken. Das Surfen mit Google kann so also zu einer Erfahrung werden, welche die tief internalisierten Selbstverständlichkeiten der Selbst- und Weltbestimmung nicht nur erschüttert, sondern unmittelbar bedroht. Es stellt sich gegenüber diesen technologisch vermittelten Mechanismen ein Gefühl des Autonomieverlustes ein und es scheint, als könne man dieser sozio-technischen Konstellation als Teil der Vergesellschaftungsprozesse nicht entkommen. Die digitale Verwobenheit von Welt und Selbst, die mittlerweile alltägliche Netz-Existenz, kurz Nexistenz (vgl. Lindemann 2015), in einer ubiquitären Technosphäre (vgl. Haff 2014) stellt 39
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das spätmoderne Ermächtigungssubjekt selbst infrage. Leitwerte moderner Gesellschaften wie Autonomie und das Selbstverständnis, ein mit Freiheit und Selbstbestimmungsrechten ausgestattetes Individuum zu sein, werden im Vollzug der Relationen zwischen Nexistenz und Technosphäre problematisch. Die darin hervorgebrachten Erfahrungen des Unverfügbaren sind kaum mit den Leitwerten moderner Gesellschaften kompatibel. Entsprechend skeptisch bis ablehnend wird auf den Prozess der Digitalisierung auch im soziologisch-gesellschaftstheoretischen Diskurs reagiert. Dessen unschwer zu erkennender normativer Bias lässt sich wie eine Verlustgeschichte der Autonomie lesen (vgl. dazu Block und Dickel 2020). In dieser ist u.a. vom »digitalen Panoptikum« (Mau 2017: S. 46) bzw. dem »generalisierten Panoptikum« (Lindemann 2015: S. 170) die Rede, in dessen Angesicht »die Ära dieser individuellen Freiheit zu Ende gehen« (ebd.: S. 48) werde. Somit gelte es, herauszufinden, »welche Bedrohungen und Gefahren sich darin für ein derart fundiertes individuelles Freiheitsverständnis abzeichnen« (Friedewald, Lamla und Roßnagel 2017: S. 2), da diese sozio-technische Konstellation sonst »unser Menschsein zu kosten« (Zuboff 2018: S. 26) drohe. Soziologisch interessant an diesem Diskurs ist dabei nicht etwa die Feststellung, dass die Autor:innen recht oder unrecht haben, sondern vielmehr, wer hier spricht sowie die offenbar geteilte Annahme, dass spätmoderne Selbste diese Erfahrung des Unverfügbaren teilen und sie als problematisch empfinden. Dies ist allerdings eine normative Unterstellung, deren Plausibilität eine empirische Frage ist, die es gleichwohl noch zu beantworten gilt. Die am Diskurs Beteiligten sind keine Vertreter:innen der sog. digital natives; ihr Umgang mit digitalen Technologien ist entsprechend distanzierter als von Akteuren, die eine Welt ohne digitale Technosphäre gar nicht mehr kennen. Gesellschaftstheoretisch wird somit fraglich, ob dem doing autonomy, 40
Leibphänomenologie
d.h. der praktischen Realisierung der autonomen Selbsterfahrung, nun möglicherweise ein undoing autonomy, d.h. der praktischen Realisierung nicht-autonomer Selbsterfahrung, folgt, welches von denjenigen, die dieses undoing betreiben, aber nicht als problematisch wahrgenommen wird (vgl. dazu Block und Dickel 2020). Ob dies so ist und welche Konsequenzen dies für die gesellschaftliche Entwicklung hätte, ist aktuell zwar noch offen. Das Geschehen zukünftig mit der leibphänomenologischen Perspektive auf Erfahrungen des Unverfügbaren zu untersuchen, bleibt dafür aber umso spannender.
Epilog: Das Mosaik Digitalisierung verstehen In diesem Text ging es nicht darum zu beurteilen, ob die Vorgehensweise von Google und anderen sog. ›Internet-Riesen‹ richtig oder falsch, gut oder schlecht ist, sondern darum zu zeigen, was mit einer leibphänomenologisch informierten Soziologie von der sozio-technischen Konstellation namens Digitalisierung in den Blick gerät. Dies kann immer nur ein Teil des gesamten Phänomenspektrums sein, an dessen weiterer Ausleuchtung sich alle hier versammelten Beiträge beteiligen. Auch sind Erfahrungen des Unverfügbaren bei Weitem nicht das einzige Erfahrungsspektrum, das sich in der Begegnung mit der sozio-technischen Konstellation namens Digitalisierung auftut, sondern sie bilden einen spezifischen Aspekt, der nur vor dem Hintergrund der spezifischen spätmodernen Lebensweise des Ermächtigungsselbst zu verstehen ist. Insofern hat die hier vorgeschlagene leibphänomenologische Analyse digitaler Prozesse trotz oder gerade wegen ihrer Partialität gesellschaftstheoretisches und zeitdiagnostisches Potential, welches wie ein Mosaikstein im Gesamtbild zum Verstehen dieser besonderen sozio-technischen Entwicklungen – in denen wir mittendrin stecken – beiträgt. 41
Katharina Block
Zum Weiterlesen Block, Katharina/Dickel, Sascha (2020): »Jenseits der Autonomie. Die De/Problematisierung des Subjekts in Zeiten der Digitalisierung«. In: Behemoth – A Journal on Civilisation 13, 1, S. 109131. Lindemann, Gesa (2015): »Die Verschränkung von Leib und Nexistenz«. In: Florian Süssenguth (Hg.). Die Gesellschaft der Daten – Über die digitale Transformation der sozialen Ordnung. Bielefeld: transcript, S. 41-66. Plessner, Helmuth ([1928] 1975): »Die Sphäre des Menschen«. In: Ders. Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin/New York: De Gruyter, S. 288-346.
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Leibphänomenologie auf ein soziales Problem. Sociologia Internationalis 58 (1/2) (im Erscheinen). Ernst-Heidenreich, Michael (2019): Irritation des Selbstverständlichen. Eine theoretische und empirische Annäherung an eine Soziologie situativer Nichtalltäglichkeit. Wiesbaden: Springer VS. Friedewald, Michael/Lamla, Jörg/Roßnagel, Alexander (2017): »Einleitung: Informationelle Selbstbestimmung im digitalen Wandel«. In: Michael Friedewald/Jörn Lamla/Alexander Roßnagel (Hg.). Informationelle Selbstbestimmung im digitalen Wandel. Wiesbaden: Springer, S. 1-8. Haff, Peter (2014): »Humans and Technology in the Anthropocene: Six Rules«. In: The Anthropocene Review 1, 2, S. 126-136. Lindemann, Gesa (2014): Weltzugänge. Die mehrdimensionale Ordnung des Sozialen. Weilerswist: Velbrück. Lindemann, Gesa (2015): »Die Verschränkung von Leib und Nexistenz«. In: Florian Süssenguth (Hg.): Die Gesellschaft der Daten – Über die digitale Transformation der sozialen Ordnung. Bielefeld: transcript, S. 41-66. Lindemann, Gesa (2017): »Leiblichkeit und Körper«. In Robert Gugutzer/Gabriele Klein/Michael Meuser (Hg.). Handbuch Körpersoziologie. Bd. 1: Grundbegriffe und theoretische Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS, S. 57-66. Mansholt, Malte (2016): »Privatsphäre ade. Google zeichnet alles auf, was Sie sagen – hier können Sie es sich anhören«. In: Der Stern (27.12.2016). Verfügbar unter: https://www.stern. de/digital/online/google-now-ok-google-sprachsuche-audiodaten-7052522.html (zuletzt abgerufen am 28.05.2021). Mason, Paul (2015): Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie. Berlin: Suhrkamp. Mau, Steffen (2017): Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Berlin: Suhrkamp.
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Katharina Block Plessner, Helmuth ([1928] 1975): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin/New York: De Gruyter. Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp. Rosa, Hartmut/Strecker, David/Kottmann, Andrea (2018): Soziologische Theorien. Konstanz/München: UVK. Schütz, Alfred (2004): »Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie«. In: Martin Endreß/ Joachim Renn (Hg.). Alfred Schütz Werkausgabe. Bd. II. Konstanz: UVK. Yogeshwar, Ranga (2013): »Mein digitaler Verrat«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (28.10.2013). Verfügbar unter: https://www. faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/ueberwachung/ein-ueber wachungsselbstversuch-mein-digitaler-verrat-12637886-p4. html (zuletzt abgerufen am 28.05.2021). Zuboff, Shoshana (2018): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt a.M./New York: Campus.
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Diskursanalyse Digitalisierung des Psychotherapeutischen und digitale Therapiepraktiken Moritz von Stetten
Einleitung Die psychotherapeutische Versorgung steht in Deutschland und anderen Ländern vor enormen Herausforderungen. Die Zahl an psychischen Erkrankungen und der Bedarf an psychotherapeutischen Behandlungen sind in den vergangenen Jahrzehnten stetig und deutlich gestiegen, Betroffene müssen jedoch oft Monate auf einen Therapieplatz warten (BPtK 2018). Mit dem Prozess der Digitalisierung ist die Annahme verbunden, dass geringe Versorgungsdichten und lange Wartezeiten durch den Einsatz von Therapie-Apps, Chat-Beratungen, moderierten Betroffenenforen oder Video- und Telefonsitzungen überbrückt werden können. Die Krankenkassen erhoffen sich hierdurch außerdem eine finanzielle und personelle Entlastung, die sowohl in der Präventionsarbeit als auch in der Akutbehandlung von Bedeutung sein kann. Die Debatte zur Digitalisierung des Psychotherapeutischen ist mit viel weitreichenderen Hoffnungen verbunden (vgl. Müller 2019). Aufgrund des immer noch hohen Stigmatisierungspotentials psychischer Leidensformen sollen Chats, Apps und Foren eine gleichzeitig geschützte sowie interaktive Kontaktaufnahme ermöglichen. In akuten Kriseninterventionen soll Hilfe über den digitalen Weg schneller und direkter möglich sein. Die psychotherapeutische und psychiatrische Forschung verspricht sich zudem weitere Fortschritte in den Bereichen der Diagnose und Behandlung. Hier kommen Virtual-Reality-Therapien, 45
Moritz von Stetten
Formen digitaler Phänotypisierung (Rückschlüsse auf Emotionen und Verhalten einer Person durch die Tracking-Daten des Smartphones oder anderer digitaler Sensoren) oder der gezielte Einsatz spezieller Therapie-Apps zum Einsatz. Zur Verbesserung von Verwaltung und Organisation des Krankensystems – Stichwort Ökonomisierung und Rationalisierung – wird zudem schon seit Längerem über die flächendeckende Einführung einer digitalen Infrastruktur mit einer elektronischen Patientenakte nachgedacht. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die Folgen der Digitalisierung für die sozialen Praktiken der psychotherapeutischen Diagnose und Behandlung. Eine diskursanalytische Perspektive betrachtet digitale Therapiepraktiken einerseits als eigenständige soziale Phänomene, andererseits als Aspekte und Momente eines größeren diskursiven Zusammenhangs. Im Vordergrund steht die Frage, in welchem diskursiven, historischen und politischen Kontext digitale soziale Praktiken diskutiert und umgesetzt werden. Geht die Digitalisierung mit einem Bruch in der bisherigen Art und Weise der psychotherapeutischen Versorgung einher und wenn ja, in welcher Form? Oder handelt es sich bei der Digitalisierung vielmehr um eine Kontinuität mit Blick auf die sozialen Praktiken, Wissensformen und Fachdebatten? Aus diskursanalytischer Sicht ist folglich offen, ob die Digitalisierung als eine historische, politische oder gesellschaftsstrukturelle Zäsur gedeutet werden sollte oder nicht.
Die Perspektive der Diskursanalyse Michel Foucault definiert Diskurse als »die Gesamtheit der Bedingungen, nach denen sich eine Praxis vollzieht, nach denen diese Praxis teilweise oder völlig neuen Aussagen Raum gibt, nach denen sie schließlich modifiziert werden kann« (Foucault 1973: S. 297). Diskurse dürfen folglich nicht auf bloße Sprechweisen und sprachliche Aussagen reduziert werden, vor allem nicht 46
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auf Texte in Zeitungen, parlamentarische Debatten oder Fachbücher. Diskurse gehen über rein Sprachliches hinaus, weil sie Effekte und Auswirkungen auf nicht-sprachliche Phänomene wie Wahrnehmungen, Empfindungen, Körperpraxen, räumliche Anordnungen oder materielle Artefakte haben. Drei zentrale Punkte lassen sich zur genaueren Charakterisierung des diskursanalytischen Anliegens benennen: Erstens geht die Diskursanalyse von einer Verschränkung von sprachlichen Diskursordnungen und sozialen Praktiken aus (vgl. Keller 2011: S. 255ff.). Sprachliche Anordnungen haben Auswirkungen auf Formen des Handelns und Erleidens, die ohne jede Sprache auskommen. Zweitens versteht sie Diskurse als Verschränkung von Wissensformen und Machtkonstellationen (vgl. Keller 2011: S. 136ff.). Die Entstehung ausdifferenzierter Wissensbereiche kann nie vom Aufkommen damit einhergehender Machtverhältnisse (Hierarchien, Autoritäten, Befehlsstrukturen, Normengefüge, Sanktionsmöglichkeiten, Legitimitätsgrenzen etc.) getrennt werden. Drittens konzentriert sich die Diskursanalyse auf die Verschiebung von Diskursen und damit einhergehende Brüche. Foucault nennt dies ein »Denken der Diskontinuität« (Foucault 1973: S. 13). So lässt sich bspw. die Frage stellen, ob und welche Veränderungen mit dem Prozess der Digitalisierung einhergehen. Zur Analyse von Diskursen kann auf unterschiedliche Aspekte wie Institutionen, Gruppenbildungen, Räume, Affekte, Technologien oder Artefakte Bezug genommen werden. Die Diskursanalyse gibt eine bestimmte »Forschungsperspektive« vor, sie ist jedoch sehr offen gegenüber verschiedenen Theorien, Methoden und Gegenständen, die so in den Blick kommen (Keller 2001: S. 113). Die Gemeinsamkeit zwischen diesen »heterogenen Elementen« (Foucault 1973: S. 106) besteht in ihrem gesellschaftlichen Bezugsproblem, einem »Notstand«, auf den dieses Ensemble eine Antwort zu geben versucht (Foucault 1978: 47
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S. 119f.). Das Netz, das sich aufspannt, um diesem Notstand etwas zu entgegnen, bezeichnet Foucault als ›Dispositiv‹ – »ein Netz von Diskursen, Wissen, Lüsten, Mächten, das unter Strom gesetzt wird« (Foucault 1983: S. 75). Zur besseren begrifflichen Abgrenzung werden Diskurse daher auch meist als eine Gruppe von Elementen innerhalb eines Dispositivs verstanden. Diskurse implizieren die Regeln und Grenzen des Sagbaren und Sichtbaren, die durch ein Dispositiv festgelegt sind. Sowohl das Ausgesagte als auch das Verschwiegene geben Aufschluss über die zugrundeliegenden Annahmen zur Legitimität und Wahrheit des diskursiven Zusammenhangs insgesamt. Diese diskursanalytischen Grundüberlegungen lassen sich nun auf das Beispiel der psychotherapeutischen Versorgung übertragen. Das gesamte Feld des Psychotherapeutischen ist ein Dispositiv, das auf das gesellschaftliche Problem psychischer Störungen und Krankheiten antwortet. Dieses Bezugsproblem ist ein historisch kontingentes, weil das Dispositiv sich nicht auf das schon viel ältere und diffusere Problem des psychischen Leidens insgesamt bezieht, sondern nur auf den deutlich eingeschränkteren Bereich psychischer Störungen und Krankheiten sowie den damit verbundenen Symptomen und Phänomenen. Eine psychotherapeutische Versorgung setzt voraus, dass psychische Leidensformen als Probleme, Störungen oder Krankheiten anerkannt sind und von professioneller Seite mit entsprechenden Wissensformen und Techniken behandelt werden. Das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine historische Entwicklung, die erst mit dem Entstehen der modernen Psychiatrie und Psychoanalyse im Laufe des 19. Jahrhunderts einsetzt. Der Begriff der Psychotherapie selbst taucht erst im späten 19. Jahrhundert auf, die Institutionalisierung psychotherapeutischer Angebote gewinnt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Bedeutung (Marks 2017, Schmidbauer 2012, Shamdasani 2005). Ähnlich wie Foucault das Entstehen bestimmter Wissens48
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ordnungen, Machtkonstellationen, Praktiken, Institutionen, Berufsbilder und Probleme an das Aufkommen der modernen Psychiatrie knüpft (Foucault 2005), lassen sich entsprechend andere Diskurse und Praktiken mit dem Aufkommen der modernen Psychotherapie in Verbindung bringen. Schon die Entstehung der Psychotherapie ist eine historische Zäsur, die weitreichende Konsequenzen für viele gesellschaftliche Bereiche hat. Mit Blick auf die Digitalisierung stellt sich nun die Frage, inwiefern dieser Zäsur ein weiterer Bruch folgt, oder ob die Digitalisierung nicht eine gewisse Kontinuität in der Entwicklung des psychotherapeutischen Dispositivs darstellt. Dazu können die Entwicklungen von Wissensformen, Machtverhältnissen oder Menschenbildern, von Fachdiskursen, räumlichen Anordnungen oder Berufsbildern differenzierter und genauer betrachtet werden. Eine der größten Herausforderungen besteht dabei in der hohen Aktualität dieser Entwicklung.
Das Beispiel der Gesundheits-Apps Diese allgemeineren Überlegungen zur Diskursanalyse des Psychotherapeutischen lassen sich nun auf ein konkretes Beispiel im Kontext der Digitalisierung übertragen. Dazu werde ich gleich auf eine diskursanalytische Interpretation von Psychotherapie-Apps zu sprechen kommen, zuvor führe ich aber noch etwas mehr in den Kontext des Aufkommens von GesundheitsApps ein. Zur näheren Analyse der psychotherapeutischen Versorgung lässt sich diese in Praktiken der Diagnose, Behandlung und Rehabilitation unterscheiden. Die Diagnose legt fest, welche psychische Störung oder Krankheit vorliegt. Die Behandlung beinhaltet Verfahren und Techniken des Therapeutischen, um einen Umgang mit der Störung oder Krankheit zu erlangen. Prävention und Rehabilitation beschäftigen sich mit weiteren Aspekten zur Verhinderung eines Rezidivs, einer Verschlechte49
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rung/Verschlimmerung des Leidens, oder zur Wiedereingliederung in das gesellschaftliche Leben. Zwischen verschiedenen psychotherapeutischen Strömungen ist jedoch umstritten, in welchem Verhältnis Diagnose und Behandlung zueinanderstehen. Um diesen Punkt zu verdeutlichen werde ich im Folgenden zwischen den zwei wichtigsten psychotherapeutischen Richtungen unterscheiden, die derzeit in Deutschland kassenärztlich anerkannt sind: der psychodynamischen und der verhaltenstherapeutischen (vgl. Lebiger-Vogel 2011: S. 31ff.). Ich benutze dabei den Begriff des Psychodynamischen, um alle tiefenpsychologischen und psychoanalytischen Ansätze zu bezeichnen, die einen besonderen Fokus auf die therapeutische Beziehung, unbewusste Prozesse und die interpersonale Dynamik zwischen TherapeutIn und PatientIn legen. Verhaltenstherapeutische Ansätze dagegen folgen der behavioristischen Grundidee einer Konditionierung des beobachtbaren Verhaltens. Letztere grenzen sich von psychodynamischen Konzepten ab, indem sie sich nicht mehr auf Momente der freien Introspektion und interpersonalen Dynamik konzentrieren, sondern auf das Hinterfragen und Erlernen von Verhaltensformen durch entsprechende Modelle und Übungen. Die Verhaltenstherapie geht davon aus, dass sich zu diesem Zweck klare Diagnosen mit entsprechender Symptomatik und gezielte, wirksame Behandlungen mit passenden Lernmodellen und Techniken unterscheiden lassen müssen und können (vgl. Lebiger-Vogel 2011: S. 97). Die Verhaltenstherapie nimmt bspw. an, dass eine Klaustrophobie mit anderen Techniken und Übungen behandelt werden sollte als eine Depression, eine Essstörung oder eine posttraumatische Belastungsstörung. Die psychodynamischen Ansätze dagegen kennen streng genommen zunächst keine klare Unterscheidung von Diagnose und Behandlung (vgl. Mertens 2000). Sie setzen vielmehr voraus, dass im Laufe einer Psychotherapie Komorbiditäten auftau50
Diskursanalyse
chen können, die zu Beginn der Behandlung noch nicht erkannt werden konnten. Psychodynamische Ansätze nehmen – sehr allgemein gesprochen – an, dass die tieferen Gründe und Ursachen für ein psychisches Leiden ins Unbewusste verdrängt wurden und erst im Laufe des Behandlungsprozesses sichtbar werden können. Daher ist das Vertrauensverhältnis zwischen PsychotherapeutIn und PatientIn auch von herausragender Bedeutung für die gesamte Behandlung. Für manche psychoanalytischen Strömungen besteht vor diesem Hintergrund der einzige Sinn und Zweck der Unterscheidung von Diagnose und Behandlung in der Organisation entsprechender Anträge bei den Krankenkassen. Innerhalb der Behandlung selbst jedoch spielen der Antrag und die darin festgelegte Diagnose eine untergeordnete Rolle. Die Verhaltenstherapie kann in Deutschland seit 1987 kassenärztlich abgerechnet werden, die psychodynamischen Ansätze waren schon zuvor anerkannt. Vor allem in klinisch-psychologischen und psychiatrischen Kontexten hat die Verhaltenstherapie seitdem eine immer dominantere Stellung eingenommen und auch in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung hat ihre Bedeutung rasant zugenommen. Seitdem herrschen in Deutschland intensive Auseinandersetzungen über ›gute Psychotherapie‹, also über Grundsatzfragen zur Legitimität und Praxis der unterschiedlichen Ansätze (Lebiger-Vogel 2011). Dabei geht es nicht nur um Deutungshoheit im öffentlichen und fachwissenschaftlichen Diskurs, sondern auch um die Gestaltung der Psychotherapie-Ausbildung und die Verteilung entsprechender materieller und ideeller Ressourcen. Die Debatten rund um das 2020 in Kraft getretene Psychotherapeutengesetz (PsychThG) haben diese Auseinandersetzungen in ihrer Vielschichtigkeit und Konflikthaftigkeit nochmals deutlich offengelegt. Betrachten wir nun den Fall von Gesundheits-Apps zur Diagnose und Behandlung psychischer Störungen und Krankhei51
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ten. Im Zuge des »Digitale-Versorgungs-Gesetzes« aus dem Jahr 2019 ist es mittlerweile möglich, vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte lizensierte Apps zur Behandlung zu verschreiben (bspw. deprexis, Invirto, Mindable, Selfapy oder somnio). Innerhalb des psychotherapeutischen Feldes ist es kaum umstritten, dass Gesundheits-Apps als Ergänzung zu den bisherigen psychotherapeutischen Angeboten von Bedeutung sein können. Gesundheits-Apps gelten ansatzübergreifend als digitale Medien, die eine symptomorientierte Linderung des psychischen Leidens sowie einen niedrigschwelligen Zugang zur psychotherapeutischen Versorgung ermöglichen können. Darüber hinaus sind der Sinn und Zweck von GesundheitsApps jedoch stark umstritten. In klinisch-psychologischen, psychiatrischen und verhaltenstherapeutischen Kontexten wird die hohe Wirksamkeit von Therapie-Apps unterstrichen und offen über die Möglichkeit einer Ersetzung von professionellen PsychotherapeutInnen durch einen Chat-Bot, eine Therapie-App oder ein Virtual-Reality-Szenario gesprochen (Klasen et al 2013). Dabei fällt auf, dass die unentbehrliche Rolle der PsychotherapeutIn nicht im Aufbau einer therapeutischen Beziehung gesehen wird, sondern im »informieren, anleiten und begleiten« (Lüttke et al 2018: S. 269) im Umgang mit E-Health-Angeboten. Eine solche Einschränkung ist für psychodynamische Ansätze undenkbar. Auch wenn in digitalen Therapiepraktiken über die verteilte ›agency‹ zwischen PatientIn und TherapeutIn mit Blick auf die Gestaltung und Nutzung der digitalen Formate und virtuellen Welten diskutiert werden kann (Brandt 2013), fallen hierbei aus psychodynamischer Sicht die entscheidenden Aspekte einer therapeutischen Beziehung weg. Psychodynamische Ansätze sehen keine Möglichkeit, dass die Interaktion zwischen PatientIn und einer virtuellen Welt, einem Chat-Bot oder einer Therapie-App die therapeutische Beziehung ersetzen kann – selbst wenn eine TherapeutIn diese Interaktion begleitet. Die 52
Diskursanalyse
Face-to-Face-Interaktion zwischen TherapeutIn und PatientIn ist der unersetzbare Kern einer psychodynamischen Psychotherapie. Damit hängt auch das Verhältnis von Diagnose und Behandlung in Therapie-Apps zusammen. Die meisten Therapie-Apps folgen der verhaltenstherapeutischen Grundannahme einer Trennbarkeit von Diagnose und Behandlung. Dementsprechend sind diese zur Behandlung spezifischer Diagnosen und der damit verbundenen Symptomatik programmiert. Eine App zur Behandlung von Schlafstörungen schlägt andere Praktiken und Techniken vor als eine App zur Behandlung von Depressionen oder ganz bestimmten Ängsten. Die digitalen Therapiepraktiken von mobilen Apps folgen demnach der Logik der Verhaltenstherapie, wenn sie eine sichere Diagnose voraussetzen und eine wirksame Behandlung der damit verbundenen Symptomatik anvisieren. In die grundsätzliche Unterscheidbarkeit von digitalen Mikropraktiken des Diagnostizierens und Behandelns ist demnach eine verhaltenstherapeutische Richtung eingeschrieben, die auf einer diskursiven Ebene mit anderen Ansätzen um die Deutungshoheit und Ressourcenverteilung im psychotherapeutischen Feld konkurriert. Daher ist es auch kein Wunder, dass die überwiegende Mehrheit aller Gesundheits-Apps im psychotherapeutischen Bereich auf eine Nähe zur kognitiven Verhaltenstherapie explizit verweist.
Fazit Digitale Therapiepraktiken können aus diskursanalytischer Perspektive nicht von der Frage nach den jeweils vorherrschenden Wissensordnungen, Machtkonstellationen und gesellschaftlichen Bezugsproblemen getrennt betrachtet werden. Macht, Technologie, Materialität sowie Vorstellungen von Subjektivität, Körperlichkeit und sozialer Ordnung sind aus diskursanalytischer Sicht immanent miteinander verschränkt. Die Digitali53
Moritz von Stetten
sierung des Psychotherapeutischen ist daher kein technologisch neutraler Raum, der mit beliebigem Wissen gefüllt werden kann. Vielmehr gibt die materielle und technische Gestaltung des digitalen Mediums schon Auskunft darüber, welche Wissensformen und Praktiken des Psychotherapeutischen mit diesem initiiert, konstituiert und reproduziert werden. Therapie-Apps zur Behandlung von Depressionen sind beispielsweise häufig im Aufbau angelehnt an Fragebögen und Leitfäden aus der kognitiven Verhaltenstherapie. Therapie-Apps sind keine neutralen digitalen Medien, sondern folgen einer bestimmten Vorstellung von richtiger, guter und wirksamer Psychotherapie. Das führt zu einem zentralen Gedanken von Foucaults Diskursanalyse: Foucault verweist auf soziale Praktiken und Technologien, die in ihrer Materialität und Körperlichkeit bestimmte Vorstellungen von Subjektivität und Weltkonstitution in sich tragen. Sie fungieren als eine »Mikrophysik der Macht«, weil sie in alltäglichen »Mechanismen und Wirkungen« (Foucault 1976: S. 38) den Bedeutungsgehalt eines größeren diskursiven Zusammenhangs und eines Dispositivs konstituieren und reproduzieren. In diesem Sinne lassen sich die digitalen Therapiepraktiken, die in Therapie-Apps eingeschrieben sind, als Mikrophysik einer digital zugespitzten Verhaltenstherapie beschreiben. Kommt man nun zurück zur Frage nach der möglichen historischen Zäsur der Digitalisierung im Kontext des Psychotherapeutischen, lassen sich sowohl ein Kontinuum als auch ein Bruch beobachten. Das Kontinuum besteht darin, dass die Digitalisierung eine Fortführung schon länger bestehender Diskurse über das Verhältnis von Mensch und Technik in der psychotherapeutischen Behandlung ist. Schon länger geht es um die Frage, ob Apparate, Computer und andere Technologien die therapeutische Beziehung unterstützen, erweitern oder gar ersetzen können (Wright und Wright 1997).
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Diskursanalyse
Ein Bruch jedoch stellt sich insofern ein, als die Verhaltenstherapie eine immer größere Bedeutung in der Forschung, Diagnostik und Behandlung erlangt hat. Die Verhaltenstherapie hat die psychodynamischen Ansätze in der Deutungshoheit über eine gute Psychotherapie in den letzten Jahrzehnten abgelöst. Die Verhaltenstherapie gilt mittlerweile in Deutschland nicht nur in der ambulanten Psychotherapie, sondern auch in psychiatrischen sowie in klinisch-psychologischen und pharmakologischen Kontexten als die wichtigste psychotherapeutische Wissensform und Behandlungspraxis. Sie hat ohne Frage eine dominante Stellung im Diskurs und verfolgt dort auch eine bestimmte Vorstellung mit Blick auf Sinn und Zweck der Digitalisierung. Shoshana Zuboff hat darauf hingewiesen, dass Behaviorismus und Digitalisierung spätestens seit den 1980er Jahren in einem engen Zusammenhang stehen, der alle gesellschaftlichen Lebensbereiche betrifft (Zuboff 2018: S. 422ff.). Dementsprechend sind auch der Diskurs über die Digitalisierung des Psychotherapeutischen und die mit ihm einhergehenden digitalen Therapiepraktiken von dieser jüngeren Entwicklung betroffen. Die Diskursanalyse betont die Kontingenz historischer Ereignisse, dementsprechend sieht sie auch die Zukunft als offenen Prozess. Es muss aber davon ausgegangen werden, dass die enge Verwobenheit von digitalen Praktiken und einer verhaltenstherapeutisch dominierten Gesundheitsversorgung eher an Bedeutung gewinnen wird. Die Aufgabe der Diskursanalyse bleibt es, diese Entwicklung nicht als natürliche Begebenheit, sondern als historisch entstandenes Geschehnis zu deuten.
Zum Weiterlesen Brandt, Marisa (2013): »From ›The Ultimate Display‹ to ›The Ultimate Skinner Box‹. Virtual Reality and the Future of Psychotherapy«. In: Kelly Gates/Angharad N. Valdivia (Hg.). The International
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Moritz von Stetten Encyclopedia of Media Studies. Bd. 6. Media Studies Futures. Hoboken: Wiley-Blackwell, S. 518-539. Lebiger-Vogel, Judith (2011): »Gute Psychotherapie«: Verhaltenstherapie und Psychoanalyse im soziokulturellen Kontext. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Müller, Ulrich (2019): »Die Zukunft einer technologischen Illusion. Gedanken zur Idealisierung der umfassenden Verfügbarkeit in der digitalen Rationalisierung des Gesundheitswesens«. In: Psychoanalyse im Widerspruch 61, 1, S. 48-68.
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Diskursanalyse Band 1: Theorien und Methoden. Opladen: Leske + Budrich, S. 113-143. Keller, Reiner (2011): Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Klasen, Mathias/Knaevelsrud, Christine/ Böttche, Maria (2013): »Die therapeutische Beziehung in internetbasierten Therapieverfahren«. In: Der Nervenarzt 84, 7, S. 823-831. Lebiger-Vogel, Judith (2011): »Gute Psychotherapie«: Verhaltenstherapie und Psychoanalyse im soziokulturellen Kontext. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Lüttke, Stefan/Hautzinger, Martin/ Fuhr, Kristina (2018): »E-Health in Diagnostik und Therapie psychischer Störungen. Werden Therapeuten bald überflüssig?«. In: Bundesgesundheitsblatt 61, 3, S. 263-270. Marks, Sarah (2017): »Psychotherapy in Historical Perspective«. In: History of the Human Sciences 30, 2, S. 3-16. Mertens, Wolfgang (2000): »Diagnostik in der Psychoanalyse«. In: Anton-Rupert Laireiter (Hg.). Diagnostik in der Psychotherapie. Wien: Springer, S. 27-40. Müller, Ulrich (2019): »Die Zukunft einer technologischen Illusion. Gedanken zur Idealisierung der umfassenden Verfügbarkeit in der digitalen Rationalisierung des Gesundheitswesens«. In: Psychoanalyse im Widerspruch 61, 1, S. 48-68. Schmidbauer, Wolfgang (2012): Die Geschichte der Psychotherapie: Von der Magie zur Wissenschaft. München: Herbig. Shamdasani, Sonu (2005): »›Psychotherapy‹: the invention of a word«. In: History of the Human Sciences 18, 1, S. 1-22. Wright, Andrew S./ Wright, Jesse H. (1997): »Computer-Assisted Psychotherapy«. In: Journal of Psychotherapy Practice and Research 6, 4, S. 315-329. Zuboff, Shoshana (2018): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt am Main; New York: Campus Verlag.
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Einsamkeitsforschung und Digitalisierung Gibt es eine digitale Einsamkeit? Anne Deremetz
Einsamkeit als soziologischer Gegenstandsbereich Es gab immer wieder Bestrebungen, das Thema Einsamkeit als soziologischen Gegenstand zu behandeln (vgl. Kanellopoulos [1936] 2018; Dreitzel 1970; Puls 1989; aktueller: Bohn 2008). Oft scheiterte es an dem Selbstverständnis der Soziologie als Analyse der Gesellschaft und der Interaktionen und eben nicht des einzelnen Menschen (vgl. Dreitzel 1970: S. 7). So versteht auch eine erste soziologische Definition Einsamkeit als »die soziale Situation eines Menschen, welche [sich] durch eine […] permanente, zeitlich befristete oder aus bestimmten sozialen Lagen sich ergebende Reduktion der Aktivitäten und der sozialen Interaktionen kennzeichnet« (Hillmann 2007: S. 172). Damit wird Einsamkeit insbesondere als Abwesenheit von Sozialität verstanden. Auch wenn in der Soziologie der Begriff Einsamkeit weiterhin unterrepräsentiert bleibt – bspw. da sie in neueren soziologischen Lexika (vgl. Farzin und Jordan 2015) oder Wörterbüchern (vgl. Endruweit, Trommsdorff und Burzan 2014) nicht auftaucht – so beschäftigt sich die Soziologie durchaus mit diesem Gegenstand, sei es, um eine zunehmende Isolation, Desintegration, Vereinzelung oder soziale Entbettung zu diagnostizieren, oder um auf soziale Ungleichheiten hinzuweisen, die das Phänomen der Einsamkeit in heutigen Gesellschaften noch bestärken. Gerade die Covid-19-Pandemie hat dazu beigetragen, sich dem Thema Einsamkeit soziologisch zu widmen: Im Zuge von Social Distancing wurden viele Personengruppen buchstäblich von ihren bisheri59
Anne Deremetz
gen sozialen Netzwerken und Kontakten isoliert. Den meisten blieb nur die Kommunikation im Digitalen. Die Distanz zu Anderen konnte durch die Digitalisierung zumindest abgefedert werden. Dennoch zeigt sich ein Anstieg von Einsamkeitsgefühlen (vgl. Statista Research Department 2019) – und es stellt sich die Frage: trotz oder vielleicht auch wegen der Digitalisierung? Bislang wurde Einsamkeit vor allem als individuelles und daher vor allem als psychologisches Problem angesehen und bearbeitet (vgl. Lauth und Viebhan 1987; Spitzer 2018). Es wird hier mehr als ein subjektives Gefühl, denn als ein soziales Phänomen behandelt und dennoch sind die gesellschaftlichen Auswirkungen erheblich und steigen an. Manfred Spitzer spricht sogar von einer ›unerkannten Krankheit‹ (vgl. Spitzer 2018), wenn er die Einsamkeit in der heutigen Gesellschaft untersucht. Die zentralen drei Entwicklungen für eine Verstärkung von Einsamkeit führe ich dabei – wie andere vor mir auch schon – auf die Individualisierung, die Flexibilisierung der Arbeitswelt und die Digitalisierung zurück. Gerade letzteres wirkt mitunter paradox, haben wir doch durch das Digitale so viele Kommunikations-, Verbindungs- und Vernetzungsmöglichkeiten wie nie zuvor. Viele Menschen partizipieren aktiv in Chats, Foren und Sozialen Medien. Gerade durch die Digitalisierung scheint doch Einsamkeit der Vergangenheit anzugehören, da man nun auf der ganzen Welt Kontakt zu Gleichgesinnten aufbauen kann. Wie kann man im Digitalen also von Einsamkeit sprechen? Zuerst möchte ich das Phänomen der ›analogen‹ Einsamkeit etwas näher vorstellen, Gründe und Faktoren nennen, die man als Verstärker bzw. als Ursachen ›analoger‹ Einsamkeit diskutiert. Im Anschluss bette ich den Gegenstand Einsamkeit in die bereits bestehende soziologische Theorie ein, indem ich mich auf die Tönnies’sche Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft und dessen postmoderne Ergänzung durch das Individuum beziehe. 60
Einsamkeitsforschung und Digitalisierung
Danach wende ich das Thema Einsamkeit auf den Fall Digitalisierung an und frage, inwiefern es zu Einsamkeitsphänomenen im Web 2.0 kommen kann. Hier zeige ich auf, dass bestimmte Formen der Einsamkeit durch das Internet zwar vermindert werden, andere und neue Formen sich wiederrum durch das Web 2.0 verstärken können.
Einsamkeit als Gegenstandsbereich der Soziologie Soziologisch könnte man Einsamkeit klassisch als soziale Armut beschreiben. Hierbei kann man zwischen einer quantitativen Armut, also einem zahlenmäßigen Mangel an sozialen Kontakten, und einer qualitativen Armut, also einem Mangel an den ›richtigen‹ oder an ›wertvollen‹ Kontakten, unterscheiden. Mit diesem Mangel an Kontakten geht oft eine fehlende Unterstützung einher, sowohl physisch in Form direkter Hilfeleistungen (z.B. für jemanden einkaufen gehen) als auch psychisch, emotional etc. Davon zu unterscheiden ist das Allein-Sein, das in vielerlei Hinsicht momentan gesellschaftlich positiv besetzt ist und als »anerkannte Version der Einsamkeit« (Ponz 2014) verstanden werden kann. Im Sinne der Achtsamkeitsbewegung oder des Work-Life-Balance-Ansatzes ist Alleinsein hier ein wünschenswerter, aktiv herbeigeführter, temporär begrenzter Zustand mit dem Ziel, »sich mal Zeit für sich zu nehmen, das innere Gleichgewicht zu finden, damit klarzukommen, ja, es gerade zu genießen, mal alleine zu sein« (ebd. 2014). Wichtig hierbei ist vor allem die individuelle oder gesellschaftliche Bewertung dieses Allein- oder Einsamseins, also ob man es persönlich als einen unangenehmen Zustand empfindet – dann wäre es eher als ein subjektives Gefühl zu behandeln und fiele in den Gegenstandsbereich der Psychologie. Oder man folgt einer objektiven Bewertung der Faktoren und Ursachen für Ein-
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samkeit und deren systemischen und sozialen Auswirkungen – das wäre dann eine soziologische Fragestellung. Im letzten Punkt fällt indes auf, dass Einsamkeit gesellschaftlich vor allem negativ besetzt ist. Gründe dafür sind vor allem in der Grundprämisse soziologischen Denkens zu sehen. Bereits Aristoteles geht davon aus, dass der Mensch ein zoon politicon, also ein soziales Wesen ist bzw. dass der Mensch ohne andere nicht überlebensfähig ist. Diese Grundannahme zieht sich bis heute durch unser Denken und führt eben dazu, Einsamkeit eher als ein soziales Defizit zu begreifen.
Theoretische Einbettung Wie schon erwähnt, wird der Begriff Einsamkeit in der Soziologie nur marginal verwendet, wenngleich Einsamkeit zum klassischen Gegenstandsbereich der Soziologie gezählt werden kann. Die Soziologie verwendet meist die Begriffe der sozialen Desintegration (vgl. exemplarisch Imbusch und Heitmeyer 2009), der sozialen Exklusion (vgl. Stichweh 2009) und damit verbundener Isolation (vgl. Puls 1989) oder – im Zuge der Individualisierung – den Begriff der Singularisierung (vgl. Reckwitz 2019) oder sozialen Entbettung (vgl. Bauman 2001). Drei soziale Prozesse möchte ich hierzu näher beleuchten: die Individualisierung, die Flexibilisierung der Arbeitswelt und die Digitalisierung. Um den Gegenstand Einsamkeit in die soziologische Theorie einzubetten, kann die Tönnies’sche Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft bemüht werden. Dieses Begriffspaar wird in der Postmoderne durch die Sphäre des Individuums ergänzt, sodass sich eine gesellschaftliche Triade ergibt, in die der Mensch eingebettet ist und mit der er interagiert. Ferdinand Tönnies führt die Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft in seiner Habilitationsschrift (vgl. Tönnies [1887] 1963) in die soziologische Theorie ein und stellt sie als Opposition gegenüber. Demnach beruhe ›Gesellschaft‹ auf 62
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einem Kürwillen, also auf »den zweckrationalen Willensakten der Subjekte, auf einem Zusammenwollen des eigenen Vorteils wegen. […] ›Gemeinschaft‹ dagegen beruht darauf, dass die Betroffenen, der Idee nach, die umgreifende Lebensform gleichsam um ihrer selbst willen als Selbstzweck auffassen. […] Diese Willensform nennt Tönnies ›Wesenswillen‹« (Bickel 2006: S. 117). Beide Begriffe erfüllen für den Menschen unterschiedliche Integrationsmöglichkeiten: Die gesellschaftliche Integration des Individuums wird bspw. durch systemische Einbettung – allen voran die Berufstätigkeit – erreicht. Die gemeinschaftliche – oder auch soziale – Integration erfolgt bspw. über die Familie oder die Einbettung in eine soziale Gruppe (z.B. über Vereine, Freundeskreise etc.). Beide Integrationsmöglichkeiten verhalten sich komplementär. Bei drohender systemischer Desintegration, bspw. durch Arbeitslosigkeit, kann das gemeinschaftliche Sozialnetz diese Desintegration ein Stück weit auffangen. Im zunehmenden Modernisierungsprozess scheint das gemeinschaftliche Prinzip diese Komplementarität nicht mehr ausreichend erfüllen zu können. Vielmehr scheint die Moderne von der Diskussion um eine zunehmende Pluralisierung und Individualisierung der Lebensformen beherrscht. Man kann den Prozess der Individualisierung als eine Herauslösung aus bisherigen gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Strukturen definieren. Nach Kron und Horáček sind hierbei insbesondere die »Strukturen der Industriegesellschaft« (Kron und Horáček 2009: S. 131ff.) gemeint. Eine Herauslösung finde demnach »aus ständisch geprägten Sozialmilieus und klassenkulturellen Lebensformen« (ebd.) statt. Mit der Individualisierung geht also zunächst ein Herauslösen aus bisherigen Gemeinschaften, Zwängen und Verpflichtungen einher. Durch diese Herauslösung erfahren wir zwar mehr Freiheit und werden in unserer Selbstgestaltung ermächtigt. Allerdings ist damit aber auch eine gewisse Destabilisierung oder Instabilität ver63
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bunden. Das Individuum büße laut Nollmann und Strasser durch fehlende Orte der Gemeinschaft immer mehr an Orientierungskraft ein (vgl. Nollmann und Strasser 2004: S. 15). Die Individualisierung hat auch Auswirkungen auf unsere Beziehungen zu anderen: Sie werden loser, flexibler, weniger verbindlich aber dadurch auch instabiler. Das Herauslösen aus fixen sozialen Beziehungen wird im Individualisierungsprozess immer auch als ein Erodieren der Sozialität und als Vereinzelung, sogar Vereinsamung des Menschen begriffen: »[D]er moderne individuelle Mensch wird immer einsamer, immer isolierter […]« (Horx 2004: S. 199). Ein anderer Begriff oder auch Aspekt ist die soziale Desintegration. Reckwitz (2019) spricht diesbezüglich von einer Gesellschaft der Singularitäten, Bauman würde von einem »disembedded individual« (Bauman 2001: S. 146) sprechen, also einer sozialen Entbettung des Menschen oder ein ›Nicht-mehreingebettet-Sein‹. Der Einzelne erlebt sich somit nicht mehr in Gemeinschaft, sondern nur noch als losgelöstes Individuum. Soziale Desintegration erscheint damit als moderne Pathologie. Für Walzer sind für Menschen »Gemeinschaften […] ganz gewiss mehr als bloße Standorte; besonders erfolgreich und glücklich sind sie […] zumeist dann, wenn sie einen festen Platz haben, d.h., wenn ihr Standort ein dauerhafter ist« (Walzer 1994: S. 165). Damit spricht Walzer einen zweiten Prozess an, den man als Flexibilisierung bezeichnen kann. Mit Flexibilisierung ist insbesondere die berufliche Flexibilisierung gemeint, also die Liberalisierung der Arbeitswelt, was sich in befristeten Beschäftigungsverhältnissen ebenso äußert, wie in einer quasi-obligatorischen Bereitschaft zu sozialer und geographischer Mobilität. Für das Individuum bedeutet die Flexibilisierung insbesondere einen Gewinn an Freiheit mit einem gleichzeitigen Verlust an innerer Sicherheit (vgl. Sennett 2006: S. 22). Mit den Mobilitätsanforderungen sind häufige Umzüge und damit die regelmäßige Herauslösung aus dem bisherigen sozialen Netzwerk 64
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verbunden: Freundschaften werden flüchtig, Arbeitskollegen werden zu Freunden auf Zeit, aus Beruf auf Lebenszeit werden befristete Projekte. Die Flexibilisierung beeinflusst damit auch die privaten Lebensbereiche. Folgen sind bspw. »Einschränkung oder Auflösung sozialer Beziehungen, Störungen des Familienlebens, Gefühle der Entwurzelung und Einsamkeit, Zunahme unpersönlicher Beziehungen« (Hillmann 2007: S. 579f.). Einen demographischen Faktor bildet die Erwerbstätigkeit bzw. die Nicht-Erwerbstätigkeit. Letztere bildet den größten Risikofaktor für Einsamkeit. Nicht nur in Deutschland bildet die Arbeit ab einem gewissen Alter eine der wenigen Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilnahme bzw. systemischer und sozialer Integration. Für das Phänomen Einsamkeit kommen zudem weitere demographische Erklärungsfaktoren infrage: Neben der Berufstätigkeit sind vor allem der Familienstand und das Alter wesentliche Faktoren für Einsamkeit. So zeigt sich, dass Einzelmenschen (sog. Singles) ein höheres Risiko aufweisen, Einsamkeit oder soziale Isolation zu erfahren, als ein Mensch in Partnerschaft oder mit Kindern. Noch größer ist das Risiko für verwitwete Personen (vgl. die Studie des DIW von Eyerund und Orth 2019: S. 11). Ein weiterer Faktor ist das Alter (vgl. Statista Research Department 2019). Einsamkeit erscheint zunächst als ein Problem hochbetagter Menschen, deren einziger Kontakt – überspitzt formuliert – der ambulante Pflegedienst zweimal täglich sei. Interessanterweise zeigt sich diese Altersgruppe weniger von Einsamkeit betroffen. Vielmehr ist es die Gruppe der 18-29-Jährigen und der 30-39-Jährigen, die zu 59 bzw. 57 Prozent angeben, sich manchmal bis häufig einsam zu fühlen. Dies trifft bei den Älteren ab 60 Jahren nur für ein Drittel der Befragten zu (vgl. Statista Research Department 2019). Eine steigende Vereinsamung sei vor allem bei den unter 20-Jährigen zu beobachten (vgl. Eyerund und Orth 2019: S. 13ff.). Eine mögliche Erklärung
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wird in der »höhere[n] Nutzung sozialer Medien und digitaler Kommunikationsmittel« (ebd.: S. 14) gesehen. Ich möchte hier den Zusammenhang zwischen einer Zunahme von Einsamkeit und dem fortschreitenden Digitalisierungsprozess untersuchen. Daher wende ich im nächsten Abschnitt den Gegenstand der Einsamkeit auf das Digitale an und vergleiche, ob es sich um dieselben Formen von Einsamkeit handelt und welche Unterschiede sich zwischen ›analoger‹ und ›digitaler‹ Einsamkeit zeigen.
Einsamkeit und Digitalisierung: Gibt es Einsamkeit im Web 2.0? Mit Digitalisierung ist in einer engen technischen Definition zunächst die Überführung von analoger Information wie bspw. handschriftliche Dokumente in elektronisch verarbeitbare Information gemeint (vgl. Jakob und Thiel 2017: S. 7f.). Zudem wird unter dem Komplex der Digitalisierung auch die Datafizierung (vgl. Cukier und Mayer-Schoenberger 2013) und Internetisierung (vgl. Becker et al. 2010) verstanden. In einem weiten Sinn werden unter Digitalisierung daher umfassende gesellschaftliche Transformationsprozesse verstanden. So zeigt sich durch die Digitalisierung insbesondere eine Verlagerung sozialer Praxis ins Web 2.0. Die Auswirkungen der Digitalisierung können in ein optimistisches und ein pessimistisches Lager unterteilt werden, die unter den Begriffen ›Cyberoptimismus‹ und ›Cyberpessimismus‹ (Müller und März 2008: S. 10) diskutiert werden. Im optimistischen Sinne bietet das Web 2.0 Möglichkeiten, bisherige Einsamkeitserfahrungen abzumildern. Neben den Möglichkeiten von daheim aus seinem Beruf nachzugehen (Homeoffice), kann man auch neue Formen digitaler Sozialität im Web 2.0 aufbauen und kultivieren (vgl. Winter 2010: S. 86f.). Die soziale Vernetzung im Web 2.0 erfolgt dabei mittels einfacher Zugangsmöglichkeit 66
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(man braucht zunächst nur Internet und die Hardware-Ausstattung) und ist zeitlich und geographisch unabhängig. Im Web 2.0 ergibt sich dadurch auch die Möglichkeit, sich sogar mit fremden Menschen zu verbinden und Kontakt, Nähe und Intimität auch über Distanz herzustellen (vgl. Wilding 2006: S. 126f.). Dies kann insbesondere soziale Exklusionsmechanismen und die beschriebene ›qualitative‹ soziale Armut kompensieren. Selbst wenn man an seinem Wohnort keine ›wertvollen‹ Kontakte vorfinden kann, kann man im Web 2.0 eine Verbindung mit Gleichgesinnten – also generell: qualitativ bedeutsame Kontakte – herstellen. Wir haben es im Digitalen mit vielerlei Formen von Sozialität zu tun. Wir können Bestätigung erfahren, mit Freunden besser kommunizieren, uns über Hobbys und Themen austauschen. Menschen, die sich im Analogen womöglich einsam fühlten, weil ihnen der soziale Kontakt zu Gleichgesinnten fehlte, können erst durch das Digitale ihre Einsamkeit überwinden. Vor allem Minderheiten profitieren von diesen Support- und Empowerment-Netzwerken (vgl. Fiske 2004: S. 1; Fast 2013: S. 213). Digitalisierung kann somit auch als Chance und Instrument gegen die soziale ›Vereinsamung‹ begriffen werden. Für immobile Menschen bringt das Web 2.0 neue Möglichkeiten der sozialen Vernetzung. Zugleich hat die Digitalisierung auch positive Effekte auf die steigende berufliche Mobilität und die damit verbundene soziale Entwurzelung. Die Nutzungsmöglichkeit von Homeoffice bedeutet auch, dort wohnhaft bleiben zu können, wo man bereits sozial eingebunden ist. Und wer dennoch beruflich umziehen muss, kann »sich bei Facebook-Gruppen anmelden – und dann zu realen Treffen verabreden […]« (Rövekamp 2019). In einem pessimistischen Sinne wird insbesondere der Wegfall ›analoger‹ Kontakte durch das Web 2.0 beklagt, der mit den Folgen der Vereinsamung einherging (vgl. Wilding 2006: S. 127). Auch würde sich im Web 2.0 der soziale Vergleich erhöhen. Dies sei insbesondere für Heranwachsende problematisch. Im Digi67
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talen steigt der Performance-Druck enorm: »Wer nicht beliebt genug für eine Partyeinladung ist, sieht trotzdem die gut gelaunten Mitschüler in der Instagram-Story. Und Anerkennung ist durch Metriken wie Aufrufe, Likes und Interaktionen plötzlich ganz genau bezifferbar« (Süddeutsche Zeitung 2019). Erst durch den Vergleich mit anderen fällt mir überhaupt erst auf, dass ich weniger Freunde, weniger Support habe. Erst durch den Vergleich kann es zu Einsamkeitsgefühlen kommen. Nicht zuletzt trägt auch der Digital Divide (vgl. Zillien und Haufs-Brusberg 2014) dazu bei, dass nicht alle Personengruppen von den Möglichkeiten der Sozialität im Web 2.0 profitieren können. Jacob spricht von einer »digitale[n] Klassengesellschaft« (vgl. Jacob 2017) und zeigt anhand des Klassenbegriffs nach Bourdieu, dass »neben den ökonomischen auch die kulturellen Voraussetzungen der Nutzung digitaler Techniken« (ebd.: S. 27) erfüllt sein müssen, um am Digitalen teilhaben und teilnehmen zu können. Von einer ›digitalen Einsamkeit‹ wären demnach Personengruppen betroffen, die sich erstens ökonomisch bedingt den Zugang zum Web 2.0 (Hard- und Software etc.) nicht leisten können, zweitens nicht über das technische Know-how verfügen (ebd.: S. 31ff.), die digitale Infrastruktur für sich zu erschließen, und drittens nicht über das kulturelle Kapital verfügen, aktiv am Web 2.0 teilzunehmen.
Fazit: Gibt es eine digitale Einsamkeit? Kann man nun also von einer ›digitalen Einsamkeit‹ sprechen? Es bleibt festzuhalten, dass mit der Digitalisierung gewisse Formen von Einsamkeit durchaus abgemildert werden können, bspw. der quantitative Mangel an sozialen Kontakten oder auch der qualitative Mangel an Gleichgesinnten durch Support- und Kommunikationsnetzwerke. Mit der Digitalisierung zeigen sich aber auch neue Formen von Einsamkeit, insbesondere durch die Verstärkung der Nicht68
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Partizipation am Digitalen. Diese ist vor allem durch den Digital Divide begründet, also die fehlende Möglichkeit, an der digitalen Sozialität zu partizipieren. Dies benachteiligt insbesondere ökonomisch schlechter gestellte Personengruppen sowie solche, die als Digital Immigrants im Gegensatz zu den Digital Natives bezeichnet werden können. Dazu gehören insbesondere Personen höherer Altersgruppen: Aktuell nutzen lediglich 52 Prozent der über 70-Jährigen das Web 2.0, wenngleich auch ihr Anteil sukzessive steigt (vgl. Statista Research Department 2021). Gleichzeitig wächst die Gruppe der Heranwachsenden, die erst durch das Web 2.0 Einsamkeitsgefühle entwickeln. Was digitale Netzwerke allerdings immer noch nicht leisten können, ist physische und materielle Unterstützung wie die ›analogen‹ Hilfsnetzwerke. Wer erledigt für mich Einkäufe, wenn ich mir ein Bein gebrochen habe? Wer geht für mich zur Apotheke, wenn ich mich in Quarantäne befinde? Damit verbunden, und was neuerdings die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist die Bedeutung von körperlichem Kontakt bzw. der Mangel an Körperkontakt und dessen Einfluss auf das Phänomen Einsamkeit (vgl. BR24 2020). Somit führt nicht unbedingt der Mangel an sozialen ›analogen‹ Kontakten zu einem erhöhten Einsamkeitsrisiko, sondern eher der Mangel an körperlichen Kontakten und Geborgenheitsempfindungen. Man könnte es auch ›haptische Einsamkeit‹ nennen. Die haptische Einsamkeit lässt sich bisweilen weder ›analog‹ noch ›digital‹ – man könnte mittlerweile auch von onlife sprechen (vgl. Floridi 2015; Rehbein 2021) – gänzlich auflösen. Mit Zunahme der digitalen Sozialität und Abnahme ›analoger‹ Sozialität könnte sich dieses Phänomen sogar noch verstärken. Eine Umarmung kann weiterhin noch nicht digital hergestellt werden. Und so stellen wir fest, dass der Mensch von anderen Menschen abhängig bleibt, auch wenn es nur darum geht, Körperkontakt, eine Umarmung oder eine Streicheleinheit zu bekommen. 69
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Ein ›analoger‹ Lösungsversuch für das Problem haptischer Einsamkeit könnte darin bestehen, die Vereinzelung des Menschen als Chance zu sehen, neue kollektive Intimitäten zu formieren, was sich bspw. durch die Etablierung von ›Kuschelpartys‹ bereits zeigt. Eine andere Möglichkeit besteht in der Neuinterpretation oder Bedeutungserweiterung von Freundschaftsnetzwerken, die neben dem seelischen und emotionalen Support auch für den intimen Support geöffnet werden könnten, vorausgesetzt, das Monopol auf Geborgenheit und Körperkontakt, welches bisher romantischen Dyaden vorbehalten ist, würde zunehmend aufgelöst. Ein ›digitaler‹ Lösungsversuch könnte sich zukünftig im Bereich der Künstlichen Intelligenz oder AI abzeichnen. Entwicklungen in diesem Bereich zeigen sich bspw. im VR-Porn. In Verbindung mit einer ›analogen‹ Apparatur könnte man menschlichen Körperkontakt ähnlich eine:r Masseur:in oder einem Massagegerät zumindest imitieren. Die Digitalisierung birgt in diesem Gebiet sowohl Chancen als auch neue Herausforderungen, dem Problem der Einsamkeit gesellschaftlich zu begegnen. Die Entwicklungen sind indes noch nicht abgeschlossen.
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Theorie der Bewertungsspiele Digitale intime Bewertung Thorsten Peetz
Einleitung Man nehme zwei nutzenmaximierende Akteurinnen, die sich in einer (modellierten) Situation strategisch, d.h. an den möglichen Verhaltenswahlen der jeweils anderen orientieren, und man erhält die Ausgangssituation der Spieltheorie (vgl. Diekmann 2009). Spieltheoretische Forschungen identifizieren grundlegende Probleme sozialer Interaktion und Koordination und können vielleicht sogar Hinweise darauf geben, wie diese Probleme durch Manipulation der Situation bearbeitet werden können. Diese Weise, »Gesellschaftsspiele« (Neumann 1928) zu denken, schöpft das Potential des Spielbegriffs aber nicht umfassend aus. Neuere Überlegungen zur Theorie ernster sozialer Spiele (vgl. Hutter 2015) greifen auf ein reichhaltiges und diverses Angebot theoretischer Positionen zurück. Sie beziehen sich u.a. auf die kulturgeschichtlichen Überlegungen Johan Huizingas ([1938] 2017), die disziplinäre Grenzen ignorierenden Überlegungen Gregory Batesons ([1955] 1972) zu Spiel und Fantasie, die sensiblen Beobachtungen Erving Goffmans (1972) zu Interaktionen und auch auf die Feldtheorie Pierre Bourdieus (Bourdieu und Wacquant 2006: S. 127ff.). Der Spielbegriff könnte also ein »boundary object« (Star und Griesemer 1989) darstellen, das in unterschiedlichen wissenschaftlichen Sprachspielen zwar durchaus unterschiedlich verwendet wird, aber über einen hinreichend stabilen Bedeutungskern verfügt, sodass deren Sprecherinnen miteinander ins Gespräch kommen können. 75
Thorsten Peetz
Vor allem aber kann man mithilfe des Spielbegriffs soziale Phänomene so untersuchen, dass man ihre in der Ereignishaftigkeit sozialer Operationen angelegte Dynamik, ihre Regelhaftigkeit und Strukturiertheit sowie ihre durch kontinuierliche Unterscheidungen vollzogene Eigengesetzlichkeit in den Griff bekommt. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass eine weiter gefasste Theorie sozialer Spiele auch für die Analyse von Prozessen der Digitalisierung fruchtbar gemacht werden kann. Das empirische Beispiel, anhand dessen ich dieses Argument entwickeln will, ist die Digitalisierung der Intimsphäre im Onlinedating, oder genauer und in den Begriffen der Theorie sozialer Spiele: das digitale Kennenlernspiel, das zur Bildung von Intimitätsspielen führen kann.
Der Fall: Digitale intime Bewertung Gesellschaften unterscheiden sich unter anderem auch in der Weise, in der sie die Gelegenheiten regulieren, aus denen legitime intime Beziehungen hervorgehen können (Goode 1959; Illouz 2012) – Beziehungen, die die ganze Person der Beteiligten einbeziehen und nicht nur Teilaspekte (vgl. Davis 1973: S. xix; Luhmann [1990] 2005: S. 193). Lange war es vor allem die Familie und das enge soziale Umfeld, in dem zukünftige Intimpartnerinnen einander vorgestellt wurden oder – wenn ihre Initiative erwünscht war und Liebe bereits als Voraussetzung der Paarbildung galt – sie Gelegenheiten bekamen, sich unter Aufsicht kennenzulernen (vgl. Collier 1997: S. 67ff.). Mit der aufkommenden Massenkultur wurden Einrichtungen wie das Kino oder die Tanzhalle zu modernen Orten des Kennenlernens. In ihnen konnte nicht mehr die versammelte Verwandtschaft, wohl aber die Peergroup das Kennenlernspiel beobachten. Daneben werden schon lange Massenmedien genutzt, um auf die Suche nach Partnerinnen zu gehen. Schon kurz nach der Erfindung der Zeitung Mitte des 17. Jahrhunderts wurden z.B. Heiratsanzeigen veröffentlicht, in 76
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denen Menschen Informationen über sich selbst und ihre angestrebte Beziehung sowie ihre Erwartungen an Partnerinnen publizierten (vgl. Cocks 2015: S. 19). Durch Digitalisierung – die Durchsetzung des Computers, des Internets und (mobiler) digitaler Endgeräte als zentrale Medien gesellschaftlicher Kommunikation – entstehen dann neue mediale Möglichkeiten, intime Beziehungen einzugehen. Paarbildung wird heute immer häufiger durch digitale Medien vermittelt. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Anbieter von Onlinedating-Plattformen und Dating-Apps, die sich an unterschiedliche Zielgruppen wenden: Vom heteronormativen Mainstream über spezifische, z.B. religiöse oder ethnische Gemeinschaften, bis hin zu Anhängerinnen experimentellerer Beziehungsformen. Das Internet als Ganzes hat in den Vereinigten Staaten ungefähr 40 Prozent der 2017 gebildeten Paare als Ort des Kennenlernens gedient (vgl. Rosenfeld, Thomas und Hausen 2019) – Dating-Apps und -Plattformen haben einen großen Anteil daran. Die digitalen Plattformen des Kennenlernens eröffnen ihren Nutzerinnen Gelegenheiten, sich selbst darzustellen und auf die Suche nach potentiellen Partnerinnen zu gehen. Darüber hinaus bieten sie Möglichkeiten der intimen Bewertung der Anderen (vgl. Peetz 2021). Das kann man ganz deutlich bei einem wichtigen Feature von Tinder sehen: der Swipe-Logik (vgl. David und Cambre 2016). Die App legt ihren Nutzerinnen einen Stapel von Profilen vor, die sie, eines nach dem anderen, explizit bewerten: Durch einen Swipe nach links wird ein negatives Bewertungsurteil kommuniziert – ein Nope. Und durch den Swipe nach rechts ein positives Like ausgesprochen. Diese Praktiken sind Praktiken intimer Bewertung, weil sie sich nicht auf Teilaspekte der Person, z.B. auf spezifische Leistungen oder Kompetenzen beziehen, sondern auf die ganze Person abzielen. Dating-Apps
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stellen also Infrastrukturen bereit, die für Praktiken intimer Bewertung genutzt werden können.
Eine Theorie der Bewertungsspiele Im Anschluss an die Arbeiten von Michael Hutter (2015) kann man eine erweiterte Theorie sozialer Spiele als eine Theorie der Bewertungsspiele formulieren. Hutters (2021) Grundidee besteht darin, dass man ›ernste‹ Spiele als abgeschlossene soziale Zusammenhänge verstehen kann, die einen sozialen Sinnbereich von anderen unterscheiden. Innerhalb dieses Bereichs können sich Spielerinnen an Regeln orientieren, wenn sie Spielzug um Spielzug aneinanderreihen. Der Rest der Welt wird durch »rules of irrelevance« (Goffman 1972: S. 18ff.) ausgeschlossen. Die Nähe dieser Formulierungen zur Systemtheorie Niklas Luhmanns ([1984] 1999), die auf der Unterscheidung von System und Umwelt aufbaut, ist nicht zu übersehen. Wenn man den Begriff des Spiels verwendet, dann hebt man ähnlich der Systemtheorie hervor, dass es Bereiche der sozialen Wirklichkeit gibt, die sich von ihrem Außen in ihrem Selbstvollzug unterscheiden. Wer ein Spiel spielt, der zieht im Spiel eine Grenze in die Welt ein. Im Anschluss an Luhmann kann man dann unterschiedliche Weisen, in denen diese Grenzen gezogen werden, unterscheiden und so Typen von Bewertungsspielen identifizieren: Interaktions-, Organisations- und Gesellschaftsspiele z.B. (Luhmann [1975] 1986). Ein spezifischer theoretischer Reiz geht von dieser Perspektive unter anderem deshalb aus, weil sie es ermöglicht, das Denken von Sinngrenzen und Sinngrenzziehungen explizit mit pragmatistischen und praxistheoretischen Gedanken zu verbinden und so ihre ohnehin eher künstliche Gegenüberstellung, die sich in Teilen der Soziologie eingebürgert hat, zu überwinden. Es fällt nämlich sofort auf, dass das Spielen ein doing ist, eine 78
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sich zeitlich vollziehende Praxis. Es besteht also eine gewisse theoretische Verwandtschaft von Pragmatismus und der kommunikationstheoretisch gewendeten Systemtheorie Luhmanns, die ebenfalls die Ereignishaftigkeit basaler sozialer Operationen betont. Deutlicher als die Systemtheorie kann man mithilfe des Spielbegriffs aber fassen, dass das Soziale der soziologischen Forschung immer nur in Berichten gegeben ist, und dass diese Berichte darüber erzählen, was Leute tun und lassen. Mithilfe der pragmatistischen Überlegungen John Deweys (1939) zur Theorie der Bewertung kann man dann darauf hinweisen, dass die in diesen Berichten immer wieder aufgerufene, fundamentale Unsicherheit sozialer Beziehungen von den Leuten durch Bewertungspraktiken bearbeitet wird. Soziale Spiele sind deshalb immer auch Bewertungsspiele und man kann fragen, wie die Leute selbst Wertigkeiten aufrufen und konkreten Bewertungsobjekten zuschreiben. Deutlicher als in der Systemtheorie wird auch die Materialität der Praxis (vgl. Kalthoff, Cress und Röhl 2016) von einer Theorie sozialer Spiele fokussiert. »Zu jedem Spiel gehört auch das Spielzeug« – das stellte bereits der Philosoph Eugen Fink (1957: S. 32; vgl. auch Caillois [1958] 2017: S. 8) fest. Spieltheoretische Analysen sozialer Phänomene müssen deshalb systematisch die Frage nach Art und Eigenheiten des verwendeten Spielzeugs, nach der Beschaffenheit des Feldes, auf dem gespielt wird, und nach den Eigenschaften des Materials, das verwendet wird, stellen. Schließlich kann man fragen, wie Spiele intern strukturiert sind sowie ob und gegebenenfalls wie Beziehungen zwischen Spielen hergestellt werden (vgl. Hutter 2015: S. 32). Dazu ist es hilfreich, das Konzept der »Bewertungskonstellationen« zu verwenden (vgl. Meier, Peetz und Waibel 2016; Waibel, Peetz und Meier 2021), das nicht nur auf die Bedeutung von Regeln und In79
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frastrukturen hinweist – beides ist bereits im Begriff des Spiels angelegt –, sondern noch einmal systematischer nach den in und zwischen Spielen etablierten positionalen Beziehungsgefügen und den sich in diesen bewegenden sozialen Identitäten fragt.
Digitale Kennenlernspiele Wenn man nun die Digitalisierung der Gesellschaft mithilfe der Theorie sozialer Spiele analysieren will – was ich hier am Fall ›Onlinedating‹ zumindest andeuten werde –, dann kann man von zwei Grundfragen ausgehen: ›Welches Spiel (oder auch: welche Spiele!) wird hier eigentlich gespielt?‹ Und: ›Wie wird es denn gespielt?‹ Umfassend kann ich diese beiden Fragen hier nicht beantworten – dafür bedürfte es einer ausgeführten Soziologie des digitalen Kennenlernens. Aber ich werde zumindest zwei Thesen formulieren, mit deren Hilfe nachvollziehbar werden sollte, wie eine Theorie sozialer Spiele sich Prozessen der Digitalisierung nähert. Die erste These lautet, dass, auch wenn im Onlinedating das Kennenlernen auf einem neuen Spielfeld stattfindet – dem Internet – und neues digitales Spielzeug – vor allem das Smartphone – eine zentrale Bedeutung erlangt, sich in mindestens einer Hinsicht relativ wenig geändert hat: Das Kennenlernspiel ist und bleibt ein Intimitätsspiel. Natürlich ist das digitale Kennenlernspiel als Intimitätsspiel auch mit anderen, z.B. ökonomischen Spielen verknüpft. Für die Unternehmen, die Onlinedating-Plattformen und -Apps betreiben, ist digitales Kennenlernen ganz eindeutig ein ökonomisches Spiel. Match Group – die Firma, die unter anderem die populäre Dating-App Tinder betreibt – ist ein börsennotiertes Unternehmen, das im Jahr 2020 einen Umsatz von 2,4 Milliarden US Dollar gemacht hat (vgl. Match Group 2021). So gesehen handelt es sich dabei um eine Form der Ökonomisierung der Or80
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ganisationen und des organisationalen Feldes, die Kennenlernspiele ermöglichen (vgl. Roscoe und Chillas 2014). Manche Sozialwissenschaftlerinnen – prominent etwa Eva Illouz (2012) – argumentieren, dass das auch für die Leute gilt, die sich im Netz kennenlernen wollen: Für sie führt Onlinedating zu einer Ökonomisierung intimer Praktiken. Grundlage für diese Argumentation sind Analogieschlüsse: Das digitale Kennenlernspiel wird mit dem Supermarkt verglichen (vgl. Kaufmann 2011: S. 13) oder es werden Ähnlichkeiten des Interfaces von Dating-Apps mit Onlineshoppingseiten festgestellt (vgl. Krüger und Splide 2019: S. 9). An dieser Diagnose kann man allerdings zweifeln. Ein erster Blick auf die Profiltexte, die Nutzerinnen der App Tinder formulieren, zeigt z.B., dass die Leute dort sich selbst, ihre Erwartungen an andere und ihre Erwartungen an die zu bildende Beziehung beschreiben. In diesen Texten findet man kaum explizite ökonomische, d.h. sich am Medium des Geldes oder des Profitmotivs orientierende, Referenzen. Die Leute schreiben weder sich selbst noch anderen explizit eine ökonomische Wertigkeit zu, sie preisen die Person nicht aus. Stattdessen fokussiert die Selbstdarstellung auf die Person, ihren Lebensstil und die Praxis der Lebensführung. Und gesucht wird nicht nach ökonomischen, sondern nach personenzentrierten Beziehungen: nach rein sexuellen Beziehungen, Freundschaften, romantischen Zweierbeziehungen, Ehen oder experimentelleren Liebes- und Beziehungsformen. Man kann also durchaus davon sprechen, dass es bei Tinder um (durchaus unterschiedliche) Beziehungen mit ›ganzen Personen‹ (vgl. Luhmann [1982] 1994; Tyrell 1987) geht und das Tinderspiel also ein Intimitätsspiel ist. Die zweite These betrifft den Kern der Digitalisierungsdiskussion. Beobachtet man nämlich das im Kennenlernspiel verwendete Spielzeug, dann fällt auf, dass es sich von Spielzeugen des analogen Kennenlernens in einer Hinsicht fundamental 81
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unterscheidet: Das Spielzeug spielt mit. In der Bewertungskonstellation des digitalen Kennenlernens haben die Algorithmen der Datingplattformen und -Apps die Familie, die Freundinnen, die Mitschülerinnen und die Arbeitskolleginnen von der Publikumsposition verdrängt. Zumindest die erste Phase des Kennenlernens findet in aller Regel jenseits der Öffentlichkeit, unter Ausschluss menschlichen Publikums statt. Stattdessen beobachten jetzt Algorithmen das Kennenlernspiel und greifen auf Grundlage ihrer Beobachtungen in das Spiel selbst ein. Denn die Plattformen setzen Recommender Systems ein (vgl. Unternährer 2020), also Algorithmen, die Nutzerinnen von digitalen Angeboten mit kulturellen Produkten oder, wie im gegebenen Fall, mit Vorschlägen für mögliche Partnerinnen versorgen. Die Algorithmen strukturieren so den Möglichkeitsraum, in dem sich Leute auf Datingplattformen kennenlernen können. Am Beispiel der Dating-App Tinder kann man dann versuchen nachzuvollziehen, wie sie dies tun und ihre Ergebnisse in das Kennenlernspiel einfließen lassen (vgl. dazu ausführlich Peetz 2021). Erstens beobachten die Algorithmen individuelle Nutzerinnen als Bewertende und suchen nach ähnlichen Identitäten im Nutzerinnenpool. Zweitens beobachten sie die Nutzerinnen als Bewertete, um sie als Indikator für die Präferenzen einer Nutzerin zu nehmen. Und sie beobachten schließlich drittens, das Bewertungsverhalten der Nutzerinnen, auf dessen Grundlage ein Attraktivitätswert der Nutzerinnen kalkuliert werden kann, um Matches zwischen gleichwertigen Nutzerinnen zu ermöglichen. Die Ergebnisse dieser drei Beobachtungsformen nutzen die Algorithmen zur Bewertung der ›Relevanz‹ der Nutzerinnen füreinander. Die so errechneten quantitativen Werte bleiben dabei aber in der Black Box der App verschlossen. Über ihren quantitativen Wert im digitalen Bewertungsspiel
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bleiben die Nutzerinnen im Dunkeln – anders als z.B. im weiten Feld des Self-Trackings (vgl. Neff und Nafus 2016).
Schluss Diese Beobachtungen geben nur einen ersten Einblick in das digitale Kennenlernspiel auf Dating-Apps. Man müsste mindestens noch auf die Rolle von Mitgliedschaft und Organisation bei der Strukturierung des Spielgeschehens hinweisen – also darauf, dass die Nutzerinnen der Apps auch in ein Organisationsspiel eingebunden sind. Und es würde sich ebenfalls lohnen, darüber nachzudenken, welche Konsequenzen die Emanzipation von konkreten Räumen für das Kennenlernen in der Weltgesellschaft hat. Ganz offen – und von der Forschung noch nicht hinreichend in den Blick genommen – ist auch die Frage, wie die Leute selbst digitale Intimitätsspiele spielen (und nicht nur: wie sie darüber denken und urteilen). Deutlich geworden sein dürfte allerdings, dass die Theorie sozialer Bewertungsspiele dazu geeignet ist, Fragen zu generieren, mit deren Hilfe die Soziologie die Entwicklung einer empirisch fundierten Theorie der digitalen Gesellschaft vorantreiben kann. Denn wenn sich Gesellschaftsspiele digitalisieren, besteht die Aufgabe der Soziologie darin, zu untersuchen, welche Spiele in der digitalen Gesellschaft gespielt werden und wie sie gespielt werden.
Zum Weiterlesen Hutter, Michael (2015): Ernste Spiele. Geschichten vom Aufstieg des ästhetischen Kapitalismus. München: Fink. Illouz, Eva (2012): Warum Liebe weh tut. Berlin: Suhrkamp. Peetz, Thorsten (2021): »Digitalisierte intime Bewertung. Möglichkeiten sozialer Beobachtung auf Tinder«. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 73 (Suppl. 1), S. 425-450.
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Regulationstheorie Chinas Sozialkreditsystem und die Plattformökonomie Lia Musitz
Einleitung: Chinas Sozialkreditsystem »Wir wissen, dass die Entwicklung der Plattformökonomie untrennbar von der Etablierung des Sozialkreditsystems ist.« (Web der Zentralregierung der Volksrepublik China 2019) Die »Planungsskizze« zu Chinas Sozialkreditsystem (SKS) veröffentlicht 2014 vom Staatsrat (2014), Chinas höchstem Exekutivorgan der Zentralregierung, beginnt mit dem Zusammenhang von Marktsystem und sozialer Regulierung. So sei das SKS ein essentieller konstituierender Teil eines sozialen Marktwirtschafts- sowie eines sozialen Steuerungssystems. Was das SKS neu in die Regulierung von Markt und Gesellschaft einbringt, ist das Anlegen von digitalen Kreditakten über jedes Gesellschaftsmitglied, die Daten von öffentlichen Institutionen und privaten Organisationen bündeln. Damit diese Daten zu schnell übersichtlichen Informationen werden, kommen Finanztechniken der Kreditprüfung, heterogene Rating- und Scoring-Schemen, zur Anwendung. Die Vergleichbarkeit, die diese sozialen Kreditratings über die Vertrauenswürdigkeit einer juristischen oder 87
Lia Musitz
natürlichen Person herstellen, erlauben eine Abstraktion von den konkreten Inhalten der SKS Normen, auf denen die spezifische Evaluation des Sozialverhaltens einer Institution beruht. Zwar orientieren sich diese Normen im öffentlichen Sektor bei Disziplinierungsmaßnahmen an geltenden Gesetzen, Regulierungen und Chartas, aber das SKS lässt sektoral und lokal differenzierte Selektion und Formulierung dieser legalen Normen zu. Zudem integriert es, im Unterschied zum und unberührt vom Recht, heterogene Handlungsanweisungen für Belohnungsmaßnahmen. Die Anerkennung des sozialen Kreditratings einer Institution von allen anderen Institutionen, trotz diverser, teils inkommensurabler Normen, ist entscheidend für ein zwischeninstitutionell gemeinsam durchgesetztes Anreizsystem, das den Kern des SKS bildet (vgl. ebd.: Kapitel 5). Die zwischeninstitutionelle Weitergabe der diversen Kreditinformationen sowie Kreditratings, die die Anwendung von Belohnungs- oder Bestrafungsmechanismen, auch ›Kreditprodukte‹ genannt, entscheiden, leistet eine abermals sektoral und lokal differenzierte Plattforminfrastruktur – eine sog. ›Kreditserviceinfrastruktur‹. Zwei zentrale Akteure der Marktregulierung, die Volksbank Chinas (VBC) – Chinas Zentralbank – und die Staatliche Entwicklungs- und Reformkommission (SEuRK) – Chinas höchstes makroökonomisches Steuerungsorgan –, planen und implementieren das SKS (SEuRK/VBC 2014). Unter ihrer Anleitung wirkt sich ein soziales Kreditrating nicht nur auf den Zugang zu und den spezifischen Preis für Bankkredite aus. Derselben Kreditmarktlogik folgend entscheiden soziale Kreditratings öffentlicher Behörden nun generell über den Zugang zu Märkten, öffentlichen und privaten Gütern sowie Dienstleistungen, Bildungs- und Karrierechancen und/oder ihren Preis (vgl. u.a. ebd.; Staatsrat 2014; SEuRK 2019).
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So bewirkt bspw. ein von der lokalen Volksregierung der Stadt Rongcheng (2019) ermittelter Kreditscore von über 1050 Punkten einer natürlichen Person, d.h. einem AAA Rating, einen Nachlass von fünf Prozent für medizinische Kosten bei örtlichen Krankenversicherungen. Der Punktestand, der für jedes lokale Sozialkreditsubjekt mit 1000 voreingestellt ist, kann z.B. mit 50 Punkten pro 300 Stunden ehrenamtlicher Tätigkeit aufgebessert werden. In dieser sog. »Vermarktung des Sozialen« und »Sozialisierung des Marktes« (SEuKR 2019; vgl. Staatsrat 2014, 2016) kommt Branchenverbänden und privaten Unternehmen eine besondere Rolle zu. Sie werden ermuntert, eigene SKS für ihren Sektor auszubilden. Über sog. »Memoranda der Kooperation«, eigentlich Verträge zwischen Branchenverbänden mit u.a. der SEuRK (vgl. z.B. die Finanz- und Bankenabteilung der SEuRK 2016), werden sie zu Exekutivorganen von Anreizmechanismen. Private Unternehmen setzen Disziplinierungen wie Einschränkungen von Konsum bei gerichtlich verurteilten Zahlungssäumigen durch. Auf den Punkt gebracht: Das SKS führt nicht nur Kreditmarktlogiken (Vertrauenswürdigkeit), -techniken (Ratings und Scorings) und -mechanismen (Zugang zu und Preis von Ressourcen) in und zwischen öffentlichen Institutionen ein, sondern auch eine öffentlich-private Partnerschaft in der Ausdifferenzierung von Normen und deren Durchsetzung für die staatliche Regulierung. Warum greift die chinesische Regierung zu Mitteln des Kreditmarktes und inkludiert private Akteure, um soziale Regulierung von, zwischen und durch öffentliche Institutionen durchzusetzen? Der Zusammenhang von Marktsystem und sozialer Regulierung, mit dem die SKS Policy einleitet, gewinnt mit dem eingangs wiedergegeben Pressestatement der Zentralregierung
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weitere Schärfe: Das Regulierungssystem des SKS orientiert sich an der Entwicklung einer Plattformökonomie. Nach dieser einleitenden Darstellung des Gegenstandes stelle ich im nächsten Schritt die Regulationstheorie vor. Diese erlaubt einen Forschungsrahmen zur Analyse des Zusammenhangs von Chinas SKS mit der Plattformökonomie. Im dritten Teil wende ich zentrale Konzepte der Regulationstheorie an, um anhand des Beispiels Alibaba neue Formen der Kapitalakkumulation der Plattformökonomie zu identifizieren und diese mit Chinas SKS als staatliche Strategie einer neuen Regulationsweise zu vergleichen. Der Beitrag schließt mit einem Fazit zur Entwicklung sowohl neuer ökonomischer Strukturen als auch neuartiger staatlicher Regulationsweisen im chinesischen Kontext.
Regulationstheorie: Die Interdependenz zwischen Markt- und Sozialstruktur Der von der chinesischen Regierung aufgeworfene Zusammenhang zwischen Sozialkreditsystem und Plattformökonomie wirft die Frage auf, wie ökonomischer mit sozio-politischem Wandel zusammenwirkt. Um dies zu untersuchen, bietet sich die Regulationstheorie an, die die Interdependenzen sich verändernder sozialer Strukturen und Normen von Ökonomie und Politik zum Ausgangspunkt nimmt (vgl. Aglietta [1979] 2015: S. 16). Zu deren Analyse schlägt die Regulationstheorie zwei zentrale Konzepte vor. Zur Identifizierung der spezifischen Charakteristiken von kapitalistischen Ökonomien, beschreibt sie mit dem Begriff »Akkumulationsregime« eine von steigernder Kapitalakkumulation angetriebene (vgl. Kühl 2008: S. 126), zeitlich und örtlich variierende Kombination von Produktionsweisen und Konsummustern. Der Erfolg einer Kombination, gemessen an ihrer Stabilität, ist jedoch keinesfalls rein wirtschaftlich gegeben. Letztere setzt die Entwicklung gefestigter sozialer Beziehungen voraus. Diese können die Koordination einer Vielzahl 90
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von Akteuren normalisieren und unterschiedliche, auch widersprüchliche Interessen kanalisieren (vgl. Jessop 1988: S. 150). Hierbei kommt dem politischen Bereich ein besonderes Gewicht zu, der mit dem zweiten Schlüsselkonzept der »Regulationsweise« in den Forschungsfokus rückt: Eine Regulationsweise beschreibt die institutionelle Vermittlung eines Ensembles von sozialen Normen (vgl. Aglietta 2015: S. 31), bzw. eines Sets von Prozeduren, die im Hinblick auf ein spezifisches Akkumulationsregime kollektive wie individuelle Verhaltensmuster normalisieren (vgl. Boyer und Saillard 2002: S. 41, 44). Obwohl der Begriff der Regulationsweise mehr meint als staatliche Regulierungsformen, betont der Regulationsansatz das staatliche Eingreifen in die Institutionen eines Akkumulationsregimes (vgl. Aglietta 2000: S. 37). Dem Staat kommt auch in der Kanalisierung und Balancierung widersprüchlicher Interessen eine wichtige Rolle zur Sicherung des sozialen Zusammenhalts zu, die ›der‹ Markt aus sich heraus nicht leisten kann. Am Beispiel des privaten chinesischen Unternehmensgiganten Alibaba werden im nächsten Kapitel die Charakteristika eines neuen Akkumulationsregimes der Plattformökonomie entwickelt, um es mit der staatlichen Strategie einer Regulationsweise der SKS Policy zu vergleichen.
Plattformökonomie und die Regierungsstrategie eines SKS im Vergleich Zhao Chengwen (2019), Direktor der Forschungsabteilung zur Industriewirtschaft des chinesischen Staatsrates, definiert die Plattformökonomie über das Plattformunternehmen. Dieses ist sowohl Konzern als auch Markt. Es organisiert Produktion, ohne im Besitz von Produktionsfaktoren zu sein. Ähnlich sieht sich das Plattformunternehmen Alibaba selbst:
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»Unsere Technologie-Plattformen«, »unsere Marktplatzregeln und die Rolle, die wir in der Verbindung von Teilnehmern spielen«, bestimmen »unsere digitale Ökonomie«. (Alibaba Group 2020: S. 25) Alibaba dominiert mit seinen Plattformen Taobao und T-Mall Chinas Onlinehandel und verkaufte im Jahr 2020 über 700 Millionen Konsument:innen Produkte (vgl. ebd.). Doch weder produziert es noch kauft es Waren ein, hat keine Angestellten in der Manufaktur und kein Warenhaus. Regeln für und digitale Vermittlung von Verkäufer- und Käuferbeziehungen sind Schlüsselfaktoren für die Attraktivität Alibabas »Öko-Systems« (ebd.: S. 17). Regeln, weil Alibaba das bei Austauschbeziehungen zwischen Fremden auftretende Vertrauensproblem – das in China aufgrund der erschwerten Durchsetzbarkeit von Gesetzen besonders groß ist – durch Kundenarbeit – v.a. Produkt- wie Verkäufer-Reviews sowie Laien-Schlichtungsverfahren – und durch sein Bezahlsystem Alipay löst. Letzteres verlangt von Verkäufern Depositzahlungen für den Schadensfall und zahlt erst nach bestätigter Kundenzufriedenheit aus. Während auf Taobao, im Unterschied zu Alibabas T-Mall, keine Mitgliedsgebühren anfallen, profitiert Alibaba von 0,55 Prozent des Wertes jeder Zahlung von Alipay an Verkäufer, von Gebühren für sein Bewerbungsservice und für die Nutzung seiner Software für individuelle Online-Shop-Windows. Nicht nur Alipay macht Alibaba zu einem der größten FinTech Unternehmen der Welt (vgl. z.B. Mak 2020). Alibaba betreibt Geldmarktfonds (Yu’e Bao), Lebens- und Krankenversicherungen (Xiang Hu Bao) und Kreditvermittlungen (Huabei und Jiebei). Konsument:innen und kleine Unternehmen ohne Sicherheiten, die Gruppe also, die über Alibabas Plattformen Geschäfte abwickelt, sind zugleich Ressource und Fokusgruppe Alibabas Kreditvermittlungsgeschäftes. Diese unzähligen 92
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kleinen Plattform-Kund:innen haben Bedarf an Krediten und liefern die Daten für Alibabas automatisierte Kreditbewertung. Diesen Kredit-Score leitet es an Partner-Banken weiter, die auf seiner Grundlage ungesicherte Konsument:innen- und Kleinunternehmer:innenkredite vergeben. Die Kreditraten sind mit bis zu 18 Prozent relativ hoch, die 30-40 Prozent Vermittlungsgebühr, die Alibaba von jeder monatlichen Kreditrückzahlung erhält ebenso (vgl. Yang und Xie 2020). Die Bank – nicht Alibaba – trägt das ganze Ausfallrisiko. Definieren wir anhand Alibaba ein Akkumulationsregime des Plattformkapitalismus, so zeichnet seine Produktionsweise digitale Organisation von externer Produktion durch eine Vielzahl von Ich-AGs und Kleinunternehmen aus. Dadurch spart das Plattformunternehmen nicht nur Kosten für Rohstoffe, Personal und gesetzliche Verpflichtungen. Es macht mit Gebühren für die Nutzung seiner proprietären digitalen Infrastruktur zur Distribution der Waren und seinen exklusiven Zugang auf UserDaten Gewinn. Dabei ist die geregelte Koordination von komplexen Austauschbeziehungen ein essentieller Faktor, um Konsument:innen auf Alibabas Marktplatz zu locken. Sie fußt auf »customer value creation« (Alibaba Group 2020: S. 19), Kund:innenarbeit, die mit Punkten in Loyalitätsprogrammen, nicht mit Gehalt, belohnt wird (vgl. Alizila 2018). Schlussendlich profitiert Alibaba auch von der Vermittlung ungesicherter Kredite an IchAGs und Konsument:innen, für die es kein Risiko trägt. An drei Faktoren der Chinesischen SKS Policy zeichnet sich die Strategie für eine Regulationsweise ab, die die Entwicklung von Chinas Plattformökonomie erleichtert, zugleich reguliert und widersprüchliche Interessen von Akteuren auszugleichen sucht: Produktive Gesetzeslücken: Das SKS, obwohl an legalen Normen orientiert, setzt nicht primär auf universale gesetzliche Bestimmungen zur Regulierung von Marktbeziehungen. Damit 93
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lässt das SKS gesetzliche Lücken für private Marktregulatoren, diesen Regelbedarf über ›ihren‹ Marktplatz zu decken. Über die Abstraktion konkreter Normen, die die gegenseitige Anerkennung von Kreditratings erlaubt, erleichtert das SKS digital Aushandlungsprozesse von Normen zwischen öffentlichen und privaten Akteuren. Die gegenseitige Anerkennung von Normen erwirkt aber auch, dass insbesondere Produkt- und Preisdifferenzierungen für Individuen sich nicht nur an Profit-, sondern auch an Staats- und Gesellschaftsinteressen orientieren. Belohnungs- und Bestrafungsmechanismen: Zahlungsausfälle sind der Fokus von Chinas SKS und seiner Disziplinierungsmaßnahmen (vgl. Liang et al. 2018; Engelmann et al. 2019). In der gemeinsamen öffentlich-privaten Durchsetzung von Anreizen gewinnen Plattformunternehmen eine Vielzahl von staatlichen Behörden bei der Umsetzung von Disziplinierungsmechanismen, insbesondere bei Kreditzahlungsausfällen. Breite Benachteiligung in vielen Lebensbereichen erhöhen den Druck auf Kreditnehmer:innen ohne Sicherheiten, Kreditraten pünktlich zurückzuzahlen. Die von der Plattformökonomie geförderte Zunahme von Kleinunternehmer:innen, verstreut über Chinas großes Territorium, verschärft aber auch Chinas bekanntes Problem säumiger Lohnzahlungen (vgl. z.B. Luan 2000) und mangelnder Produktqualität von Onlinewaren (vgl. z.B. Da He Bao 2015) – beides soll das SKS lösen (vgl. Staatsrat 2014: Kap. 1 Abs. 1; Kap. 2 Abs. 3). Angestellte und Konsumenten haben vermittelt über das SKS diesbezüglich gravierende Disziplinierungsmaßnahmen zur Hand. Auch die SKS-Belohnungsmaßnahme einer erleichterten und beschleunigten Vergabe von Marktlizenzen stützt einen schnellen Zuwachs von Kleinunternehmen, auf deren diverser und qualitativer Produktion die Wertschöpfung von Alibaba fußt. Übersetzung von sozialen in ökonomische Werte: Wenn im SKS regelkonformes Verhalten den Zugang zu und den Preis von 94
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Ressourcen bestimmt, erwächst daraus der Regel ein Preis und dem Sozialverhalten ein Tauschwert. Hierbei normalisiert der Staat einerseits die Kommodifizierung von Sozialverhalten, die Plattformunternehmen über ihren Verkauf von auf User-Daten basierenden Profilings für Marketing-Zwecke und Kreditbewertungen vorantreiben. Andererseits bekräftigt der Staat die von Plattformunternehmen vorangetriebene Dissoziation des Zusammenhangs zwischen Wertschöpfung eines Unternehmens und Lohn für die zur Wertschöpfung beigetragene Arbeit. Plattformunternehmen profitieren schließlich von der customer value creation, also unbezahlter Kundenarbeit im Austausch für Zugang zu mehr Service und Preisvergünstigen. Wie das obige Beispiel Rongchengs illustriert, entlohnt auch das SKS Arbeit für die Gemeinschaft mit erleichtertem und vergünstigtem Zugang zu Ressourcen, nicht mit Gehältern. Damit sichert das SKS nicht nur für den Staat günstige Arbeit im Sozialsektor, sondern auch, dass Plattform-User für Kundenarbeit nicht mehr als einen priorisierten Zugriff auf Produkte und Preisvergünstigungen erwarten.
Fazit Die Regulationstheorie nimmt nicht an, dass der Staat Regulationsweisen einfach vorgeben und erfolgreich durchsetzen kann. Der Regulationsansatz zielt vielmehr darauf ab, durch Analyse des spezifischen zeit-räumlichen Zusammenspiels von wirtschaftlichen, staatlichen und sozialen Institutionen und Akteuren, die Normen und Prozesse aufzudecken, die trotz Konfliktpotential zwischen ihnen vermitteln und sozialen Zusammenhalt garantieren. Diese komplexe Analyse konnte der kurze Beitrag nicht leisten. Er entwickelte aber erste Ansätze zur Analyse Chinas SKS Policy als einer staatlichen Strategie für eine neue Regulationsweise, die darauf abzielt, die Entwicklung eines neuen Akkumulationsregimes des Plattformkapitalismus 95
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zu fördern und auch zugleich im Interesse des sozialen Zusammenhalts zu regulieren. Ein Fokus auf die SKS Policy als staatliche Strategie einer neuen Regulationsweise ist durch die spezifischen polit-ökonomischen Strukturen Chinas begründet. Der Staat schließlich hat insbesondere in China sozio-ökonomisches Gewicht, dessen historische Entwicklung bis heute keine strikte institutionelle Trennung zwischen Staat und Ökonomie und dessen Sphären ausbildete (vgl. Zheng und Huang 2018: S. 81). Traditionell wie im gegenwärtigen China ist das Handeln der Staatsakteure orientiert an der Auffassung von Ökonomie als Werkzeug zur Durchsetzung politischer Ziele (vgl. ebd.: S. 93). Waren dies bis vor kurzem rapides Wirtschaftswachstum in Zusammenhang mit der Steigerung von Arbeitsplätzen (vgl. ebd.: S. 298), sind es heute sozial gerechtes Wirtschaftswachstum in Zusammenhang mit einem zunehmenden ›Massen-Unternehmertum‹, das die materielle Existenz des Einzelnen absichern soll (vgl. z.B. Staatsrat 2015). Damit reagiert die chinesische Regierung auf eine Plattformökonomie, die Produktion nicht durch konzentrierte Massenindustrie, sondern eine Vielzahl kleiner Unternehmer:innen organisiert. Für das Akkumulationsregime der Plattformökonomie sind ungesicherte Kredite zentral. Kleinen Produzierenden wie Konsumierenden fehlen oft die finanziellen Mittel und Sicherheiten für Kredite (vgl. Kshetri 2016), um zu produzieren und zu konsumieren. Ohne materielle Sicherheiten fungiert die Analyse persönlicher Verhaltensdaten als Proxi für einen kreditwürdigen Charakter (vgl. ebd.). Ähnlich sozialen Marktwirtschaften des globalen Nordens soll auch in China die staatliche Förderung des Marktes einerseits und staatliche Regulierung wirtschaftlicher Aktivitäten andererseits (vgl. Zheng und Huang 2018: S. 94) gesamtgesellschaftlichen materiellen Wohlstand sichern. Doch während westliche Demokratien dazu v.a. Gesetze heranziehen, ist es in 96
Regulationstheorie
China vielmehr das Auftreten des chinesischen Staates als ökonomischer Akteur, das die Wirtschaft reguliert (vgl. ebd.: S. 310). Der chinesische Einparteienstaat sichert seine Vormacht, die Wirtschaft anzuleiten, durch seine Kontrolle von Land, Arbeit und Kredit auf Faktormärkten (vgl. ebd.). Übersetzt auf den Fall Chinas SKS reguliert der Staat das für die Plattformökonomie zentrale Moment von ungesicherten Krediten, indem er selbst als Kreditmarktakteur fungiert. Er trägt Regierungsdaten zur Kreditwürdigkeitsprüfung einzelner bei und nimmt Einfluss auf die Normen sozialen Verhaltens, die ökonomische Werte generieren. Das erlaubt ihm, staatliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Interessen bei der zentralen Distribution von Ressourcen über Kreditvergaben auszugleichen. Die kürzliche Unterwerfung Alibabas Kreditgeschäftes unter Chinas strenge Bankenregulierung und eine hohe Strafzahlung wegen Verstößen gegen Monopolgesetze (vgl. z.B. Zhong 2021) zeigen aber, dass marktförmige Regulationsweisen der Staats-Gesellschaftsbeziehung durch das SKS rechtsförmige Regulierung komplementieren, nicht gänzlich ersetzen.
Zum Weiterlesen Everling, Oliver (Hg.) (2020): Social Credit Rating. Reputation und Vertrauen beurteilen. Frankfurt a.M.: Springer Gabler. Fourcade, Marion/Healy, Kieran (2017): »Seeing Like a Market«. In: Socio-Economic Review 15, 1, S. 9-29. Lüthje, Boy (2019): »Platform Capitalism ›Made in China‹? Intelligent Manufacturing, Taobao Villages and the Restructuring of Work«. In: Science, Technology & Society 24, 2, S. 199-217.
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Karl Polanyi und die gesellschaftliche Entbettung der Kryptowährungen Yannick Kalff
Einleitung: Kryptowährungen Wissenschaftlich über Kryptowährungen zu schreiben ist ein schwieriges Geschäft, denn ihre Entwicklung ist rastlos und Momentaufnahmen sind schnell überholt. Dies gilt insbesondere für den Pionier der Kryptowährungen – Bitcoin (btc) – der um 2008 die Bühne der Finanzwelt betrat. Seitdem hat sich der ursprüngliche Ausgabewert von wenigen Cent auf zuletzt über 54.000 € erhöht. Damit beträgt die Marktkapitalisierung, also das Gesamtvolumen aller btcs, im Mai 2021 ca. eine Billion Euro. Viele Berg- und Talfahrten haben der Währung früh den Ruf eines hochriskanten Spekulationsobjekts eingebracht, das aber zuverlässig immer neue Höchstmarken erreicht hat. Skeptiker:innen bewerten den btc als »nutzlos« (Borowski 2021) – auf der anderen Seite stehen Wertzuwachs und die Innovation eines digitalen und dezentralen Zahlungsmittels, das mit kryptographischen Verfahren Sicherheit und Nachvollziehbarkeit herstellt. Gerade die von Banken, Zentralbanken und staatlichen Institutionen unabhängige Geldschöpfung hat dem btc den Ruf als cyberanarchistische Währung eingebracht, wozu auch sein Ursprung in der Cypherpunk-Kultur beitrug (vgl. Filippi 2017: S. 59-62). Nahezu zeitgleich reklamieren auch anarchokapitalistische Strömungen den btc für sich: Ohne staatliche Einflussnahme, ohne Zentralbankpolitik sei der btc die libertäre Vision eines freien Marktes, der nur Angebot und Nachfrage zur Preisbildung kennt (vgl. Karlstrøm 2014: S. 26). Der btc wur103
Yannick Kalff
zelt in einer cyber-technischen Utopie, die Geld und Währung in eine technische Rationalität überführen möchte, um sie von sozialem Vertrauen und staatlichen Institutionen zu emanzipieren. Die Geburtsstunde in den Nachwehen der Finanzkrise 2007/2008 verdeutlicht dieses grundlegende Misstrauen in die ›alte‹ Wirtschaftswelt. Unlängst haben Finanzmärkte die Nachfrage nach und das Potential von Kryptowährungen erkannt und bieten diese neben anderen Finanzprodukten an. Der btc, gerade wegen seines Wachstums, wird zu einem beliebten Spekulationsobjekt, dessen Wert von Analyst:innen und Spekulant:innen bewertet oder von Einzelpersonen wie Elon Musk mit einzelnen Tweets beeinflusst wird (vgl. Tenberg 2021). In diesem Narrativ verdeutlicht sich die Idee der Kryptowährungen und spezifischer des btcs: Die Vorstellung einer technisch-selbstregulierten Währung, die losgelöst von menschlichen Beziehungen ent- und besteht. Diese kollidiert ganz fundamental mit der eigentlich sozialen Beschaffenheit von Geld als Vermittlungsinstitution; gerade die technische Selbstregulation widerspricht der Vorstellung, dass »Geld […] Ausdruck und Mittel der Beziehung, des Aufeinanderangewiesenseins der Menschen« (Simmel 1930: S. 134) sei. Karl Polanyis Werk eröffnet eine Perspektive auf diesen Widerspruch zwischen rein technischer Rationalität und sozialem Kontext, in dem Währungen funktionieren. Als Grundlagenautor der ›neuen‹ Wirtschaftssoziologie, die Institutionen, Strukturen und soziale Relationen der Wirtschaft untersucht (vgl. Sparsam 2015), erhellt Polanyi den komplexen Zusammenhang von Kommodifizierung und sozialer Einbettung, der auch die technische Rationalität begrenzt. Daher diskutiere ich im Folgenden Polanyis analytische Perspektive für den Gegenstand der Kryptowährungen. Hierzu gehe ich zunächst auf die Kryptowährung btc ein und stelle Polanyis These dar, wie die Marktlogik in der Gesellschaft poli104
Karl Polanyi und die gesellschaftliche Entbettung der Kryptowährungen
tisch umgesetzt und aus ihrer sozialen Einbettung herausgelöst wurde. In btcs ist eine Entbettung in ihrer Beschaffenheit als fiktiver Ware sowie in der Eliminierung des sozialen Kontexts der Währung erkennbar. Abschließend zeigt das Fazit Anknüpfungspunkte für eine soziologisch informierte Perspektive auf digitale Zahlungsmittel auf.
Die gesellschaftliche Realität des btc Der btc, der hier soweit möglich exemplarisch für Kryptowährungen steht, taucht 2008 zum ersten Mal in Form einer Machbarkeitsbeschreibung von Satoshi Nakamoto (2008) auf. Der Name des Autors ist ein Pseudonym, die tatsächliche Urheberschaft ungeklärt. Die dort beschriebene Funktionsweise basiert auf verschiedenen technisch-digitalen Innovationen der letzten Jahrzehnte, die in btc und der zugrunde liegenden, dezentralen Datenbankarchitektur Blockchain zusammengeführt werden (Narayanan und Clark 2017). Eine eingängige Beschreibung für dessen Problem und die Lösung, die btc anbietet, skizziert das Abstract des Papiers (s.a. Filippi 2017): »A purely peer-to-peer version of electronic cash would allow online payments to be sent directly from one party to another without going through a financial institution. Digital signatures provide part of the solution, but the main benefits are lost if a trusted third party is still required to prevent double-spending. We propose a solution to the double-spending problem using a peer-to-peer network. The network timestamps transactions by hashing them into an ongoing chain of hash-based proof-ofwork, forming a record that cannot be changed without redoing the proof-of-work.« (Nakamoto 2008: S. 1) Um eine peer-to-peer-basierte Währung zu etablieren, wird Vertrauen und Sicherheit benötigt. Bei herkömmlichen Währun105
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gen bieten dies Finanzinstitute: Die Zentralbank emittiert als einzige Institution Währung und sorgt dafür, dass diese fälschungssicher ist. Die Geschäftsbanken verhindern, dass wir unser eingezahltes Geld mehrfach ausgeben – sie führen Buch, der Kontoauszug ist die Quittung. Sollen diese Drittparteien der Finanzinstitutionen eliminiert werden, stehen die Menschen vor einem Problem: Wenn es keine zentrale Buchführung gibt, müssen die Konten auf andere Weise ausgeglichen werden, um Doppelausgaben sicher zu unterbinden. Kryptowährungen lösen dieses Problem, indem sie die Aktivitäten (Transaktionen, Ein- und Auszahlungen) in einem dezentralen Geschäftsbuch mit Zeitstempeln versehen, vermerken und auf das gesamte Netzwerk der User:innen verteilen. Für alle einsehbar wird eine ›Perlenkette‹ dieser Blöcke von Transaktionen präsentiert, die Blockchain. Die einzelnen Teilnehmer:innen des Netzes sehen in der Blockchain alle jemals getätigten Transaktionen, wodurch Doppelausgaben unmöglich werden. Um die Blockchain zu verändern, bspw. aus bösartiger Absicht, um sich ein paar btc gutzuschreiben, müsste die gesamte Kette bei allen Nutzer:innen neu generiert werden; ein Unterfangen, das aufgrund der kryptographischen Prozesse immense Rechenleistung verschlänge. Solange die Blockchain auf möglichst vielen unabhängigen Rechnern liegt und von diesen weitergeführt wird, kann sichergestellt werden, dass niemand dieses Unterfangen tatsächlich angeht. Indem Menschen ihre Rechenleistung für kryptographische Operationen beisteuern, tragen sie zur Sicherung der Blockchain bei. Die Motivation zur Beteiligung erfolgt durch einfache ökonomische Anreize: Wenn Nutzer:innen Rechenleistung zur Verfügung stellen, um die Berechnungen der Blöcke durchzuführen, können sie dadurch btcs erzeugen, die ihnen gutgeschrieben werden (mining). Die Anzahl der im Umlauf befindlichen btcs wird so sukzessive erhöht – bis er eine technisch festgelegte Obergrenze von 106
Karl Polanyi und die gesellschaftliche Entbettung der Kryptowährungen
21.000.000 btc erreicht. Diese Praxis hat dazu geführt, dass eine Vielzahl von Nutzer:innen dem Netzwerk Rechenleistung beisteuern, indem sie handelsübliche PCs oder spezielle MiningRigs rechnen lassen. Die Technik kryptographischer Verfahren ersetzt das notwendige Vertrauen, wenn Menschen in einen wirtschaftlichen Austausch treten: Gesellschaftliche Institutionen, die die Wertigkeit des Zahlungsmittels garantieren, werden durch diese Technik überflüssig gemacht – und damit auch das Vertrauen, dass Menschen in Institutionen wie Banken setzen müssen. Ebenso kann dies für die Menschen und die sozialen Interaktionen gelten, die in die Blockchain eingebettet und technisch umgesetzt werden (vgl. Filippi 2017: S. 73). Mit dieser Bedeutungsveränderung von Vertrauen – von einer Grundbedingung sozialer Interaktionen zu einem technologischen Substitut – sind die Elemente bereits benannt, die mit Polanyi als Entbettung bzw. Einbettung beschrieben werden können.
Theoretische Perspektive: Karl Polanyi und die Ökonomie der Gesellschaft Der analytische Rahmen zur Betrachtung von Kryptowährungen orientiert sich an den Arbeiten des Wirtschaftshistorikers, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlers Karl Polanyi. Sein Hauptwerk »The Great Transformation« aus dem Jahr 1944 gilt als Meilenstein der Forschung zu den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen der Industrialisierung (vgl. Polanyi [1944] 1978). »The Great Transformation« entstand unter dem unmittelbaren Eindruck des Zweiten Weltkriegs und des Faschismus, die Europa ergriffen und in einen beispiellos zerstörerischen Sog gerissen hatten. Polanyi sah deren Ursache im Zusammenbruch eines fragilen Kräftesystems, das sich gegen die Marktgesellschaft stemmte, dabei aber durch die fortschreitende Markt107
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radikalisierung zunehmend herausgefordert wurde. Diese politischen Kräfte schlugen – auch aus Angst vor dem Sozialismus – gegen die Demokratie in einen autoritären Nationalismus um (vgl. Polanyi 1978: S. 313-314, [1936] 1979a: S. 123-124). Dieser sei jedoch nur Symptom einer Entwicklung, die ihre Ursache in England, »an der Geburtsstätte der Industriellen Revolution« (Polanyi 1978: S. 55), hatte. An diesem Punkt beginnt Polanyis Untersuchung der Marktgesellschaft in der Industrialisierung. Für Polanyi beruht das kapitalistische Wirtschaftssystem auf selbstregulierenden Märkten, die seit dem 17. Jahrhundert zunehmend alle gesellschaftlichen Bereiche strukturieren. Andere Formen des Wirtschaftens, die nicht marktvermittelt sind, wurden verdrängt. Die umfassende Durchsetzung selbstregulierender Märkte markiert den Beginn der Marktgesellschaft. Widerstandslos breitet sie sich jedoch nicht aus: Soziale Gegenbewegungen ringen ihr immer wieder Zugeständnisse und Schutzzonen ab, in denen ihre Selbstregulation eingegrenzt oder ganz unterbunden wird. Polanyi beschreibt dies als »Doppelbewegung« (Polanyi 1978: S. 112), die beide Seiten gleichermaßen vollziehen. Entgegen der klassischen Ökonomie weist Polanyis Analyse darauf hin, dass Märkte und die Marktgesellschaft nicht vorsozial gegeben sind, sondern sie sind das Ergebnis politischer Entscheidungen: Das Laissez-faire der Marktwirtschaft ist nicht Naturzustand, sondern geplant (vgl. ebd.: S. 195). Vor allem die »fiktiven Waren« (Polanyi 1978: S. 102) Arbeit, Boden und Geld werden dabei zum Politikum. Fiktiv sind die Waren deshalb, weil sie nicht erzeugt werden, um sie auf einem Markt zu veräußern. Arbeit bspw. ist fest mit dem Menschen als »menschliche Tätigkeit« (ebd.: S. 107) verknüpft. Sie kann nicht vom Wesen des Menschen abgetrennt werden und nicht nichterzeugt werden. Geld ist »ein Symbol für Kaufkraft, das in der Regel überhaupt nicht produziert, sondern durch den Mechanismus des Bankwesens oder der Staatsfinanzen in die Welt ge108
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setzt wird« (ebd.: S. 107-108). Der fiktive Warencharakter trägt dafür Sorge, dass die drei wichtigen Grundstoffe der im Entstehen begriffenen Industrialisierung ohne Einschränkungen auf Märkten ›gekauft‹ werden können: Arbeitskraft, Ressourcen und Kapital. Ihre Kommodifizierung bedarf intensiver politischer und wirtschaftlicher Anstrengung, um die Gesellschaft nach diesem ›Ideal‹ zu gestalten. In der Doppelbewegung ringen Gesellschaft und Marktwirtschaft um die De-Kommodifizierung bzw. um die Ausweitung der Warenförmigkeit; darum, wie stark Märkte durch Regeln sozial eingebettet werden oder wie stark selbstreguliert und sozial entbettet sie sind. Polanyi sah in der Doppelbewegung keinen »Selbstkorrekturmechanismus«, sondern vielmehr einen »existenzielle[n] Widerspruch zwischen den Ansprüchen einer kapitalistischen Marktwirtschaft auf uneingeschränkte Expansion und den Ansprüchen der Menschen auf ein Leben in einer solidarischen Gesellschaft« (Polanyi Levitt 2020: S. 148). Wenn die »krasse Utopie« (Polanyi 1978: S. 19) des selbstregulierenden Marktes realisiert wäre, würde die »Gesellschaft als Anhängsel des Marktes« (ebd.: S. 88) alle sozialen Beziehungen marktförmig organisieren. Doppelbewegungen und fiktiver Warencharakter sind analytische Beschreibungen gesellschaftlicher Reaktionen auf Kommodifizierungsprozesse. Für Kryptowährungen erachte ich sie als geeignet, um sich fundamentalen Aspekten dieser Währungsformen zu nähern. Einerseits zeigt der fiktive Warencharakter bei btcs, dass die Idee, Währungen ›zu schürfen‹, viel dieser Fiktion auflöst. Andererseits spiegeln Ent- und Einbettung zentrale Elemente von Kryptowährungen wider, die durch die Eliminierung von Drittparteien auch ein ganz fundamentales soziales Problem beseitigen: Vertrauen als Basis sozialer Interaktion (vgl. Granovetter 1985).
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Analyse: Entbettung und fiktiver Warencharakter der Kryptowährungen Eine Lektüre Polanyis erhellt die Analyse von Kryptowährungen, denn sie bietet ein Instrumentarium an, um die Relation zwischen Zahlungsmittel, Symbolhaftigkeit und dem sozialen Zusammenhang der Gesellschaft herzustellen, um Entbettung und Einbettung des technisch konstruierten Marktes zu analysieren. Die vielleicht augenscheinlichste Anwendung von Polanyis Begriffsinstrumentarium findet sich in der Loslösung des btcs von staatlicher und zentralbanklicher Fiskalpolitik. Diese ist, je nach politischer Ausrichtung, auch eine Intervention in den Geldmarkt. Der btc entzieht sich staatlichen Kontrollinstanzen – was einer Entbettung entspricht, in der die digitale Währung nahezu vollumfänglich kommodifiziert wird. Ohne Geldmarktpolitik besteht keinerlei soziale Beschränkung des Marktes und der Warenförmigkeit: Die von Polanyi für Geld konstatierte Warenfiktivität kommt voll und ganz zum Tragen. Gerade dieser Aspekt wird von Ökonom:innen problematisiert, die für eine konsequente Regulierung plädieren (bspw. Thiele et al. 2017). Daneben möchte ich auf zwei tieferliegende Facetten hinweisen, die mit Polanyis Instrumentarium zu fassen sind: Der faktische Warencharakter von Kryptowährungen sowie die gesellschaftliche Entbettung als Auflösung der Vertrauensbeziehung, die Geld vermittelt. Zuvorderst lässt sich feststellen, dass die Fiktivität der Warenform bei Kryptowährungen brüchig ist. Die Entstehung von btcs ist eng mit dem mining verwoben. Sie werden jedoch nicht ›geschürft‹, sondern als Belohnung für die Partizipation am Netzwerk und der dadurch generierten Sicherheit ausgeschüttet. Durch den technisch festgelegten Prozess im Code der btcArchitektur sind Ausschüttung und Absicherung aneinandergebunden. Aufgrund der technischen Konstruktion ist jedoch nicht mehr von einer bloßen Fiktion zu sprechen: btcs werden 110
Karl Polanyi und die gesellschaftliche Entbettung der Kryptowährungen
tatsächlich in einer Art Produktionsprozess ›hergestellt‹, wobei irrelevant ist, ob es sich dabei um Haupt- oder Nebenprodukte handelt: btc und Blockchain sind hier nicht zu trennen. Der Zweck von btcs ist ihre Funktion als Tauschmittel – und diese ist nur realisiert in der Blockchain. Der Warencharakter von btcs oder anderen Kryptowährungen ist insofern gegeben, als sie selbst zum Gegenstand von Transaktionen gemacht werden – sie werden gekauft. Ihnen haftet der »Fetischcharakter der Ware« (Marx [1867] 1962: S. 85) in spezifischer Weise an, denn die Warenförmigkeit – und mit ihr der Wert – basiert auf dem ›Glauben‹ in ihre Übersetzbarkeit in andere Werte. Polanyi zeigt zwar auf, dass in historischen Gesellschaften Geld vielfältige Formen annehmen konnte: »Kein Objekt ist Geld per se, doch kann jedes Objekt in einem geeigneten Bereich die Funktion von Geld haben.« (Polanyi [1957] 1979b: S. 317) Dieser Währungscharakter ist eine soziale Zuschreibung (vgl. Graeber 2014: S. 380-384). Polanyi betont, Ökonomie und Anthropologie hätten irrigerweise die Währung als das ›wahre‹ Geld betrachtet, die den »höchsten Abstraktionsgrad und den geringsten Nützlichkeitsgrad aufweist« (Polanyi 1979b: S. 319). Entsprechend wurde auf die Zeichen der Symbolsysteme geblickt, anstatt auf die sozialen Strukturen, die den Symbolen in ihrer Relation Bedeutung beimaßen. Bei Kryptowährungen wird diese Verkürzung besonders deutlich, denn sie sind nur Zeichen, aber anders als Zentralbankgeld verweisen sie nicht auf etwas Außenstehendes, sondern allein auf sich selbst. Innerhalb des technischen Systems der Blockchain sind Kryptowährungen selbstreferenziell. Nur in dieser Selbstreferenzialität liegt die Möglichkeit begründet, Vertrauen durch kryptographische Sicherheit zu ersetzen. Wird Vertrauen überflüssig gemacht und durch das technische Design ersetzt, ist dies ein Entbettungsprozess, der eine zentrale Funktion von Währung aus dem Sozialen herauslöst. 111
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In einer Kaufsituation wird sich auf die btc-Währung bezogen, aber der Verweis auf das Außen der konkreten Interaktion, die gesellschaftlichen Institutionen, entfällt. In der Kaufsituation wird kein implizites Vertrauen benötigt, dass eine Zentralbank oder ein Staat die Funktion oder den Gegenwert des Zahlungsmittels garantiert. Anstelle des Vertrauens in die sozialen Beziehungen und Institutionen tritt die technokratische Logik des Codes, die keine Ambiguität kennt, sondern scheinbar klar benennt, was ist. Dodd (2018) sieht an diesem Punkt ein Paradox: Die Ideologie des btcs, Vertrauen obsolet zu machen, widerspreche seiner Funktion als Währung, die per se nur in sozialen Beziehungen funktioniere (vgl. ebd.: S. 37). Das Zitat Simmels, Geld sei Ausdruck des »Aufeinanderangewiesenseins« der Menschen (Simmel 1930: S. 134), verdeutlicht dies, denn in der Negation der sozialen Beziehung verliert der btc seine Funktion als Währung. Die Entbettung wird jedoch praktisch nicht erreicht, da er schlicht nicht allen sozialen Beziehungen und Institutionen entgehen könne (vgl. Karlstrøm 2014). So produzieren die Programmierer:innen, Communitys und Gruppen hinter dem Projekt ausreichend sozialen Kontext, der auf Machtasymmetrien, Herrschaftsmechanismen und diskursive Praktiken verweist und die Funktionsweise und zukünftige Entwicklung der Kryptowährung prägt (vgl. Dodd 2018; Filippi und Loveluck 2016; Karlstrøm 2014). Die technische Logik wird in der Praxis sozial bearbeitet: Technologie wird im sozialen Kontext genutzt und erzeugt dort auch unerwartete Nebenfolgen, die nicht durch sie selbst aufgefangen werden, sondern durch neue soziale Verfahrensweisen, Institutionen oder Organisationen: »Although the trustlessness of the network seeks to obliviate the need for a central control point, in practice, as soon as a technology is deployed, new issues emerge from unanticipated uses of 112
Karl Polanyi und die gesellschaftliche Entbettung der Kryptowährungen
technology – which ultimately require the setting up of social institutions in order to protect or regulate the technology.« (Filippi und Loveluck 2016: S. 18) So vollzieht sich eine soziale Einbettung der Technologie, die in einem Aushandlungsprozess auf die technischen und sozialen Bedeutungen reagiert. Das Vertrauen verliert nicht seine Bedeutung. In der Praxis sprechen die btc-Nutzer:innen sehr wohl von Vertrauen – jedoch in einem technizistischen Sinne: »Bitcoin users need only ›trust in numbers‹, ›trust in math‹, or ›trust in the code‹.« (Nelms et al. 2018: S. 21) Diese technische Seite des Vertrauens ist jedoch, wie gezeigt, nur als soziale Einbettung der Technik zu verstehen.
Fazit: Soziale Einbettung von Märkten, soziale Einbettung von Technik Polanyis Theorem der Doppelbewegung von gesellschaftlich-sozialer Entbettung und Einbettung von Märkten zeigt für Kryptowährungen eine interessante Facette auf: Einerseits entsteht der freie Markt der btcs nicht aus sich selbst heraus. Er ist das Ergebnis eines politischen d.h., sozialen Eingriffs, durch den der Markt aktiv hergestellt wird. Er bedient sich einer technologischen Infrastruktur und bedarf sozialer Interaktion und Verbindlichkeit. Andererseits muss die Utopie des selbstregulierenden Marktes eine Utopie bleiben, da btcs ohne soziale Einbettung sich in ihrer Selbstreferenzialität verlieren. Mit Polanyi kann verdeutlicht werden, wie sich Krypto-Währungsmärkte an den Grenzen zu dieser Utopie verhalten: Die volatile Kursentwicklung macht btc als Zahlungsmittel unbrauchbar. Das nervöse Zucken nach Prominenten-Tweets ist Symptom für eine hintergründige Aufmerksamkeitsökonomie, in der sich die Utopie radikalisiert, wenn die fiktive Ware Geld in eine technische Rationalität überführt wird. 113
Yannick Kalff
Über Polanyi hinausgehend zeigt sich, dass nicht nur die Märkte sozial eingebettet sind, sondern im Falle der Kryptowährungen auch ihre technische Infrastruktur. Ein fruchtbarer Anschluss kann der Blick auf die performative Herstellung von Märkten sein, die in diesem Fall durch die Technik und den Code vermittelt werden (bspw. Callon 1998; MacKenzie, Muniesa und Siu 2007). Dadurch werden die Einbettungsprozesse sichtbar, die gesellschaftlich vorhandene Vorstellungen von Märkten und ihren ›Gesetzmäßigkeiten‹ in Technik einschreiben und reproduzieren. Diese wiederum sind soziale Prozesse und daher von unterschiedlichen Interessen, Machtasymmetrien und sozialen Kräften geprägt, die sich mitunter weit von der technischen oder marktlichen Rationalität entfernen.
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Soziologie der Rechtfertigung Digitale Technologien und Nachhaltigkeit Sarah Lenz Am 13. Mai 2021 verkündete Elon Musk, CEO des im Silicon Valley ansässigen Automobilkonzerns Tesla, über den Mikroblogging-Dienst Twitter, dass sein Unternehmen Autokäufe mit Bitcoins mit sofortiger Wirkung aussetze. Die für ein international tätiges Unternehmen eher untypische Begründung lautet: Mit Sorge beobachte man die Nutzung fossiler Brennstoffe, die für Bitcoin-Mining sowie -Transaktionen aufgebracht werden. Zwar seien Kryptowährungen auf vielen Ebenen sicher eine gute Idee, ihre Handelbarkeit dürfe allerdings nicht zulasten der Umwelt gehen. Mit dieser Aussage löste er einen verheerenden Kursabfall des Bitcoins aus. Erst als eben derselbe Elon Musk ungefähr zehn Tage später die Meldung veröffentlichte, er habe sich mit Vertretern der US-amerikanischen Bitcoin Branche zusammengesetzt und die Nachhaltigkeitsinitiative »Bitcoin Mining Council« ins Leben gerufen, beruhigte sich der Aktienkurs des Bitcoins. In dieser kurzen, aber dennoch bedeutenden Aneinanderreihung von Ereignissen verdichtet sich ein zentrales Problem gegenwärtiger Gesellschaften: Die Konfrontation digitaler Technologien mit ihren negativen Auswirkungen auf die natürliche Umwelt. Als interpretationsoffene Leitbilder gesellschaftlichen Wandels sind Digitalisierung und Nachhaltigkeit für eine Vielzahl von Akteuren anschlussfähig, was nicht nur innerhalb der Debatten um Nachhaltigkeit oder Digitalisierung zu aushandlungsbedürftigen Konflikten führt. Am Beispiel des Bitcoins zeigt sich auch, was passiert, wenn die Errungenschaften der Digitalisierung gegenüber dem Schutz natürlicher Umwelten 117
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abgewogen werden müssen. Zum einen wirkt sich dieses Aufeinanderprallen von Überzeugungen und Werthaltungen auf andere Bereiche – hier den Finanzmarkt – aus. Zum anderen ist dieser Konflikt der Ausgangspunkt für einen Kompromiss, der zumindest kurzfristig akzeptabel erscheint, die Lage beruhigt und die Normalität wiederherstellt. Dass sich solch ein Kompromiss allerdings in so kurzer Zeit finden lässt wie im Falle von Elon Musks Nachhaltigkeitsinitiative, ist eher selten der Fall. Viel häufiger handelt es sich um langwierige Prozesse des Wertens, Bewertens und Abwägens zwischen unterschiedlichsten Akteuren. Im Folgenden werde ich die Soziologie der Rechtfertigung und ihre Konzepte vorstellen. Die daran anschließende Analyse nimmt den ambivalenten Diskurs um digitale Technologien im Kontext von Nachhaltigkeit zum Ausgangspunkt und sucht in zwei unterschiedlichen Bereichen (Wirtschaft und Zivilgesellschaft) nach Erklärungen für diese. Der Beitrag endet mit einer Reflexion über die Bedeutung normativer Kriterien für den Einsatz digitaler Technologien.
Falldarstellung: Digitalisierung zwischen Problemlösung und Brandbeschleunigung Sowohl der technologische Fortschritt durch Digitalisierung wie auch der ökologische Wandel zu mehr Nachhaltigkeit erscheinen als Transformationsdynamiken, auf die gegenwärtige Gesellschaften reagieren müssen. Im Falle der Nachhaltigkeit stehen dabei der Verbrauch fossiler Ressourcen und die Bedrohungen durch den Klimawandel im Vordergrund. Digitalisierung wiederum gilt in fast allen wirtschaftlichen Bereichen als notwendiges Innovationserfordernis und tendiert dazu, nahezu alle Alltagsbereiche zu durchdringen und das soziale Leben um diese Technologien herum zu organisieren.
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Soziologie der Rechtfertigung
Obwohl beides – Digitalisierung wie auch Nachhaltigkeit – diskursiv und praktisch lange Zeit parallel zueinander verlaufen ist, lässt sich derzeit eine intensive Diskussion um die Integration und die wechselseitige Bedingung beider Phänomene beobachten. So ist etwa die Entwicklung smarter Technologien (Smart-Home oder Smart-Grid) mit der Hoffnung verbunden, den Verbrauch fossiler Ressourcen zu reduzieren. Zum anderen versprechen künstliche Intelligenz und spezifische MonitoringTechniken die Entwicklung von Warn- und Prognosesystemen, die einen Beitrag zum Erreichen der Nachhaltigkeitsziele leisten sollen. In diesem Sinne wird die Digitalisierung als ›Problemlöser‹ für den Klimawandel gesehen. Gleichzeitig bleibt der Einsatz digitaler Technologien für die Bewältigung ökologischer Problemlagen umstritten. Skeptiker befürchten, dass digitale Technologien die Auswirkungen auf die Umwelt verschärfen und als »Brandbeschleuniger« (Der Spiegel 2019) wirken könnten. Der Direktor des Potsdamer Instituts für Klimafolgenabschätzung, Joachim Schellnhuber, bringt diese Deutung pointiert zum Ausdruck, wenn er feststellt, dass »wir die Digitalisierung nicht allein dem Silicon Valley überlassen [können], denn künstliche Intelligenz könnte unsere Zivilisation schneller zerstören als der Klimawandel« (PIK 2018). Es sind diese kontroversen Debatten über das Wirken oder den Schaden digitaler Technologien im Kontext von Nachhaltigkeit, die im Mittelpunkt dieses Beitrages stehen. Denn wie Gesellschaften aussehen, die bestrebt sind, beides zu realisieren, bleibt zunächst offen und ist gegenwärtig Gegenstand von normativen und ethischen Aushandlungsprozessen. Ohne Befürwortern oder Skeptikern das Wort zu reden, geschweige denn die tatsächlichen Wirkungen zu prüfen, wird hier eine Perspektive gewählt, die den zugrundeliegenden legitimatorischen Grundlagen nachspürt und dabei die Perspektiven aller Beteiligten ernst nimmt: Die Soziologie der Rechtfertigung. 119
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Soziologie der Rechtfertigung Die Soziologie der Rechtfertigung geht davon aus, dass Prozesse des Wertens, Bewertens und Abwägens konstitutiv für soziale Ordnung und die Konstruktion von Wirklichkeit sind (vgl. Wagner 1993). Dabei beziehen sich Akteure auf eine Vielzahl legitimer Rechtfertigungs- und Wertordnungen um Handlungen, Personen, Objekte oder – wie in unserem Fall – Entwicklungsprozesse und Instrumente zu bewerten, d.h. zu legitimieren oder zu kritisieren (vgl. Boltanski und Thévenot 2007). Im alltäglichen Leben kommt es dabei vor, dass Menschen, die gemeinsam etwas tun – in der Politik, sozialen Bewegungen oder Unternehmen – feststellen, dass etwas ›falsch läuft‹. Um diesen krisenhaften Zustand zu überwinden, muss sich etwas ändern. In den meisten Fällen folgt auf derartige Erkenntnisse eine Diskussion unter den Beteiligten. Diese artikulieren Interessen, formulieren Wünsche und kritisieren diejenigen der anderen, die sie für ungerecht und unangebracht – oder schlicht falsch – halten. Im Idealfall gelangen sie zu einer Einigung, sodass sie zusammen weiter Handeln können. Solche reflexiven und ›kritischen Kompetenzen‹ sind der mikrosoziologische Ausgangspunkt für sozialen Wandel und werden besonders in jenen Situationen empirisch evident, die durch einen hohen Grad an Unsicherheit oder durch Konflikte charakterisiert sind (vgl. Boltanski und Thévenot 2011: S. 44). Legitimation und Kritik sind in dieser Perspektive zwei Seiten derselben Medaille und gleichermaßen fundamental für soziales Handeln. Grundlegend geht die Soziologie der Rechtfertigung von der Existenz pluraler Rechtfertigungsordnungen aus, auf die sich Akteure beziehen können, um ihr eigenes Handeln zu legitimieren und das Handeln anderer zu kritisieren. Analytisch werden vor allem acht historisch gebundene Rechtfertigungsordnungen bzw. ›Welten‹ unterschieden, die durch distinkte, aber als legitim und handlungsleitend anerkannte Gerechtigkeitsprinzipien charakterisiert sind. 120
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Als normative Bezugspunkte legen diese Rechtfertigungsordnungen oder ›Welten‹ unterschiedliche Konzepte von Wertigkeit, Qualifikationen und Beziehungen zugrunde, weshalb sie sich potentiell gegenseitig als Kritik gegenüberstehen können. Während sich die Wertigkeit einer Person oder eines Objektes in der Welt der Inspiration an seiner Einzigartigkeit und Originalität bemisst, wird in der staatsbürgerlichen Welt jenen Personen eine große Wertschätzung entgegengebracht, die vom individuellen Interesse transzendieren und das Wohl des Kollektivs zur Maxime des eigenen Handelns machen. In der Welt des Hauses richtet sich die Wertigkeit nach dem Rang in einer Vertrauenshierarchie. In der Welt der Meinung ist Größe von Reputation und der Anerkennung anderer abhängig. Eine Besonderheit stellt die Analyse wirtschaftlichen Handelns bei Boltanski und Thévenot dar, da für dieses sowohl Koordinationsformen des Marktes als auch jene der industriellen Ordnung grundlegend sind (vgl. Boltanski und Thévenot 2007: S. 264). In der Welt des Marktes sind Reichtum und Geld ausschlaggebend für die Zuordnung von Wertigkeiten. Groß sind Personen, die nach Profit streben, um ihren Besitz zu vermehren. Um »[d]as gewaltsame Aufeinandertreffen von konkurrierenden Besitzwünschen« zu befrieden (Boltanski und Thévenot 2007: S. 116) koordinieren die Prinzipien der Konkurrenz und des Wettbewerbs die Beziehungen von Personen und Organisationen. Die Marktordnung nimmt die Unterordnung individueller Interessen unter den kollektiven Nutzen – wie dies typisch für die staatsbürgerliche Welt ist – zurück und sieht in der marktförmigen Regulierung das Potential für die Errichtung einer harmonischen Ordnung. Demgegenüber sind in der Welt der Industrie jene Personen wertvoll, die ihr Handeln an der Effizienz, der Standardisierung und der Messbarmachung ausrichten. In der empirischen Realität lassen sich solche idealtypischen Ordnungen allerdings nicht finden. In den meisten Fällen zei121
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gen sich normative Vermittlungen, die Elemente unterschiedlicher ›Welten‹ enthalten. Kollidieren zwei oder mehrere Rechtfertigungsordnungen – etwa in Kontroversen oder Disputen – werden die Elemente der jeweiligen Rechtfertigungsordnungen empirisch sichtbar. Gleichzeitig sind diese Konflikte der Ausgangspunkt für Kompromisse, wie sie sich dann in der empirischen Realität finden lassen. Die ökologische Landwirtschaft und der faire Handel lassen sich auf einen solchen Kompromiss zwischen der häuslichen und der staatsbürgerschaftlichen Rechtfertigungsordnung zurückführen. Als Resultat wirken Vertrauen, lokale Bindungen, Regionalität und Verpflichtungen gegenüber dem kollektiven Wohlergehen als handlungsleitend (vgl. Raynolds 2014). Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden dargelegt, wie der Einsatz und die Konsequenzen digitaler Technologien in zwei unterschiedlichen Bereichen bewertet werden: Zivilgesellschaftliche Gruppierungen, die nach einer Transformation gegenwärtiger Wirtschaftsordnungen streben, um Nachhaltigkeit zu realisieren, sowie Unternehmen, die die Leitlinien der Nachhaltigkeit in den letzten Jahren vermehrt in ihre Geschäftspraktiken integrieren. Während erstere ihr Handeln an der Kritik gegenwärtiger Wirtschaftsordnungen orientieren, sind Markt und Industrie für letztere, die Unternehmen, eine existentielle Voraussetzung. Zwar spielen digitale Technologien in beiden Bereichen eine zunehmend wichtige Rolle, allerdings wird der Beitrag, den sie zum jeweiligen Allgemeinwohl leisten könnten, grundlegend unterschiedlich legitimiert bzw. infrage gestellt.
Kontroversen um digitale Technologien im Kontext von Nachhaltigkeitsdiskursen In Leitbildern und Konzepten des digitaltechnologischen Fortschrittes und den Nachhaltigkeitszielen kommen variierende, aber gleichsam legitime Elemente unterschiedlicher Recht122
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fertigungsordnungen zum Tragen. Die folgende Analyse wird verdeutlichen, dass digitale Technologien in variierenden Kontexten deutlich unterschiedlich bewertet und integriert werden, was die jeweilige Konstruktion der Realität maßgeblich beeinflusst. Harmonisierung der Umweltproblematik: Zunächst lässt sich beobachten, dass Nachhaltigkeit im unternehmerischen Kontext nicht mehr nur als Störfaktor oder als Bedrohung wahrgenommen wird, dem CEOs und andere Wirtschaftsakteure nachkommen sollen oder gar müssen, um ihre Legitimität gegenüber ihren Stakeholdern aufrechtzuerhalten. Vielmehr werden der Klimawandel und die entsprechenden Nachhaltigkeitsstrategien zunehmend auch als Chance für wirtschaftlichen Gewinn betrachtet (für das Bankensystem vgl. z.B. Lenz 2018). Nachhaltigkeit wird zu einem wesentlichen Kriterium der Wettbewerbsfähigkeit, das sogar in der emotionalen Kultur oder »Emotionologien« von Unternehmen verankert ist (Fineman 2002). In der Unternehmenspraxis drückt sich diese Form der Vermittlung zwischen marktlicher und grüner Rechtfertigungsordnung dann z.B. in Wettbewerben aus, in denen die Mitarbeiter um die höchsten Renditen bei Energieeinsparungen konkurrieren. Damit sollen vermeintlich negative und entsprechend hinderliche Emotionen mit den Prinzipien des Wettbewerbs überschrieben werden: »Emotionen wie Furcht, Angst, Wut und Feindseligkeit [werden] durch positivere Emotionen wie Stolz, Enthusiasmus und Leidenschaft ersetzt, die mit unternehmerischen Anliegen wie Kostenreduzierung, Effizienzsteigerung und Abfallvermeidung verknüpft werden [können]« (Wright und Nyberg 2012: S. 1578). Hier wird die Vermittlung zwischen einer auf Marktund Industrieprinzipien basierenden Welt mit den Elementen der grünen Welt besonders deutlich. Nachhaltigkeit bildet hier die Grundlage für ein neues Geschäftsmodell und eine darauf ausgerichtete Unternehmenskultur. 123
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Darüber hinaus erweitern die zunehmenden Bedrohungen durch den Klimawandel die Perspektive eines notwendigen Wandels, da durch das Erreichen der ›planetaren Grenzen‹ eine globale Nachhaltigkeitsperspektive unumgänglich erscheint. In diesem Kontext werden digitale Technologien relevant. So sind etwa führende Klimaforscher wie Börje Ekholm und Johan Rockström (2019) davon überzeugt, dass der IKT-Sektor und digitale Technologien zukünftig in der Lage sein werden, die globalen Emissionen bis 2030 um 15 Prozent zu reduzieren. In einem gemeinsam verfassten Bericht über das Potential digitaler Technologien argumentieren sie, dass »der Sektor der digitalen Technologien wahrscheinlich der mächtigste Einflussfaktor ist, um Maßnahmen zur Stabilisierung der globalen Temperaturen deutlich unter 2 °C zu beschleunigen« (ebd.). Auch für den Verkehrssektor und die Umsetzung einer politisch initiierten Energiewende ist der Einsatz digitaler Technologien unverzichtbar. Wie eine deutsche NGO formuliert, ermöglicht »die Digitalisierung der Energiewende […] eine Ausweitung der sauberen Energie in andere Sektoren, um den Bedarf fossiler Rohstoffe weiter zu senken […]« (Zimmermann und Wolf 2016: S. 9). Industrienahe Forschungsinstitute sehen ebenfalls künstliche Intelligenz, das Internet der Dinge, Big Data Computing und Blockchain als innovative Methoden zur Anwendung in der Energiewirtschaft und Produktionstechnik. Ungeachtet aller Nebenfolgen können Digitalisierung und Nachhaltigkeitsstrategien hier als ergänzend und komplementär gerechtfertigt werden. Die Digitalisierung ermöglicht – zumindest auf der Ebene wirtschaftlicher Produktion und Konsumption – eine effiziente Substitution natürlicher Ressourcen. Die Digitalisierung harmonisiert hier gewissermaßen die Forderungen nach dem Schutz der natürlichen Umwelten mit einem weiterhin starken marktbasierten Wachstumsimperativ und dem daran gekoppelten Fortschrittsoptimismus. Aus der Perspektive der Soziologie 124
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der Rechtfertigung handelt es sich hierbei also um eine praktische Vermittlung zwischen der grünen mit der marktlichen und der industriellen Ordnung. Praktisch institutionalisiert und verdichtet findet sich dies etwa in den Konzepten einer ökologischen Modernisierung. Umkämpfte Digitalisierung: Im Unterscheid zu dieser marktbasierten ökologisch-digitalen Modernisierung fordern transformative Bewegungen wie etwa ›Degrowth‹ eine völlige Neustrukturierung wirtschaftlicher Institutionengefüge. Die Forderung nach einem Wachstumsstop kapitalistischer Ökonomien ist hier eng verbunden mit den Vorstellungen einer nachhaltigeren Gestaltung von Gesellschaften. Aus dieser Perspektive bietet eine dezentral organisierte und offene Wirtschaftsstruktur die Chance, Einkommensunterschiede zu verringern, die globale Wirtschaft zu demokratisieren und eine ökologisch nachhaltige Gesellschaft aufzubauen (vgl. Rifkin 2014: S. 13). Analytisch betrachtet verbindet sich hier das zentrale Bewertungskriterium der staatsbürgerschaftlichen Rechtfertigungsordnung – die Ausrichtung am Kollektivwohl – mit der Forderung nach einem verantwortlichen Umgang mit der Natur, wie sie für die grüne Ordnung typisch ist. Auch digitale Technologien wie Offene Software oder anwendungsorientierte Open Source fügen sich zunächst in diese Konzeption einer globalen gesellschaftlichen Transformation ein. So bezieht sich etwa die Grundidee von Wikipedia auf eine umfassende Partizipation aller Menschen an der Wissensproduktion (Elder-Vass 2016). Andere Creative Commons und digitale Plattformen fokussieren wiederum das gemeinschaftliche Teilen und stellen sich dadurch dem Kommerziellen entgegen (Kleiderkreisel, Pixabay), um »die Zusammenarbeit zwischen großen Gruppen von Individuen zu ermöglichen, ohne dabei auf Marktpreise oder Managementhierarchien angewiesen zu sein« (Benkler und Nissenbaum 2006: S. 394). Transformative Bewegungen und die Open-Source-Community versuchen demnach 125
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gleichermaßen, utopische Gegenentwürfe zu etablieren (O’Mahony und Ferraro 2007) und kulturelle Grundlagen für eine völlige Neugestaltung etablierter gesellschaftlicher und ökonomischer Strukturen zu initiieren. Den normativen Bezugspunkt bildet hier zum einen die staatsbürgerschaftliche Rechtfertigungsordnung, die anstelle von individuellen Markterfolgen das Wohl des gesamten Kollektivs – inklusive der Natur – fokussiert. Durch die antizipierten positiven Effekte des Internets und von Informations- und Kommunikationstechnologien zeigt sich hier ein handlungsleitender Kompromiss zwischen mindestens drei Rechtfertigungsordnungen: der staatsbürgerschaftlichen, die eine enge Bindung mit der grünen eingeht, und in der Verbindung mit der Open-Source Bewegung und Tausch-Communities werden auch Elemente der inspirierten Rechtfertigungsordnung zur handlungsleitenden Grundlage. Innovation, der Glaube an die Kreativität und Nonkonfromität gelten hier als legitime und sogar erwünschte Handlungsweisen. Es lässt sich allerdings beobachten, dass die Euphorie über digitale Technologien als Katalysator für die Transformation gesellschaftlicher Strukturen in den letzten Jahren gesunken ist, nicht zuletzt, weil sie statt zu Dezentralisierung und Kooperation – zwei zentrale Elemente der staatsbürgerschaftlichen Rechtfertigungsordnung – eher zu Monopolisierung und mehr Wettbewerb geführt haben. Globale Tech-Konzerne sind hier die treibenden Kräfte, und nicht – wie ursprünglich beabsichtigt – lokale und kooperative Gemeinschaften. In der Folge profitiert lediglich eine Handvoll transnationaler Internetunternehmen von z.B. Open-Source-Entwicklungen (Dolata 2015). Von der ursprünglichen Idee, kapitalistische Strukturen zugunsten des Kollektivwohls und der Natur zu transformieren, bleibt letztlich nicht viel übrig, wenn die Entwicklung digitaler Innovationen von großen Konzernen kontrolliert wird und das Wissen, die Expertise und die Ideen der Open126
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Source- und Open-Innovation-Communities nur dazu dienen, die Marktmacht zu vergrößern (West und Lakhani 2008). Hier zeigt sich ein deutlicher Konflikt zwischen markt- und wettbewerbsfundierten Rechtfertigungsordnungen mit den Werten der Staatsbürgerschaft, der Inspiration, der Grünen und des Netzwerks, wie sie für die normative Ausrichtung transformativer Bewegungen typisch ist. In dieser Konstellation stehen das Wohl der Natur, die Vernetzung von Menschen mittels digitaler Technologien und die Entwicklung von Innovationen im Vordergrund; den normativen Bezugspunkt bildet nicht Konkurrenz oder Wettbewerbsfähigkeit, sondern die gemeinschaftliche Produktion und Distribution gesellschaftlich relevanter Ressourcen. Die ursprünglich starke Bedeutung digitaler Technologien im Kontext transformativer Bewegungen wird aber durch eine zunehmende Kommerzialisierung des Internets konterkariert und verliert dadurch partiell ihre normative Triebkraft.
Konfligierende Rechtfertigungen Derzeit wird in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft durchaus kontrovers über die Bedeutung und Wirkung digitaler Technologien debattiert. Innerhalb dieser Aushandlungen werden digitale Technologen einmal durchaus positiv gewertet – d.h. als Problemlöser gegenwärtiger und zukünftiger Umweltprobleme – ein andermal wird die schädliche Wirkung hervorgehoben, was sich in der Metapher der Digitalisierung als Brandbeschleuniger verdichtet. Ohne die tatsächlichen Auswirkungen zu prüfen, wurde hier eine analytische Perspektive vorgeschlagen, die sowohl Nachhaltigkeit als auch Digitalisierung als gegenwärtig dominante Leitbegriffe gesellschaftlichen Wandels konzipiert, auf die sich Akteure in ihrem Streben beziehen können, eine nachhaltige und digitale Gegenwart und Zukunft zu imaginieren, zu gestalten und Voraussetzung für ihre Durchsetzung zu schaffen. Gleichzeitig sind solche Aushandlungen der Ausgangs127
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punkt für sozialen und strukturellen Wandel, da sie den möglichen Verlauf von Handlungsweisen und Organisationsformen, das heißt die uns alle betreffende Realität, verändern. Geht man grundlegend davon aus, dass Bewertungen, Wertungen und Rechtfertigungen eine wichtige Grundlage für den Wandel von institutionellen Gefügen sind, ist es notwendig, diesen nachzuspüren und danach zu fragen, wie Akteure an den Schnittstellen der Diskurse um eine digitale Nachhaltigkeit diese Integration legitimieren oder auch kritisieren. Es wird deutlich, dass es nicht ausreicht, Technologien allein von ihrer Wirkung und ihrer Funktion her zu betrachten, denn, wie gezeigt, können dieselben Technologien mit durchaus unterschiedlichen oder sich wiedersprechenden Rechtfertigungen und Kritiken verbunden sein, die eine Implementierung in der Praxis sowohl ermöglichen als auch begrenzen. Die Vermittlung von Digitalisierung und Nachhaltigkeit muss demnach immer auch von ihren normativen Grundlagen her verstanden werden, auf die sich Akteure in ihrer Alltagspraxis beziehen. Denn letztlich ist das Funktionieren und Scheitern von Technologien in hohem Maße davon abhängig, wie sie das Engagement der Akteure rechtfertigen und somit von den moralischen Argumenten, die ihnen entgegengebracht werden. So wird digitalen Technologien im wirtschaftlichen Kontext eine effizienzsteigernde Wirkung zugeschrieben, die als Win-WinSituation wahrgenommen wird. Dementsprechend kann der Einsatz digitaler Technologien als eine Möglichkeit legitimiert werden, Markt- und Umweltanforderungen der grünen Rechtfertigungsordnung miteinander in Einklang zu bringen. Schaut man sich das Verhältnis von Digitalisierung und Nachhaltigkeit allerdings aus der Perspektive jener transformativen Bewegungen an, die sich grundlegend von dieser Form der marktbasierten ökologisch-digitalen Modernisierung abwenden und stattdessen eine völlige Neustrukturierung wirtschaft128
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licher Institutionengefüge fordern, wird die aushandlungsbedürftige Bedeutung digitaler Technologien besonders evident. Hier konterkariert die zunehmende Kommerzialisierung des Internets und der Software-Entwicklung die handlungsleitenden Rechtfertigungen von gemeinschaftlicher Produktion und Distribution gesellschaftlich relevanter Ressourcen.
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Systemtheorie der Gesellschaft Digital Farming Anna Henkel Digitalisierte Karten orientieren im Raum, digitale Kommunikationstechniken eröffnen neuartige Möglichkeiten der Gruppenbildung, Nachrichteninformationen beschreiten digitalisierte Verbreitungswege, Algorithmen optimieren Entscheidungsprozesse, wirtschaftliche Beziehungen werden geprägt vom Plattformkapitalismus (vgl. etwa Burkart 2007; Lindemann 2014; Staab 2019). Allgegenwärtig verspricht Digitalisierung, Gesellschaft zu transformieren und dabei nicht nur das Leben leichter zu machen, sondern auch Probleme unterschiedlichster Art zu lösen. Denn mit Digitalisierung als Sammelbezeichnung wird vor allem Fortschritt assoziiert – ein technischer Fortschritt verbunden mit neuen Möglichkeiten sozialer Interaktion, besseren Waren und Dienstleistungen sowie sozialen Innovationen. In all dem liegt eine Gesellschaft insgesamt ganz grundlegend neu und positiv transformierende Entwicklung. Deshalb fungiert der Digitalisierungsgrad einer Gesellschaft, also die Verfügbarkeit einer entsprechenden technischen Infrastruktur und deren Einsatz in Privatwirtschaft, öffentlichem Dienst, Bildungs- und Gesundheitssystem etc., implizit oder explizit als Indikator für den Grad der Fortschrittlichkeit einer Gesellschaft. Länder mit einem Digitalisierungsrückstand sind diesen aufzuholen bestrebt, hoch digitalisierte Gesellschaften werden wenn nicht als besser, so doch mindestens als überlegen angesehen. Aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive zeigt sich allerdings, dass Digitalisierung eine längst bereits erfolgte gesellschaftliche Transformation vor allem fortführt und verstärkt (vgl. dazu auch Nassehi 2019) – und dabei im Wesentlichen be133
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kannte Lösungspotentiale mit ebenso bekannten Risiken hervorbringt. Diese These soll hier an einem in der öffentlichen Diskussion weniger prominenten Fallbeispiel diskutiert werden, dem sog. Digital Farming. Während Smartphones, Sprachassistenten und Navigationsgeräte in der Alltagswelt so präsent sind, dass sie kaum mehr auffallen (teils wird von einer ›stillen Revolution‹ gesprochen, vgl. Bunz 2012), ist eine Digitalisierung der Landwirtschaft weithin unbemerkt weit vorangeschritten. Indem Digitalisierung Lösungspotentiale für die Probleme der Landwirtschaft zwischen Effizienzsteigerung und Nachhaltigkeit verheißt, ist dieser Fall besonders geeignet, um die Bedingungen und Möglichkeiten von Digitalisierung sowie deren Konsequenzen zu hinterfragen. Es folgt zunächst eine Einführung ins Digital Farming als zu behandelnder Fall. Daran schließt eine kurze Darstellung der zur Analyse verwendeten gesellschaftstheoretischen Perspektive der Systemtheorie an. Diese wird sodann genutzt, um im dritten Teil den digitalen Wandel der Landwirtschaft gesellschaftstheoretisch zu reflektieren und zu verorten. Ein Fazit zum Verhältnis von Digitalisierung und Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft schließt die Überlegungen ab.
Digital Farming Eine Digitalisierung der Landwirtschaft erfolgt sukzessive etwa seit den 1980er Jahren. Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist die sog. Precision Agriculture bzw. das Precision Farming. Ziel dieser Technologien ist eine optimale Anpassung insbesondere der Düngemittelverteilung an variable Bodenbedingungen, wozu landwirtschaftliche Geräte digitale Karten mit Bodeneigenschaften nutzen und quadratmetergenau die an die jeweiligen Bodenanforderungen angepassten Mengen ausbringen. Um die bedarfsangepasste variable Dosierung geht es ebenfalls im Precision Lifestock Farming, hier bezogen auf die optimale Menge von bspw. 134
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Futtermitteln. Precision Farming wird später ergänzt durch das sog. Smart Farming, das für Bewässerung, Düngung, Pflanzenschutz usw. auf sensorbasierten Echtzeitsystemen beruht, die mit unterschiedlichen Arten von Sensoren verschiedene für landwirtschaftliche Entscheidungen zentrale Daten sammeln. Entscheidungsverfahren werden so unterstützt und beschleunigt (vgl. Auernhammer 2006: S. 35; Gebbers und Adamchuk 2010: S. 828f.). Der Begriff Digital Farming schließlich bezeichnet eine Systemtechnik, mit der die genannten bestehenden Verfahren um vier weitere Komponenten erweitert werden, nämlich Robotik und Drohnen, Big Data Analyse und KI, Cloud Computing sowie das Internet der Dinge (oder gar: ›Internet der Tiere‹, vgl. Bolinski 2020). Informationen aus Bodenkartierung, Bodenproben und Sensordaten werden zusammengestellt, verglichen und auf künftige Entwicklungen hochgerechnet. Auf solche Informationen kann der Landwirt z.B. als Entscheidungshilfe bezüglich des Erntezeitpunkts oder als Alarmsignal bei auf Probleme hindeutenden Unregelmäßigkeiten im einfachsten Fall über sein Smartphone zugreifen. Entsprechende Daten können teils auch direkt an landwirtschaftliche Geräte, Drohnen oder Roboter gesendet werden, die mittels der Informationen landwirtschaftliche Tätigkeiten passgenau vollziehen. Digital Farming unterstützt derart die landwirtschaftliche Entscheidungsfindung, dient der Optimierung von Ressourcen und der Automation sowie der Standardisierung und Nachvollziehbarkeit etwa von Nahrungsketten (vgl. Auernhammer 2006; Gebbers und Adamchuk 2010; King 2017).
Eine gesellschaftstheoretische Perspektive Der Begriff Gesellschaft wird soziologisch sehr unterschiedlich verwendet. Teils bezieht er sich auf das anonyme Gegenstück zur Gemeinschaft, teils auf nationale oder kulturelle Einheiten 135
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oder auch auf besondere Merkmale eines größeren sozialen Zusammenhangs. Für die Zwecke der hiesigen Überlegungen soll im Anschluss an die Systemtheorie Niklas Luhmanns Gesellschaft als ein sich selbst reproduzierendes Sinnsystem gefasst werden, das sich durch diese Selbstreproduktion zugleich von seiner Umwelt abgrenzt, systeminterne Strukturen bildet sowie Beschreibungen von sich selbst und von seiner Umwelt anfertigt (vgl. Luhmann 1999, 2005). Der Begriff Gesellschaft bezeichnet damit also keine spezifische gesellschaftliche Formation. Potentiell wandelt sich Gesellschaft im Zeitablauf und ändert im Zuge dieses Wandels auch ihr Verhältnis zur Außenwelt. In der soziologischen Gesellschaftstheorie ist als zentraler gesellschaftlicher Strukturwandel der Übergang von der stratifizierten Gesellschaft des Mittelalters hin zur funktional differenzierten bzw. arbeitsteiligen modernen Gesellschaft untersucht worden. Die stratifizierte Gesellschaft zeichnet sich durch rangmäßige Ungleichheit der Teilsysteme aus, was sich sowohl in der verwendeten Semantik, also den tradierten Sinnformen, als auch in den Erwartungsstrukturen manifestiert (vgl. Luhmann 1999: S. 678ff.). Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wandelt sich die Struktur der Gesellschaft dahingehend, dass Recht, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft oder auch Religion als eigenständige Funktionssysteme vorliegen, die sich jeweils nur an ihrem spezifischen Funktionsbereich orientieren, wobei sie allerdings auf Leistungen der anderen Funktionssysteme angewiesen sind (vgl. Luhmann 1999: S. 743). Während im Mittelalter beispielsweise für unterschiedliche Stände verschiedenes Recht galt, ein Sachthema wie Recht also der Primärstruktur der gesellschaftlichen Schichtung untergeordnet ist, bilden nun die Sachthemen die Primärstruktur: Es gilt für alle dasselbe Recht, zugleich orientiert sich Recht nur an Recht – wirtschaftliche Zahlung oder wissenschaftliche Wahrheit haben
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auf die Frage nach Recht oder Unrecht normativ keinen direkten Einfluss. Mit dem Wandel von einer stratifizierten hin zur funktional differenzierten Gesellschaft verändert sich auch die Materialität der Gesellschaft. Aus systemtheoretischer Perspektive ist die Welt, wie sie ist, aber sie ist nicht als solche verfügbar. Punkt-für-Punkt-Beziehungen zwischen Umwelt und System (vgl. Luhmann 1986: S. 33) bzw. Außenwelt und Gesellschaft gibt es nicht. Was es gibt, ist eine systeminterne Auslegung, mittels derer die Gesellschaft Annahmen über die Außenwelt trifft und ihre Erwartungen auf diesen aufbaut. Dies geschieht notwendig mit den Mitteln des Systems, im Falle der Gesellschaft also sinnhaft mittels symbolisch-sprachhafter Kommunikation. Diese gesellschaftsinterne Auslegung der Außenwelt muss mit erlebten Erfahrungen mehr oder weniger korrespondieren (vgl. Henkel 2016, 2017a). In der stratifizierten Gesellschaft ist die gesellschaftsinterne Auslegung der Außenwelt bestimmt durch die Vorstellung eines integrierten Kosmos, in dem die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft in einem Gleichgewicht zueinanderstehen und durch Korrespondenzverhältnisse die Materialität der Gesellschaft bestimmen. Indem der Mensch selbst aus den vier Elementen besteht, kann er durch sinnliche Wahrnehmung Schlussfolgerungen auf Korrespondenzverhältnisse ziehen und sich im Umgang beispielsweise mit der Materialität des Körpers oder auch der Landwirtschaft an den vier Elementen orientieren. Mit der funktionalen Differenzierung verändert sich auch die Materialität der Gesellschaft hin zu einer ›autonomen‹ Materialität. Die Funktionssysteme entwickeln jeweils einen spezifischen Zugriff auf Materialität, insbesondere die wissenschaftliche Standardisierung, die politisch-rechtliche Regulierung und die ökonomische Warenbildung, wobei diese Zugriffe sich in der Bestimmung einer konkreten autonomen Materialität auf137
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einander abstimmen und zugleich diese autonome Materialität hervorbringen. Materialität ist nun autonom in dem Sinne, dass sie nun unabhängig von einer jeweils persönlich-individuellen Interpretation eigenständig vorliegt (vgl. Henkel 2017b, 2017a). Während beispielsweise Arzneimittel in der stratifizierten Gesellschaft auf das Ungleichgewicht eines konkreten menschlichen Körpers bezogen waren und also individuell angepasst werden mussten, sind nun Wirkstoffe wissenschaftlich standardisiert bestimmt, die Bedingungen der Verkehrsfähigkeit solcher Wirkstoffe als Arzneimittel politisch-rechtlich reguliert und originalverpackte Präparate warenförmig verfügbar (vgl. Henkel 2011).
Digital Farming als Fortsetzung einer bereits gewandelten Landwirtschaft Eine solche gesellschaftstheoretische Perspektive zur Untersuchung der Entwicklung der Landwirtschaft angewendet verdeutlicht, dass Digitalisierung weniger selbst erhebliche Strukturänderungen bewirkt, sondern vielmehr umgekehrt auf bereits erfolgte erhebliche Strukturänderungen angewiesen ist, insbesondere auf eine autonome Materialität, an die sie schlicht anknüpft und die sie inklusive bekannter Möglichkeiten und Risiken verstärkt. Weniger der Neuheits-, sondern vielmehr der Kontinuierungs- und Wiederholungscharakter ist es daher, der aus gesellschaftstheoretischer Perspektive bezüglich Digitalisierung auffällt: Bis ins 19. Jahrhundert hinein ist die landwirtschaftliche Praxis wesentlich bestimmt durch die Struktur der stratifizierten Gesellschaft und deren kosmologisches Materialitätsverhältnis. Landwirtschaft ist die Grundlage der stratifizierten Gesellschaft und wird vom überwiegenden Teil der Bevölkerung praktisch ausgeübt. Über das sog. Doppeleigentum am Boden sind selbst diejenigen, die nicht selbst landwirtschaftlich arbeiten, also die 138
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Fürsten und Kirchenherren, mit dem Boden verbunden. Dieser universalen Bedeutung der Landwirtschaft entspricht, dass die landwirtschaftliche Praxis als für jedermann durch einfache Beobachtung zugänglich gilt. Soweit vorhanden, etwa bei den antiken Agrarschriftstellern oder später in der Hausväterliteratur und eher gerichtet an die selbst nicht landwirtschaftlich tätigen Besitzer und Verwalter, hebt landwirtschaftliche Literatur hervor, dass sich die Beschaffenheit des Bodens und die erforderlichen landwirtschaftlichen Tätigkeiten auch dem nicht besonders Erfahrenen durch einfache Beobachtungen erschließen, indem der Boden durch seinen Bewuchs anzeigt, was er braucht und bringt (vgl. Ehwald 1963; Sieglerschmidt 1999; Winiwarter 1999; Uekötter 2010; Seidl 2014; Henkel 2017c). Boden ist dabei vor allem der »Magen der Pflanzen« (Ehwald 1963: S. 7), interessiert also als Teil der landwirtschaftlichen Praxis. In der Antike hieß es: »Es lohnt nicht, gegen die Götter anzukämpfen – seinen Lebensunterhalt gewinnt man eher, wenn man anbaut, was der Boden gern hervorbringt.« (Xenophon 2008: 97) Mit dem Wandel hin zur funktional differenzierten Gesellschaft verändern sich die Materialität des Bodens und die damit verbundene landwirtschaftliche Praxis. Die wissenschaftliche Disziplin der Pedologie, der Bodenkunde, differenziert sich aus über die Frage nach dem ›Boden an sich‹ und entwickelt mit dem horizontal-vertikal-zeitlichen Konzept des Bodenindividuums einen Zugriff, der Boden standardisierend bestimmt und kartierbar macht (vgl. Yaalon und Berkowicz 1997). Zusammen mit der Bodenregulierung und einer vom Gebrauch des Bodens weitgehend entkoppelten Warenfähigkeit des Bodens entsteht so Boden als autonome Materialität, die weder über die sinnliche Wahrnehmung noch über Gesellschaftsstrukturen direkt an Personen oder Schichten gebunden ist – die Befreiung des Bauern von der Scholle ist auch eine Befreiung der Scholle vom Bauern (vgl. Henkel 2017c, 2017b). 139
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Boden ist nun erstmals als solcher und unabhängig von seiner landwirtschaftlichen Nutzung bestimmt. Parallel zu dieser Entwicklung entsteht bezogen auf das Pflanzenwachstum eine eigenständige autonome Materialität. Die ebenfalls neue wissenschaftliche Disziplin der Agrikulturchemie postuliert, dass Pflanzenwachstum nicht direkt mit dem Boden verbunden ist, sondern auf der Versorgung mit Mineralstoffen beruht (vgl. Ehwald 1963: S. 14; Uekötter 2010: S. 146). Visionär formuliert Liebig: »es wird eine Zeit kommen, in der Äcker mit einer Lösung gedüngt werden […] die in Chemiemanufakturen hergestellt wird« (Liebig 1840: S. 63). Mineralischer Kunstdünger mit wissenschaftlich standardisierten Eigenschaften und regulierter Verkehrsfähigkeit wird entwickelt, als Ware eigenständig beworben und verkauft. Boden und Pflanzenernährung sind damit analytisch und material zunächst getrennt; bodenlose Pflanzenernährung, die seit Ende der 1990er Jahren jedenfalls bezüglich einzelner Agrarprodukte betrieben wird, ist in diesem Prinzip bereits im 19. Jahrhundert angelegt (vgl. Henkel 2017c, 2017aHenning Laux und Fabian Anicker). Mit diesem veränderten Materialitätsverständnis wandelt sich auch die Landwirtschaft. Statt aus der individuellen sinnlichen Wahrnehmung zu schließen, welcher Bewuchs für einen Boden besonders geeignet ist, erfordert die Frage nach der Bodenbewirtschaftung nun eine agrarchemische Bodenuntersuchung. Nachdem der bestehende Nährstoffgehalt eines Bodens festgestellt wurde, kann die für den gewünschten Bewuchs erforderliche Menge und Art von Düngemitteln berechnet und entsprechend ausgebracht werden (vgl. Uekötter 2010: S. 251ff.). Dies ermöglicht und erfordert zugleich eine erhebliche Maschinisierung der Landwirtschaft, weil sie größere Flächen leichter zu bewirtschaften erlaubt, sodass die durch die optimale Düngung erlangte Effizienzsteigerung maximal ausgeschöpft und weiter gesteigert werden kann (vgl. Uekötter 2010: S. 277ff.). 140
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Die Entwicklung einer Landwirtschaft, die auf standardisierte Bodeneigenschaften und deren Messung in wissenschaftlichen Prüfverfahren verbunden mit einer effizienzorientierten, wirtschaftlich rationalen und technisch gestützten Bodenbewirtschaftung setzt, ist spätestens in den 1960er Jahren abgeschlossen. Der landwirtschaftliche Betrieb und die landwirtschaftliche Praxis haben sich an das autonome Materialitätsverständnis der funktional differenzierten Gesellschaft angepasst. Digitalisierung schließt hier nun schlicht an. Die über Bodenuntersuchung gewonnenen Indikatoren zur Bodenbestimmung sind bereits leitend für Entscheidungen über die Bodenbewirtschaftung. Die digitale Abbildung solcher Daten, die sensorgestützte Erweiterung der Datenbasis und der Einsatz von Big Data und KI zur Vorhersageoptimierung setzen ein Verständnis von Boden als autonome Materialität mit standardisierten Eigenschaften voraus und führen ein damit verbundenes Kontroll- und Steuerungsverhältnis primär fort. Wenn im Precision Farming Bodendaten an mit GPS ausgestattete landwirtschaftliche Geräte gesendet werden und automatisiert eine optimale Düngemittelausbringung ermöglichen, beruht dies auf der bereits vollzogenen Maschinisierung der Landwirtschaft, die dadurch weiter fortgesetzt wird. Auch wenn Drohnen und Roboter in der Landwirtschaft auf den ersten Blick neuartig und futuristisch wirken mögen, handelt es sich letztlich nur um einige weitere technische Geräte, die entweder landwirtschaftlich relevante Daten über standardisierte Indikatoren erheben oder aufgrund entsprechender Daten standardisierbare landwirtschaftliche Tätigkeiten ausführen.
Fazit: Digitalisierung und Nachhaltigkeit Die moderne Gesellschaft ist eng mit der Idee des Fortschritts verbunden. Dies liegt auch und gerade an ihrem Verhältnis zur Materialität, denn Fortschritt verspricht einen Zuwachs an 141
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Kontrolle, Sicherheit und Wohlstand. Im Bereich der Landwirtschaft ist ein so verstandener Fortschritt offensichtlich, indem vor allem der Einsatz von Kunstdünger die landwirtschaftlichen Erträge erheblich steigert und der erforderliche menschliche Arbeitseinsatz durch Maschinisierung und Verwissenschaftlichung deutlich gesunken ist. Mit Begriffen wie Risiko, Nachhaltigkeit oder Anthropozän wird seit etwa dem zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts auf negative Effekte dieses Fortschritts hingewiesen, beispielsweise Verlust von Biodiversität, Verarmung und Erosion von Böden oder generell Klimawandel. Es ist dieser Hintergrund, vor dem sich Digitalisierung vielfach nicht nur als transformativ und neu inszeniert, sondern zugleich als nachhaltig in dem Sinne, Lösungen für fortschrittsinduzierte Probleme zu liefern (vgl. WBGU 2019). Dies gilt insbesondere für die Digitalisierung in der Landwirtschaft. Der Scientific Foresight Unit beispielsweise formuliert als Nachhaltigkeitspotential durch Digitalisierung in der Landwirtschaft eine Steigerung der »quality and quantity of agricultural output while using less input« (Schrijver 2016: S. 4). Sicher hilft Digitalisierung in der Landwirtschaft in diesem Sinne potentiell, bspw. für einen verringerten Verbrauch von Pestiziden oder Wasser auf großen Flächen. Ebenso kann die Nachvollziehbarkeit der gesamten Produktionskette durch das Internet der Dinge im Sinne von Transparenz als vorteilhaft gesehen werden. Wenn mittels Robotern unterschiedliche Pflanzen auf demselben Feld angebaut werden, kann dies zudem die Ökodiversität steigern. Kleinformatige Entwicklungen wie Feldroboter, Teilen von Daten per Smartphone und der Austausch von Wissen und Dingen mögen schließlich geeignet sein, an genossenschaftliche Strukturen im landwirtschaftlichen Bereich anzuschließen. Vor allem aber wird Landwirtschaft von Arbeitserleichterung durch Digitalisierung profitieren, nachdem es für den landwirtschaftlichen Bereich mit seinen besonderen Anfor142
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derungen an zeitliche Verfügbarkeit und örtliche Gebundenheit schwierig ist, Personal zu finden (vgl. etwa Gebbers und Adamchuk 2010; Schrijver 2016; Walter, Finger, Huber und Buchmann 2017). Indem Digitalisierung an die bereits vollzogene gesellschaftliche Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen und der Materialität der Gesellschaft anschließt, bedeutet Digitalisierung als Fortführung des Fortschritts aber zugleich eine Fortführung des Risikos der modernen Gesellschaft. Nachhaltigkeitsprobleme der Landwirtschaft werden daher durch Digitalisierung nicht ohne weiteres gelöst, sondern bleiben eine fortbestehende Herausforderung: Verdeutlicht man sich z.B. die Problematik der digitalen Abbildung der landwirtschaftlichen Prozesse. Darin fließt nur ein, was als Indikator gilt und was als Datum erhoben wird. Erfolgreiche digitale Unterstützung von Entscheidung und Praxis erfordert sowohl große Datenmengen als auch große Erfahrung, welche Indikatoren und welche Daten für Kontrolle und Steuerung relevant sind. Dies aber führt potentiell zu neuen Pfadabhängigkeiten. Denn große Datenmengen und Erfahrung sind vorhanden bezüglich solcher Nutzpflanzen wie Soja, Mais, Weizen oder Reis, die viel und auf großen Flächen angebaut werden. Digitalisierung optimiert also primär den Anbau dessen, was ohnehin schon viel angebaut wird. Zudem lohnt die Investition in entsprechende Technologie insbesondere auf großen Flächen, jedoch eher nicht für kleinere Betriebe (vgl. Walter, Finger, Huber und Buchmann 2017; Panell, Gandorfer und Weersink 2019). Beide Aspekte sind unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten lang bekannte Problemlagen. Die in den 1970er Jahren entstandenen Technikfolgenabschätzung erkannte bereits die Anforderung, Rückkopplungsverhältnisse und Pfadabhängigkeiten vor der Einführung einer Technik zu prüfen. Auf Digitalisierung lässt sich das unmittelbar übertragen. 143
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Ebenso lässt sich an die Erkenntnis aus der Risiko- und Transdisziplinaritätsforschung der 1970er Jahre anschließen, in die Entwicklung einer Technologie und in deren Einsatz alternative Zielsetzungen einzubeziehen. Deutlich wird dies etwa am Beispiel der Kartierung. Diese schafft zwar Transparenz, befördert damit aber gleichzeitig die Zugreifbarkeit und Kontrollmöglichkeit von außen. Über die umfassende Kartierung von Bodeneigenschaften wird Boden kommodifizierbar in solchen Bereichen, in denen dieser bislang mit einer traditionalen Lebensweise verbunden war. Wo Boden bereits kommodifiziert ist, erhöht digitale Kartierung Kontrollmöglichkeiten von staatlicher oder interessierter privatwirtschaftlicher Seite (vgl. Walter, Finger, Huber und Buchmann 2017). Insoweit ist eine Digitalisierung der Landwirtschaft, die sich auf Landwirtschaft zu beschränken meint, illusorisch, und sie wird kaum nachhaltig sein. Betrachtet man schließlich den Vorteil des besseren Entscheidungswissens durch Digitalisierung, zeigen sich ebenfalls sogleich die damit verbundenen Risiken. Bereits im Zuge der Maschinisierung und chemischen Intensivierung der Landwirtschaft wandelte sich die bäuerliche Landwirtschaft hin zu einem agrartechnischen Komplex (vgl. Uekötter 2010: S. 354). Landwirte sind abhängig von Maschinen, Bodenanalysen, Düngemitteln und den Akteuren, die dies alles bereitstellen, funktionsfähig halten und fortentwickeln. Mit der Digitalisierung kommt eine weitere Technik hinzu und mit ihr weitere Akteure. Diese bringen ihre Präferenzen, Eigenlogiken und Zielsetzungen mit und wollen im landwirtschaftlichen Bereich Geld verdienen. Das ist nicht notwendig negativ. Aber mit weiterem Expertenwissen verändern sich auch die möglichen Abhängigkeiten sowie das Verhältnis von Kosten und Nutzen (vgl. Walter, Finger, Huber und Buchmann 2017; Panell, Gandorfer und Weersink 2019). Für den Umgang mit dem Digitalisierungsfortschritt im 21. Jahr144
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hundert lässt sich wiederum zurückgreifen auf den Umgang mit den Fortschrittsrisiken des 20. Jahrhunderts. Entscheidend waren und sind die Regulierung neuer Technologien und die Bewahrung der Autonomie der verschiedenen Akteursgruppen. Das gilt erst recht bei einer als nachhaltig angestrebten Entwicklung. Zusammengefasst bietet Digitalisierung in der Landwirtschaft als Fortschritt Möglichkeiten, Probleme der Moderne zu bearbeiten. Zur Nutzung dieses Potentials bleibt erforderlich, die möglichen Risiken in der Implementierung der Technologien zu berücksichtigen, zumal wenn Digitalisierung der Beförderung von Nachhaltigkeit dienen soll. Dabei kann es helfen, sich zu vergegenwärtigen, dass Digitalisierung zwar transformierend wirkt, vor allem aber einen längst erfolgten Strukturwandel, nämlich funktionale Differenzierung und die mit dieser verbundenen autonomen Materialität, fortführt und verstärkt. Bekannte Nachhaltigkeitsprobleme, die Digitalisierung als solche auch in der Landwirtschaft nicht löst, bleiben daher fortbestehende Herausforderungen.
Zum Weiterlesen Henkel, Anna (2017): »Terra. Zur Differenzierung und Verdinglichung von Boden, Raum und Pflanzenernährung in der modernen Gesellschaft«. In: Anna Henkel/Henning Laux/Fabian Anicker (Hg.). Raum und Zeit. Soziologische Beobachtungen zur gesellschaftlichen Raumzeit. 4. Sonderband der Zeitschrift für Theoretische Soziologie. Weinheim: Beltz Juventa, S. 97-125. Uekötter, Frank (2010): Die Wahrheit ist auf dem Feld. Eine Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. WGBU (2019): Unsere gemeinsame digitale Zukunft. Hauptgutachten. Berlin: WGBU.
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Kultursemiotik Entwürfe des Sozialen im Marketing digitaler Technologien Martin Hennig
Einleitung »Was sagt der Hai, wenn er einen Surfer sieht? Lecker, und sogar auf einem Frühstücksbrett.« Dies ist nur eine der vielen leidlich humorvollen Antworten, die interessierte Nutzer:innen erhalten, sobald sie das digitale Assistenzsystem des Herstellers Amazon mit den Worten »Alexa, erzähl mir einen Witz« zu einer sozialen Interaktion auffordern. Auch die Assistenzsysteme der übrigen Hersteller (Apple: Siri, Microsoft: Cortana, Samsung: Bixby, usw.) antworten in der Regel auf unspezifische Ansprachen außerhalb ihres eigentlichen Aufgabenspektrums (Termineinrichtung, Internetsuche, Abspielen von Musik etc.) und setzen dabei durch überraschende und humorvolle Erwiderungen oder mit dem expliziten Verweis auf mögliche Anschlussfragen soziale Impulse. Amazon wirbt in der Marketingkampagne für sein KI-gesteuertes System dezidiert mit der Utopie eines intimen sozialen Kollektivs, bestehend aus Menschen und KI als potentiell gleichberechtigten sozialen Interaktionspartner:innen: »Alexa, it’s really become part of a family« (vgl. BrandonYT 2017: 03:30). Doch ist die damit angedeutete ›Sozialisierung‹ einer technischen Entität als Familienmitglied nur eine Marketingstrategie zur Vertrauensbildung gegenüber der opaken Funktionsweise eines technischen Systems, das sich in die intimsten Privaträume einbetten soll, oder können hieraus auch breitere Schlüsse zu spezifischen Aspekten und Problemstellun-
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Martin Hennig
gen sozio-technischer Umwelten der digitalisierten Gegenwart abgeleitet werden? Ich möchte im Folgenden an dieses einleitende Beispiel anknüpfen und zwei Modelle von Sozialität aus kultursemiotischer Perspektive analysieren, wie sie in Marketingkampagnen für digitale Technologien konstruiert werden. Dieses Marketingfeld greift massiv auf Semantiken des Sozialen zurück, über deren Rekonstruktion übergreifende soziale Rhetoriken im Kontext der Digitalisierung greifbar werden.
Gegenstand: Marketing digitaler Technologien Aus dem Marketing für digitale Produkte, so die zentrale These des Beitrags, lassen sich Denkmuster und Vorstellungen, wie Digitalisierung gedacht wird, ableiten. Diese Modelle haben Relevanz über ihre eigene Verfasstheit hinaus, da über sie Argumentationen geführt und Kommunikationen gesteuert werden und damit sekundär auch die soziale Praxis beeinflusst werden kann (vgl. Hennig und Krah 2020). Im Marketing geht es dabei konkret um die werbewirksame Funktionalisierung von Modellen des gesellschaftlich Wünschenswerten, das mithilfe digitaler Technologien realisiert werden soll. Die Tendenz der Projektion gesellschaftlicher Wertvorstellungen auf Technologien, insbesondere auf digitale Technologien, ist natürlich nicht neu und auch außerhalb des Marketingbereichs einschlägig. Angesichts des streng hierarchisch organisierten Modells traditioneller massenmedialer Kommunikation beinhalteten auch die allgemeinen gesellschaftlichen Debatten zu Digitalisierung und digitaler Vernetzung in den 1980er und frühen 1990er Jahren utopische soziale Versprechen: Gerade diese anfänglichen Digitalisierungsdiskurse ließen sich als Projektionsflächen für das kulturell Wünschenswerte lesen, insofern sie mit dem Internet z.B. einen Abbau von sozialen Hierarchien, mehr Parität und Gleichberechtigung oder eine umfassende demokratische Partizipation der 150
Kultursemiotik
Bürger:innen am politischen Prozess in Zusammenhang brachten (vgl. mit Beispielen Hennig, Kelsch und Sobala 2019a: S. 15-17). Allerdings scheint die Projektion utopischer sozialer Zustände auf digitale Kontexte in den aktuellen Debatten rund um Hatespeech, digitale Shitstorms und soziale Vereinzelung in der medialen Filterblase eher in den Hintergrund getreten zu sein (vgl. Hennig, Kelsch und Sobala 2019b). In diesem Zusammenhang ist der Bereich des Marketings als ein Refugium utopischer sozialer Entwürfe im Kontext der Digitalisierung zu bewerten. Im Rahmen von Werbeanalysen werden gemeinhin zwei zentrale Wertebenen von Produkten unterschieden: Erstens der ›Gebrauchswert‹, der sich durch die Funktionalität eines Produktes bestimmt, und zweitens der ›ästhetische Mehrwert‹ oder ›Fiktionswert‹, der über die Inszenierung eines Produktes generiert wird (vgl. Ullrich 2013). Produkte stehen auf letzterer Ebene des Fiktionswerts zeichenhaft für übergeordnete gesellschaftliche Werte. Mit Blick auf den Fiktionswert lässt sich vermuten, dass die Anbieter digitaler Anwendungen und Technologien vermeintlich konsensfähige und gesellschaftlich nach wie vor als wünschenswert unterstellte gesellschaftliche und soziale Effekte der Digitalisierung in den Vordergrund stellen und damit abstrakte Digitalisierungsthemen über spezifische Anwendungsfälle greifbar machen. Dabei werden in der Regel auch konkrete soziale Nutzungskonstellationen entworfen, sodass die Werbekampagnen auf der Ebene der vermittelten Fiktionswerte Rückschlüsse auf soziale Rhetoriken im Kontext digitaler Technologien bzw. über die dazugehörigen Denkmodelle erlauben. Deren Analyse erfolgt hier mithilfe eines kultursemiotischen Zugangs.
Theoretische Einbettung: Kultursemiotik Medien- und kultursemiotische Zugänge fokussieren Strukturen konkreter Medienprodukte, um Fragen der medienspezifischen Formatierung, Bedeutungsgenerierung und des kultu151
Martin Hennig
rellen Gebrauchs von medialen Erzeugnissen zu behandeln (vgl. zur Einführung Krah und Titzmann 2017). Mediale Artefakte und Prozesse werden dabei als kulturkonstitutiv betrachtet; Medien fungieren demnach als ›Archiv‹ bzw. ›Speicher‹ für das, was in einer Kultur gedacht, gewusst, verhandelt und problematisiert wird. Anhand spezifischer historischer Konstellationen kann vor diesem Hintergrund reflektiert werden, wie Medien Kultur als solche und unterschiedliche Modelle des Menschseins, von Welt und Wirklichkeit oder auch Vorstellungen gesellschaftlich erwünschter oder dysfunktionaler Sozialität verhandelbar machen. Im Folgenden werden entsprechende Modelle des Marketings in ihrem ideologischen Gehalt analysiert, wobei Ideologie nicht als konkret fassbare Geisteshaltung zu verstehen ist (im Sinne von politischen Links-Rechts-Dichotomien etc.), sondern als kultureller, regulativer Prozess, der Konsens schafft und die Bandbreite denk- und lebbarer Wertvorstellungen eingrenzt. Dabei gehe ich davon aus, dass im Marketing genau solche Modelle von Sozialität entwickelt werden, die dazu geeignet sind, den Dispositivcharakter (d.h. technologische, institutionelle, soziale Vorstrukturierungen des Mediengebrauchs; vgl. zum Dispositivbegriff grundsätzlich Foucault 1978) der beworbenen technischen Anwendungen zu maskieren. Zur Beschreibung der dazu bemühten und vom gesellschaftlichen Alltag im positiven Sinne abweichenden sozialen Ordnungen greife ich auf das Konzept der Heterotopie nach Foucault ([1967] 2006) zurück.
Fall 1: Soziale Netzwerke Soziale Utopien finden sich dominant im Marketing sozialer Netzwerke. So stellt ein Facebook-Spot aus dem Jahr 2019 eine Welt von Hunden und ihren Besitzer:innen dar, die im Rahmen einer Facebook-Gruppe miteinander kommunizieren (Video abrufbar unter Nick Siro 2019). Allerdings sind Menschen im ersten Teil des Spots gar nicht oder nur angeschnitten über ihre Handys 152
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im Bild. Gezeigt werden dagegen Bilder wartender Hunde, über die Handynachrichten der Hundebesitzer:innen als zweite Bildebene gelegt sind, die sich in ihrem Alltag für ein späteres gemeinsames Treffen verabreden. Dieses Treffen bildet das Finale des Spots und zeigt Menschen und Hunde im ausgelassenen Spiel in der Natur und im lebhaften Austausch miteinander. Konstruiert werden im Handlungsverlauf folglich die zwei abstrakten und voneinander getrennten Räume ›Arbeit/Alltag‹ und ›Freizeit‹, wobei lediglich der kommunikative Freizeitraum als erstrebenswert gesetzt ist, wohingegen es den Raum des Alltags zu überwinden gilt – die Bilder der unruhig wartenden Hunde drücken dabei die ›hinter‹ den sozialen und gesellschaftlichen Konventionen nichtsichtbaren, ›wirklichen‹ Intentionen ihrer Besitzer:innen aus (so heißt es in einer gezeigten Handynachricht: »Bin dabei, wenn der Quatsch hier vorbei ist«). Entsprechend sind die Menschen ›hinter‹ den Mobiltelefonen auch erst beim späteren Gruppentreffen vollständig im Bild sichtbar, was einerseits die Natürlichkeit und Ganzheitlichkeit der Situation konnotiert, die andererseits jedoch nur im sozialen Kollektiv als möglich erscheint. Der Spot greift folglich auf tradierte, historisch auch technikkritisch funktionalisierte Oppositionen der Kulturgeschichte wie ›Kultur vs. Natur‹, ›Arbeit vs. Freizeit‹ und ›Entfremdung vs. Natürlichkeit‹ (vgl. dazu Henning 2015) zurück. Diese Oppositionen werden im Werbekontext allerdings an eine weitere, techno-soziale Opposition geknüpft: Das ›vereinsamte Individuum im Alltag vs. die digital erzeugte Kollektivität‹ im Rahmen der Facebook-Gruppe der Hundebesitzer:innen. Letzterer wird beim abschließenden Treffen ›im Grünen‹ ein eigener topographischer Raum zugewiesen. In diesem Raum ist die Anwendung Facebook nur noch zeichenhaft präsent, da es als digitales Tool auch nicht in den positiv konnotierten Naturkontext passt. Stattdessen hat sich der für das Unternehmen zentrale Entwurf von Sozialität in das hier repräsentierte Menschenbild einge153
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schrieben: In der Darstellung findet der Mensch zu sich selbst ausschließlich im Kollektiv, wobei diese anthropologische Annahme funktional für das Finanzierungsmodell des Konzerns ist, das auf mediatisierter Sozialität basiert. Im Spot wird diese Logik jedoch dezidiert nicht als eine technische oder institutionelle ausgegeben, sondern hat sich in der Darstellung von wünschenswerter sozialer Vergemeinschaftung als Ideologie verunsichtbart. Denn im Rahmen der Werbestrategie wird nicht primär das Produkt selbst, sondern ein durch dieses repräsentierter sozialer Raum mit eigenen Regeln beworben. Der im Werbeclip durch die Facebook-Anwendung herbeigeführte Raum fungiert damit als soziale Heterotopie. Michel Foucaults Modell der Heterotopie geht davon aus, dass jede Kultur ›Gegenorte‹ ausformt, die sich auf der Basis der in ihnen geltenden Regeln und Ordnungen von der übrigen Gesellschaft unterscheiden. Dementsprechend gelten Heterotopien als »tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, […] die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden« (Foucault 2006: S. 320). Als Beispiele nennt Foucault Gefängnisse, Krankenhäuser, Altenheime, Friedhöfe oder Bordelle, die sämtlich einen Raum mit eigenen Regeln eröffnen. Dabei wirken Heterotopien gesellschaftlich kompensatorisch, etwa weil dort ein gesteigertes Maß an Ordnung (z.B. im Gefängnis) gegenüber sonstigen gesellschaftlichen Räumen herrscht oder moralische Grenzüberschreitungen möglich sind (z.B. in Bordellen). In allen Fällen stabilisieren Heterotopien die dominanten gesellschaftlichen Ordnungen, indem Abweichungen in ihnen ermöglicht werden und gleichzeitig auf einen spezifischen Raum begrenzt bleiben. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der im Facebook-Spot ›digital konstituierte Naturraum‹ als Heterotopie beschreiben, die nach Foucault per se unvereinbare Räume zusammenführt und auch in diesem Fall gesellschaftlich stabilisierend wirken soll, in154
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dem sie die Einschränkungen und Erfordernisse des (beruflichen) Alltags in sozialer Hinsicht kompensiert. Dies stellt für Facebook eine typische Werbestrategie dar. So beginnt ein weiterer Clip des Konzerns aus dem Jahr 2012 mit folgendem Monolog: »Stühle. Sie bieten Menschen die Möglichkeit, sich zu setzen und ein wenig auszuruhen. Jeder kann auf einem Stuhl sitzen. Und ist der Stuhl groß genug, können sie sich zusammensetzen. […] Stühle sind für Menschen gemacht. Und darum sind Stühle wie Facebook.« (SocialMediaZentrale 2012) Untermalt wird dies von Bildern, die Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen beim Ausruhen, Spiel und Tanz auf Stühlen zeigen. Doch der Spot ist hier noch nicht zu Ende: Im zweiten Teil wird eine weiterführende Paradigmatisierung vorgenommen, d.h. textuell wird eine kulturelle Ordnung durch die Darstellung ihrer Bestandteile konstruiert: »Türklingeln. Flugzeuge. Brücken. Dies sind die Dinge, die Menschen benutzen, um zusammenzukommen. Um sich über Ideen und Musik auszutauschen. Und über alles andere, was Menschen gerne teilen. Tanzflächen. Basketball. Eine große Nation. Große Nationen werden von Menschen aufgebaut, damit es einen Ort gibt, an dem sie sich zuhause fühlen. […]« (Ebd.) Mit der Metapher des Stuhls (die gleichzeitig metonymisch darauf verweist, dass man sich bei der Benutzung von Facebook in der Regel auf einem solchen befindet) wird das Bild einer Parallelwelt konstruiert, die nicht den Erfordernissen von Arbeit und Alltag zu gehorchen hat (»und ein wenig auszuruhen«). Entsprechend sind mit Muße, Spiel und Tanz tradierte kulturelle Kontexte der Zweckfreiheit aufgerufen (vgl. etwa Johan Huizingas ([1938] 2013) in den Kulturwissenschaften einschlägige Definition des 155
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Spiels). Mit den Analogien zu Basketball und Tanzflächen werden dezidiert ›eigene Räume‹ als Vergleich herangezogen, die nach jeweils spezifischen Regeln operieren und keinen Alltagsbestimmungen unterliegen. Die Werbung basiert folglich auf der Vorstellung des Internets als autonomen Raum, in dem Menschen kulturübergreifend (»Flugzeuge, Brücken«) zusammenkommen und der über die genannten Freizeitkontexte als Interessengemeinschaft bestimmt ist. Der heterotope Raum wird dabei mit einer offensichtlich sehr positiven sozialen Wertedimension verknüpft, mit der Facebook seine Nutzer:innen zu einem Verhalten animiert – expliziert im doppeldeutigen Aufruf zum ›Teilen‹, was einmal auf die soziale Wertedimension und gleichzeitig auf eine Datenpraktik verweist –, das grundlegend für die erwünschten Datenströme im Backend ist. Denn um die ›Facebook-Nation‹ zu einem Zuhause zu machen, gilt es, diese mit den eigenen Interessen zu ›füllen‹. In den gezeigten sozialen Mustern wird somit letztlich Daten- bzw. Überwachungskapitalismus (vgl. Zuboff 2018) naturalisiert, dessen spezifische Ordnung sich mit der Rhetorik der Heterotopie als gesellschaftlicher Wert darstellt.
Fall 2: Digitale Assistenzsysteme Die Einbettung des Dispositivcharakters digitaler Medien in soziale Semantiken ist repräsentativ für eine übergreifende Tendenz in der Bewerbung digitaler Technologien. Hierunter fällt auch das Marketing der bereits angesprochenen ›smarten‹ Assistenzsysteme. Sämtliche Anbieter im Feld bewerben ihre Produkte über die Konstruktion sozialer Räume, denen über die Integration des jeweiligen Assistenzsystems neue Qualitäten zugeschrieben werden. Bereits die Namensgebung und stimmlichen Eigenschaften der Systeme inszenieren diese als soziales Gegenüber, denn die über ihre Namen individualisierten Computerstimmen antworten in ganzen Sätzen und mit natürlicher Sprachmelodie. Und 156
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auch die zugehörigen Marketingkampagnen positionieren Alexa und Co. gezielt als soziale Akteure in sozialen Settings. Das Marketing richtet sich anbieterübergreifend an die Gruppe der sog. ›Performer‹, so die Bezeichnung für das Sinus-Milieu der »effizienzorientierte[n] und fortschrittsoptimistische[n] Leistungselite« mit hoher »Technik- und Digital-Affinität« (Sinus o.J.). Die auf diese Zielgruppe bezogenen Optimierungsnarrative werden im Marketing je nach Anbieter in unterschiedlichen Bereichen realisiert (vgl. hierzu ausführlich Hennig und Hauptmann 2019): Während etwa Apple und Microsoft von beruflichen und privaten Kontexten einer verbesserten Selbstführung durch die Systeme erzählen, fokussiert Amazon mit Alexa auf die ›Optimierung‹ der Familie und sozialer Sphären und ruft Werte wie Fürsorge und Zusammenhalt auf – Alexa erzählt Witze, hilft bei den Hausaufgaben und spielt die passende Musik für ein romantisches Treffen der Eltern. Auch die in diesen Spots konstruierten Welten können folglich mit Foucault als kompensierende Heterotopien gelesen werden. Die spezifische Ordnung der im Marketing dargestellten sozialen Sphären betrifft allerdings nicht nur die erleichterte Organisation und Harmonisierung von Arbeit und Freizeit. Die Werbung neigt dazu, die den Assistenzsystemen auf technisch-apparativer Ebene eingeschriebenen Gender-Konnotationen noch zu verstärken. Die Systeme werden mit Namen und einer Stimme versehen, welche (in der Voreinstellung) über ihre Tonhöhe in der Regel weiblich konnotiert ist. Aufgrund dieser stimmlichen Merkmale transformiert etwa der Name Alexa – eigentlich eine Anspielung auf die Bibliothek von Alexandria – von einer Bezeichnung für ein genderneutrales Wissensarchiv zum Namen für eine konkrete weibliche ›Person‹, die im Rahmen der Anwendung simuliert ist. Aufgrund der Produktkategorie ist in der Ansprache dieser ›Person‹ durchgängig die Konnotation weiblicher Dienstbarkeit aufgerufen, wobei die157
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se Interpretation im Marketing mit zusätzlicher Evidenz versehen wird: Das Assistenzsystem wird dort häufig als weibliche Assistentin bzw. Sekretärin inszeniert und die dargestellten Anwendungskontexte sind durch eine diesem Bild äquivalente Geschlechterrollentrennung gekennzeichnet. So konnotieren die in der Produktkategorie angelegten Selbstoptimierungsfiktionen in den Werbespots der Hersteller häufig Unterschiedliches, je nach Geschlecht der dargestellten Charaktere: Während männliche Figuren zum Beispiel bei Apple vornehmlich ihren Arbeitsalltag bzw. ihre Bewegung durch den öffentlichen Raum mithilfe ihrer digitalen ›Assistentin‹ strukturieren, optimieren weibliche Figuren im Schwerpunkt häusliche bzw. private Kontexte. So sieht man im Einführungsspot zu Apples Siri (vgl. TomsHardwareLab 2011) eingangs zwei männliche Personen im öffentlichen Raum, die Termine einrichten oder sich den Verkehr anzeigen lassen, wohingegen die drei folgenden weiblichen Figuren (1) mithilfe von Siris Wetteransage einen Wochenendtrip planen, (2) einen Timer zum Backen erstellen und (3) aus einem häuslichen Arbeitskontext heraus Textnachrichten für ein Treffen mit einer Freundin formulieren. Richtet sich das Marketing ausschließlich an den privaten Bereich, werden gleichfalls eindeutige Kompetenzbereiche skizziert: Während die Ehefrau im zitierten Alexa-Spot (vgl. BrandonYT 2017) eine Einkaufsliste mithilfe ihrer digitalen Assistenz erstellt, unterstützt der Vater die Kinder bei den wissensbasierten Hausaufgaben. Wiederkehrend ist auch die Bewerbung von Assistenzsystemen als ›weiblicher‹ Mutterersatz anzutreffen: Hier wird dann der offensichtlich überforderte Vater bei der scheinbar erstmaligen alleinigen Betreuung seines Kindes von Alexa an alle wichtigen Aufgaben erinnert (vgl. Joint London 2019); Samsung India wirbt mit der emotionalen Geschichte einer individuellen Personalisierung seines Assistenzsystems,
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das einer sprechunfähigen Mutter weiterhin eine Stimme verleiht (vgl. ABM Samsung 2018). Die dargestellten Welten in den Werbekampagnen sind folglich äquivalent zu den apparativen Grundlagen der beworbenen Systeme konstruiert. Genau wie in Fall 1 haben sich die im technischen Dispositiv und den zugehörigen Geschäftsmodellen bereits angelegten Strukturen (oben: Datenkapitalismus, hier: Machtpositionen im Mensch-Technik-Verhältnis) in die im Marketing gezeigten sozialen Kollektive eingeschrieben und damit als technisch transportierte Ideologie verunsichtbart. Aus der sozio-technischen Ordnung wird in den Spots eine Geschlechterordnung, welche die Systeme (als ›Assistentinnen‹) selbst betrifft und gleichzeitig den mit den Systemen anvisierten Fiktionswert eines Macht- und Kompetenzzuwachses geschlechtsspezifisch und im Einklang mit kulturgeschichtlich traditionellen Zuschreibungen ausdifferenziert (vgl. zu diesen auf der Grenzziehung zwischen öffentlich und privat basierenden Geschlechterstereotypen klassisch Pateman 1989). Dabei sind die besprochenen Marketing-Beispiele nicht nur als simple Kaufanreize zu verstehen, sondern werden gesellschaftlich als Interpretationsanleitungen für die durch die beworbenen Technologien erzeugten neuen, pseudo-sozialen Mensch-Maschine-Verhältnisse wirksam, für die sich noch keine konventionellen sozialen Skripte etablieren konnten. Die Spots entwerfen Modelle von hybriden Kollektiven aus Menschen und KI, für welche die Assistenzsysteme erste Anwendungsfälle aufzeigen. Um das Thema Genderrollen von technischen Assistenzsystemen entbrannte deshalb bereits eine breite gesellschaftliche Debatte (vgl. exemplarisch Kühl 2018), die bis heute die weiteren Diskurse zu den beworbenen Systemen und durchaus auch zur Technologie-Entwicklung im Allgemeinen prägt. So illustrierte die UNESCO im Jahr 2019 einen kritischen Bericht gegenüber gender gaps im technologischen Sektor (fehlende Anstellungen 159
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von Frauen, geschlechtsbedingte Unterschiede in den Bildungskarrieren etc.) und den verknüpften »gendered biases coded into technology products« (UNESCO 2019: S. 4) mit einschlägigen Beispielen aus dem Kontext digitaler Sprachassistenzen.
Fazit In den beiden untersuchten Marketingfeldern wird Technik in einen kulturellen Rahmen versetzt, der soziale Muster normiert und normalisiert (vgl. zu Normalismus und Normalisierung grundlegend Link 1996). Konstruiert werden in den beiden untersuchten Produktsegmenten soziale Realitäten, und zwar im Sinne der Heterotopie: Als positiver Fiktionswert sind jeweils Gegen-Orte zur Realität dargestellt. Um diese in ihrem Abweichungscharakter unmittelbar greifbar zu machen, wird mit tradierten kulturellen Dichotomien operiert: Während Facebook konventionelle kulturkritische Oppositionen funktionalisiert, wird im Marketing der besprochenen Assistenzsysteme auf rückwärtsgewandte Vorstellungen zurückgegriffen, welche das Über-/Unterordnungsverhältnis in der Interaktion zwischen Mensch und Technik, das in der Produktsparte per se angelegt ist, auf eine binäre geschlechtliche Kodierung zurückführen. Das Marketing von scheinbaren technischen Innovationen fungiert damit als Instanz der Normalisierung von traditionellen Denkmustern – und zwar weniger über technische, sondern eben vor allem über die sozialen Systeme, mit denen die Technik jeweils beworben ist. Und dies verweist auf einen größeren sozio-technischen Zusammenhang: Technik ist niemals neutral, genauso wenig wie die Rede über Technik; Technikanwendung und Technikdiskurse operieren innerhalb etablierter kultureller Muster. So haben die beiden hier analysierten Marketingbeispiele gezeigt, wie sich technisch-apparative Logiken auf der einen Seite und kulturelle Vorstellungen von globaler Vernet-
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zung (Facebook) oder des optimierten Selbst (digitale Assistenzen) auf der anderen Seite wechselseitig bedingen. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass auch die hier vorgetragene Genderkritik als Reaktion auf das zweite Produktsegment der Assistenzsysteme auf der Ebene der zentralen Strategie der Konzerne verbleibt, mithilfe einer ›Sozialisierung‹ der technischen Systeme den dahinterstehenden Datenkapitalismus zu naturalisieren, indem die Dateneinspeisung als soziale Interaktion semantisiert wird. Eine allgemeine Kritik an den Datenpraktiken von Gesellschaften der Gegenwart hätte dagegen eine Ebene tiefer anzusetzen und sich ganz grundsätzlich zu fragen, inwiefern Gesellschaften und Kulturen die Vorstellung von technischen Kommunikationssystemen als Ermöglichungsbedingung – und im Extremfall zentralem Destinationspunkt – von Sozialität mittragen möchten.
Zum Weiterlesen Hennig, Martin (2021): »KI-Marketing und Gesellschaft«. In: Nicole Brandstetter/Daniel Ittstein/Ralph-Miklas Dobler (Hg.). KI Interdisziplinär. München: UVK (im Erscheinen). Krah, Hans/Titzmann, Michael (2017): Medien und Kommunikation. Eine Einführung aus semiotischer Perspektive. Passau: Schuster. Neder, Pablo (2017): Markennarrative in der Unternehmenskommunikation. Wiesbaden: Springer Gabler.
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Martin Hennig BrandonYT (2017): »Introducing Amazon Echo«. Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=zmhcPKKt7gw&t=1s (zuletzt abgerufen am 01.05.2021). Foucault, Michel ([1967] 2006): »Von anderen Räumen«. In: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.). Raumtheorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 317-327. Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve. Hennig, Martin/Hauptmann, Kilian (2019): »Alexa, optimier mich! KI-Fiktionen digitaler Assistenzsysteme in der Werbung«. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 21, S. 86-94. Hennig, Martin/Kelsch, Jakob/Sobala, Felix (2019a): »›Smarte Diktatur‹ oder ›egalitäre Netzgemeinschaft‹? Diskurse der Digitalisierung«. In: Christian Aldenhoff/Lukas Edeler/Martin Hennig/ Jakob Kelsch/Lea Raabe/Felix Sobala (Hg.). Digitalität und Privatheit. Bielefeld: transcript, S. 11-26. Hennig, Martin/Kelsch, Jakob/Sobala, Felix (2019b): »Zwischen Öffentlichkeit, Privatheit und Privatisierung – soziale Kollektive im Netz. Einleitung«. In: Christian Aldenhoff/Lukas Edeler/ Martin Hennig/Jakob Kelsch/Lea Raabe/Felix Sobala (Hg.). Digitalität und Privatheit. Bielefeld: transcript, S. 131-138. Hennig, Martin/Krah, Hans (2020): »Typologie, Kategorien, Entwicklung von Überwachungsnarrativen: zur Einführung«. In: Kilian Hauptmann/Martin Hennig/Hans Krah (Hg). Narrative der Überwachung. Berlin: Peter Lang, S. 11-48. Henning, Christoph (2015): Theorien der Entfremdung zur Einführung. Hamburg: Junius. Huizinga, Johan ([1938] 2013): Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. 23. Aufl. Reinbek: Rowohlt. Joint London (2019): »Amazon Echo – Remember Baby«. Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=k6ulyhvPHUQ (zuletzt abgerufen am 01.05.2021).
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Kultursemiotik Krah, Hans/Titzmann, Michael (2017): Medien und Kommunikation. Eine Einführung aus semiotischer Perspektive. Passau: Schuster. Kühl, Eike (2018): »Sprachassistenten: Alexa ist nicht mehr deine Schlampe«. In: Zeit.de (19.01.2018). Verfügbar unter: https:// www.zeit.de/digital/internet/2018-01/sprachassistenten-alexasexismus-feminismus-sprachsteuerung-ki (zuletzt abgerufen am 01.05.2021). Link, Jürgen (1996): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Wiesbaden: Springer. Nick Siro (2019): »Facebook Werbung«. Verfügbar unter: https:// www.youtube.com/watch?v=Y4n6AlsCHkQ (zuletzt abgerufen am 01.05.2021). Pateman, Carole (1989): »Feminist Critiques of the Public/Private Dichotomy«: In: Dies. (Hg.). The Disorder of Women: Democracy, Feminism, and Political Theory. Stanford: Polity Press, S. 118-140. SINUS Institut (o.J.): »Sinus-Milieus Deutschland«. Verfügbar unter: https://www.sinus-institut.de/sinus-milieus/sinus-mili eus-deutschland (zuletzt abgerufen am 01.05.2021). SocialMediaZentrale (2012): »facebook – Was uns verbindet – Werbespot deutsch HD«. Verfügbar unter: https://www.youtube. com/watch?v=nyh1-Z2cjQc (zuletzt abgerufen am 01.05.2021). TomsHardwareLab (2011): »Apple – Introducing Siri«. Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=sw1iwC7Zh24 (zuletzt abgerufen am 01.05.2021). Ullrich, Wolfgang (2013): Alles nur Konsum: Kritik der warenästhetischen Erziehung. Berlin: Klaus Wagenbach. UNESCO (2019): »I’d Blush If I Could: Closing Gender Divides in Digital Skills Through Education«. Verfügbar unter: https://un esdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000367416.page=1 (zuletzt abgerufen am 01.05.2021). Zuboff, Shoshana (2018): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt a.M.: Campus.
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Wissenschaftstheorie Verdatung des Nicht-Verdatbaren und die Ebenen der Digitalisierung in der Geschichtswissenschaft Malte Rehbein und Simon Donig
Einführung: Geschichtswissenschaft und Digitalität Die Geschichtswissenschaft bedient sich Erkenntnispraktiken, die lange über das 19. Jahrhundert zurückreichen – die Zeit, in der sie sich als eigenständige Forschungsrichtung im Kanon der modernen Wissenschaften etabliert hat. Zu diesen Praktiken gehören einerseits der hermeneutisch-verstehende Zugang zu vergangenen Lebenswelten, andererseits aber immer auch ein gewisses Maß an erklärender Abstraktion. Die Digitalisierung – die wir hier sowohl als Digitalisierung der Forschungspraxis als auch als Digitalisierung der Objekte (Hinterlassenschaften) verstehen, die uns zu den Gegenständen unserer Wissenschaft führen – fordert diese beiden Erkenntnisweisen grundlegend heraus. Wie somit der Begriff der ›Digitalen Geschichtswissenschaft‹ mit Leben gefüllt werden soll, ist ein fortwährender Austauschprozess, der noch weit von einer paradigmatischen Zuspitzung – im Sinne Imre Lakatos’ – entfernt ist. Mit diesem Beitrag möchten wir gleichermaßen das Verhältnis von Digitalität und Geschichtswissenschaft skizzieren und zugleich ein Verständnis von Geschichtswissenschaft entwickeln, in der die Digitalisierung in verschiedenen Ausprägungen einen zentralen Platz findet, und in der datenwissenschaftlichen Ansätzen eine komplementäre Rolle zu den traditionellen Ansätzen zukommen kann. Dieses Verständnis speist sich in 165
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besonderem Maß aus der grundlegenden Bedeutung, die die Hinterlassenschaften der Vergangenheit – von Historikerinnen und Historikern als Quellen methodisch genutzt – für die Geschichtswissenschaft einnehmen. Dabei gehen wir der Frage nach, wie diese im digitalen Raum zum Erkenntnisgegenstand werden – in einem Prozess der ›Verdatung‹ nämlich, dem gleichermaßen digitalisierte und digital-geborene Zeugnisse unterworfen werden, um für eine computergestützte Forschung auswertbar zu werden.
Wissenschaftstheoretische Grundlagen: Modell und Geschichtswissenschaft Unter »Geschichte«, so Friedrich Jaeger, verstehe man »diejenigen Aspekte der Vergangenheit, die von Menschen erinnert und gedeutet werden, um sich über den Charakter des zeitlichen Wandels und dessen Auswirkungen auf die eigene Gegenwart und Zukunft zu orientieren« (Jaeger 2009: S. 109). Geschichte ist hiernach ein fortwährender Prozess der narrativen Neureflektion, der Menschen und ihre Gemeinschaften in der Zeit verortet und der dabei Formen von Orientierungswissen (vgl. Wehler 1989) liefern kann, mit denen diese Sinn aus ihrer Umwelt und den Bedingungen ihrer eigenen zeitlich gebundenen Existenz herstellen. Dies führt uns zu drei Prämissen, die zwar eigentlich Hypothesen sind, die wir hier aber axiomatisch verwenden wollen, um die dann anschließenden Überlegungen zur Digitalisierung darauf aufzubauen: Sie umfassen erstens die Annahme, dass Geschichte in all ihren Erscheinungsformen nur eine Darstellung, ein Abbild oder Modell der vergangenen Realität sein kann, von denen zudem mehrere gleichberechtigt nebeneinander existieren können. Diese Modelle wären wissenschafts- bzw. erkenntnistheoretisch Annäherungen an eine objektiv durch die Quellen erkennbare 166
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Realität. Zweitens werden deshalb Überlegungen der Modelltheorie auf die Art, wie historisches Wissen hergestellt wird, anwendbar. Drittens kann Geschichte im besten Sinne des Wortes als eine empirische Wissenschaft angesehen werden. Was bedeuten diese Prämissen nun im Einzelnen? Da uns die Vergangenheit zunächst in der Form von (verblassenden) Spuren entgegentritt, die wir als Evidenz begreifen (vgl. Collingwood 1946: S. 246) und auf deren Basis wir Darstellungen dieser Vergangenheit schaffen, die wir Geschichte nennen, ist Geschichte nicht mit dieser Vergangenheit selbst gleichzusetzen, so wie auch die Soziologie nur eine modellhafte Beschreibung von Aspekten der gegenwärtigen Gesellschaft liefert und nicht die Gegenwart selbst. Genauso wenig wie eine Gleichsetzung ist Geschichte aber eine Rekonstruktion dieser Vergangenheit. Die Vergangenheit ist nämlich vergangen, was vor allem für die beteiligten Akteure und ihre Umfelder gilt, und sie kann damit nicht einfach re-konstruiert, wiederhergestellt werden. Geschichtswissenschaftliche Methoden ermöglichen vielmehr die Konstruktion eines von mehreren Modellen der Vergangenheit. Die Geschichtswissenschaft ist somit eine wissenschaftliche Disziplin, deren Inhalt das Erstellen eines solchen Abbilds der Vergangenheit durch die Anwendung einer wissenschaftlichen Methodik ist. Auf ein solches, methodisch kontrolliert geschaffenes Abbild lassen sich die Überlegungen zur allgemeinen Modelltheorie anwenden, wie sie u.a. Herbert Stachowiak (1973) vorgeschlagen hat. Demnach wirken Modelle immer in dem Sinn reduzierend, dass sie überhaupt nur eine begrenzte Auswahl von Merkmalen der Wirklichkeit abbilden. Sie sind des Weiteren subjektiv, in dem Sinn, dass sie ihr Vorbild interpretieren. Aus diesem Grund sind sie auch nicht einfach falsch oder richtig in einem abstrakten, ontologischen Sinn. Vielmehr sind sie zweckmäßig oder passend, also einem Ziel angemessen, das in der Wissen167
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schaft in der Regel der Erkenntnis dient. Das klassische und anschaulichste Beispiel eines Modells aus der allgemeinen Modelltheorie ist die Karte. Je nach Anwendungszweck ist in ihr die Landschaft in bestimmter Weise modelliert. So unterscheiden sich eine Wanderkarte und eine Autokarte derselben Gegend grundlegend in Maßstab und in Abgrenzung der abgebildeten Entitäten und ihrer Attribute. In der Wissenschaft ist das Modell zugleich immer auch von den Dispositionen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler abhängig, die dem Erkenntnisziel noch vorausgehen. In der Geschichtswissenschaft modellieren wir gleichsam aus der Gegenwart und auf Grundlage unseres modernen Vorverständnisses in die Vergangenheit hinein (und eben nicht aus der Vergangenheit heraus). Daher können zunächst einmal unschwer verschiedene ›Geschichten‹ der einen Vergangenheit nebeneinander existieren. Dass diese ›Geschichten‹ aber nicht beliebig sein können, ist in der Zweckgebundendheit der Modelltheorie verankert: Der Zweck der wissenschaftlichen Erkenntnis, der Suche nach möglichst wahren und zugleich gehaltvollen Aussagen, erfordert die Anwendung wissenschaftlicher Methodik in der Modellbildung. Sowohl die Auswahl und Abbildungsart der zu modellierenden Merkmale als auch die Art und Weise ihrer Kontextualisierung und Interpretation müssen methodisch hergeleitet und begründet werden. Im Allgemeinen stellt die Praxis der Geschichtswissenschaft mit der historischen Methodik durch Regeln wie jene der intersubjektiven Überprüfbarkeit sicher, dass Aussagen über die Vergangenheit nach »rationaler Prüfung akzeptiert, verworfen oder modifiziert« werden können (Faber 1975: S. 9). Der Umstand, dass es ein Vorgehen lege artis gibt, das den allgemeinen erkenntnistheoretischen Annahmen entspricht, die die Grundlage für alle empirischen Wissenschaften bilden (vgl. Schurz 2013: S. 26), spiegelt sich somit auch im Prozess der Modellierung im Bereich der Geschichtswissenschaft selbst wider. 168
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Denn anders als etwa Wilhelm Dilthey, für den es eine grundsätzliche Andersartigkeit des geisteswissenschaftlichen Verstehens gegenüber den naturwissenschaftlichen Erklärungen auf Grundlage allgemeiner Gesetzeshypothesen gab (vgl. Dilthey 1883; für eine Diskussion insbesondere im Zusammenhang mit der Grundlegung der empirischen Methode in der Soziologie vgl. Meinefeld 1995: S. 31f.), betrachten wir Geschichte ähnlich wie R.G. Collingwood als eine empirische Wissenschaft (vgl. Collingwood 1946: S. 251; vgl. auch Schurz 2013: S. 19), so dass sich u.a. auch kein grundsätzlicher erkenntnistheoretischer Dualismus zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften ableiten lässt. Anders als andere Disziplinen – etwa auch die Soziologie – kann die Geschichtswissenschaft aber in den wenigsten Fällen direkt mit ihren Gegenständen interagieren, auch wenn sich Fragestellungen, z.B. bei der Frage nach sozialer Wirklichkeit, durchaus bis auf die Zeitdimension ähneln. Ausnahmen bilden zwar jene Bereiche der jüngeren Zeitgeschichte, in denen es aus genau diesem Grund auch Überlappungen mit der Soziologie gibt, etwa dem Bereich der Interviewführung in der Oral History; aber sie bleiben eben Ausnahmen. Zumeist ist die Geschichtsforschung in ihrer Empirie deshalb auf die indirekte Beobachtung angewiesen, indem sie die verschiedenartigsten Zeugnisse der Vergangenheit heranzieht. Für die Unterteilung solcher Zeugnisse haben bereits im 19. Jahrhundert Johann Gustav Droysen (vgl. Droysen 1868: S. 1325) und nach ihm Ernst Bernheim (1907) Grundlagen für eine Klassifikation von Quellen, so etwa die Unterscheidung von Überrest- und Traditionsquellen, eingeführt, die heute im Allgemeinen als ein mehrdimensionales Spektrum verstanden wird, das den Grad der Intentionalität und Rezeptionsbezogenheit einer Quelle beschreibt. Von einer idealtypischen Überrestquelle (etwa einem Steuerkataster, wenn dieses ausschließlich in 169
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seiner Funktion als administratives Messinstrument betrachtet wird) bis zu einer idealtypischen Traditionsquelle, die sich auf die Rezipierenden richtet (wie etwa eine Autobiografie), verändert sich der Charakter als Tradition und Überrest je nach Art der Fragestellung und Beschaffenheit der Quelle. Interpretationsbedürftigkeit ist somit ein integraler Bestandteil des Quellencharakters und die Aussagefähigkeit einer Quelle wie eines abgeleiteten Modells verändert sich mit der Fragestellung. Geschichte ist somit immer ein Abbild der Vergangenheit, das über die Vermittlung durch Quellen, die selbst wiederum nur Abbilder der Vergangenheit aber eben auch nicht die Vergangenheit selbst sind, konstruiert wird. Dabei entscheidet über die Konstruktion eines jeweiligen Geschichtsbilds nicht nur, was von den vorhandenen Quellen vermittelt wird, sondern auch, was nicht vermittelt werden kann, weil zufällige oder auch systematische Lücken in der Überlieferung bestehen können.
Ebenen der Digitalisierung Wenn von der Herausforderung und Chance Digitalisierung für unser Fach die Rede ist (vgl. einführend u.a. Haber 2011; Rehbein 2018; Salmi 2020; Fickers 2020), dann müssen wir diese vorgelagerten wissenschaftstheoretischen Betrachtungen zumindest dahingehend differenzieren, dass Digitalisierung auf sehr verschiedenen Ebenen in einem Forschungsprozess greift und dabei auch unterschiedliche Gestalt annehmen kann. Wir unterscheiden im Folgenden vier aufeinander aufbauende Ebenen der Digitalisierung und können jeden Wechsel von einer Ebene auf die nächste als eine Transformation verstehen, die wiederum eine Modellierung im oben genannten Sinne darstellt. Ausgehend von der Vorstellung, dass Vergangenheit (ebenfalls modellhaft) durch ihre Hinterlassenschaften bezeugt wird, sind dies: 1. die Digitalisierung im engen Sinne, d.h. die Abbildung von (nicht-digitalen) Quellen auf digitale Surrogate, 2. 170
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die ›Verdatung‹, d.h. die mehr oder weniger stark formalisierte Abbildung von in den Quellen enthaltenen, häufig nicht explizit sichtbaren Informationen auf formale Datenstrukturen, 3. (neue) computer-gestützte Verfahren, d.h. die maschinelle Verarbeitung komplexer und/oder großer Datenmengen, und 4. die Vereinigung eines historical thinking mit einem computational thinking zum Zwecke der Gewinnung (neuer) historischer Erkenntnis und zur Generierung neuer historischer Fragestellungen.
Fallbeispiel: Die historische Analyse eines Widerstands-Netzwerks gegen den nationalsozialistischen Terror Diese Überlegungen sollen an einem Fallbeispiel erläutert werden. Wir rekurrieren dabei auf die Studie der Historikerin Linda von Keyserlingk-Rehbein über das Widerstandsnetzwerk vom 20. Juli 1944 gegen den nationalsozialistischen Terror und ihre explizite Fragestellung, was die ermittelnden Gestapo-Beamten sowie die Juristen des Volksgerichtshofs über das Netzwerk nach dem gescheiterten Attentat herausfinden konnten (siehe hierzu und im Folgenden Keyserlingk-Rehbein 2018). Zum historischen Hintergrund: Im Attentat vom 20. Juli 1944 gipfelte ein groß angelegtes Bemühen aus dem Kreis führender Mitglieder von Militär und Zivilgesellschaft, durch einen Staatsstreich Hitler und seine Entourage von den Schaltstellen der Macht zu entfernen. Die Folge des Scheiterns war – neben der Fortführung von Terror und Krieg – eine großangelegte Säuberung mit der Ermordung, Inhaftierung oder Zurückdrängung der tatsächlichen oder vermeintlichen Widerständler sowie zahlloser anderer Oppositioneller aus dem gesellschaftlichen Leben. Während die Reaktionen des NS-Regimes auf das Attentat durch eine Vielzahl von Quellen des Verfolgungsapparats sehr gut dokumentiert sind, wissen wir über das genaue 171
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Ausmaß des Netzwerks vergleichsweise wenig. Dies liegt unter anderem an dem Umstand, dass das Handeln der Verschwörer konspirativ erfolgen musste und daher zu großen Teilen aus Erinnerungen oder eben auch den Zeugnissen der Verfolger heraus verstanden werden muss. Historikerinnen und Historiker können nun auf digitale Forschungsinstrumente wie die Modellierung der Beziehungen der Verschwörer als soziales Netzwerk zurückgreifen, um einerseits das Funktionieren der Verschwörergruppen unter den Bedingungen des nationalsozialistischen Systems besser zu verstehen und zugleich auch nachzuvollziehen, ob und in welchem Ausmaß es dem Verfolgungsapparat nach dem gescheiterten Attentat gelang, diese Netzwerke aufzudecken. Digitalisierung ermöglicht der Forschung somit Einblicke, die mit herkömmlichen Zugängen so kaum zu erreichen wären. Auf die vier Ebenen übertragen, bedeutet dies: Auf der untersten Ebene der Digitalisierung im engeren Sinn steht die Erzeugung und Zugänglichmachung von Bilddigitalisaten der historischen Quellen, in diesem Fallbeispiel etwa der Berichte Ernst Kaltenbrunners an den Leiter der Partei-Kanzlei über die Untersuchungen im Zusammenhang mit der Festnahme und den Verhören der Mitglieder des Widerstandsnetzwerks vom 20. Juli 1944. Dieser Schritt stellt eine allgegenwärtige Verfügbarkeit von Surrogaten der historischen Quellen her und bedeutet damit sowohl einen Qualitätssprung als eben auch eine Transformation vom Original in ein Surrogat. Das Digitalisat als Modell des Originals löst sich so von diesem. Es wird zu einem eigenständig referenzierbaren Wissensobjekt, das über die Metadaten (z.B. Signaturangabe des Bestands und der Akte im Archiv) darüber hinaus einen Verweischarakter auf das Original hat. Zuvor bestehende physische Einschränkungen entfallen im Umgang
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mit Digitalisaten, die dafür freilich anderen Einschränkungen rechtlicher oder technischer Art unterworfen sein können. Wenn das Erkenntnisziel der historischen Arbeit wie in diesem Fallbeispiel nun darin besteht, mehr über die Funktionsweise des konspirativen Netzwerks zu erfahren sowie darüber, was die NS-Verfolger zu einem bestimmten Zeitpunkt über dessen Beschaffenheit wussten, dann muss dazu die unstrukturierte, einem Computer nicht zugängliche Information im Bilddigitalisat in eine strukturierte Form überführt werden. Es findet also eine stark formalisierte Abbildung der Information statt, die ihre maschinelle Verarbeitbarkeit ermöglicht. Diesen Schritt der zweiten Ebene bezeichnen wir als ›Verdatung‹. So kann z.B. der Satz aus dem Bericht »[Es] sprach Dr. Popitz mit […] Generaloberst Beck […] über seine Sorgen« zunächst als maschinenlesbarer Volltext (Zeichencodes) erschlossen sowie die im Forschungskontext relevanten Informationen mit den Begriffen der Netzwerktheorie als Bekanntschaft zweier Individuen semantisch kodiert und angereichert werden. Als Modell des oben zitierten Satzes steht dann die für diese Forschungszwecke formal-reduzierte Aussage »Akteur: Popitz |Relation: kannte | Akteur: Beck«. Hier wird der Modellcharakter der Transformation deutlich. Merkmale der Realität (in diesem Falle der Berichtssatz) werden so reduziert und auf andere Merkmale abgebildet, dass sie zweckmäßig für die weitere Bearbeitung bspw. in einer Netzwerkanalyse werden. Formalisiert man diese Beziehung graphentheoretisch weiter, so besteht sie damit aus zwei Knoten (Akteuren) und einer von ihnen geteilten Kante (Relation). Dabei ist diese Beziehung eine von hunderten, ja vielleicht tausenden von Beziehungen, die aus den Quellen ermittelt und strukturiert abgelegt werden können: Das Modell der gesamten, mehrere hundert Seiten Text umfassenden Berichte und weiterer Quellen besteht in einer formalen Beschreibung der in ihm enthaltenen, für den For173
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schungszweck relevanten Informationen. Neue Forschungsmethoden wie jene aus dem Bereich der historischen Netzwerkforschung erlauben es dann auf einer dritten Ebene, Modelle von der möglichen Beschaffenheit der personellen Netzwerke – so, wie sie uns aus den Überlieferungen der Gestapo entgegentreten – zu berechnen, netzwerkanalytisch zu untersuchen, zu visualisieren und sie Darstellungen in anderen Quellen entgegenzustellen. Im Allgemeinen reichen derartige Verfahren, wie sie in der digitalen Geschichtswissenschaft zunehmend angewandt werden, von der deskriptiven Statistik bis in die Bereiche maschinellen Lernens und umfassen sowohl quantitative als auch qualitative Aspekte. Auf einer vierten, epistemologischen Ebene entsteht durch die Zusammenführung solcher Modelle und ihre folgende Auswertung, Kontextualisierung und Interpretation neue historische Erkenntnis. Historische Erkenntnis in diesem Sinn ist also das Produkt eines Konstruktions- und stetigen Modellierungsprozesses. Während es das Ziel des Prozesses ist, sich auf der vierten Ebene so weit wie möglich der vergangenen Wirklichkeit anzunähern, sie also mit größtmöglicher wissenschaftlicher Begründung darzustellen, entfernt man sich mit jedem Modellierungsschritt von der Quelle und der von ihr repräsentierten Wirklichkeit. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn die Modellierung gar nicht durch die Forscherinnen und Forscher selbst erfolgt ist, sondern diese auf bestehende Datensätze der unterschiedlichen Ebenen zugreifen. Um ein Bild von oben wieder aufzugreifen: Wenn ein Wanderweg nicht auf einer Autokarte verzeichnet ist, so lässt dies keinen Rückschluss darauf zu, ob dieser Wanderweg in der Realität existiert oder nicht. Dieser Modellierungsaspekte müssen sich Historikerinnen und Historiker in der ihnen zu eigenen kritischen Denkweise immer bewusst sein.
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Während die raschen Fortschritte der Informatik in den letzten Dekaden die Innovation auch in der digitalen Erforschung von Geschichte vorangetrieben haben, stellen uns diese Verfahren und ihre Produkte mit ihrer scheinbar naturwissenschaftlichen Eindeutigkeit (vgl. Drucker 2011) somit auch vor neue Herausforderungen. Das gilt insbesondere für die zweite Ebene der Verdatung und die vierte Ebene der Epistemologie.
Fazit und Ausblick: Geschichte und Verdatung Die Beziehung zwischen Vergangenheit, deren mehr oder weniger geformter Überlieferung in Quellen und dem wissenschaftlich kontrolliert entworfenen Geschichtsbild ist also keineswegs unproblematisch. Die Digitalisierung mit ihrer Wirkung auf vier Ebenen interveniert in diese Beziehungen. Das gilt besonders für die Verdatung, weil sie unsere Aufmerksamkeit auf die Daten und deren Beschaffenheit lenkt, worüber allzu leicht der Bezug zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand verloren geht. Am Ende könnte eine Reiffizierung der digitalen Daten stehen, bei der wir diese als repräsentativ für die Realität betrachten, obwohl sie sich durch verschiedene Ebenen der Modellierung von dem wegbewegen, was die vergangene Realität am unmittelbarsten empirisch bezeugt (die Quellen). Darin liegt die noch allgemeinere Gefahr, dass wir digitale Dinge als gegeben hinnehmen, ohne sie zu hinterfragen. Dies ist umso mehr der Fall, als schon heute vielfach digitale Verfügbarkeit darüber (mit)entscheidet, ob Quellen überhaupt in Wissensbildungsprozessen herangezogen werden. Auch deshalb hat Johanna Drucker vorgeschlagen, Daten (›datum‹ = lat. das Gegebene) vielmehr als etwas zu betrachten, das bewusst ausgewählt und fixiert wird (Drucker 2011: Abschn. 3). Sie schlägt auch deshalb den Begriff des captum (lat. der Fang) vor, der unsere Aufmerksamkeit neu auf den Konstruktionscharakter der Überlieferung lenkt. 175
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Nun sind diese Gefahren eigentlich ein bekanntes, vielleicht sogar ein konstituierendes Problem der Geschichtswissenschaft. Die Digitalisierung verschärft dieses Problem aber noch, nicht zuletzt durch die Masse der nunmehr verarbeitbaren Informationen und die scheinbare naturwissenschaftliche Evidenz der Instrumente und der von ihnen hervorgebrachten Ergebnisse. Tatsächlich aber bestehen zwischen der Entstehung eines einzelnen Datenpunkts und dem Gesamtbild, das mit diesem Datenpunkt entworfen wird, oft erhebliche Differenzen. In kolonialer Überheblichkeit gegenüber den indischen Behörden hat Josiah 1st Baron of Stamp dennoch dieses Grundproblem anschaulich beschrieben: »The individual source of the statistics may easily be the weakest link. […] ›The [Indian] Government are very keen on amassing statistics – they collect them, add them, raise them to the nth power, take the cube root and prepare wonderful diagrams. But what you must never forget is that every one of those figures comes in the first instance from the chowly dar [chowkidar] (village watchman), who just puts down what he damn pleases.‹« (Stamp 1929: S. 258f.) So problematisch aus heutiger Sicht die patronisierende Perspektive auf den kolonialen Raum und die dortigen Wissenspraktiken erscheinen mag, so fundamental ist das aufgeworfene Problem hinsichtlich der Verdatung, da besagte Statistiken als historische Quellen betrachtet werden müssen. Analog haben sich – um noch einmal kurz auf das Beispiel des 20. Juli 1944 zurückzukommen – die verhörten Personen, deren Aussagen in den Berichten Niederschlag gefunden haben, teils ausgesprochen strategisch gegenüber den Ermittlern verhalten, bspw. um ihre Kontakte nicht zu belasten (ausführlich behandelt in Keyserlingk-Rehbein 2018). Auch die Betrachtung 176
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des digitalen Modells, das wiederum einer historischen Erklärung zugrunde gelegt wird, muss also die Grenzen der analogen Evidenz einbeziehen. Am Anfang steht also eine Differenz zwischen der geschichtlichen Wirklichkeit und ihrem Abbild in den Quellen. Mit dieser Differenz muss die Forschung umgehen und aus genau diesem Grund hat sie die ›historische Methode‹ entwickelt. In der Verdatung nun wird aus dieser einen Quelle aber ein Datenpunkt, der gemeinsam mit vielen anderen Datenpunkten zu einem Bild der Vergangenheit beiträgt, ohne dass er – oder die anderen Datenpunkte – im Regelfall noch einmal einer eingehenden Quellenkritik unterzogen worden wären. Sie alle sind aber keinesfalls so eindeutig, wie es ihre formale Erfassung suggeriert. Vielmehr sind sie verlustbehaftet, vage und mehrdeutig – Merkmale, die zurecht als charakteristisch für Daten in den Geisteswissenschaften angesehen werden (vgl. Schöch 2013). Dieser Umstand erfordert eine Wiederbelebung der historischen Methode. Digitale Geschichte muss sich, so schlagen wir vor, deshalb als eine kritische historische Datenwissenschaft konstituieren. Dies bedeutet einmal, die immanente Kritikfähigkeit der Geschichtsforschung auf die Digitalisierung anzuwenden. Diese Kritik muss auf allen vier genannten Ebenen – Digitalisierung im engeren Sinn, Verdatung, Methodenkritik und epistemologische Reflexion – zum Tragen kommen. Dafür können wir modelltheoretische Überlegungen als einen Schlüssel begreifen. Letztendlich geht es dabei in der Geschichtswissenschaft wie in allen anderen Wissenschaften darum, dass wir Wege entwickeln, die Digitalisierung zu beherrschen, und dass wir vermeiden, uns von der Digitalisierung beherrschen zu lassen.
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Zum Weiterlesen Ahlskog, Jonas (2020): The Primacy of Method in Historical Research: Philosophy of History and the Perspective of Meaning. Routledge Approaches to History. Milton: Taylor and Francis. Haber, Peter (2011): Digital Past – Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter. München: Oldenbourg. Rehbein, Malte (2020): »Über Historik im Digitalen«. In: Hans Joas/ Jörg Noller (Hg.). Geisteswissenschaft – was bleibt? Zwischen Theorie, Tradition und Transformation. 1. Aufl. Freiburg, München: Karl Alber (Geist und Geisteswissenschaft), S. 183-223.
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Digitalrecht Formatierung des Sozialen Kai von Lewinski
Einleitung Das Internet ist ein wichtiges Medium gesellschaftlicher und privater Kommunikation geworden. Die Möglichkeiten der Interaktion über das Netz haben die menschliche und soziale Kommunikation nicht nur bereichert, sondern auch verändert (vgl. Irrgang 2011: S. 130). Die in der tatsächlichen Welt ausdifferenzierteren und nuancierteren zwischenmenschlichen Beziehungen werden im Netz nicht unverändert dargestellt. Denn die digitale Abbildung sozialer Beziehungen geht einher mit Vergröberungen und Verzeichnungen. Die sozialen Beziehungen werden digital durch und für die digitale Abbildung formatiert; digitale Kommunikation und insbesondere Soziale Netzwerke »rahmen Sozialität in einem sehr technischen Sinne« (Jarke 2018: S. 3, 8). Dies manifestiert sich darin, dass in diese Abbildung unter Umständen andere Parameter und Parameter anders einfließen, als dies bei überkommener menschlicher Interaktion der Fall ist und war. Und sie führt auch zu einem anderen und meist zahlenförmigeren Resultat. Dies kann eine binäre ›Null/Eins-Entscheidung‹ sein, eine grobe Skala oder ein (Score-)Wert mit vielen, vielen Nachkommastellen. Hierfür sollen zunächst drei allgemein bekannte Verdatungskonstellationen vorgestellt werden, in denen durch die Formatierung des Sozialen Macht ausgeübt wird. Für die Einhegung und Begrenzung dieser sozialen (Gestaltungs-)Macht hält das Recht keine Antwort bereit, ja kann eine solche noch nicht einmal skizzieren. Angesichts des umfassenden Regelungsan181
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spruchs des modernen Rechts und eines inzwischen als Rechtsgebiet etablierten Digitalrechts ist dies überraschend. Wenn man jedoch innerhalb der Rechtswissenschaften die Perspektive verschiebt und etwas weiter ausholt, lassen sich auch für diese Konstellation passende Regelungsmodelle finden, aus denen der Gesetzgeber ein Regelungsmodell auswählen könnte, auch wenn er dies bislang nicht getan hat.
Drei Fälle: Facebook, Internetbewertungen und Social Credit Die digitale bzw. digitalisierende bzw. digitalisierte Formatierung des Sozialen soll an drei Konstellationen gezeigt werden: den ›Freundschaften‹ auf Facebook, den im Internet allgegenwärtigen Bewertungen sowie dem Social Credit System in China. Facebook: Freundschaft oder Nicht-Freundschaft? Das Soziale Netzwerk formatiert die sozialen Beziehungen der Nutzer und Nutzerinnen in seinem Netzwerk binär als Freundschaft/ Nicht-Freundschaft. (Dies verkennt natürlich nicht, dass ›tiefer im System‹ differenziertere ›Nähe-Intensitäten‹ abbildbar sind, vgl. Simanowski 2018: S. 4; und natürlich können die internen Auswertungsalgorithmen soziale Beziehungen und Beziehungsnetzwerke in allen Abstufungen analysieren.) Bei dieser ›Freundschaft‹ auf Facebook geht es selbstverständlich nicht um eine realitätsgetreue Wiedergabe der menschlichen Beziehung gleichen Namens, sondern um die nicht weiter differenzierte Abbildung einer beliebigen sozialen Beziehung. Das Netzwerk zwingt den Nutzern und Nutzerinnen jedenfalls formal eine Beziehungsqualität auf, die so (in der Realität) gar nicht besteht. Ein ›Freund‹ auf Facebook ist oftmals nur eine (flüchtige) Bekanntschaft (vgl. Simanowski 2018: S. 5). (Fünf-)Sterne-Bewertungen. Vor dem Aufkommen des Internets wurden Entscheidungen auf der Nachfrageseite und v.a. auf vielen Endverbrauchermärkten stark durch vom Anbieter 182
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kontrollierte Variablen wie Preis, Werbenachricht und Markenname beeinflusst (vgl. De Langhe, Fernbach und Lichtenstein 2016: S. 817). Hierzu sind im Zuge des nutzergetriebenen und kollaborativen Web 2.0 Nutzerbewertungen hinzugetreten. Diese Bewertungen haben für die digitalen Märkte eine große Bedeutung. Sie dienen der Orientierung und ermöglichen marktbezogenen Austausch sowie erhöhte Transparenz (vgl. BGH, Urt. v. 23.06.2009 – VI ZR 196/09). Eine gute Nutzerbewertung hat sich zu einem bedeutenden Umsatz und Werbefaktor entwickelt (vgl. Floyd et al. 2014: S. 217). Auf der Nachfrageseite gibt die Nutzerbewertung Parameter für (verhältnismäßig rasche) Entscheidungen in einer von vielen Unbekannten geprägten Umgebung des Fernabsatzes (vgl. Masum und Tovey 2012: S. 13, 51, 77f.). Dies reicht von Produkt- und Dienstleistungsbewertungsportalen über die großen Online-Kaufhäuser bis hin zu Personenbewertungsportalen. Solche Bewertungen werden im Internet überwiegend mittels einer Skala von einem bis zu fünf Sternen vergeben. Derartige Sternebewertungen können zwar nur eindimensionale Aussagen enthalten, ermöglichen es aber gegenüber dem binären Freundschafts/Nicht-FreundschaftsSchema von Facebook, jedenfalls in dieser einen Dimension die Aussage zu differenzieren. Sozialpunktesystem in China. International einen ähnlich schlechten Ruf wie der SCHUFA-Score in Deutschland hat das Sozialpunktesystem in China. Es verfolgt das Ziel, alle Menschen in China auf Grundlage ihres sozialen und politischen Verhaltens zu erfassen (vgl. Chinese State Council Notice 2014). Es »berechnet sich nach unterschiedlichen Merkmalen und Aktivitäten der Bürgerinnen und Bürger, etwa nach Kreditwürdigkeit, Aktivitäten in sozialen Netzwerken, dort geäußerten Meinungen usw.« (Welzer 2018: S. 25); freilich ist das System im Gegensatz zu der im Westen verbreiteten Vorstellung im Großen und Ganzen aber gleichwohl eindimensional und führt nicht für 183
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jeden Betroffenen eine differenzierte und mehrdimensionale Bewertung durch – auch wenn es kleinere Pilotprojekte gibt, die dies tun (vgl. Grützmacher 2019: S. 137-138). Auf dieser Grundlage wird das Verhalten von Individuen, Organisationen und Unternehmen durch Mechanismen der staatlichen Belohnung und Bestrafung beeinflusst (vgl. WD 2018: S. 7). Gewünschtes Verhalten erhöht den Punktestand, unerwünschtes bis straffälliges Verhalten führt zu Punktabzug (vgl. Wagner 2020: S. 141). Wenngleich das chinesische Sozialpunktesystem neben der sozialen auch die finanzielle Dimension abbildet (vgl. Musitz in diesem Band), ist der häufig verwendete deutsche Begriff ›Sozialkreditsystem‹ eine schiefe Übersetzung aus dem Englischen Social Credit System, abgekürzt auch ›SCS‹. Denn dort bezeichnet ›credit‹ nicht einen Kredit im Sinne eines (Bank-)Darlehens, sondern vielmehr (auch) Noten oder Punkte. Dies ist dann näher am Ausdruck xinyong (信用) in Mandarin, der aber eine noch umfassendere Bedeutung hat als das englische credit; es umfasst nicht nur die (finanzielle) Fähigkeit, Schulden zu bedienen, sondern ist auch mit Begriffen wie Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und Integrität verbunden. Insoweit soll hier von ›Sozialpunktesystem‹ gesprochen werden.
Digitalrecht als unzureichende Perspektive Der eingangs formulierte Befund, nach dem die soziale Wirklichkeit durch digitale Systeme formatiert wird, muss das Recht auf den Plan rufen, das die Aufgabe hat, Machtkonstellationen einzuhegen oder jedenfalls zur formalisieren. Das für die hier behandelten Konstellationen eigentlich einschlägige Digitalrecht – ein freilich gegenwärtig sich ausbildendes Rechtsgebiet, für das es noch kein Gesetzbuch oder umfassenderes Gesetz gibt – aber weiß hierfür keine Antwort; es schaut vielmehr nicht nur in eine Lücke, sondern in die Leere. Dies ist für das Recht ungewohnt, weil angesichts des bestehenden Grades an Verrechtli184
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chung und wegen des Bestehens von umfassenden Kodifikationen eine legistische terra incognita nur noch selten zu finden ist. Eigentlich gibt es für jedes tatsächliche Problem eine Antwort in den Gesetzen, jedenfalls aber mindestens die Möglichkeit einer Analogie. Doch wird die Bemessung von sozialen Beziehungen durch (letztlich nur) Zahlenwerte vom Recht bislang nicht und erst recht nicht richtig adressiert. Auf den ersten Blick scheint das Problem in der Nummerierung und Codierung von Sachverhalten, Objekten und Subjekten zu liegen. Zwar kann auch die Benennung und Bewertung zu Streit führen. Doch würde dadurch nur verdeckt, dass das eigentliche Problem die Datenräume sind, also die Strukturen und logischen Kontexte, in denen diese jeweiligen Nummern und Codierungen eine Rolle spielen. Und diese codierten Räume bestimmen im digitalen Raum darüber, ob und wer man ist, wie viele und was man machen kann. Man würde nun erwarten, dass das Recht für solche Konstellationen, in denen Datenräume zu einer Machtressource werden, eine Regelung oder doch jedenfalls eine Regelungsidee bereithalten würde. Denn es ist die Aufgabe des Rechts, Herrschaftsräume zu beschreiben und zu begrenzen. Allerdings finden sich hierfür bemerkenswerterweise keine Regelungen. Rechte an Datenstrukturen sind ungeregelt. Pflichten hinsichtlich der Strukturierung von Daten gibt es kaum und jedenfalls nicht explizit. Erst recht zeigt sich hinsichtlich der Wechselwirkungen zwischen informatischem System und sozialer Wirklichkeit juristisch deutlich ein blinder Fleck. Obwohl es sich hier um eine sozial wie technisch relevante Konstellation handelt, fehlt es schlechterdings an Regelungen, und zwar sowohl auf der konkreten Detailregelungsebene wie auch hinsichtlich der Regelungsgrundsätze überhaupt. Die Lückenhaftigkeit beginnt bei den Immaterialgüterrechten: Zwar können diese auch Datengesamtheiten erfassen. Und 185
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in Gestalt des bestehenden Datenbankrechts (§§ 87aff. Urheberrechtsgesetz [UrhG]) tun sie das auch. Das (Immaterialgüter-) Recht an einer Datenbank als Datengesamtheit (Überblick bei Grützenmacher und Conrad 2014) ist aber strukturblind. Zum einen und vor allem wird die Struktur nicht als solche adressiert. ›Systematik‹ und ›Methodik‹ sind Tatbestandsmerkmale für eine Datenbank (§ 87a Abs. 1 S. 1 UrhG), aber gerade nicht Regelungsgegenstand. Zum anderen in dem Sinne, dass es nicht die Struktur von Datenbanken schützt, sondern nur den konkret strukturierten Datenbestand. Im E-Commerce-Recht und dem Recht der Plattformen wird mit Blick auf die Datenmacht (und konkret die großen Player aus den USA) seit einiger Zeit ein kartellrechtlicher Ansatz diskutiert, was in der EU nun seinen Niederschlag in dem Vorschlag der Europäischen Kommission für einen Digital Markets Act (DMA) und einen Digital Services Act (DSA) gefunden hat. Doch greift dieser Ansatz erst, wenn ein Machtmissbrauch tatsächlich vorliegt; das Vorfeld wird bestenfalls indirekt (über die generalund spezialpräventive Wirkung der Sanktion) adressiert. Das Informationsrecht selbst hat auf informationelle Vermachtungen bislang fast ausschließlich mit den Mitteln und Instrumenten des Datenschutzrechts reagiert. Das (geltende) Datenschutzrecht hat aber eine spezifische Mikroperspektive: Es regelt primär die konkrete Datenverarbeitung in Bezug auf eine einzelne ›betroffene‹ Person. Diese verengte und individualistische Perspektive ist verarbeitungs-, nicht aber datenstrukturbezogen. Wie die Angabe des Geschlechts einer Person verarbeitet wird, ist minutiös geregelt; für die (Nicht-)Abbildung von Merkmalen in Datenbanken als solche für Person, Gruppe und Gesellschaft ist das Datenschutzrecht blind, ebenso für die heteronormative Geschlechterordnung. Im Registerrecht, das insoweit eine Mesoperspektive einnimmt, finden wir kaum explizite Vorschriften, die informatio186
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nelle Vermachtungen adressieren. Zwar machen die einzelnen Registergesetze durchaus Vorgaben zum ›Was‹ und ›Wie‹, was dann auch beschränkend und steuernd wirkt. Doch bleiben die Regelungen als Annex zur Sachmaterie punktuell und stets auf ein bestimmtes Register beschränkt. Deshalb wird der Aspekt von Vermachtung durch die durch Register geschaffenen ›Datenräume‹ auch nicht übergreifend thematisiert. Ein die Gesamtheit des Registerwesens erfassendes Registerrecht gibt es nicht, und vor allem gibt es kein allgemeines Registerrecht, das allgemein vorschreiben würde, wie man Personen und Sachverhalte zu kategorisieren hätte. Auch im Schrifttum wird das Registerrecht rein deskriptiv und ausschließlich von Praktikern behandelt (vgl. nur Krafka 2008). Das sogenannte E-Government-Recht scheint eigentlich der erste Kandidat und natürliche Standort für ein datenmachtund datenstrukturbegrenzendes Recht zu sein – und wird es vielleicht eines Tages auch sein. Gegenwärtig aber kämpft das EGovernment-Recht mit den überkommenen Verwaltungsstrukturen; sein gegenwärtiges Regelungsanliegen ist deshalb eher eine Entgrenzung und De-Formatierung. Jedenfalls befasst sich das E-Government-Recht vornehmlich mit der Auflösung bisheriger institutioneller Trennungen und dem Ersetzen der die Gewaltentrennung reflektierenden Systemgrenzen durch IT-System-immanente Strukturen. Hieran wird sich auch durch das Registermodernisierungsgesetz (RegMoG) aus dem Jahre 2021 absehbar nichts ändern. All diese Regelungen, die jeweils eine Perspektive des Digitalrechts widerspiegeln, aber erfassen die eingangs geschilderten drei Konstellationen nicht: Facebooks Nivellierung der sozialen Wirklichkeit in Freunde und andere Leute, den Kontextverlust durch die Eindimensionalität von Bewertungen im Internet und die Reduzierung von Menschen in China auf einen Scorewert – dies sind fühlbare soziale und kommunikative Umstände und 187
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auch Machtmittel, die durch die Gesetze bislang aber noch nicht adressiert werden.
Perspektiven einer Formatierung des Sozialen Heißt die fehlende Passung des Digitalrechts für die Rechtsfragen von Datenräumen nun, dass das Recht hier keine Antwort geben kann? Dies ist de lege lata (für das geltende Recht) wohl tatsächlich zu konstatieren. Die Rechtswissenschaft aber kann den Blick weiten und ihre Perspektive ändern und so jenseits des geltenden Rechts neue Antworten und Lösungsangebote de lege ferenda finden. Wie aber kann von Datenstrukturen ausgehende (und in ihnen gleichsam gespeicherte) Macht in rechtliche Kategorien gefasst werden? Welche rechtlichen Instrumente sind hinsichtlich dieser Machtkonstellation vorstellbar? Und vor allem: Woher und wie können sie hergeleitet werden? Kurz möchte ich hierfür – vom Fachmann für Kenner – skizzieren, wie ein juristischfachliches Herangehen an diese Wahrnehmungs- und auch Forschungslücke ausschauen könnte. Man kann und muss beweinen, dass die fachliche Schnittmenge der Rechtswissenschaft mit der Soziologie und den Technikwissenschaften, die in den 1970er Jahren und damit vor gar nicht allzu langer Zeit in Form der Rechtsinformatik (auch: Rechtskybernetik) bestand, in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen und wohl sogar still beerdigt worden ist. Diese untergegangene Teildisziplin hätte womöglich auf die hier aufgezeigten Fragen eine Antwort geben können. Zweifellos wäre die informatische Systemanalyse in der Lage gewesen, strukturvermittelte Datenmacht, die die soziale Wirklichkeit in einer spezifischen Weise abbildet und zugleich auf sie zurückwirkt, zu beschreiben (vgl. Stachowiak 1973, 1983; Mahr 2009: S. 228-249; Desrosières 2005: insb. S. 263-209; Guagnin und Pohle 2019). Doch fehlt der Informatik heute die Übersetzung in juristische 188
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Lösungskategorien. Hier ist das Verschwinden der klassischen systemtheoretischen und systemanalytischen Rechtsinformatik (vgl. etwa Podlech 1976: S. 21-24; Harbordt 1974, 1975: S. 71-77; Dammann 1974; Heibey 2014: S. 131-144) fühlbar. Das ist schade, weil gerade die frühe Datenschutzwissenschaft (vgl. Steinmüller 1970; Kerkau 1970; Simitis 1970; Eberle 1976), die personell und methodisch der Rechtsinformatik stark verbunden war, diese Perspektive durchaus hatte. Einer der ganz wenigen Überreste dieser Hochzeit der Rechtsinformatik war der frühere § 1 Abs. 2 Nr. 2 Datenschutzgesetz Hessen (hessLDSG) (s. heute noch § 13 Abs. 3 S. 1 Datenschutz- und Informationsfreiheitsgesetz Hessen [hessLDSIG]). Jedenfalls aber sollten die Rechtsfragen von ›Datenräumen‹ aus einer Makroperspektive angegangen werden. Besser als am Datenschutzrecht sollte sich ein Datenraum-Recht am Organisationsrecht orientieren. Denn so wie ›Datenräume‹ sind Institutionen und Organisationen (Behörden) Strukturen – gespeicherte und potentielle Macht. Wichtiger und wirksamer als individuelle Grundrechtsgewährleistungen sind im Bereich der ›Datenräume‹ informationelle Separierungen und Abschottungen, die eine (Auf-)Teilung von Datenmacht bewirken (›Datenkleinräumigkeit als informationelle Machtbeschränkung‹). Rechtliche Instrumente hierfür sind im Öffentlichen Recht die Kompetenz- und Zuständigkeitsbeschränkungen (etwa Verwendung des Geschlechts nur in bestimmten Kontexten wie im Öffentlichen Dienst oder im Wehrersatzwesen), im Privatrecht die kartellrechtlichen und betriebsverfassungsrechtlichen Machtbeschränkungen. Und für Behördener- und einrichtung gibt es keinen institutionellen Gesetzesvorbehalt (vgl. von Lewinski 2019: S. 107, 113 [Rn. 19]). Das bedeutet aber nicht, dass es keinen solchen geben könnte. So kann sich situativ ein Gesetzes- und Genehmigungsvorbehalt aufgrund Wesentlichkeit oder auch aufgrund einfachgesetzlicher Vorgabe (z.B. § 147 Abs. 1 S. 1 Var. 2 u. 3 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch 189
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[SGB VI]) ergeben. Rechtlich wäre es zudem denkbar und möglich, auch im nicht-öffentlichen Bereich Genehmigungsvorbehalte zu schaffen (so ursprünglich im Datenschutzrecht, zuletzt noch die alte Fassung des § 10 Bundesdatenschutzgesetz [BDSG a.F.]). Auch Anforderungen an die Inbetriebnahme eines Datenraums wären denkbar: Compliance-Strukturen, Robustheit und Resilienz (z.B. Prüfziffern nach § 1 Steueridentifikationsnummerverordnung [StIdV]) oder auch Registrierung oder Meldepflichten. Etwas visionärer wäre es ferner, Datenräume als Herrschaftsgebiete bestimmter Logiken zu begreifen (›Datensouveränität‹) und dann an kollisionsrechtliche Mechanismen zu denken. Dies könnte so aussehen, dass Daten aus dem einen Datenraum in einem anderen nur im Kontext oder Format des einen (oder des anderen) verwendet werden dürfen.
Fazit Gegenwärtig kann in Bezug auf Datenräume nur eine rechtliche Lücke konstatiert werden, ein juristisches Lösungskonzept ist noch fern. Allerdings ist die Erkenntnis, dass Datenraummachtbegrenzung ein Beruf unserer digitalen Zeit ist, ein erster wichtiger Schritt. Wenn und weil Technik das Soziale formatiert, muss das Recht hinschauen. Wenn hierfür die Brille fehlt, um das Problem klar zu erkennen, dann muss sie aufgesetzt werden. Und wenn die Rechtswissenschaft als Nachhut des Fortschritts neuen Modellen gegenüber oftmals skeptisch ist, dann müssen mindestens ihre Gläser nachgeschliffen werden. Dieser Beitrag beruht auf Arbeiten aus einem Forschungsprojekt ›Datenräume als Machtressource‹ aus dem Jahre 2020. Für die Mitarbeit, v.a. bei der Recherche, danke ich meinem Assistenten, Herrn Benedikt Leven, und, hier insb. für die kundige Zuarbeit zum Sozialpunktesystem in China, Frau Sarah Hünting.
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Digitalrecht
Zum Weiterlesen Lewinski, Kai von (2020): »›Data Spaces‹: Data Structures as a Question of Law.«. In: The Global Constitutionalism and the Internet Working Group (Hg.). Don’t Give Up, Stay Idealistic and Try to Make the World a Better Place. Liber Amicorum Ingolf Pernice. Berlin: HIIG, S. 65-69. Lindemann, Gesa (2015): »Die Verschränkung von Leib und Nexistenz«. In: Florian Süssenguth (Hg.). Die Gesellschaft der Daten. Bielefeld: transcript, S. 41-66. Nassehi, Armin (2019): Muster. München: C.H. Beck.
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Autor:innen Block, Katharina, Dr., ist Juniorprofessorin für Sozialtheorie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg sowie Fellow am Hanse-Wissenschaftskolleg und assoziierte Forscherin am Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft in Berlin. 2015 promovierte sie in der Philosophie mit einer wissenschaftstheoretischen Arbeit zum Weltbegriff in der Umweltsoziologie. Nach einem daran anschließenden Forschungsstipendium des Human Dynamics Centre der Universität Würzburg lehrte sie zudem an der Leibniz Universität Hannover. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Sozialtheorie, Gesellschaftstheorie, Philosophische Anthropologie, Phänomenologie, Soziologie der Ökologisierung und Soziologie der Digitalisierung. Deremetz, Anne studierte Politik- und Sozialwissenschaften an der Universität Eichstätt sowie Soziologie an der Universität Bamberg. Seit 2018 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Graduiertenkolleg 1681/2 »Privatheit und Digitalisierung« an der Universität Passau. Aktuell forscht sie zum Wandel des Privatheitsbegriffs im Digitalen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Gesellschaftstheorien, Devianztheorien, Digitale Methoden und Mixed Methods-Verfahren der empirischen Sozialforschung. Donig, Simon, Dr., studierte Geschichte und Politikwissenschaften in Hamburg und Konstanz. Er promovierte 2019 mit einer Generationen- und Erfahrungsgeschichte vertriebener und geflohener adeliger Familien aus Schlesien sowie der Aneignung der materiellen Adelskultur im kommunistischen Polen nach 1945. 2020 wurde die Arbeit mit dem Wissenschaftspreis 195
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der Universität Passau ausgezeichnet. Aktuell forscht er zu Klassifikationssystemen als Teil von Bevölkerungspolitik und Verwaltungshandeln im 19. und 20. Jahrhundert. Methodisch gilt sein Interesse besonders semantischer Datenmodellierung für die Digitale Geschichtswissenschaft sowie der Frage, wie Technologien der Artificial Intelligence, z.B. maschinelles Lernen, für Disziplinen mit primär qualitativen Erkenntnisinteressen nutzbar gemacht werden können. Fiedler, Marina, Prof. Dr., ist Inhaberin des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Management, Personal und Information der Universität Passau. Forschungsschwerpunkte: Digitalisierung und Arbeit, die Rolle von KI in Organisationen und IT-Plattformen, Governance und Management von nachhaltigem Verhalten, Veränderungen in der Arbeitsgestaltung. Henkel, Anna, Dr. phil., ist Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung an der Universität Passau. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der soziologischen Theorie sowie der Wissens-, Materialitäts- und Nachhaltigkeitsforschung. Hennig, Martin, Dr., studierte Neuere Deutsche Literatur- und Medienwissenschaft, Psychologie und Pädagogik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 2016 promovierte er mit der Arbeit »Spielräume als Weltentwürfe. Kultursemiotik des Videospiels« (Marburg: Schüren 2017), die mit dem Promotionspreis der Universität Passau ausgezeichnet wurde. Seit 2016 ist er Postdoc am DFG-Graduiertenkolleg 1681/2 »Privatheit und Digitalisierung« und vertrat 2019-2020 den Lehrstuhl für Medienkulturwissenschaft (Schwerpunkt: Digitale Kulturen) in Passau. Sein aktueller Forschungsschwerpunkt liegt bei Narrativen der 196
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Digitalisierung (KI, Simulationen, Überwachung) in fiktionalen und faktualen Mediendiskursen. Seine Arbeitsbereiche umfassen Digitale Kulturen, Narratologie, transmediales und serielles Erzählen, Medien- und Kultursemiotik, mediale Entwürfe von Gender und kultureller Identität, Raum- und Subjekttheorie. Kalff, Yannick, Dr., studierte Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er promovierte 2016 bei Klaus Dörre und Stephan Lessenich an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Nach einem Fellowship am Kolleg Postwachstumsgesellschaften (Jena) arbeitet er seit 2017 an der Universität Osnabrück im Fachgebiet Wirtschaftssoziologie. Seine Arbeitsgebiete umfassen Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftssoziologie mit den Themen Digitalisierung, Nachhaltigkeit und alternative Formen des Organisierens und Wirtschaftens. Lenz, Sarah, Dr., ist Soziologin in der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe »Zukünfte der Nachhaltigkeit«. 2017 promovierte sie am Institut für Soziologie der Goethe-Universität Frankfurt zu »Ethische Geldinstitute. Normative Orientierungen und Kritik im Bankenwesen« (2018, VS Verlag). Sie ist assoziierte Forscherin am Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft in Berlin und beschäftigt sich derzeit mit den Themen Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Gesundheit. Ihre konzeptionellen Schwerpunkte liegen im Bereich der Bewertungssoziologie, Soziologie der Institutionen, der Wirtschaftssoziologie und der Soziologie sozialer Ungleichheit. von Lewinski, Kai lehrt seit 2014 Öffentliches Recht an der Universität Passau; von 2018-2020 war er dort auch Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs 1681/2 »Privatheit und Digitalisierung«. Nach Studium in Heidelberg, Berlin (FU) und Freiburg sowie Rechtsreferendariat in Berlin, Speyer und London war er 197
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zunächst Rechtsanwalt in Frankfurt a.M. und in Berlin. 2002 kehrte er an die Universität zurück und habilitierte sich 2010 an der Humboldt-Universität mit einer finanzverfassungsrechtlichen Arbeit. Seine Forschungen haben ihren Schwerpunkt im Datenschutz- und Medienrecht. Musitz, Lia studierte Medienwissenschaften und Sinologie in Wien und Wuhan. Sie promoviert zu Chinas Sozialkreditsystem im Bereich Soziologie an der Goethe Universität Frankfurt. Sie war unter anderem wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Duisburg-Essen, wo sie noch heute als Lehrbeauftragte tätig ist. Ein Lehrauftrag führte sie temporär zurück an die Universität Wien und Forschungsaufenthalte bringen sie regelmäßig nach China. Derzeit ist sie Visiting Fellow am MaxPo/Science Po Paris. Peetz, Thorsten, Dr., ist Privatdozent an der Universität Bremen und Associate Junior Fellow am Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Soziologie der Bewertung, der Organisations- und Kultursoziologie sowie der soziologischen Theorie. Empirisch setzt er sich mit der Digitalisierung intimer Bewertungen sowie der religiösen Bewertung heiliger Personen in der römisch-katholischen Kirche auseinander. Rehbein, Malte, Dr. phil., ist Inhaber des Lehrstuhls für Digital Humanities an der Universität Passau. Seine Forschungsschwerpunkte sind historische Datenwissenschaft, Kulturgutdigitalisierung sowie ethische und gesellschaftskritische Aspekte von Digitalisierung und Wissenschaft von Stetten, Moritz, Dr., studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie in Heidelberg und Manchester (UK). Er 198
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promovierte 2017 an der a.r.t.e.s. Graduiertenschule und am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln über die interdisziplinäre Rezeption der Luhmann’schen Systemtheorie. Seit 2016 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Er ist Projektleiter im 2021 gegründeten interdisziplinären Sonderforschungsbereich »Metaflammation und zelluläre Programmierung«. Außerdem führt er ein Forschungsprojekt zum Zusammenhang von Digitalisierung und Professionalisierung im Feld des Psychotherapeutischen durch. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind soziologische Theorie, Gesundheitssoziologie, politische Soziologie und Kultursoziologie.
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