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German Pages 122 Year 2018
Anna Henkel (Hg.) 10 Minuten Soziologie: Materialität
10 Minuten Soziologie | Band 1
Editorial Das Programm der Soziologie ist: das Soziale zu verstehen und zu erklären. Dabei zeichnet sie sich durch eine Vielfalt theoretischer Ansätze, empirischer Gegenstände und konzeptioneller Zielsetzungen aus. Die Reihe »10 Minuten Soziologie« sieht diese Heterogenität als Stärke. So wie es für die Betrachtung der modernen Gesellschaft keinen »Archimedischen Punkt« (Luhmann) gibt – also keine Beobachtungsperspektive, von der aus das Soziale ›von außen‹ oder ›objektiv‹ beobachtbar wäre –, trägt auch die Disziplin diesem Umstand der modernen Gesellschaft als einer Welt ohne letzte Wahrheit Rechnung: Sie kehrt sich weder von der Welt ab, noch proklamiert sie in einem kontrafaktischen Duktus absolute Wahrheiten. Stattdessen bietet die Soziologie Beobachtungsmöglichkeiten an, die es erlauben: zu verstehen und zu erklären. Der soziologische Blick sensibilisiert dabei für ein Auch-anders-möglich-Sein sozialer Tatsachen. Die Beiträge eines Bandes der Reihe »10 Minuten Soziologie« nähern sich dem jeweiligen Gegenstand begrifflich aus unterschiedlichen Perspektiven und wenden das gewonnene Verständnis jeweils auf einen spezifischen Fall an. Im Mittelpunkt steht dabei die analytische Denkbewegung, also: ein theoretisches Konzept auf einen empirischen Gegenstand zu beziehen und diesen damit neu zu verstehen und zu erklären. Die Reihe wird herausgeben von Anna Henkel.
Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Materialität
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Inhalt Einleitung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Anna Henkel
Actor-Network Theory I Biografie einer Kunststofftüte. Soziologische Beobachtungen zum Verhältnis von Natur und Kultur im Anthropozän. . . . . . . . . 17 Henning Laux
Soziologie der Resonanz Der Naturjoghurt. Transzendenz und Antwortqualität der materiellen Welt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Gianna Behrendt
Actor-Network Theory II Soziologie der Alltagstechnik: Über Transponder und andere Türöffner. Kann ein Schlüssel intelligent handeln?. . . . . . . . . . . . . 41 Günter Burkart
Systemtheorie I Soziologen im Weltraum. Die Materialität der Gesellschaft im leeren Raum. . . . . . . . . . . . . . 53 Nikolai Drews
Critical Realism Arbeit. Zur Verselbständigung des Sozialen am Beispiel der Industrie 4.0. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Dimitri Mader
Systemtheorie II Funktionale Analyse: Terra. Boden, Fläche, Pflanzenernährung in der funktional differenzierten Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Anna Henkel
Science and Technology Studies Zur Materialität des wissenschaftlichen Vortrags. . . . . . . . . . . . . . 93 Annika Weinert
Praxistheorie Der Libeskind-Bau der Leuphana Universität Lüneburg. Zum Zusammenspiel von sozialem und materialem Raum.. . . 107 Ulf Wuggenig und Anna Henkel
Autorinnen und Autoren.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
10 Minuten Soziologie: Materialität Einleitung Anna Henkel Das Programm der Soziologie ist: das Soziale zu verstehen und zu erklären. Seitdem Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts das wissenschaftliche Betätigungsfeld der Soziologie in etwa dieser Weise bestimmte (vgl. etwa Weber [1922] 1988, S. 536), hat sich das, was Soziologie ist und tut, erheblich weiterentwickelt. Schon zu Webers Zeiten war der Anspruch eines ›Verstehens und Erklärens‹ des Sozialen mehr ein programmatischer Aufruf, denn die Synthese eines einheitlichen disziplinären Forschungsprogramms. Bei Émile Durkheim ([1895] 1961) und Georg Simmel (1992), um nur zwei zu nennen, finden sich bereits zu Webers Lebzeiten theoretisch und analytisch starke Gegenentwürfe zum Programm der Soziologie. Mit der sinnverstehenden Phänomenologie (vgl. Schütz 2004), der Rational Choice-Theorie (vgl. Esser 1996), der Kritischen Theorie der Soziologie oder synthetisierenden Herangehensweisen wie der Praxistheorie vervielfältigen sich die Ansätze und theoretischen Perspektiven soziologischen Denkens. Dasselbe gilt für die soziologisch behandelten Themen: Betrachtet man allein die Liste der in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie vertretenen Sektionen und Arbeitsgemeinschaften und wirft dann vielleicht noch einen Blick auf das Programm eines nationalen oder internationalen Soziologiekongresses, so wird deutlich, wie thematisch mannigfaltig die Soziologie unterdessen ist. Die kleine Reihe »10 Minuten Soziologie« sieht diese Vielfalt als Stärke. Die moderne Gesellschaft, die sich durch Individualisierung, Arbeitsteilung, funktionale Differenzierung, Bürokra7
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tisierung und nicht zuletzt eine Pluralität von Möglichkeiten, Einschränkungen und Rückkopplungsverhältnissen auszeichnet, hat, wie es Niklas Luhmann ausdrückt, keinen Archimedischen Punkt (Luhmann 1987) – also keine Beobachtungsperspektive, von der aus das Soziale ›von außen‹ oder ›objektiv‹ beobachtbar wäre. Als inoffizieller Gründungsvater einer Soziologie ohne archimedischen Punkt avant la lettre bemerkt Friedrich Nietzsche: »Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? Die scheinbare vielleicht?… Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!« (Nietzsche [1888] 1985, S. 30) Die Soziologie trägt diesem Umstand der modernen Gesellschaft als einer Welt ohne letzte Wahrheit, ohne objektiven Standpunkt, Rechnung – indem sie sich weder von der Welt abkehrt, noch in einem kontrafaktischen Duktus letzte Wahrheiten proklamiert. Stattdessen bietet die Soziologie gerade in ihrer eigenen Vielfalt Beobachtungsmöglichkeiten an, die es erlauben: zu erklären und zu verstehen. Nicht die einzig richtige Erklärung oder das letzte Verstehen ist dabei das Ziel. Vielmehr geht es darum, implizite Prämissen sozialer Anrufungen aufzudecken und auf diese Weise deren Gewordenheit, deren Machtabhängigkeit und deren Kontingenz aufzuweisen – und zugleich durch die Explikation der eigenen theoretischen Prämissen und methodischen Vorgehensweisen Möglichkeiten aufzuzeigen, soziale Tatsachen anders zu sehen, zu hinterfragen und auf dieser Grundlage vielleicht zu verändern. Beides, das Aufdecken impliziter Annahmen und das Andie-Hand-Geben explizierter analytischer Vorgehensweisen, mag helfen, sich in der modernen Gesellschaft mit all ihrer Komplexität besser zurechtzufinden. Dies gibt keine letzte Sicherheit, wohl aber Wege der Orientierung und Selbstverortung. Die Reihe »10 Minuten Soziologie« verweist mit ihrem programmatischen Titel darauf, dass ein kurzes Innehalten – und seien es nur 10 Minuten – den Blick auf Situationen des Alltags, auf 8
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Routinen oder auch auf scheinbar unentrinnbare gesellschaftliche Zwänge verändern kann. Die »10 Minuten Soziologie« stehen dafür, die eigene Handlungsroutine zu unterbrechen, einen Schritt zurückzutreten, eine Konstellation aus veränderter Perspektive neu zu betrachten und dann in diese Handlungsroutine wieder zurückzukehren – vielleicht nachdenklich, vielleicht erfrischt, vielleicht ermutigt. Dieser erste Band der Reihe »10 Minuten Soziologie« macht hierfür einen Aufschlag: ›Verstehen und Erklären‹ als reflektiertes Benutzen von Konzepten zum – vielleicht: überraschenden – Aufschlüsseln und Neubetrachten scheinbar bekannter und alltäglicher sozialer Tatsachen ist Anliegen der hier versammelten Beiträge. Im Mittelpunkt steht dabei die analytische Denkbewegung, also ein theoretisches Konzept auf einen empirischen Gegenstand zu beziehen und diesen damit neu zu verstehen und zu erklären. Der Band hat insoweit einen exemplarischen Charakter. Zwar werden unterschiedliche theoretische Ansätze in den verschiedenen Beiträgen verwendet, doch wird es hier nicht darum gehen, alle soziologischen Konzepte (nicht einmal eine – notwendig kontingent – begründete Auswahl) vorzuführen und deren Stärken sowie Schwächen zu vergleichen. Zwar werden unterschiedliche Dimensionen des Themenfelds Materialität behandelt, doch wird es hier nicht darum gehen, alle ihre Facetten oder Spielarten (und sei es überblicksartig) zusammenzuführen. Die Vielfalt bleibt exemplarisch und mag in all ihrer Unabgeschlossenheit das ›Verstehen und Erklären‹ als spielerisches Denkprinzip der Welterschließung nahelegen. Die thematische Klammer der einzelnen Vorlesungen und damit auch der einzelnen Vorlesungsbände überkreuzen absichtlich klassische Begriffe und Themenfelder der Soziologie. Gegenstände der »10 Minuten Soziologie« sind also nicht etwa ›Struktur‹, ›Handlung‹ oder ›Kommunikation‹ als grundlegende konzeptuelle Themen der Soziologie, anhand derer Theoriever9
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gleiche sich anbieten und vielfach durchgeführt wurden. Es sind auch nicht ›Familie‹, ›Wirtschaft‹ oder ›Kultur‹ als etablierte, in eigenen Sektionen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie eingerichtete, thematische Felder. Vielmehr sollen Gegenstände der Reihe solche sein, die sowohl theoretische Ansätze, als auch thematische Felder berühren, aber nicht in ihnen aufgehen. ›Materialität‹, ›Fakten‹, ›Bewegung‹, vielleicht auch ›Dank‹ oder ›Abenteuer‹, sind in diesem Sinne Themen, an denen sich ein soziologischer Blick(-wechsel) erkenntnisgewinnbringend zu üben verspricht. Der hier vorliegende erste Band wählt als Gegenstand ›Materialität‹ und damit bewusst den Gegenbegriff zum ›Sozialen‹ als erklärtem Forschungsgegenstand der Soziologie. In diesem antithetischen Charakter hat Materialität als Gegenstand der Soziologie eine gewisse und ihrerseits umkämpfte Tradition. Nicht nur bei Karl Marx, sondern auch bei Durkheim und Weber (trotz anders lautender Definitionsversuche) explizit noch thematisch, rückt soziologische Auseinandersetzung mit Materialität im Laufe des 20. Jahrhunderts zunächst in den Hintergrund. Materialität ist weithin, um mit Michel Serres zu sprechen, das »eingeschlossene ausgeschlossene Dritte« (Serres 1987; Henkel 2014). Seit den 1980er Jahren – und also vielleicht nicht zufällig parallel zu einer öffentlichen Wahrnehmung von ökologischer Selbstgefährdung der Gesellschaft – gewinnt Materialität in der Soziologie neue Aufmerksamkeit: thematisch, wie theoretisch. In der Techniksoziologie, der Wissenschaftsforschung, der Konsumsoziologie, der Architektursoziologie und nicht zuletzt in einer Soziologie des Alltags gewinnen Dinge, Artefakte, Stoffe und Texturen eine neue Beachtung. Zugleich entwickeln einerseits bestehende soziologische Theorien Möglichkeiten der konzeptionellen Integration von Materialität – von der Phänomenologie über die Systemtheorie bis hin zur Rational ChoiceTheorie, um nur einige zu nennen (als Überblick vgl. Henkel und 10
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Lindemann 2017); es entstehen andererseits neuartige, mehr oder weniger sich als soziologisch verstehende Theorieansätze von der Praxistheorie bis hin zur Actor-Network Theory und dem Critical Realism (als Überblick vgl. Reckwitz 2003; Lindner und Mader 2017). Im antithetischen Verhältnis zum Sozialen und ihrer entsprechend heterogenen soziologischen Behandlung ist ›Materialität‹ als erster Gegenstand der »10 Minuten Soziologie« insofern besonders geeignet. Die folgenden Beiträge thematisieren unterschiedliche empirische Themen, vom Naturjoghurt bis zum Weltraum, von der Plastiktüte bis zum wissenschaftlichen Vortrag – und sie beziehen sich dabei auf ebenso unterschiedliche soziologische Perspektiven, von der Systemtheorie bis zum Critical Realism, von der Theorie der Resonanz bis zur Praxistheorie. Das Natur-Kultur-Verhältnis im Anthropozän behandelt Henning Laux am Beispiel der Kunststofftüte: »Actor-Network Theory I: Biografie einer Kunststofftüte. Soziologische Beobachtungen zum Verhältnis von Natur und Kultur im Anthropozän«. Mit der Actor-Network Theory nimmt Laux die Handlungsbeiträge von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen in der Erklärung sozialer Ereignisse und Entwicklungsdynamik gemeinsam in den Blick. Gianna Behrendt behandelt »Soziologie der Resonanz: Der Naturjoghurt. Transzendenz und Antwortqualität der materiellen Welt«. Der Joghurt, der womöglich im heimischen Kühlschrank steht, ist Produkt einer industriellen Landwirtschaft und Ergebnis wissenschaftlich-technisch überwachter Herstellung von Joghurtkulturen. Was also ist angesichts dessen beim Naturjoghurt als ›Natur‹ zu verstehen? Mit Bezug auf Hartmut Rosas Theorie der Resonanz entfaltet Behrendt die Paradoxie, die in dieser sozialen Materialität liegt. Günter Burkart bringt unter dem Titel »Actor-Network Theory II: Soziologie der Alltagstechnik: Über Transponder und andere 11
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Türöffner. Kann ein Schlüssel intelligent handeln?« eine in der Soziologie der Alltagsdinge unterdessen klassische und von Bruno Latour prominent gemachte Materialität neu reflektierend in die Diskussion. Während bei Latour mit dem Berliner Schlüssel eine gewissermaßen ›preußische‹ Materialität verhandelt wird, fragt Burkart, ob unter Bedingungen komplexerer Handlungsketten und Digitalisierung von einem intelligenten Handeln der Dinge die Rede sein kann, wobei er vor allem auf Luhmanns Kommunikationstheorie zurückgreift. Ebenfalls mit Rekurs auf Luhmann verhandelt Nikolai Drews einen gänzlich andersgearteten Gegenstand, indem er »Systemtheorie I: Soziologen im Weltraum. Die Materialität der Gesellschaft im leeren Raum« in den Blick nimmt. Die Unterscheidungstheorie, die Luhmann unter Bezug auf George Spencer Brown entwickelt, nutzt Drews, um mit Luhmann das Verhältnis von Materialität und Gesellschaft am scheinbar kontraintuitiven Gegenstand des Weltraums zu untersuchen. Die Gesellschaft ohne besagten archimedischen Punkt begegnet hier gewissermaßen ihrer eigenen Materialität. Die sogenannten cyber-physischen Systeme sind Ausgangspunkt der Überlegungen »Critical Realism: Arbeit. Zur Verselbständigung des Sozialen am Beispiel der Industrie 4.0« von Dimitri Mader. Die Perspektive des Critical Realism erlaubt die These, dass aus der Verbindung von Vermarktlichung der Unternehmenssteuerung mit flexiblen und selbstlernenden Algorithmen nichtintendierte Handlungseffekte zweiter Ordnung entstehen. Soziale Konstruktionen sind demnach nur eine Existenzweise des Sozialen – Emergenz und Vergegenständlichung zwei weitere, wie am Fall der Industrie 4.0 deutlich wird. Anna Henkel diskutiert »Systemtheorie II – Funktionale Analyse: Terra. Boden, Fläche, Pflanzenernährung in der funktional differenzierten Gesellschaft«. Unter Rückgriff auf die historischsemantische Analyse wird deutlich, wie es im Übergang zur mo12
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dernen Gesellschaft zu einer Veränderung des gesellschaftlichen Materialitätszugriffs kommt. An die Stelle einer vor allem über Wahrnehmungskategorien orientierten Interpretation tritt in der Verbindung von Standardisierung, Regulierung und Vermarktung ein verdinglichter Materialitätszugriff. Annika Weinert diskutiert »Science and Technology Studies: Zur Materialität des wissenschaftlichen Vortrags«. Der wissenschaftliche Vortrag wird hier aus der Perspektive der Science and Technology Studies untersucht. Das Konzept der literarischen Inskriptionen erlaubt, die Black Box des wissenschaftlichen Vortrags zu öffnen und seine unsichtbare Materialität sichtbar zu machen. Mit der Praxistheorie Bourdieus nehmen sich Ulf Wuggenig und Anna Henkel einer an der Leuphana Universität Lüneburg im Sommersemester 2017 naheliegenden Materialität, nämlich des im März eröffneten neuen Zentralgebäudes von Daniel Libeskind an: »Praxistheorie: Der Libeskind-Bau der Leuphana Universität Lüneburg. Zum Zusammenspiel von sozialem und materialem Raum«. Es wird diskutiert, wie sozialer und materialer Raum durch die Antithese zwischen ehemaligem KasernenCampus und Zentralgebäude potenziell neu verhandelt werden.
Literatur Durkheim, Émile ([1895] 1961): Regeln der soziologischen Methode. Neuwied am Rhein: Luchterhand. Esser, H. (1996): Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt a.M./New York: Campus. Foucault, Michel ([1975] 1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1990): Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris: Gallimard. DOI: https://doi. org/10.14375/NP.9782070293353
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10 Minuten Soziologie: Materialität Henkel, Anna (2014): »Disziplinäre Perspektiven – Soziologie«. In: Stefanie Samida/Manfred Eggert/Hans Peter Hahn (Hg.). Handbuch Materielle Kultur: Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, S. 342-349. Henkel, Anna/Lindemann, Gesa (2017): Struktur – Institution – Regelmäßigkeit: Welche Konsequenzen hat die Einbeziehung von Materialität für die Beobachtung »des Sozialen«? Soziale Welt Sonderheft (im Erscheinen). Lindner, Urs/Mader, Dimitri (2017): Critical Realism meets kritische Sozialtheorie. Ontologie, Erklärung und Kritik in den Sozialwissenschaften. Bielefeld: transcript. Luhmann, Niklas (1987): Archimedes und wir. Interviews. Herausgegeben von Dirk Baecker und Georg Stanitzek. Berlin: Merve. Marx, Karl (1989): Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation. In: Ders. (Hg.). Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), Abteilung 2, Bd. 8. Berlin: Dietz, S. 667-713. Nietzsche, Friedrich ([1888] 1985): Götzendämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophiert. Frankfurt a.M.: Insel. Reckwitz, Andreas (2003): »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«. In: Zeitschrift für Soziologie 32, 4. Berlin: De Gruyter, S. 282-301. Schütz, Alfred (2004): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Konstanz: UVK. Serres, Michel (1987): Der Parasit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Simmel, Georg (1992): Das Problem der Soziologie. In: Ders. (Hg.). Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 13-62. Weber, Max ([1922] 1988): »Der Sinn der ›Wertfreiheit‹ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften«. In: Johannes Winkelmann (Hg.). Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr, S. 489-540.
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Einleitung Weber, Max (1972): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Ders. (Hg.). Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Tübingen: Mohr, S. 17-206.
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Actor-Network Theory I Biografie einer Kunststofftüte. Soziologische Beobachtungen zum Verhältnis von Natur und Kultur im Anthropozän Henning Laux
Problemstellung Der Mensch avanciert im 20. Jahrhundert zum bestimmenden Faktor bei der biophysischen Veränderung des Planeten Erde. Das Holozän, das mehr als 11.000 Jahre andauerte, wird durch ein neues Erdzeitalter ersetzt, das sogenannte Anthropozän. So lautet jedenfalls die These, die von dem niederländischen Atmosphärenchemiker Paul Crutzen (2002) in jüngster Zeit formuliert wurde. Der Begriff des ›Erdzeitalters‹ ist dabei durchaus wörtlich zu nehmen, denn der Einfluss des Menschen wird an den materiellen Spuren gemessen, die er durch Monokulturen, Kunstdünger, Flugasche, Plastik oder die industrielle Entnahme von Gas, Öl und Kohle im Erdboden hinterlässt. Während die Internationale Kommission für Stratographie seit über einem Jahrzehnt prüft, ob Crutzens Berechnungen zutreffen, hat die Botschaft vom Anthropozän das naturwissenschaftliche Sprachspiel längst verlassen. ›Die Erdatmosphäre erwärmt sich und der Mensch trägt die Verantwortung dafür‹ – diese Deutung findet in den Öffentlichkeiten der Spätmoderne zunehmend Verbreitung. »Willkommen im Anthropozän!« lautet z.B. der Titel einer vielbesuchten Sonderausstellung, die von Dezember 2014 bis September 2016 im Deutschen Museum in Berlin stattfand. In der kollektiven Wahrnehmung erscheint der Planet nicht länger als selbstverständliche Gegebenheit, sondern als gefährdet 17
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und mitunter sogar gefährlich. Entwicklungen wie die Zunahme von Extremwetterereignissen, die Verringerung der Biodiversität, der Anstieg der Meeresspiegel oder das Abschmelzen der Gletscher schärfen das Bewusstsein für den Eintritt in eine »Weltrisikogesellschaft« (Beck 2007). Angesichts der drohenden Gefahren sprechen einige Beobachter sogar von der »Rache Gaias« (Latour 2017; Lovelock 2006; Margulis 1998) und warnen mit dieser mythologischen Denkfigur vor planetarischen Rückkopplungsschleifen, die in Zukunft zur Auslöschung des irdischen Lebens führen könnten. In der Soziologie herrschte lange Zeit der eher unausgesprochene Konsens, dass elementare Kategorien wie Erde, Wasser, Luft und Energie nicht als sozial bedeutsame Phänomene zu betrachten sind. Die Erforschung der biophysischen Welt wurde daher bereitwillig anderen Wissenschaften überlassen. Die damit begründete und weithin akzeptierte Aufgabenteilung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften hat dazu geführt, dass auch die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Natur und Gesellschaft aus dem Blickfeld geraten sind. Dieser blinde Fleck erweist sich aus heutiger Sicht als Problem, denn die Hybridisierung hat ökologische Dynamiken in Gang gesetzt, die von Klimaforschern seit einigen Jahren als existenzielle Bedrohung der Menschheit und ihrer sozialen Ordnung eingestuft werden. Die damit einhergehenden Probleme bleiben für die Länder des globalen Nordens bislang freilich weitgehend abstrakt, der Klimawandel erscheint im Lebensalltag als marginalisiertes »Hinterkopfproblem« (Giddens 2009), das zum kollektiven Wissensvorrat gehört, aber nicht handlungswirksam wird, weil die Menschen zukünftige Chancen und Risiken diskontieren und damit geringer einschätzen als sie tatsächlich sind. Aufgrund der abstrakten Bedrohungslage ist es kaum verwunderlich, dass sich die Politik trotz der immer düsterer werdenden Szenarien der Klimaforschung in der Vergangenheit nicht auf 18
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ein gemeinsames Vorgehen verständigen konnte. Erst mit dem Klimaschutzabkommen von Paris 2015 rückt die Überwindung des Dilemmas »organisierter Unverantwortlichkeit« (Beck 1988) in greifbare Nähe. Denn auch wenn die USA als zweitgrößter Emittent von Treibhausgasen die vertraglich eingegangenen Verpflichtungen unter der Regie von Donald Trump nicht mehr einhalten wollen, so besteht durch das Vertragswerk nach Einschätzung vieler Beobachter zum ersten Mal eine realistische Chance zur Bewältigung der ökologischen Krise. Im Kampf gegen den Klimawandel ist die Politik in den kommenden Jahren jedoch nicht nur auf naturwissenschaftliches Wissen über die Gesetzmäßigkeiten der biophysischen Natur angewiesen, sondern auch auf sozialwissenschaftliche Forschung zur Entwicklung gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Der folgende Text nähert sich den aktuellen Diskussionen zum Anthropozän über einen konkreten Fall, um auf diese Weise aus einer soziologischen Perspektive heraus die Herausforderungen zu veranschaulichen, die sich durch die Amalgamierung von Natur, Technik und Gesellschaft in der Gegenwart ergeben. Entlang der Bewegung einer Plastiktüte durch verschiedene Arenen der modernen Welt treten zentrale Charakteristika der gesellschaftlichen Naturverhältnisse hervor. Die Analyse vollzieht sich vor dem Hintergrund methodologischer Prinzipien und empirisch erprobter Konzepte, die in den letzten Jahrzehnten im Rahmen der Akteur-Netzwerk-Theorie erarbeitet wurden (vgl. insbes. Callon 2006, Latour 1991, Latour [2005] 2007). Demnach verliert die Trennung zwischen sozialen und materiellen Welten aufgrund von wissenschaftlich beförderten Hybridisierungsprozessen in der Gegenwart ihre Orientierungskraft. Die ANT empfiehlt daher symmetrische Studien, bei denen die Handlungsbeiträge von menschlichen und nichtmenschlichen Wesen gleichermaßen in den Blick genommen werden, um soziale
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Ereignisse und Entwicklungsdynamiken zu erklären (vgl. dazu auch Laux 2017).
Die Vergesellschaftung der Plastiktüte und die Plastifizierung der Natur Im Zentrum dieser schlaglichtartigen Fallstudie steht die Rekonstruktion des ›Lebenslaufs‹ konventioneller Plastiktüten. Dabei geht es um ihre sozialen Entstehungsbedingungen, materiellen Metamorphosen und biophysischen Effekte. Die erkenntnisleitende Prämisse lautet, dass an diesem konkreten Fall die Verschränkung von Natur und Gesellschaft exemplarisch aufgezeigt werden kann. Dazu werden zentrale Arenen beleuchtet, welche die Kunststofftüten bei ihrer Zirkulation im Anthropozän durchlaufen. Die Geschichte der Kunststoffbeutel beginnt Ende des 19. Jahrhunderts in einem Labor. Plastiktüten bestehen in aller Regel aus dem Kunststoff ›Polyethylen‹ (PE). Diese Substanz wird erstmals durch den deutschen Chemiker Hans von Pechmann (1898) produziert. Das Herstellungsverfahren wird im Laufe der Jahrzehnte perfektioniert, unverändert geblieben ist jedoch die materielle Grundlage. Der Kunststoff entsteht durch die Destillation und Spaltung von Erdöl bei extrem hohen Temperaturen. Durch die technische Veränderung des Öls wird eine Substanz in die Welt gebracht, die sich durch verschiedene Besonderheiten auszeichnet. Dazu gehören die extreme Dehnbarkeit, wachsartige Formbarkeit, starke Säureresistenz, hohe Wasserbeständigkeit und Schlagfestigkeit sowie das gute Gleitverhalten des Materials. Für die Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen symbolischer und materieller Welt ist aber vor allem interessant, dass der Kunststoff biologisch kaum abbaubar ist. PE ist aufgrund seiner Langlebigkeit eine Innovation, die weitreichende Effekte auf Natur und Gesellschaft haben kann. PE entwickelt
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sich im 20. Jahrhundert außerdem zu dem am häufigsten verwendeten Material der Welt. Die nahezu flächendeckende Ausbreitung des PE in den verschiedenen Sphären der modernen Gesellschaft vollzieht sich freilich erst mit dem Eintritt in die Industriefabrik. Im Jahr 1944 startet die General Bakelite Company im US-Bundesstaat Texas mit der kommerziellen Massenfertigung (vgl. Reiche 1949). Ausgehend von dieser Produktionsstätte breitet sich der Stoff über den gesamten Planeten aus. Dabei nimmt der Kunststoff die unterschiedlichsten Formen an. PE lässt sich nämlich je nach Druckverfahren und Temperaturzufuhr nicht nur zur Herstellung von ›harten‹ Flaschen und Rohren, sondern auch zur Produktion von ›weichen‹ Folien und Verpackungen einsetzen. Aufgrund dieser immensen Vielseitigkeit erfährt der Stoff seit der Nachkriegszeit eine hohe Nachfrage. Zum vermutlich wichtigsten Produkt entwickelt sich dabei die Plastiktüte, denn in dieser besonderen Form gelangt der Kunststoff in den weltweiten Handel und wird dort schnell zum unverzichtbaren Utensil. In Deutschland gibt das Kaufhaus Horton im Jahr 1961 erstmals Plastiktüten aus. Aus Sicht des Einzelhandels ist diese Lösung aus drei Gründen attraktiv: Dehnbare Tüten gehen mit einem komfortableren Einkaufserlebnis einher. Die lokale Bereitstellung und Verfügbarkeit der Tüten erleichtert Spontankäufe und verspricht höhere Umsätze. Und durch aufgedruckte Botschaften kann der Kunde zum kostenlosen Werbeträger für das jeweilige Unternehmen gemacht werden. Auch die Reaktion der Konsumenten fällt äußerst positiv aus, die Tüten landen bald in sämtlichen Haushalten und werden dort für die unterschiedlichsten Zwecke eingesetzt. Neben ihrer genuinen Funktion als Einkaufstüten dienen sie in der Praxis unter anderem als Müllbeutel, zur Aufbewahrung schmutziger Wäsche, zur Lagerung von Gegenständen im Keller, als Frostschutz für Pflanzen, als Regenschutz für Fahrradsitze oder als Bastelmaterial für Kin21
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der. Laut dem Umweltbundesamt in Dessau verbrauchen die Deutschen pro Kopf im Durchschnitt cirka 70 Plastiktüten. In der Europäischen Union sind es sogar 198 Tüten (vgl. Umweltbundesamt 2013). Auch die praktischste, stabilste und langlebigste Plastiktüte ist jedoch irgendwann zerstört, verschmutzt oder überflüssig geworden. Sie wird folglich nicht weiter benutzt und irgendwann ausrangiert. Cirka 60 Prozent dieser heimatlosen Tüten landen im Müll, wo sie recycelt oder verbrannt werden. Von den verbleibenden 40 Prozent landet ein großer Teil in der Natur und gelangt über Bäche und Flüsse ins Meer. Dort sinkt das Plastik auf den Meeresboden, schwimmt an der Wasseroberfläche oder wird an die Strände bewohnter wie unbewohnter Inseln gespült. In den Ozeanen haben sich aufgrund dieser Entwicklung riesige Abfallstrudel gebildet. Der ›Great Pacific Garbage Patch‹ im Nordpazifik erreicht mit einer geschätzten Fläche von einer Million Quadratkilometer sogar die Größe von Zentraleuropa. Darin schwimmen nicht nur Plastiktüten, sondern auch Flaschen, Eimer, Zahnbürsten oder Feuerzeuge. Cirka 75 Prozent des im Meer dahintreibenden Mülls besteht aus Plastik (vgl. Derraik 2002). Dort ist die Reise des PE durch die Arenen der Moderne freilich noch nicht beendet, denn der Kunststoff verbleibt nicht im Wasser, sondern landet in vielen Fällen in den Körpern der Meerestiere (vgl. Lusher et al. 2013). Aufgrund der Materialbeständigkeit von PE zählen das Steckenbleiben von Meeresbewohnern in Plastikmüll sowie das Verschlucken, mit dem Risiko des Erstickens oder Verhungerns, zu den gravierendsten Problemen. Immer wieder werden tote Wale gefunden, die verhungern, weil ihre Mägen voller Netze und Plastiktüten sind, die sich nicht verdauen lassen. Auch kleine Fische und Seevögel sterben jedes Jahr zu Tausenden durch die Aufnahme von Plastik. Von dieser Entwicklung bleibt schließlich auch der Mensch nicht verschont. Denn das PE zerfällt über einen Zeitraum von etwa 400 Jahren 22
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in immer kleinere, feste Partikel, die oftmals kleiner als fünf Millimeter sind, die Giftstoffe aus dem Meer anziehen und von den Meerestieren aufgenommen werden (vgl. Fabres et al. 2016). Dieses Mikroplastik landet über belastetes Trinkwasser sowie über die Nahrungskette und den Verzehr im menschlichen Organismus. Die Risiken, die sich durch die Aufnahme von Mikroplastik ergeben, sind aufgrund fehlender Langzeitstudien bislang kaum erforscht, Gesundheitsorganisationen hegen jedoch den dringenden Verdacht, dass durch die Einwanderung der Partikel in den Organismus lebensgefährliche Erkrankungen entstehen können. Die massiven Gefährdungen, die durch PE für die Lebewesen auf dem Planeten Erde entstehen, werden durch Umweltschutzorganisationen wie den BUND (2012) oder Greenpeace (2016) immer wieder im Rahmen öffentlichkeitswirksamer Aktionen und Kampagnen deutlich gemacht. Unter dem Druck der Zivilgesellschaft haben sich daher in jüngster Zeit auch die politischen Regierungen und Parlamente diesem Problem zugewandt. So hat das EU-Parlament im April 2015 die Verpackungsrichtlinie 94/62/EG zur Verringerung von Kunststofftüten erlassen. Darin wird als Zielgröße ein jährlicher Pro-Kopf-Verbrauch von 40 Plastiktüten bis zum Jahr 2025 definiert. Es bleibt allerdings den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen, wie sie diese ambitionierte Vorgabe erreichen. In Deutschland hat sich das Umweltministerium mit dem Handelsverband auf eine freiwillige Selbstverpflichtung verständigt, nach der die Plastiktüten fortan nur noch kostenpflichtig abgegeben werden sollen. Durch diese monetäre Belastung soll die Nutzenfunktion der Verbraucher so verändert werden, dass sie ihr Verhalten ändern und auf die Tüten verzichten. Die Regelung ist im Juli 2016 in Kraft getreten und zeigt laut Angaben des Verbandes bereits Wirkung. Demzufolge konnte die Herausgabe von Kunststofftaschen
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gemäß einer ersten Zwischenbilanz des Einzelhandels um ein Drittel gedrosselt werden (vgl. Deutscher Handelsverband 2017).
Zurück im Laboratorium der Moderne Der Weg des Polyethylens durch die Arenen der modernen Welt ist mit den politischen Regulierungsversuchen der Gegenwart freilich noch nicht zu Ende. Um die mit dem PE in die Welt gebrachten Probleme zu lösen, führt die Biografie der Plastiktüte nämlich zurück in die Welt des wissenschaftlichen Labors, also dorthin, wo die hier skizzierte Hybridisierungsgeschichte im Jahr 1898 begann. Dieses Mal ist es jedoch nicht die experimentelle Versuchsanordnung eines Chemikers, die das Kollektiv um die Potenziale und Risiken einer neuartigen Substanz erweitert, sondern es sind Biologen, die mit einer spektakulären Entdeckung den skizzierten Plastik-Kreislauf in Zukunft verändern (könnten). Diese Möglichkeit verdankt sich einem Zufall: Eine Forscherin aus der nordspanischen Stadt Santander stellt bei der Beseitigung von kleinen Raupen aus ihrem privaten Bienenstock fest, dass die Schädlinge nicht in Plastiktüten entsorgt werden können, weil sie dazu in der Lage sind, Löcher in die Beutel zu fressen. Im universitären Labor bestätigt sich die erstaunliche Beobachtung der Wissenschaftlerin: Die Raupe der Wachsmotte frisst Polyethylen – und das in einem bislang ungekannten Tempo und ohne erkennbare Verdauungsprobleme. Die Tragweite dieser Beobachtung ist enorm; die Raupen weisen aufgrund ihrer ungewöhnlichen Lieblingsspeise einen möglichen Weg zur Lösung des globalen Müllproblems. Im nächsten Untersuchungsschritt wollen die Forscher daher durch die Sezierung der kleinen Insekten jenes Molekül bzw. Enzym isolieren, das der Raupe die Absorption von PE ermöglicht (vgl. Bertocchini et al. 2017). Sollten sie Erfolg damit haben, so könnte die neue Substanz tatsächlich zur aktiven Tilgung der spätmodernen Müllberge und Müllstrudel eingesetzt werden. Über 24
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die möglichen Nebenfolgen, die sich durch die künstliche Verbreitung eines plastikfressenden Enzyms für das Erdsystem ergeben könnten, ist freilich noch nichts bekannt. Sicher scheint bislang nur, dass durch ein derartiges Realexperiment die Amalgamierung von Natur und Gesellschaft ein völlig neues Level erreichen würde. Trotz wissenschaftlicher Entdeckungen und politischer Regulierungsbemühungen wird der Plastikmüll in den kommenden Jahrzehnten sicherlich ein weltweites Problem bleiben, zu dem die beliebten Tragetaschen einen wesentlichen Beitrag leisten. Die damit einhergehenden Schäden sind keine Umweltschäden, denn die Effekte der Plastifizierung richten sich aufgrund der engen Kopplung zwischen Mensch und Natur letztlich auch gegen den menschlichen Organismus und erzwingen damit eine Veränderung gesellschaftlicher Praktiken. Der Weg zurück zur unversehrten Natur bleibt freilich versperrt, die Menschheit hat irreversible Spuren hinterlassen. Das PE, das in der kapitalistischen Ökonomie akkumuliert wird, lässt sich nicht mehr aus der Umwelt entfernen. Es muss daher damit gerechnet werden, dass der Plastikanteil in den Körpern und Umwelten der modernen Gesellschaft in den kommenden Jahren weiter anwachsen wird. Um dies zu verhindern, erscheint die Freisetzung eines plastikfressenden Enzyms durchaus attraktiv. Doch die gesellschaftlichen Nebenwirkungen, die sich aus der Ingangsetzung der irreversiblen Hybridisierungsspirale ergeben können, sind ähnlich wie bei der Vergesellschaftung des PE im 19. Jahrhundert vollkommen unkalkulierbar. Der hier rekonstruierte Lebenslauf von konventionellen Plastiktüten ist mit seinen Chancen und Risiken keineswegs ein Einzelfall. In den wissenschaftlichen Laboren, technischen Werkhallen und industriellen Baugruben der Gegenwart kommt es tagtäglich zur Vergesellschaftung neuer Entitäten, welche die Grenze zwischen Natur und Kultur überschreiten. Dadurch 25
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avanciert der Mensch zu einem wesentlichen Faktor bei der Veränderung des Planeten. Das Schicksal der Plastiktüte sollte exemplarisch verdeutlichen, wie soziomaterielle Mischwesen durch die verschiedenen Arenen der Moderne zirkulieren und dabei die gesellschaftlichen Umweltverhältnisse massiv verändern. Ein Ende der Hybridisierung ist derzeit kaum abzusehen, das Zeitalter des Anthropozäns hat aus Sicht der Soziologie gerade erst begonnen.
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Soziologie der Resonanz Der Naturjoghurt. Transzendenz und Antwortqualität der materiellen Welt Gianna Behrendt Was macht das Phänomen Naturjoghurt zum Gegenstand des soziologischen Interesses? Obgleich er ein Erzeugnis tierischen Ursprungs ist, lässt sich der Naturjoghurt, angesichts eines von regulierten und wissensbasierten Vorgängen wie Zucht und technischer Gestaltung durchzogenen Herstellungsprozesses, gemeinhin als Kulturprodukt kategorisieren. Säuerung und Dicklegung pasteurisierter Kuhmilch sind hierfür die wesentlichen Prozesse. In der industriellen Landwirtschaft wird Milch in der Regel einer entsprechend gezüchteten Kuh abgerungen, womöglich unter Zuhilfenahme einer eigens dem Rhythmus der Kuh und dem Zustand ihres Euters angepassten Melkmaschine. Im Zuge der darauffolgenden Verarbeitungsschritte wird die Kuhmilch durch ein kurzzeitiges Erhitzen pasteurisiert und gegebenenfalls auch homogenisiert. Entscheidend für die Herstellung des Joghurts ist sodann deren ›Impfung‹ mit einer Joghurtkultur. Joghurtkulturen bestehen vor allem aus Milchsäurebakterien, also aus Lactobazillen, mitunter werden auch bestimmte Streptokokkenstämme eingesetzt (vgl. Müller 1975, S. 59-61). Diese Mikroorganismen haben sich für die Verwendung in der Lebensmittelherstellung bewährt und werden somit zu diesem Zwecke gezüchtet, d. h. zunächst identifiziert, isoliert und nach Leistungskriterien selektiert. Verbleibt die Kuhmilch nun über einen ausreichenden Zeitraum in einem dem Wachstum dieser Bakterienstämme entsprechenden Temperaturspektrum, fermentiert sie letztendlich und wird zu Joghurt. 29
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Führt man sich den derart regulierten und standardisierten Prozess vor Augen, ist es verwunderlich, dass dieses Lebensmittelerzeugnis mit dem Zusatz ›Natur‹ attribuiert wird. Es sind solche Formulierungen, die den Naturjoghurt soziologisch interessant machen, deuten sie doch auf kulturell wirksame Vorstellungen einer Natur hin, die stellvertretend für eine als transzendente und antwortende Welt erzählt wird – so die hier vorgetragene These. Was also ist am Naturjoghurt Natur und was ist damit gemeint? Im Folgenden wird das alltägliche Verständnis der Natur des Naturjoghurts theoretisch reflektiert, um schließlich darin enthaltene Hinweise auf ein Naturempfinden der umgreifenden Welt sowie auf deren stellvertretende, materielle Einverleibung zu überprüfen.
Natur als Alltagstheorie Im Gegensatz zu dem mit weiteren Zusätzen wie Zucker oder Obstbestandteilen versehenen Joghurt bezeichnet der Ausdruck ›Natur‹ im Falle des Naturjoghurts eine Vorstellung von ›Naturbelassenheit‹ – ein der Natur entsprechend belassenes Kulturerzeugnis also? Äquivalent hierzu meint die Bezeichnung ›naturtrüber‹ Apfelsaft den der Natur entsprechend trüben Saft. Weder Joghurt noch Saft jedoch sind natürliche Rohstoffe, auch wenn sie scheinbar in einer sprachlich als ›naturbelassen‹ charakterisierten Form auftauchen. Indem Naturbelassenheit hier das Auslassen eines letzten, formverändernden Verarbeitungsschrittes meint, steht die semantische Kategorie von ›Natur‹ in diesen Ausdrücken offenbar für etwas, das einem gewissen Maße des künstlichen Eingriffs vorgängig ist. Dass der Natur hier alltagssprachlich ein Attribut der Reinheit und Ursprünglichkeit zugeschrieben wird, mag kaum überraschen, taucht dieses Motiv doch in sämtlichen kulturpraktischen Ausdrücken der Gegenwart auf, die etwas als natürlich und deshalb im Ursprung rein, balanciert, intrinsisch gut und geradezu moralisch 30
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überlegen beschreiben (vgl. Birnbacher 2006). Hiervon zeugt nicht zuletzt der ökologische Gedanke, zu einer uranfänglichen Balance der Natur zurückkehren zu können, die nur durch das Eindringen der Menschheit aus dem Gleichgewicht geraten ist. Die Effekte menschlichen Handelns sind hingegen unwiderruflich in ›Landschaften‹ eingeschrieben, wie etwa John Urry (2003) im Rückgriff auf die Komplexitätstheorie der Physik veranschaulicht. Eine solche Idee originär heilsamer Natur, so Urry (2003, S. 31f.), ist dem komplexen und dynamischen Wirken der Ökosysteme unangemessen. Sie ignoriert nicht nur die kulturellen Entstehungsgeschichten von ›Landschaften‹ in untrennbarer Wechselwirkung mit Viehzucht, Ackerbau und Wanderbewegungen, sondern bagatellisiert gar potenziell katastrophale und irreversible Effekte anthropogenen Wirkens. Abgesehen davon veranschaulichen schon die ästhetische Hervorhebung solcher ›Landschaften‹ sowie das Identifizieren schützenswerter Umweltgebiete die ihnen zugrundeliegenden, kulturellen Zuschreibungen (vgl. Schama 1996). Allerdings ist nicht nur die Ökologie von einem solchen Naturbegriff des originären Gleichgewichts geprägt. Vielmehr scheint die moralische Hoheit der Natur die substanziellen Bereiche der Lebenspraxis geradezu omnipräsent zu durchdringen: Im Einklang mit der Natur zu leben bedeutet, sich entsprechend zu ernähren, zu pflegen, naturgemäß zu heilen, zu gebären, Kinder zu erziehen, Beziehungen zu führen, krank zu sein und zu sterben, ›wie die Natur es vorgesehen hat‹. Die Berufung auf ›natürliche‹ Praktiken ist dabei offenbar ebenso kulturell formuliert wie überformt und somit auch höchst ideologieverdächtig. Verschärft wird dieser Verdacht, indem die Ordnung der Natur gleichzeitig als eine stetige und unverrückbare gilt (vgl. Nussbaum 2002; Žižek 2007). Daran anschließend wird deutlich, dass alltagssprachliche Zuschreibungen dessen, was mit ›Natur‹ verknüpft wird, gar etwas darüber aussagen, wie sich ein Subjekt der abendländi31
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schen Moderne in die Welt gestellt empfindet. Und zwar zum einen, indem diesen Erzählungen eine semantische Hybridisierung dessen innewohnt, was epistemologisch gemeinhin als feststehend und was demgegenüber als gemacht gilt. Jene epistemologischen Selbstverständlichkeiten eines spezifisch modernen, dualistischen Vorstellungsschemas zu enttarnen, ist das prominente Anliegen Bruno Latours ([2008] 2015; vgl. auch Descola 2013; Haraway, Hammer und Stieß 1995): Mit der Darstellung einer hybride verfassten, sozialen Welt rückt Latour Vermittlungen und Übersetzungen in den Blick, die zwischen den Polen von Kultur und Natur vagabundieren und erhebt in diesem Zuge auch nichtmenschliche Akteure qua Handlungsträgerschaft zu sozial relevanten Entitäten. Obgleich sich jene modernespezifischen Auffassungen einer ontologisierten Natur und einer ihr gegenüberstehenden, kontingenten Kultur unter der Semantik des Naturjoghurts offensichtlich auflösen, wirkt die rhetorisch eingezogene Polarisierung von Natur- und Kulturprodukten fort: Industriezucker gilt immer noch qua Künstlichkeit als schädlicher als gezüchtete Bakterienkulturen. Darüber hinaus aber enthält die (zumindest ontologisch irrtümliche) Unterscheidung einer immanenten, gestalteten Sphäre der Kultur und der Gesellschaft von einem gleichsam transzendenten, in allem wirkenden und mit sinnvoller Vorsehung behafteten Bereich der Natur auch Hinweise auf einen moralischen Legitimationshorizont der Natur: Was die Natur als ein geradezu agierendes Subjekt eingerichtet hat, wird scheinbar spontan und vorreflexiv als intrinsisch gut empfunden und mitunter als moralische Letztbegründung formuliert: Intrinsisch gut und richtig ist, was die Natur vorgesehen hat. Der kanadische Philosoph Charles Taylor (vgl. Taylor 2012b, S. 525) deutet diese ›starke‹ Wertung der Natur als Ausdruck spiritueller Sehnsüchte des neuzeitlichen Subjekts. Demnach tritt die Vorstellung einer Natur als abgetrennte Sphäre und un32
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abhängiges Gegenüber ideengeschichtlich erst infolge einer Selbstermächtigung des aufklärerischen Subjekts über die eigenen Grenzen hervor (ebd., S. 319). Der Preis dieser Emanzipation ist jedoch zugleich eine Abschottung, indem »man sich mit Mut und klarem Verstand einer entzauberten Welt stellt« (Taylor 2012a, S.180). Das Universum wird der Vernunft im Nachgang der kopernikanischen Wende in Einzelteile zerlegbar und instrumentell zugänglich. Und zugleich schleicht sich aus einem daraus empfundenen Mangel an Weltbeziehung, die dem von magischen Kräften und Mächten durchdrungenen Selbst des Mittelalters wiederum gegenwärtiger als angenehm war (ebd., S. 508f.), spätestens in der Romantik eine Sehnsucht ein, die die Natur zum Beziehungsgegenüber macht. Die Natur als freistehender und zugleich weltdurchwaltender, transzendenter Bereich steht nun der immanenten Sphäre entgegen und wird dementsprechend auch anders bewertet: Als selbstzweckhafte Quelle von Moral und expressiv-künstlerisch vermittelter Ordnung. Die damit korrespondierende Naturerfahrung, die im 18. Jahrhundert als das ›Erhabene‹ aufkommt, richtet sich auf jene majestätische und fremde Natur, die unabhängig waltet und deren Kräfte dennoch auf den menschlichen Geist, Gedanken und Leidenschaften wirken (Taylor 2012b, S. 562, 588). Taylor argumentiert, dass die Natur in diesem Moment zum kulturell fortgetragenen Sehnsuchtsort wird. Bedingt durch den Widerstreit dieser zwei, Taylor (ebd., S. 564) zufolge wesentlich wirkmächtigen, ideengeschichtlich verankerten und identitätskonstitutiven Haltungen, zeichnet sich das Subjekt-Welt-Verhältnis der Moderne also sowohl durch Abschottung aus, als auch durch ein dem entgegenwirkendes Antwortverlangen. Letzteres beschreibt Hartmut Rosa (2016) in seinem aktuellen Werk als Sehnsucht nach Resonanz und meint damit ein reziprokes, gleichwürdiges In-Beziehung-Treten mit Weltausschnitten unterschiedlicher Dimensionen. Neben 33
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intersubjektiven, mitunter kollektiven Beziehungserfahrungen treten demzufolge auch »diagonale« (ebd., S. 381) Resonanzsphären auf, die Dinge, Tätigkeiten oder Erfahrungen mit dem eigenen Körper umfassen. Bedeutsamerweise aber richtet sich das beschriebene Antwortverlangen auf die Welt selbst als ein umgreifendes und transzendentes Gegenüber, das mitunter in ästhetischen Erfahrungen zugänglich wird, in Gestalt von Gott auftreten kann oder sich eben geradezu funktionsäquivalent zur Religion als Resonanzraum der Natur aufspannt: Ideengeschichtlich gespeist durch die Quellen der Romantik ist das neuzeitliche Subjekt demnach durchdrungen von ästhetischkontemplativen Sehnsüchten nach »einem psychoemotionalen Naturverhältnis, in dem Natur als primordiale Resonanzsphäre fungiert« (Rosa 2016, S. 467). Als weitere ›vertikale‹ Resonanzachsen beschreibt Rosa (2016, S. 472ff., 500ff.) zudem ästhetische Erfahrungen durch Kunst und Musik sowie eine umgreifende Dimension historischer Zeitlichkeit. Gelingende Resonanzverhältnisse sind jedoch fragil und im spätkapitalistischen Zeitalter der dominanten instrumentellen Vernunft notorisch gefährdet. Idealerweise gelingt der Resonanzmoment, wenn das empfundene Affiziert- oder Berührtwerden durch ein separates Gegenüber auf eigene Selbstwirksamkeitserwartungen trifft, Subjekt und Welt als abgeschlossene Entitäten dabei jeweils ›mit eigener Stimme‹ sprechen. Resonanzmomente sind so durch intrinsisches Interesse sowie die Unverfügbarkeit des Gegenübers gekennzeichnet. Zudem entzieht sich auch das Einstellen der Resonanzerfahrung selbst dem instrumentellen Zugriff – sie lässt sich nicht gezielt herstellen. Letztendlich wirkt Resonanz auf beiden Seiten transformativ: Sowohl das Selbst als auch das Gegenüber verändern sich im Zuge ihrer Berührung. Resonanz beschreibt also einen Beziehungsmodus, der insbesondere durch eine instrumentelle Haltung auch misslingen kann und als Ideal des gelingenden 34
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Lebens Grundlage für einen Maßstab wirksamer Gesellschaftskritik bieten soll (vgl. Rosa 2016, S. 269-328).
Der Joghurt als Stellvertreter der materiellen Welt Spannt sich also über den Joghurt ein Resonanzverhältnis zum transzendenten Gegenüber der Natur auf? Dies zu behaupten trüge sicherlich nicht zur Plausibilität der Theorie bei. Dennoch lässt sich unter diesem Gesichtspunkt das Argument entfalten, dass die Semantik des Naturjoghurts etwas über das subjektiv empfundene In-die-Welt-gestellt-Sein der Gegenwart aussagt. So ließe sich zumindest begründen, dass im Einverleiben des Joghurts nicht nur verarbeitete Kuhmilch, sondern gleichsam stellvertretend ein Teil materieller, umgreifender Welt aufgenommen wird. Besonders anschaulich wird der Gedanke einer solchen, repräsentativen Anverwandlung von Welt anhand des Beispiels biologisch angebauter Lebensmittel – denen womöglich in Form von Erdresten ein Hauch der Ursprünglichkeit erkennbar anhaftet. Beschreibt man dieses Einverleiben als ein Moment der Aufnahme von Welt, so spannt sich resonanztheoretisch gesprochen ein Beziehungsraum zu einem widerständigen Gegenüber auf. Demzufolge sind es Vorstellungen einer leiblichen Wechselwirkung zwischen Subjekt und Welt, aufgrund derer die Aufnahme ›naturbelassener‹ Lebensmittel in den eigenen Körper als unbedingt gesünder und hochwertiger gilt als die ›künstlicher‹ und industriell bearbeiteter oder gar gentechnisch veränderter Nahrung (vgl. auch Rosa 2009). Anhand von ideengeschichtlich begründeten und kulturell gewachsenen wie reproduzierten Bedeutungszuschreibungen lassen sich also Formen von Materie, wie der Naturjoghurt, als Artikulationsformen, ja als Narrative gegenwärtiger SubjektWeltbeziehungen lesen. Zumindest handelt es sich um kulturpraktische Erzählformen jener Kategorien, in denen Natur 35
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gegenwärtig begriffen wird: als ontologisierte Sphäre der Ursprünglichkeit. Zuletzt verbirgt sich darin ein Potenzial an sozialer Qualität des Materiellen, dem gleichsam Antwortqualitäten zugeschrieben werden. Die klassischen Anfänge soziologischer Theorie verhandeln dieses Materielle zunächst als etwas, an dem sich Soziales ausdrückt. Paradigmatisch ist hierfür etwa Émile Durkheims ([1912] 1981) Beschreibung des Totemismus als elementare Form der Religion: Das Totem wird in außeralltäglichen Momenten kollektiver Gefühlszustände zum Zeichen der Gruppe und zum religiösen Symbol, indem sich die immaterielle Substanz der Gesellschaft an den sichtbaren, materiellen Körper des Totems heftet. Dabei werden Objekte aus der Sphäre des Sozialen ausgegrenzt, in ihrer Wirkung als kulturelle Bedeutungsträger gleichwohl sozialtheoretisch einbezogen (vgl. Henkel 2014, S. 343ff.). Dem Aufstieg sozialkonstruktivistischer Perspektiven (vgl. u.a. Foucault 1978; Butler 1995; Berger und Luckmann [1980] 2004) ist es zu verdanken, dass sämtliche kulturelle Bedeutungszuschreibungen, auch des Materiellen, in ihrer Konstruiertheit entlarvt und damit als kontingent relativiert werden können. Der (heterosexuelle) Körper etwa wird als sozial gewordene Materie begriffen, an der sich Machteffekte manifestieren (Butler 1995). Das enorme emanzipatorische Potenzial dieser Sichtweisen ist kaum zu unterschätzen. Schließlich ist es alles andere als unproblematisch, historisch gewachsene Lebensformen und normative Modelle als von einer regelrecht autoritären Natur vorgegeben und somit als unveränderlich darzustellen (vgl. Nussbaum 2002). Die radikale Dekonstruktion materieller Phänomene agiert gleichwohl nicht in jedem Fall sozialtheoretisch fruchtbar, wenn sie ebenjene en passant jenes widerständigen Momentes beraubt, das sich – zumal in Gestalt der Natur – hartnäckig wieder einzuschleichen scheint. Sofern zwar nurmehr subjektive, zugleich aber auch sozial relevante Erfah36
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rungen mit einem Gegenüber unverfügbarer Materie gemacht werden, ist dieses hingegen mehr als bloße Fläche sozialer und kultureller Projektion. Abgesehen von der leiblichen Anverwandlung von als ursprünglich geltenden Lebensmitteln zeugen davon noch sämtliche, vielgestaltige Momente der Verflechtung mit dem, was als Natur gilt – etwa die bloßen, terrestrischen Gegebenheiten, in denen sich Gesellschaft entfaltet und hybride Wechselwirkungen hervorbringt. Nun gibt es gute Gründe, die von Latour propagierte Zurechnung von Handlungsträgerschaft des Materiellen für gleichbleibend anthropozentrisch zu halten: »Agency is not held, it is not a property of persons or things; rather, agency is an enactment, a matter of possibilities for reconfiguring entanglements«, argumentiert etwa die Physikerin und Philosophin Karen Barad (zitiert nach Dolphijn und van der Tuin 2012, S. 54) im Interesse einer ›relationalen Ontologie‹. In jedem Fall aber, so verdeutlicht das Beispiel des Naturjoghurts, wird Materielles zur sozial relevanten, geradezu eigenständigen Entität und somit zum Gegenstand des soziologischen Zugriffs.
Zum Weiterlesen Behrendt, Gianna (2017): »Die ›wahre‹ Natur des vertikalen Resonanzversprechens«. In: Christian Peters Helge/Peter Schulz (Hg.). Resonanzen und Dissonanzen. Hartmut Rosas kritische Theorie in der Diskussion. Bielefeld: transcript, S. 233-248. DOI: https://doi.org/10.14361/9783839435656-016 Dolphijn, Rick/van der Tuin, Iris (2012): New Materialism. Interviews & Cartographies. Ann Arbor (US): Open Humanities Press. DOI: https://doi.org/10.3998/ohp.11515701.0001.001 Rosa, Hartmut (2009): »Gentechnik und die spätmoderne Krise der Bejahung. Die ›Stimme der Natur‹ in der moralischen Landkarte der Moderne«. In: Dirk Jörke/Bernd Ladwig (Hg.). Politische Anthropologie. Geschichte – Gegenwart – Möglichkeiten (=
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Actor-Network Theory II Soziologie der Alltagstechnik: Über Transponder und andere Türöffner. Kann ein Schlüssel intelligent handeln? Günter Burkart Vor ein paar Jahren wurden einige Institutsräume sowie die Eingangstüren der Gebäude der Leuphana Universität Lüneburg (die früher als Kaserne genutzt worden waren) mit neuen Schlössern ausgestattet, die jedoch nicht mit einem herkömmlichen Schlosszylinder versehen und deswegen auch nicht mit gewöhnlichen Schlüsseln zu öffnen waren. Vielmehr bekamen wir statt eines solchen Schlüssels eine Art Chip, ein rundes schwarzes Etwas ungefähr in der Größe einer Zwei-Euro-Münze, das eher an einen Schlüsselanhänger erinnerte, und in dessen Mitte eine große vierstellige Zahl, deren Bedeutung nicht auf Anhieb klar war, aufgeklebt war. Diesen Chip muss man gelegentlich ›aufladen‹, d.h. ein paar Sekunden vor ein kleines Schild neben der Außentür des Gebäudes halten. Dann lassen sich mit Hilfe dieses Objekts – Transponder genannt – alle Türen öffnen und schließen, für die es von einer autorisierten Verwaltungsperson ›freigeschaltet‹ wurde. Diese Freischaltungen können jederzeit verändert werden. Ist der Transponder für eine bestimmte Tür freigegeben, wird dies durch ein grünes Blinken angezeigt, sobald man ihn gegen das ›Schloss‹ (das eher wie ein Türknauf aussieht) hält. Viele von uns kennen einen ähnlichen Mechanismus bei Hotels, wo der Türöffner inzwischen meist die Gestalt einer Chipkarte in der klassischen Kreditkartengröße angenommen hat.
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Man kann hier von ›intelligenten Schlüsseln‹ sprechen. Jedenfalls haben wir uns angewöhnt, Dinge als ›intelligent‹ zu bezeichnen, wenn sie technisch vernetzt sind. Die Funktion dieses Schlüssels, nämlich den Zugang zu bestimmten Räumen oder Gebäuden zu erlauben, kann elektronisch gesteuert und verändert werden. Dieser Schlüssel ›passt‹ also nicht einfach mechanisch in ein für ihn bestimmtes Schloss, sondern kann mit einfacher Computer-Anweisung für andere Räume oder andere Zeiten passend gemacht werden. Im Folgenden soll zunächst am Beispiel des »Berliner Schlüssels« gezeigt werden, dass nicht nur digitale, sondern auch mechanische Schlüssel in einer bestimmten Hinsicht ›intelligent‹ sein können – ein Argument, das auf die Dingwelt insgesamt ausgedehnt werden kann. Die grundlegende Frage ist allerdings, ob Dinge intelligent handeln – ob sie überhaupt handeln können. Das war in der herkömmlichen Soziologie nicht vorgesehen. Bruno Latour hat einen Weg gefunden, wie Dingen und Menschen gemeinsam Handlungsträgerschaft zugeschrieben werden kann.
Der »Berliner Schlüssel« Auch herkömmliche Schlüssel können intelligent sein, obwohl sie nicht digital sind. Ein interessantes Beispiel dafür ist der sogenannte Berliner Schlüssel, der in alten Berliner Mietshäusern für die vordere Haustür in Gebrauch war. Er wurde 1912 von Johannes Schweiger erfunden und wird heute nur noch selten verwendet (vgl. van den Krommenacker 2015). Der französische Wissenschaftssoziologe Bruno Latour hat ihn bei einem Forschungsaufenthalt am Wissenschaftszentrum Berlin entdeckt und im Rahmen seiner Theorie beschrieben (vgl. Latour 1996). Dieser Schlüssel ist insofern intelligent, als er zu bestimmbaren Zeiten die Tür verschließt und zu anderen Zeiten nicht. Und er ist insofern intelligent, als er das gleiche tut, was sonst ein Tür42
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hüter machte: Nämlich, die Leute dazu zu bringen, abends die Tür des großen Mietshauses abzuschließen. Denn ein Kennzeichen dieses Berliner Schlüssels ist, dass er sich nur dann wieder aus dem Schloss herausziehen lässt, wenn man die Tür verschlossen hat. Kommt man abends von einer Kneipentour oder aus anderen Gründen spät nach Hause, steckt man gewöhnlich seinen Schlüssel von außen ins Türschloss und schließt auf. Im Unterschied zu anderen Schlüsseln lässt sich der Berliner Schlüssel allerdings nicht einfach wieder herausziehen. Man kann also nicht einfach durch die Türöffnung gehen und den Schlüssel in die Jackentasche stecken ohne sich weiter darum zu kümmern, ob die Tür verschlossen ist oder nicht. Vielmehr lässt sich dieser Schlüssel erst dann aus dem Schloss herausziehen, wenn man ihn von außen durchgesteckt und danach von innen abgeschlossen hat. Der Berliner Schlüssel sieht etwas seltsam aus, denn er hat an jedem Ende einen sogenannten Bart, so dass man beim flüchtigen Hinsehen nicht weiß, in welcher Richtung er ins Schloss passt. In beiden Fällen – Transponder und Berliner Schlüssel – müssen allerdings immer noch Menschen in Erscheinung treten und etwas manipulieren – entweder mittels einer Software, wie beim Transponder oder mittels einer Hardware, wie beim Berliner Schlüssel, wo der Hauswart abends mit einem speziellen Schlüssel einen Nippel im Schloss umstellen muss, damit er wie oben beschrieben funktioniert (denn tagsüber kann man die Tür unverschlossen lassen und bekommt den Schlüssel trotzdem zurück). Deswegen lässt sich zu Recht fragen: Ist das wirklich ein Schlüssel, der intelligent handelt? Kann so ein Ding überhaupt handeln? Ob mehr oder weniger intelligent – ob digital oder nicht, wäre dann zweitrangig. In der Tat spielt die Unterscheidung analog/digital für mein Argument keine wesentliche Rolle.
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Die Soziologie und die Welt der Dinge Bleiben wir deshalb erstmal beim »Berliner Schlüssel«. Er ist ein solides Metallobjekt, gewissermaßen ein Highlight der traditionellen preußischen Schlosser-Kunst, ein Stück ziemlich fester Materie. Ich werde – mit Latour – versuchen, nachvollziehbar zu machen, dass ein solches Ding, ein solcher Schlüssel in einer bestimmten Hinsicht tatsächlich ›handeln‹ kann – und damit sozusagen etwas von seiner materiellen Härte verliert. Das wird nicht ganz einfach sein, denn klar ist auch: Nicht nur der normale Mensch würde bezweifeln, dass Dinge handeln. Auch für die meisten Soziologinnen und Soziologen waren es bislang nur die Menschen, die handeln; aber nicht die Schlüssel, Tische oder andere Objekte. Die Soziologie ist ja, nach einer Definition von Max Weber, die Wissenschaft vom »sozialen Handeln«, also vom Handeln, das auf andere Menschen, auf Mit-Menschen, bezogen ist (Weber [1922] 1980). Das Wort Soziologie leitet sich aus dem lateinischen Wort sozius und dem griechischen logos ab und bedeutet damit wörtlich ›Lehre vom Mitmenschen‹. Es geht also im Wesentlichen um das Verhältnis von Mensch zu Mensch; Handlungen oder Interaktionen zwischen Menschen sind deshalb die Grundelemente von Gesellschaft – und nicht die einzelnen Menschen. Was aber machen wir mit der materiellen Welt, mit den Artefakten, den Dingen? In der herkömmlichen Soziologie – seit Weber – werden die Dinge gewöhnlich als Mittel des Handelns oder als Bedingungen des Handelns aufgefasst (oder auch als Folgen von Handeln, wenn wir etwa an den Prozess des Herstellens denken). Die Objekte gehören also eigentlich nicht zur Gesellschaft, genauso wenig wie die Natur (vgl. Henkel 2014). Sie sind vielmehr, wie es in der Systemtheorie heißt, »Umwelt« der Gesellschaft (Luhmann 1997). Mittels der Dinge wird Handeln erleichtert und oftmals überhaupt erst ermöglicht, z.B. ist es meist leichter, einen Vortrag zu halten, wenn ein Mikrofon zur 44
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Verfügung steht. Die Dinge selber aber sind in dieser Sichtweise weder intelligent, noch können sie handeln. Sie werden vom intelligenten, handelnden Menschen als Mittel eingesetzt, um Absichten zu verwirklichen, um Ziele besser, schneller, leichter, effizienter zu erreichen. Das ist im Kern die Meinung des soziologisch gebildeten Alltagsverstandes, das in die Kultur sedimentierte soziologische Wissen. Und es war auch die Meinung der alten Techniksoziologie, bevor diese kultursoziologisch erneuert wurde (vgl. Rammert 1993; 1998).
Eine neue Sicht auf die Welt der Dinge Dieser Auffassung wird seit einiger Zeit zunehmend widersprochen, auch in der Soziologie. Einen wesentlichen Anstoß dazu hat Bruno Latour gegeben, der einige grundlegende Unterscheidungen des modernen abendländischen Denkens in Frage gestellt hat, z.B. die Unterscheidung von Subjekt und Objekt; oder eben auch die begriffliche und reale Trennung zwischen handelnden Menschen und Dingen (vgl. Latour 1995). Dies hat er nicht nur abstrakt-philosophisch gemacht, sondern an zahlreichen Beispielen technischer Artefakte demonstriert, wie etwa, aber keineswegs ausschließlich, am Berliner Schlüssel (vgl. Latour 1996; 1998). Für Latour ist es nicht der Mensch, der handelt; jedenfalls nicht der Mensch allein, wenn er z.B. mit einem Gewehr als Mittel zum Zweck ein bestimmtes Ziel verfolgt, etwa das Ziel, einen Menschen zu erschießen. Vielmehr ist es für ihn das hybride Wesen Mensch/Gewehr, das ein Ziel verfolgt. Sobald Mensch und Gewehr zusammenkommen, verändert sich das Handlungsprogramm des Menschen, weil auch das Gewehr sein eigenes Handlungsprogramm einbringt – und beides verschmilzt zu einem neuen Handlungsprogramm (vgl. Latour 1998). Artefakten alleine schreibt auch Latour keine »Handlungsträgerschaft« (Rammert und Schulz-Schaeffer 2002) zu – aber auch nicht dem 45
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sozusagen ›reinen‹ Menschen; denn diesen ›reinen‹ Menschen gibt es schon lange nicht mehr (es hat ihn für Latour nie gegeben). Der Mensch ist längst zum Hybridwesen geworden, in enger Symbiose mit den Artefakten, die ihn seit langer Zeit umgeben. Mit jeder neuen Technik, angefangen vom Faustkeil, wurde er immer mehr zum Hybridwesen (vgl. Latour 1998).
Wer übernimmt die Verantwortung? Manche LeserInnen werden an dieser Stelle – insbesondere wenn man sich auf das Beispiel der Schusswaffe bezieht – vielleicht ein mulmiges Gefühl verspüren; denn die Konsequenz aus diesem Gedanken wäre ja auch, die Schuld am Tod eines Menschen nicht allein dem Täter zuzuschreiben, sondern wenigstens auch einen Teil der Verantwortung der Waffe zuzuschreiben. Das ist gar nicht so abwegig, wenn man bedenkt, dass in dem Gewehr die Möglichkeit eingebaut ist, einen Menschen zu töten. Waffengegner in den USA glauben, die hohe Tötungsrate in diesem Land könnte gesenkt werden, wenn der Erwerb von Schusswaffen erschwert würde. Waffen-Lobbyisten dagegen machen geltend, es liege ausschließlich am Menschen, wie er mit seiner Waffe umgeht. Für Latour machen es sich beide Seiten zu leicht. Die Waffengegner nehmen den menschlichen Willen nicht ernst genug (sie glauben zu sehr an die determinierende Macht der Dinge), die Lobbyisten überschätzen den freien Willen und die menschliche Entscheidungsfreiheit. Ein anderes Beispiel mit schwerwiegenden ethischen Folgeproblemen ist das selbst-fahrende Automobil, über das inzwischen intensiv diskutiert wird (eine eigens dafür eingesetzte Ethik-Kommission hat im Juni 2017 dazu eine umfassende Stellungnahme abgegeben). Wer hat Schuld, wenn das selbstfahrende Auto einen Menschen tötet? Wer entscheidet, wie das Fahrzeug reagieren soll, wenn es in eine Dilemma-Situation gerät, in der es z.B. darum geht zu entscheiden, ob eher ein Kind oder 46
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eher zwei alte Menschen zu Unfallopfern gemacht werden (müssen), wenn ein Unfall unvermeidlich geworden ist. Das sind extrem schwierige ethische Fragen, deren Klärung in Zukunft immer dringlicher wird, je mehr die Dingwelt sich gegenüber dem Menschen, der sie geschaffen hat, emanzipiert (vgl. Henkel und Åkerstrøm-Andersen 2016). Etwas weniger moralisch belastet, und deshalb kehre ich noch einmal zu ihm zurück, ist der Schlüssel. Dabei geht es normalerweise nicht um Leben und Tod, obwohl auch ein Streit um Zugangsrechte ziemlich heftig ausfallen kann. Ein Schlüssel ist eben nicht einfach nur ein neutrales Ding, sondern in ihn sind menschliche Fähigkeiten und normative Regeln ›eingebaut‹. In dem Berliner Schlüssel stecken ein wenig Hausmeister und Türwächter, auch ein wenig Vermieter, ein wenig Nachbar. Sie alle üben normativen Einfluss auf den Benutzer des Schlüssels aus, vermittelt über dieses Objekt. Denn der Berliner Schlüssel ist, wie gesagt, so konstruiert, dass er die Leute zwingt, abends die Haustür abzuschließen. Was sonst ein Türwächter besorgt hat, besorgt nun der Schlüssel. Der Schlüssel handelt in Bezug auf die Menschen, die den Schlüssel benutzen, als ob er ein Türwächter wäre. Und was für den Berliner Schlüssel gilt, gilt auch für den Transponder. Die Verwaltung, die Universitätsleitung, der Sicherheitsdienst der Universität – sie alle wirken in diesem Schlüssel mit. Wie man dem Berliner Schüssel nicht ansehen kann, ob er aus dem Schloss ohne oder mit Verschließen der Tür hinauszuziehen sein wird, so wenig sieht man dem Transponder an, ob und wenn ja für welche Türen er frei geschaltet ist – und welche Transponder evtl. ebenfalls die betroffene Tür zu öffnen in der Lage sind. Das Ding ist digital geworden. Das Einschreiben solcher Interessen und Erwartungen ist geblieben.
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Intelligentes Handeln oder Kommunikation? Vielleicht ist für manchen von uns die Redeweise vom ›intelligenten Schlüssel‹ heute, im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz, einleuchtender, wenn wir nicht vom ›Handeln‹ sprechen, sondern von ›Kommunikation‹. Tatsächlich hat die Soziologie durch Niklas Luhmann einen entsprechenden grundbegrifflichen Wandel vollzogen (vgl. Luhmann 1984). Jürgen Habermas hat mit dem Begriff des »kommunikativen Handelns« eine Kompromissformel gesucht, »Handeln« bleibt aber bei ihm der Oberbegriff (Habermas 1981). Luhmann hingegen will mit seiner Entscheidung deutlich machen, dass das absichtsvolle, zielorientierte menschliche Handeln in seiner Bedeutung für die gesellschaftliche Dynamik meist überschätzt wird. Kommunikation erzeugt eine soziale Eigenlogik, die über das Handeln der Einzelnen hinausgeht. Gesellschaft ist dann nicht mehr das Ergebnis von individuellem Handeln, sondern von Kommunikationsprozessen, die niemand vollständig unter Kontrolle haben kann. Der Kommunikationsbegriff allerdings, wie er oftmals im Zusammenhang mit digitalen Medien verwendet wird, ist irreführend und unterkomplex. So sprechen manche Medienwissenschaftler eher unreflektiert von Kommunikation, wenn sie eigentlich Informationsaustausch meinen; und Marketingleute aus der IT-Branche sagen mit großer Selbstverständlichkeit ›Der Kühlschrank kommuniziert mit dem Telefon‹ oder ›Der digitale Schlüssel kommuniziert mit dem Schloss‹. Es handelt sich hier jedoch um einen sehr eingeschränkten und unzulänglichen Begriff von Kommunikation, da er jetzt umgekehrt den Menschen ganz aus der Kommunikation ausgrenzt. Es ist eine bloße Metaphorik – und eine ziemlich schiefe dazu – von Kommunikation. Sie reduziert Kommunikation auf den technischen Austausch von Daten, die leicht digitalisierbar sind.
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Die Zukunft hat längst begonnen Letztlich ist es aber in diesem Zusammenhang gar nicht so wichtig, ob wir von Handeln, von Kommunikation oder von kommunikativem Handeln sprechen. Zwar trifft Kommunikation in der Fassung von Luhmann besser die gesellschaftliche Wirklichkeit als der alte Begriff der Handlung in der Fassung von Weber. Aber wenn es um die Frage geht, wie wir den Anteil der materiellen Welt an der Herstellung der sozialen Welt (also: der Gesellschaft) am besten erfassen wollen, bekommen wir mit Luhmanns Theorie Probleme, da sie nicht vorsieht, dass Dinge und Menschen miteinander kommunizieren können. Latour dagegen löst den Handlungsbegriff vom Menschen ab und verschafft so den Dingen die Möglichkeit, gewissermaßen gleichberechtigt mit dem Menschen Sozialität zu produzieren – Handlungen, Interaktionen, Kommunikationen. Es ist jedenfalls nicht nur der Mensch, der mittels Technik kommuniziert oder handelt. Es ist das hybride Mischwesen von Mensch und Ding, das Gesellschaft erzeugt. Und dabei müssen wir gar nicht an die Zukunft künstlicher Intelligenz denken, an Cyborgs oder kluge Roboter (die übrigens erst dann wirklich klug sind, wenn sie richtig in der Küche helfen können und nicht schon dann, wenn sie Schach spielen können oder wenn sie uns Informationen aus dem Internet besorgen). Mein Argument bezieht sich keineswegs nur auf diese Zukunft, es geht nicht um die Cyborg-Idee. Deshalb das Beispiel des Berliner Schlüssels, einem Artefakt aus dem prädigitalen Zeitalter. Das Argument, dass Hybridwesen aus Mensch und Technik intelligent handeln können, gilt nicht nur für die digitalen Dinge, sondern für jede Art von Materialität, mit der sich Menschen immer schon umgeben haben. Wir brauchen gar nicht auf die Zukunft zu warten, wir sind schon seit Jahrtausenden mit der dinglichen Umwelt eng verknüpft und vereint. Wir handeln und kommunizieren schon seit ewigen Zeiten im Einklang mit
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der materiellen Dingwelt – und das macht uns vielleicht auch ein Stück intelligenter.
Zum Weiterlesen Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.) (2006): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript. Bijker, Wiebe E. (1995): »King of the road: The social construction of the safety bicycle«. In: Ders. (Hg.). Of bicycles, bakelites, and bulbs. Toward a theory of sociotechnical change. Cambridge: MIT Press, S. 19-100. Burkart, Günter (1994): »Individuelle Mobilität und soziale Integration. Zur Soziologie des Automobilismus«. In: Soziale Welt 45, S.216-241. Callon, Michel (2006): »Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung. Die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht«. In: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.). ANThology. Ein einführendes Handbuch zur AkteurNetzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript, S. 135-174. Latour, Bruno (1996): Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Berlin: Akademie.
Literatur Ethik-Kommission (2017): »Automatisiertes und vernetztes Fahren. Bericht Juni 2017 (hg. vom Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur)«. Verfügbar unter: http://www.bmvi. de/SharedDocs/DE/Anlage/Presse/084-dobrindt-bericht-derethik-kommission.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt abgerufen am 31.08.2017). Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. Zwei Bände. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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Actor-Network Theory II Henkel, Anna (2014): »Disziplinäre Perspektiven – Soziologie«. In: Stefanie Samida/Manfred Eggert/Hans Peter Hahn (Hg.). Handbuch Materielle Kultur: Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, S. 342-349. Henkel, Anna/Åkerstrøm-Andersen, Niels (2016): Precarious Responsibility. Soziale Systeme, Sonderheft. van den Krommenacker, Lieke (2015): »Der Bart ist ab«. Verfügbar unter: http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/immobilien/ber liner-schluessel-der-bart-ist-ab/11531292.html (zuletzt abgerufen am 31.08.2017). Latour, Bruno (1995): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Berlin: Akademie. DOI: https:// doi.org/10.1515/9783050070155 Latour, Bruno (1996): »Der Berliner Schlüssel«. In: Ders. (Hg.). Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Berlin: Akademie, S. 37-51. Latour, Bruno (1998): »Über technische Vermittlung. Philosophie, Soziologie, Genealogie«. In: Werner Rammert (Hg.). Technik und Sozialtheorie. Frankfurt a.M.: Campus, S. 29-82. Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Rammert, Werner (1993): Technik aus soziologischer Perspektive. Forschungsstand. Theorieansätze. Fallbeispiele. Ein Überblick. Opladen: Westdeutscher Verlag. DOI: https://doi. org/10.1007/978-3-322-99559-9 Rammert, Werner (1998): »Technikvergessenheit der Soziologie? Eine Erinnerung als Einleitung«. In: Ders. (Hg.). Technik und Sozialtheorie. Frankfurt a.M.: Campus, S. 9-28. Rammert, Werner/Schulz-Schaeffer, Ingo (Hg.) (2002): Können Maschinen handeln? Soziologische Beiträge zum Verhältnis von Mensch und Technik. Frankfurt a.M.: Campus.
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Günter Burkart Weber, Max ([1922] 1980): »Soziologische Grundbegriffe«. In: Ders. (Hg.). Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Studienausgabe, 5. Aufl. Tübingen: Mohr, S. 1-30.
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Systemtheorie I Soziologen im Weltraum. Die Materialität der Gesellschaft im leeren Raum Nikolai Drews Die Frage nach dem Verhältnis von Gesellschaft und Materialität bietet zahlreiche Möglichkeiten der Untersuchung. Naheliegend ist es beispielsweise, sich Alltagspraktiken zuzuwenden und die Rolle von Gegenständen in der Interaktion von Menschen anzuschauen (vgl. etwa zur Praxistheorie Reckwitz 2003). Was sagt etwa der Gebrauch von Besteck am Tisch über die Essenden und die Gesellschaft aus (vgl. Simmel 2001, S. 140-147; Elias [1976] 1997, S. 231-265)? Wie beeinflussen neue Glühbirnen das Energieverbrauchsverhalten von Menschen zuhause? Auch möglich ist es, Sozialtheorien auszuformulieren, die den Menschen verstärkt als körperlich und leibhaft verfasstes Wesen verstehen, um so eine strenge Trennung von Materialität und Gesellschaft von vornherein zu vermeiden (vgl. etwa Lindemann 2014; Latour 1992). An dieser Stelle wird sich der Frage nach der Materialität des Sozialen über eine andere, vielleicht abwegigere Route genähert: Ist die Bedeutung der Materialität im gesellschaftlichen Geschehen so selbstverständlich? Wo kommt sie an ihre Grenzen? Betrachtet wird dies anhand der Thematik des Weltraums und so der Materialität der Gesellschaft im leeren Raum. Zu Beginn wird kurz darauf eingegangen, weshalb das Thema dieses Beitrags und der Beitrag selbst abwegig sind. Anschließend wird mit einer ausgewählten soziologischen Perspektive ein Blick auf den Weltraum geworfen, um zu schauen, zu welchen Gedanken und Erkenntnissen dies führen kann. Es wird festgestellt, dass 53
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Abwegigkeit im Sinne eines Perspektivwechsels zu neuen und fruchtbaren Blicken auf die Welt führen kann.
Auf Abwegen im Weltraum Es sind zumindest drei Punkte zu nennen, die das Vorhaben, dieser soziologischen Betrachtung des Weltraums mit dem Bezugspunkt Materialität, abwegig erscheinen lassen: die Abwesenheit von Soziologen im Weltraum, die materielle Leere des Weltraums und die Wahl einer scheinbar alltags- und materialitätsfernen Theorie, mit der die Thematik betrachtet wird. Der erste Gedanke beim Lesen des Titels wird wohl sein, dass es ja gar keine Soziologen im Weltraum gibt – und auch tatsächlich war noch kein Soziologe im Weltraum (dies bei immerhin schon knapp 550 Menschen, die bereits dort waren). Die Raumfahrt ist nicht unbedingt das Kerngebiet von Geistes- und Sozialwissenschaften. Warum aber sollten überhaupt Soziologen im Weltraum sein? Was sollten Sie dort zu suchen haben? Es gibt dort schließlich kaum Menschen und somit auch wenig Gesellschaft, die die Soziologie beforschen könnte. Weshalb also so ein Titel und so ein Thema? Nur weil es irritiert und eingängig ist? Der zweite Aspekt einer möglichen Abwegigkeit des Beitrags ist, dass hier Materialität das Thema der Vorlesungsreihe und des Bandes ist – und für den Gegenstand der Materialität hätte wohl kaum ein abwegigerer Gegenstand gewählt werden können als der Weltraum. Denn, wie wir es oftmals von der Physik gesagt bekommen, ist der Weltraum vor allem eins, und zwar leer. Wir hören immer wieder, die Planeten und vor allem die Erde seien nur sehr kleine Punkte in den Weiten des Weltraums. Da gibt es Sterne, Planeten, Asteroiden, Schwarze Löcher und andere verrückte Dinge, die Astronomen und Astrophysiker entdecken, aber dazwischen vor allem gähnende Leere. Das ist einerseits faszinierend, andererseits erscheint es uns sehr fremd. Die Anmutung von Fremdheit durch grenzenlose Leere ist nicht weiter 54
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verwunderlich. Unsere Alltagswelt auf der Erde ist das glatte Gegenteil davon, denn diese erscheint uns gerade zu voll mit Materie. Dies beginnt bereits mit dem Fakt, dass wir dank Gravitation ständig mit dem Boden konfrontiert sind. Wir denken selten darüber nach, aber selbst das Auf-dem-Boden-Stehen ist kein so trivialer Sachverhalt, wie es scheinen mag – es fällt uns nur sehr selten auf. Anna Henkel veranschaulicht in ihrem Beitrag in diesem Band, dass es allein nicht so einfach ist, zu sagen, was ›der Boden‹ eigentlich ist. In gleichem Maße kommt auch die Sprache im Weltraum hin und wieder an ihre Grenzen – so ist es schon gar nicht so einfach, einen Raum, der kaum Boden und Gravitation hat, zu ›betreten‹. Ebenso schwierig ist das Erfahren des Raums durch Anfassen, Riechen oder Hören – die dafür nötige Materie muss der Raumfahrer bislang meist selbst mitbringen. Was uns dazu bringt, dass es im Weltraum auch noch eine ganze Palette anderer Dingen gibt: Historisch gesehen seit Kurzem gibt es im Weltraum Satelliten, Raumschiffe, Raumstationen, Mondautos, Raumsonden und – nicht zu vergessen – auch Weltraumschrott. Aber das, was der Mensch bisher in den Weltraum befördert hat, ist vergleichsweise nicht viel und es kam auch noch nicht sonderlich weit. Ein dritter und letzter Punkt, warum es scheinen könnte, als befinde sich der Beitrag auf Abwegen: Materialität als Thema der Vorlesungsreihe ist gerade deshalb spannend, weil man hier auch von einer Baustelle der Soziologie sprechen kann. Denn in der soziologischen Theorie und Tradition kommt der Einfluss von Materialität und Dingen oftmals zu kurz. Meist wird in der Soziologie doch an mehr oder weniger vernünftige Akteure gedacht, die in gesellschaftlichen Zusammenhängen handeln und interagieren. Gegenstände, Dinge und Materialität dürfen in der Theorie oftmals nicht auf Augenhöhe mitspielen. Viele Soziologen haben diese Themen in der Vergangenheit bewusst den Naturwissenschaften überlassen (vgl. Henkel 2014). 55
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Das ohnehin schon identifizierbare Defizit der Soziologie in dieser Hinsicht will ich hier noch ein Wenig auf die Spitze treiben, indem ich als theoretische Hintergrundfolie auf einen Soziologen zurückgreife, der oftmals als besonders weltfremd dargestellt wird, und zwar: Niklas Luhmann.
Luhmanns Systemtheorie – Kommunikation und Systeme Was macht Luhmanns Theorie so weltfremd und damit so passend abwegig für diesen Beitrag? Luhmann verbannt erst einmal den Menschen aus der Gesellschaft. In seiner Theorie besteht Gesellschaft nicht aus einer Summe von handelnden Akteuren, sondern aus Kommunikation, die sich in Systemen stabilisiert und in diesen dann sozusagen ›umherwabert‹. »Der Mensch kann nicht kommunizieren; nur die Kommunikation kann kommunizieren.« (Luhmann 1990, S. 31) (Als Einführungs- und Übersichtsliteratur zu Luhmanns Werk siehe Jahraus et al. 2012; Lorenz und Müller 2016; Baraldi, Corsi und Esposito 1997). Gesellschaftlich relevant ist nur, was kommuniziert wird. So formuliert Luhmann etwa bezüglich ökologischer Probleme: »Es mögen Fische sterben oder Menschen, das Baden in Seen oder Flüssen mag Krankheiten erzeugen, es mag kein Öl mehr aus den Pumpen kommen und die Durchschnittstemperaturen mögen sinken oder steigen: solange darüber nicht kommuniziert wird, hat dies keine gesellschaftlichen Auswirkungen. Die Gesellschaft ist ein zwar umweltempfindliches, aber operativ geschlossenes System.« (Luhmann 1986, S. 63) Menschen sind lediglich Umwelt dieser Gesellschaft. Die Kommunikationssysteme der Gesellschaft, die so ganz immateriell immer weiter kommunizieren, bauen in ihrem fortlaufenden Operationsfluss jeweils für sich eine gewisse Autonomie auf, 56
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grenzen sich selbst nach außen, gegen ihre Umwelt ab, indem sie ganz spezifisch und je spezialisiert kommunizieren. Damit bilden diese Systeme auch ihre eigenen Rationalitäten und Realitäten aus (vgl. Luhmann 1998, S. 707f.) – wie z.B. die Politik, bei der es um Macht geht (vgl. Luhmann 2000), die Wirtschaft, die sich mit Geld beschäftigt (vgl. Luhmann 1988) oder die Wissenschaft, die sich im weitesten Sinne um Wahrheit kümmert (vgl. Luhmann 1990). So verhält es sich dann auch mit der Soziologie, die als Wissenschaft die Gesellschaft betrachtet und beobachtet. Auch Soziologie ist dann nur ein Kommunikationszusammenhang unter anderen innerhalb des eigenen Beobachtungsobjekts ›Gesellschaft‹. Diese Erkenntnis bezeichnet Luhmann als »›autologische‹ Komponente« (1998, S. 16) seiner Theorie (vgl. auch Luhmann 1990, S. 485f.). In der Moderne, in der diese Gesellschaftsbereiche sehr differenziert sind und weit auseinandertreten, kann man nicht mehr absolut sagen, wessen Realität denn nun die richtige ist – kein Standpunkt kann noch legitim absolute Wahrheit beanspruchen. Ist dieser Sachverhalt so, wie es die Politik sagt oder so, wie es die Wirtschaft sagt? Jede Position hat in ihrer Realität Recht. Absolut bleibt es unentscheidbar, da es keine Instanz gibt, die jegliche Perspektivität zu transzendieren vermag. Aufgrund dieser Erkenntnis ist die typische Antwort von Soziologen auf ungefähr alles auch erst einmal: ›Das kommt darauf an.‹
›Wie war das denn jetzt mit dem Weltraum?‹ – ›Das kommt darauf an …‹ Wenn man sich auf die luhmannsche Betrachtungsweise einlässt, dann ist der Weltraum nicht zwangsläufig ein physischer oder physikalischer Raum, sondern zunächst ein Thema für und von Kommunikation – wenn man so will: eine Art Raum für Kommunikation. Die Anschlussfrage ist dann, wie und wozu
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kommuniziert welches Kommunikationssystem über den Weltraum? Das führt zu dem Punkt, was denn die Kompetenz der Soziologie ist. Eine Kompetenz, welche die Soziologie allgemein besitzt, nicht nur die luhmannsche Spielart, auch wenn die Formulierungen hier seinem Vokabular folgen: Die Soziologie ist geübt darin, mit verschiedenen Perspektiven umzugehen. Sie kann Beobachtungen als Beobachtungen beobachten (zu Beobachten vgl. Luhmann 1990, Kap. 2). Warum sollte man Beobachtungen beobachten? Jede Beobachtung trifft eine Unterscheidung und bezeichnet zugleich eine der unterschiedenen Seiten dieser Unterscheidung (vgl. etwa Luhmann 1998, Kap 1, IV; Als Inspirationsquelle zum diesem Denken in Unterscheidungen führt Luhmann sehr häufig den britischen Mathematiker George Spencer-Brown [1994] an). Kommunikation, die beobachtet, aktualisiert damit das, worüber gesprochen wird und blendet das andere aus als das, worüber jetzt nicht gesprochen wird. Kommunikation kann nicht alles auf einmal thematisieren und ist insofern beschränkt, als dass sie immer nur selektiv an vorangegangene Kommunikation anschließen kann. Was die Beobachtung zudem noch mit sich bringt, ist, dass sie immer einen blinden Fleck hat. D. h., eine Beobachtung von einem bestimmten Standpunkt aus sieht immer dadurch, dass sie etwas sieht, zwangsläufig ihre eigene Perspektivität nicht – zumindest nicht gleichzeitig im selben Augenblick. Diese blinden Flecke haften immer am Beobachter. Er kann sich sozusagen selbst nicht dabei sehen, wenn er beobachtet (vgl. Luhmann 1990, S. 519f.). Da der soziologische Beobachter das weiß (obgleich er vielleicht auch nicht immer daran denkt) und schon lange damit umgehen muss selbst in seinem Beobachtungsgegenstand – nämlich der Gesellschaft – enthalten zu sein, kann er nun zumindest darauf aufmerksam machen, dass dem so ist. Der soziologische Beobachter kann durch das Aufzeigen der 58
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Perspektivität und der Kontingenz von Weltsichten das ›Normale‹ und ›Übliche‹ darstellen, das sonst oftmals gar nicht sichtbar ist. Das kann man dann, wenn man will, »soziologische Aufklärung« (Luhmann 1967) nennen. Damit ist keine Besserwisserei gemeint – auch die Soziologie produziert ihre eigenen blinden Flecken und kann damit ebenso wenig für sich selbst beanspruchen, die ›richtige‹ Wahrheit zu kennen. Das ist dann ab und zu ein ›Stein-den-Berg-hoch-rollen‹ oder ein ›Kampf gegen Windmühlen‹ – auch das kann Erkenntnisse und Einsichten hervorbringen, solange es nicht zur Resignation führt. In anderen Worten: Die Soziologie achtet einerseits darauf, wer wie (warum und wozu) auf Sachverhalte schaut und wie und wozu kommuniziert wird. Andererseits achtet sie möglichst auch auf die Distanz, die sie selbst zu dem, was sie beobachtet, hat, wenn sie es beobachtet. Eine gewisse analytische Distanz ist notwendig, um einen ›unbefangenen‹ Überblick über den Gegenstand zu erlangen, aber »[v]on gesellschaftlicher Selbstbeobachtung kann man nur sprechen, wenn die Beobachtung sich von ihrem Gegenstand nicht distanziert, sondern sich selbst mitmeint« (Luhmann 1986, S. 230f.).
Beobachtungen im Weltraum Mit dem Verständnis der Gesellschaft als sinnhaft verfasstem Ensemble an Kommunikationszusammenhängen, in dem Beobachtungen und Beobachtungen von Beobachtungen von verschiedenen Standpunkten aus in verschiedenen Distanzverhältnissen stattfinden, kann festgestellt werden, dass das alltagsweltliche Bild vom Weltraum hauptsächlich von einer naturwissenschaftlich-physikalischen Sicht geprägt ist. So führt der Begriff der Distanz zurück zum Weltraum: Was den Weltraum für uns so leer macht, das ist, dass die Distanzen von uns zu dem, was da ist, und die Distanzen zwischen dem, was da ist, so groß erscheinen. Die Weite des Raumes macht ihn so 59
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leer. Das Leere am Raum ist schnell langweilig und man sucht im Nichts nach etwas. Mit dem Teleskop kann ich die Leere selbst schwer in den Fokus nehmen, ich richte es auf die Dinge, die aus der Leere hervorscheinen. Wird der Weltraum zugänglich, so will man da hin, wo etwas ist – also zum Mond, zum Mars und noch viel weiter. Im Anschluss an Helmuth Plessners philosophische Anthropologie, sieht Joachim Fischer (2014) so auch in der bemannten Raumfahrt das Streben des Menschen als Phantasielebewesen über sich selbst hinaus fortgesetzt; als »exzentrische Positionalität im Kosmos«. Für die Raumfahrt werden die großen Distanzen des Weltraums in physikalischen Kategorien und Dimensionen – Raum und Zeit – zum Problem: Entweder dauert es unfassbar lange, sie zu überbrücken oder, wenn es schnell gehen soll, dann benötigt man dazu verrückte Geschwindigkeiten, was dann neben der technischen Machbarkeit auch mit unserem Zeitverständnis konfligiert. Das kennt man von der Relativitätstheorie – Stichwort: Zwillingsparadox. Das versteht dann der ›normale‹ Mensch nicht mehr so wirklich. Die Physik ist ja auch keine soft science wie die Soziologie. Ist aber nicht das, was oben mit Luhmann beschrieben wurde, so eine Art soziologische Relativitätstheorie der Gesellschaft? ›Der Weltraum ist das, was als Weltraum kommuniziert wird.‹ Von Einstein wissen wir – auch wenn wir es nicht ganz verstehen mögen – Relativität heißt nicht Beliebigkeit, sondern führt zu der Einsicht, dass es immer auf den Standpunkt, auf das Inertialsystem ankommt, von wo aus ein Beobachter das Geschehen verfolgt. Dem einen scheint der vorbeifahrende Zug verkürzt, dem anderen der vorbeiziehende Bahnsteig – und beide haben Recht. Das System, in dem der Beobachter sich befindet, kann man wiederum von einem anderen System aus beobachten und beschreiben. Ein absoluter Raum und eine absolute Zeit, an denen wir uns objektiv festhalten könnten, fallen weg. Im Prin60
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zip nicht anders als mit Kommunikationssystemen – der soziologische Blick sieht: Wir können die Systeme beim Beobachten beobachten und so mehr über sie herausfinden, als sie selbst es können. Wir sehen bei diesem Blick allerdings wiederum nicht, was wir nicht sehen. Auch hier entgleitet uns der so sicher geglaubte Standpunkt für absolute, objektive Aussagen. Und dies nicht nur für raumzeitliche Verortungen, sondern ebenso für Inhalte von Kommunikation und auch die Frage, wann Kommunikation zustande kommt. Jede Beobachtung benötigt Distanz zum Beobachteten. Die Soziologie kann – auf ihre Weise – ganz gut mit solchen Distanzen umgehen, die nicht unbedingt als rein physisch-räumlich oder -zeitlich zu verstehen sind. Und so ist es nicht unbedingt handfeste, materielle Technik, mit der Distanzen überbrückt werden. Technik muss nicht rocket science sein; der Weltraum wird nicht allein durch menschliche, körperliche Präsenz und das Platzieren von Flaggen erschlossen. Einher geht ein solches Erschließen von ›neuen Räumen‹ auch immer mit einer gesellschaftlichen, kulturellen, thematischen Ordnung und Einordnung dessen, was dort aufgefunden wird und was dort passiert. Wie auf einer Wiese ein Trampelpfad entsteht, so schlägt die Kommunikation zunächst unbekannte, ungewisse Wege ein, die weiterer Kommunikation zur Orientierung dienen und andererseits auch als Einschränkung wirken können – man will ja nicht immer abweichen oder ›vom rechten Weg abkommen‹. Der Weltraum als wenig erschlossener Raum scheint aufgrund der großen Distanzen – vor allem der großen Distanz zu unserer Alltagswelt – als sehr weiter, unüberschaubarer, fremder Raum, egal ob nun physisch-räumlich oder sinnhaft-kommunikativ oder anders verstanden. ›Unendliche Weiten.‹ Vom Weltraum aus betrachtet wird uns klar, wie voll und geordnet doch unsere Alltagswelt ist. Die Leere und Weite des Weltraums ist das Nichtalltägliche an ihm, das Spannende, das, was ihn 61
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interessant macht – wie man es auch am Titel des Beitrags sehen kann: Alles klingt interessanter, wenn man »…im Weltraum« dahinter schreibt. Das Tragische ist vielleicht, dass der Weltraum auch nur von ›hier unten‹ so spannend wirkt. Je mehr er erschlossen wird, je alltäglicher das Bewegen im Weltraum wird, desto langweiliger wird er auch. Der Raumschiffpilot ist kein größerer Held als der Busfahrer. In den Worten von Elton Johns Rocket Man: »And all this science I don’t understand. It’s just my job five days a week.« Die eigentliche Problemstellung für die Gesellschaft ist nicht die, wie man Menschen ins All befördert, mitsamt allem, was dazu gehört (vom Raketen bauen bis zum Gemüseanbau auf dem Mars). Die Problemstellung ist: Wie erschließt sich die moderne Gesellschaft in ihrer Gesamtheit diesen Raum? Anders gesagt: Wie wird der Horizont der Gesellschaft dort erweitert und hinaus geschoben. Und wenn man mitbedenkt, dass die Gesellschaft, die sich diesen Raum erschließt, eine Gesellschaft mit vielen verschiedenen, relativ autonomen Kommunikationszusammenhängen, also: Perspektiven auf die Welt, ist, dann ist auch zu beachten, dass es nicht nur eine und schon gar keine ›richtige‹ Form und Art und Weise gibt, wie der Weltraum erschlossen wird. Es ist nicht auszumachen, wie dies geschehen sollte, aber es ist doch die Frage zu bedenken, wie den einzelnen Gesellschaftsbereichen ein Zugang zu diesem Raum offengehalten werden kann; wie sie in Bezug auf diesen Raum ihre eigene Berechtigung haben können. Soziologen müssen dann wohl auch nicht direkt persönlich in den Weltraum geschossen werden – oder: noch nicht? Aber die Kompetenzen der Soziologie sind ›dort‹ nicht fehl am Platz. Eher wäre es misslich, eine gesellschaftliche Perspektive zurück zu lassen, die einen Beitrag zur Reflexion der Gesellschaft im Weltraum leisten kann. Der Weltraum gehört nicht allein den Natur- und Ingenieurwissenschaften. 62
Systemtheorie I
Was kann man jetzt mitnehmen aus diesem als abwegig angekündigten Beitrag? Ich will an dieser Stelle nicht sagen, dass die Punkte, die ich am Anfang genannt habe, jetzt am Ende doch nicht abwegig sind, sondern eher, warum gerade das Abwegige gut sein kann. Der Titel und die Tatsache von »Soziologen im Weltraum« erscheinen uns absurd, weil wir es für ›normal‹ halten, dass Raumfahrer handfeste, anständige Berufe gelernt haben. ›Normal‹ scheint uns, dass Naturwissenschaft und Ingenieure mit ihrer Technik den Weltraum erobern. Doch diese Vorstellung zeugt von einem partiellen und einseitigen Erschließen dieses Raumes, da es nur einen kleinen Teil der Gesellschaft ausmacht. Solch eine Einseitigkeit kann zu Problemen führen, wie es auf der Erde schon feststellbar ist, wenn etwa Räume einseitig als Ressourcen ausgebeutet, von Nationen als Territorium umkämpft werden und um die Deutungshoheit über bestimmte Weltvorstellungen gestritten wird. Wir denken gleich daran, dass man den Weltraum mit Raumschiffen, Mondbasen und Marsmissionen erschließt und finden es dann absurd, Soziologen in den Weltraum zu schicken – aber: die Gesellschaft war schon vor dem physischen Menschen im Weltraum. Über den Weltraum wurde schon lange gesprochen und spekuliert, er wurde schon lange kommunikativ thematisiert, bevor es den ersten Kosmonauten gab. Die Gesellschaft ist mehr als eine Summe von Menschen und sie erschließt und ordnet Räume schneller und tiefgreifender als der physische Mensch diese betreten kann. Abwegigkeit ist nicht immer verkehrt, wenn sie dazu führt, Dinge anders zu betrachten und damit mehr zu sehen als zuvor. Von einem anderen, weniger oder anders ausgetretenen Weg aus hat man einen anderen Blick, eine andere Perspektive. Und vielleicht sollte man auch einmal einen Soziologen in den leeren, weiten Weltraum schießen, damit er mit hinreichender Distanz 63
Nikolai Drews
beobachten kann, wie die alltägliche Gesellschaft auf der so vollen Erde funktioniert.
Zum Weiterlesen Baraldi, Claudio/Corsi, Giancarlo/Esposito, Elena (1997): GLU: Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Jahraus, Oliver/Nassehi, Armin/Grizelj, Mario/Saake, Irmhild/ Kirchmeier, Christian/Müller, Julian (Hg.) (2012): LuhmannHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-05271-1 Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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Systemtheorie I Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-05271-1 Latour, Bruno (1992): »Where Are the Missing Masses? The Sociology of a Few Mundane Artifacts«. In: Wiebe E. Bijker/John Law (Hg.). Shaping Technology/Building Society: Studies in Sociotechnical Change. Cambridge: MIT Press, S. 225-258. Lindemann, Gesa (2014): Weltzugänge. Die mehrdimensionale Ordnung des Sozialen. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Lorenz, Ansgar/Müller, Julian (2016): Niklas Luhmann. Philosophie für Einsteiger. Paderborn: Wilhelm Fink. Luhmann, Niklas (1967): Soziologische Aufklärung. In: Soziale Welt 18, 2/3. Baden-Baden: Nomos, S. 97-123. Luhmann, Niklas (1986): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen: Westdeutscher Verlag. Luhmann, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1990): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (2000): Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Reckwitz, Andreas (2003): »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«. In: Zeitschrift für Soziologie 32, 4. Berlin: De Gruyter, S. 282-301. Simmel, Georg (2001): »Soziologie der Mahlzeit«. In: Ders. (Hg.). Aufsätze und Abhandlungen 1909-1918, Bd. 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 140-147. Spencer-Brown, George (1994): Laws of Form. Portland: Cognizer Company.
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Critical Realism Arbeit. Zur Verselbständigung des Sozialen am Beispiel der Industrie 4.0 Dimitri Mader Wenn es um die Zukunft industrieller Arbeit geht, dann ist in den letzten Jahren immer häufiger von Industrie 4.0 die Rede. Unter diesem Schlagwort wird im deutschen Diskurs über eine Entwicklungsrichtung von Technologie und Arbeitsorganisation debattiert, die zwar in Ansätzen bereits Gestalt angenommen hat, in großen Teilen aber noch im Bereich des Hypothetischen angesiedelt ist. Entsprechend wird sich auch dieser Beitrag eher mit einem bestimmten Szenario technologischer Entwicklung beschäftigen, denn mit einer bereits eingetretenen Realität. Laut einer geläufigen Definition von Industrie 4.0 handelt es sich dabei um »eine neue Stufe der Organisation und Steuerung der gesamten Wertschöpfungskette über den Lebenszyklus von Produkten […]. Basis ist die Verfügbarkeit aller relevanten Informationen in Echtzeit durch Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Instanzen sowie die Fähigkeit aus den Daten den zu jedem Zeitpunkt optimalen Wertschöpfungsfluss abzuleiten. Durch die Verbindung von Menschen, Objekten und Systemen entstehen dynamische, echtzeitoptimierte und selbst organisierende, unternehmensübergreifende Wertschöpfungsnetzwerke.« (BITKOM et al. 2015, S. 8; nach Butollo und Engel 2015) Eine Grundvoraussetzung sind sogenannte Cyber-PhysischeSysteme, d. h. die möglichst lückenlose virtuelle Abbildung phy67
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sischer Produktions- und Lieferabläufe in Echtzeit, ermöglicht durch GPS-Tracking oder durch das Versehen von Werkstücken mit Barcodes, die dann automatisiert eingescannt werden. Auf dieser Basis können Computersysteme nun Produktionsflüsse und Lieferketten automatisiert steuern, indem sie in ständiger Kommunikation mit den einzelnen Produktionseinheiten (Maschinen, Roboter, Sensoren oder andere datenverarbeitende Systeme) stehen. Das schließt sowohl automatisierte Fehlerkorrektur wie auch ein flexibles Reagieren auf wechselnde Umweltanforderungen ein, etwa bezüglich der Auftragslage oder Materialpreise. Die selbststeuernden Systeme lassen sich über das Internet zu betriebs- und unternehmensübergreifenden Produktionsnetzwerken verknüpfen. Hierdurch können Wertschöpfungsketten in globalem Maßstab hinsichtlich logistischer und monetärer Effizienz optimiert werden. Ohne Zweifel hat dieses Entwicklungsszenario weitgehende Konsequenzen arbeitsorganisatorischer und gesellschaftspolitischer Art, über deren Deutung und Gestaltung bereits lebhafte Debatten geführt werden. Im Folgenden soll mit Begriffen aus der kritisch-realistischen Sozialtheorie der These nachgegangen werden, dass es sich hier zugleich auch um Veränderungen auf dem Niveau der Sozialontologie, d.h. der fundamentalen Beschaffenheit des Sozialen, handeln könnte. Aus der Verbindung von Vermarktlichung der Unternehmenssteuerung mit flexiblen und selbstlernenden Algorithmen schließen sich womöglich zwei Ebenen der Verselbständigung des Sozialen zusammen, so dass nichtintendierte Handlungseffekte zweiter Ordnung entstehen. Politisch besonders problematisch werden solche Verselbständigungsprozesse bei einer verdinglichenden Wahrnehmungsweise. Zur Entfaltung dieser These werden zunächst drei grundsätzliche Weisen skizziert, in denen das Soziale existiert: Kollektive Sinnkonstruktionen, emergente Strukturen und Vergegenständlichung. Mit dem Critical Realism wird argumentiert, dass 68
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soziale Sinnkonstruktionen nur eine Existenzweise des Sozialen sind, der mit Emergenz und Vergegenständlichung zwei weitere zur Seite gestellt werden müssen. Auf dieser theoretischen Grundlage lassen sich dann die angedeuteten Verselbständigungsprozesse in der Industrie 4.0 skizzieren.
Das Soziale als kollektiv geteilte Sinnkonstruktion Ganz grundlegend unterscheiden sich soziale Entitäten von Dingen und Prozessen der physischen Welt dadurch, dass sie existenziell abhängig sind vom Denken und Handeln bewusstseinsfähiger Wesen, den Menschen. Dies lässt sich sozialkonstruktivistisch so fassen, dass das Soziale in Form kollektiver Imaginationen oder kollektiv geteilter Sinnzuschreibungen existiert. Wie der Historiker Yuval Noah Harari argumentiert, zeichnet sich Homo Sapiens insbesondere durch eine Fähigkeit von anderen Hominiden aus: Er kann sich Dinge vorstellen und über Dinge sprechen, die es in der materiellen Welt nicht gibt, die also etwas anderes sind als Repräsentationen sinnlich wahrnehmbarer Ereignisse: »Yet the truly unique feature of our language is […] the ability to transmit information about things that do not exist at all. As far as we know, only Sapiens can talk about entire kinds of entities that they have never seen, touched or smelled.« (Harari [2011] 2015, S. 27) Harari zufolge existieren Mythen, Religionen und soziale Institutionen, insofern genügend Menschen einer Gesellschaft den kollektiven Glauben an ihre Existenz teilen. Auf diesem Gedanken beruht auch John Searles Sozialontologie. Ihm zufolge haben soziale Institutionen eine subjektive Ontologie (vgl. Searle 2005, S. 4): Ihre Realität und damit auch ihre Wirkkraft auf uns setzt 69
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voraus, dass sie von menschlichen Subjekten als solche wahrgenommen und (faktisch) anerkannt werden. Genauer gesagt bestehen Institutionen nach Searle in der Zuweisung von Statusfunktionen durch kollektive Akzeptanz. Bestimmten materiellen Objekten, Menschen oder auch fiktiven Entitäten wird kollektiv ein bestimmter sozialer Status zugesprochen, d.h. es besteht die kollektive Übereinkunft, dass diese Entität bestimmte Rechte, Pflichten, Befugnisse oder allgemein eine bestimmte Bedeutung innerhalb eines sozialen Kontextes hat. Die Kurzformel hierfür lautet: »X counts as Y in C« (ebd., S. 7), wobei Y die Statusfunktion ist, die X zugeschrieben wird und die innerhalb eines sozialen Kontextes C gilt: »Diese Figur gilt als Turm im Spiel Schach; Dieses Stück Papier zählt als Geld in Europa; Diese rituelle Abfolge von Handlungen zählt als Konstitution einer Ehe«. Die durch kollektive Akzeptanz zugeschriebenen Funktionen bzw. sozialen Bedeutungen sind konstitutiv für soziale Institutionen. So wie die Regeln des Schachs erst das Schachspiel konstituieren, so schaffen soziale Regeln/Normen erst eine soziale Realität, die bestimmte Handlungen ermöglicht und andere ausschließt. So ermöglichen die Regeln des deutschen Rechtssystems die Konstitution einer ›Gesellschaft mit beschränkter Haftung‹, einer mit ganz bestimmten Eigenschaften und Fähigkeiten ausgestatteten juristischen Person. Ein Wirtschaftsunternehmen als juristische Person existiert, insofern genügend relevante Akteure akzeptieren, dass es existiert. Die kollektive Akzeptanz muss dabei nicht in einem expliziten bewussten Akt vollzogen werden. Häufig handelt es sich auch um Routinisierung von kollektiv geteilten Praktiken und den darin impliziten Bedeutungszuweisungen – dass wir X immer wieder als Y behandeln – die sich mit der Zeit zu Institutionen ›sedimentieren‹. Entscheidend ist aber, dass in dieser sozialkonstruktivistischen Perspektive soziale Institutionen in ihrem Kern in kollektiven Sinnkonstruktionen bestehen. Ihre Wirkung ist aus Sicht der Einzelnen 70
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mitunter nicht weniger real und fest als eine physische Mauer. Aber um mit bestimmten Eigenschaften und Wirkkräften zu existieren, müssen sie in den subjektiven Wahrnehmungs- und Deutungsmustern von genügend Akteuren auftauchen.
Das Soziale als emergentes Produkt strukturell bedingter Interaktionsmechanismen Der Critical Realism teilt die (nur schwer zu bestreitende) Annahme, dass das Soziale existenziell abhängig ist von Menschen und deren subjektiven Intentionen und Sinnzuschreibungen. »No people: no society.« (Archer 1995, S. 141) Allerdings sind dieser Perspektive zufolge keineswegs sämtliche Eigenschaften und kausalen Wirkkräfte sozialer Entitäten auch deckungsgleich mit den subjektiven Sinnkonstruktionen der handelnden Akteure. Das, was aus dem mitunter komplexen Zusammenwirken einer Vielzahl von Handlungen resultiert und das, was Akteure sich bei ihren Handlungen denken, muss keinesfalls übereinstimmen. Das Soziale existiert dem Critical Realism zufolge noch in einer weiteren Form: als emergente Eigenschaften und Wirkkräfte sozialer Strukturen, die sich aus Interaktionsmechanismen ergeben. Dave Elder-Vass folgend sind emergent allgemein diejenigen Eigenschaften einer Entität, welche diese nur als strukturierte Ganzheit besitzt: »[D]ie einzelnen Teile der betreffenden Entität hätten jene Eigenschaften nicht, wenn sie nicht in Form eben dieser Ganzheit organisiert wären.« (Elder-Vass 2017b, S. 80) So besitzen weder Wasserstoff noch Sauerstoff die Eigenschaft, bei Raumtemperatur flüssig zu sein, diese haben die beiden Teile erst in einer bestimmten Verbindung miteinander, als H2O. Analog dazu können auch soziale Institutionen, Organisationen und systemische Prozesse als soziale Entitäten mit jeweils spezifischen emergenten Eigenschaften verstanden werden. Eine Organisation kann dann als Ganzheit bestimmte Wirkkräfte ›nach außen‹ besitzen. Man denke an die Produktivität eines 71
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Automobilkonzerns, d.h. die Fähigkeit, eine bestimmte Menge an Autos in einer bestimmten Qualität mit einem bestimmten Ressourceneinsatz zu produzieren. Diese resultiert ganz entscheidend aus der Struktur der organisationsinternen Arbeitsteilung, welche sowohl Relationen zwischen menschlichen Akteuren als auch Menschen und technischen Artefakten einschließt. Soziale Strukturen können aber auch emergente Wirkkräfte »nach innen«, d.h. auf die sozial positionierten Akteure entfalten. Mitglieder einer Organisation haben andere Handlungsmächte und unterliegen anderen Zwängen als Nicht-Mitglieder. Die jeweilige Rolle, die ein Akteur in einer Organisation einnimmt, strukturiert seine Handlungsmöglichkeiten. Ebenso unterliegen Akteure auf einem Markt bestimmten Konkurrenzzwängen, die sich je nach Marktmacht unterscheiden. So ist ein Automobilunternehmen etwa zu permanenter Verbesserung seines Produktionsapparates gezwungen, will es nicht von KonkurrentInnen verdrängt oder übernommen werden. Das Verhältnis zwischen den oben angeführten subjektiven Sinnzuschreibungen und emergenten Kausalkräften sozialer Strukturen ist komplex. Denn zum einen setzen soziale Strukturen und die Interaktionsmechanismen, durch welche diese Strukturen reproduziert werden, Sinnzuschreibungen voraus. Markttransaktionen beispielsweise würden ohne die kollektive Akzeptanz von Privateigentum, Kaufverträgen oder z.B. Euro als Zahlungsmittel nicht funktionieren. Insofern setzen die Kausalkräfte und Tendenzen kapitalistischer Märkte, wie der Verwertungszwang des Kapitals, Inflation oder ökonomische Krisen, auf Sinnkonstruktionen auf. Zum andern sind aber soziale Zwänge, die sich erst aus einem bestimmten strukturierten Ganzen ergeben, häufig Ursache dafür, dass wir bestimmte soziale Normen und Institutionen faktisch akzeptieren (vgl. hierzu Elder-Vass 2015). Entscheidend an dieser Stelle ist, dass soziale Entitäten Kausalkräfte besitzen können, die zwar auf 72
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irgendeine Weise an kollektive Sinnkonstruktionen gekoppelt sind, diesen aber keinesfalls direkt entsprechen müssen. Ihre Realität, also die Weise, in der sie unser Handeln beeinflussen können, geht manchmal ganz erheblich über die von irgendeinem Subjekt vorgestellten Bedeutungen hinaus. So kann ein Unternehmen durch Konkurrenten aus dem Markt gedrängt und insolvent werden, mit der Folge, dass sämtliche MitarbeiterInnen ihren Job verlieren. Die Ursache hiervon liegt nicht darin, dass die beteiligten Akteure kollektiv ihren Glauben an die Existenz des Unternehmens verloren hätten, sondern in Interaktionsmechanismen unter bestimmten Strukturbedingungen, die oft von keinem Akteur bewusst wahrgenommen werden – bis es zu spät ist.
Die Vergegenständlichung des Sozialen in materiellen Artefakten Der Critical Realism macht darauf aufmerksam, dass es neben kollektiven Sinnkonstruktionen und emergenten Kausalkräften noch einen weiteren Existenzmodus des Sozialen gibt: Seine Vergegenständlichung in der materiellen Welt. Das Soziale existiert hier in Form der Einschreibung menschlicher Praktiken und Intentionen in Artefakte – in Gebrauchsgegenstände, Werkzeuge, technische Apparate oder Architektur – die dann als Teil sozialer Strukturen wieder auf soziales Handeln zurückwirken. »Technology can be understood as the site in which the social achieves a different mode of existence through its embodiment in material things.« (Lawson 2007, S. 42) Artefakte sind zunächst Objekte, die eine soziale Funktion oder Bedeutung haben und entsprechend in menschliche Praktiken einbezogen sind. Insofern sind sie Ausdruck und Ergebnis kollektiver Sinnzuschreibungen: Ein Stuhl ist ein Stuhl, weil wir das Objekt kollektiv als Stuhl wahrnehmen und gebrauchen. Die Eigenschaft des Stuhl-Seins ist keine materielle Eigenschaft des betreffen73
Dimitri Mader
den Objektes, sondern eine sozial-relationale Eigenschaft, eine Statusfunktion im Sinne Searles. Nun schreiben wir sozialen Sinn aber häufig Objekten nicht nur formal zu, sondern wir verändern diese oder schaffen sie erst auf den intendierten Zweck hin. Der verallgemeinerte Zweck des Sitzens nimmt im Material Gestalt an. Sobald Soziales nun aber in Form von Artefakten vergegenständlicht ist, unterliegt es nicht mehr nur sozialen Mechanismen, sondern auch materiellen, also physikalischen, chemischen oder biologischen. Artefakte mit spezifischen materiellen Kausalkräften werden dann zu integralen Teilen sozialer Strukturen, was wiederum die Eigenschaften und Kausalkräfte letzterer bedeutend verändern kann (vgl. Elder-Vass 2017a). So können die in das Soziale integrierten Artefakte bestimmten Aspekten sozialer Strukturen besondere Stabilität und Beharrungskraft verleihen. Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen können dauerhaft in die materielle Struktur von Artefakten eingelassen werden. Heinrich Popitz spricht in diesem Zusammenhang von »datensetzender Macht« (Popitz [1986] 1992, S. 167): Soziale Macht wird in die materielle Struktur von Objekten und Architektur eingeschrieben. Man denke an die einschränkende Wirkung von Mauern oder Gefängnissen, aber auch an den ermöglichenden Charakter von Infrastruktur und Ressourcen. Der Arbeitssoziologe Richard Edwards entwickelt das Konzept der technischen Kontrolle, mit dem er die in den technischen Produktionsapparat einer Fabrik eingelassene Kontrolle über die ArbeiterInnen bezeichnet. Klassisches Beispiel hierfür ist das frühe Ford-Montageband: Dieses legte sowohl die jeweiligen auszuführenden Arbeitsschritte als auch das erforderliche Arbeitstempo ganz genau fest. Der tägliche Arbeitsablauf erhält dadurch eine technologische Zwangsläufigkeit, die es den ArbeiterInnen beinahe unmöglich macht, ihre Arbeit auf andere Art und Weise zu verrichten als von der technischen Apparatur vorgegeben (vgl. Edwards [1979] 1981, S. 131). Artefakte können 74
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aber auch eine Eigenlogik und Eigendynamik entwickeln, die den Intentionen ihrer HerstellerInnen entflieht. Dies kann an den sie gebrauchenden Menschen (Zweckentfremdung), aber auch an der materiellen Eigenlogik der Dinge selbst liegen. Artefakte können kaputt gehen, sich unerwartet transformieren oder wie beim GAU eines Atomkraftwerkes außer Kontrolle geraten (vgl. Mutch 2010). Sobald das Soziale in Artefakten vergegenständlicht ist, entfaltet es also eine gegenüber kollektiven Sinnzuschreibungen eigenständige Kausalität, wirkt auf unser Handeln auch »unterhalb« der Schwelle bewusster Bedeutungszuschreibung.
Industrie 4.0 – eine neue Qualität verselbständigter Sozialität? Sowohl Emergenz als auch Vergegenständlichung sind Existenzweisen des Sozialen, die eine Realität jenseits subjektiver Intentionen und Sinnkonstruktionen entfalten. In beiden Fällen spielen subjektive Sinnkonstruktionen zwar eine konstitutive Rolle – Artefakte werden im Hinblick auf ihren sozialen Zweck hergestellt und emergente Sozialstrukturen resultieren aus intentionalem und an sozialen Bedeutungen orientiertem Handeln. Aber beide entfalten eine Eigenlogik gegenüber Sinnkonstruktionen – sei es vermittelt über soziale Interaktionsmechanismen oder über materielle Prozesse – die uns mit Realitäten konfrontiert, auf die wir in der einen oder anderen Weise reagieren müssen. Das ist im Prinzip nichts Neues. Was ist nun das Besondere an der Industrie 4.0 und inwiefern könnte dies von sozialontologischer Tragweite sein? Die hier vorgeschlagene These ist, dass es durch die Verbindung von Vermarktlichung der Unternehmenssteuerung mit einer neuen Qualität selbststeuernder und selbstlernender Algorithmen zu einer direkten Verbindung der beiden Verselbständigungsformen des Sozialen kommen könnte. Die materielle Eigenlogik der Technik schließt 75
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sich mit der Eigenlogik emergenter ökonomischer Prozesse kurz. Wir haben es dann nicht mehr nur mit emergenten Effekten menschlichen Handelns, sondern mit emergenten Effekten von ›Maschinenhandeln‹ zu tun. Eine doppelte Verselbständigung findet statt: Menschliche Intentionen verselbständigen sich durch die Eigenlogik von Algorithmen und indem diese zu Marktakteuren werden, verselbständigen sich wiederum deren ›Handlungs‹-Effekte auf der Makroebene. Aber (wie) können Algorithmen zu Marktakteuren werden? Was ist neu gegenüber bereits praktizierten Formen technischer Automatisierung? Die Inkorporierung von Algorithmen in technische Apparate ist an sich ein altbekanntes Phänomen. Im Grunde stellen viele komplexere technische Artefakt, wie z.B. ein Kaffeeautomat, einen Algorithmus dar: Vorne gibt man etwas ein, worauf der technische Apparat dieses nach vorher genau festgelegten Schritten verarbeitet und ein entsprechendes Ergebnis hinten ausgibt. Die von Edwards beschriebene automatisierte Produktionsanlage des Fordismus ist nichts anderes als ein komplexer Algorithmus, der ›Rohstoffe‹ nach vorher von Unternehmensleitung, Anlagenbauern und IngenieurInnen definierten Schritten zu Endprodukten verarbeitet. Der technischen Kontrolle unterworfen sind nur die ›einfachen‹ ArbeiterInnen, die den Vorgaben der Maschinen untergeordnete Tätigkeiten verrichten müssen. Aber Input und Verfahrensweise der Produktionsanlage wird zentral von Menschen festgelegt. Die Algorithmen des fordistischen Industrieunternehmens folgen relativ starren Abläufen und werden zentralistisch von Menschen gesteuert. Zwänge und Möglichkeiten des Marktes werden vom Management interpretiert, in Unternehmensstrategien übersetzt und dann auf einzelne Produktionsziele und schließlich mit Hilfe technischer ExpertInnen auf konkrete Produktionsprozesse heruntergebrochen. Im Automatisierungsszenario der Industrie 4.0 (vgl. Ittermann et al. 2016, S. 10) 76
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hingegen reagieren »die intelligenten Fabriken in Echtzeit auf Veränderungen im Marktumfeld oder der Wertschöpfungskette« (IG-Metall 2014), werden also Algorithmen zur Schnittstelle zwischen Markt und Produktion. Im Gegensatz zu den starren Produktionsanlagen des Fordismus sind Cyber-Physische-Systeme hochflexibel und können die Produktion zeitnah und selbständig an wechselnde Marktanforderungen anpassen. Die vermittelnde Rolle des Managements bei der Übersetzung zwischen Markt und Produktion könnte dann partiell an Algorithmen übergehen. Diese interpretieren die Situation auf dem Markt und übersetzen sie in Handlungsanweisungen nach vorher festgelegten Kriterien – nach innen in die Organisation (Initiierung von Produktionsschritten) oder nach außen als Kaufoder Verkaufsentscheidung. Voraussetzungen für eine solche direkte Verbindung von Algorithmen und Markt sind sowohl technische als auch organisatorische: Einerseits müssen die Algorithmen nicht nur riesige Datenmengen verarbeiten können, sondern auch flexibel und anpassungsfähig sein. Sie müssen auf neue Situationen in ihrer Umwelt reagieren und in entsprechende (gewinnbringende) Entscheidungen umsetzen können. Andererseits muss das Management seine zentralistische Planung ein Stück weit abgeben und die Grenze zwischen Markt und Unternehmen aufgeweicht werden. Dieser organisatorische Prozess ist bekanntlich schon länger im Gange (vgl. Sauer 2013). Auf dieser Grundlage kann dann beispielsweise das automatische System einer Unterabteilung je nach aktueller Auftragslage just in time Teile zum jeweils günstigsten Marktpreis nachkaufen. Als Verkaufsagent auf der Seite des Anbieters könnte dann ebenfalls ein Computerprogramm stehen. Besonders brisant wird es, wenn Algorithmen selbstlernend sind, d.h. ihre Ablaufprozeduren sich an Änderungen in der Umwelt anpassen. Dann wäre nämlich eine wirkliche technische Eigenlogik am Werk, die sich in Wechselwirkung mit systemischen Effekten 77
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ökonomischer Märkte entfaltet. Eine sich daran anschließende Forschungsfrage wäre, ob bei solchen zweistufigen Verselbständigungsprozessen möglicherweise ganz neuartige Effekte entstehen, die mehr sind als nur die Summe aus der Eigenlogik selbstlernender Algorithmen und derjenigen emergenter Sozialstrukturen. Wie verhalten und entwickeln sich Algorithmen unter Marktbedingungen? Wie verändern sich Märkte und Organisationen mit Algorithmen als Akteuren?
Schluss: Verselbständigung und Verdinglichung des Sozialen Nicht zuletzt stellt sich die grundsätzliche Frage, welchen Stellenwert den Menschen, ihren Zwecksetzungen und Bedürfnissen, in solchen Verselbständigungsprozessen zukommt. Hier setzen die bereits jetzt intensiv geführten politischen Debatten um die Zukunft der Industrie 4.0 ein. In diesem Kontext der politischen Gestaltung sollte noch eine wichtige begriffliche Differenzierung erwähnt werden. Die hier mit dem Critical Realism skizzierten Verselbständigungsformen des Sozialen sind zu unterscheiden von ihrer verdinglichenden Wahrnehmung. Emergenz und Vergegenständlichung verweisen auf objektive Prozesse der Verselbständigung. Diese bleiben aber immer rückgebunden an menschliches Handeln und können infolgedessen auch durch kollektive Praktiken verändert werden. Von Verdinglichung kann man, in Anlehnung an Marx und die Kritische Theorie, hingegen dann sprechen, wenn der eigentliche Ursprung sozialer Prozesse und Entitäten, nämlich subjektive Sinnkonstruktionen, Intentionen und Praktiken, ›vergessen‹ wird und diese so als etwas quasinatürlich Gegebenes erscheinen. Die hinter den emergenten Wirkkräften sozialer Strukturen und der Eigenlogik materieller Artefakte stehenden Intentionen und Praktiken werden im verdinglichten Bewusstsein verdeckt, wie Rahel Jaeggi schreibt: »[D]er Umstand ihres ›Ge78
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machtseins‹, der Umstand also, dass sie Resultat menschlicher Praxis« sind, wird ausgeblendet (Jaeggi 2009, S. 542). Im Bereich der industriellen Beziehungen lassen sich immer wieder verdinglichende Deutungen finden. Insbesondere werden sie häufig instrumentell im Machtkampf zwischen Lohnarbeit und Kapitalseite in Stellung gebracht. So verweisen ManagerInnen gerne darauf, dass ›der Markt‹ oder ›die technische Entwicklung‹ die geplanten Kürzungen oder Entlassungen leider absolut notwendig machen. Diese Diskurse könnten durch die Industrie 4.0 zusätzlichen Rückenwind erhalten (vgl. Matuschek 2016, S. 33f.). Gegenüber der Verdinglichung ist aber immer auf der hinter Emergenz und Vergegenständlichung stehenden menschlichen Praxis zu insistieren. Was sozial gemacht ist, kann immer auch anders gemacht werden. Insofern sind die hier dargelegten Begrifflichkeiten nicht als deterministische Sicht auf das Soziale misszuverstehen. Im Gegenteil: nur wer die Zwänge, Eigenlogiken und Kausalkräfte des Sozialen begreift, kann es erfolgreich politisch gestalten.1
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Systemtheorie II Funktionale Analyse: Terra. Boden, Fläche, Pflanzenernährung in der funktional differenzierten Gesellschaft Anna Henkel Wenn es eine ›Materialität an sich‹ gibt, dann ist dies zweifellos die Terra. Bei Platon neben Feuer, Wasser und Luft als eines der vier Urelemente konzipiert, ist sie unabhängig von der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung unverzichtbar. In ackerbauenden Gesellschaften ist dies offensichtlich, doch auch Jäger und Sammler bewegen sich auf einem Boden, auf dem etwas wächst und selbst Industriegesellschaften müssen ihre Fabriken irgendwo hinstellen. Doch gerade weil Terra in ihren verschiedenen Dimensionen des Bodens, der Fläche oder der Pflanzenernährung so elementar ist, kann man fragen, ob, und wenn ja wie sie sich im gesellschaftlichen Wandel gegebenenfalls mitwandelt. So gefragt führt das Thema Boden unmittelbar zum sogenannten ›Hauptstadtbarsch‹. Der Hauptstadtbarsch wohnt seit einiger Zeit in Berlin Schöneberg in einer Aquaponikanlage und hat in kulinarischen Zeitschriften und in der Werbung einige Aufmerksamkeit gefunden. Was dieses Tier mit der Terra zu tun hat, soll nun in drei Schritten erläutert werden. Im ersten Schritt werden Boden, Fläche und Pflanzenernährung als die hier gewählte Materialität erörtert. Im zweiten Schritt wird Terra als Analyseperspektive vorgestellt, und im dritten Schritt die These einer multiplen Verdinglichung in der modernen Gesellschaft erläutert – was dann abschließend einen Blick wiederum auf den ›Hauptstadtbarsch‹ erlaubt.
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Boden, Fläche, Pflanzenernährung – der Fall Terra ist seit jeher und vielleicht gerade in der modernen Gesellschaft von Relevanz. Auch wenn, denkt man über gesellschaftlich als wichtig thematisierte Materialität nach, die Aufmerksamkeit häufig eher auf Aspekten wie Klimawandel oder Verpackungsmüll liegt, so ist es bei näherer Betrachtung gerade die Terra, die uns an allen Ecken und Enden begegnet: Die Terra trifft man an als fruchtbaren Boden, auf dem nicht nur im heimischen Garten, sondern auf industriell bewirtschafteten Flächen Pflanzen angebaut werden. Die Terra tritt weiter als Energieträger auf – und zwar in dem ganz wörtlichen Sinne, dass sie eben nicht nur Mais als Energiepflanze auf sich ›trägt‹, sondern genauso das Windrad zur Erzeugung von Windenergie in die Terra hinein gepflanzt werden muss. Fasst man dies noch allgemeiner, wird deutlich, dass die Terra als Nutzfläche in der modernen Gesellschaft ein kaum zu überschätzender Produktionsfaktor ist, nachdem Industrieanlagen, Städte, Golfplätze, Infrastruktur und so viele andere Nutzungsarten um die Terra konkurrieren – Derek Hall spricht davon, dass geradezu jede menschliche Tätigkeit auf das angewiesen ist, was er »land« nennt (Hall 2013). Die Terra ist aber nicht nur sozusagen horizontal bedeutsam, sie ist es auch vertikal. Hat man früher nach Erz oder Gold gesucht, haben sich die Bodenschätze in der modernen Gesellschaft vervielfältigt – vom Schiefergas bis zu den seltenen Erden, vom Gips bis zum Kies ist die Terra für die Technologie und Bauweise der modernen Gesellschaft und damit für deren Lebensbedürfnisse insgesamt unhintergehbar. Hinzu kommen klassische Zugriffe. Seit jeher kommt der Terra eine geostrategische Bedeutung zu. Dies betrifft nicht nur natürliche Grenzen oder schlicht Entfernungen, sondern auch die Terra als Ressource zur Ernährung einer Bevölkerung. Schließlich korreliert all dies mit Herausforderungen, die aktuell unter dem Stichwort der Nachhaltigkeit diskutiert werden. Bodenero84
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sion, Bodenversauerung, ebenso Landnahme oder Flächenversiegelung (vgl. etwa Montgomery [2007] 2010; Jetzkowitz 2011; Rink und Banzhaf 2011; Borras Jr und Franco 2012) – die Terra ist längst ein Schauplatz ökologischer und sozialer Konflikte im lokalen und globalen Maßstab gleichermaßen. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Terra in der modernen Gesellschaft sozial und gesellschaftlich vielfach empirisch auftritt. Man kann sich angesichts dessen geradezu wundern, dass sie so selten mediale Aufmerksamkeit findet.
Terra – der analytische Zugriff Der hier gewählte analytische Zugriff zur Aufschlüsselung des empirischen Gegenstands der Terra ist die historisch-semantische Analyse. Die historisch-semantische Analyse geht im Kern auf die von Koselleck und Conze sowie von Brunner entwickelte Perspektive des Wandels historischer Semantiken zurück. Die Grundidee ist, dass sich im Zuge gesellschaftlicher Entwicklung nicht nur Begriffe verändern, sondern auch die mit bestimmten Begriffen verbundene Bedeutung (vgl. Koselleck 1972). Dieses Konzept nimmt Luhmann auf und entwickelt es weiter zur funktionalen Analyse gesellschaftlicher Entwicklung (vgl. Luhmann 1984; Luhmann [1962] 2005). Die funktionale Analyse geht in drei Schritten vor. Sie beginnt bei der Beobachtung eines Phänomens und fragt nach dessen abstraktem Kern. Ausgehend vom Phänomen kommt man also im zweiten Schritt zu einer analytischen Bestimmung. Weil diese analytische Bestimmung abstrakt ist, kann sie im dritten Schritt selbst als Suchheuristik verwendet werden. Es gelingt so, an sich heterogene Konstellationen oder Phänomene mit Blick auf einen analytischen Bezugspunkt zu vergleichen. Dieser Vergleich kann ein interkultureller Vergleich sein – oder eben ein historischer, wenn es um Gesellschaftstheorie geht. 85
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Wendet man dieses Prinzip der historisch-semantischen Analyse auf den Gegenstand der Terra an, gilt es, bei dem Phänomen zu beginnen, wie es sich in historischen Schriften aus diesem Gegenstandsbereich manifestiert. Es wird darin deutlich, dass in allen Kulturen und über historisch-gesellschaftlichen Wandel hinweg Terra immer auf einen heterogenen Sinnkomplex verweist. Terra findet sich als Urelement, als Göttin ›Gaia‹ personifiziertes Leben, als Landschaft, als Garten, als Stoff, als Ackererde, als Territorium oder gar als die Welt an sich. Eine analytische Bestimmung der Terra zum Vergleich heterogener Konstellationen gelingt durch die Frage: Welche konkreten Formationen nimmt der heterogene Sinnkomplex der Terra jeweils an? Zusammengefasst bezieht sich der analytische Begriff Terra auf die Einheit potenziell heterogener Unterscheidungen im durch die historische Semantik exemplarisch angedeuteten Sinnbereich in ihrer jeweiligen historischen Formation.
Von der pluralen Terra zu multiplen Verdinglichung – die Analyse Wendet man dieses aus der historisch-semantischen Analyse gewonnene Verständnis von Terra als heterogenem Sinnkomplex an und fragt nach historisch konkreten Formationen, wird ein fundamentaler Wandel deutlich. Von der Antike bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ist die Terra gefasst als eine plurale Terra. Als eines der vier Elemente ist Terra neben Wasser, Feuer und Luft Bestandteil des Kosmos, der die Welt bildet und in den Menschen und Dinge ebenso wie Tiere oder Jahreszeiten eingebunden sind. Die Terra ist also einerseits Grundelement, aus dem etwa auch der menschliche Körper z.T. besteht; sie ist andererseits eine plurale Entität, mit der sinnlich umgegangen wird (so bereits bei Platon 2004). Terra erschließt sich über die sinnliche Wahrnehmung des Riechens der nassen 86
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Erde, des Schmeckens des leicht säuerlichen Humus, des Fühlens etwa einer leicht kernigen Beschaffenheit und des Sehens der schwarzen Erde. Über diese sinnliche Wahrnehmung und die Vorstellung des Kosmos ergibt sich die Prämisse, dass sich aus der genauen Beobachtung erschließt, wofür ein Acker geeignet ist und welchen Charakter etwa eine Landschaft hat – und dies von der Antike (vgl. Vergil 2010) bis in die frühe Moderne (vgl. Sieglerschmidt 1999). Terra als plurale Terra ist die Einheit sinnlich wahrnehmbarer Bezüge zu allem, was mit der Terra verbunden ist. Spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts geht diese Vorstellung einer pluralen Terra über in eine multiple Verdinglichung der Terra. Im Zusammenwirken von Wissenschaft, Recht, Ökonomie und Politik werden Boden, Fläche und Pflanzenernährung nach und nach separat standardisiert und verdinglicht: Es kommt zu einer Standardisierung und Verdinglichung der Terra als Bodenindividuum. Seit Jahrtausenden wurde in den ackerbauenden Gesellschaften mit der Terra umgegangen, doch man bemühte sich nicht, den Boden als solchen zu definieren. Erst im Jahr 1929 entsteht ein Handbuch der Pedologie, dessen Herausgeber, Giesecke, sein massives Erstaunen darüber zum Ausdruck bringt, dass zuvor keinerlei Bodendefinition unternommen worden sei (vgl. Giesecke 1929). Die Pedologie als Lehre des Bodens definiert nun Boden als Bodenindividuum, das sich durch die jeweils spezifische Verbindung der verschiedenen Bodenhorizonte auszeichnet. Demnach ist es gerade nicht nur der fruchtbare Oberboden, oder Humus, der als Boden verstanden wird; sondern es ist die Verbindung vom Untergestein bis zum fruchtbaren Oberboden einschließlich sämtlicher Zwischenschichten, die einen Boden als spezifisches Bodenindividuum definiert. Aber nicht nur die Pedologie standardisiert und verdinglicht das Bodenindividuum, hinzu kommt eine rechtliche Standardisierung. Spätestens mit dem Bundes-Bo87
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denschutzgesetz von 1990 erfolgt eine juristische Definition des Bodens, die diesem quasi ›Schutzrechte‹ zugesteht. Juristische Definition, wissenschaftliche Definition und nicht zuletzt wirtschaftliche Interessen der Verwertung einzelner Bodenelemente (von Kies oder Gips bis zu seltenen Erden) führen insgesamt zu einer Herauslösung des Bodenindividuums aus der Gesamtvorstellung der pluralen Terra. Jedoch steht das Bodenindividuum nicht allein. Parallel zur standardisierenden Verdinglichung des Bodenindividuums kommt es zu einer Verdinglichung der in der Kartierung standardisierten Fläche. Der wissenschaftliche Zugriff, der die Terra als standardisierte Fläche zurichtet, ist die Geografie. Von der Landschaftsbeschreibung entwickelt sich die Geografie zu einer exakten Wissenschaft, die anhand zunehmend weltweit standardisierter Maßeinheiten die gesamte Fläche vermisst und auf dieser Grundlage kartiert (vgl. Brogiato 2008). Wiederum wirkt die wissenschaftliche Standardisierung zusammen mit einer rechtlich-politischen Standardisierung, wie sie hier in Form der Einführung von Grundbüchern und Katastern vorliegt. Es entwickelt sich eine Standardisierung rechtlicher Besitz- und Eigentumsansprüche, die mit bestimmten Nutzungsmöglichkeiten verbunden sind. Statt über die Verwendung erfolgt der Zugriff auf eine – nunmehr: kartierte – Fläche nun über das verbriefte Recht an ihr. Und wiederum sind es auch wirtschaftliche Ansprüche, die derart kartierte Flächen als Wirtschaftsgut standardisierbar und damit handelbar machen – bis hin zu der spätmodernen Form der Call-Option auf ein Immobilienzertifikat, das ohne auch nur eine Vorstellung von der damit betroffenen kartierten Fläche weltweit handelbar wird. Drittens schließlich erfolgt eine Verdinglichung der Terra als Pflanzennährstoffe. Über Jahrhunderte war die plurale Terra gefasst als ›Magen der Pflanzen‹, der den Charakter der Landschaft ebenso wie das Wachstum der Pflanzen bestimmt. 88
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Im 19. Jahrhundert wird diese Sichtweise radikal ersetzt durch die agrarchemische Bestimmung des Pflanzenwachstums über Mineralstoffe. Insbesondere Liebig, aber auch andere, vertreten, nun die These, dass das Wachstum der Pflanzen mit dem Boden nichts zu tun habe, sondern allein auf mineralischen Nährstoffen basiere (vgl. Liebig 1840). Es entstehen eine Agrarchemie, die das Pflanzenwachstum chemisch standardisiert und eindeutig feststellbar macht, sowie eine politische Regulierung, die eine Verkehrsfähigkeit entsprechender Produkte mit bestimmten Anforderungen verbindet und zugleich eine agrarchemische Industrie fördert. Der politisch-rechtliche Zugriff trägt so zur Verdinglichung der Terra als Pflanzennährstoff bei. Vielleicht hier am stärksten zeigt sich auch der wirtschaftliche Zugriff, sind mineralische Düngeprodukte doch bereits seit über hundert Jahren im Handel. In gewisser Weise sind Mineraldünger beobachtbar als eine fungible Terra, die sich aus einem pluralen Verständnis heraus verdinglicht hat. Im Ergebnis liegt in der funktional differenzierten Gesellschaft die Terra als multiple Verdinglichung von Bodenindividuum, standardisierter Fläche und Pflanzennährstoffen vor. Die Herausforderung liegt nun darin, dass diese drei verdinglichten Terrae zwar separat definierbar und verwendbar sind – aber eine separate Verwendung Rückwirkungen auf die anderen beiden Verdinglichungsformen der Terra hat. Beispielsweise lässt sich ein Pflanzennährstoff separat definieren – je nach Verwendung verändert er gleichwohl potenziell das Bodenindividuum, auf dem er ausgebracht wird. Das kann ganz Unterschiedliches bedeuten: Es kann zu einer Wertsteigerung der standardisierten Fläche führen, auf dem ein Bodenindividuum verortet ist, weil über die Düngung die Erträge eines bestimmten Ackerlandes gesteigert werden können. Es kann aber auch zu einem Wertverlust eben dieser Fläche führen, wenn mit einer Überdüngung Bodenversauerung und Bodendegradation einhergehen. 89
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Die Handelbarkeit standardisierter Flächen verändert mit den Besitzverhältnissen auch potenziell die Zugriffsweise auf das Bodenindividuum. Und selbst wo Düngemittel in bodenloser Pflanzenproduktion verwendet werden, haben sie auf das Bodenindividuum insofern Auswirkungen, als dass dieses versiegelt werden muss, um eine entsprechende Hydrokulturanlage auf einer standardisierten Fläche zu errichten. Und dies führt denn abschließend zurück zum ›Hauptstadtbarsch‹. Denn der ›Hauptstadtbarsch‹ ist nicht wegen seines wohl eher unbedeutenden Geschmacks in die Presse gekommen, sondern weil die Aquaponikanlage, in der die Fische gezüchtet werden, mit einer Hydrokulturanlage zur Gemüse- und Kräuterproduktion verbunden ist. Berichtet schon Liebig im 19. Jahrhundert von einem bodenlosen Pflanzenwachstum allein aufgrund von Wasser und Nährstofflösung, so ist dieses Prinzip im Sinne eines Mikrokreislaufes von Hydro- und Aquaponik beim Hauptstadtbarsch perfektioniert. Allein die Idee dazu setzt eine multiple Verdinglichung der Terra voraus und damit den spezifischen verdinglichten Materialitätszugriff der modernen Gesellschaft. Die Herausforderung wird in Zukunft darin liegen, die Rückwirkung und Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Zugriffsformen auf die Terra handhabbar zu machen und Nebenwirkungen produktiv zu wenden.
Zum Weiterlesen Goeke, Pascal/Lippuner, Roland/Wirths, Johannes (Hg.) (2015): Konstruktion und Kontrolle. Zur Raumordnung sozialer Systeme. Wiesbaden: VS Verlag. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-65803644-7_11 Henkel, Anna (2017): »Die Materialität der Gesellschaft«. In: Soziale Welt 68, 2/3, S. 279-300. DOI: https://doi.org/10.5771/00386073-2017-2-3-279
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Science and Technology Studies Zur Materialität des wissenschaftlichen Vortrags Annika Weinert
Einleitung: Die drei Analysekategorien des Vortrags Wissenschaftliche Vorträge bilden ein ebenso naheliegendes wie nicht naheliegendes Thema für eine neue Vortrags- und Buchreihe wie »10 Minuten Soziologie«. Als naheliegend erscheint diese Themenwahl deshalb, weil der wissenschaftliche Vortrag innerhalb des akademischen Diskurses eine soziale Praxis darstellt, die ebenso alltäglich wie unhinterfragt ist.1 Damit eignet er sich in besonderer Weise dafür, als »Fall« aus einer ausgewählten soziologischen Theorieperspektive analysiert zu werden. Zugleich bilden Vorträge einen nicht unbedingt typischen Gegenstand der Soziologie und das macht sie zu einem weniger naheliegenden Thema dieser Reihe. Vorträge scheinen zunächst einmal eher ein Thema der Rhetorik, der Sprach- oder Medienwissenschaften oder verwandter Disziplinen zu sein. Aber dieser Eindruck täuscht: Auch die Soziologie hat durchaus Vorträge in unterschiedlichen Theorieströmungen zum Gegenstand ihrer Forschung gemacht. Insbesondere mit dem Vortrag über den Vortrag verbindet sich innerhalb der Soziologie eine prominen1 | Um die wissenschaftstheoretische Diskussion um die Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft zu umgehen, werde ich im Folgenden von einem ›Idealtypus‹ des wissenschaftlichen Vortrags ausgehen, der durch seine Realisierung in verschiedenen Kontexten des Feldes der Wissenschaft (etwa Tagungen, Berufungsverfahren oder Lehrveranstaltungen) bestimmt ist.
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te Tradition, die etwa Foucaults und Bourdieus jeweils 1970 und 1982 am Collège de France gehaltene Inauguralvorlesungen und Goffmans Beitrag The Lecture aus dem Jahr 1976 umspannt (siehe Goffman 1981; Bourdieu 1991; Foucault [1971] 2014; vgl. auch Peters 2011, S. 111-129). Insgesamt existiert mittlerweile ein interdisziplinär orientiertes Feld der Vortragsforschung, das Beiträge aus Disziplinen wie der Linguistik, Philosophie oder der Medienwissenschaft integriert. Die jüngere Forschung zu Vorträgen kann dabei zusammenfassend drei zentralen Analysekategorien untergeordnet werden: der Performativität bzw. Performanz, der Medialität und der Visualität des Vortrags. Thematisiert werden dann etwa der »Vortrag als Performance« (siehe exemplarisch Peters 2011), visuelle Darstellungen und ihre Rolle in der Produktion von Evidenz oder die spezifische Funktion medialer Anordnungen wie Diaprojektionen oder PowerPoint-Präsentationen im Vortrag (siehe exemplarisch Tufte 2006). Diese drei Kategorien decken in der Auseinandersetzung mit Vorträgen ohne Frage zentrale Dimensionen des Gegenstands ab. Eine Dimension fehlt jedoch weiterhin in bisherigen Forschungsarbeiten und dies trotz eines breit angelegten Material Turn der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften: die Dimension der Materialität des Vortrags. Ich möchte deshalb in der erforderlichen Bündigkeit des Formats zeigen, wie die Soziologie einen Beitrag dazu leisten kann, diese materielle Dimension des wissenschaftlichen Vortrags theoretisch zu konfigurieren, und zukünftige Anschlussmöglichkeiten für die Analyse wissenschaftlicher Vorträge skizzieren.
Die Science and Technology Studies: Ein kurzer Überblick Als soziologische Theoriegrundlage beziehe ich mich für meine Überlegungen auf die Science and Technology Studies (oder auch 94
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Wissenschafts- und Technikforschung; im Folgenden kurz: STS) (siehe für eine erste Einführung Sismondo 2010; Beck, Niewöhner und Sørensen 2012; Bauer, Heinemann und Lemke 2017a) und ihr Konzept der literarischen Inskription. Den traditionellen Gegenstandsbereich der STS markieren die »Wechselverhältnisse[…] von Wissenschaft, Technik und ›Gesellschaft‹« (Lengersdorf und Wieser 2014, S. 3). Die Soziologie findet sich als eine klassische Teildisziplin unter dem Dach der STS wieder und hat deren methodisches und theoretisches Fundament insbesondere in der deutschsprachigen Diskussion wegweisend mitgeprägt (vgl. Lengersdorf und Wieser 2014, S. 4f.; Bauer, Heinemann und Lemke 2017b, S. 8). Das inter- bzw. transdisziplinäre Forschungsfeld der STS ist in den 1970er Jahren in Reaktion auf zwei Entwicklungen entstanden: Es reagierte zum einen auf die Kontroversen um die Voraussetzungen und Folgen neuer Technologien wie der Atom- oder Gentechnologien und bezog sich auf verschiedene Strömungen einer radikalen Wissenschafts- und Technologiekritik. Zum anderen entstand es in Reaktion auf den status quo der damaligen Wissenschaftsphilosophie und -soziologie und setzte sich kritisch von ihm ab. Beide Disziplinen hätten sich bis dahin – so die Kritik aus den frühen STS – primär für die Struktur, Funktion oder Logik von Wissenschaft und deren normative und institutionelle Voraussetzungen interessiert, während die Analyse der alltäglichen Wissenschaftspraxis dagegen ausgeklammert geblieben sei (vgl. Lengersdorf und Wieser 2014, S. 3; Bauer, Heinemann und Lemke 2017b, S. 7-12). Mit der Forschung der STS verlagerte sich der Fokus verstärkt in Richtung einer empirischen Analyse der Praxis der Produktion und der Aneignung wissenschaftlichen Wissens und technologischer Artefakte in situ mit ihren je spezifischen historischen, sozialen und kulturellen Bedingungen. Charakteristisch ist ein starkes »Interesse für die lokalen, materiellen und 95
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profanen Stätten, an denen Wissenschaft praktiziert wird« (Latour 2002, S. 378). Dabei geht es den STS dezidiert nicht darum, zu klären, ob naturwissenschaftliche Tatsachen wahr oder falsch sind, sondern vielmehr um den empirischen Nachvollzug des Prozesses, in dem diese Tatsachen produziert werden (vgl. Amelang 2012, S. 152; Bauer, Heinemann und Lemke 2017b, S. 18). Einen markanten Teilbereich der STS bilden die sogenannten Laborstudien. Ab den späten 1970er Jahren begaben sich mehrere SozialwissenschaftlerInnen – darunter Michael Lynch, Bruno Latour, Karin Knorr-Cetina und Sharon Traweek – in naturwissenschaftliche Labore, um den dortigen Forschungsalltag zu untersuchen (siehe exemplarisch die frühen Klassiker KnorrCetina 1981; Lynch 1985; Latour und Woolgar 1986; Traweek 1988). Die Laborstudien dokumentieren die alltägliche Laborarbeit im Rückgriff auf ethnografische Methoden und sozialanthropologische Beobachtungsstrategien als Praxis und untersuchen die konkreten lokalen Praktiken und Materialitäten der Produktion wissenschaftlichen Wissens in naturwissenschaftlichen und technischen Laboren. Dabei gelingt es ihnen, aus einer konsequent mikroanalytischen Perspektive die lokale Situiertheit und soziale wie materielle Kontextgebundenheit wissenschaftlicher Tatsachen herauszuarbeiten (vgl. Amelang 2012, S. 145, 167; Bauer, Heinemann und Lemke 2017b, S. 17f.).
Das Konzept der literarischen Inskription Die Laborstudien haben der materiellen Dimension der Wissensproduktion in Gestalt konkreter Versuchsobjekte, Apparate, Laborgeräte und Aufzeichnungsinstrumente in ihren Analysen einen hohen Stellenwert eingeräumt. Sie gehen davon aus, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in einem komplexen Zusammenspiel von sozialen und materiellen, insbesondere technischapparativen, Praktiken produziert werden. Damit verschieben sie die Aufmerksamkeit von der Betrachtung rein menschlicher 96
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sozialer Akteure hin zu einer Analyse der Interaktionen zwischen materiellen Artefakten und menschlichen Akteuren2 (vgl. Bauer, Heinemann und Lemke 2017b, S. 19). Diese Akzentuierung der Materialität der Wissensproduktion macht die Laborstudien auch für die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Vorträgen anschlussfähig. Um dies zu zeigen, möchte ich insbesondere das Konzept der literarischen Inskription aus den frühen STS heranziehen, das geeignet ist, eine Brücke zwischen STS und Vortragsforschung herzustellen. Es wurde maßgeblich von Bruno Latour und Steve Woolgar in ihrer 1979 veröffentlichten Arbeit Laboratory Life entwickelt und in nachfolgenden Publikationen weiter ausgeformt (siehe Latour und Woolgar 1986). Die empirische Grundlage des Buchs markiert eine zweijährige Laborstudie in den Forschungsräumen des Endokrinologen und Nobelpreisträgers Roger Guillemin im kalifornischen Salk Institute, die mittlerweile Klassikerstatus erlangt hat. Der Begriff der Inskription stammt ursprünglich von Derrida und steht in seiner Erweiterung bei Latour für »all jene Transformationen, durch die eine Entität in einem Zeichen, einem Archiv, einem Dokument, einem Papier, einer Spur materialisiert wird« (Latour 2000, S. 375). Das Konzept ermöglicht, die zahlreichen Zwischenschritte und Transformationen sichtbar zu machen, die sich im Prozess der Wissensproduktion realisieren. Hierzu zählen etwa – um ein Beispiel von Latour/Woolgar heranzuziehen – die Transformationen einer konkreten materiellen Substanz wie eines Präparats aus einer Ratte in das Bild einer Kurve, ein Diagramm oder eine Tabelle, die schließlich in
2 | Diese Entwicklung weist bereits auf spätere Thesen einer Handlungsfähigkeit (agency) der Dinge in der Akteur-Netzwerk-Theorie voraus; siehe insbesondere Latour 2007.
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einem Artikel publiziert werden (vgl. Latour und Woolgar 2017, S. 209, 260). Neben WissenschaftlerInnen, TechnikerInnen, verschiedenen chemischen Substanzen und Instrumenten sind maßgebend Laborgeräte und spezifische Anordnungen von Apparaten daran beteiligt, materielle Substanzen in Inskriptionen zu transformieren. Diese Geräte bezeichnet Latour als Inskriptionsgeräte. Die dabei produzierten Zahlen, Grafiken oder Texte können schließlich zur Argumentation in Publikationen herangezogen werden (vgl. Amelang 2012, S. 156; Latour und Woolgar 2017, S. 208f., 230). Das Labor markiert für Latour/Woolgar insgesamt ein »System literarischer Inskriptionen« (Latour und Woolgar 2017, S. 209). Das Konzept der Inskription kann den Prozess der Wissensproduktion sichtbar machen, in dem materielle Substanzen in schriftliche Dokumente transformiert werden. Doch diese Sichtbarkeit ist zeitlich beschränkt, denn sobald eine Inskription vorliegt, werden nach Latour/Woolgar alle vorangehenden Schritte zur Black Box. Das Blackboxing bezeichnet jenen Prozess, im Zuge dessen der materielle Herstellungsprozess wissenschaftlichen Wissens nachträglich unsichtbar gemacht wird. Im Zentrum der Forschungsdiskussion steht dann nur noch das jeweilige Produkt, eine Inskription, die zu einem (scheinbar) unmittelbaren Indikator der materiellen Ausgangssubstanz wird und als Beweis für bzw. wider eine Theorie eingesetzt werden kann. Die Spuren des materiellen Herstellungsprozesses, der dieses Produkt erst entstehen ließ, werden dagegen als selbstverständlich erachtet, aus dem Gedächtnis der Akteure gelöscht und damit unsichtbar (vgl. Liburkina und Niewöhner 2017, S. 185).
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Vom Labor in den Vortragssaal: Der wissenschaftliche Vortrag aus der Perspektive der STS Wie das Labor bildet auch der Vortragssaal einen typischen Produktionskontext von Wissen. Das theoretische und methodische Instrumentarium der STS kann einen Beitrag dazu leisten, den Prozess der Wissensproduktion in Vorträgen genauer zu analysieren und in der Folge besser verstehen zu können. Eine geeignete theoretische Grundlage für eine solche Analyse liegt in den Konzepten der Inskriptionen und der Inskriptionsgeräte. Obwohl der Vortragssaal mühelos als eine jener oben zitierten »lokalen, materiellen und profanen Stätten, an denen Wissenschaft praktiziert wird« (Latour 2002, S. 378) gelten kann, existieren jedoch bisher weder vonseiten der STS noch vonseiten der Vortragsforschung Anschlussversuche. Dieser Umstand mag auch mit dem tendenziell marginalen Status des Vortrags in den STS zusammenhängen: Vorträge markieren bei Latour/ Woolgar lediglich »Zwischenstadien« (Latour und Woolgar 2017, S. 238) in der Produktion einer finalen Publikation. Beide denken die Arbeitspraxis im Labor in ihrer wirkmächtigen Studie primär von den »Schreib- und Visualisierungsarbeiten« (Bauer, Heinemann und Lemke 2017b, S. 18f.) und ihrem Endprodukt, der schriftlich verfassten Publikation, her. Der Vortrag bildet aus dieser Perspektive lediglich ein Zwischenprodukt. Analytisch fruchtbarer scheint mir demgegenüber eine Betrachtungsweise zu sein, die den Vortrag aus dieser Zentrierung auf ein nachfolgendes schriftliches Produkt löst und als ein potenziell eigenständiges Moment der Wissensproduktion konfiguriert. Der Vortrag erfährt damit eine analytische Aufwertung und erlangt den Status einer eigenständigen Inskription. Er zielt dann, folgt man der performativen Orientierung der STS, nicht nur auf eine ›bloße‹ Präsentation von bekanntem Wissen, das später in Aufsätze eingehen soll, sondern auf eine 99
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je unterschiedlich situierte Neuproduktion von Wissen im performativen Akt des Vortrags. Ausgehend von dieser alternativen Betrachtungsweise kann die Inskriptionskette eines Vortrags in beide Richtungen nachverfolgt werden: Verfolgt man die Kette zurück zu der Phase vor der performativen Realisierung eines Vortrags, dann werden die materiellen Entstehungsbedingungen, die Schreib- und Visualisierungspraktiken und die Recherchearbeit an Orten wie Büroschreibtischen oder Bibliotheken sichtbar, die der Vortragssituation vorangehen. Diese vorangehenden Momente sind für das Auditorium in der Regel unsichtbar. Gemeinsam mit den materiellen Kontextbedingungen und räumlich-materiellen Settings des Vortrags bilden sie die Vorbedingung für die performative Realisierung des Vortrags und formen das im Vortrag produzierte Wissen entscheidend mit. An der performativen Realisierung von Vorträgen sind immer auch vielfältige Inskriptionsgeräte beteiligt: Technische Geräte wie Laptops und Beamer, Mikrofone, Präsentationssoftware wie PowerPoint, aber auch analoge Materialien wie etwa Vortragsskripte oder Notizzettel wirken an der Realisierung eines Vortrags mit. All diese Elemente sind Teil der Inskriptionskette des Vortrags und können sowohl zu seinem Gelingen als auch zu seinem Misslingen, zur Störung seiner performativen Realisierung, beitragen. Ebenso wie Laboraktivitäten zielen auch wissenschaftliche Vorträge darauf, einen Adressatenkreis zu überzeugen, und können als »organisierte Überzeugungsarbeit mittels literarischer Inskriptionen« (Latour und Woolgar 2017, S. 260) gelten. Zur Produktion von Evidenz rekurrieren sie auf verschiedene schriftliche und mündliche, materielle und immaterielle Elemente wie etwa Fotografien, Diagramme und Zahlenreihen, die über technische Apparate wie Beamer oder Overheadprojektor dargestellt werden können, um ihre Zuhörerschaft zu überzeugen. Insbesondere die Rolle von Visualisierungstechniken 100
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in der Wissensproduktion wurde von Latour in nachfolgenden Arbeiten weiter ausgearbeitet, so dass sich auch hier weitere interessante Bezüge eröffnen (siehe etwa Latour 2006 sowie exemplarisch für die Rezeption Balke 2002). Mit Blick auf die Inskriptionsgeräte und spezifischen Visualisierungstechniken des Vortrags gelingt es den STS insgesamt, neben der basalen Kategorie der Performativität die Analysekategorien der Medialität und der Visualität des Vortrags zu integrieren. Verfolgt man die Inskriptionskette auch nach dem Ende eines Vortrags weiter, wird sichtbar, dass auch außerhalb des Vortragssaals weitere Transformationsschritte stattfinden und weitere Inskriptionen wie Mitschriften, Audioaufnahmen oder Videos produziert werden. Diese Inskriptionen können sich vom Vortrag ablösen und weitere Transformationen durchlaufen, wenn sich etwa eine Mitschrift aus dem Publikum verbreitet. Solche ›Karrieren‹ von Inskriptionen im Zeitverlauf können mit dem Instrumentarium der STS gewinnbringend analysiert werden.
Die unsichtbare Materialität des wissenschaftlichen Vortrags sichtbar machen Als besonders fruchtbar – und damit komme ich zum Ausgangspunkt meines Beitrags zurück – erweist sich das skizzierte Instrumentarium der STS im Hinblick auf die Analysekategorie der Materialität des wissenschaftlichen Vortrags. Das Instrumentarium der STS erlaubt, Vorträge als eine eigenständige Praxis der Wissensproduktion zu perspektivieren, die – unabhängig vom Thema eines Vortrags oder seiner disziplinären Einbettung – immer schon materiell fundiert und gerahmt ist. Damit verbindet sich die Chance, den ursprünglichen Gegenstandsbereich der STS in Naturwissenschaft und Technik weiter zu überschreiten und verstärkt geistes-, sozial- und kulturwissenschaftliche Produktionskontexte von Wissen in den Blick zu nehmen. Im 101
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Gegensatz zu den Laborstudien würden empirische Analysen solcher Produktionskontexte vermutlich kaum auf Präparate aus Ratten oder chemische Substanzen treffen; stattdessen läge hier vielmehr die Chance, die ganz eigenen Materialitäten der Forschungspraxis in diesen disziplinären Feldern in ihrer Vernetzung mit konkreten Forschungspraktiken herauszuarbeiten. Ein solcher Fokus auf der materiellen Dimension des Vortrags, wie ich ihn hier umrissen habe, wäre damit im Hinblick auf die aktuelle Forschungsdiskussion der Vortragsforschung geeignet, die Überbetonung der Performativität des Vortrags aufzubrechen und die Spuren des materiellen Herstellungsprozesses von wissenschaftlichen Vorträgen nachzuverfolgen. Dies hieße jedoch nicht, die Analysekategorien der Materialität und der Performativität gegenüberzustellen oder gegeneinander ›auszuspielen‹. Das vorgestellte Instrumentarium der STS eröffnet vielmehr ein integratives Potenzial für die Analyse wissenschaftlicher Vorträge, das die bisher in der Forschungsdiskussion herangezogenen Analysekategorien – Performativität, Medialität und Visualität – integriert und durch die komplementäre Analysekategorie der Materialität erweitert. Das ausgewählte Konzept der Inskription vermag nicht nur die Materialität des wissenschaftlichen Vortrags, sondern insbesondere die mittels Blackboxing unsichtbar gemachte Materialität des wissenschaftlichen Vortrags (wieder) sichtbar zu machen, indem die Ausblendung des Produktionsprozesses von Wissen aufgehoben und dieser Prozess in seinen Zwischenschritten nachverfolgbar wird (vgl. Amelang 2012, S. 168). Damit gelingt dem eingeführten Instrumentarium der STS in der Anwendung auf den ›Fall‹ des wissenschaftlichen Vortrags das, was eine gute soziologische Theoriegrundlage leisten sollte: Die Black Box zu öffnen und sichtbar zu machen, was sonst unsichtbar bliebe.
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Praxistheorie Der Libeskind-Bau der Leuphana Universität Lüneburg. Zum Zusammenspiel von sozialem und materialem Raum Ulf Wuggenig und Anna Henkel Das Programm der Vorlesungsreihe »10 Minuten Soziologie« beinhaltet, einen alltäglichen Gegenstand und eine theoretische Perspektive der Soziologie aufeinander zu beziehen sowie mit Hilfe dieser theoretischen Perspektive den alltäglichen Gegenstand – wenn es gelingt – überraschend aufzuschlüsseln. In diesem Sinne geht es hier um das Verhältnis von sozialem Raum und materialem Raum – anhand eines (jedenfalls in Lüneburg) sich geradezu aufdrängenden Gegenstands: Wer Anfang 2017 die Leuphana Universität Lüneburg betritt und nach einem alltäglichen Gegenstand sucht, der sich mittels Bourdieus Konzept von sozialem und materialem Raum in diesem Sinne behandeln ließe, dessen Blick wird auf das neue Zentralgebäude fallen. Am 11. März 2017 eröffnet, ist das Zentralgebäude zwar im Sommersemester 2017 noch nicht vollständig in Gebrauch, aber bereits geöffnet für Veranstaltungen und Besucher, und auch das eine oder andere Büro im Forschungszentrum ist schon belebt. Studierende, die teils über Jahre die Entstehung von außen mitverfolgten, treten ebenso wie alle anderen nun in einen näheren Kontakt mit dem Gebäude. Nachdem kürzlich die Eröffnungsfeier für die Studierendenschaft stattfand, ist der Libeskind-Bau – offiziell das ›Zentralgebäude‹ – vermehrt Gesprächsgegenstand. Die kurze Bemerkung eines Studenten, das neue Zentralgebäude ängstige beinahe – mit den hohen Räumen, dem vielen Glas und Metall; die Backsteinge107
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bäude des Campus seien viel gemütlicher! –, möchten wir zum Ausgangspunkt der hier angestellten Überlegungen nehmen. Inwieweit kann eine Perspektive auf das Verhältnis von sozialem Raum und materialem Raum die Wahrnehmung zugleich bestätigen und vielleicht überraschend aufschlüsseln?
Sozialer Raum und materialer Raum – die Habitustheorie von Pierre Bourdieu In der Habitustheorie von Pierre Bourdieu sind soziale und materiale Aspekte eng miteinander verknüpft. Bourdieu geht davon aus, dass jeder Mensch über seine Sozialisation einen »Geschmack« inkorporalisiere. Solche einverleibten Geschmackspräferenzen äußerten sich auf allen Ebenen: Was man schön und was hässlich finde, wie man sich kleide, was einem schmecke, womit man seine Freizeit gerne verbringe und was man wie gerne arbeite (Bourdieu 1982: S. 405ff.). Der Habitus betreffe also einerseits kognitive Aspekte der ästhetischen und ethischen Bewertung; er betreffe andererseits jenen intuitiven Bereich des Sich-angezogen- oder Sich-abgestoßen-Fühlens. Entsprechend manifestiere sich im Auftreten und in der Gesamterscheinung eines Menschen sein Habitus (vgl. Bourdieu 1970). Der Habitus ist aber nicht nur eine Kategorie zur Beobachtung individueller Geschmackspräferenzen. Vielmehr zeichneten sich nach Bourdieu auch soziale Felder dadurch aus, dass sie mit einem bestimmten Habitus eng verbunden seien (vgl. Bourdieu 1982: S. 355ff.). Der Begriff des sozialen Feldes ist dabei nicht genau definiert – es handelt sich um eine eher lose Kategorie, die bestimmte Praxisbereiche bezeichnet, beispielsweise den Praxisbereich der Unternehmensberatung oder den Praxisbereich der Grundschule. Dass mit einem solchen sozialen Feld ein bestimmter Habitus verbunden sei, meint: Ein Feld zeichnet sich nicht nur durch ein bestimmtes Tätigkeitsspektrum aus, 108
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sondern auch durch bestimmte Wertvorstellungen und ein bestimmtes adäquates Verhalten. So gehört es – um in den beispielhaft gewählten Praxisfeldern zu bleiben – in einer Unternehmensberatung dazu, eher kompetitiv, leistungsorientiert und analytisch aufzutreten, wohingegen als Umgangsweise in einer Grundschule eher Kooperationsbereitschaft und Verständigungsorientierung erwartbar sind. Wie bezüglich des individuellen Geschmacks, so gilt für soziale Felder genauso: Neben sozialen Aspekten umfassen sie auch materiale Aspekte. Entsprechend wird in einer Unternehmensberatung ein businessorientierter Kleidungsstil verbunden mit den gängigen Statussymbolen, etwa teure Uhren, Autos und exklusive Büroeinrichtungsgegenstände, erwartet. In einer Grundschule hingegen wäre all dies ebenso auffällig und ›unpassend‹ wie ein explizit ›kompetitives Gehabe‹ – hier erwartet man eher einen legeren Kleidungsstil, Fahrräder und ein nett eingerichtetes Lehrerzimmer. Zu den materialen Aspekten eines sozialen Feldes gehört auch deren materialer Raum, was bereits im Begriff des »Kapitals« zum Ausdruck kommt (Bourdieu 1983). So würde mit dem sozialen Raum und der sozialen Praxis, sprich dem sozialen Feld der Unternehmensberatung, ein materialer Raum verbunden werden, der auf Macht-Statussymbole setzt. Symbole der Macht sind im jedenfalls europäischen Raum seit der griechischen Antike die Höhe der Räume sowie das Edle und Glatte der verwendeten Materialien. Plakativ gesprochen – im Wissen um die in der Verkürzung liegende kulturgeschichtliche Vereinfachung – sind die hohen Räume geblieben; seit dem 19. Jahrhundert ersetzen Glas und Stahl den traditionellen Marmor (Zum Verhältnis von Architektur und Sozialem vgl. Delitz 2009). In Unternehmensberatungen, Hauptgebäuden von Banken und Konzernzentralen, auch in Regierungssitzen oder Botschaften – in all jenen mit Macht assoziierten sozialen Räumen bestimmt 109
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eine derartige Materialität ›den guten Ton‹. Die Grundschule zielt demgegenüber auf das Angenehme, Kindgerechte, so dass das Grundschulgebäude farbenfroh und übersichtlich gestaltet sein wird; zu hohe Räume wären mit entsprechenden Deckendekorationen aufgebrochen, und anstelle von Symbolen der Macht bestimmen den materialen Raum dieses sozialen Feldes eher Naturmaterialien wie Holz verbunden mit einer spielplatzartigen Hofgestaltung. Eine solche Gegenüberstellung ist natürlich idealtypisch, um mit Weber zu sprechen (vgl. Weber [1921] 1984). Doch würde eine Grundschule mit sehr hohen Räumen, viel Glas und Stahl sowie einem kühl-eleganten Außenbereich nahezu unweigerlich die Vermutung nähren, es werde sich um eine elitäre Privatschule handeln – eine Unternehmensberatung, die auf Holz und einen Spielplatzgarten setzt, ließe demgegenüber erwarten, es handele sich eher um eine Personalberatung (mit entsprechend geringeren Tagessätzen und ergo geringerem Prestige als eine Strategieberatung). Solche Erwartungen mögen im konkreten Einzelfall falsch sein. Aber es sind doch eben diese Erwartungen, die uns eine Bewegung im sozialen Raum erlauben (vgl. Luhmann 1984: S. 421ff.) – gerade die vergleichsweise seltenen Fälle, in denen derart typisiert-typisierende Erwartungen enttäuscht werden, verdeutlichen, wie richtig man meist liegt. Was können wir nun lernen, wenn wir dieses Konzept des sozialen und materialen Raums nach Bourdieu auf das Zentralgebäude der Leuphana Universität Lüneburg anwenden?
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Das Zentralgebäude – drei Brüche im sozial-materialen Raum Die These, die hier ausgeführt werden soll, ist, dass das Zentralgebäude der Leuphana Universität Lüneburg den sozial-materialen Raum dreifach aufbricht: Auf einen schnellen ersten Blick zeigt das Zentralgebäude der Leuphana Universität Lüneburg all jene Symbole, die in mit Macht assoziierten sozialen Feldern erwartbar vorzufinden sind. Von außen dominieren Metall und Glas; egal, von wo man das Gebäude betritt, es führt immer in einen nicht nur hohen, sondern auch weiten Raum, der beinahe die ganze Erdgeschossebene umfasst. Doch schon darin liegt ein erster Erwartungsbruch: Die Leuphana Universität Lüneburg ist eben keine private Wirtschafts-Eliteuniversität, die für ihre neoliberale Managementausbildung stünde. Sie ist vielmehr eine staatliche, wenngleich rechtlich als Stiftung und damit auch relativer Autonomie gegenüber dem zuständigen Ministerium ausgestaltete Universität in der niedersächsischen Lüneburger Heide, die obendrein ein leicht »obskures Etwas« wie Nachhaltigkeit nicht nur als Forschungsinitiative verfolgt, sondern sich über Nachhaltigkeit und Humanismus auch noch explizit selbst definiert. Wer hier studieren will, muss ebenso wenig Studiengebühren zahlen, wie an anderen deutschen Universitäten. Der Anteil an Universitätsangehörigen mit veganer Lebensweise ist gefühlt der deutschlandweit höchste. Es ist daher eher kein Wunder, wenn dieses Gebäude bei dem einen oder anderen ein Störgefühl auslöst – entspricht es doch gerade nicht dem materialen Raum derjenigen sozialen Felder, in die vermutlich die meisten der Studierenden, Lehrenden und Anwohnenden hineinsozialisiert wurden. Es ist in diesem Sinne – um den Begriff aufzugreifen – nicht unbedingt ›gemütlich‹. Allerdings liegt in diesem (ersten) Bruch zugleich ein Angebot, das Angebot nämlich, sich durch den alltäglichen Umgang 111
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mit einem spezifischen materialen Raum in einen Habitus von Feldern sozialer Macht sozusagen hinein zu inkorporalisieren. Bourdieus Habitustheorie ist eine sozialkritische Theorie: In dem Umstand, dass Menschen den Habitus des sozialen Feldes, in das sie hineinsozialisiert werden, nicht nur annehmen, sondern auch noch gut und schön finden, liegt nach Bourdieu ein perfider Mechanismus der Abschottung sozial-material besser gestellter sozialer Felder (vgl. Bourdieu 1982: S. 756ff.). Platt gesagt: Wer aus kleinen Verhältnissen stammt, wolle (in der Regel) gar nicht in den von Machtsymbolik dominierten Orten arbeiten! Das Zentralgebäude an einer explizit nicht-neoliberalen Uni bietet an, diesen perfiden Mechanismus auszuhebeln. Wer in einem Gebäude wie dem Zentralgebäude an Seminaren teilnimmt, eventuell selbst etwas darin veranstaltet und sich ganz alltäglich darin bewegt und etwa Kaffee trinkt – der gewöhnt sich an den materialen Raum des Zentralgebäudes in dem sozialen Feld seines Studierens und Lernens an der Universität. Geht es andernorts – etwa bei einem Vorstellungsgespräch oder als Vertreterin einer Umweltschutzorganisation bei einem Gipfeltreffen oder wo auch immer – darum, mit einem machtvollen sozialen Feld in dessen idealtypischem materialen Raum in Kontakt zu treten, wird jedenfalls der mit Symbolen der Macht ausgestattete materiale Raum jenes sozialen Feldes einen nicht davon abhalten oder auch nur darin irritieren, das Feld zu betreten. Denn der materiale Raum wird kaum einzuschüchtern in der Lage sein, er ist gewissermaßen – und zwar aus dem Erleben eines anderen sozialen Feldes – bekannt. Die Assoziation wird nicht die des Beängstigenden, sondern bestenfalls die sein, dass es primär auch im jedenfalls zunächst neuen oder auch nur ungewohnten ›machtvolleren‹ sozialen Feld um einen vernünftigen Gedanken und dessen Umsetzung gehen kann. Der erste Bruch liegt also darin: Das Zentralgebäude als materialer Raum bietet einen Habitus zu inkorporalisieren an, der 112
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den Umgang mit machtvollen sozialen Feldern erleichtert; auch darin, ihnen etwas entgegen zu setzen. Aber das ist nicht alles. Ein zweiter Bruch besteht darin, dass die Leuphana Universität Lüneburg nicht etwa von ihrem ›gemütlichen‹ Campus vollständig in ein mit Symbolen der Macht ausgestattetes Zentralgebäude umgezogen wäre. Im Gegenteil gewinnt der Campus mit seinen roten Backsteingebäuden durch das Zentralgebäude nochmals an Bedeutung. Waren zuvor Veranstaltungsräume in Gebäuden abseits des Campus aus Kapazitätsgründen erforderlich, so wird nun die Einheit von Campus und Zentralgebäude zum tatsächlichen Interaktionskern der Universität. Anders als vielleicht an der einen oder anderen Business School, die vollständig in einem mit Symbolen der Macht ausgestatteten materialen Raum verortet ist, liegt der Reiz des Zentralgebäudes in einem unhintergehbaren Kontrast: Man wird aus dem vertrauten Backsteingebäude in das immer vertrauter werdende Zentralgebäude – und aus dem Zentralgebäude in eines der Backsteingebäude – gehen (müssen). Eine Paradoxie ist im Übrigen – worauf der an der Leuphana lehrende Kunsthistoriker Wolfgang Kemp gerne hinweist – darin zu sehen, dass das ›Zentralgebäude‹ nicht im Zentrum des Campus platziert wurde. Es findet sich vielmehr an der südöstlichen Peripherie der früheren Kasernenanlage, gelegen an der ehemaligen Uelzener Straße, die 2017 in Universitätsallee umbenannt wurde, was auch den Vorteil hat, dass die Universität ihre Adresse mit Referenz auf den preußischen General Scharnhorst bzw. die von den Nationalsozialisten 1936 implementierte Scharnhorststraße ablegen konnte. Das Zentralgebäude ist in dieser Betrachtungsweise nicht die Inkorporalisierung eines machtvollen Habitus – es ist vielmehr die Dialektik heterogener Weltverhältnisse. Der Bruch mag zunächst allein hinsichtlich des Zentralgebäudes wahrgenommen werden, ist es doch dasjenige, das hinzutritt. Dazu passt die Be113
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obachtung, dass das, was langsam aus einem Rohbau zu einer beispielhaften Verwirklichung dekonstruktiver Architektur wurde, verschiedentlich die Bezeichnung ›Raumschiff‹ fand – der Begriff macht die Wahrnehmung des Kontrastierenden und die empfundene Fremdheit in der norddeutschen Backsteinkasernenarchitektur im Regionalstil überdeutlich. Doch entstand diese Semantik aus der bloßen Außenbetrachtung heraus. In dem Maße, in dem Universitätsleben im Zentralgebäude stattfindet und man also auch umgekehrt aus dem Zentralgebäude heraus in die Backsteingebäude hineingehen wird, entsteht zumindest das Potenzial einer wechselseitigen – durchaus sehr vielschichtigen – Reflexion. Zu der auch die bereits im Zuge der Genese des Zentralgebäudes erfolgte Reflexion gehört, welche die Geschichte der Backsteingebäude als NS-Kaserne und als Ausgangspunkt von bis in die jüngste Vergangenheit verschleierten Kriegsverbrechen in Diskurs und Bewusstsein brachte (vgl. Wuggenig und Kastelan 2008; Kastelan und Wuggenig 2016; Wuggenig 2017). Mit dem Gebrauch auch etwa jener Differenz verhalten sich Kasernengebäude und Zentralgebäude als absolute Negation im Sinne Hegels (vgl. Hegel [1807] 1980: S. 29) – d.h. beide Seiten bleiben erhalten, im Wechsel von der einen auf die andere Seite verändert sich der Charakter beider Seiten, und eben in der Einheit der beiden Seiten in ihrer Veränderlichkeit liegt das Wesen des so neu sich formierenden Campus. Der zweite Bruch liegt also: in der Dialektik zweier materialer Räume, die gemeinsam den sozialen Raum der Leuphana Universität Lüneburg bilden. Doch nicht genug damit – das Zentralgebäude bietet noch einen dritten Bruch an. Dieser Bruch liegt darin, dass es sich hier zwar auf den ersten Blick um einen mit Symbolen der Macht ausgestatteten materialen Raum handelt. Auf den zweiten Blick jedoch ist diese materiale Symbolik in sich selbst gebrochen – man könnte fast sagen: auf den Kopf gestellt. Das ganze Gebäu114
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de ist darauf ausgelegt, dass man sich darin mehr oder weniger verläuft, und das in jedem Sinne des Wortes. Das Schräge ist der dominierende Richtungseindruck. Farben, Wege und Blicke sind darauf angelegt, zugleich anzuziehen und zu irritieren. Das Schräge und Irritierende wurde vielfach kritisiert. Zu diesen Irritationen tragen auch die von Libeskind bewusst implementierten zahlreichen trompes-l’ouils bei, die optischen Illusionen, die einem etwa eine vollkommen waagrechte Flächen als schief erscheinen lassen. Außerdem, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, dass kein Büro und kein Seminarraum räumlich strukturiert ist wie ein anderer – ein denkbar starker Kontrast zur redundanten Raumstruktur in der hierarchisch und symmetrisch angeordneten Kasernenanlage der Umgebung. Neben den ästhetischen Einwänden – die, nach Bourdieu, viele Rückschlüsse auf diejenigen zulassen, die sie vorbringen – wurde vor allem der Effizienzvorwurf erhoben, dass also diese Form der irritierenden Architektur auf Kosten der Funktionalität gehe, denn der Raum hätte viel effektiver genutzt werden können. Doch gerade diese so verstandene mangelnde Funktionalität kann das sein, worin die eigentliche Funktionalität des Gebäudes liegt. Ein materialer Raum in Feldern sozialer Macht zeichnet sich typischerweise durch die Gleichzeitigkeit einer Abbildung sozialer Stratifikation und größtmögliche Effizienz aus. Empfangsräume sind weitläufig, um zu beeindrucken oder auch um einzuschüchtern; weitläufig sind ebenso die Büroräume der Vorstandsetage. Ansonsten und insgesamt sind die Räume üblicherweise funktional und den Raum optimal ausnutzend, beeindruckend statt irritierend, funktional statt ästhetisch. Das Zentralgebäude der Leuphana Universität Lüneburg bildet diesbezüglich die Antithese: Hoch und weit sind hier die öffentlichsten Flächen des Gebäudes; eine Vorstandsetage fehlt gänzlich, das Präsidium bleibt weiterhin in Gebäude 10 der Backsteinbauanlage. Die zentrale Funktionalität liegt in der Umfunktionier115
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barkeit. Die Effizienz des materialen Raumes liegt in der Enttäuschung von Effizienzerwartungen und dem damit eröffneten Möglichkeitsraum, eine situative Effizienz je zu erschaffen. Was also auf den ersten Blick als mit Symbolen der Macht ausgestatteter materialer Raum irritiert, irritiert auf den zweiten Blick, weil es eben jene Symbole sozialer Macht verkehrt. Mit Bourdieus Blickwinkel ist das Interessante an einem solchen materialen Raum, dass nicht nur der erste Blick, sondern mit diesem auch der zweite Blick inkorporalisiert wird. Aus dem täglichen Studieren in einem materialen Raum wie dem Zentralgebäude resultiert nicht nur potenziell ein souveräner Umgang mit materialen Räumen sozialer Macht. Aus dem täglichen Studieren (und auch Lehrende sind Studierende) in diesem Gebäude resultiert auch, potenziell in jedem Glasfassadengebäude, in jedem hohen oder weitläufigen Raum und hinter jeder Ehrfurcht erheischenden Metalloberfläche die mögliche Umkehrung der symbolischen Botschaft wahrzunehmen. Der dritte Bruch des Zentralgebäudes der Leuphana Universität Lüneburg liegt also: im Erwartbarmachen des Unerwarteten. Zusammengefasst: Betrachtet man mit Bourdieus Theorie von sozialem und materialem Raum das Zentralgebäude der Leuphana Universität Lüneburg und die Momente der Irritation, die es hervorruft, so zeigt sich dreierlei. Erstens offeriert dieses Gebäude einen habituellen Umgang mit materialen Symbolen sozialer Macht. Zweitens bietet der durch das Zentralgebäude erweiterte Leuphana Campus eine Reflexion auf die Differenz heterogener materialer und sozialer Räume der Universität als ganzer an. Und drittens schließlich birgt das Zentralgebäude die Inkorporalisierung der Erwartung, dass jeder gerade und funktionale Gang vielleicht sogleich eine ungewohnte Wendung nimmt, jede glatte Fassade eigentlich eine schiefe Ebene ist oder zumindest als solche erscheint und gerade die prestigeträchti116
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gen Räume dem Öffentlichen zugehören. Wenn andernorts dies nicht der Fall ist, mag darin eine Art schelmischer Enttäuschung liegen – denn wirklich zu erwarten sind solche Brüche ja nicht. Aber gerade aus der Enttäuschung von Erwartungen, umso mehr vielleicht der Enttäuschung nicht erwarteter Erwartungen, entsteht – vielleicht! – das Potenzial zu Veränderung. Ob das intendiert ist oder nicht, können wir mit Bourdieu getrost offenlassen.
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Ulf Wuggenig und Anna Henkel Delitz, Heike (2009): Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen. Frankfurt a.M.: Campus. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich ([1807] 1980): Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a.M.: Ullstein. Kastelan, Cornelia/Wuggenig, Ulf (2016): »Mining the Campus: Transforming Lüneburg University«. In: Sabine Bittner/Helmut Weber, Hannes Loichinger und Ulf Wuggenig (Hg.). Front, Field, Line, Plane: Researching the Militant Image. Hamburg: adocs, S. 80-107. Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Weber, Max ([1921] 1984): Soziologische Grundbegriffe. Tübingen: UTB (Mohr Siebeck). Wuggenig, Ulf (2017): »Hinterbühne I, Kunstraum der Leuphana«. Verfügbar unter: http://kunstraum.leuphana.de Wuggenig, Ulf/Kastelan, Kornelia (2008): »Salzstadt, Soldatenstadt, Universitätsstadt. Lüneburg, eine Stadt im Wandel«. In: Universität Lüneburg/Astrid Wege (Hg.). Moirès. Kunstraum of Leuphana. Lüneburg: Verlag für Wissenschaft und Kunst, S. 103-152.
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Autorinnen und Autoren Behrendt, Gianna ist Promotionsstipendiatin am Forschungsschwerpunkt »Dimensionen der Sorge« des Evangelischen Studienwerks Villigst und Lehrbeauftragte am Institut für Soziologie und Kulturorganisation der Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Arbeitsbereiche umfassen Gesellschaftstheorie und Kritische Theorie, Naturerfahrung und Weltbeziehungen, Ideengeschichte und Zeitdiagnose, immanente und Ideologiekritik. Burkart, Günter studierte Soziologie in Frankfurt a.M., wo er 1981 auch promovierte. Seit 1979 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter zunächst in Klagenfurt, dann an der Freien Universität Berlin tätig, wo 1993 die Habilitation erfolgte. Nach einem Forschungsaufenthalt an der University of Pennsylvania in Philadelphia, einer Lehrstuhlvertretung an der Universität Mannheim und einer Professur an der Pädagogischen Hochschule Freiburg (seit 1995) wurde er 1998 Professor für Soziologie an der Universität Lüneburg. Seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind: Kultursoziologie, Familie und Paarbeziehungen, Geschlechterforschung, Individualismus, Technik, Medien und Kultur sowie Methodologie. Jüngste Publikationen: Soziologie der Paarbeziehung (2018); Liebe: Historische Formen und theoretische Zugänge (2017); Szenarien und Narrative: Soziologische Familienbilder zwischen individualisierter Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft (2017); Sprache und Kultur in der Systemtheorie Luhmanns (2016). Drews, Nikolai studierte Sozialwissenschaften und empirische Politik- und Sozialforschung an der Universität Stuttgart sowie am Institut d’études politiques in Bordeaux. Seit 2015 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt »Reflexive Responsibili119
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sierung. Verantwortung für nachhaltige Entwicklung« an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und an der Leuphana Universität Lüneburg. Im Rahmen des Projektes arbeitet er an seiner Dissertation zum Thema einer gesellschaftstheoretischen Verortung von Nachhaltigkeit. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Systemtheorie, Umweltsoziologie, empirische Sozialforschung. Henkel, Anna ist Professorin für Kultur- und Mediensoziologie an der Leuphana Universität Lüneburg. Zuvor war sie Juniorprofessorin für Sozialtheorie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und promovierte nach einem Studium der Ökonomie zur »Soziologie des Pharmazeutischen«. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der soziologischen Theorie sowie der Wissens-, Materialitäts- und Nachhaltigkeitsforschung. Sie verbindet gesellschaftstheoretische Perspektiven mit empirischer Forschung, etwa bei der Frage nach dem Wandel von Verantwortungsverhältnissen. Sozialtheoretisches Denken zum Verstehen und Erklären sozialer Tatsachen zu nutzen, ist ihr zentrales Anliegen. Laux, Henning studierte an den Universitäten Mainz und Glasgow und promovierte in Jena im Jahr 2012 bei Hartmut Rosa und Uwe Schimank mit der Arbeit »Soziologie im Zeitalter der Komposition. Koordinaten einer integrativen Netzwerktheorie«. Er ist Sprecher der DGS-Sektion Soziologische Theorie und seit April 2018 Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Soziologische Theorien an der TU Chemnitz. Zu seinen weiteren Forschungsschwerpunkten gehören: Politische Soziologie, Kultursoziologie sowie Wissenschafts- und Technikforschung. Mader, Dimitri studierte Philosophie, Soziologie und Gender Studies in Berlin. Von 2011 bis 2015 war er wissenschaftlicher 120
Autorinnen und Autoren
Mitarbeiter am Kolleg »Postwachstumsgesellschaften« an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena unter der Leitung von Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa. Seit 2016 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Anna Henkel am Institut für Soziologie und Kulturorganisation der Leuphana Universität Lüneburg. Er promoviert bei Prof. Hartmut Rosa mit einer sozial- und herrschaftstheoretischen Arbeit mit dem Titel »Handlungsfähigkeit in der Lohnarbeit zwischen Herrschaft und Autonomie. Theoretische Diskussion und Auswertung arbeitssoziologischer Betriebsfallstudien«. Publiziert hat er zu Critical Realism und kritischer Gesellschaftstheorie sowie zur Theorie von Handlungsfähigkeit, Macht und Herrschaft. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Normativität und Kritik in den Sozialwissenschaften und Arbeitssoziologie. Weinert, Annika, M.A., ist Doktorandin im Promotionskolleg »Soziologie und Kulturorganisation« und Promotionsstipendiatin an der Leuphana Universität Lüneburg. Zuvor studierte sie ebendort Kulturwissenschaften (Schwerpunkt: Kunst und Visuelle Kultur) und Betriebswirtschaftslehre. Für ihre akademischen Leistungen hat sie mehrere Auszeichnungen und Preise erhalten, darunter den Wissenschaftspreis des Landes Niedersachsen 2012 des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur. Zu ihren Lehr- und Forschungsschwerpunkten zählen: Kultur- und Kunstsoziologie, Science and Technology Studies und insbesondere die Akteur-Netzwerk-Theorie. Wuggenig, Ulf, apl. Prof. für Kunstsoziologie an der Leuphana, seit 2016 Dekan Fakultät Kulturwissenschaften. Studium 19691976 in Wien (Wirtschaftsuniversität und Universität), Soziologie, Handelswissenschaften, Politikwissenschaft und Philosophie. Nach Promotion Habilitation mit venia in »Soziologie« an der Fakultät Wirtschaftswissenschaften der Universität Er121
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langen-Nürnberg. Tätigkeit in der Drittmittelforschung und Verwaltungsprofessuren an den Universitäten Hannover und Osnabrück in den 1980er Jahren. Von der Universität Hildesheim Wechsel 1986 an die Universität Lüneburg. In der Zeit auch Gastprofessuren bzw. Lehraufträge an Kunsthochschulen in Wien (Angewandte) und Zürich (ZHdK). Lehr- und Forschungsgebiete: Kulturtheorie, Kreativität, digitale Transformation sowie Kunst- und Militärsoziologie.
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