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German Pages 188 Year 2020
Thomas Barth, Anna Henkel (Hg.) 10 Minuten Soziologie: Nachhaltigkeit
10 Minuten Soziologie | Band 4
Editorial Das Programm der Soziologie ist: das Soziale zu verstehen und zu erklären. Dabei zeichnet sie sich durch eine Vielfalt theoretischer Ansätze, empirischer Gegenstände und konzeptioneller Zielsetzungen aus. Die Reihe »10 Minuten Soziologie« sieht diese Heterogenität als Stärke. So wie es für die Betrachtung der modernen Gesellschaft keinen »Archimedischen Punkt« (Luhmann) gibt – also keine Beobachtungsperspektive, von der aus das Soziale ›von außen‹ oder ›objektiv‹ beobachtbar wäre –, trägt auch die Disziplin diesem Umstand der modernen Gesellschaft als einer Welt ohne letzte Wahrheit Rechnung: Sie kehrt sich weder von der Welt ab, noch proklamiert sie in einem kontrafaktischen Duktus absolute Wahrheiten. Stattdessen bietet die Soziologie Beobachtungsmöglichkeiten an, die es erlauben: zu verstehen und zu erklären. Der soziologische Blick sensibilisiert dabei für ein Auch-anders-möglich-Sein sozialer Tatsachen. Die Beiträge eines Bandes der Reihe »10 Minuten Soziologie« nähern sich dem jeweiligen Gegenstand begrifflich aus unterschiedlichen Perspektiven und wenden das gewonnene Verständnis jeweils auf einen spezifischen Fall an. Im Mittelpunkt steht dabei die analytische Denkbewegung, also: ein theoretisches Konzept auf einen empirischen Gegenstand zu beziehen und diesen damit neu zu verstehen und zu erklären. Die Reihe wird herausgeben von Anna Henkel.
Thomas Barth, Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Nachhaltigkeit
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Inhalt Einleitung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Thomas Barth, Anna Henkel
Nachhaltigkeit als umkämpftes gesellschaftliches Feld Genealogie — Verantwortung für Nachhaltigkeit. . . . . . . . . . . . 19 Anna Henkel
Soziologische Systemtheorie Nachhaltigkeit als Bewahrung einer offenen Zukunft. . . . . . . . . 33 Sascha Dickel
Karl Mannheims Wissenssoziologie Nachhaltigkeit – Ideologie oder Utopie?.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Björn Wendt
Imaginationen im Konflikt Die Zukünfte von Nachhaltigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Frank Adloff, Sighard Neckel
Handlungsfelder der Nachhaltigkeit Praxistheorie — Nachhaltige Mobilität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Benjamin Görgen
Kapitalismustheorie nach Marx Nachhaltigkeit, Arbeit und Automobilität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Thomas Barth
Praxistheorie: »Doing Verantwortung« Responsibilisierung im Zeichen der Nachhaltigkeit.. . . . . . . . . . . 101 Nikolaus Buschmann, Jędrzej Sulmowski
Das Ergrünen von Religionen Ökologische Nachhaltigkeit in religiösen Gemeinschaften.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Fabian Huber, Jens Köhrsen
Praxistheorie Ansätze sozialer Praktiken am Beispiel der Nachhaltigkeit akademischen Lernens und Lehrens.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Angela Pohlmann
Science & Technology Studies Nachhaltigkeit als problemorientierte Forschung.. . . . . . . . . . . . 139 Stefan Böschen
Theoriekritik Verhaltensökonomie — Zukunftskunst und beschränkte Rationalität. . . . . . . . . . . . . . 153 Marc C. Hübscher
Relationale Phänomenologie Die Unverfügbarkeit der Nachhaltigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Katharina Block
Autorinnen und Autoren.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
10 Minuten Soziologie: Nachhaltigkeit Einleitung Thomas Barth, Anna Henkel Das Leitbild »Nachhaltigkeit« ist omnipräsent; es wirkt in nahezu alle gesellschaftlichen Felder hinein: von nachhaltigem Konsum über nachhaltiges Ressourcenmanagement, nachhaltige Unternehmen oder Universitäten bis hin zu nachhaltiger Haushaltspolitik. Die jüngere Karriere des Nachhaltigkeitskonzepts beginnt Ende der 1980er Jahre, als, befördert durch die Vereinten Nationen, die »nachhaltige Entwicklung« zum globalen Leitbild einer sozial gerechten und ökologisch verträglichen Zukunftsvorstellung wurde (WCED 1987). Seitdem fand der Begriff eine erstaunliche Verbreitung, die ihn – so eine vielfach geäußerte Kritik – nahezu inhaltsleer hat werden lassen. So wurde bspw. das schon an sich hinreichend vage und deshalb allgemein zustimmungsfähige Leitbild einer »nachhaltigen Entwicklung« (sustainable development) zunehmend vom noch viel deutungsoffeneren Leitbild »Nachhaltigkeit« (sustainability) ersetzt. Die Verbreitung der Nachhaltigkeit bleibt nicht nur semantischer Art: Das Konzept prägt politische, ökonomische und wissenschaftliche Debatten ebenso wie die Praktiken der Einzelnen und diejenigen von Kollektivakteur*innen sowie die Prozesse strukturellen Wandels, wie das Beispiel energiepolitischer Veränderungen zeigt. Allerdings gehen die Positionen weit auseinander, wie diese Allgegenwart der Nachhaltigkeit aus sozialwissenschaftlicher Perspektive zu interpretieren sei: Einige meinen, die Reden und Praktiken im Namen der Nachhaltigkeit seien letztlich insgesamt Ausdruck einer »nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit« 7
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(Blühdorn 2018) samt einer dementsprechenden politischen Form, die der »entschiedenen Verteidigung des sowohl sozial als auch ökologisch anerkanntermaßen zerstörerischen Status Quo« (ebd.: S. 155) diene. Andere sehen »trotz aller kontroversen Deutungen, politischen und wirtschaftlichen Instrumentalisierungen […] das Nachhaltigkeitskonzept bisher doch als hinreichend vital [an] […], um auch weiterhin als normativer Bezugsrahmen […] für nationale und internationale Debatten um neue gesellschaftliche Entwicklungsmodelle zu dienen« (Brand 2018: S. 501f.). Ungeachtet des politischen Gegenwinds und der inhaltlichen Verwässerung habe das Leitbild der »nachhaltigen Entwicklung«, so die Annahme, spezifische Transformationsprozesse angestoßen. Die Genese des Nachhaltigkeitsleitbilds, seine gesellschaftliche Verbreitung und Implementation sowie die damit verbundenen sozialen Veränderungen bieten vielfache Ansatzmöglichkeiten für soziologische Fragestellungen nach dem »Wie« und dem »Warum« dieser Dynamiken sowie dem »Wer« und schließlich dem »mit welchen Folgen«? Die Soziologie kann nach unserer Meinung zur Klärung der mit Nachhaltigkeit verbundenen Fragen beitragen, indem sie eine »reflexive Perspektive auf den ebenso heterogenen wie diffusen Nachhaltigkeitsdiskurs und die mit ihm verbundenen Praktiken des ›Doing Sustainability‹ insgesamt« (Wendt et al. 2018: S. 6; vgl. auch Henkel et al. 2017; Block et al. 2019) entwickelt und so Dilemmata der Nachhaltigkeit soziologisch reflektiert (Henkel et al. 2018). Die Soziologie steht nicht außerhalb der Gesellschaft, auch kann sie sich der inhärenten Normativität des Leitbilds nicht entziehen (und will das teils auch gar nicht). Eben dies reflektieren zu können und im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang der Auseinandersetzungen und Dynamiken um Nachhaltigkeit zu verorten, ist etwas, das die Soziologie auszeichnet.
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Einleitung
Dass »die« Soziologie eine Vielfalt an verschiedenen theoretischen Perspektiven versammelt, wird in diesem Band der »10 Minuten Soziologie«-Reihe deutlich – zugleich zeigt gerade das Thema »Nachhaltigkeit«, wie hilfreich diese Vielfalt ist, um das Phänomen der Nachhaltigkeit besser zu verstehen. Der Anspruch ist dabei nicht (und kann auch nicht sein), »Nachhaltigkeit« abschließend und in all ihren Facetten zu beleuchten. Ebenso wenig werden sämtliche soziologische Theorien und Perspektiven mit Nachhaltigkeitsbezug zusammengeführt. Aber gerade in einem Feld, das so vielfältig, umkämpft, emotional und ethisch besetzt ist, wie das der Nachhaltigkeit, ist dieser bewusste Verzicht sowohl auf eine positive Bestimmung des Gegenstands, als auch auf eine einzunehmende Sichtweise selbst ein Hinweis darauf, dass die wissenschaftliche Rahmung den Gegenstand mit formt, den sie untersucht. Jede der in den folgenden Beiträgen eingenommenen Perspektiven fokussiert Nachhaltigkeit auf besondere Weise – und verweist so auf verschiedene Herausforderungen sowie auch darauf, dass jedes Verständnis von Nachhaltigkeit, ob hier verhandelt oder nicht, immer zugleich bestimmte Aspekte sichtbar und unsichtbar macht. Die Beiträge untersuchen Nachhaltigkeit aus drei verschiedenen Perspektiven: Zunächst wird Nachhaltigkeit als in seiner Deutung umkämpftes gesellschaftliches Feld in den Blick genommen. Der Fall ist hier jeweils das Vorkommen von Nachhaltigkeit als gesellschaftlichem Phänomen, das aus genealogischer, systemtheoretischer, wissens- und imaginationssoziologischer Perspektive näher beleuchtet wird. Daran schließen Beiträge an, die der Gestalt der Nachhaltigkeit in verschiedenen Handlungsfeldern nachgehen, namentlich in der Mobilität, Arbeit und Automobilität, im Konsum, in der Religion, im akademischen Lernen und Lehren sowie schließlich in der problem-orientierten wissenschaftlichen Forschung. Die abschließenden beiden 9
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Beiträge wählen jeweils eine theoretische Perspektive, aus der heraus sie die blinden Flecken von aus anderen Theorieperspektiven heraus resultierenden Nachhaltigkeitspositionen aufzeigen. Das Konzept der Nachhaltigkeit und die mit diesem verbundenen Vorstellungen und Aufforderungen eines nachhaltigen Wirtschaftens, einer Transformation in Richtung Nachhaltigkeit, einer nachhaltigen Gesellschaft oder einer Verantwortung für Nachhaltigkeit blicken auf eine Entwicklung von mindestens 60 Jahren zurück. Dabei wird Nachhaltigkeit als umkämpftes gesellschaftliches Feld sichtbar. Was unter Nachhaltigkeit verstanden und mit ihr bezweckt wird, hat sich dabei ebenso gewandelt wie die Gesellschaft, aus der dieses Konzept hervorgeht und die es seinerseits verändert. Dieses Verhältnis von Nachhaltigkeit und Gesellschaft nehmen die ersten vier Autor*innen in den Blick: In ihrem Beitrag Verantwortung für Nachhaltigkeit untersucht Anna Henkel aus genealogischer Perspektive, wie je nach Nachhaltigkeitsdeutung Verantwortung für Nachhaltigkeit verschieden zugerechnet wird. Angesichts der Vielzahl miteinander verwobener Bezugsprobleme, involvierter Akteur*innen, Wissensarten und Zielsetzungen geht jede Lösung eines Nachhaltigkeitsproblems auf Kosten anderer möglicher Lösungen. Aus der Perspektive der Genealogie wird deutlich, wie verschiedene – durch spezifisches Wissen legitimierte – Deutungen von Nachhaltigkeit Ressourcen und Lasten unterschiedlich verteilen. In Anbetracht dieser Lage muss eine reflexiv-normative Verantwortung an die Stelle scheinbar einfacher Verantwortungsattributionen treten. Nicht-Invasivität und Rücknehmbarkeit erscheint aus dieser Perspektive als Meta-Kriterium von Nachhaltigkeit. Im Stichwort der Rücknehmbarkeit als Nachhaltigkeitskriterium ist der Aspekt der Zeit bereits impliziert, den Sascha Dickel in seinem Beitrag Nachhaltigkeit als Bewahrung einer offenen 10
Einleitung
Zukunft anspricht. Aus der Perspektive der soziologischen Systemtheorie kann Nachhaltigkeit zeitsoziologisch, also mit Fokus auf temporale Sinnverarbeitung, aufgeschlüsselt werden: Der modernen Gesellschaft ist angesichts tiefgreifender sozial-ökologischer Herausforderungen ihre eigene Zukunft zum Problem geworden – gerade weil die Zukunft der modernen Gesellschaft sich durch das Spezifikum ihrer Offenheit auszeichnet. Die Funktion der Nachhaltigkeitssemantik ist es, eben diese moderne Zeitordnung einer offenen Zukunft für die Gesellschaft zu bewahren. Mag man etwas Utopisches darin sehen, dass es der Nachhaltigkeitssemantik womöglich gelänge, eine offene Zukunft zu bewahren, so findet sich eine Auseinandersetzung mit ihrem – vielleicht – utopischen Charakter im Beitrag Nachhaltigkeit – Ideologie oder Utopie? Die vielfältigen Debatten um Nachhaltigkeit und die Umkämpftheit des Leitbilds nimmt Björn Wendt aus der wissenssoziologischen Perspektive Karl Mannheims in den Blick, wofür er am Begriffspaar Ideologie und Utopie ansetzt. Wenn Ideologien diesem Verständnis nach von den Herrschenden, Utopien hingegen von den Beherrschten in Anschlag gebracht werden und die einen folglich auf die Stabilisierung, die anderen auf die Veränderung der Macht- und Herrschaftsstrukturen zielen: Welchen Charakter hat dann Nachhaltigkeit – einen ideologischen oder utopischen? Dass in der Tat beides zutrifft, spiegelt einerseits den ambivalenten Charakter des Leitbildes wider, bietet andererseits aber Ansatzpunkte einer weitergehenden empirischen Analyse der Nachhaltigkeit mit diesem Begriffsinstrumentarium. Schließlich nehmen Frank Adloff und Sighard Neckel in ihrem Beitrag Imaginationen im Konflikt: Die Zukünfte von Nachhaltigkeit das Konflikthafte und Imaginäre von Nachhaltigkeit in den Blick, indem sie Strukturen, Praktiken und Imaginationen ins Zentrum ihrer Analyse stellen. Es wird aufgezeigt, wie sich 11
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hinter dem weitgehend unbestrittenen Entwicklungsmodell »Nachhaltigkeit« ganz unterschiedliche Prozesse, Wert- und Zukunftsvorstellungen verbergen. Gerade die Imaginationen von Nachhaltigkeit sind zentral für das Verständnis möglicher zukünftiger Strukturen und Praktiken von Nachhaltigkeit. Dabei zeigen die Autor*innen, dass man aktuell drei potentielle Entwicklungspfade von Nachhaltigkeit identifizieren kann, die teilweise in deutlichem Widerspruch zueinander stehen, nämlich Modernisierung, Transformation und Kontrolle. Nachhaltigkeit ist als Diskurs ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Einzelne Handlungsfelder der Nachhaltigkeit, wie aktuell die Mobilitätswende, Fleischkonsum und Waldschutz, sind mitunter stärker sichtbar als andere. Doch zeigt allein schon die fast willkürliche Verwendung des Begriffs – vom nachhaltigen Lebenswandel bis zum nachhaltigen Haushaltsplan –, dass letztlich jedes Handlungsfeld auf seine »Nachhaltigkeit« hin befragt werden könnte. Dies betrifft sowohl alltägliche als auch gesellschaftliche Handlungsfelder wie Wirtschaft oder Wissenschaft. Die folgenden sechs Beiträge fokussieren Beispiele aus beiden Typen von Handlungsfeldern aus verschiedenen theoretischen Perspektiven: Ein konkretes alltägliches Handlungsfeld betrachtet Benjamin Görgen in seinem Beitrag Nachhaltige Mobilität aus der Perspektive der Praxistheorie. Im Sinne der praxistheoretischen Stoßrichtung betont er, dass weniger individuelles Bewusstsein den entscheidenden Ansatzpunkt für Nachhaltigkeitstransformationen bilden sollte, sondern die Realisierungsbedingungen von konkreten alltäglich ausgeführten Praktiken den Ausschlag geben. Am Beispiel der umweltfreundlichen Praktik des Fahrradfahrens verdeutlicht er, dass ihre Ausweitung maßgeblich von ihrem Verhältnis zur Praktik des Autofahrens sowie der Ausgestaltung der sozio-technischen Systeme abhängt, in die diese Praktiken der Fortbewegung eingebettet sind. Um es der Praktik 12
Einleitung
des Fahrradfahrens zu ermöglichen, neue Träger*innengruppen zu rekrutieren, sind Struktur-Praxis-Zusammenhänge zu transformieren, die bspw. von den Regeln des Straßenverkehrs über die Stadtplanung bis hin zu Statussymbolen und Erwartungen reichen. Zu ähnlichen Schlüssen, allerdings aus ganz anderer, nämlich kapitalismustheoretischer Theorieperspektive, gelangt auch Thomas Barth in seinem Beitrag Nachhaltigkeit, Arbeit und Automobilität, der das konkrete Handlungsfeld der Automobilität mit dem gesellschaftlichen Feld kapitalistisch organisierter Arbeit verbindet. Insofern verhalten sich die beiden dem Thema Mobilität gewidmeten Buchbeiträge geradezu komplementär zueinander: Denn die aufbauend auf Marx’schen Kategorien dargestellte Genese und anhaltende Stabilisierung der automobilen Produktions- und Konsumweise bildet in ihrer engen Verwobenheit mit politisch-ökonomischen Machtstrukturen und Verwertungsprinzipien gerade die Kehrseite der zurückgedrängten Fahrradpraktik. Die Automobilität hat die industrielle Arbeitswie Konsumgesellschaft, die Raum- wie die Sozialstruktur und auch die Wertvorstellungen derart geprägt, dass eine Verkehrswende jenseits des Automobils auch einige Grundstrukturen kapitalistischer Gesellschaften in Frage stellen dürfte. Ebenso wie Mobilität ist der Konsum zentral und typisch für die moderne Gesellschaft. In ihrem Beitrag »Doing Verantwortung«. Responsibilisierung im Zeichen der Nachhaltigkeit nehmen Nikolaus Buschmann und Jędrzej Sulmowski aus der Perspektive der Praxistheorie unterschiedliche Formen der Zuweisung von Verantwortung für Nachhaltigkeit zum Ausgangspunkt, um ebendies – die Responsibilisierung – als politischen Akt sichtbar zu machen. Am Fall der Praxis nachhaltigen Konsumierens zeigen sie die Zuschreibungen und Ausschlüsse auf, die mit einer Fokussierung auf die verantwortlich Konsumierenden und deren möglichst nachhaltig gestalteten individuellen Kaufakt einher13
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gehen: Alternative Verantwortlichkeiten und z.B. strukturelle Veränderungen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse blieben nämlich so unbenannt und damit auch bestimmte Ursachen anhaltender Nicht-Nachhaltigkeit. Die anhaltende Nicht-Nachhaltigkeit ist auch Thema im Beitrag Ökologische Nachhaltigkeit in religiösen Gemeinschaften. Fabian Huber und Jens Köhrsen fragen in ihrem Beitrag nach den Wirkungen des Nachhaltigkeitsdiskurses im Feld des Glaubens: Ergrünen die Religionen? Dieser Frage gehen die Verfasser am Fall religiöser Gemeinschaften in Deutschland und der Schweiz nach und präsentieren dabei Befunde, die sich nicht nur auf programmatische Bezüge auf ökologische Nachhaltigkeit, sondern auch auf praktische Umweltaktivitäten von Glaubensgemeinschaften erstrecken. Die mit der These vom »greening of religion« direkt gezogene theoretische Verbindung von Religion und Ökologie kann indes nicht eindeutig bestätigt werden, eher herrschen Ambivalenz sowie Heterogenität unter den verschiedenen Gemeinschaften vor. Die folgenden beiden Beiträge nehmen das Feld der Wissenschaft in den Blick – und zwar als praktisches und als gesellschaftliches Handlungsfeld. Im Beitrag Ansätze sozialer Praktiken am Beispiel der Nachhaltigkeit akademischen Lernens und Lehrens fragt Angela Pohlmann aus der Perspektive der Praxistheorie nach der Möglichkeit und den Bedingungen von Nachhaltigkeit im Fall des akademischen Lernens und Lehrens. Sie beschreibt die eher unbewussten energieintensiven Praktiken in Universitätsbibliotheken und veranschaulicht hieran, wie schwer alltägliche Praktiken im Sinne von mehr Nachhaltigkeit zu transformieren sind. Damit aber verschiebt sich auch der Ansatzpunkt für derartige zielgerichtete Transformationen tendenziell weg von individueller Einsicht oder neuen Technologien. Im konkreten Fall treten hingegen die komplexen und ambivalenten Bündelungen individueller Orien14
Einleitung
tierungen z.B. an Wissenserwerb, gesellschaftlichen Erwartungen im Sinne von Lernanforderungen sowie materiellen Infrastrukturen und Artefakten hervor. Die Wissenschaft als gesellschaftliches Handlungsfeld ist Gegenstand des Beitrags Nachhaltigkeit als problem-orientierte Forschung, in dem Stefan Böschen aus Perspektive der Science & Technology Studies Nachhaltigkeit als Versuch der zukunftssichernden gesellschaftlichen Problemlösung sowie am Beispiel der Technikfolgenabschätzung als Praxis problem-orientierter Forschung untersucht. Die hier eingenommene soziologische Theorieperspektive plädiert u.a. dafür, die gesellschaftliche und wissenschaftliche Problemkonstruktion selbst zu rekonstruieren, da so nicht nur Spezifika der Lösung von Nachhaltigkeitsproblemen analytisch Rechnung getragen, sondern auch die Folgen der davorliegenden Problemdefinition reflektiert werden können. Die letzten beiden Beiträge lassen sich unter dem Stichwort der Theoriekritik zusammenfassen. In seinem Beitrag Zukunftsangst und beschränkte Rationalität geht Marc Hübscher aus Perspektive der Verhaltensökonomie der Frage nach, warum es oftmals so schwerfällt, das Richtige, Nachhaltige, zu tun, obwohl das Wissen darum vorhanden ist. Der Bestimmung von Nachhaltigkeit als »Zukunftskunst« (Schneidewind 2018), die die kulturelle Dimension des notwendigen Wandels hin zu Nachhaltigkeit betont, stellt er eine verhaltensökonomische Perspektive zur Seite. Denn die aus ihr gewonnene Einsicht in die begrenzte Rationalität der Handelnden wirft die Frage auf, wie eine gezielte Umsetzung gesellschaftlichen Wandels dann überhaupt funktionieren kann. Womöglich durch sog. Nudging, d.h. dem »Anstupsen« der als richtig erachteten Verhaltensweisen, sodass eine bewusste Abwägung durch die Einzelnen mit ungewissem Ausgang gar nicht nötig wird. Diese Form der ›gutgemeinten‹ Manipulation werfe allerdings auch erhebliche ethische Fragen auf. 15
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Katharina Block schließlich greift in ihrem Beitrag Die Unverfügbarkeit der Nachhaltigkeit auf die relationale Phänomenologie zurück, um auf die Defizite eines aus Perspektive der Rational-Choice-Theorie gewonnenen Nachhaltigkeitsverständnisses hinzuweisen. Kernproblem sind dabei die impliziten anthropologischen Annahmen, die dem handlungstheoretischen Ansatz der RC-Theorien zugrunde liegen. Die relationale Anthropologie Plessners erlaubt hingegen, der mehrdimensionalen Komplexität von Handlungsbezügen Rechnung zu tragen. Der nicht-nachhaltig handelnde Mensch der Handlungstheorie kann so ebenso in den Blick genommen werden wie die Unverfügbarkeit der Nachhaltigkeit. Damit verbunden ist ein Plädoyer für mehr Mut, Nachhaltigkeit auch vom Scheitern statt vom Gelingen her zu bearbeiten und gerade auf diese Weise handlungsrelevante Parameter sichtbar werden zu lassen. Die hier vorliegenden Beiträge bieten einen Einstieg in das Themenfeld Nachhaltigkeit – seine thematischen Schwerpunkte ebenso wie seine Herausforderungen und Potentiale. Zugleich erschließt sich das Potential einer Soziologie der Nachhaltigkeit, gerade durch kritische Reflexion zum Gelingen von Nachhaltigkeit beizutragen.
Literatur Block, Katharina/Brand, Karl-Werner/Henkel, Anna et al. (2019): »Soziologie der Nachhaltigkeit. Zwischen Transformation und Reflexion«. In: SuN Soziologie und Nachhaltigkeit, Sonderausgabe IV, S. 1-17. Blühdorn, Ingolfur (2018): »Nicht-Nachhaltigkeit auf der Suche nach einer politischen Form. Konturen der demokratischen Postwachstumsgesellschaft.« Berliner Journal für Soziologie 28, 1-2, S. 151-180. DOI: https://doi.org/10.1007/s11609-018-0372-8.
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Einleitung Brand, Karl-Werner (2018): »Disruptive Transformationen. Gesellschaftliche Umbrüche und sozial-ökologische Transformationsdynamiken kapitalistischer Industriegesellschaften – ein zyklisch-struktureller Erklärungsansatz.« In: Berliner Journal für Soziologie 28, 3-4, S. 479-509. Henkel, Anna/Bergmann, Matthias/Speck, Karsten et al. (2018): »Dilemmata der Nachhaltigkeit zwischen Evaluation und Reflexion. Begründete Kriterien und Leitlinien für Nachhaltigkeitswissen«. In: Nico Lüdtke/Anna Henkel (Hg.). Das Wissen der Nachhaltigkeit. Herausforderungen zwischen Forschung und Beratung. München: oekom, S. 147-172. Henkel, Anna/Böschen, Stefan/Drews, Nikolai et al. (2017): »Soziologie der Nachhaltigkeit – Herausforderungen und Perspektiven.« In: Soziologie und Nachhaltigkeit, Sonderausgabe 1, S. 1-30. Schneidewind, Uwe (2018): Die große Transformation. Eine Einführung in die Kunst des gesellschaftlichen Wandelns. Frankfurt a.M.: Fischer. Wendt, Björn/Böschen, Stefan/Barth, Thomas et al. (2018): »›Zweite Welle?‹ Soziologie der Nachhaltigkeit. Von der Aufbruchsstimmung zur Krisenreflexion.« In: SuN Soziologie und Nachhaltigkeit, Sonderausgabe 3, S. 1-23. World Commission on Environment and Development (WCED) (1987): Our common future. World Commission on Environment and Development. Oxford: Oxford University Press.
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Genealogie: Verantwortung für Nachhaltigkeit Anna Henkel Nachhaltigkeit, nachhaltige Entwicklung oder nachhaltiger Wandel beinhalten die Frage, wer durch entsprechendes Handeln die Verantwortung für das Gelingen übernehmen soll. Auf den ersten Blick ist die Frage leicht beantwortet. Verzicht auf Verpackungen, abendliche Festbeleuchtung oder große Autos verortet die Verantwortung da, wo der Verbrauch anfällt, also bei den Konsumierenden. Doch so einfach ist es nicht. Mit biologisch abbaubaren Verpackungen, energiesparenden Leuchtmitteln oder Elektro-Motoren sind es auch Wissenschaft und Technik, die durch entsprechende Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung Verantwortung übernehmen können und sollen. Schließlich ist die Politik mit in der Verantwortung, setzt sie etwa mit Verboten, Grenzwerten oder fiskalischen Mitteln doch Rahmenbedingungen. Je nachdem, wen man als verantwortlich für Nachhaltigkeit sieht, sind die Vorstellungen von einer nachhaltigen Gesellschaft und entsprechende Entwicklungspfade hin zu dieser ziemlich unterschiedlich. Und umgekehrt: Je nach Vorstellung davon, wie eine nachhaltige Gesellschaft aussehen soll und wie diese zu erreichen ist, werden unterschiedliche Akteur*innen für verantwortlich gehalten. Angesichts dieser Lage lohnt sich ein soziologischer Blick auf die Verantwortung für Nachhaltigkeit. Wenn die Vorstellungen von Nachhaltigkeit und die von Verantwortung so diffus sind – was kann dann Verantwortung für Nachhaltigkeit heißen? Im ersten Abschnitt wird verdeutlicht, dass angesichts der zusammenhängenden Bezugsprobleme die Bestimmung von Nachhaltigkeit und die Festlegung von Verantwortung kontin19
Anna Henkel
gent, also möglich aber nicht notwendig, sind (»Verantwortung für Nachhaltigkeit – Vielfalt der Bezugsprobleme«). Die soziologische Perspektive der Genealogie mag hier etwas Klarheit schaffen. Eine genealogische Analyse fragt nach der Entstehung von Deutungen aus dem Zusammenspiel von Macht und Wissen (»Genealogie als Perspektive«). Die Anwendung der Genealogie erlaubt, Nachhaltigkeit näher zu fassen als ein Feld konkurrierender Deutungen. Solche Deutungen werden jeweils unterschiedlich durch Wissen legitimiert und bringen verschiedene Distributionen von Ressourcen und Verpflichtungen mit sich (»verantwortlich – je nach Deutung von Nachhaltigkeit«). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Verantwortung erneut. Wenn Nachhaltigkeit ein Feld umkämpfter Deutungen ist, wird Verantwortung für Nachhaltigkeit nicht beliebig? Mitnichten. Zur Genealogie der Moral zeigt bereits Nietzsche, dass gerade jenseits einer sich als objektiv darstellenden Moral die Frage nach der Moral umso eindringlicher zu stellen ist. Jenseits der Moral heißt dabei vor allem jenseits von Ressentiment und jenseits einfacher Lösungen. Übertragen auf Verantwortung für Nachhaltigkeit heißt dies nicht ein Aufgeben dieser Verantwortung, sondern eine Verantwortung jenseits instrumenteller Vereinfachung (»reflexiv-normative Verantwortung«).
Verantwortung für Nachhaltigkeit – Vielfalt der Bezugsprobleme Mit dem Begriff der Nachhaltigkeit wird ein Entwicklungsziel bezeichnet, bei dem, bezieht man sich auf die Definition der Brundtland-Kommission, die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt werden, ohne zu riskieren, dass zukünftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können (Hauff 1987: S. 46). Wie dieses Entwicklungsziel jedoch genau aussieht, ist nicht einfach zu sagen. Schon historisch wandelt sich, worauf Nachhaltigkeit hinzielen soll. Während in den 1970er Jah20
Genealogie: Verantwortung für Nachhaltigkeit
ren im Bericht an den Club of Rome die endlichen natürlichen Ressourcen im Mittelpunkt stehen, so dass eine Begrenzung des Ressourcenverbrauchs zentral erscheint, gilt heute Klimawandel als Kernproblem, so dass eine CO2-Reduktion als Zielsetzung dominant wird. Selbst unter Vernachlässigung solcher historischer Verschiebungen greifen Problemlagen ineinander und sind bereits in der sachlichen Abgrenzung abhängig von der jeweils gewählten Perspektive. Exemplarisch lässt sich das an dem Ziel zeigen, durch CO2-Reduktion menschlich verursachte Erderwärmung zu begrenzen. Es liegt nahe, hier zunächst auf den individuellen Energieverbrauch abzustellen, also Konsumverhalten, Ernährungsgewohnheiten und Mobilitätsbedürfnisse von Konsumierenden. Entscheidungen von Konsumierenden aber sind eingebettet in soziale Praktiken. Anforderungen an Mobilität schon allein im Beruf, regionale Ernährungsgewohnheiten, soziale Konventionen und im Angebot liegende Möglichkeiten spielen zusammen, so dass scheinbare »Entscheidungen« sich vielfach aus den Anforderungen der Situation ergeben. Die im Angebot liegenden Möglichkeiten verweisen auf die Industrie, also auf Herstellungsbedingungen, Produkte und Innovationstrends. Doch auch Entscheidungen von Produzent*innen sind stark beeinflusst von ihrem Kontext, etwa durch Anforderungen an Wettbewerbsfähigkeit, Imitation von auf dem Markt erfolgreichen Innovationen (wie aktuell bspw. der SUVs) und Regulierungsbedingungen. Das Stichwort Innovationen schließlich verweist darauf, dass nicht nur Konsumierende und Industrie relevant sind zur Reduktion von CO2, sondern auch Wissenschaft und Technik. Elektromobilität statt Verbrennungsmotoren, Wege der Nutzung regenerativer Energien oder bessere Wärmedämmung wären technische Lösungen. Zugleich ist spätestens seit der Diagnose der Risikogesellschaft in den 1980er Jahren (Beck 21
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1986) bekannt, dass Innovation und Risiko zwei Seiten derselben Medaille sind. Elektromobilität benötigt Batterien, die auch entsorgt werden müssen; regenerative Energieerzeugung verändert auch Flächennutzung; und besonders gute Dämmstoffe sind vielleicht brandgefährlich. Die Liste der Verweisungen auf mögliche Verantwortliche ließe sich fortsetzen (Politik, Bildung, Zivilgesellschaft, …). Angesichts dieser Gemengelage ist es nicht so einfach zu sagen, was Nachhaltigkeit ist, wie man sie erreicht und wer dafür verantwortlich ist. Bedenkt man weiter, dass sich Nachhaltigkeit durch eine Vielfalt der angesprochenen Zielsetzungen, Heterogenität der involvierten Wissensformen, Unterschiedlichkeit der beteiligten Akteur*innen, Verortung zwischen den Polen der Normativität und Objektivität sowie der Wünschbarkeit und Machbarkeit und unterschiedlichen Zeitpolitiken auszeichnet, zeigt sich der fundamental dilemmatische Charakter der Nachhaltigkeit: Nicht alles ist zugleich erreichbar – Fortschritte in einem Bereich erfordern zwangsläufig Abstriche in anderen (vgl. dazu ausführlicher Henkel et al. 2018). Trotz dieser eigentlich unklaren Lage – oder vielleicht gerade wegen dieser Unklarheit – suggeriert die Zurechnung von Verantwortung für Nachhaltigkeit z.T. eine große Eindeutigkeit. Es ist der Konsumierende (z.B. beim Einwegbecher, vgl. Deutsche Umwelthilfe 2019); es ist die Wissenschaft (z.B. bei umfangreichen Fördermaßnahmen, vgl. FONA 2019); oder es ist die Politik (z.B. bei Klimademonstrationen, Pohl 2019) usw. – in all diesen Fällen geht es darum, dass bestimmte Personengruppen oder Institutionen etwas tun sollen, und immer werden solche Forderungen mit Wissen unterlegt. Eine sachlich unklare Problemlage einerseits, scheinbar eindeutiges In-die-Verantwortung nehmen bestimmter Akteur*innen andererseits – Nachhaltigkeit ist also ein in seiner Deutung umkämpftes Feld. Die Genea-
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Genealogie: Verantwortung für Nachhaltigkeit
logie bietet sich als Perspektive zur näheren Untersuchung dieser Gemengelage an.
Genealogie als Perspektive Von Friedrich Nietzsche Ende des 19. Jahrhunderts als Mittel einer Kritik der Moral eingeführt, ist die genealogische Analyse, nämlich die Untersuchung des Zusammenhangs von Weltinterpretationen und gesellschaftlichen Verhältnissen, als Element von Gesellschaftstheorie an vielen Stellen implizit oder explizit in die Soziologie eingeflossen. Insbesondere über Michel Foucault wird die Untersuchung von Macht-Wissens-Komplexen zum Kernbestand soziologischer Analyse. Aus der Perspektive der Genealogie ist die Geschichte der Menschheit eine Abfolge von Deutungen (Foucault 2002: S. 178). Damit ist nicht gemeint, dass es etwa keine gültige Wahrheit gebe. Im Gegenteil: Jede Gesellschaft ist geprägt durch etwas, das den Menschen, die in dieser Gesellschaft leben und die diese Gesellschaft hervorbringen, als wahr, notwendig, unsterblich gilt (ebd.). Zugleich ist Welt zweifellos »da«. Da – aber ohne notwendige Ordnung. »Der Gesammt-Charakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Notwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heißen.« (Nietzsche [1882] 2000, Drittes Buch, Aphorismus Nr. 109) Wahrheiten sind aus dieser Perspektive mithin Deutungen – aber Deutungen, die als plausibel gelten und aus dieser Überzeugungskraft heraus eine Wirkmächtigkeit entfalten. Deutungen sind entsprechend keineswegs harmlos, bloß konstruiert, oder gar Einladung zu allgemeinem Nihilismus. Im Gegenteil sind Deutungen ein Machtfaktor. Einmal durchgesetzt bringen Deutungen Regeln hervor, legitimieren soziale Ungleichheit und bewirken ein bestimmtes Handeln sowie unter Umständen gesellschaftlichen Wandel. Eben dies, ein 23
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Wandel gesellschaftlicher Machtverhältnisse durch die Umdeutung des Guten hin zu einem moralischen Guten, ist Gegenstand von Nietzsches stichwortgebender Studie »Zur Genealogie der Moral« (Nietzsche [1887] 1991, erste Abhandlung: »Gut und Böse« – »Gut und Schlecht«). Angesichts der Wirkmächtigkeit gültiger Deutungen lohnt es, nach den Bedingungen ihrer Entstehung zu fragen. Deshalb untersucht die Genealogie die »Geschichte der Moralvorstellungen, der Ideale, der metaphysischen Begriffe […] jeweils als Entstehung andersartiger Deutungen. Und sie muss diese Deutungen wie Ereignisse im Theater des Gerichts erscheinen lassen« (Foucault 2002: S. 178). Dabei verfügt die Genealogie selbst nicht über ein sicheres Bezugssystem und setzt selbst keinerlei Beständigkeit voraus (ebd.: S. 178ff.). Was sie untersucht, ist anstelle eines Wesenskerns oder eines Ideenhimmels der Ort der Konfrontation, der Kampfplatz, aus dem bestimmte – und nicht andere – Deutungen als plausibel und damit handlungsleitend hervorgehen. Wissen und Macht hängen in diesem Kampf zusammen. Wissen legitimiert Deutungen, die wiederum eine soziale Ordnung, eine Verteilung von Rechten und Pflichten, von Ressourcen und Tätigkeiten begründen. Zugleich kann Wissen bestehende Machtstrukturen verändern. Die Genealogie fragt danach, welches Wissen mit welchen Machtkonstellationen verbunden ist und unter welchen Umständen bestimmte Macht-Wissens-Komplexe entstehen oder sich verändern.
Verantwortlich — je nach Deutung von Nachhaltigkeit Im Sinne einer genealogischen Analyse zeichnen Thomas Pfister und andere nach, wie sich die Deutung von Nachhaltigkeit seit den 1960er Jahren wandelt (Pfister et al. 2016). Bereits lange zuvor im Kontext der Holzbewirtschaftung als Begriff eingeführt, gewinnt Nachhaltigkeit in den 1960er Jahren erstmals Promi24
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nenz als eine Vorstellung von der Welt als fragilem Ökosystem mit endlichen Ressourcen, wozu z.B. Modellierung als neuartige wissenschaftliche Methode und aus dem Weltall aufgenommene Bilder des blauen Planeten wesentlich beitragen (ebd.: S. 14ff.). In den folgenden Jahrzehnten erfolgt ein globaler Bedeutungszuwachs der Nachhaltigkeit, nun vor allem verstanden als Gerechtigkeit (ebd.: S. 17ff.). Allmählich entwickelt sich eine Debatte, die Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Wirtschaft gleichermaßen erfasst. Im Zuge dieses Aufschwungs wird das Verständnis von Nachhaltigkeit als globale Gerechtigkeit abgelöst durch eine fragmentierte Konstellation (ebd.: S. 21ff.): Die ressourcenorientierte Deutung von Nachhaltigkeit und die Deutung von Nachhaltigkeit als globale Gerechtigkeit bleiben erhalten, ergänzt nun durch eine stark ökonomische Deutung von Nachhaltigkeit, die Nachhaltigkeit zu einem business-case macht und ein grünes Wachstum propagiert. Die verschiedenen Deutungen von Nachhaltigkeit greifen dabei jeweils auf bestimmte Wissensformen zurück und rechnen Verantwortung für Nachhaltigkeit unterschiedlich zu (vgl. dazu ausführlicher Henkel 2016). Dies sei an zwei besonders prominenten Deutungen von Nachhaltigkeit aufgezeigt: Fasst man, wie vielfach in der Umweltpolitik, Nachhaltigkeit als Ökologische Modernisierung, besteht das Ziel darin, moderne Industriestrukturen im Wesentlichen beizubehalten, dabei jedoch ein sog. »qualitatives Wirtschaftswachstum« zu erreichen (Eppler 1975, vgl. dazu Paech 2009). Zuwächse des Bruttoinlandsproduktes sind also weiterhin angestrebt, doch sollen die Wertschöpfungsprozesse und Produktdesigns ökologisch angepasst werden. Die Entkopplung von Wachstum und Umweltschäden wird durch technische Effizienz angestrebt, d.h. durch ein Senken des Einsatzes an Energie und Ressourcen pro Outputeinheit. Ein stofflich entkoppeltes, »grünes« Wachstum soll etwa im Sinne eines »Green New Deal« (Giegold 2009) 25
Anna Henkel
die gesellschaftlichen Interessen des Wirtschaftswachstums, der gerechten Verteilung und des Schutzes der natürlichen Umwelt bedienen, also die drei Säulen der Ökonomie, des Sozialen und der Ökologie verbinden. Konkret soll dies erreicht werden etwa durch Investitionen in die Nutzung erneuerbarer Ressourcen (Konsistenz) oder den Bau von Passivhäusern (Effizienz); durch Instrumente wie Ökosteuern oder monetäre Anreize für Investitionen zu Effizienz- oder Konsistenzsteigerungen. Das Wissen, das für ein Nachhaltigkeitsverständnis der ökologischen Modernisierung herangezogen wird, ist vor allem technisch-naturwissenschaftlicher sowie quantitativ-sozialwissenschaftlicher Art. Beispielsweise angewandte Physik und Chemie sind relevant, um etwa Solarzellen oder Windräder zur Stromerzeugung zu entwickeln; Wirtschaftsinformatik kann Digitalisierung für Nachhaltigkeitszwecke nutzbar machen, etwa in der Optimierung des Stromverbrauchs in smart houses; das Wissen aus Ökonomie oder Psychologie ist relevant, um Anreizmechanismen auf der Ebene von Individuen und Kollektivakteur*innen zu entwickeln. Verantwortung ist hier eher diffus zugerechnet. Zwar gilt als impliziter Imperativ, technischer Entwicklung zu vertrauen, wobei Wissenschaft zur Entwicklung von Lösungen herangezogen wird. Jedoch ist Wissenschaft für ein Ausbleiben solcher Lösungen oder gar Fehlentwicklungen ebenso wenig sanktionierbar wie die wissenschaftlichen Institute oder wirtschaftlichen Unternehmen, die auf Nachhaltigkeit gerichtete Produkte voranbringen. Ein auf eher technisch-instrumentellem Wissen basierendes Nachhaltigkeitsverständnis bringt so eine Deutung mit sich, die Ressourcen in Richtung Technik lenkt. Die mit dieser Deutung entstehenden Lasten verbleiben aber vielfach, mindestens teilweise, bei der Allgemeinheit. Ganz anders verhält es sich in jenen Konzepten, die Nachhaltigkeit als Postwachstum definieren. Nachhaltigkeit ist hier mit 26
Genealogie: Verantwortung für Nachhaltigkeit
einer dezidierten Kritik am Wirtschaftswachstum verbunden. Im Anschluss an frühe wachstumskritische Überlegungen (etwa Meadows et al. 1972) ist mittlerweile eine globale Postwachstumsbewegung entstanden (etwa Pallante 2005, Latouche 2006, Paech 2012). Nachhaltigkeit wird in diesen Ansätzen verbunden mit einer Vorstellung gesellschaftlicher Transformation, die von einer auf Wachstum basierenden Versorgungsform umstellt auf einen sozialverträglichen Rück- und Umbau des Industriesystems. Konkret soll dies erreicht werden durch Lebensformen der Suffizienz, Subsistenz und Regionalwirtschaft, durch Verringerung technik- und kapitalintensiver Produktionssysteme sowie durch institutionelle Innovationen, die geld- und eigentumsbasierte Wachstumstreiber verringern. Das Wissen, das in der Deutung von Nachhaltigkeit als Postwachstum herangezogen wird, ist ebenfalls naturwissenschaftliches und sozialwissenschaftliches Wissen, aber mit anderen Akzenten. Es sind hier vor allem Ökologie und ökologisch orientierte Subdisziplinen, die eher systemische Zusammenhänge als konkrete Techniken in den Mittelpunkt stellen. Im Bereich der Sozialwissenschaft sind es neben ökonomischen Ansätzen der Ressourcenmodellierung oder Regionalwirtschaft Ansätze der Bildung für nachhaltige Entwicklung, eine kulturwissenschaftlich orientierte Unternehmensforschung oder der neu entstehende Bereich der transdisziplinären Forschung. In dieser Deutung sind also Handlungs- und Prozesswissen relevant anstelle von in Form von technischen Innovationen ökonomisch verwertbarem Wissen. Angestrebte Lösungen liegen weniger in technischen Produkten, vielmehr in einer grundsätzlichen Änderung von Strukturen und/oder individuellem Handeln hin zu geringerem Ressourcenverbrauch. Verantwortung für Nachhaltigkeit haben die ressourcenverbrauchenden Akteur*innen, nämlich Konsumierende und Unternehmen.
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Anna Henkel
Abschließend sei bemerkt, dass gemäß gänzlich anderen Deutungen von Nachhaltigkeit das Brundtland-Ziel eines Gleichgewichts von Ressourcen und Ressourcenverbrauch auch durch Vergrößerung vorhandener Ressourcen erreicht werden könnte. Verfahren zur Gewinnung von Schiefergas sind aus einer solchen Deutung heraus ebenfalls nachhaltig.
Reflexiv-normative Verantwortung Aus der Perspektive der Genealogie wird der Machtaspekt deutlich, der in der Bestimmung von Nachhaltigkeit und damit in der Bestimmung von Verantwortung für Nachhaltigkeit liegt. Angesichts dessen greift eine einfach-eindeutige Zurechnung von Verantwortung ebenso zu kurz wie jede einzelne Setzung einer Deutung von Nachhaltigkeit, sei es – in den obigen Beispielen – als technische Effizienz oder normativer Konsumverzicht. Hilfreich wäre stattdessen eine reflexiv-normative Verantwortung: Diese anerkennt, dass angesichts der Vielzahl möglicher Zielsetzungen, Akteur*innen, Wissensformen etc. unmöglich alles zugleich zu erreichen ist. Nachhaltigkeit ist systematisch dilemmatisch: Es gibt keine objektiv richtige Lösung, jede Lösung hat Kosten und seien es die, mit den vorhandenen Mitteln eben jenes und nicht dieses Problem gelöst zu haben. Jede normative Setzung ist eine Deutung, die möglich, aber nicht notwendig ist – und die das Risiko unintendierter negativer Effekte birgt. Reflexiv-normative Verantwortung für Nachhaltigkeit liegt darin, die mit möglichen Rückwirkungen und Interaktionen einhergehende Komplexität zu akzeptieren. Die Konsequenz daraus ist, Verantwortung für Nachhaltigkeit nicht aufgrund von Setzungen bestimmten Personen oder Technologien zuzurechnen. Vielmehr müssen Prioritäten reflektiert und so eine soziale Ordnung reflektiert gestaltet werden. Drei Leitfragen können als erste Richtschnur einer reflexiv-normativen Verantwortung dienen: Erstens gilt es, bei 28
Genealogie: Verantwortung für Nachhaltigkeit
einer Bestimmung von Nachhaltigkeit stets zu fragen, welche Verteilung von Macht im Sinne von Ressourcen und Verpflichtungen sie involviert. Zweitens gilt es, bei einer Zurechnung von Verantwortung stets zu fragen, wer damit aus der Verantwortung entlassen wird. Drittens schließlich gilt es, vorgeschlagene (ob technische oder soziale) Transformationen stets zuallererst darauf hin zu befragen, in welchem Maße sie reversibel sind. Nicht-Invasivität und Rücknehmbarkeit haben den Vorteil, keine vollendeten Tatsachen zu schaffen – angesichts der Erwartbarkeit unerwarteter Effekte, Risiken und Nebenwirkungen ist dies Voraussetzung jedes Sich-Verantwortens.
Zum Weiterlesen Henkel, Anna/Bergmann, Matthias/Speck, Karsten et al. (2018): »Dilemmata der Nachhaltigkeit zwischen Evaluation und Reflexion. Begründete Kriterien und Leitlinien für Nachhaltigkeitswissen«. In: Nico Lüdtke/Anna Henkel (Hg.). Das Wissen der Nachhaltigkeit. Herausforderungen zwischen Forschung und Beratung. München: oekom, S. 147-172. Henkel, Anna/Luedtke, Nico/Buschmann, Nikolaus/Hochmann, Lars (Hg.) (2018): Reflexive Responsibilisierung. Verantwortung für nachhaltige Entwicklung. Bielefeld: transcript. Nietzsche, Friedrich ([1887] 1991): Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Frankfurt: Insel Verlag.
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Soziologische Systemtheorie Nachhaltigkeit als Bewahrung einer offenen Zukunft Sascha Dickel Obwohl es z.T. sehr unterschiedliche Verständnisse von »Nachhaltigkeit« gibt, lässt sich doch ein gemeinsamer Nenner ausmachen. Dieser liegt in einer bestimmten Beobachtung der Gegenwart aus der Perspektive der Zukunft. Dies offenbart bereits die klassische Brundtland-Definition: »Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.« (Hauff 1987: S. 46) Es handelt sich bei Nachhaltigkeit damit um eine Semantik, die auf Bewahrung ausgerichtet ist. Somit erscheint Nachhaltigkeit zunächst als ein konservatives Leitbild. Gleichwohl handelt es sich um eine höchst eigentümliche Form der Konservierung – nämlich einer Bewahrung zukünftiger Möglichkeiten. Etwas soll bewahrt werden, das noch gar nicht da ist: die Möglichkeiten zukünftiger Menschen. Damit ist Nachhaltigkeit ein paradoxer Begriff. Eben diese Paradoxie lässt sich aufschlüsseln, wenn man sie mit der Struktur der modernen Ordnung von Zeitlichkeit in Beziehung setzt. In diesem Beitrag soll der Fokus daher auf der temporalen Sinnverarbeitung liegen, die mit Nachhaltigkeit impliziert ist. Nachhaltigkeit wird aus einer zeitsoziologischen Perspektive aufgeschlüsselt, die auf der neueren soziologischen Systemtheorie (Luhmann 1997) basiert. Dabei wird die Funktion der Nachhaltigkeitssemantik für das Gesellschaftssystem analysiert. Die These ist, dass Nachhaltigkeit als Bestrebung interpretiert werden kann, 33
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die moderne Zeitordnung einer offenen Zukunft für die Gesellschaft zu bewahren. Im Folgenden wird zunächst das Konzept der Zukunft aus systemtheoretischer Perspektive betrachtet. Dabei wird das Spezifikum moderner Zukunft – ihre Offenheit – herausgearbeitet. Im Anschluss daran wird dieser theoretische Blick auf die Semantik der Nachhaltigkeit angewendet. Nachhaltigkeit wird als Wertsemantik betrachtet, die es der Gesellschaft erlaubt, sich in ein Verhältnis zu einer Zukunft zu setzen, die ihr angesichts tiefgreifender sozial-ökologischer Problemlagen selbst zum Problem geworden ist.
Die Zukunft als Erwartungshorizont »Die Zukunft kann nicht beginnen«. So lautet der Titel eines Aufsatzes von Luhmann aus den 1970er Jahren (Luhmann 1976). Was meint Luhmann damit? Gewöhnlich nehmen wir ja an, dass die Zukunft etwas ist, was noch nicht passiert ist, aber eben doch irgendwann beginnen wird. Doch dieser Eindruck trügt. Luhmann argumentiert, dass wir im Strom unserer Erfahrungen nie in der Zukunft ankommen, sondern uns eigentlich stets von einer Gegenwart zur nächsten hangeln. Über diese künftigen Gegenwarten können wir im jeweiligen Augenblick nichts sagen, sie sind uns absolut unzugänglich und fern. Wir können sie nicht beobachten und nicht kontrollieren. Die Zukunft ist uns vielmehr stets nur in Form einer gegenwärtigen Zukunft verfügbar. Dieser Begriff der gegenwärtigen Zukunft klingt paradox. Gemeint sind damit die Bilder, die wir uns in unserer Gegenwart von der Zukunft machen. Es sind die Zukünfte, über die wir gegenwärtig sprechen, die wir einander mitteilen, die wir als Fiktionen real werden lassen. Es sind kommunizierte Erwartungen dessen, was kommen könnte. Wenn Zukunft stets nur gegenwärtige Zukunft ist, dann kann die Zukunft nie beginnen. Stattdessen schieben wir die Bilder der Zukunft ständig vor uns 34
Soziologische Systemtheorie
her, während wir uns von einer Gegenwart in die nächste bewegen. Der Blick in die Zukunft gleicht dem Blick in die räumliche Ferne. Ebenso wie man den Horizont betrachten kann, kann man auch die Zukunft beobachten. Man sieht dort aber eben nicht die zukünftigen Gegenwarten, sondern immer nur die gegenwärtigen Zukünfte, die in der jeweiligen Gegenwart plausibel erscheinen. Nun könnte man meinen, dass es dann geradezu sinnlos ist, sich Bilder der Zukunft zu machen. Dabei würde man freilich übersehen, was gegenwärtige Zukünfte gesellschaftlich leisten: Sie konfrontieren die Gegenwart mit Kontingenz, also mit der Möglichkeit, dass die Dinge auch anders möglich sein können. Sobald von Zukunft die Rede ist, ist damit nämlich zugleich ein möglicher Bruch mit Routinen impliziert. Routinen invisibilisieren Temporalität im Allgemeinen und Futurität im Besonderen, da sie eine Kontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft implizieren. Unter Rückgriff auf Husserl spricht Schütz von zwei Idealisierungen, die den Routinen des Alltags zugrunde liegen. Die erste Idealisierung des »und so weiter« impliziert, dass alles, »was sich bislang als angemessenes Wissen erwiesen hat, sich auch in Zukunft bewähren wird«. Das subjektive Korrelat dieser Annahme ist die zweite Idealisierung des »ich kann immer wieder«. In dieser kommt die Überzeugung zum Ausdruck, »daß ich unter gleichen Umständen durch mein Handeln einen Sachverhalt zustande bringen werde, den ich durch ein früheres gleiches Handeln bewirken konnte«. Beiden Idealisierungen liegt die Prämisse zugrunde, »daß die Grundstruktur der Welt, wie ich sie kenne, und damit der Typus und der Stil meines Erfahrens und meines Handelns in ihr unverändert bleiben werden« – und dies jeweils bis zum Gegenbeweis (Schütz 1972: S. 269).
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Solange man sich im Rahmen von Routinen bewegt, kann die mögliche Krisenhaftigkeit zukünftiger Gegenwarten latent bleiben: Sobald ein Gegenstand »in die Routine […] eingeordnet ist, verflüchtigt er sich in die Allgemeingültigkeit eines Wissens, das sich in der Vergangenheit und/oder an einem anderen Ort bewährt hat, und in die Bewährtheit einer Modifikation dieses Wissens, so daß der Gegenstand in der Zukunft, wo immer er auch vergleichbar auftaucht, in dieses neue Muster eingeordnet ist« (Oevermann 2016: S. 68). Durch die erfahrungsgesättigte Erwartung, dass grundlegende Aspekte der fraglichen Gegenwart auch in Zukunft gelten werden, dass sich im Hinblick auf die jeweils beobachteten Phänomene nichts Wesentliches verändern wird oder dass bisherige Entwicklungen sich fortsetzen, schließt man implizit eine Wette auf die Reproduktion bekannter Strukturen und die Gültigkeit von Routinen ab (Behrend 2005).
Die offene Zukunft der modernen Gesellschaft Mit Koselleck kann man zeitenthobene Gültigkeit von Routinen als Kongruenz von »Erfahrungsraum und Erwartungshorizont« (Koselleck 1989a) bezeichnen. Doch eben diese Kongruenz löst sich in der modernen Gesellschaft auf. Verantwortlich dafür ist ein Umbau der Temporalstruktur. Folgt man den Analysen von Koselleck, so war die europäische Gesellschaft bis ins 18. Jahrhundert von der Idee einer geschlossenen Zukunft geleitet. Am fernen Horizont war für die Menschen des Mittelalters und der frühen Neuzeit nämlich immer dasselbe zu sehen: Das Ende der Welt und der Beginn des Gottesreichs. Alles Leben und Streben bewegte sich unaufhaltsam auf diesen Horizont zu. Was auch immer in der Zwischenzeit passieren würde, es war für die Gesellschaft als Ganze wenig relevant, weil das Ende der Welt scheinbar immer kurz bevorstand. Und mit der Apokalypse, so meinte man, würde die irdische Zeit selbst enden (Koselleck 1989b). 36
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Natürlich kann man nicht sagen, dass es eine vollständig geschlossene Zukunft jemals gegeben hat. Der Idealtypus einer Gesellschaft mit einer absolut geschlossenen Zukunft wäre eine Gesellschaft ohne Alternativen. Eine Gesellschaft ohne jede Zukunftskontingenz wäre nicht mehr als eine determinierte Maschine. So eine Gesellschaft hat es gewiss nie gegeben. Dennoch begrenzte die Naherwartung der Apokalypse das Zukunftsdenken erheblich. Die Erwartung an das Weltende war auch durch Erfahrung nicht zu erschüttern. Sie konnte nicht dadurch widerlegt werden, dass das Ende der Welt in der Gegenwart nie eintrat. Vielmehr blieb das Weltende als unerreichbarer, aber gleichwohl stets sichtbarer Horizont stabil. Erst als die Religion ihr Deutungsmonopol über die Zukunft einbüßte, wurde diese Erwartungssicherheit fraglich. Das Weltende rückte in die Ferne und konnte schließlich in seiner Unausweichlichkeit sogar bestritten werden. Die geschlossene Zukunft verwandelte sich daher seit dem 18. Jahrhundert immer mehr in eine offene Zukunft. Erst im Bewusstsein einer offenen Zukunft kann der Mensch als Gestalter zukünftiger Entwicklungen in den Fokus der Aufmerksamkeit treten. Diese Temporalstruktur einer offenen Zukunft unterscheidet sich fundamental von vormodernen Zeiten. Diese Öffnung der Zukunft bedeutet einerseits, dass sich die gegenwärtigen Zukünfte pluralisieren. Andererseits impliziert eine offene Zukunft, dass man von einem Und-Irgendwie-Immer-Weiter ausgeht. Wir erwarten, dass die Zeit niemals endet – zumindest nicht in den nächsten Jahrmillionen. Beide Aspekte können mit dem Begriff der Futurisierung erfasst werden. Futurisierung bedeutet einerseits, dass man die Anzahl möglicher Zukünfte an einer Zeitstelle steigert. Dass man sich bspw. mehrere denkbare alternative Wirklichkeiten für das Jahr 2020 vorstellen kann. Futurisierung bedeutet andererseits, dass man die Anzahl der betrachteten Zeitstellen erhöht, also den Blick in die Zukunft verlängert, sodass man sich nicht nur Zukünfte für 37
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das Jahr 2020, sondern auch für das Jahr 2030 vergegenwärtigen kann. Die Zukunft wird so zum Raum einer unendlichen Folge potentiell realisierbarer Möglichkeiten. Die Befassung mit gegenwärtigen Zukünften wurde damit zu einer gesellschaftlich immer drängenderen Praxis. Das Problem der Zukunft in der Moderne besteht genau darin, dass die zukünftigen Gegenwarten zunehmend als Raum des unhintergehbaren Nichtwissens reflektiert werden und es als Antwort darauf zu einer Proliferation gegenwärtiger Zukünfte kommt. Für diese Konstruktion gegenwärtiger Zukünfte werden dann selbst Routinen entwickelt – etwa im Sinne planvoller wirtschaftlicher Investitionen, Regeln vorausschauender politischer Staatskunst oder wissenschaftlicher Prognostik (Dickel 2014, vgl. auch Luhmann 1976). Die offene, auf Futurisierung abstellende, Zukunft ist somit die dominante Temporalstruktur der Moderne. Unter der Temporalstruktur einer Gesellschaft soll die typische Art und Weise verstanden werden, wie eine Gesellschaft mit Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft umgeht. Je komplexer Gesellschaften werden, desto mehr wird Zeit – und insbesondere Zukunft – für sie zum Problem, und desto komplexer müssen demgemäß auch die Strukturen gebaut sein, welche den Umgang mit Ereignissen regulieren, die in Zukunft erwartet werden (Nassehi 2008). Ein ganz entscheidender Aspekt solcher Temporalstrukturen sind spezifische Semantiken, die einen bestimmten Umgang mit Zeitlichkeit auf den Begriff bringen. Das aus der Begriffsgeschichte adaptierte Konzept der Semantik steht bei Luhmann für Symbolkomplexe, die als höherstufig generalisierter Sinn Handlungen dauerhaft orientieren können und dabei relativ situationsunabhängig verwendet werden können. Dabei ist jede Form der Semantik immer auch eine Form gesellschaftlicher Selbstthematisierung, die in ihrer struk-
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turellen Funktionalität aufgeschlüsselt werden kann (Luhmann 1993, 1997). In systemtheoretisch informierten semantischen Analysen geht es darum, aufzuzeigen, wie gesellschaftliche Krisen die Formen verändern, mit denen die Gesellschaft sich selbst und ihre Umwelt begreifen kann – und welche veränderten Beobachtungsroutinen umgekehrt auf welche Krisen hinweisen. Semantikanalysen sind somit Beobachtungen zweiter Ordnung. Sie nutzen den Begriffsgebrauch der Praxis selbst als Ankerpunkt der Analyse. Die Beobachtung zweiter Ordnung zielt letztendlich immer darauf ab, zu beobachten, wie durch eine bestimmte Form des Sprachgebrauchs einerseits Kontingenz eingeschränkt wird, da der Fokus auf etwas Bestimmtes (und eben nicht auf Anderes) gelenkt wird und wie durch diese Fokussierung zugleich generalisierte Sinnorientierungen in heterogenen sozialen Situationen generiert werden: Man spricht von ›Nachhaltigkeit‹, statt etwa von ›Natur‹ und hält sich die Möglichkeit offen, diese Form des Sprachgebrauchs (samt seiner Setzungen und Ausblendungen von Alternativen) in anderen Kontexten zu reproduzieren. In eben diesem Sinne soll nun rekonstruiert werden, wovon man spricht, wenn man von Nachhaltigkeit spricht. Nachhaltigkeit soll als Semantik betrachtet werden, die auf eine Krise der Zukunft verweist und zugleich einen Umgang mit einem unsicheren Übermorgen in der Gegenwart ermöglicht.
Nachhaltigkeit als Bewahrung offener Zukunft In der Semantik der Nachhaltigkeit reproduziert sich die Zukunftsorientierung moderner Gesellschaften in einer spezifischen Weise. Betrachtet man das begriffliche Umfeld der Nachhaltigkeit, sticht diese Temporalisierung unmittelbar ins Auge. Die Rede ist von Zukunft, Zukunftsfähigkeit, künftigen Generationen, Sorge, Vorsorge, Verantwortung, Folgenorientierung und -abschätzung, ökologischer Modernisierung, (nachhalti39
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ger) Entwicklung, Green Growth, De-Growth, langanhaltenden Wirkungen, langfristigen Orientierungen, vorausschauendem Handeln, Transitionen und Transformation. Diese Variationen der Nachhaltigkeitssemantik können nun aus einer systemtheoretischen Perspektive einer Beobachtung zweiter Ordnung unterzogen werden. In ihnen allen kommen zum einen Probleme der Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft unter der Bedingung des Nichtwissens zum Ausdruck. Zum anderen wird hier eine normative Orientierung sichtbar, die der Zukunft ein Primat gegenüber der Gegenwart einräumt. Sei es, dass positiv ausgezeichnete (›grünere‹) Zukünfte angestrebt werden oder sei es, dass Zukünfte vermieden werden sollen, die negativ konnotiert sind. In beiden Dimensionen geht es darum, dass die Gegenwart im Lichte der Zukunft beurteilt wird und in diesem Sinne defizitär erscheint – nämlich als eine Zeit, in der nicht hinreichend darauf hingewirkt wird, dass die Offenheit der Zukunft erhalten bleibt. Es geht, wie Bora (2009) es formuliert, darum, die »gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit evolutionär erfolgreichen Operierens in einer komplexen, durch gesellschaftliche Einflüsse selbst dauernd mit veränderten Umwelt« (ebd.: S. 59) zu bewahren. Bereits in der Brundtland-Definition zeigt sich, dass Nachhaltigkeit nicht auf ökologische Fragen beschränkt ist, sondern vielfältige soziale Aspekte betreffen kann. Die Nachhaltigkeitssemantik ist eine ungemein expansionsfähige Semantik. In den von den Vereinten Nationen formulierten Sustainable Development Goals finden sich daher mittlerweile alle gesellschaftlichen Großprobleme wieder. Es geht um die Bekämpfung des Klimawandels, ebenso wie um die Beseitigung von Armut und Hunger und um die Gewährleistung zukunftsfähiger Formen des Arbeitens, Produzierens und Konsumierens bis hin zur Friedenssicherung und Gleichberechtigung der Geschlechter. 40
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In diesen Zielvorstellungen kommen gesellschaftliche Werte zum Ausdruck. Werte schaffen »oberhalb aller Kontingenzen, unbezweifelbare Bezugspunkte« (Luhmann 1997: S. 341), die so gebaut sind, dass sie ihre eigene Kontingenz negieren. Gleichwohl »kann keine Rede davon sein, daß Werte in der Lage wären, Handlungen zu seligieren. Dazu sind sie viel zu abstrakt […]. Ihre Funktion liegt allein darin, in kommunikativen Situationen eine Orientierung des Handelns zu gewährleisten, die von niemandem in Frage gestellt wird. Sie gleichen nicht […] Fixsternen, sondern eher Ballons, deren Hüllen man aufbewahrt, um sie bei Gelegenheit aufzublasen.« (Ebd.: S. 341f.) Einerseits ist es stets möglich, sich auf Werte zu beziehen, andererseits ist die Art und Weise dieser Bezugnahme kontingent – nicht zuletzt, da Werte zueinander in Konflikt treten können. Nachhaltigkeit ist damit zur maximal umfassenden Wertsemantik geworden, die alle gesellschaftlichen Herausforderungen umklammert und mögliche Zielkonflikte bis auf Weiteres latent hält. Der außerordentliche (semantische) Erfolg der Nachhaltigkeit kann aber mit dieser Klammerfunktion noch kaum hinreichend erklärt werden. Stellt man nämlich wissenssoziologisch in Rechnung, dass der soziale Erfolg einer Semantik davon abhängt, ob sie auf ein gesellschaftliches Problem plausibel ›antwortet‹, dann stellt sich die Frage, ob der Ubiquität des Nachhaltigkeitsbegriffs ein ebenso ubiquitäres strukturelles Problem entspricht, eine umfassende Krise, vor der eine Gesellschaft steht und die ihre Routinen infrage stellt. In der Brundtland-Definition steckt bereits eine Krisendiagnose, denn die Forderung, die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zu erhalten, macht nur Sinn, wenn die Zukunft bereits als problematisch wahrgenommen wird. Neckel hat dazu den Vorschlag gemacht, Nachhaltigkeit auf das Problem der »Sicherung der Potentialität künftiger Entwicklungschancen« zu beziehen. »Nachhaltigkeit dient hier der Sicherung eines Vorrats 41
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an Handlungsmöglichkeiten, der in der Gegenwart nicht länger verknappt werden soll. Ihr Gegenbegriff ist Determination, die offene Zukünfte in geschlossene überführt.« (Neckel 2018: S. 16) Die Problematik der Zukunft, die im Begriff der Nachhaltigkeit impliziert ist, kann nun auf unterschiedliche Weise adressiert werden. Man kann unterschiedliche Maßnahmen (Sachdimension) mit dem Verweis auf Nachhaltigkeit legitimieren und unterschiedliche Akteur*innen (Sozialdimension) als potentiell Verantwortliche adressieren. Aber selbst in der Zeitdimension lässt sich Varianz beobachten. Mit Kaiser (2015) lassen sich hier präventive von präemptiven Orientierungen unterscheiden. Erstere sind darauf angelegt, angesichts ungewisser und damit potentiell riskanter Zukünfte die jeweilige Gegenwart zu stabilisieren. Man geht von einer offenen Zukunft aus, erwartet, dass man nicht weiß, was kommen wird, hält auch das Schlimmste für möglich und stellt sich darauf ein. Die Logik der Prävention ist damit inhärent konservativ. Präemption zeichnet sich hingegen durch eine genau umgedrehte Temporalperspektive aus. Hier erwartet man eine hinreichend absehbare katastrophische Zukunft – und diese soll abgewendet werden, indem man die Gegenwart korrigiert. In der Chronopolitik der Präemption werden Akteur*innen »aufgefordert, diese außerordentlichen Zukünfte vorwegzunehmen, um sie an ihrer Reifizierung zu hindern«. Wo Prävention einer Normalisierung von Verfahren verpflichtet ist, folgt die Präemption der Logik des Ausnahmezustands: »Nur außer-ordentliche Maßnahmen […] in der Gegenwart sind imstande, den notwendigen Lauf der Dinge zu korrigieren und Ordnung zu schaffen. Ordentliche Maßnahmen […] hingegen führen [der Präemptionslogik folgend] unweigerlich in den Notstand, in die Außer-Ordnung. Es geht also um eine Korrektur der Gegenwart in Folge der verschiedenen Regierbarmachungen der Zukunft.« (Ebd.: S. 294)
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Die Grundsatzkonflikte im Nachhaltigkeitsdiskurs zwischen ökologischer Modernisierung und Postwachstumsökonomie lassen sich damit als divergierende Antworten auf die Frage rekonstruieren, ob man an den Wachstumsroutinen der Gegenwart prinzipiell festhalten kann, um die Möglichkeit offener Zukunft zu bewahren oder ob die Gegenwart selbst transformiert werden muss, um sich nicht in eine bereits absehbare Katastrophe hineinzumanövrieren, genauer: ob der gegenwärtige Pfad des Wachstums verlassen werden muss. Dass die konservative, also präventive Ausdeutung von Nachhaltigkeit in unserer Gegenwart anschlussfähiger ist, kann zeitsoziologisch nicht zuletzt darauf zurückgeführt werden, dass sie der Temporalstruktur der Moderne selbst eher entspricht. Diese basiert ja gerade auf der Überwindung der Idee einer bereits feststehenden, apokalyptisch anmutenden Zukunft. Eine grüne Modernisierung ist damit eine Wette auf die Zukunft, welche die Moderne mit sich selbst abschließt. Sie wettet darauf, dass sich die Zukunft durch ›ordentliche Maßnahmen‹ bewahren lässt, die dem bisherigen Wachstumspfad entsprechen, aber seine Defizite zu korrigieren trachten: grüne Innovationen, effizienterer Ressourceneinsatz, inkrementelle Reformen. Kritiker*innen, die nach präemptiven Maßnahmen rufen, wetten dagegen. Sie erwarten, dass eine Bewahrung offener Zukunft nur dann möglich sein wird, wenn die Moderne anerkennt, dass eine katastrophische künftige Gegenwart bereits feststeht, sofern sich die Gesellschaft nicht umgehend transformiert und den eingeschlagenen Wachstumspfad verlässt.
Fazit Die Zukunft kann nicht beginnen und sie kann nicht in gleicher Weise wie die Gegenwart beobachtet werden. Gleichwohl muss die Gesellschaft in der Gegenwart mit der Zukunft umgehen. Das gilt insbesondere dann, wenn die Zukunft als offen, als Raum 43
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kontingenter Möglichkeiten betrachtet wird. Eben diese Deutung der Zukunft prägt das moderne Zeitverständnis. Wenn nun aber die gegenwärtigen Gesellschaftsstrukturen selbst als riskante Konstruktionen in den Blick kommen, welche die Möglichkeiten der Zukunft – insbesondere der künftigen Generationen – massiv beschränken können, steht das zeitgenössische Gesellschaftssystem vor der Frage, welche Mittel und Maßnahmen gegenwärtig zu ergreifen wären, um weiter zukunftsfähig zu sein. Die in diesem Beitrag entfaltete These lautet, dass Nachhaltigkeit als Bestrebung interpretiert werden kann, die moderne Zeitordnung einer offenen Zukunft für die Gesellschaft zu bewahren. In der umfassenden Semantik der Nachhaltigkeit und ihren unterschiedlichen Ausdeutungen kommt somit die gesellschaftliche Frage zum Ausdruck, ob die Routinen der Moderne bewahrt werden können oder die Zeichen der Zeit eine temporale Neuorientierung erzwingen.
Zum Weiterlesen Dickel, Sascha (2014): »Die Regulierung der Zukunft. ›Emerging Technologies‹ und das Problem der Exklusion des Spekulativen«. In: Alfons Bora/Anna Henkel/Carsten Reinhardt (Hg.). Wissensregulierung und Regulierungswissen. Weilerswist: Velbrück, S. 201-218. Luhmann, Niklas (1976): »The Future Cannot Begin. Temporal Structures in Modern Society«. In: Social Research, 43, 1, S. 130-152. Nassehi, Armin (2008): Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag.
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Karl Mannheims Wissenssoziologie Nachhaltigkeit – Ideologie oder Utopie? Björn Wendt Karl Mannheim (1893-1947) gilt bis heute als einer der Begründer der Wissenssoziologie (zur Einführung: Hofmann 1996; Corsten 2010). Seine wissenssoziologischen Hauptwerke (Mannheim [1929] 1985, [1925] 1988) und kultursoziologischen Frühschriften (Mannheim 1980) umkreisen zentrale Grundprobleme der allgemeinen Soziologie, von denen aus er auch zu einem Wegbereiter für verschiedene spezielle Soziologien wurde – etwa der Politischen Soziologie und Elitensoziologie (Mannheim [1935] 1958, [1951] 1970), der Jugendsoziologie sowie der Biographieund Lebenslaufforschung (Mannheim [1928] 1964a). Seine Wissenssoziologie wird häufig als ein »Produkt des Chaos und der Unordnung« beschrieben und zwar sowohl in Bezug auf seine Epoche, seine Zeitdiagnose einer »Krise des Denkens«, aber auch dadurch, dass sich in seinem Denken »die Elemente verschiedener geistiger Traditionen […] kreuzen und vermischen, wovon die Vagheit und Vieldeutigkeit der meist hoch differenziert klingenden Terminologie beredter Ausdruck ist« (Neusüss 1967: S. 3f.). Gerade diese chaotisch-unordentliche Komplexität der Mannheim’schen Wissenssoziologie kann gleichwohl ein fruchtbarer Ausgangspunkt sein, um das ebenfalls chaotisch-komplexe Feld der Nachhaltigkeit zu systematisieren und deutlich zu machen, dass sich mit Mannheim nach wie vor hochrelevante Fragen über die soziale Welt stellen lassen. Der hier mit Mannheim verhandelte »Fall« ist also das Feld der Debatte um Nachhaltigkeit. Nach kurzer Darstellung dieses Falls, führe ich 47
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in zentrale Aspekte der Mannheim’schen Wissenssoziologie entlang der Begriffe Ideologie und Utopie ein, um diese dann auf Nachhaltigkeit zu übertragen. Dabei wird deutlich: Eine an Mannheim angelehnte wissenssoziologische Perspektivierung von Nachhaltigkeit ist über die Utopie- und Ideologiehaftigkeit des Denkens in der Lage, einen reflexiv-problematisierenden Zugang zu vernachlässigten Dimensionen der Nachhaltigkeitsdebatte in den Blick zu nehmen, vor allem als Fragen der Macht, Herrschaft und sozialen Ungleichheit (Wendt und Görgen 2018).
Der Fall: Das umkämpfte Feld nachhaltigkeitsbezogenen Wissens Der Nachhaltigkeitsbegriff hat in den letzten Jahrzehnten eine erstaunliche Karriere gemacht. Nachdem er lange Zeit als fachwissenschaftlicher Terminus ein ökonomisches Prinzip beschrieb, um erneuerbare Ressourcen, etwa Wälder oder Fischbestände, in einer Weise zu bewirtschaften, dass diese auch in Zukunft noch genutzt werden können (Grunwald und Kopfmüller 2012: S. 18ff.), wurde er mit dem Aufkommen der Umweltbewegung seit den 1970er Jahren zunehmend politisiert, globalisiert und schließlich popularisiert. Mit dem Brundtland-Bericht (1987) und der Rio-Konferenz (1992) wurde Nachhaltigkeit zu einem politischen Leitbild, das umwelt- und sozialpolitische Entwicklungsziele für die ganze Welt ausformuliert – gegenwärtig besonders prominent in den Sustainable Development Goals der UNO (zur Entwicklungsgeschichte des politisierten Nachhaltigkeitsbegriffes: Brand 2018; Grunwald und Kopfmüller 2012: S. 20ff.; Görgen und Wendt 2015). Mit dem Begriff der Nachhaltigkeit wurden im Zuge seiner Entwicklungsgeschichte unterschiedliche Wissenssysteme verknüpft, etwa wissenschaftliche Theorien und Prognosen, politische Weltanschauungen sozialer Bewegungen und Parteien, aber auch das Alltagswissen vieler Menschen. »Nachhaltigkeit« 48
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ist kurzum in zahlreiche Wissensbestände eingedrungen, mit der Intention einen sozial-ökologischen Transformationsprozess anzuleiten – sei es in der Lebensführung der Individuen, in Gemeinschaften und Organisationen oder in ganzen sozialen Systemen und der Weltgesellschaft. Mit der zunehmenden Politisierung, Popularisierung und Veralltäglichung von Nachhaltigkeit hat ein Differenzierungsprozess eingesetzt, der unterschiedlichste, mitunter gegenläufige Nachhaltigkeitsverständnisse produzierte (etwa zwischen nachhaltigem Wachstum und Degrowth), die seither miteinander um Vorherrschaft im Nachhaltigkeitsdiskurs ringen (Wendt et al. 2018; Brand 2014: S. 54ff.). Ein zentrales Untersuchungsfeld soziologischer Nachhaltigkeitsforschung kann es daher sein die Frage zu stellen »mit welchen Machtpositionen verschiedene Verständnisse von Nachhaltigkeit verbunden sind. Die Debatte um nachhaltige Entwicklung erscheint dann als Kampffeld, auf dem Akteure ihre Machtpositionen unter Rückgriff auf unterschiedliches Wissen festigen oder neu aufbauen« (Henkel 2016: S. 15). Während Henkel, aber auch andere Soziolog*innen, dieses Untersuchungsfeld typischerweise mit einer Foucault’schen Diskursanalyse perspektivieren (z.B. Eblinghaus und Stickler 1996; Dingler 2003; Bauriedl 2007; Gottschlich 2017), wird im vorliegenden Beitrag der Vorschlag gemacht, dieses Problemfeld über die Ideologie- und Utopiehaftigkeit nachhaltigkeitsbezogenen Wissens entlang einiger Grundüberlegungen der Wissenssoziologie Karl Mannheims zu erschließen.
Karl Mannheims Wissenssoziologie: Ideologie und Utopie Mannheims 1929 erstmals veröffentlichtes Werk »Ideologie und Utopie« ist Ausdruck der manchen unsystematisch anmutenden Komplexität seiner Soziologie – bedenkt man, dass sich 49
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mindestens elf unterschiedliche Fassungen des Ideologie- bzw. Utopiebegriffs bei ihm aufspüren lassen und diese mitunter als »ideologische Utopie« und »utopische Ideologie« ineinander übergehen (Neusüss 1967: S. 134ff.; zum Utopiebegriff auch: Mannheim [1930] 1986). Ganz grundlegend geht es Mannheim in seinem Werk darum aufzuzeigen, dass das Wissen, Denken und Erkennen nicht freischwebend im Kopf der Menschen entsteht, sondern an das soziale Sein von konkreten Träger*innen und ihre Lage und Situation im sozial-historischen Raum gebunden ist, auf das hin ihre Ideen funktionalisiert werden können (Mannheim [1926] 1964b). Ideologien wie Utopien kennzeichnen als seinstranszendente Vorstellungen, dass sie die Realität nicht repräsentieren (im Unterschied zu seinsadäquaten Vorstellungen), sondern vielmehr verschleiern. Aber der jeweilige Verschleierungszusammenhang hat nach Mannheim unterschiedliche soziale Funktionen und kann auf unterschiedliche Träger*innen und ihre Lagen in der sozio-historischen Struktur zurückgeführt werden. Während der Ideologiebegriff die Erkenntnis reflektiert, dass »herrschende Gruppen in ihrem Denken so intensiv mit ihren Interessen an eine Situation gebunden sein können, daß sie schließlich die Fähigkeit verlieren, bestimmte Tatsachen zu sehen, die sie in ihrem Herrschaftsbewußtsein verstören könnten«, so verweist der Begriff des utopischen Denkens auf »die entgegengesetzte Entdeckung […], daß nämlich bestimmte unterdrückte Gruppen geistig so stark an der Zerstörung und Umformung einer gegebenen Gesellschaft interessiert sind, daß sie unwissentlich nur jene Elemente der Situation sehen, die diese zu negieren suchen. […] Im utopischen Bewußtsein verdeckt das von Wunschvorstellungen und dem Willen zum Handeln beherrschte kollektive Unbewußte bestimmte Aspekte der Realität. Es kehrt sich von allem ab, was den Glauben erschüttern oder den Wunsch nach einer Veränderung der Dinge lähmen würde.« (Ebd.: S. 36f.) 50
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Ideologien werden demnach mit herrschenden Gruppen und ihrem Interesse verbunden, die bestehende Gesellschaft zu legitimieren und zu stabilisieren. Utopien sind hingegen ein Ausdruck des Interesses unterdrückter Gruppen, die bestehende Gesellschaft und damit die Bedingungen ihrer Unterdrückung zu überwinden, wobei es häufig vorkommt, dass die leitende Utopie zunächst nicht von den Unterdrückten selbst, sondern schichtfernen Vorläufer*innen erträumt und ausformuliert wurde. Hieraus folgt für Mannheim aber, dass diese »Leistung jener Schicht zuzurechnen [sei], für die der Betreffende die Vision gehabt, den Gedanken durchdacht hat« (ebd.: S. 180, Hervorhebung B.W.). Mannheim gelangt von dieser grundlegenden Bestimmung von Ideologie und Utopie aus schließlich zu der Erkenntnis, dass jedem sozialen und historischen Standort eine spezifische Partikularität des Denkens innewohnt. Ich setze im Rahmen der folgenden Ausführungen am ursprünglichen auf Macht- und Herrschaftszusammenhänge gerichteten Begriff des utopischen, respektive ideologischen Denkens an. Zentral ist demnach, dass Mannheim Ideologien und Utopien auf eine konkrete, das Denken mitkonstituierende wirksame Lebensordnung hin funktionalisiert und beide, Ideologie und Utopien, vor allem aus dem Vollzug des »wirtschaftlich-machtmäßigen Gefüges« (ebd., S. 170) der jeweiligen historischen Gesellschaftsformation ableitet. Ideologien sind auf der gewählten Ebene der Begriffsbildung an herrschende Gruppen gebunden; außerdem sind sie auf Erhalt ausgerichtete, die bestehenden Machtstrukturen der Politischen Ökonomie und damit verbundene soziale Ungleichheiten legitimierende und stabilisierende Ideensysteme. Utopien werden hingegen als kollektive Aktivitäten erzeugende Vorstellungen gefasst, die auf eine Kritik sowie eine Transformation der Gesellschaft ausgerichtet und an unterdrückte Gruppen gebunden sind. Das utopische Bewusstsein zeichnet sich für Mannheim dadurch 51
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aus, dass es die »jeweils bestehende Seinsordnung zugleich oder teilweise sprengt« (ebd., S. 169), das ideologische Bewusstsein ist hingegen ihr kultureller ›Klebstoff‹. Alle Gesellschaften kennen demnach Ideologien. Utopien sind für ihn hingegen ein modernes Phänomen, das ausgehend vom Chiliasmus, über den humanistischen Liberalismus und Konservatismus, bis hin zum Sozialismus seine Form stetig ausdifferenziert und verändert (ebd., S. 184ff.). Verlängert man die Analyse der politischen Weltanschauungen von der Mannheim’schen Terminologie ausgehend in die Gegenwart, so kann seine Perspektive auch auf die Idee der Nachhaltigkeit übertragen werden. Ist Nachhaltigkeit entsprechend der präsentierten Überlegungen eher als Ideologie oder Utopie zu begreifen?
Nachhaltigkeit: Neues Herrschaftsinstrument oder grundlegendes Transformationskonzept? Um einer Antwort auf diese Frage näher zu kommen werde ich zunächst nach den ideologischen Funktionen des Nachhaltigkeitskonzepts fragen, indem einige zentrale Etappen und kritisch-problematisierende Zugänge zur Nachhaltigkeitsidee vorgestellt werden, die dieses scheinbar emanzipatorische Gesellschaftsprojekt mit Fragen der Herrschaftssicherung und Ungleichheitsreproduktion in Verbindung bringen. Daran anschließend wird die Perspektive gewechselt, um der Frage nach dem utopisch-transformativen Gehalt von Nachhaltigkeit nachzugehen (für weiterführende Auseinandersetzungen, auf welcher der vorliegende Beitrag aufbaut, siehe Wendt 2019 und 2018). Hierbei interessiert einerseits die Funktion, andererseits interessieren die jeweiligen Träger*innen der Nachhaltigkeitsidee und die damit jeweils verbundene Ausgestaltung des Konzepts. Verfolgen wir die Begriffsgeschichte der Nachhaltigkeit, so beginnt diese mit dem Adeligen Carl von Carlowitz, einem lei52
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tenden Beamten des sächsischen Oberbergamtes, der im Zuge einer sich ausbreitenden Holznot im frühen 18. Jahrhundert den Vorschlag für eine »beständige und nachhaltende Nutzung« (Grober 2013: S. 117) der Wälder unterbreitete und hierfür ein Prinzip vorschlug, das sich auf die Formel bringen lässt, nicht mehr Holz zu nutzen, als nachwachsen kann. Wenngleich dieses auf Bestandssicherung ausgerichtete Prinzip auch im Sinne des Schutzes der Umwelt interpretiert werden kann, bezeichneten Umwelthistoriker*innen den Nachhaltigkeitsbegriff bereits in Bezug auf diesen Entstehungskontext als ein »Wort der Macht«. Im Kern ging es damals in Europa nicht um Naturschutz, sondern vielmehr um die Versorgung der Erz- und Schmelzgruben mit Brennholz sowie der Marine mit Holz für den Bau von Kriegsschiffen (Radkau 2008). Nachhaltigkeit war so gesehen von Beginn an eng mit der Politischen Ökonomie und entsprechenden Machtstrukturen sowie einer privilegierten Position in der Sozialstruktur verwoben und diente dazu, das bestehende wirtschaftlich-machtmäßige Gefüge zu stabilisieren. Die bis heute wirkmächtigste Nachhaltigkeitsdefinition stammt von der Brundtland-Kommission: Eine nachhaltige Entwicklung sei eine »Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne daß zukünftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können« (Hauff 1987: S. 46). Untersuchen wir den sozialen Standort der Mitglieder der Kommission, so wird deutlich, dass auch diese Berufspolitiker-, Unternehmer- und Wissenschaftler*innen ohne Frage Teil des modernen Herrschaftsapparats waren. Ihr sozialer Standort drückt sich auch auf inhaltlicher Ebene aus, indem der Brundtland-Bericht Nachhaltigkeit im Kern auf eine ökologische Modernisierung durch Wachstum, Kapitalismus, Industrialismus und moderne Technik reduziert, also genau jene sozialen Formationen, die die multiplen sozialen und ökologischen Krisen erzeugen. So gesehen richtet sich Nachhaltigkeit zwar auf eine 53
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veränderte, eine gerechtere und umweltfreundlichere Gesellschaft, allerdings durch die Modernisierung des bestehenden wirtschaftlich-machtmäßigen Gefüges, seiner zentralen Institutionen und Strategien der politischen Problembearbeitung. Helga Eblinghaus und Armin Stickler analysierten das Konzept der nachhaltigen Entwicklung in diesem Sinne bereits Mitte der 1990er Jahre als eine Strategie der Herrschaftssicherung. Sie gaben zu bedenken, dass bezüglich einer Umsetzung der im Konzept enthaltenen Gerechtigkeits-, Umwelt- und Entwicklungsaspekte eigentlich die Thematisierung von »Macht- und Herrschaftsstrukturen unerläßlich [ist]. Deren Nichtthematisierung führt zur Frage, ob es tatsächlich vornehmlich um die in den Vordergrund gestellten Problemlagen und Ziele geht. Das Konzept und sein begrifflicher Rahmen müßte sonst wegen seiner verschleiernden Funktion als ideologisch kritisiert werden.« (Eblinghaus und Stickler 1996: S. 151) Nachhaltigkeit kann ihnen zur Folge eine ideologische Funktion zugeschrieben werden, da es Macht- und Herrschaftsfragen weitgehend unsichtbar macht und vorherrschende Strategien der Problembearbeitung sowie bestehende ökonomische und politische Macht- und Herrschaftsstrukturen legitimiert. Werbung, ökologische und soziale Kosten von Produkten verschleiernde Green- und Social-Washing-Kampagnen von Unternehmen oder auch der Versuch in den Ländern des Nordens durch nachhaltigen Konsum die Welt zu verändern, lassen sich in diesem Verschleierungs- und Machtzusammenhang verorten. Nicht nur die ökonomischen und politischen Machteliten werden auf diese Weise zum Subjekt des Ideologieverdachts. Auch spezifische Milieus der Mittel- und Oberschicht in den Ländern des Nordens erkaufen sich aus dieser Perspektive durch biologische, fair gehandelte und regionale Lebensmittel und durch moralische Appelle, es ihnen gleichzutun, nicht nur ein gutes Gewissen, sondern auch Distinktionsgewinne gegen54
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über anderen Milieus (Neckel 2018). Die Rede von Nachhaltigkeit erscheint als ein Modus der Selbsttäuschung, um auf der privilegierten Seite der »Externalisierungsgesellschaft« (Lessenich 2016) und »imperialen Lebensweise« (Brand und Wissen 2017) weiterhin das tun zu können, was getan werden muss, damit im Großen und Ganzen der Politischen Ökonomie und im Kleinen des eigenen Lebens fast alles bleiben kann, wie es ist. Aus Perspektive des fixierten Ideologiebegriffs kann Nachhaltigkeit demnach als eine Herrschaftsideologie analysiert werden, als ein Ausdruck privilegierter Gruppen der Weltgesellschaft, die jene Strukturen, Lebensweisen und Strategien spiegeln, rechtfertigen und stabilisieren, die in ihrem Interesse sind und die darüber hinaus im Wesentlichen für die sozial-ökologische Krise der Gegenwart verantwortlich sind (Wendt und Görgen 2018). Kann Nachhaltigkeit nun nicht aber zugleich auch als eine Utopie interpretiert werden, die auf der Grundlage einer Kritik an grünen Wachstums-, Industrialisierungs-, Technik- und/ oder Regulationsstrategien eine grundlegende Transformation der bestehenden Politischen Ökonomie, Lebensweisen und der damit verbundenen Macht- und Herrschaftsverhältnisse intendiert? Betrachtet man die zahlreichen gegenhegemonialen sozial-ökologischen Konzepte, die ein ›gutes Leben‹ für alle Menschen auch jenseits von Wachstum und Kapitalismus (Muraca 2014) erstreben, so ist zunächst bezeichnend, dass diese mindestens eine zentrale Institution bestehender sozialer Ordnungen radikal kritisieren und ihre Überwindung intendieren. Sei es das Wachstumsdogma (Degrowth), kapitalistische Eigentumsformen (Ökosozialismus), die patriarchal strukturierten Geschlechterbeziehungen (Ökofeminismus) oder das anthropozentrische Naturbild (radikale Ökologie), stets zielt die utopische Simulation der Möglichkeit der Realisierung von Nachhaltigkeit auf eine tiefreichende Kritik und Transformation der sozial-ökologischen Verhältnisse. Häufig trachten diese Kon55
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zepte danach, die soziale Welt für neue experimentelle Denkund Handlungshorizonte zu öffnen, Akteur*innen für radikale Veränderungen zu motivieren und mobilisieren und soziale Praktiken und Strukturen in den Nischen der industriell-kapitalistischen Strukturen im Sinne der Nachhaltigkeit zu transformieren (Wright 2017; Wendt 2018). Sich um diese Konzepte formierende Aktivist*innen und Bewegungen erproben diese »radikale Nachhaltigkeit« mitunter bereits vielfach ›im Kleinen‹ und geben dabei einen Ausblick auf eine sich möglicherweise in Zukunft entwickelnde nachhaltige Gesellschaft, sei es in sich gemeinschaftlich organisierenden Ökodörfern und sozial-ökologischen Kommunen, durch Sharing- und Verzichtspraktiken, in der Solidarischen Landwirtschaft und durch Commons, durch Veganismus oder durch die Politisierung von Nachhaltigkeit und damit verbundene Protestund Regulierungsformen. Dieses Mosaik sozial-ökologischer Praktiken und Bewegungen verweist darauf, dass Nachhaltigkeit bereits im Hier und Jetzt transformativ wirkt und plausibilisiert das kritisch-emanzipatorische Potential des Nachhaltigkeitskonzepts (Görgen und Wendt 2015; Gottschlich 2017). Fragt man jedoch nach den Träger*innen dieser gegenhegemonialen Nachhaltigkeitskonzepte, so ist z.B. in Bezug auf die Degrowth-Bewegung auffällig, dass es nicht die besonders Benachteiligten, sondern vielmehr sozial und kulturell privilegierte Gruppen des Bildungsbürgertums sind, die dieses sozial-ökologische Wissen produzieren (Eversberg 2015: historisch bereits: Linse 1986). Trotz der Integration von Positionen aus dem globalen Süden (z.B. Konzeptwerk Neue Ökonomie e.V. und DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften 2017; Acosta und Brand 2018), bleiben diese (etwa Buen Vivir, Post-Development oder Post-Extraktivismus) auch im Postwachstumsdiskurs in der Regel marginalisiert. Ist dies vor dem Hintergrund der globalen Machtverhältnisse aber so überraschend? Waren es nicht auch in der 56
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Arbeiter*innenbewegung vor allem Bündnisse von Intellektuellen und Arbeiter*innen, die der Utopie einer sozialistischen Gesellschaft ihre soziale Sprengkraft verliehen? Könnte ähnliches nicht auch für eine radikale Nachhaltigkeitsbewegung gelten?
Fazit Wird Nachhaltigkeit im Mannheim’schen Sinne als Ideologie und Utopie analysiert, so wird der ambivalente, widersprüchliche Charakter des Konzepts deutlich – einerseits auf Erhalt, andererseits auf radikale Veränderungen ausgerichtet, einerseits das Bestehende stabilisierend und legitimierend, andererseits kritisierend und umwälzend. Konkret – so Mannheim – sei es »unglaublich schwierig« (Mannheim 1985: S. 172) zu unterscheiden, inwiefern spezifische politische Weltanschauungen einen ideologischen oder utopischen Charakter haben, da nur aus der historischen Distanz heraus zu bestimmen ist, ob seinstranszendente Vorstellungen adäquat verwirklich wurden. Sowohl die Perspektiven der Transformation als auch die der Kontinuität durch Nachhaltigkeit, so wurde jedoch deutlich, bilden in ihrer Verbindung zu spezifischen Träger*innengruppen, einen fruchtbaren Ausgangspunkt für eine soziologische Analyse sozial-ökologischen Wissens. Für weitere empirische Fundierungen dieses Zusammenhangs kann es gleichwohl hilfreich sein zu fragen, ob die Zuschreibungen von Ideologie an herrschende und Utopie an unterdrückte Klassen im Allgemeinen sowie in der Gegenwartsgesellschaft im Speziellen überhaupt tragen. Ohne Zweifel ließen sich etwa die radikaleren Perspektiven auf Nachhaltigkeit, die bisher auf Seite der Utopie verortet wurden, einer Ideologiekritik unterziehen und auf stabilisierend-legitimierende Funktionen hin untersuchen. Wenngleich durch die gewählte Fixierung der sozial strukturierte Charakter der Nachhaltigkeit plausibilisiert werden kann, so wäre genauer zu analysieren, inwiefern der Be57
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zug auf Nachhaltigkeit im Einzelfall eher eine transformative oder eine stabilisierende Funktion zugeschrieben werden kann, von welchen Gruppen und Koalitionen diese seinstranzendenten Vorstellungen erzeugt werden und wie diese in der Gegenwartsgesellschaft konkret mit Macht, Herrschaft und Ungleichheit verknüpft sind.
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Imaginationen im Konflikt Die Zukünfte von Nachhaltigkeit Frank Adloff, Sighard Neckel
Einleitung Das gestiegene Bewusstsein für die Vernutzung der für das menschliche Leben auf der Erde unverzichtbaren – natürlichen, aber auch ökonomischen und sozialen – Ressourcen hat aus Nachhaltigkeit einen zentralen Leitbegriff sozialen Wandels im 21. Jahrhundert gemacht. Der Boom des Nachhaltigkeitskonzepts manifestiert sich in besonders wirkmächtiger Form in Forderungen globaler Institutionen und zivilgesellschaftlicher Organisationen – man denke an die Sustainable Development Goals der UNO (United Nations 2015), an die in den USA aktuell immer lauter werdenden Rufe nach einem »Green New Deal« (vgl. Löhle 2019) oder jüngst an die Protestaktionen der »Fridays for Future«-Bewegung. Nachhaltigkeit hat damit die Gestalt eines weitgehend unbestrittenen Entwicklungsmodells angenommen, hinter dem sich allerdings sehr unterschiedliche Prozesse, Wert- und Zukunftsvorstellungen verbergen: vom Versuch, eine große sozialökologische Transformation einzuleiten, über Modernisierungsprozesse bis hin zu Nachhaltigkeit als Legitimationsfassade, hinter der sich gegenteilige Praktiken vollziehen. So betrachten bspw. Vertreter*innen einer »Green Economy« Nachhaltigkeit als eine unabdingbare Voraussetzung wirtschaftlichen Wachstums und setzen auf eine effiziente und zugleich nachhaltige Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Kritiker*innen einer solchen Sichtweise zielen hingegen auf 63
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eine grundlegende gesellschaftliche Transformation ab, da ihnen gerade der Zwang zum ökonomischen Wachstum als größtes Hindernis einer nachhaltigen Entwicklung gilt. Schließlich lässt sich ein Entwicklungspfad beobachten, der das Problem der Nachhaltigkeit durch eine umfassende Politik der Kontrolle zu bearbeiten trachtet. Hierbei geht es um sozio-technische Überwachungen, um inner- und zwischengesellschaftliche Externalisierung ökologischer Belastungen sowie um Maßnahmen zur Resilienzsteigerung bestimmter Bevölkerungsgruppen wie auch deren Disziplinierung oder Segregation im Falle von Krisen, Katastrophen oder Schocks.
Zukünfte der Nachhaltigkeit theoretisch fassen: Strukturen, Praktiken und Imaginationen Im Gegensatz zu politischen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, denen Nachhaltigkeit zumeist als normative Leitidee dient, an deren Verwirklichung sie arbeiten, vermag eine Soziologie der Nachhaltigkeit mit wissenschaftlichen Mitteln zu analysieren, welche konflikthaften Möglichkeitsräume sozialökonomischen Wandels sich eröffnen, wenn durchaus sehr verschiedene Vorstellungen einer nachhaltigen Zukunft realisiert würden. Dies ist auch das Thema der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe »Zukünfte der Nachhaltigkeit« an der Universität Hamburg (www.zukuenfte-nachhaltigkeit.uni-hamburg.de), die 2019 ihre Arbeit aufgenommen hat und der die beiden Autoren vorstehen (vgl. Adloff und Neckel 2019; Neckel et al. 2018). Namentlich ergeben sich für uns drei idealtypische Entwicklungspfade oder »Zukünfte« der Nachhaltigkeit, die sich mit den Begriffen Modernisierung, Transformation und Kontrolle beschreiben und theoretisch fassen lassen. Zudem beinhaltet der analytische Bezugsrahmen unseres Forschungsprogramms mit Imaginationen, Praktiken und Strukturen drei theoretische Grundbegriffe, 64
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die diejenigen interdependenten Dimensionen kennzeichnen, auf die sich das Streben nach Nachhaltigkeit primär auswirkt: affektiv und evaluativ geprägte Vorstellungen als gedankliche Experimentierfelder (Imaginationen), körperlich verankerte Praktiken der Nachhaltigkeit (z.B. Planen, Konsumieren, Vorhersagen) sowie gesellschaftliche Institutionen und materielle Infrastrukturen, welche Praktiken und Imaginationen erst ermöglichen, aber auch begrenzen können – und die ihrerseits durch das Erdsystem ermöglicht und begrenzt werden (vgl. Shove 2016; Elder-Vass 2017). Der Begriff der Imagination spielt in unserem analytischen Bezugsrahmen eine zentrale Rolle und trägt der Tatsache Rechnung, dass Individuen und Gruppen die Welt nicht nur kognitiv begreifen und sprachlich repräsentieren, sondern dass gerade auch Bilder, Vorstellungen, Prognosen, Stimmungen, Gefühle oder Erzählungen menschliches Denken und Handeln prägen. Imaginationen reproduzieren Praktiken und Strukturen, haben aber auch eine kreative Seite, die Neues zu schaffen vermag (Castoriadis 1984). Imaginationen verknüpfen Wissen, Werte und Affekte zu positiven oder negativen Vorstellungswelten, in denen Faktisches und Normatives verschmelzen (Taylor 2004: 23ff.) und die relevante gedankliche Experimentierfelder für Nachhaltigkeit darstellen, in denen versuchsweise etwas dargestellt wird, das (noch) nicht gegeben ist. Im Folgenden möchten wir unter Rückgriff auf diese analytischen Grundbegriffe die drei potentiellen Entwicklungspfade der Nachhaltigkeit kurz vorstellen und dabei insbesondere auch auf ihnen inhärente Dilemmata und potentielle neue Konfliktlinien eingehen.
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Drei konfligierende Imaginationen von Nachhaltigkeit Es lassen sich drei Zukunftsvorstellungen von einer nachhaltigen Gesellschaft idealtypisch unterscheiden, die sich in Imaginationen, Diskursen, Praktiken, Strukturen und Interessenslagen konkreter Akteurskonstellationen identifizieren lassen. Programme einer ökologischen Modernisierung bedienen sich existierender Institutionen, um Gesellschaften nachhaltiger zu machen. Fest verankert in der liberalen Demokratie und der kapitalistischen Marktwirtschaft, stellen sie zentrale Elemente moderner Lebensführung – etwa Individualismus, Konsum, Mobilität – nicht infrage, sondern wollen diese den veränderten Rahmenbedingungen ökologischer Restriktionen anpassen. Anhänger eines Grünen Kapitalismus sind für gewöhnlich überzeugt von der heilsamen Wirkung des technologischen Fortschritts, welcher endlich eine Entkoppelung des Wirtschaftswachstums vom Ressourcenverbrauch ermöglichen soll (Mol et al. 2014). Märkte und Wettbewerb gelten hier keineswegs als Hemmnisse eines nachhaltigen Wandels, sondern vielmehr als sein vielversprechendster Katalysator – und Nachhaltigkeit umgekehrt nachgerade als Voraussetzung für künftiges Wachstum. An den Finanzmärkten findet dieser Ansatz Ausdruck in Produkten wie den »Green Bonds« und Anlagestrategien wie dem »Impact Investing« (vgl. Chiapello 2015). Bei derartigen Versuchen, Ökonomie und Ökologie zu vereinen, besteht indes stets die Gefahr, dass dies zu Lasten der Ökologie geht: Wenn zunehmend Banken, Investor*innen und Ratingagenturen vorgeben, was Nachhaltigkeit bedeutet, drohen deren Prinzipien zu erodieren (vgl. Lenz und Neckel 2019). Die Einsicht, dass dies soziale Spaltungen befördert – Erste Welt vs. Globaler Süden, Öko-Bourgeoisie vs. ›Abgehängte‹ etc. – hat (grüne) Parteien, zivilgesellschaftliche Akteur*innen und NGOs dazu bewegt, im Rahmen eines »Green New Deals« den Nach66
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haltigkeitswandel mit regulatorischen Korrekturen des derzeitigen Wirtschaftssystems verknüpfen zu wollen, etwa indem man kommunale ökologische Infrastrukturen schafft. Letztlich aber bleibt auch der »Green New Deal« einer kapitalistischen Wachstumslogik verpflichtet, welche hier, gespeist von der Imagination eines neuen Fortschrittsoptimismus, lediglich einen freundlicheren Anstrich erhält. Entschieden abgelehnt werden Strategien einer Ökonomisierung von Nachhaltigkeit denn auch von Anhänger*innen von Konzepten wie sozial-ökologische Transformation, Tiefenökologie, Ökofeminismus, Konvivialität, »postdevelopment«, »buen vivir«, Commons, solidarische Ökonomie oder »Postkapitalismus« (Mason 2016). Statt einer Erneuerung des Kapitalismus strebt man hier seine graduelle Überwindung an; Ziel ist eine neue »große Transformation« (Polanyi 1944) hin zu nicht-wachstumsbasierten, egalitären Sozialordnungen und einem radikal veränderten gesellschaftlichen Naturverhältnis. Die zentrale Imagination all dieser Bewegungen ist eine solidarische und gerechte Weltgemeinschaft im Einklang mit dem Erdsystem, und man ist überzeugt, dass der kapitalistische Zwang zu ökonomischem Wachstum einer solchen nachhaltigen Zukunft im Wege steht (vgl. Muraca 2014; Boddenberg 2018). Natürlich setzt jeder der transformativen Ansätze andere Akzente – seien es Praktiken des kollaborativen Produzierens, Teilens und Tauschens digitaler Information im »Postkapitalismus«, Prinzipien der zivilgesellschaftlichen Selbstorganisation in der »Postwachstumsgesellschaft« (vgl. Latouche 2015), die Aufwertung von nicht-utilitaristischen Aspekten des Zusammenlebens (z.B. Gabe, Anerkennung, Care Giving, Suffizienz) im Konvivialismus (vgl. Adloff und Leggewie 2014; Adloff und Heins 2015) oder aber das Ziel eines ›guten Lebens‹ in größtmöglichem Einklang mit der Natur im Fall der Postdevelopment-Bewegung (vgl. Escobar 2011; Acosta 2016). Mittels lokaler eman67
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zipatorischer Praktiken hofft man, den Kapitalismus auf Dauer von innen aushöhlen zu können (vgl. Wright 2017). Die dritte Zukunftsvariante von Nachhaltigkeit wird von Imaginationen, Strukturen und Praktiken der Kontrolle bestimmt; ausgegangen wird hier vom dystopischen Szenario eines ökologischen Notstands, der von autoritären Kräften für eine Suspension demokratischer Institutionen genutzt wird (vgl. Leggewie und Welzer 2011). Angesichts zunehmender ökologischer Krisen – Hitzewellen, Überschwemmungen, Nahrungs-, Wasser- oder Energieknappheiten – ist Climate Security im letzten Jahrzehnt zu einem zentralen Anliegen politischen Handelns avanciert. Biogeochemische Prozesse des Erdsystems gelten inzwischen zumindest teilweise als kontrollierbar, was technokratische Zukunftsimaginationen des Geo-Engineerings beflügelt, die in einem Spannungsverhältnis zu demokratischen Verfahren und liberalen Freiheitsrechten stehen (vgl. Stirling 2014). Zu denken wäre hier an Kontrollpraktiken wie soziotechnische Überwachung, Disziplinierung, Zwang und nicht zuletzt an inner- und zwischengesellschaftliche Segregationen im Rahmen einer partikularistischen Ethik: Während privilegierte Schichten sich als »resilient« erweisen dürften, etwa indem sie sich in festungsähnliche Enklaven mit eigenen Infrastrukturen zurückziehen, wäre ein Großteil der Weltbevölkerung insbesondere im globalen Süden Katastrophen schutzlos ausgesetzt (vgl. Lessenich 2016; Zebrowski 2016; Brand und Wissen 2017).
Fazit und Ausblick Die Zukünfte der Nachhaltigkeit sind Kristallisationspunkte ambivalenter Erwartungen: Sie wecken Hoffnungen, aber auch Ängste. Erwartbar ist, dass nicht eine der skizzierten Zukünfte der Nachhaltigkeit ›in Reinform‹ eintreten wird, sondern es vielmehr zu Überschneidungen kommt. So setzen etwa Theorien des Postkapitalismus auf die transformative gesellschaftliche 68
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Wirkung einer ökonomischen Modernisierung: Mit der fortschreitenden Digitalisierung der Arbeitswelt, so heißt es, könnte letztlich die kapitalistische Ordnung als Ganzes zur Disposition stehen (vgl. Srnicek und Williams 2016). Auf eine Verschränkung der Entwicklungspfade von Transformation und Kontrolle deuten gewisse Tendenzen in der heutigen Umweltbewegung hin: zum einen die Konzentration auf expertokratische Diskurse und technische Innovation; zum anderen schwingt bei Forderungen nach einem radikalen gesellschaftlichen Umbruch stets ein Anspruch auf Totalität mit – und ein ökologisches Tugendregime würde ggf. auch vor radikalen Maßnahmen sozialer Kontrolle nicht zurückschrecken. Schließlich ergeben sich auch Berührungspunkte zwischen Modernisierung und Kontrolle: Wie Vorhaben des Geo-Engineering schon jetzt erahnen lassen, könnte der Mensch künftig weitreichende Eingriffe in das Erdsystem selbst vornehmen; zudem könnte der längst eingesetzte wirtschaftliche Schrumpfungsprozess in einer »Refeudalisierung« der Weltgesellschaft resultieren und zu neuen sozialen Konflikten und Verteilungskämpfen führen, denen man wiederum mit autoritären Kontrolltechniken begegnet (vgl. Muraca 2014: 59ff.; Neckel 2013, 2019). Zum viel diskutierten Ende der Demokratie könnten somit auch manche Zukünfte der Nachhaltigkeit beitragen.
Zum Weiterlesen Adloff, Frank (2018): Politik der Gabe. Für ein anderes Zusammenleben. Hamburg: Edition Nautilus. Danowski, Deborah/Viveiros de Castro, Eduardo (2019): In welcher Welt leben? Ein Versuch über die Angst vor dem Ende. Berlin: Matthes & Seitz. Neckel, Sighard/Besedovsky, Natalia/Boddenberg, Moritz/Hasenfratz, Martina/Pritz, Sarah Miriam/Wiegand, Timo (2018): Die
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Imaginationen im Konflikt Leggewie, Claus/Welzer, Harald (2011): Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Frankfurt a.M.: Fischer. Lenz, Sarah/Neckel, Sighard (2019): »Ethical Banks between Moral Self-Commitment and Economic Expansion«. In: Philip Balsiger/Simone Schiller-Merkens (Hg.). The Contested Morality of Markets. Bingley (UK): Emerald. Lessenich, Stephan (2016): Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Berlin: Hanser. Löhle, Nora (2019): »Sind die USA reif für einen Green New Deal?« Verfügbar unter: https://www.boell.de/de/2019/02/18/sind-dieusa-reif-fuer-einen-green-new-deal (zuletzt abgerufen am 18.02.2019). Mason, Paul (2016): Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie. Berlin: Suhrkamp. Mol, Arthur P./Spaargaren, Gert/Sonnenfeld, David A. (2014): »Ecological modernization theory. Taking stock, moving forward«. In: Stewart Lockie/David Sonnenfeld/Dana R. Fisher (Hg.) Routledge International Handbook of Social and Environmental Change. London: Routledge, S.15-30. Muraca, Barbara (2014): Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstum. Berlin: Wagenbach. Neckel, Sighard (2013): »›Refeudalisierung‹ – Systematik und Aktualität eines Begriffs der Habermas’schen Gesellschaftsanalyse«. In: Leviathan 41 (1), S. 39-56. Neckel, Sighard (2019): »The Refeudalization of Modern Capitalism«. In: Journal of Sociology, Vol. 55, 3. DOI: https://doi. org/10.1177/1440783319857904 Neckel, Sighard (2018): »Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit. Soziologische Perspektiven«. In: Sighard Neckel/Natalia Besedovsky/ Moritz Boddenberg et al. (Hg.). Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit. Umrisse eines Forschungsprogramms. Bielefeld: transcript, S. 11-22.
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Praxistheorie Nachhaltige Mobilität Benjamin Görgen Für die Realisierung einer nachhaltigen Entwicklung ist eine »Große Transformation« aller Lebensbereiche notwendig (WBGU 2011). Die dafür erforderlichen Veränderungen beschränken sich nicht nur auf neue Technologien oder den Umbau von Industrieprozessen, sondern greifen tief in unsere »imperiale Lebensweise« ein (Brand und Wissen 2017). Unser alltägliches Tun, unser Handeln, unsere Praktiken, unsere Lebensführung, ob nun im Bereich der Ernährung, des Konsums, der Arbeit, des Wohnens oder der Mobilität, sind demnach für eine sozial-ökologische Transformation von entscheidender Bedeutung. Die Herausforderung liegt darin, Formen der Lebensführung zu realisieren, die sich in die sozialen und ökologischen Grenzen der Nachhaltigkeit einfügen und zugleich umsetzbar, resilient und fair sind (Shove und Spurling 2013a: S. 1). Doch wie genau lässt sich unser alltägliches Tun überhaupt theoretisch fassen und analysieren? Und durch welche Strategien lässt es sich in Richtung Nachhaltigkeit beeinflussen? Diese und ähnliche Fragen standen seit Beginn der Nachhaltigkeitsdebatte im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Lange Zeit richtete sich der Fokus dabei zunächst auf das Umweltbewusstsein von Individuen. Dieses wurde als zentraler Bezugspunkt für eine Veränderung des Umweltverhaltens, also einer umweltverträglichen und nachhaltigen Alltagspraxis, identifiziert (für einen Überblick: Wendt und Görgen 2017). Grundlage dieser Analysen war die Idee, dass umweltschädliche Verhaltensweisen vor allem auf Informationsdefizite zurückzuführen 73
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sind und eine Aufklärung der Menschen Verhaltensveränderungen initiiert (De Haan und Kuckartz 1996: S. 104). Im Laufe der Zeit zeichnete sich jedoch immer stärker ab, dass das Umweltbewusstsein in den westlichen Industriestaaten zwar zunahm, umweltschonende Verhaltensweisen jedoch weiterhin nur selten oder in kleinen Teilbereichen zu beobachten waren (Diekmann und Preisendörfer 2001: S. 114ff.; Kuckartz und Rheingans-Heintze 2006: S. 44ff.). Diese »notorische […] Differenz zwischen erklärtem Umweltbewusstsein und tatsächlichem Verhalten« (Lange 2011: S. 38) wurde in der Folge zu einem wichtigen Kristallisationspunkt für umweltsoziologische und umweltpsychologische Forschungen. Trotz unterschiedlicher Erklärungsansätze wurde deutlich, dass die bis dahin verwendeten theoretischen Modelle an Grenzen stießen. Insbesondere der Fokus auf die Einstellungen individueller Akteur*innen sowie die Vernachlässigung des Verhaltens und seiner situativen, strukturellen und sozialen Einbettung war immer wieder Gegenstand der Kritik (z.B. Diekmann und Preisendörfer 2001: S. 120; Shove 2010). Trotz dieser Leerstellen in der wissenschaftlichen Forschung zielen bis heute viele politische Programme zur Förderung nachhaltiger Verhaltensweisen, etwa in den Bereichen Ernährung, Heizen oder Mobilität, darauf, nachhaltige Verhaltensweisen durch Aufklärungskampagnen und moralische Anrufungen zu induzieren (Shove 2010). Es ist somit dringend erforderlich, alternative theoretische Zugänge zum Verständnis alltäglicher Verhaltensweisen und damit auch neuartige politische Interventionsstrategien zu entwickeln. Einen möglichen alternativen theoretischen Zugang, der auf die Leerstellen der bisherigen Analysen reagiert, bilden aktuelle Praxistheorien. Die Stärke praxistheoretischer Ansätze für die Nachhaltigkeitsforschung liegt darin, dass sie in der Lage sind »aufzuzeigen, wie unerwünschte, umweltrelevante Dimensionen gesellschaftlicher 74
Praxistheorie
Aktivitäten in sozio-materielle Praxiskonfigurationen eingebunden sind, wie sich die verschiedenen Praxiselemente zu bestimmten Praxisgefügen verknüpfen, welchen Entwicklungsdynamiken sie unterliegen – und wie diese Gefüge ggf. entkoppelt und neu arrangiert werden können« (Brand 2014, S. 174). Diese Potentiale einer praxistheoretischen Perspektive sollen in der Folge am Beispiel der alltäglichen und nachhaltigen Mobilitätspraktik des Fahrradfahrens verdeutlicht werden.
Die praxistheoretische Perspektive Im Gegensatz zu handlungstheoretischen und behavioristischen auf der einen und strukturalistischen Ansätzen auf der anderen Seite, setzen Praxistheorien nicht bei den einzelnen Individuen oder den sozialen Strukturen an, sondern versuchen diesen Dualismus zu überwinden, indem sie soziale Praktiken ins Zentrum der wissenschaftlichen Betrachtung stellen (Giddens [1984] 1986). Sie bilden dabei keine einheitliche Theorie, sondern vielmehr eine plurale Theorieströmung (Schäfer 2016a: S. 9), deren Vertreter*innen den »Ort des Sozialen« (Reckwitz 2003: S. 289) in sozialen Praktiken verorten und die sozialtheoretische Bedeutung von Materialität, impliziten Wissensformen und Routinen hervorheben (Reckwitz 2003: S. 289ff.). Praktiken werden als »ein typisiertes, routiniertes und sozial ›verstehbares‹ Bündel von Aktivitäten« definiert (Reckwitz 2003: S. 289). Sie erscheinen »als know-how abhängige und von einem praktischen ›Verstehen‹ zusammengehaltene Verhaltensroutinen, deren Wissen einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte ›inkorporiert‹ ist, die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen ›verwendeten‹ materialen Artefakten annehmen« (Reckwitz 2003: S. 289). Bei Shove et al. (2012: S. 14) findet sich eine hilfreiche Heuristik, um dies zu konkretisieren. Ihnen zufolge setzen sich Praktiken aus verschiedenen Elementen zu75
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sammen, die von Träger*innen der Praktik aktiv integriert werden. Diese Elemente umfassen Bedeutungen (u.a. symbolische Gehalte, Ideen und Aspirationen), Materialitäten (u.a. Dinge, Technologien, greifbare physikalische Entitäten und Körper) sowie Kompetenzen (u.a. Fähigkeiten, Know-how und Techniken). Mithilfe dieser Heuristik können einzelne Praktiken, aber auch die Verbindung zu anderen Praktiken, modelliert werden, denn die Verbindungen zwischen unterschiedlichen Praktiken, aber auch zwischen ähnlichen Praktiken an unterschiedlichen Orten und Zeiten sowie Infrastrukturen und sozialen Systemen, bestehen vor allem durch den Anschluss an verschiedene Elemente (Shove et al. 2012). Der Sozialphilosoph Ted Schatzki unterscheidet darüber hinaus zwischen zwei Bedeutungsebenen sozialer Praktiken, die im Deutschen die Differenz zwischen den Begriffen Praktik und Praxis widerspiegeln (Hirschhauer 2016: S. 46): zum einen practice as entity (Praktik) und zum anderen practice as performance (Praxis). Während practice as entity auf die analytische Einheit, die Kombination unterschiedlicher »doings and sayings«, verweist, wie sie auch in der Definition von Reckwitz aufscheint, bezeichnet practice as performance die konkrete Ausführung derselben (Schatzki 1996, S. 88ff.). Eine Praktik existiert somit einerseits immer als soziales Phänomen über das gesprochen werden kann, als soziales Schema, das unterschiedliche Elemente beinhaltet und andererseits als Ausführung, als konkretes Tun in einer Situation. Diese beiden Bedeutungsebenen stehen in direkter Wechselwirkung miteinander und bedingen sich gegenseitig. Zum einen prägt die Praktik als Schema von Verhaltensweisen die Praxis, zugleich wird dieses Schema jedoch nur durch die Ausführung im konkreten Tun, also durch die Praxis, ausgefüllt und (re-)produziert (Schatzki 1996: S. 90). Die Unterscheidung von Praktik und Praxis ist für die Praxistheorie von entscheidender Bedeutung, da sie die Verbin76
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dung zwischen dem einzelnen Verhaltensakt und der sozialen Welt bildet. Diese setzt sich aus einer Vielfalt von identifizierbaren und eng miteinander verwobenen Praktiken zusammen, die sich mit materiellen Arrangements zu Bündeln und Konstellationen verbinden und die zusammen das »Plenum des Sozialen« (Schatzki 2016) bilden. Auf diese Art und Weise sind Praktiken mit Orten und sozialen Zeitrhythmen ebenso verbunden wie mit vermeintlichen »Makrophänomenen«, z.B. sozio-technischen Systemen, gesellschaftlichen Normensystemen oder materiellen Infrastrukturen, die selbst erst durch die konkrete soziale Praxis aufrechterhalten und (re-)produziert werden. Wie eine praxistheoretische Analyse aussehen kann und welche Potentiale sie für die Nachhaltigkeitsforschung bereithält, soll in der Folge am Beispiel der nachhaltigen Mobilitätspraktik des Fahrradfahrens verdeutlicht werden.
Eine nachhaltige Praktik im Fokus. Das Beispiel des Fahrradfahrens Fahrradfahren wird in klassischen umweltsoziologischen Studien zumeist als umweltverträgliche Verhaltensweise von Individuen konzipiert. Die Forschungen setzen in der Folge vor allem bei der Untersuchung des Umweltbewusstseins und anderer individuellen Faktoren an (Neugebauer 2004: S. 24ff.). Mitunter werden auch sog. Hürden, die dem Umweltverhalten – in diesem Fall dem Fahrradfahren – entgegenstehen, in den Blick genommen. Diese reichen von Alltagsroutinen über interne Motivkonflikte bis hin zu finanziellen oder strukturellen Bedingungen des Handelns (Neugebauer 2004: S. 24ff.; Watson 2013: S. 124f.; Wendt und Görgen 2017: S. 112ff.). Eine praxistheoretische Perspektive verschiebt den Fokus der Forschung, indem Gewohnheiten und Routinen nicht als Hürden umweltverträglicher Handlungsentscheidungen, sondern vielmehr als die gewöhnlichste Form des Verhaltens verstanden werden (Warde/ 77
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Southerton 2012: S. 7; auch schon Weber [1922] 1972: § 2) und außerdem nicht das Individuum, sondern die Praktik ins Zentrum der Analyse gestellt wird. Das Fahrradfahren hat in den letzten 100 Jahren eine erstaunliche Entwicklung genommen. Während in den Jahrzehnten vor dem Zweiten Weltkrieg in einigen europäischen Städten bis zu 80 Prozent der Wege jenseits des Laufens mit dem Rad zurückgelegt wurden, brach dieser Anteil in der Folge massiv ein. Er stabilisierte sich erst in den späten 1970er Jahren infolge der Ölkrise und dem Aufkommen der ökologischen Frage wieder auf niedrigem Niveau, konnte aber trotz leichter Zugewinne das Niveau der 1930er und 1940er Jahre nicht annähernd mehr erreichen (De la Bruheze 2000). Der Anteil des Fahrradfahrens variiert dabei zwischen unterschiedlichen Städten und Ländern stark: Während im Jahr 2008 in den USA nur ein Prozent und in Großbritannien nur zwei Prozent der täglichen Wege mit dem Rad zurückgelegt wurden, waren es in Deutschland zehn Prozent, in Dänemark 16 und in den Niederlanden gar 26 Prozent (Buehler und Pucher 2012: S. 35). Wie lassen sich diese Differenzen in Zeit und Raum praxistheoretisch erklären? Zunächst ist die Praktik des Fahrradfahrens aus unterschiedlichen Elementen zusammengesetzt. Dazu gehören neben dazu notwendigen Kompetenzen, wie der Bewegungsablauf des Fahrens an sich, aber auch die Orientierung im Straßenverkehr oder das Wissen über Streckenverläufe, auch Materialitäten, wie etwa das Fahrrad, Straßen, Beschilderungen oder auch Fahrradgeschäfte; sowie soziale und symbolische Bedeutungen. Diese Elemente können räumlich und zeitlich, aber auch in unterschiedlichen Milieus, variieren. So wird Fahrradfahren an einem Ort mit Sport und Freizeit assoziiert und an einem anderen Ort mit dem alltäglichen Weg zur Arbeit. Zu einem Zeitpunkt gilt das Radfahren als »unsicher, altmodisch und schäbig« (De la Bruheze 2000: S. 2, Übers. B.G.), zu einem anderen als 78
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nachhaltig, urban und modern. Auch andere Facetten des Fahrradfahrens, wie die Attraktivität der Bekleidung, die damit verbunden wird, oder die Bewertung des Geruchs von Schweiß sind hochgradig kontingent und darüber hinaus von materiellen Infrastrukturen abhängig, bspw. der Verfügbarkeit von Duschen am Arbeitsplatz. Somit hängt die Frage, ob Fahrradfahren eine normale und damit auch weit verbreitete Praktik ist, davon ab, wie sie innerhalb eines interdependenten Netzwerkes sozialer und materieller Arrangements positioniert ist (Shove et al. 2013: S. 153). Dies hat wiederum auch Rückwirkungen auf die Praktik selbst. So wurde nachgewiesen, dass Fahrradfahren umso sicherer wird, je größer der Anteil von Fahrradfahrer*innen im Straßenverkehr ist (Watson 2013: S. 127). Die Praktik des Fahrradfahrens selbst und nicht nur ihre Verbreitung ist somit nicht überall gleich, sondern variiert mitunter deutlich, je nach Ort und Zeit. Ein weiterer wichtiger Aspekt für die Erklärung der Entwicklung der Praktik des Fahrradfahrens ist in ihrem Verhältnis zur Praktik des Autofahrens zu finden, die in direkter Konkurrenz zu ihr steht (Shove et al. 2012; Watson 2013). Zwar substituieren sich die beiden Praktiken nicht einfach, sondern passen sich auf unterschiedliche Weise in bestehende zeitliche und räumliche Anforderungen und das Leben von Praktiker*innen ein (Watson 2013: S. 118). Dennoch konkurrieren sie um bedeutsame Ressourcen, um Zeit, Raum, Geld sowie diskursive und symbolische Bedeutungen (ebd.: S. 123). Der Rückgang des Fahrradfahrens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts lässt sich somit auch mit dem Sieg des Autofahrens in einer Reihe von Bereichen erklären (ebd.: S. 124). Doch nicht nur die Praktiken konkurrieren miteinander, sondern auch die damit verbundenen sozio-technischen Systeme der Auto- und Velomobilität (ebd.: S. 118). Beide – Praktiken und sozio-technische Systeme – sind wiederum davon abhängig, in der Praxis reproduziert zu werden. Sie bedingen sich also gegenseitig. Somit ist es entscheidend, welchem System 79
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und welcher Praktik es gelingt, dauerhaft Träger*innen zu rekrutieren: »Systems can only emerge, persist and gain dominance by capturing time and attention, and by colonizing what people do.« (Ebd.: S. 122) Hier ist das System der Automobilität – als aktuell dominantes System – klar im Vorteil, da Infrastruktur, Straßenverordnungen, aber auch gesellschaftliche Zeitrhythmen, Organisationsformen und Marktstrukturen immer noch auf das Auto ausgerichtet sind, sodass sich klare Pfadabhängigkeiten (LockIns) ergeben. Für einen (radikalen) Wandel hin zur einer nachhaltigeren Mobilität ist es somit entscheidend, nicht nur das Umwelt- und Verantwortungsbewusstsein der Individuen anzusprechen und sie bspw. zum Fahrradfahren aufzurufen, sondern Ansatzpunkte für Veränderungen auf unterschiedlichen Ebenen zu identifizieren. Das Ziel müsste darin bestehen, es der Praktik des Fahrradfahrens zu ermöglichen, neue Träger*innen(gruppen) zu erschließen und diesen zugleich eine Abkehr vom Autofahren zu ermöglichen, da dies für die Reproduktion der sozio-technischen Systeme von zentraler Bedeutung ist. Hierfür sind neben dem Umbau der materiellen Infrastrukturen, anderer formeller und impliziter Regeln des Straßenverkehrs, veränderter gesellschaftlicher Statussymbole, Erwartungen, Bedeutungen und Gewohnheiten auch neue Praktiken der Planung, des Bauens, des Regierens, des Produzierens und des Verkaufens notwendig (Shove et al. 2012: S. 153; Watson 2013: S. 128).
Fazit. Potentiale einer praxistheoretischen Perspektive Insgesamt zeigt sich, dass eine praxistheoretische Perspektive viele wichtige Einsichten für die Nachhaltigkeitsforschung bereithält – sowohl hinsichtlich eines tieferen wissenschaftlichen Verständnisses von alltäglichen Verhaltensweisen als auch möglicher politischer und gesellschaftlicher Interventionsstrategien. 80
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Für eine politische Förderung nachhaltiger Mobilitätspraktiken, wie dem Fahrradfahren, lassen sich unterschiedliche Schlussfolgerungen daraus ableiten (Shove et al. 2012: 155f.). Erstens muss berücksichtigt werden, dass sich die Praktik des Fahrradfahrens nicht überall gleich vollzieht, sondern vielfältige lokale Variationen und Geschichten aufweist. Demzufolge sind auch differenzierte Interventionsstrategien notwendig, je nachdem, ob die Praktik bereits verbreitet ist oder noch ein Nischendasein fristet, welche Bedeutung und Symbolik der Praktik zugewiesen wird und welche Infrastrukturen und lokalen Eigenlogiken (Löw 2010) vorherrschen. Zweitens sind der Zeitpunkt der Intervention und die Berücksichtigung gesellschaftlicher Zeitrhythmen von entscheidender Bedeutung. Drittens sollte sich eine Politik zur Förderung des Fahrradfahrens nicht nur auf dieses beschränken, sondern zugleich konkurrierende, nicht-nachhaltige Praktiken – wie etwa das Autofahren – einschränken, indem die diese Praktiken stabilisierenden Elemente und ihre Verbindungen aufgebrochen werden. Viertens ist es schließlich entscheidend, sich nicht auf Politiken in den Bereichen Umwelt und Verkehr zu beschränken, sondern vielmehr unterschiedlichste Politikbereiche daraufhin zu untersuchen, ob und wie sie – oftmals ohne Absicht und Wissen – dazu beitragen, nicht nachhaltige Praktiken und die damit verbundenen sozio-technischen Systeme zu reproduzieren (Royston et al. 2018). Zusammenfassend wird deutlich, dass eine Realisierung nachhaltiger Praktiken mitnichten nur auf das Bewusstsein oder den Veränderungswillen einzelner Akteur*innen zurückzuführen ist. Vielmehr erfordert eine sozial-ökologische Transformation eine tiefergehende Analyse der Realisierungsbedingungen nachhaltigerer oder auch nicht-nachhaltiger Alltagspraktiken, um zu verstehen, wie, wo und auf welche Weise politische und gesellschaftliche Transformationsstrategien greifen. Dabei ermöglicht eine praxistheoretische Perspektive, bislang oftmals 81
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vernachlässigte Aspekte des alltäglichen Tuns mit einzubeziehen und auf diese Weise auf Forschungsdesiderate der Nachhaltigkeitsforschung zu reagieren.
Zum Weiterlesen Reckwitz, Andreas (2003): »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«. In: Zeitschrift für Soziologie 32, 4, S. 282-301. Schäfer, Hilmar (2016b): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm. Bielefeld: transcript. Shove, Elizabeth/Spurling, Nicola (2013b): Sustainable Practices. Social theory and climate change. London: Routledge.
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Kapitalismustheorie nach Marx Nachhaltigkeit, Arbeit und Automobilität Thomas Barth
»… oder ob das Kollektiv entscheidet, dass es BMW in dieser Form nicht mehr braucht.« (Kevin Kühnert) Dass in der bundesdeutschen Öffentlichkeit nach dem 01.05.2019, dem internationalen Tag der Arbeiterbewegung, über den hier interessierenden Zusammenhang von Automobilität und Nachhaltigkeit diskutiert wurde, war u.a. dem Vorsitzenden der SPD-Jugendorganisation Jusos, Kevin Kühnert, zu verdanken. Dieser legte in einem Interview mit der Wochenzeitschrift Die Zeit seine Vorstellungen eines demokratischen Sozialismus am Beispiel des insbesondere im Premiumsegment agierenden bayerischen Automobilproduzenten BMW dar. Neben der generellen Feststellung, Profite sollten demokratisch kontrolliert werden, formulierte er auch: »Mir ist weniger wichtig, ob am Ende auf dem Klingelschild von BMW ›staatlicher Automobilbetrieb‹ steht oder ›genossenschaftlicher Automobilbetrieb‹ oder ob das Kollektiv entscheidet, dass es BMW in dieser Form nicht mehr braucht.« (Bittner und Hildebrandt 2019) Neben der erwarteten Empörung aus bestimmter parteipolitischer und medialer Richtung brachte sich auch der IG-Metall-Gesamtbetriebsratschef von BMW, Manfred Schoch, in die Debatte ein. Allerdings nicht im Sinne einer gewerkschaftlichen Unterstützung der Kühnert’schen Thesen, etwa mit Verweis auf die Satzung der Industriegewerkschaft, welche – so stellte der Juso-Vorsitzende später klar – die »Überführung von Schlüsselindustrien und anderen 87
Thomas Barth
markt- und wirtschaftsbeherrschenden Unternehmungen in Gemeineigentum« (IGM 2016: S. 9) ausdrücklich vorsehe. Der Belegschaftsvertreter meinte ganz im Gegenteil gegenüber dem Magazin WirtschaftsWoche u.a.: »Für Arbeiter deutscher Unternehmen ist diese SPD nicht mehr wählbar.« (Seiwert 2019) Einen Automobilhersteller mit weltweit ca. 2,5 Millionen produzierten Fahrzeugen im Jahr, den ›das Kollektiv‹ eventuell nicht mehr brauchen könnte? Arbeiter*innen – in einem durch ökonomischen und ökologischen Strukturwandel derzeit stark unter Druck stehenden Industriesektor – für die die Sozialdemokratie keine wählbare Option mehr sei? Es fragt sich, was hier eigentlich verhandelt wurde. Um diese Frage zu klären, steht im Folgenden das der konkreten Auseinandersetzung zugrunde liegende Phänomen der Automobilität im Fokus der Betrachtung. Damit ist die materielle und symbolische Dominanz einer bestimmten sozial-ökologisch problematischen Fortbewegungsweise gemeint sowie die politisch, ökonomisch und ökologisch zentrale Bedeutung des Automobilsektors in Deutschland. Nach der Darstellung des Falls der persistenten Nicht-Nachhaltigkeit der Automobilität wird die gewählte theoretische Perspektive vorgestellt. Hierbei wird mit einer kapitalismustheoretischen Perspektive ein Ansatz zugrunde gelegt, der es erlaubt, die Genese und Stabilisierung der Automobilität als komplexe Verbindung von politischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Aspekten zu verstehen. Aus der praktischen Verbindung von Fall und Theorie ergibt sich, dass Vorstellungen von nachhaltiger Mobilität, die über eine vermeintliche ökologische Nachhaltigkeit etwa im Sinne der bloßen Elektrifizierung des Antriebs hinausgehen, die Grundstrukturen kapitalistischer Wachstumsgesellschaften in Frage stellen. Denn das Automobil bildete einen Kernbestandteil der noch nachwirkenden ressourcenintensiven, fordistischen Phase der kapitalistischen Produktions- und Konsumweise. Nachhal88
Kapitalismustheorie nach Marx
tige Mobilität jenseits der Dominanz individueller Automobilnutzung problematisiert deshalb u.a., wie Gesellschaften Arbeit und Konsum – auch: zeitlich und räumlich – organisieren und wer darüber in welcher Form entscheidet.
Automobilität: Persistenz der Nicht-Nachhaltigkeit Wenn in diesem Beitrag von Automobilität die Rede ist, dann ist damit das soziale Phänomen des motorisierten Individualverkehrs (MIV) als komplexes »car system« (Urry 2004) oder »sozio-technisches System« (SRU 2018: S. 108) bezeichnet. Denn die gegenwärtig so verbreitete Nutzung des Automobils ist das hochgradig voraussetzungsvolle Resultat des Zusammenwirkens vielfältiger technischer, politischer, kultureller, ökonomischer und materieller Elemente. Selbst wenn die für sich bereits hochkomplexe Fertigungskette eines Automobils ausgeblendet wird, setzt eine triviale Autofahrt im Normalfall umfangreiche Infrastrukturen (u.a. Straßen, Kraftstoffversorgung), einen amtlichen Führerschein und ein komplexes Regelsystem, ein zugelassenes und versichertes Fahrzeug sowie Umstehende voraus, die es als »normal« empfinden, dass sich eine Person in einem Abgase ausstoßenden, 1,4 Tonnen schweren, potentiell tödlichen stählernen Käfig bewegt. Das Automobil steht seit langem unter massiver Kritik von umweltbewegter Seite. Und im Grunde treffen alle, seinerzeit in André Gorz’ ([1975] 2009) Kritik der »gesellschaftlichen Ideologie des Autos« scharf benannten, sozialen und ökologischen Kritikpunkte den Gegenstand noch heute. Unter dem aktuellen Eindruck der Klimaschutzpolitik stellt bspw. der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU 2018: S. 61ff.) u.a. fest: Der Verkehrssektor ist in Deutschland für 18 Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich, der Anteil des Straßenverkehrs am CO2-Ausstoß liegt bei 95 Prozent und der MIV ist aufgrund der 89
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massenhaften Nutzung der überragende Verursacher. Als einzigem Verursachungssektor konnten im Verkehr im Vergleich zu 1990 die Treibhausgasemissionen zudem nicht reduziert werden, was v.a. an der im Zeitraum erfolgten Zunahme des Verkehrs liegt. Derzeit sind ca. 47 Mio. Pkw auf Deutschlands Straßen unterwegs (1990 waren es ca. 30 Mio.), wobei sie statistisch eher weniger wirklich unterwegs sind – nämlich nur ca. eine Stunde am Tag. Im Verhältnis zum Fuß- und Radverkehr ist jedoch die in Anspruch genommene Fläche des fließenden und stehenden Straßenverkehrs deutlich überproportional. Deutlich überproportional ist mit 80 Prozent aber auch der Anteil des MIV am Personenverkehr (BAG 2018). Schließlich verursacht der Straßenverkehr aufgrund von Schadstoff- und Lärmemissionen sowie Unfällen noch immer erhebliche Beeinträchtigungen der Gesundheit (Becker 2018). Aus sozialer Nachhaltigkeitsperspektive – die hier im weiten Sinne als Teilhabe an Gesellschaft verstanden wird – ergibt sich ein ambivalenteres Bild der Automobilität: Hinsichtlich der materiellen Teilhabe spielen zunächst die Einkommensmöglichkeiten und zumindest in Deutschland relativ guten Arbeitsbedingungen im Automobilsektor eine Rolle, wobei der Unsicherheitsfaktor angesichts des Strukturwandels der Branche hoch ist. Aber auch die subjektiv erfahrene Flexibilität und die v.a. im ländlichen Raum durch andere Verkehrsarten teilweise nur schlecht erreichbaren Dienstleistungen sind zu erwähnen. Negativ schlagen wiederum die mit steigender Verkehrsdichte zunehmenden Konflikte v.a. um Flächen der automobil ausgerichteten Infrastrukturen zu Buche sowie die erhebliche Beeinträchtigung anderer Verkehrsteilnehmer*innen bzw. Anlieger*innen. Automobilität scheint recht eindeutig als nicht-nachhaltig klassifizierbar zu sein, und auch eine v.a. mit Klimaschutz begründete Elektrifizierung des MIV bietet hier keine Lösung 90
Kapitalismustheorie nach Marx
(Hartung 2019). Wie aber lässt sich dann die anhaltende Persistenz bzw. global zunehmende Verbreitung dieser Form der Fortbewegung erklären? Darauf wird zurückzukommen sein, sobald die Konturen der hier gewählten theoretischen Perspektive dargestellt wurden.
Kapitalismustheorie nach Marx: Gesellschaftliche Naturverhältnisse und kapitalistische Produktionsweise Die auf den Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels aufbauenden Kapitalismustheorien zielen bekanntlich darauf ab, die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse in ihrer Totalität zu erfassen. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie und mit welchen Folgen historisch-spezifische Gesellschaften ihre materielle Reproduktion organisieren. Zentral sind v.a. die Aspekte der Organisation und Verteilung von Arbeit sowie die Distribution der dabei produzierten Werte. Von einem weiten Marx’schen Begriff der Arbeit auszugehen, ermöglicht es, in einem Theorierahmen zunächst die gesellschaftlichen Naturverhältnisse und anschließend die die gesamte Gesellschaft strukturierende Wirkung der kapitalistischen Organisation der Arbeit und damit soziale und ökologische Nachhaltigkeitsfragen in den Blick zu nehmen. Die Grundlage der materiellen Reproduktion jedweder menschlichen Gesellschaft erfolgt aus Marx’scher Sicht durch die Naturaneignung in Form konkreter Arbeitsprozesse. So wird der allgemeine Arbeitsbegriff von Marx im ersten Band des Kapitals folgendermaßen bestimmt: »Der Arbeitsprozeß ist zunächst ein Prozeß zwischen dem Menschen und der Natur, ein Prozeß, worin er seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne That vermittelt, regelt und kontrolirt.« (Marx [1867] 1983: S. 129) Lars Clausen (1988) hat mit Recht darauf hingewiesen,
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Thomas Barth
dass Marx hierbei noch zu wenig Wert auf die produktiven und destruktiven Seiten jeder menschlichen Arbeit legte. Im Zuge der historischen Entwicklung unterschiedlicher Produktionsweisen – klassisch werden Jäger-/Sammlergesellschaften, Sklavenhalter- und feudale Agrargesellschaften sowie kapitalistische Industriegesellschaften unterschieden – verändert sich nun nicht nur die gesellschaftliche Form, in der Arbeit geleistet wird. Auch die Art und Weise der Inanspruchnahme von natürlichen Grundlagen sowie die damit einhergehenden Folgen für die Gesellschaftsstruktur und die Naturverhältnisse sind einem Wandel unterworfen. Der Übergang zur industriekapitalistischen Produktionsweise ist aus sozioökologischer Nachhaltigkeitsperspektive in zwei Hinsichten einschneidend: Einerseits wird die Lohnarbeit zur verallgemeinerten Form, in der die Güterproduktion unter kapitalistischer Kontrolle schließlich getrennt von der Heimstätte im Betrieb stattfindet. Die Voraussetzung dafür ist eine doppelte: Die Arbeitskraft wird zur Ware, weil erstens die freien Lohnarbeiter*innen über sie selbst, ohne feudale Einschränkungen, verfügen können und sie zweitens aber auch verkaufen müssen, da sie ohne eigenen Produktionsmittelbesitz ihr Auskommen schwerlich außerhalb des Lohnarbeitsverhältnisses finden können (Marx [1867] 1983: S. 120ff.). Andererseits geht nicht nur die Arbeit als vom Kapitalisten gekaufte Ware in den Produktionsprozess ein, dessen finales Ziel in der Profitmaximierung liegt, sondern im Zuge der Industrialisierung wird diese lebendige, menschliche Arbeitskraft zunehmend ersetzt durch den Einsatz von Industriemaschinen, angetrieben durch fossile, nicht-erneuerbare Energieträger (zunächst Kohle, schließlich Erdöl). Der systemische Imperativ unter Konkurrenzbedingungen profitabler zu produzieren als die Wettbewerber*innen, d.h. die Produktionskosten stetig zu senken, führt zum Maschineneinsatz und damit einerseits zu einem 92
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beschleunigten Durchsatz an Energie und Materie, andererseits zu einer stetigen Ausweitung der Märkte, d.h. der Produktionsmenge. Der somit intensivierte Zugriff auf Arbeitskraft und Natur lässt die kapitalistische Industrieproduktion für Marx desaströs erscheinen. Die destruktiven Seiten der Naturaneignung durch Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen werden immer offensichtlicher, sodass Marx festhält: »Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichthums untergräbt: Die Erde und den Arbeiter.« (Ebd.: S. 410ff.) Bekanntermaßen traten in den kapitalistischen Zentren diese verheerenden Wirkungen kapitalistischer Produktion allerdings nicht in dem Maße ein und u.a. deshalb spitzte sich auch der die kapitalistische Produktionsweise kennzeichnende Klassengegensatz von Kapital und Arbeit nicht in der von Marx und Engels erwarteten Weise zu. Die von Marx und Engels ([1848] 1977) bereits im kommunistischen Manifest bewunderte enorme Dynamik kapitalistischer Entwicklung führte hingegen im Zusammenspiel mit veränderten politischen Regulationsmustern zur Restrukturierung der kapitalistischen Produktions- und Verwertungsprozesse. Dies führt jedoch bereits direkt zur Verknüpfung von Theorie und Fall. Denn gerade die Automobilindustrie – genauer: das Ford-Werk in Highland-Park, Michigan – kann sowohl als Ursprung einer neuen, umweltintensiveren Phase kapitalistischer Entwicklung bezeichnet werden als auch als Ursprung des modernen Automobilitätssystems.
Kapitalismustheorie und die Nicht-Nachhaltigkeit der Automobilität Die Anwendung der industriellen Fließbandfertigung von Automobilen in den Ford-Werken ermöglichte die historisch neuartige Verkoppelung von Massenproduktion und Massenkonsum. 93
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Durch relativ niedrige Preise der Massenprodukte (economies of scale) wurde das Fortbewegungsmittel der Oberklasse zum Konsumgut der lohnarbeitenden Bevölkerungsteile, die sich diese und andere Güter jenseits des unmittelbaren Bedarfs durch steigende Löhne nunmehr auch leisten konnten. Eine materielle Wohlstandssteigerung bei steigenden Profiten der Unternehmen setzte ein und führte zu einer temporären Versöhnung von Kapital- und Arbeiter*inneninteressen. Dieses als »Fordismus« bezeichnete Akkumulationsregime der relativ dauerhaften Kombination von Produktions- und Konsumweise (Aglietta [1976] 2000: S. 152ff.) fand v.a. in Westeuropa seinen politischen Ausdruck im fordistischen Wohlfahrtsstaat. Eine wesentliche Doppelfunktion von letzterem besteht in der Gewährleistung der Reproduktion von Arbeitskraft und der Produktionsbedingungen. Staatliche Akteur*innen, Regulierungen und Aktivitäten wie der auf den Autoverkehr ausgerichtete Infrastrukturausbau und die Stadtplanung waren jedoch auch essenziell für die Durchsetzung der Automobilität als dem bald mit Abstand führenden Verkehrsträger in den Industriegesellschaften. Mit Blick auf die Naturverhältnisse bildete sich mit dieser fordistischen Konstellation eine ökologisch destruktive, systemische Wachstumsspirale mit drei vorrangig beteiligten Akteur*innengruppen heraus, die Allan Schnaiberg (1980) als Treadmill of Production charakterisierte: Nicht nur das Kapital (d.h. die Unternehmen und deren Verbände), sondern auch Staat und Arbeit (d.h. die Lohnabhängigen und ihre Interessenvertretung) haben je eigene Interessen an stetig ausgeweiteter Produktion und den damit verbundenen Profiten, Steueraufkommen und materiellen Wohlstandseffekten in Form steigender Zuwächse (ebd. S. 20ff.). Der hierbei implizierte steigende Energie- und Ressourcenaufwand wurde im Zuge der »Transnationalisierung« der Tretmühle (Gould et al. [2008] 2016: S. 41ff.) durch ökonomische Globalisierungsprozesse zunehmend externa94
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lisiert, sodass die frühindustrialisierten Gesellschaften mit dem Zugriff auf billigere Arbeitskräfte in Entwicklungs- und Schwellenländern auch die steigenden Umweltkosten der Industrieproduktion nicht allein tragen mussten. Auch dies trug zur Stabilisierung und globalen Ausweitung der kapitalistischen Industrieproduktion sowie der globalen Motorisierung bei. Die Automobilproduktion und das Automobil traten einen globalen Siegeszug an, der angesichts der erwarteten Zunahme des Motorisierungsgrades, v.a. in den Schwellenländern, noch lange nicht an sein Ende gekommen scheint (Rieger 2015; Kuhnimhof und Lenz 2016). Neben dieser historischen Verbindung von Automobilität und der kapitalistischen Entwicklung, v.a. nach dem Zweiten Weltkrieg, wird auch auf einer systemischen Ebene eine Wechselwirkung festgestellt. Die gegenwärtige Form der kapitalistischen Produktionsweise ist auf weiteres Wirtschaftswachstum zwingend angewiesen und bislang gehen Wirtschafts- und Verkehrswachstum Hand-in-Hand. Der Verkehrsforscher Oliver Schwedes (2018: S. 24) hält schlicht fest: »Mit dem Wirtschaftswachstum eng verkoppelt ist das Verkehrswachstum, je mehr Waren produziert werden umso mehr Waren müssen auch transportiert werden.« (Ebd.) Dies gilt für die Produktion und räumliche Verteilung materieller Güter, wie die stets notwendige infrastrukturelle Anbindung neuer Produktionsstätten belegt. Angesichts der überragenden Bedeutung des Personen- im Vergleich zum Wirtschaftsstraßenverkehr – im Jahr 2016 waren 45 von 54 Mio. zugelassenen Kraftfahrzeugen in Deutschland Pkw (BMVI 2016: S. 10) – interessiert mehr noch ein weiterer Zusammenhang: Die kapitalistische Produktion forcierte zunächst die Trennung von Heim- und Arbeitsstätte, was sich in der modernen Stadtplanung als Funktionstrennung von Wohnen und Arbeiten fortsetzte und damit in der Regel zu zusätzlichen Wegen von und zur Erwerbsarbeit führte. Die Verbreitung des 95
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Automobils im 20. Jahrhundert ermöglichte zudem auch andere Orte des täglichen Bedarfs räumlich zu verteilen, mit dem Effekt, dass zwar die Wegeanzahl global und langfristig kaum variiert, jedoch die zurückgelegten Entfernungen enorm gestiegen sind (Becker 2018: S. 72). Die historische Verbindung eines spezifischen Akkumulationsregimes, dem Fordismus, mit einem bestimmten Fortbewegungsmittel, dem Pkw, hat das Automobil somit zum Massentransportmittel schlechthin gemacht. Ermöglicht wurde diese Entwicklung aber erst durch das komplexe Zusammenspiel der veränderten industriell-fordistischen Arbeitsorganisation zur Fertigung des Automobils sowie der Konsumnormen, die die Masse der Lohnabhängigen als Konsumsubjekte erst im 20. Jahrhundert hervorbrachte und der politischen Förderung dieser Prozesse durch die kapitalistischen Nationalstaaten (Manderscheid 2014: S. 617).
Fazit und Ausblick Ein kapitalismustheoretisch informierter Blick auf das Phänomen Automobilität verdeutlicht, wie das Automobil und seine industriellen Fertigungsstrukturen innerhalb weniger Jahrzehnte die industrielle Arbeits- wie Konsumgesellschaft, die Raum- wie die Sozialstruktur und auch die Wertvorstellungen in globalem Ausmaß wie wohl kein anderes Artefakt bzw. kein anderer Wirtschaftssektor prägten – und all das unter Inkaufnahme enormer sozialer und ökologischer Kosten (Rieger 2015). Aufbauend auf der Kapitalismustheorie von Marx kann die Genese und Stabilisierung der Automobilität, als sozialer Komplex um ein industriell gefertigtes Massenprodukt herum, als ›Kind‹ einer bestimmten Phase kapitalistischer Entwicklung begriffen werden. Die grundlegende Voraussetzung bildet jedoch noch immer Marx’ Bestimmung von Arbeit, denn die Verfügung über lebendige Arbeit und die Aneignung der von ihr geschaffenen 96
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Werte in Form eines Produktionsprozesses, dessen Ziel stets die gesteigerte Mehrwertaneignung bleibt, bildet ein Charakteristikum der kapitalistischen, nicht-nachhaltigen Produktionsweise. Ein Verständnis der Alltagspraxis einer zunehmend automobilen Fortbewegung bedarf folglich der analytischen Einbeziehung langfristig wirkender politisch-ökonomischer Entwicklungspfade. Kevin Kühnerts eingangs angeführte Aussage zur Kollektivierung des Automobilherstellers BMW war aus dieser Perspektive folglich aus zwei Gründen so brisant: Einerseits stellt das Ziel, die Produktionsprozesse zukünftig gesellschaftlichen Zwecken zu unterwerfen, zwei wesentliche Fundamente der kapitalistischen Produktionsweise zur Disposition – die private Verfügung über die Produktionsmittel und die Profitgenerierung als Zielsetzung der Produktion. Andererseits ist das Automobil noch immer ein starker symbolischer Träger verschiedener Werte wie der Freiheit individueller Bewegungs- und Konsumentscheidungen sowie des materiellen Wohlstands. Einige dieser Werte werden unter Nachhaltigkeitsaspekten zunehmend prekär und in Verbindung mit der großen Bedeutung der Automobilindustrie, gerade in Deutschland, steht mit dem Automobil offenbar eine ganze Lebensweise in Frage (Brand und Wissen 2017: S. 125ff.). Gegenwärtig findet jedoch ohnehin ein tiefgreifender, mehrdimensionaler Strukturwandel der Automobilität statt – mit erheblichen Auswirkungen auf die Industrieunternehmen, die dort Beschäftigten als auch die Nutzer*innen. Elektrifizierung, Vernetzung, geteiltes und autonomes Fahren sind die Stichworte dieser Transformation. Ob die Beharrungskraft des automobilen Regimes diesen Herausforderungen trotzen kann, ist ebenso ungewiss, wie die Chance, dass diese Entwicklung zu einer tatsächlich nachhaltigeren Form des Personenverkehrs führt. Aus der hier gewählten theoretischen Perspektive folgt jedenfalls, dass Vorstellungen von nachhaltiger Mobilität, die 97
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jenseits der individuellen Automobilnutzung liegen, auch einige Grundstrukturen kapitalistischer Gesellschaften in Frage stellen (müssen). Ohne Anspruch auf Vollzähligkeit wären mindestens zu nennen: Entscheidungs- und Machtstrukturen in Unternehmen und Gesellschaft, Strukturen der Verteilung von Arbeit und Arbeitszeit sowie die Gestaltung von Raum- und Infrastrukturen.
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Praxistheorie: »Doing Verantwortung« Responsibilisierung im Zeichen der Nachhaltigkeit Nikolaus Buschmann, Jędrzej Sulmowski Im kürzlich ausgerufenen Zeitalter des »Anthropozän« besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die moderne Industriegesellschaft einen nachhaltigen Entwicklungspfad beschreiten muss, um die Zukunftsfähigkeit der menschlichen Zivilisation zu gewährleisten. Die gesellschaftliche Debatte darüber, wie dieser Entwicklungspfad auszusehen hat, geht mit der Frage einher, wer für dessen Umsetzung zuständig und damit verantwortlich ist. So ist auch der Begriff des »Anthropozäns« eng mit diesem Postulat einer »Zukunftsverantwortung« (Buschmann 2018) verbunden: Eingeführt als Bezeichnung für ein neues geologisches Zeitalter, dient er zugleich als politisch-ethisches Argument. Entsprechend wird aus der Feststellung, dass die Menschheit den dominanten geophysikalischen Einfluss auf das Erdsystem hat, die Verantwortung des Menschen für die Zukunft des Planeten abgeleitet (Dürbeck 2018). Verantwortung wird in der Erzählung vom »Anthropozän« also in bestimmter Weise hervorgebracht, formatiert und adressiert – nämlich als Verantwortung der Gattung Mensch und damit prinzipiell aller und jedes einzelnen Menschen. Indes wird mit einer solchen Zurechnung jenes ökonomische und machtpolitische Gefälle, das zwischen verschiedenen Gesellschaften, Klassen und Individuen besteht, ebenso ausgeblendet wie die historisch spezifische Konstellation des Kapitalismus als jener Wirtschafts- und Lebensform, deren Reproduktionslogik die Übernutzung natürlicher Ressourcen konstitutiv bedingt (Brand und Wissen 2017). 101
Nikolaus Buschmann, Jędrzej Sulmowski
Auf diese De-Thematisierung von eng miteinander verwobenen Problemlagen weist wiederum der Begriff des »Kapitalozäns« (Moore 2016a) hin, der ausdrücklich als Alternative zum »Anthropozän« entworfen wurde. Er differenziert den Kollektivsingular »Anthropos« im Hinblick auf seine geologische Kraft entlang der Perspektiven von Gender, Klasse, race, Kapital, Imperium und letztendlich Macht (Moore 2016b). Zugleich wird damit die pauschalisierende Verantwortungszuweisung, die mit der Erzählung vom Anthropozän einhergeht, für eine differenzierte Betrachtung verfügbar gemacht. Verantwortung wird im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit nicht nur in theoretischen Konzepten und Reflexionen, sondern auch in alltäglichen Verrichtungen hervorgebracht. In diesen unterschiedlichen Formen soll die Herstellung von Verantwortung im Folgenden als ein praktisches, machtvolles Tun sichtbar gemacht werden. Anhand der verschiedenen Verantwortungskonzepte, die der Nachhaltigkeitsdiskurs im Laufe seiner Etablierung mit sich gebracht hat, wird in einem ersten Schritt plausibel gemacht, dass sich Responsibilisierung als eine soziale Praxis fassen lässt. Vor diesem Hintergrund wird anschließend eine praxistheoretische Perspektive auf Verantwortungszuweisung als »Doing Verantwortung« entwickelt, die im dritten Abschnitt des Beitrags am Beispiel nachhaltigen Konsums illustriert wird. Ein abschließendes Fazit reflektiert die damit einhergehenden politischen Implikationen.
Verantwortung im Nachhaltigkeitsdiskurs Die Rede von Verantwortung hat sich dem Nachhaltigkeitsdiskurs von Beginn an als kommunikative Norm eingeprägt und wirkt als solche auch längst in den lebensweltlichen Alltag hinein. Eine prominente Referenz hierfür stellt die von Hans Jonas (1984) entfaltete Verantwortungsethik dar, die im gegenwärtigen Sprechen über Nachhaltigkeit tiefe Spuren hinterlassen hat. 102
Praxistheorie: »Doing Verantwortung«
Für Jonas erwächst die Verantwortung des Menschen vor dem Sein aus dem menschlichen Vermögen zur Freiheit, das sich im Zeitalter der technischen Zivilisation jedoch gegen das Sein gewendet hat (Fleischer 2012: S. 95-107). Die Verantwortung, die als eine transzendentale Kategorie des menschlichen Geistes konzipiert und auf die Zukunft gerichtet wird, ist demnach eine unhintergehbare Bedingung des kollektiven Überlebens. Spätestens im Brundtland-Bericht (Hauff 1987) wird Verantwortung – in unverkennbarer Anlehnung an Hans Jonas – zu einem zentralen konzeptionellen Hebel der ethischen Begründung einer Handlungsnotwendigkeit, die alle Ebenen politischen und gesellschaftlichen Tuns umfasst und diese auf einen zukunftsfähigen Entwicklungspfad ausrichten soll. Innerhalb des akademischen Nachhaltigkeitsdiskurses wird Verantwortung nicht selten beiläufig mitgeführt, etwa in Publikationen, die sich damit befassen, nachhaltige Lebensstile, nachhaltigen Konsum oder das Umweltbewusstsein zu fördern (Brickwedde und Peters 2002; Scherhorn 2002). Während in einigen dieser Beiträge bereits entschieden zu sein scheint, wer die Verantwortung für Nachhaltigkeit zu tragen hat, wird andernorts die Frage verhandelt, welche gesellschaftlichen Akteur*innen oder -gruppen für die Umsetzung von – durchaus widerstreitenden – Nachhaltigkeitsleitbildern zuständig seien. So betraf bspw. der Streit um die Nachhaltigkeitsstrategien der 1990er Jahre die Fragen nach der Bedeutung und Priorisierung von technischen und sozialen Innovationen. Dabei gingen die Effizienz- und Konsistenzstrategie (Huber 1995) eher mit einer Adressierung von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik einher, während die Suffizienzstrategie (Sachs 1993) vor allem die Lebensweise einzelner Menschen sowie die sie ermöglichenden Rahmenbedingungen thematisierte. Entsprechend wurde die Aufgabe für die Herbeiführung eines Wandels im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung unterschiedlichen 103
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Akteur*innen zugewiesen (Buschmann und Sulmowski 2018). Wiederum stellte die sog. Bildungsstrategie, die das Programm einer »Bildung für nachhaltige Entwicklung« vorantreibt, Verantwortung als eine Kompetenz dar, die erlernt und eingeübt werden soll. Verantwortungsfähigkeit wird zu einem Bestandteil der Gestaltungskompetenz (Haan und Harenberg 1999) – des anvisierten Bildungsziels – und somit zu einer Voraussetzung eines auf Zukunftsfähigkeit ausgerichteten individuellen Handelns gemacht (vgl. Bormann und Haan 2008). Verantwortung war dabei stets ein Ko-Produkt von Bestrebungen, den gesellschaftlichen Wandel im Angesicht der Diagnose einer sozial-ökologischen Krise anzustoßen und zu gestalten. Verantwortung avancierte damit zu einem machtvollen politischen Gestaltungswerkzeug, mit dem ein Ringen um die soziale Ordnung ausgefochten werden konnte.
Von Verantwortung zu »Doing Verantwortung« — die Perspektive der Praxistheorie Die Zurechnung von Verantwortung für die Verursachung und Lösung der sozial-ökologischen Krise lässt sich vor dem im letzten Abschnitt entfalteten Hintergrund mithin selbst als eine soziale Praxis begreifen – als ein »Doing Verantwortung«. Dieses ist in machtvolle geschichtlich-gesellschaftliche Konstellationen eingebunden und bringt mit der jeweiligen Verantwortung auch diejenigen hervor, die Verantwortung zurechnen (können), sowie diejenigen, die Verantwortung tragen (sollen). Ein solches »Doing Verantwortung« ist stets dadurch gekennzeichnet, Verbindungs- und Abgrenzungsarbeit zu leisten »zwischen der Person oder Gruppe, die Verantwortungsübernahme fordert, und der Person oder Gruppe, die Verantwortung übernehmen soll; zwischen den Menschen, die Verantwortung tragen und den Angelegenheiten, für die sie verantwortlich gemacht werden sollen; sowie zwischen Handlungen und deren verletzenden Fol104
Praxistheorie: »Doing Verantwortung«
gen« (Heier 2016: S. 370). Die damit eingenommene Perspektive einer machttheoretisch informierten, kritischen Praxistheorie auf Verantwortung für Nachhaltigkeit hebt also die performative und relationale Dimension von Verantwortung als Einsatz im Ringen um die Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens hervor. Analog zu geläufigeren Ausdrücken wie »Doing Gender« (West und Zimmerman 1987) oder »Doing Family« (Jurczyk, Lange und Thiessen 2014) steht »Doing Verantwortung« für ein bestimmtes Verständnis des Sozialen, des gesellschaftlichen Zusammenlebens. In diesem Verständnis erscheint Verantwortung – ähnlich wie Geschlecht oder Familie – als etwas, das erstens permanent praktisch hervorgebracht wird, zweitens in einer bestimmten geschichtlich-gesellschaftlichen Konstellation situiert und drittens in soziale Machtkämpfe verwickelt ist. Verantwortung ist dann nicht mehr als eine überall und zu allen Zeiten gleichermaßen gültige normative Kategorie des menschlichen Zusammenlebens zu verstehen, die ähnlich dem Konzept der Ursünde in unveränderter Form »immer schon« gegeben ist. Ebenso wenig wird Verantwortung als eine Fähigkeit, Kompetenz, Tugend oder Haltung begriffen. Vielmehr geraten die Behauptung und Anwendung dieser Verantwortungskonzepte in der hier eingenommenen praxistheoretischen Perspektive selbst als historisch kontingente Formen der Hervorbringung von sozialer Ordnung in den Blick. Diese wechselseitige Herstellung von sozialer Ordnung und Verantwortung lässt sich als ein »Doing Verantwortung« untersuchen, das in den jeweiligen Verwendungszusammenhängen eine je spezifische machtvolle Verknüpfung zwischen Wissen und Bewertungsmaßstäben sowie kollektiven und individuellen Akteur*innen erzeugt und dabei zugleich bestimmte Weisen der Subjektivierung »verantwortlicher« Akteur*innen bedingt. So geht mit der Verbreitung der Verantwortungssemantik in der Moderne ein Selbstverhältnis 105
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einher, »das dem Subjekt erlaubt, sich selbst als souverän zu verstehen«, was jedoch nicht automatisch impliziert, dass es auch über die Handlungsmacht verfügt, um der ihm zugewiesenen Verantwortung nachzukommen (Vogelmann 2016: S. 281). Die Betonung auf das »Doing« und damit auf soziale Praktiken ist dabei nachdrücklich nicht als eine Positionierung in einer Dualität von Theorie und Praxis zu verstehen. Denn auch theoretische, konzeptionelle Arbeit, die in der Regel sprachbasiert erfolgt und sich textlicher und audiovisueller Vermittlungsformate (Aufsatz, Monographie, Slogan, Interview) und entsprechender Artefakte (Buch, Zeitschrift, E-Medien, Ausstellung, Plakat) bedient, ist gesellschaftliche Praxis. Im Hinblick auf den Zusammenhang von Verantwortung und Nachhaltigkeit spielen solche (diskursiven) Praktiken eine bedeutende Rolle. Im folgenden Abschnitt soll nun die wechselseitige Hervorbringung von Verantwortung und entsprechenden Formen politischer Einflussnahme auf die Gesellschaft am Beispiel nachhaltigen Konsums illustriert werden.
Verantwortung durch Konsum? Zur Individualisierung kollektiver Verantwortung Werden in der öffentlichen Debatte Konsument*innen in der Werbung oder in Broschüren von NGOs oder in Regierungsprogrammen aufgefordert, Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung zu übernehmen, indem sie bspw. Kleidung aus ökologisch angebauter Baumwolle kaufen, dann wird Verantwortung in dem Sinne hergestellt, dass eine jeweils spezifisch situierte Relation geschaffen wird: eine Relation zwischen den Organisationen, die die Kampagnen lancieren oder die Broschüren erarbeiten und den Konsument*innen. Diese Relation verknüpft diese beiden Positionen (d.h. die Position der Adressierten und die Position der Appellierenden) auch mit einem 106
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bestimmten Wissen (um die sozial-ökologische Krise) und mit einer bestimmten Aufgabe, nämlich aufgrund einer bewussten und freien Entscheidung, die auf der Anerkennung des eigenen Involviertseins in die globalen Wertschöpfungsketten beruht, zu Eco-Fashion-Produkten zu greifen. Hier zeigt sich, wie die Aufforderung zu einer nachhaltigen Lebensweise sich in subjektiven Selbstverhältnissen verankert und bestimmte gesellschaftliche Modi der Subjektivierung sowie prominente Sozialfiguren wie bspw. einen Lifestyle of Health and Sustainability hervorbringt (Pritz 2018: S. 78). Damit ist diese Relation noch nicht erschöpfend beschrieben, denn implizit bringt sie eine ganze soziale Ordnung mit hervor, indem die diskursiv nahegelegte Übernahme der Verantwortung etwa in Form von Konsumhandlungen über den Markt – und nicht über eine gesetzliche Regelung der Produktionsverhältnisse – gesteuert wird. Eine solche Verantwortungszuschreibung setzt stillschweigend materielle Ressourcen von Einzelnen voraus, die für ein solches Handeln notwendig sind. Sie installiert zugleich eine bestimmte ethische Norm, die das Einkaufen nachhaltig hergestellter Kleidung als erstrebenswert und tugendhaft ausweist. Es werden jene sozialen Positionen aufgewertet, die über genügend finanzielle und Bildungsressourcen verfügen, und wiederum andere Positionen abgewertet, die diesen Zugang nicht haben. Vor diesem Hintergrund lässt sich ein auf Nachhaltigkeit bedachter Lebensstil als »eine sozial besonders bedeutsame und mitunter umkämpfte Form der Lebensführung« begreifen, »an der entlang sich neue Phänomene sozialer Differenzierung und neue Praktiken in der Herstellung sozialer Ungleichheiten entwickelt haben« (Neckel 2018: S. 60). Gleichzeitig werden durch die Fokussierung auf den Kaufakt andere Möglichkeiten des gesellschaftlichen Wandels ausgeblendet, etwa die Veränderung struktureller Bedingungen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. So konnten auf107
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grund der Entscheidungen von Konsument*innen und der sie begleitenden öffentlichen Kampagnen und Produktboykotte den transnationalen Kleidungsunternehmen, ihren Auftragnehmer*innen sowie den entsprechenden nationalstaatlichen Institutionen Verpflichtungen im Hinblick auf Arbeits- und Umweltschutz in den Produktionsländern im Globalen Süden abgerungen werden. Die seit mehr als 20 Jahren immer wieder durch NGOs thematisierten Missstände in den Bekleidungsfabriken und die Verbreitung der Corporate Social Responsibility (CSR) Programme blieben einerseits nicht wirkungslos: Sie resultierten vor allem in Selbstverpflichtungen der Textilfirmen in Form von Verhaltenskodizes, die entlang der gesamten Wertschöpfungskette für die Einhaltung bestimmter arbeitsethischer Prinzipien sorgen sollten. Insbesondere im Hinblick auf Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz sind in vielen Zuliefererfabriken, vor allem in Bangladesch, Indien, Marokko, Pakistan oder Rumänien, Maßnahmen ergriffen worden. Diese werden regelmäßig durch sog. Sozialaudits daraufhin kontrolliert, ob sie den Verhaltenskodizes gerecht werden, die sich die Markenunternehmen auf der Basis von Gesprächen mit staatlichen Institutionen, NGOs und Zivilgesellschaft gaben. Andererseits zeigt sich, dass der Arbeits- und Gesundheitsschutz in einem engen technischen bzw. bürokratischen Sinne gerahmt und überprüft wird. So wurden zwar stellenweise Verbesserungen der Fluchtwege, Luftzirkulation, Temperatur- und Lichtverhältnisse sowie des Feuerschutzes vorgenommen, jedoch sind erwünschte Veränderungen hinsichtlich der Löhne, des Rechts auf gewerkschaftliche Organisation, des Zugangs zu Rechtsmitteln und des Umgangs mit unbezahlten Überstunden kaum umgesetzt worden (Burckhardt und Merk 2013). Naheliegend wäre die Vermutung, dass es sich bei den bisherigen Veränderungen der Arbeitsbedingungen um Symbolpolitik handelt (Palpacuer 2017: S. 62), die den Adressierten die Le108
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gitimation liefert, sich als verantwortungsvolle und rebellische Konsument*innen zu betrachten. Ganz in ökologisch angebaute Baumwolle gehüllt, empören sie sich bspw. darüber, dass sich Tragödien wie der Einsturz der Kleidungsfabriken in Savar im Jahr 2005 oder Rana Plaza im Jahr 2013 in Sabhar in Bangladesch ereignen. Die Etablierung von Verhaltenskodizes, die regelmäßigen Sozialaudits in den Produktionsstätten und die damit einhergehenden Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen der Fabrikarbeiter*innen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Verbesserungen zumeist punktuell sind im Vergleich zu den Ungleichheitsverhältnissen zwischen dem globalen Süden und Norden (Palpacuer 2017: S. 61). Hier ließe sich mit Stephan Lessenich (2016) fragen, ob die Ungleichheit nicht als eine konstitutive strukturelle Bedingung der modernen kapitalistischen Wirtschaftsweise begriffen werden muss, der mit punktuellen Verbesserungen von CSR-Programmen und der damit einhergehenden Responsibilisierung Einzelner allein nicht beizukommen ist (dazu auch Neve und Prentice 2017: S. 2). In der hier eingenommenen praxistheoretischen Perspektive müsste zudem berücksichtigt werden, dass Konsumverhalten nicht lediglich auf individuellen Entscheidungen beruht. Vielmehr ist es eingebettet in überindividuelle praktische Zusammenhänge der Alltagsbewältigung, die ihrerseits in die Logik kapitalistischer Produktionsverhältnisse eingelassen sind (Barth, Jochum und Littig 2019: S. 9). Die Adressierung von Konsument*innen als verantwortliche Subjekte macht deutlich, dass Verantwortungszuweisung auf einem spezifischen Wissen über sozial-ökologische Krisen basiert, nämlich einem Wissen, das gesellschaftlichen Wandel als Aggregation individueller Konsumhandlungen und weniger als das Resultat steuerungspolitischer Maßnahmen und gesellschaftlicher Kämpfe begreift. Genau in der Erzeugung von bestimmten Relationen zwischen einem bestimmten Wissen, be109
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stimmten Bewertungsmaßstäben und bestimmten sozialen Positionen und dem Verwerfen anderer Verbindungen (zwischen einem möglichen anderen Wissen, anderen Bewertungsmaßstäben und anderen sozialen Positionen) ist die Macht der Responsibilisierung verortet.
Fazit: Die Macht der Responsibilisierung Die kritische Auseinandersetzung mit dem Responsibilisierungsgeschehen im Kontext von Nachhaltigkeit soll nicht als ein Plädoyer dafür verstanden werden, Verantwortung als politische Gestaltungsmacht zu verwerfen. Die Perspektive des »Doing Verantwortung« soll vielmehr darauf aufmerksam machen, dass sich Verantwortung für etwas oder jemanden nicht politisch neutral aus einem scheinbar gegebenen gesellschaftlichen Bezugsproblem wie der sozial-ökologische Krise ableiten lässt; vielmehr ist die Hervorbringung von Verantwortung selbst ein politischer Akt, der die geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen, die ihn ermöglichen, nicht selten verbirgt. Danach zu fragen, »wer wird von wem und für was verantwortlich gemacht, unter welchen Bedingungen, auf welche Art und Weise und mit welchen Konsequenzen« (Rose und Lentzos 2017: S. 34), zielt darauf ab, die Zuweisung von Verantwortung als ein vielfach bedingtes, kontingentes und machtvolles Geschehen, mithin als einen politischen Akt sichtbar zu machen. Diese Frage ist gerade im Hinblick auf die derzeit zu beobachtende Individualisierung von Verantwortung relevant. Denn wenn vorrangig Einzelne für gesellschaftliche Transformation verantwortlich sein sollen, schwinden zum einen die Möglichkeiten, politische Institutionen in die Pflicht zu nehmen, und zum anderen werden Ausschlüsse produziert: Wer die Voraussetzungen für die Übernahme von Verantwortung nicht erfüllt und somit den Anforderungen der Verantwortungszuweisung nicht gerecht werden
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kann, kann sich an einem derartigen Projekt der Transformation kaum beteiligen.
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Das Ergrünen von Religionen Ökologische Nachhaltigkeit in religiösen Gemeinschaften Fabian Huber, Jens Köhrsen
»Der Klimawandel ist ein globales Problem mit schwerwiegenden Umwelt-Aspekten und ernsten sozialen, wirtschaftlichen, distributiven und politischen Dimensionen; sie [sic!] stellt eine der wichtigsten aktuellen Herausforderungen an die Menschheit dar.« Dieser Satz stammt nicht aus einem Bericht der Vereinten Nationen, sondern aus der »Enzyklika Laudato Si’« von Papst Franziskus aus dem Jahre 2015 (S. 11), welche sich schwerpunktmäßig mit dem Themenbereich Umwelt- und Klimaschutz befasst. Zum einen wird hier Nachhaltigkeit als relevantes Thema identifiziert. Zum anderen versteht sich Religion als Teil der Lösung des Problems. Nachhaltigkeit soll nicht nur Akteur*innen aus anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Politik, Wirtschaft und Wissenschaft überlassen werden. Die Bedeutung der eigenen Position wird hervorgehoben: So sei »es ein Nutzen für die Menschheit und für die Welt, dass wir Gläubigen die ökologischen Verpflichtungen besser erkennen, die aus unseren Überzeugungen hervorgehen« (ebd.: S. 27). Dies ist nur ein – aber wohl das bekannteste – Beispiel der letzten Jahre, wie sich religiöse Akteur*innen in Nachhaltigkeitsdebatten einbringen. Ökologische Themen spielen in Theologie und Religionswissenschaft eine zunehmende Rolle. Dabei wird in den wissenschaftlichen Debatten um Ökologie und Religion häufig an115
Fabian Huber, Jens Köhrsen
genommen, dass Religionen zunehmend umweltfreundlicher werden. Diese These wird als Greening of Religion (Ergrünen von Religion) beschrieben und bildet die hier gewählte theoretische Perspektive. Um zu untersuchen, in welcher Weise ein solches Ergrünen von Religion stattfindet, wird die Perspektive auf den Fall religiöser Gemeinschaften in Deutschland und der Schweiz angewendet. Hierzu wird auf empirische Daten zurückgegriffen, die im Forschungsprojekt »Urban Green Religions« erhoben wurden. Im Rahmen des Projekts wurden Interviews mit Vertreter*innen örtlich ansässiger Religionsgemeinschaften in zwei Städten in der Schweiz und Süddeutschland durchgeführt. Neben unterschiedlichen christlichen Gemeinden schließt dies muslimische, buddhistische, hinduistische und jüdische Gemeinschaften ein. Durch die Anwendung wird der Frage nachgegangen, inwiefern sich ein Greening in den religiösen Gemeinschaften vollzieht. Der Einbezug verschiedener Glaubenstraditionen ermöglicht zudem das ökologische Engagement zu vergleichen und zu erklären.
Der Fall: Ökologisches Engagement religiöser Gemeinschaften Verschiedene religiöse Gemeinschaften und Initiativen befassen sich mit Fragen ökologischer Nachhaltigkeit. Dies wird sowohl von religiöser wie auch von wissenschaftlicher Seite vermehrt hervorgehoben (Shibley und Wiggins 1997; Veldman et al. 2014). Als Belege für das ökologische Engagement wird dabei auf das starke Engagement religiöser Führungsfiguren und Dachverbände der jeweiligen Religionen, wie etwa die eingangs erwähnte Enzyklika »Laudato Si‹«, verwiesen. Daneben wurde anhand quantitativer Studien das Umweltengagement individueller Gläubiger erhoben (Carlisle und Clark 2018; Taylor et al. 2016). Die Mesoebene wurde bis anhin kaum untersucht. Oftmals wird einfach angenommen, dass auf lokaler Ebene die Tendenzen aus 116
Das Ergrünen von Religionen
der Makroebene übernommen werden. Die Mesoebene dient dann als eine Art Scharnier, die ökologisches Bewusstsein an die Anhänger*innen weitervermittelt. Vaidyanathan et al. (2018) beschreiben, dass lokale religiöse Gemeinschaften das ökologische Engagement ihrer Mitglieder prägen können, räumen aber ein, dass dieser Einfluss nur sehr begrenzt sei. Studien zum Umweltengagement lokaler religiöser Gemeinschaften sind bisher rar. Dementsprechend untersuchen wir die Perspektive des Greening im Folgenden anhand lokaler religiöser Gemeinschaften in zwei Städten.
Die Perspektive: Das Ergrünen von Religionen Der Ausgangspunkt des Ansatzes eines Ergrünens von Religion ist der 1967 erschienene Aufsatz »The Historical Roots of our Ecologic Crisis« des Historikers Lynn White. Darin macht er das Christentum für die ökologische Krise verantwortlich. Der im westlichen Christentum angelegte Anthropozentrismus und die Vorstellung von der Herrschaft über die Natur tragen, so White, eine wesentliche Mitschuld an der Ausbeutung ebendieser. Eine Lösung der ökologischen Krise sei nur über die Etablierung einer neuen Religion bzw. einer Veränderung der vorherrschenden religiösen Vorstellungen möglich: »More science and more technology are not going to get us out of the present ecologic crisis until we find a new religion, or rethink our old one.« (Ebd.: S. 1206) So schlägt White vor, den Heiligen Franz von Assisi stärker in den Mittelpunkt zu stellen, da dieser versucht habe, alle Schöpfungswesen auf die gleiche Stufe zu stellen. Eine umweltfreundliche Neuauslegung des westlichen Christentums könnte damit einen zentralen Beitrag zur Lösung ökologischer Probleme leisten. Der Text von Lynn White steht am Anfang einer Entwicklung, die als Greening of Religion (Ergrünen von Religion) beschrieben wird (Kanagy und Willits 1993; Shibley und Wiggins 1997; Taylor 117
Fabian Huber, Jens Köhrsen
2010). Mit dem Greening ist gemeint, dass religiöse Traditionen und Gemeinschaften ein wachsendes Umweltbewusstsein und -engagement hervorbringen. Besonders seit den 1980er Jahren zeigt sich in verschiedenen religiösen Traditionen – wie dem Buddhismus, Christentum, Hinduismus, Islam und Judentum – eine zunehmende Sorge um die Umwelt. Damit ist verbunden, dass neue Theologien entwickelt und verbreitet werden, die eine umweltfreundliche Auslegung der jeweiligen heiligen Schriften und des Traditionsfundus anstreben, wie dies etwa im Christentum durch die ›Bewahrung der Schöpfung‹ der Fall ist. Interessanterweise finden sich heute, so Chaplin (2016), gemeinsame Greening-Tendenzen in den verschiedenen Religionen und Natur werde zunehmend als Spiegel oder Manifestation des Göttlichen interpretiert (z.B. als Teil der Schöpfung). Angesichts dieser transzendenten Dimension von Natur habe der Mensch den göttlichen Auftrag, sie zu hüten, anstatt sie auszubeuten und sei ›dem Göttlichen‹ Rechenschaft für sein Verhalten gegenüber der Natur schuldig. Während Chaplin mit Blick auf diese Entwicklungen von einem ›globalen Ergrünen‹ der Religionen spricht, heben andere Autor*innen hervor, dass die theologischen Veränderungen zugleich ein aktives Umweltengagement hervorbringen: »With the help of religions humans are now advocating for a reverence for the earth.« (Tucker 2006: S. 401) Das Ergrünen erschöpft sich somit nicht in theologischen Neuauslegungen, sondern manifestiert sich ebenfalls in zunehmenden Umweltaktivitäten religiöser Akteur*innen (Shibley und Wiggins 1997). Hierzu gehören etwa die zahlreichen öffentlichen Stellungnahmen religiöser Gemeinschaften (z.B. »Laudato Si‹«) sowie deren Bildungsaktivitäten (z.B. im Bereich Mülltrennung) und Umweltprojekte (z.B. ökologischer Landbau, Nachhaltigkeitszertifizierungsprogramme). Mit diesen und anderen Aktivitäten können sich religiöse Akteur*innen an den Prozessen des Wandels Richtung mehr Nachhaltigkeit be118
Das Ergrünen von Religionen
teiligen. Dabei lassen sich drei Formen des Engagements unterscheiden (Koehrsen 2015, 2018a): 1. Öffentliche Kampagnen; 2. Materialisierung von nachhaltigem Wandel; 3. Vermittlung von umweltfreundlichen Werten und Weltanschauungen. Die erste Form bezieht sich auf die Öffentlichkeit: Religiöse Akteur*innen haben je nach gesellschaftlichem Kontext, in den sie eingebettet sind, eine große Reichweite in der Bevölkerung und Einfluss auf die öffentliche Meinung (Casanova 1994; Habermas 2006). Daher können sie auch in Umweltfragen Position beziehen. Dies kann durch Statements in Medien, Teilnahme an öffentlichen Debatten oder Einfluss auf Entscheidungsträger*innen geschehen (Gardner 2006; Johnston 2010). Die zweite Form des Engagements bezieht sich auf die konkrete ›materielle‹ Umsetzung von nachhaltigem Wandel (Gottlieb 2006; Harper 2011). Hierbei kann es etwa um die Einführung erneuerbarer Energien (z.B. Installation von Solarpanels) oder die Umstellung auf einen effizienteren Umgang mit Ressourcen (z.B. Reduktion der Heizleistung in Gebäuden, Einkauf und Konsum regionaler, nachhaltiger Produkte, Recycling) gehen. Die dritte Form beschreibt die Verbreitung umweltfreundlicher religiöser Werte und Weltanschauungen. Da die Wertevermittlung von der Politik, Wissenschaft und Wirtschaft nicht geleistet werden könne, heben einige Autor*innen diese besonders hervor: Indem religiöse Gemeinschaften umweltfreundliche Werte und Weltanschauungen verbreiten, könnten sie große Teile der Menschheit zu einem umweltfreundlicheren Lebensstil bewegen (Gardner 2003, 2006; Gottlieb 2008; Tucker 2006;). Dies geschieht, indem bspw. in Predigten und im Religionsunterricht der Wert und Schutz der Umwelt betont wird (Djupe und Hunt 2009; Shibley und Wiggins 1997). Es gibt also verschiedene Möglichkeiten, wie sich das Ergrünen in Form von Umweltengagement manifestieren kann. Trotz grundsätzlicher Greening-Tendenzen werden zwischen den ver119
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schiedenen Religionen Unterschiede postuliert. So werden gewisse religiöse Traditionen wie der Buddhismus, Neo-Paganismus oder einige indigene Religionen schon als vergleichsweise ›grün‹ angesehen (Lorentzen und Leavitt-Alcantara 2006). Und auch mit Blick auf die sog. mainline-Christen (z.B. Katholiken, Lutheraner) wird davon ausgegangen, dass das Greening vorangeschritten sei (Kearns 1996). Dies zeige sich am Engagement auf der Ebene der Dachverbände und Führungsfiguren dieser Gemeinschaften (z.B. über Verlautbarungen, Umweltbeauftragte, Nachhaltigkeitsstrategien). Dieses Engagement auf der Makroebene der religiösen Gemeinschaft fungiere, so die These, als ein zentraler Impulsgeber für das lokale Engagement religiöser Gemeinschaften und übertrage sich über die lokalen Gemeinschaften schließlich auf die Anhänger*innen (Shibley und Wiggins 1997).
Anwendung: Ergrünen religiöse Gemeinschaften vor Ort? Die im Rahmen des Projekts »Urban Green Religions« erhobenen Daten zeigen mit Blick auf die drei oben genannten unterschiedlichen Formen des Engagements (Öffentlichkeitsarbeit, ›Materialisierung‹ und Werteverbreitung) folgende Tendenzen des ›Ergrünens‹: Im Bereich öffentlicher Kampagnen werden von einigen Dachorganisationen Informationen zur Nachhaltigkeit verbreitet. Die Wirkung dieser Verlautbarungen muss aber als begrenzt eingeschätzt werden. Das unterschiedliche ökologische Engagement religiöser Gemeinschaften lässt sich weniger auf Differenzen bezüglich der theologischen Ausrichtung, sondern wesentlich auf das Verhältnis zur Gesellschaft zurückführen. Mit den Landeskirchen sind jene Religionen aktiver, die stärker in die Gesellschaft integriert sind (Stolz und Huber 2014). Die starke Integration dieser Kirchen in die Gesellschaft lässt sich 120
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auf ihre lange Tradition und die (im Vergleich zu den anderen Religionen) hohe Mitgliederanzahl zurückführen. Durch die öffentlich-rechtliche Anerkennung seitens des Staates genießen sie auch verschiedene Privilegien, wie etwa Steuern zu erheben oder religiöse Ausbildungen anzubieten (vgl. Stolz und Monnot 2018). Dies wirkt sich auf die Ressourcen und Strukturen aus. So verfügen die Landeskirchen über mehr Finanzen, mehr Mitarbeitende und auch eigene Gebäude. Die starke Einbindung in die Gesellschaft führt auch zu entsprechenden Erwartungen, so wird von den Landeskirchen ein ›öffentlicher Service‹ erwartet. Dazu gehört, dass sie sich aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen, wie eben Klimawandel und Nachhaltigkeit, stellen. Auch bei den Kirchen selbst liegt ein entsprechendes Selbstverständnis vor, da man sich als Abbild der Gesellschaft sieht und den verschiedenen Erwartungen gerecht werden möchte. Für die übrigen religiösen Gemeinschaften stellt sich die Situation gänzlich anders dar. Zum einen verfügen sie sowohl finanziell als auch personell über weniger Ressourcen. Dadurch müssen sie klare Prioritäten setzen. In den Interviews betonten die Vertreter*innen der muslimischen, jüdischen und evangelisch-freikirchlichen Gemeinden, dass der Mangel an diesen Ressourcen ein verstärktes Engagement für die Nachhaltigkeit verhindert. Dies sei erst möglich, wenn die laufenden Kosten gedeckt seien. Ein Vertreter einer muslimischen Gemeinde bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: »Umweltschutz ist so ein, ist so ein Thema für Wohlhabende. Wenn man alle Themen absolviert hat, wenn man alles, wenn man keine finanziellen Schwierigkeiten hat, […] dann kann man sagen: Okay, jetzt können wir uns auch diesem Thema widmen.« Auch besteht gegenüber den übrigen religiösen Gemeinschaften eine andere Erwartungshaltung als gegenüber den Landeskirchen, sowohl seitens der Gesellschaft wie auch seitens der eigenen Anhänger*innen. So werden andere Aufgaben (religiöse Kernarbeit, 121
Fabian Huber, Jens Köhrsen
soziale Fürsorge, Integration, Diskriminierung) priorisiert, da sie den Erwartungshaltungen der eigenen Anhänger*innen eher entsprechen. Das ausbleibende Engagement ist also nicht einem grundsätzlichen Desinteresse am Thema geschuldet, sondern dem Umstand, dass andere Herausforderungen angesichts der knappen Ressourcen priorisiert werden müssen.
Fazit Betrachtet man das ökologische Engagement religiöser Gemeinschaften aus der Perspektive eines Ergrünens von Religion, lässt sich zweierlei festhalten. Erstens scheinen lokale religiöse Gemeinschaften das Engagement ihrer Dachverbände nur in geringem Maße zu übernehmen und als Scharniere in der Übertragung auf die Anhänger*innen zu fungieren. Zweitens stehen die Ergebnisse in Diskrepanz zu den in der Perspektive des Greening postulierten Unterschieden zwischen den religiösen Gemeinschaften. Beim als vergleichsweise schon sehr ›grün‹ angesehenen Buddhismus, liess sich kein erhöhtes Engagement im Umweltbereich feststellen. Im Gegenteil, gerade von den Vertreter*innen buddhistischer Gemeinschaften wurde in den Interviews betont, dass Fragen zur ökologischen Nachhaltigkeit nicht die Aufgabe von Religion sei. Ein vorangeschrittenes Greening bei den mainline-Christen hingegen ließ sich auch auf der Ebene lokaler Gemeinschaften bestätigen. Dies ist jedoch nicht auf die christliche Tradition oder Verlautbarungen der Dachverbände zurückzuführen. Vielmehr hängt das erhöhte Engagement mit der Ressourcenausstattung der einzelnen Gemeinschaft und den gesellschaftlichen Erwartungen an diese zusammen. Schlussendlich scheinen der Kontext und die Integration einer religiösen Gemeinschaft in die Gesellschaft der entscheidende Faktor für ein Engagement in Richtung eines Wandels zu ökologischer Nachhaltigkeit zu sein.
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Das Ergrünen von Religionen
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Praxistheorie Ansätze sozialer Praktiken am Beispiel der Nachhaltigkeit akademischen Lernens und Lehrens Angela Pohlmann
1. Warum lassen sich soziale Praktiken nicht so einfach transformieren? Die als notwendig erachteten Transformationen hin zu mehr Nachhaltigkeit werden unsere Gesellschaften grundlegend verändern. Neben der Makroebene der Politik und des Marktes sowie der Mesoebene von Organisationen und anderen Gruppierungen betrifft das Transformationserfordernis auch die Mikroebene individueller Lebensstile. Eine sich hieraus ergebende Aufgabe sozialwissenschaftlicher Forschung ist es, alle Bereiche individuellen Lebens im Hinblick auf ihr Veränderungspotential zu erforschen. Bislang hat sich wenig an dem von Elizabeth Shove 2010 kritisierten Umstand geändert, dass in der öffentlichen Diskussion über Nachhaltigkeits-Transformationen Ansätze dominieren, die auf der Annahme beruhen, dass Menschen ihr Verhalten ändern werden, wenn sie Zugang zu den richtigen Informationen, zu effizienten Technologien und/oder finanzielle Anreize erhalten (Shove 2010). Theorien sozialer Praktiken dagegen zeichnen ein anderes Bild menschlichen Handelns und der Möglichkeiten von Verhaltensänderungen. Sie gehen davon aus, dass Wissen bzw. Informationen und die Verwendung von Technologien zumeist in Form alltäglicher Routinen auftreten. Diese Routinen wiederum sind auf vielfältige Weise eingebettet in komplexe 127
Angela Pohlmann
soziale Verhältnisse und Erwartungen, die von den Handelnden oftmals nicht-nachhaltiges Verhalten erfordern. Ausgehend von diesen Annahmen sollen – nach einer Darstellung des Falles akademischen Lernens – praxistheoretische Ansätze verwendet werden, um darzustellen, welche Elemente sozialer Praktiken dazu führen, dass Menschen ihr Verhalten nicht oder nur langsam ändern und welche Rolle die vielfältigen und komplexen gesellschaftlichen Verhältnisse und Erwartungen dabei spielen.
2. Der Fall: Akademisches Lernen und Lehren In den letzten Jahren hat es einige Veränderungen in universitären Seminarräumen gegeben. Immer mehr Studierende zücken nicht Block und Stift, wenn sie im Seminarraum ankommen, sondern öffnen ihre Laptops. Gut ausgestattete Seminarräume sind nicht mehr auf Tafeln angewiesen, sondern bieten Dank Smartboards neue Möglichkeiten des Lehrens und Lernens. Beamer gehören zur Grundausstattung eines jeden Raums. Diese Gegenstände haben die sozialen Praktiken universitären Lehrens und Lernens verändert. Dies bietet neue Möglichkeiten, bspw. für IT-gestütztes Lernen in globalen Netzwerken. Dabei werden Fragen nach dem (Nicht-)Vorhandensein von (genügend) Steckdosen und Internetverbindungen zunehmend von praktischer Bedeutung für das Gelingen einer Lehrveranstaltung. Während all diese Veränderungen nicht Ergebnis einer einheitlichen Zielvorgabe sind, sondern aus dem Zusammenspiel vielfältiger sozialer Prozesse resultieren (u.a. Technisierung, Globalisierung, veränderte Kommunikationsformen und Lehrerwartungen), haben sie eine – zumeist wenig beachtete – Grundlage: Energie. Scheint es sich beim akademischen Lernen zunächst um ein verhältnismäßig kleines Problem im Hinblick auf den Energieverbrauch und die daraus resultierenden Treibhausgase zu handeln, muss doch festgehalten werden, dass es bei der vielbesprochenen Transformation hin zu nachhaltigen 128
Praxistheorie: Ansätze sozialer Praktiken
Gesellschaften letztlich darum geht, nicht nur einzelne deutlich sichtbare Problemverursacher (Flugreisen, SUVs, Skihallen) zu brandmarken, sondern eine grundlegende Veränderung all der kleinen, alltäglichen Verhaltensweisen herbeizuführen, die zu einem Ausstoß von CO2 in die Atmosphäre führen. Damit werden auch soziale Praktiken des Lehrens und Lernens zu einem Bestandteil der notwendigen Veränderungen moderner Gesellschaften hin zu (mehr) Nachhaltigkeit.
3. Theorien sozialer Praktiken Die den Kulturtheorien zuzuordnenden Theorieansätze (Reckwitz 2004) sozialer Praktiken gehen davon aus, dass menschliches Handeln zumeist in Form sozialer Praktiken stattfindet. Praktiken sind hochgradig routinisierte Handlungen bzw. Handlungskomplexe. Der hohe Grad an Routinisierung bedeutet, dass Praktiken größtenteils unbewusst ausgeführt werden. Wir müssen nicht speziell darüber nachdenken, was wir da tun, wie oder warum wir es tun. Praxistheoretische Ansätze »entwirren« soziale Praktiken, indem sie sie in ihre einzelnen Elemente zerlegen. Bislang gibt es nicht ›die‹ Praxistheorie, sondern vielmehr eine Anzahl von Ansätzen, die zum einen durch gewisse »Familienähnlichkeiten« (Hillebrandt 2014: S. 7; Reckwitz 2003: S. 284) zum anderen durch starke Bezugnahme der Autor*innen aufeinander zusammenhängen. Diese »Familienähnlichkeiten« finden sich in Vorstellungen von Praktiken als kollektiv geteilte, materiell vermittelte körperliche Aktivitäten (Schatzki 2012: S. 13; Reckwitz 2002: S. 247). Konkret lassen sich folgende Übereinstimmungen in den Ansätzen finden: die Relevanz körperlicher Aktivitäten, die Annahme von geteilten symbolischen Wissensbeständen, die Betonung von praktischen Wissensformen und die Rolle materieller Artefakte. Erstens werden soziale Praktiken in körperlichen Aktivitäten, den »bodily doings and sayings« (Schatzki 2002: S. 71), von 129
Angela Pohlmann
Akteur*innen ausgeübt. Dies bedeutet, dass der Fokus praxistheoretischer Ansätze auf dem körperlichen Tun liegt. Praktiken bestehen dabei zumeist aus einer Aneinanderreihung von Aktivitäten. So beinhalten soziale Praktiken des akademischen Lernens, bspw. einen Text zu finden, zu lesen und zu bearbeiten, verschiedene körperliche Handlungen. Obwohl Praktiken in den körperlichen Aktivitäten von Akteur*innen ausgeübt werden (Schatzki 2002: S. 72), sind Akteur*innen nicht der Ausgangspunkt der Analyse, da »practices logically and historically precede individuals, implying that practices, so to speak, recruit practitioners« (Røpke 2009: S. 2492). Diese Annahme ist eng verflochten mit dem zweiten Element von Praktiken: Soziale Praktiken werden, zweitens, als unhintergehbare soziale Phänomene verstanden: »[I]t embraces multiple people. The activities that compose it, moreover, are organized.« (Schatzki 2012: S. 13) Praxistheoretiker*innen gehen davon aus, dass soziale Handlungsfähigkeit weder durch Koordination individueller Interessen noch durch die Existenz von verhaltensdeterminierenden Strukturen entsteht. Vielmehr teilen Menschen eines sozialen Zusammenhangs »jene kognitiven Unterscheidungs- und Typisierungsordnungen […], welche den Handelnden Bedeutungszuschreibungen und damit eine symbolische Organisation ihrer jeweiligen Wirklichkeit ermöglichen« (Reckwitz 2004: S. 315). Die Träger*innen einer Praktik teilen eine bestimmte Art, die Welt wahrzunehmen und Ereignisse einzuordnen. Auf dieser geteilten Realitätskonstruktion beruhen sozial geteilte Praktiken als adäquat geltende ›Antworten‹ auf bestimmte wahrgenommene Situationen. Hieraus ergeben sich soziale Erwartungen. Wir erwarten, dass Menschen sich in bestimmten (als solchen wahrgenommenen bzw. definierten) Situationen auf eine bestimmte Weise verhalten. Obschon Abweichungen normal sind (wie genau ein*e Studieren-
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Praxistheorie: Ansätze sozialer Praktiken
de*r sich einen Text aneignet bzw. diesen bearbeitet), bedeuten zu große Abweichungen starke soziale Irritationen.1 Sich abgrenzend von »intellektualistischen« (Reckwitz 2002) Ansätzen, verstehen Praxistheoretiker*innen Wissen drittens nicht als abstrakte, in Büchern, Diskursen oder Kommunikationen eingeschriebene Codes, sondern als eng verknüpft mit dem (ausführenden) Körper und Geist (Reckwitz 2002: S. 254). Die Bedeutung einverleibten Wissens zeigt sich in der Vielfalt von Handlungen, bei denen wir uns der dafür nötigen körperlichen Aktivitäten nicht bewusst sind. Aktuelle Ansätze sozialer Praktiken betonen viertens die Unabdingbarkeit materieller »Instanzen« (Reckwitz 2003: S. 290). Die Verwobenheit mit materiellen Instanzen ergibt sich zum einen aus der Körperlichkeit von Menschen (ebd.). Zum anderen gibt es kaum Praktiken, die nicht intensiv mit materiellen »Zutaten« (Schatzki 2010: S. 123) verwoben sind: kein Fußballspiel ohne Fußball, kein Essen ohne Nahrungsmittel, kein universitäres Lernen ohne Texte, Seminarräume (und ihre Einrichtungen) oder Bibliotheken (Shove und Pantzar 2005: S. 45; Reckwitz 2002: S. 253). In einer Praktik werden diese verschiedenen Elemente sinnhaft miteinander in Bezug gesetzt. So besteht eine Praktik zumeist aus verschiedenen körperlichen Aktivitäten, materiellen Artefakten und Bedeutungen, die miteinander in Beziehung gesetzt werden.
4. Soziale Praktiken des akademischen Lehrens und Lernens In diesem Abschnitt werden zwei Aspekte nicht-nachhaltigen Verhaltens anhand praxistheoretischer Konzepte diskutiert: in 1 | Dies wird in aktuellen Praktikenansätzen als Unterschied zwischen »practices as entities« und »practices as performances« gefasst (Røpke 2009: 2491f.).
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Angela Pohlmann
den Praktiken selbst angelegte Trägheitsmomente und gesellschaftliche Komplexitäten, welche immer Teil der Ausübung von Praktiken sind. Aus praxistheoretischer Sicht werden soziale Praktiken universitären Lernens als organisierte Sets aus körperlichen Aktivitäten – u.a. Lesen, Schreiben, den PC bedienen sowie auch in die Bibliothek bzw. zu Veranstaltungen gehen – verstanden. Diese Aktivitäten sind untrennbar mit materiellen Artefakten verwoben. Klassischerweise sind dies Bücher, Bibliotheken, Veranstaltungsräume und Schreibutensilien. Heute quasi unabdingbar sind weiterhin Laptops, Beamer und das Internet. Diese Artefakte sind auf vielfältige Arten miteinander und mit weiteren Artefakten verbunden. Im Zusammenhang dieses Artikels ist dabei insbesondere die Abhängigkeit der genannten Artefakte von Energie und damit von (fossilen) Energieträgern und CO2 emittierenden Prozessen relevant. Lesen und Schreiben sowie das Betreten einer Bibliothek und/oder eines Veranstaltungsraumes sind stark verkörperlichte Wissensformen. Wir denken nicht bewusst darüber nach, wie wir lesen, schreiben oder tippen, wir tun es. Angeleitet werden diese sozialen Praktiken durch geteilte Vorstellungen darüber, das Lernen als sinnhafte Reaktion auf die als ›Studium‹ sozial definierte Situation gilt. Weiterhin beinhalten diese sozialen Erwartungen auch Vorstellungen davon, was ›gute‹ Studierende machen: Texte lesen, mitschreiben, Essays, Referate oder Hausarbeiten verfassen und dafür in Bibliotheken recherchieren, Exzerpte anfertigen und eigene Texte erstellen. Nahezu alle der hierfür notwendigen Aktivitäten bzw. Nutzungen von materiellen Artefakten benötigen Energie: Laptops und Internet ebenso wie die Nutzung universitärer Einrichtungen, welche beleuchtet und beheizt werden müssen. Das Besondere an der Energienutzung ist, dass niemand Energie an sich verbraucht. Energiekonsum resultiert daraus, dass Menschen 132
Praxistheorie: Ansätze sozialer Praktiken
Dinge tun (Shove und Walker 2014). Menschen schalten ihren Laptop an, um zu arbeiten – nicht um Energie zu verbrauchen. Sie nutzen Bibliotheken, ohne zu wissen, wie viel Strom die Lampen und Computer verbrauchen oder wie viel Energie die Wärmeversorgung des Gebäudes benötigt. Obwohl Energie in nahezu allen Praktiken vorkommt, ist ihr Verbrauch etwas, dessen wir uns nicht bewusst sind, während wir – meistens unbewusst – unsere alltäglichen Routinen ausführen. Hieraus resultieren die Trägheitsmomente energiebezogener Praktiken. Selbst wenn wir Informationen über energieeffizientes bzw. nachhaltiges Verhalten haben, heißt dies nicht, dass uns bewusst ist, wann wir in unseren täglichen Routinen Energie verbrauchen bzw. wie wir unser Verhalten ändern können. Selbst wenn sich Individuen der Notwendigkeit von Verhaltensänderungen bewusst sind, bedeutet dies noch lange nicht, dass dies innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse möglich ist. Die notwendigen Praktiken, um ein Studium zu absolvieren, stehen nicht unter dem Vorbehalt der Nachhaltigkeit. Ganz im Gegenteil ist die ökologische Nachhaltigkeit akademischen Lernens ein untergeordnetes Thema. Worum es beim universitären Lernen ›wirklich‹ geht, sind andere Dinge. Wissenserwerb oder die Vorbereitung auf einen Beruf stehen dabei ›über‹ ökologischer Nachhaltigkeit. Studierende müssen gesellschaftlichen Erwartungen an (Aus-)Bildung genügen. Indem sie diesen Ansprüchen genügen, werden junge Menschen zu erfolgreichen Studierenden. Dies beinhaltet, dass sie das Risiko minimieren, arbeitslos zu werden und hierdurch das Solidarsystem zu belasten – eine gesellschaftliche Erwartung, die aus der Perspektive sozialer und wirtschaftlicher Nachhaltigkeit Relevanz hat. Neben Laptops und Computern sind Büchereien ein essentieller Bestandteil akademischen Lebens und Lernens. In den 133
Angela Pohlmann
letzten Jahren haben Universitätsbüchereien ihre Öffnungszeiten verlängert. Bspw. hat die rechtswissenschaftliche Bibliothek der Universität Hamburg nun wochentags von 7 bis 23 Uhr geöffnet. Dies ist einerseits begrüßenswert. Es berücksichtigt Erkenntnisse über individuelle Lernkapazitäten sowie den Biorhythmus. Weiterhin wird dabei – endlich – dem Umstand Rechnung getragen, dass viele Studierende arbeiten müssen, um ihr Studium finanzieren zu können, und nicht in der Lage sind, Bibliotheken zu konventionellen Zeiten zu benutzen. Auf der anderen Seite hat diese Entwicklung Auswirkungen auf den Energiebedarf universitärer Bibliotheken. Vergleichbar mit Bürogebäuden, deren Nutzer*innen flexible Arbeitszeiten bzw. Homeoffice-Optionen haben, bedeutet dies, dass Beleuchtung, Heizung sowie Computer, Scanner, Drucker und andere Geräte länger bzw. durchgängig eingeschaltet bleiben. Viele dieser Energieservices werden auch in off-peak-Phasen (spät am Abend, in der Nacht, früh am Morgen) im gesamten Gebäude beibehalten, wenn die Nutzer*innenzahl gering ist (De Decker 2016). Dies führt dazu, dass der Energiekonsum von universitären Bibliotheken in den letzten Jahren drastisch gestiegen ist (Shove 2018). In eine Energieberechnung einbezogen werden müssen außerdem An- und Abreisewege. Hier sollen weder die verlängerten Öffnungszeiten von Universitätsbibliotheken noch der Einsatz von Laptops, Beamern, Internet und Smartboards im Seminarkontext kritisiert werden. Vielmehr soll das Beispiel die Komplexität und Ambivalenz von Gesellschaften aufzeigen. Während die geschilderten Praktiken und ihre materiellen Verflechtungen im Hinblick auf die an universitäres Lernen geknüpfte soziale Erwartungen mehr als sinnvoll sind, werden eben diese kritisierbar, wenn man sie aus der Perspektive nachhaltigen Handelns betrachtet. Das Problem ist, dass beide (und noch einige andere) Erwartungen sowohl konstant wie auch parallel bzw. überlappend vorhanden sind. Nicht 134
Praxistheorie: Ansätze sozialer Praktiken
alle Studierenden können Bibliotheken zu den Kernzeiten nutzen. Fast alle Studierenden soll(t)en oder müssen jedoch im Laufe ihres Studiums Bibliotheken nutzen, um den Anforderungen des universitären Systems zu genügen.
5. Fazit: Darum lassen sich menschliche Praktiken nicht so einfach transformieren! Theorien sozialer Praktiken eröffnen einen anderen Blick auf Verhalten und Verhaltensänderung. Sie machen Energiekonsum als unsichtbares Element zumeist unbewusst ausgeübter täglicher Handlungen erkennbar. Wie tun sie das? Indem sie aufzeigen, dass Energiekonsum nicht das Ergebnis von Wissen oder technischen Geräten allein ist. Vielmehr ist Energiekonsum eingebettet in ein Netz aus sozialen Erwartungen und Verständnissen, materiellen Arrangements und Wissen. Weiterhin zwingen praxistheoretische Ansätze uns, ein tieferes Verständnis davon zu entwickeln, »what energy is used for« (Cass und Shove 2017: S. 2; Shove und Walker 2014). Praxistheoretische Ansätze verdeutlichen, dass Transformationen hin zu nachhaltig(er)en Gesellschaften nicht gelingen werden, wenn Nachhaltigkeit lediglich als Ergebnis rationaler Verhaltensentscheidungen von Individuen verstanden und adressiert wird (Shove 2010: S. 1274). Bei dem gewählten Beispiel des universitären Lernens in Büchereien handelt es sich um eines, bei dem der durch das Individuum verursachte Energiekonsum scheinbar (relativ) gering ausfällt. Wie De Decker (2016) jedoch ausführt, sollte man sich von der scheinbaren Energieeffizienz des Ortes nicht ablenken lassen: »In conclusion, office work will always include buildings, commuting, office equipment and a communication infrastructure. The focus on the location of office work – at home, in the office, or elsewhere – conceals the real cause that impacts energy use: 135
Angela Pohlmann
the high energy use of all its components.« (De Decker 2016: o. S.) Weiterhin ist (immer wieder) daran zu erinnern, dass Transformationen hin zu nachhaltigen Gesellschaften eben nicht (nur) implizieren, einzelne deutlich sichtbar »schädigende« Artefakte bzw. Verhaltensweisen zu verändern. Die notwendigen Transformationen bedingen vielmehr grundlegende Veränderungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen und in allen Bereichen. Nahezu jeder Lebensbereich und Aktivitätszusammenhang von Menschen in modernen Gesellschaften muss dabei betrachtet und verändert werden. Vergleichbar den Praktiken universitären Lehrens und Lernens wird deutlich, dass auch wenn Individuen sich der klimaschädlichen Auswirkungen ihres Handelns bewusst sind, dieses Ziel in Einklang mit anderen Interessen und Notwendigkeiten gebracht werden muss. Weiterhin wird anhand von praxistheoretischen Analysen deutlich, dass eine Veränderung der entsprechenden Praktiken nicht ausschließlich durch ein Mehr an Wissen oder das Bereitstellen effizienterer Technologien funktionieren kann. Der Wunsch nach Wissenserwerb, Effizienz und individuelle Karrierewünsche sind reale Bedingungen menschlichen Handelns. Ebenso prägen gesellschaftliche Zwänge und Erwartungen wie das Erfüllen von Lernanforderungen, Arbeit haben bzw. sich dafür (aus-)bilden, aktive Teilnahme und Vorbereitung sowie internationale Vernetzung das menschliche Verhalten auf nicht zu vernachlässigende Weise. Basierend auf diesen Einsichten praxistheoretischer Ansätze ist somit zu konstatieren, dass wir das Ziel einer nachhaltigen Gesellschaft nicht erreichen werden, solange technokratische oder Rational-Choice-basierte Ansätze die Diskussion beherrschen. Praxistheorien zeigen, dass Wissen und Technologien zwar Bestandteile von Praktiken sind, diese jedoch nicht beherr136
Praxistheorie: Ansätze sozialer Praktiken
schen. Wir müssen den unsichtbaren und unbewussten Charakter von Energiekonsum sowie die ambivalenten und komplexen Anforderungen, die Menschen in ihren täglichen Leben miteinander aushandeln, berücksichtigen.
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Science & Technology Studies Nachhaltigkeit als problemorientierte Forschung Stefan Böschen Nachhaltigkeit stellt eine Form zukunftssichernden gesellschaftlichen Problemlösens dar. Diese Form des Problemlösens ist kein neues Phänomen, sondern weist eine schon lange Geschichte auf – und diese Geschichte zeigt auffallend gleichbleibende Lösungsstrategien: Externalisierung von Problemen, Zentralisierung und Bürokratisierung (Abs. 1). Um diese Geschichte und ihre Entwicklung besser zu verstehen, lässt sich diese unter der Perspektive problemorientierter Forschung rekonstruieren, die zunächst einmal eingeführt werden soll (Abs. 2). Dann zeigt sich jedoch, dass die Perspektive problemorientierter Forschung gesellschaftstheoretisch erweitert werden muss, um Entwicklungen der Gegenwart adäquat zu entziffern (Abs. 3). Strategien zur Lösung von Nachhaltigkeitsproblemen sind kontinuierlich kritisch zu reflektieren. Denn: Nachhaltige Lebensführung in nicht-nachhaltigen gesellschaftlichen Strukturen ist unmöglich (Abs. 4).
1. Nachhaltigkeit als zukunftssicherndes gesellschaftliches Problemlösen Nachhaltigkeit ist eine Idee mit einer langen Geschichte – und einer ungewissen Zukunft. Ihre Ursprünge lassen sich bis in die Frühe Neuzeit zurückverfolgen (vgl. Radkau 2007; Grober 2010). Venedig, 1452. In diesem Jahr, zum Zeitpunkt der größten territorialen Machtentfaltung Venedigs, wurde die Behörde »Provveditore ai boschi« (Wald-Inspektion) gegründet und 1476 mit 139
Stefan Böschen
einer neuen Forstgesetzgebung ein umfassendes Forstmanagement eingesetzt. Zugleich wurde der Verbrauch an Holz massiv gesteigert. Schließlich versagte das Ressourcenmanagement. Eine ähnliche Geschichte gibt es aus England zu erzählen. Dort stellte sich mit der Expansion als Seemacht im 17. Jahrhundert eine Holzknappheit ein. Die damals junge Royal Academy veröffentlichte 1664 ihren ersten Bericht: Sylva. Wald. Die zentrale Botschaft bestand darin: »manage woods discreetly« – die Holzarten ihrer jeweiligen Eigenart nach behutsam managen. Das bedeutete konkret, jeden Aspekt im Blick zu haben: Pflanzen, Eigenarten, Nutzungsarten und schließlich Ernte. Die Lösung war eine andere: Rohstoffe wurden weltweit eingesammelt. Auffallend ist, dass in beiden Fällen Problemlösungsstrategien genutzt wurden, wie wir sie heute kennen: Externalisierung von Problemlagen, Expansion und Substitution sowie Zentralisierung und Bürokratisierung (mit der Nebenfolge der Vernachlässigung lokalen Wissens). Beide Geschichten offenbaren ein grundsätzliches Problem: Optimierungsversuche von Nutzungsformen im Rahmen vorgegebener nicht-nachhaltiger Systemstrukturen münden trotzdem in Krisen. Das lässt sich bei ganz vielen Verlaufsmustern der Nutzung von Rohstoffen nachzeichnen, die dann eine sog. Glockenkurve annehmen (vgl. Bardi 2013). Wenn wir den Blick in die Gegenwart richten, dann zeigt sich, dass Nachhaltigkeit explizit als gesellschaftliche Deutungsperspektive genutzt wird und breit etabliert ist (Grunwald 2016). Dadurch entstehen aber neue Herausforderungen, wobei man eine pointiert herausgreifen und als Spannung zwischen Einzelpraktiken und Strukturen beschreiben kann. Nicht-nachhaltige Einzelpraktiken in kleiner Zahl mögen mit Blick auf die Strukturbildung bzw. einen Strukturwandel unkritisch erscheinen, verbreiten diese sich jedoch vielfältig und zugleich rasch, dann können sie zu einem Problem werden: Z.B. werden 140
Science & Technology Studies
in der Zwischenzeit geschätzt 320.000 Einwegkaffeebecher pro Stunde verbraucht, rund 2,8 Mrd. im Jahr, macht 40.000 Tonnen Einwegbechermüll im Jahr. Klingt zunächst viel. Aber das Problem gilt es zu kontextualisieren. Dann zeigt sich: In Relation zum jährlichen Gesamtaufkommen an Verpackungsmüll in Deutschland – das sind 16,6 Mio. Tonnen – nimmt sich die Zahl wiederum vergleichsweise klein aus. Die Nutzung von Mehrwegbechern ist schon eine sinnvolle Tat – aber das bliebe symbolisch, betrachtete man nicht das große Bild nicht-nachhaltigen Aufkommens von Verpackungsmüll im Ganzen. Dieser Überfluss kippt zu einem Knappheitsproblem von Umweltressourcen, wenn Meeresverschmutzung und Plastikmüll in ihrer Verknüpfung sichtbar bestellt werden. Diese knappen Skizzen verdeutlichen zweierlei. Zum einen treten Fragen der Nachhaltigkeit vielfach im spannungsreichen Kontext gesellschaftlicher Knappheits-Überfluss-Probleme auf, die eine Lösung erfordern. Dabei können die Probleme aber nicht einfach als gegeben angesehen werden, sondern sie müssen vielmehr als Gegenstand eines fortlaufenden Prozesses ineinander verschränkter Akte der Definition und Lösung von Problemen angesehen werden. Dabei wirken offenbar ganz unterschiedliche soziale, ökonomische, politische und kulturelle Kräfte ineinander. Zum anderen zeigte sich schon bei den kurzen Beispielen ein Spannungsverhältnis zwischen einer wissenschaftlich formulierten Perspektive des Problemlösens und den sozialen, politischen und ökonomischen Dynamiken des Problemlösens. In der Zwischenzeit haben sich durch die Wissensvergesellschaftung in mehrerlei Hinsicht die Kräfteverhältnisse verschoben. Erstens hat sich Wissen, aber auch der methodische Modus der Wissensproduktion in der Gesellschaft, breit verteilt, womit Wissenschaft in der gesellschaftlichen Wissensordnung tendenziell ent-hierarchisiert wurde. Zweitens werden damit die inhärenten Wertbezüge von Wissen für gesellschaftliches 141
Stefan Böschen
Problemlösen sichtbar und zum Gegenstand von öffentlich-politischen Konflikten. Deshalb wird in diesem Aufsatz die These skizziert, dass problemorientierte Forschung ein wesentliches Merkmal von Nachhaltigkeit darstellt.
2. Problemorientierte Forschung Vor dem Hintergrund der Debatte um einen neuen Modus der Wissensproduktion (vgl. Hansen 2009) wurde im Kontext der Technikfolgenabschätzung (TA) der Typus problemorientierter Forschung als Leitorientierung formuliert. Der Zielpunkt bestand darin, gesellschaftliche Problemlagen in Relation zu akademischer Wissenschaft zu bringen und nach der Form von Forschung zu fragen, die dabei entsteht. Leitend war die Erkenntnis, »dass trotz aller Unsicherheit der Wissensproduktion die Wissenschaft der einzig legitime Weg ist, Wissen in der modernen Gesellschaft zu erzeugen. Nicht die Verkündung gesicherten Wissens ist ihre Aufgabe, sondern Management von Unsicherheit. Kern dieser Sichtweise ist die Kommunikation über die Unsicherheit und die Revidierbarkeit der eigenen Wissensproduktion im Austausch mit Öffentlichkeit und Politik.« (Bechmann und Stehr 2000: S. 120) Bechmann und Frederichs nennen folgende Aspekte, die für die Konstituierung dieses spezifischen Forschungstypus wichtig wurden (Bechmann und Frederichs 1996: S. 17ff.): Problemorientierte Forschung ist »issue-abhängig«: D.h die Bereitstellung von Forschungsressourcen richtet sich nach der öffentlich wahrgenommenen Relevanz des (gesellschaftlichen) Problems, sie richtet sich nach der Problemdefinition der politischen Agenden sowie der darauf aufbauenden Organisation der Forschungsverbünde (projektförmige Forschung); so entsteht ein spezifischer Forschungstypus, der auch die Rolle sowie die Karriereentwicklungen der Wissenschaftler*innen stark verändert. 142
Science & Technology Studies
Problemorientierte Forschung ist notwendigerweise interdisziplinär und/oder transdisziplinär: Während in der disziplinär organisierten Wissensproduktion die Forschungsfragen unter Bezug auf den jeweiligen Forschungsstand entwickelt werden, verweisen gesellschaftliche Problemlagen in der Regel auf eine hohe Komplexität, die mit einer disziplinären Perspektive nicht (mehr) erfasst werden kann, sondern viele Perspektiven und Lösungswege auf den Erkenntnisgegenstand erforderlich macht. Problemorientierte Forschung ist partizipativ und inklusiv: Probleme und Risiken moderner Gesellschaften haben eine Komplexität angenommen, dass neben dem (Erfahrungs-)Wissen ebenso Lernprozesse von Menschen zu berücksichtigen sind, um die Probleme in ihrer Gesamtheit besser verstehen und bearbeiten zu können. Problemorientierte Forschung ist reflexiv: D.h., sie muss sich immer wieder ihrer Grundlagen versichern. Diese Selbstversicherung bezieht sich einerseits auf die eigenen epistemischen Grundlagen dieses Forschungstypus und andererseits auf die Frage nach dem Einbezug der Forschenden, bzw. des Forschungsanliegens selbst, in die Problem- und Lösungskontexte. Alle Aspekte verweisen zum einen auf epistemische Besonderheiten problemorientierter Forschung. Dem »Umgang mit Unsicherheit des Wissens« sowie Problemen von Nichtwissen kommt eine exponierte Rolle zu (Gross und McGoey 2015; Grunwald 2010). Zum anderen verfährt problemorientierte Forschung öffentlich. Denn sie nimmt Problemdefinitionen, die in der Gesellschaft zirkulieren, nicht als gegeben hin, sondern sie untersucht diese im Gegenteil auf ihren Gehalt zur Beschreibung von Problemen – und die inhärenten Begrenzungen. Schließlich verfährt problemorientierte Forschung in einer besonderen Weise reflexiv. Das Problem lässt sich in den Worten der dänischen Dichterin Inger Christensen bildlich plastisch 143
Stefan Böschen
machen: Das Auge, das seine Netzhaut nicht sehen kann. Die schwierige Aufgabe besteht darin, die eigene wissenschaftliche Operationsweise selbst zum Gegenstand systematischer Reflexion zu machen. In der Zwischenzeit lässt sich genau dies aber beobachten, indem etwa die implizite Normativität von TA explizit zum Gegenstand der Theorie von TA gemacht wird (vgl. dazu den Schwerpunkt »Normativität in der Technikfolgenabschätzung« in der Zeitschrift TATuP, 2019).
3. Nachhaltigkeit als problemorientierte Forschung – neue Horizonte entwickeln Schon 1713 betonte Carlowitz in seinem Werk »Sylvicultura oeconomica« die Behutsamkeit der Nutzung, »daß es eine continuirliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe […]« (zit.n.: Grober 2010: S. 116). Weltweit sichtbar wurde der Begriff mit dem Brundtland-Bericht (Hauff 1987: S. 46): »Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.« Dabei wurden Fragen inter- und intragenerationellen Gerechtigkeit verzahnt. In der Zwischenzeit hat die Konjunktur dieses Konzeptes dazu geführt, den starken Impuls zu veralltäglichen, der von dem Brundtland-Bericht ursprünglich ausging, und damit abzuschwächen: Nachhaltigkeit allerorten. Zugleich verschärfen sich die Deutungsprobleme. Armin Grunwald (2016) interpretiert in seinem Buch »Nachhaltigkeit verstehen« Nachhaltigkeit als eine regulative Idee im Sinne Kants. Die Praktiken eines Doing Sustainability erscheinen so vielschichtig, dass sie sich einem Begriff verweigern. Wenn auf der einen Seite die Etablierung von Nachhaltigkeit als Leitbild in der Gesellschaft zu einer breiten Ausdifferenzierung von Praktiken des »Doing Sustainability« geführt hat – auf der anderen Seite problemorientierte Forschung in der 144
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Zwischenzeit ihre normativen Grundlagen zu reflektieren lernt, dann sind das genau die Voraussetzungen, um Nachhaltigkeit als problemorientierte Forschung zu verstehen. Denn problemorientierte Forschung ist nun in der Lage, die normativen wie strukturellen Implikationen einzelner Handlungsmuster genauer zu entziffern. Und dies ist gerade bei gegenwärtigen Problemlagen mit ihrer Spannung zwischen Einzelhandlung und Strukturbildung von besonderer Bedeutung. Dies zeigte sich schon beim einleitend genannten Beispiel der Einwegkaffeebecher, aber Analoges gilt für viele Beispiele, etwa das leitbildartige Urban Gardening. Als Aktivität der sozialen Nachhaltigkeit, zur Inklusion, zum Wiederentdecken von Wahrnehmungs- und Erlebnisformen oder auch als Gegen-Modell einer industrialisierten Landwirtschaft nicht grundlos gefeiert, stellt sich dennoch die Frage, ob diese Aktivität, als urbane Landwirtschaft generalisiert, immer noch als nachhaltig anzusehen ist. Denn der Verbrauch von Düngemitteln und Energie in Relation zum Ertrag scheint dabei deutlich höher zu sein. Von daher kann diese Praktik nicht beliebig kopiert und verallgemeinert werden, ohne nicht durch den gesteigerten Verbrauch von Ressourcen die umweltbezogene Nachhaltigkeit zu schmälern. Diese knappen Beispiele verdeutlichen die entscheidende Bedeutung von Perspektivität bei der Betrachtung von Nachhaltigkeitsproblemen. Perspektivität verdeutlicht das Verständnis von Nachhaltigkeit als problemorientierter Forschung. Perspektivität gilt es bei der je konkreten Realisierung von Praktiken des »Doing Sustainability« im Spannungsverhältnis von Strukturen und Einzelhandlungen sichtbar zu machen. Das ist ein erster Schritt, der durch den nächsten einer Analytik für die Re-Konstruktion der Problemkonstruktion gefolgt werden muss. Dazu ist aber das Repertoire problemorientierter Forschung weiter zu entwickeln, um die Besonderheiten zukunftssichernden gesellschaftlichen Problemlösens, welcher in der Gegenwart als Leit145
Stefan Böschen
bild »Nachhaltigkeit« thematisiert wird, zu erfassen. Dabei erscheinen insbesondere drei Perspektivierungen von Bedeutung: erstens die Perspektive, Transformationen als Feldtransformationen zu analysieren; zweitens die Konstruktion von Problemen durch Indikatorenarbeit bzw. Indikatorenpolitik zu verstehen. Schließlich wird drittens Selbstreflexivität durch »Binnenraumreflexivität« problemorientierter Forschung erzielt. Transformation als Feldtransformation. Transformation meint einen gezielt hervorgebrachten Wandel sozialer Ordnung. Die Aufforderung zur Transformation (prominent: WBGU 2011) zielt darauf hin, gesellschaftliches Problemlösen grundlegend zu verändern, weil die bisherigen Strategien als nicht ausreichend bzw. umfassend genug angesehen werden. Typischerweise wird erwartet, dass es einen starken Regelungsakteur – insb. den Staat – gibt, welcher die notwendigen Koordinationsleistungen erbringt. Wenig überraschend erheben manche Stimmen im Diskurs den Anspruch, dass die Demokratie diese starke Koordinationsleistung nicht zu erbringen in der Lage ist. Deshalb sei sie »on hold« zu stellen (James Lovelock: »it may be necessary to put democracy on hold for a while«; zit.n.: Hulme 2012: S. 2). Vor allem müsse es möglich sein, weitreichende Maßnahmen durchsetzen zu können. Da könne der Durchgriff im Angesicht globaler Problemlagen wichtiger sein als die demokratische Legitimation. Solcherart Forderungen beruhen nicht nur auf einem naiven Regelungsverständnis, sondern unterschätzen zudem das Potential von Demokratien zur Problemlösung. Der Blickwinkel kann geweitet werden, wenn man von einer feldtheoretisch informierten Perspektive ausgeht (vgl. Böschen 2016). Denn dann geht man nicht von einem angeblich definierten Problem aus, sondern betrachtet die Dynamik des Problemlösens im Spannungsfeld von strukturellen Vorgaben und sozio-materiellen Arrangements. Diese entfalten für die Akteur*innen ein Feld von Aufforderungsmomenten, in denen 146
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diese problemkonstruktiv und problemlösend agieren und so die Definition und Lösung gesellschaftlicher Probleme als kollektives Phänomen vorantreiben. Problemkonstruktion durch Indikatorenarbeit respektive Indikatorenpolitik. Bei der Analyse von komplexen Problemen stellen Indikatoren nützliche Werkzeuge dar, um spezifische Wirklichkeitsausschnitte als Aspekt eines Problems sichtbar und zugleich auch messbar zu machen. Indikatorenarbeit kann als Tätigkeit der Selektion und Konfiguration von Indikatoren verstanden werden, die der Konstruktion von Problemen dient und die sich in Abhängigkeit von epistemischen Prämissen und kontextneutralisierenden bzw. kontextoffenen Analysenstrategien vollzieht (vgl. Böschen et al. 2019: S. 46). Kontextneutralisierende Strategien reduzieren systematisch Problemkomplexität auf ein simplifiziertes Modell von kausal bedingten Relationen, kontextoffene hingegen zielen auf die Konstruktion eines möglichst umfassenden Gesamtbildes. Typischerweise lässt sich mit der ersten Strategie eher Kontrollwissen und mit der zweiten eher Komplexitätswissen erarbeiten. Nun stellt sich bei komplexen Problemen die Herausforderung, dass die Problemgestalt ganz wesentlich davon abhängt, welche der beiden Analysestrategien zum Einsatz kommt. Typischerweise beide, aber von unterschiedlichen Gruppen. Proponenten einer Technologie nutzen vielfach eher kontextneutralisierende Strategien, wohingegen Opponenten kontextoffene zugrunde legen. Wenn von solchen Gruppen die normativen Prämissen ihres Tuns implizit gehalten werden, kann man kaum mehr von Indikatorenarbeit sprechen, sondern sollte dies eher als Indikatorenpolitik analysieren. Problemreflexivität durch Binnenraumreflexivität problemorientierter Forschung. Die Differenz von Indikatorenarbeit und Indikatorenpolitik verdeutlicht ein Problem, dem sich problemorientierte Forschung grundlegend ausgesetzt sieht. Sie muss sich fragen, was ihr spezifischer Beitrag zur Problemlösung ist. 147
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Wie kann sie sicherstellen, dass relevante normativ-politische Wertungen, welche die Arbeit von problemorientierter Forschung prägen, nicht verdeckt bleiben? Hilfreich scheint dabei die Trias von Analyse, Kritik und Gestaltung (vgl. Wendt et al. 2018) zu sein. Damit sind drei Aktivitätszentren einer Nachhaltigkeitssoziologie benannt, welche für jede Form von problemorientierter Forschung einen Rahmen darstellen. Denn durch das analytische Auseinanderziehen dieser drei Dimensionen eröffnet sich eine Binnenraumreflexivität, welche neben dem ›eingemischten Forschen‹ in den jeweiligen gesellschaftlichen Bezügen ebenso auch die Konsequenzen dieses Eingemischtseins zu reflektieren vermag.
4. Bündelung: problemorientierte Forschung und die Erfindung von Problemen Die berühmte Schlusssentenz von Adorno im Aphorismus »Asyl für Obdachlose« im Werk »Minima Moralia«: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« gewinnt ganz neue Aktualität. Es gilt, diese gleichsam als basso continuo zukunftsbejahend zu wenden – den Sinn für das Richtige zu kultivieren. Genau diesen Sinn zu kultivieren, das kann eine Perspektive problemorientierter Forschung ermöglichen. Nachhaltigkeit ist ein normatives Leitbild – und die Nachhaltigkeitsdeutungen sind nicht eindeutig, sondern vielfältig. Problemorientierte Forschung erkennt die Wertbindung an und strebt danach, diese transparent zu machen. So wird die Perspektivenabhängigkeit der Konstruktion von Problemen sowie dazu passender Lösungen anerkannt. Sichtbar wird auch: es gibt nicht das Problem, sondern eine Fülle von Optionen, Probleme zu konstruieren und zu lösen. Problemorientierte Forschung kartiert diese. Aber sie tut dies nicht im schlichten Modus der Fakten-Feststellung, sondern zeigt zugleich das Faktische als Gemachtes – in Abhängigkeit erstens von den damit jeweils verbundenen wertbezogenen 148
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Perspektiven, zweitens in Relation zu den erwartbaren systemischen Nebenfolgen bei entsprechendem Up-Scaling von singulär-lokal erprobten Lösungen. Im besten Fall geschieht die Bewertung von Angeboten der Problemdefinition und der Gestaltung von Problemlösungen in der Weise, die Kipppunkte in die Nicht-Nachhaltigkeit vorab mit zu bedenken. Von diesem Ende her denkend zeigt sich für Nachhaltigkeit als problemorientierte Forschung die Relevanz von Walther Rathenaus Einsicht: »Die Erfindung des Problems ist wichtiger als die Erfindung der Lösung«!
Zum Weiterlesen Brand, Karl-Werner (2017): Die sozial-ökologische Transformation der Welt. Ein Handbuch. Frankfurt a.M.: Campus. Popper, Karl R. (1996): Alles Leben ist Problemlösen. München: Piper. Radkau, Joachim (2011): Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. München: C.H. Beck.
Literatur Bardi, Ugo (2013): Der geplünderte Planet. Die Zukunft des Menschen im Zeitalter schwindender Ressourcen. München: oekom (ein Bericht an den Club of Rome). Bechmann, Gotthard/Frederichs, Günter (1996): »Problemorientierte Forschung. Zwischen Politik und Wissenschaft«. In: Gotthard Bechmann (Hg.). Praxisfelder der Technikfolgenforschung. Konzepte, Methoden, Optionen. Frankfurt a.M.: Campus, S. 1137. Bechmann, Gotthard/Stehr, Nico (2000): »Risikokommunikation und die Risiken der Kommunikation wissenschaftlichen Wissens – zum gesellschaftlichen Umgang mit Nichtwissen«. In: GAIA 9(2), S. 113-121.
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Stefan Böschen Böschen, Stefan (2016): Hybride Wissensregime. Skizze einer soziologischen Feldtheorie. Baden-Baden: Nomos. Böschen, Stefan/Soutedeh, Mahshid/Stelzer, Volker (2019): »Indikatorenarbeit. Kontextneutralisierende und kontextoffene Strategien in der Analyse komplexer Probleme«. In: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 28, 1, S. 45-51. Grober, Ulrich. (2010): Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs. München: Kunstmann. Groß, Matthias/McGoey, Linsey (Hg.) (2015): Routledge International Handbook of Ignorance Studies. London/New York: Routledge. Grunwald, Armin (2010): Technikfolgenabschätzung – eine Einführung (2. rev. Aufl.). Berlin: sigma. Grunwald, Armin (2016): Nachhaltigkeit verstehen. Arbeiten an der Bedeutung nachhaltiger Entwicklung. München: oekom. Hansen, Janus (2009): »Mode 2, Systems Differentiation and the Significance of Politico-Cultural Variety«. In: Science, Technology & Innovation Studies 5, 2, S. 67-85. Hauff, Volker (1987): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Greven: Eggenkamp Verlag. Hulme, Mike (2012): »What Sorts of Knowledge for What Sort of Politics? Science, Sustainability and the Challenges of Democracy.« Verfügbar unter: http://mikehulme.org/wp-content/up loads/2011/09/12_05-Copenhagen-script_web.pdf (zuletzt abgerufen am: 08.07.2019). Radkau, Joachim (2007): Holz. Wie ein Naturstoff Geschichte schreibt. München: oekom. WBGU (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen) (2011): Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. Berlin: WGBU.
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Science & Technology Studies Wendt, Björn/Böschen, Stefan/Barth, Thomas et al. (2018): »›Zweite Welle?‹ Soziologie der Nachhaltigkeit – von der Aufbruchsstimmung zur Krisenreflexion«. In: SuN Soziologie und Nachhaltigkeit. Sonderausgabe III.
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Verhaltensökonomie Zukunftskunst und beschränkte Rationalität Marc C. Hübscher
Praxis ante portas: Nachhaltigkeit von der Erkenntnis zum Verhalten Wir wissen bereits seit Jahrzehnten, dass die »Grenzen des Wachstums« (Meadows et al. 1972) erreicht sind und Entwicklungen in der Welt nachhaltig zu gestalten wären. Der aktuelle Global Risk Report des World Economic Forum (2019: S. 5) bringt es für seine Verhältnisse bemerkenswert ehrlich auf den Punkt: »The world is facing a growing number of complex and interconnected challenges – from slowing global growth and persistent economic inequality to climate change, geopolitical tensions and the accelerating pace of the Fourth Industrial Revolution. In isolation, these are daunting challenges; faced simultaneously, we will struggle if we do not work together.« Diese Einsicht wird flankiert von einer zivilgesellschaftlichen Bewegung namens »Fridays for Future«, in der die junge Generation gegen eine international versagende Klimapolitik demonstriert. Diese Bewegung ist ebenfalls bemerkenswert, weil sie ein »Bewusstsein von dem, was fehlt« (Habermas 2008) artikuliert und damit ein Potential entwickelt, »bei anhaltendem Versagen der Politik einen weltweiten Generationskonflikt zu entfachen« (Lucke 2019: S. 5). Wir sehen allein an diesen beiden Beobachtungen, dass die theoretischen Erkenntnisse zu den ökologischen Entwicklungen, über die wir bereits seit mehr als 40 Jahren immer umfassender verfügen, unter anderem auch eine sehr praktische 153
Marc C. Hübscher
Veränderung im Verhalten der Menschen erfordern. Diesen Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Verhalten möchte ich im Weiteren genauer verfolgen. Dafür werde ich als Fall eine Sichtweise auf Nachhaltigkeit genauer entfalten, nämlich die der Zukunftskunst, die aber meines Erachtens den Einsichten aus der Verhaltensökonomie bedarf. Deswegen werde ich in einem zweiten Schritt einige Erkenntnisse anführen, die besser verstehen lassen, warum es uns mitunter so schwerfällt, unser Verhalten entsprechend guter, vernünftiger Gründe zu ändern. Sodann werde ich auf Basis verhaltensökonomischer Überlegungen zeigen, wie es möglich ist, eine Politik der Nachhaltigkeit in der Umsetzung zu unterstützen.
Der Fall: Nachhaltige Entwicklung als Zukunftskunst 2011 erschien das Hauptgutachten »Welt im Wandel« des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung »Globale Umweltveränderungen« (vgl. WBGU 2011), in dem Tendenzen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts im Lichte einer nachhaltigen Entwicklung diskutiert werden und nicht zuletzt in nicht zufälliger Anlehnung an Karl Polanyi ([1944] 1978) für eine »Große Transformation« geworben wird. Schneidewind (2018) hat genau diese Ideen aufgegriffen und insofern vorangetrieben, als dass er konzeptionell eine Sichtweise vorgeschlagen hat, nachhaltige Entwicklung als Zukunftskunst für gesellschaftlichen Wandel zu verstehen. Dafür arbeitet Schneidewind (2018) heraus, dass Nachhaltigkeit in vier verschiedenen Dimensionen Wirkung entfalten muss und zudem, welche Kompetenz erforderlich ist, um die Nachhaltigkeit in diesen Dimensionen zu entfalten. Nachhaltige Entwicklung ist in unserer Zeit weniger ein Entwicklungs- sondern vielmehr ein Transformationskonzept (vgl. Pfriem et al. 2018). Um aber diese Transformation einerseits zu 154
Verhaltensökonomie
verstehen und andererseits zu gestalten, unterscheidet Schneidewind (2018: S. 39f.) die vier Dimensionen der Technologie, Ökonomie, Institutionen und Kultur, die integrativ im Rahmen einer nachhaltigen Entwicklung zu berücksichtigen sind. Diese Dimensionen sind nicht neu und werden in der Nachhaltigkeitsforschung und -politik bereits verwendet (vgl. Henkel et al. 2018: S. 154). Allerdings zeigt die Vergangenheit, dass jeweils eine Dimension dominierte und für die Zukunft eine balanced integration erforderlich ist, die Schneidewind (2013: S. 82) als »transformative literacy« bezeichnet. Diese transformative literacy, das kluge Ausbalancieren der vier genannten Dimensionen, verlangt nach einer Kompetenz, die das Wissen um die Dimensionen in integrierte Gestaltungsaktivitäten der Transformation wandelt. Die wesentliche Kompetenz für einen gesellschaftlichen Wandel im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung benennt Schneidewind mit dem Begriff Zukunftskunst: »Mit Zukunftskunst ist die Kompetenz gemeint, das Zusammenspiel von technologischen, ökonomischen, politisch-institutionellen und kulturellen Dynamiken in Prozessen der großen Transformation zu verstehen und sie für das Projekt einer nachhaltigen Entwicklung fruchtbar zu machen.« (Schneidewind 2018: S. 32). Damit wird eine bestimmte Sichtweise gewissermaßen umgedreht: Während vergangene Nachhaltigkeitsüberlegungen die technologische und ökonomische Dimension fokussierten und von dort aus die institutionelle Dimension und – wenn überhaupt – nur sehr eingeschränkt die kulturelle Dimension berücksichtigten, beginnt die Zukunftskunst mit der kulturellen Dimension: in der die nachhaltige Entwicklung zuallererst als kulturelle Leitidee ausgeflaggt wird (vgl. Schneidewind 2018: S. 41). Gesellschaftliche Ideen, Werte und Normen sind die Grundlagen einer großen Transformation zu einer nachhaltigen Entwicklung.
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Marc C. Hübscher
Wie aber lässt sich die Idee der Zukunftskunst ganz praktisch mit Leben füllen? Die Zukunftskunst muss praktische Orte der Realisierung finden. Ein Vorschlag hierfür ist das Format der Reallabore (vgl. Schneidewind 2014, 2018; Schäpke et al. 2017). »Reallabore sind Räume, in denen Wissenschaftler*innen zusammen mit Akteuren vor Ort konkrete Interventionen vornehmen«, sie sind »Versuchsräume für neue Produktions-, Produkt-, Konsum- und Handlungsmuster« (Schneidewind 2018: S. 447). Es geht dabei um das kreative Ausprobieren von neuartigen Lösungen, bei dem nicht von Vorneherein gesagt werden kann, ob die entwickelten Lösungen überhaupt oder gar besser funktionieren. Nachhaltige Entwicklung und das Denken in Zukunftskunst als Möglichkeitskatalysator einer nachhaltigen Entwicklung hört sich sehr attraktiv an. Wer, so lässt sich fragen, kann das nicht wollen können? In der perfekten idealen Welt sollte für diese Ideen doch vernünftigerweise recht schnell eine breite Zustimmung gefunden werden. Wenn dem so wäre, warum aber findet sich in der Lebenswelt der Aktuer*innen eine recht überschaubare Bewegung in Richtung Nachhaltigkeit? Ich denke, ein Problem, das hier eine zentrale Rolle spielt, ist verbunden mit dem Konzept der beschränkten Rationalität (bounded rationality) und der Art und Weise, wie Menschen Entscheidungen fällen und danach handeln.
Die Perspektive: Die praktische Beschränktheit rationalen Handelns Gegenüber der methodischen Grundüberzeugung der Ökonom*innen (vgl. etwa Homann und Suchanek 2005), bzw. des Rational-Choice-Ansatzes im Allgemeinen (vgl. Esser 1999), wonach Akteur*innen vollständig rational entscheiden und handeln, sind in den letzten 70 Jahren zunehmend Zweifel aufgekommen (vgl. Ariely 2010; Thaler und Sunstein 2011). 156
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Die Diskussionen rundum beschränkte Rationalität und die psychologischen Einschränkungen menschlichen Entscheidens sind vielfältig und haben sich in Disziplinen wie der Verhaltenspsychologie, der Wirtschafts- und Organisationspsychologie sowie der Verhaltensökonomik bereits etabliert. Die Perspektive auf Rationalität dieser Wissenschaften, das heißt die Frage, warum ein rationales Handeln praktisch beschränkt ist, möchte ich im Folgenden ausführen. Ich werde mich dabei auf ein epistemisches, ein psychologisches und ein kulturelles Argument beschränken. Das epistemische Argument hat der spätere Wirtschaftsnobelpreisträger Herbert A. Simon bereits 1945 ausgeführt. Simon ([1945] 1997: S. 95) beschreibt die »Limits of rationality« aus der Unmöglichkeit eines vollständigen und transparenten Wissens. In Entscheidungssituationen von und in Organisationen, um die es Simon gelegen ist, ist die Vollständigkeit des aktuellen Wissens eines Akteurs oder einer Akteurin bereits praktisch eine unwahrscheinliche Annahme, aber noch vielmehr trifft dieses Argument einen Sachverhalt, der mit dem im Nachhaltigkeitsdiskurs wichtigen Begriff der nichtintendierten Handlungs(neben)folgen verbunden ist (vgl. Schneidewind et al. 1997). Das Argument ist genauso schlicht wie treffend: Wir sind einfach nicht in der Lage, alle möglichen Handlungsalternativen inklusive ihrer Konsequenzen im Vorfeld zu kennen und damit auch zu bewerten. Auch die Psychologie stellt (unter anderem experimentell gewonnene) Erkenntnisse zur Verfügung, die erklären wollen, warum eine rationale Entscheidung – selbst unter Berücksichtigung der epistemischen Einschränkungen – in der Praxis eher unwahrscheinlich ist. Während im epistemischen Argument auf die Unmöglichkeit vollständiger und transparenter Informationen abgestellt, und damit die Möglichkeit des rationalen Entscheidens grundsätzlich nicht in Frage gestellt wird, geht 157
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das psychologische Argument darüber hinaus. Es zeigt nämlich, dass und warum viele lebensweltliche oder praktische Entscheidungen nur in seltenen Fällen überhaupt rational sind (vgl. Ariely 2010: S. 15). Viele sehr grundlegende Erkenntnisse verdanken wir unter anderem den Forschungsergebnissen des Wirtschaftsnobelpreisträgers Daniel Kahneman und seinem Kollegen Amos Tversky (vgl. Kahneman 2011). Um zu verstehen, wie menschliche Entscheidungen und darauf beruhende Handlungen entstehen, muss freilich nicht die Rationalität vollständig aufgegeben, aber deutlich eingeschränkt werden. Die psychologische Forschung zu menschlichen Entscheidungsprozessen unterscheidet bereits seit längerem zwei Systeme: »System 1 arbeitet automatisch und schnell, weitgehend mühelos und ohne willentliche Steuerung. System 2 lenkt die Aufmerksamkeit auf die anstrengenden mentalen Aktivitäten, die auf sie angewiesen sind, darunter auch komplexe Berechnungen. Die Operationen von System 2 gehen oftmals mit dem subjektiven Erleben von Handlungsmacht, Entscheidungsfreiheit und Konzentration einher.« (Kahneman 2011: S. 33) Diese beiden Systeme haben Thaler und Sunstein (2011: S. 36) sehr instruktiv in das sog. ›Bauchgefühl‹ und das ›rationale Denken‹ unterschieden und dabei zugleich angemerkt, dass das Bauchgefühl – also unsere spontanen Einschätzungen des Systems 1 – oftmals richtig liegt, aber auch darauf hingewiesen, dass viele Fehler begangen werden, wenn wir uns – gewissermaßen unbegründet – zu sehr davon leiten lassen. An den Eigenschaften des Systems 1 und 2 lässt sich auch der Zusammenhang, bzw. das Zusammenwirken der beiden Systeme in Bezug auf unsere Entscheidungen und unser Verhalten besser verstehen. Alle lebensweltlichen Entscheidungen über das System 2 zu treffen, ist einfach sehr anstrengend und hemmt den lebensweltlichen Fluss (vgl. Kahneman 2011: S. 57f.), in dem vieles als selbstverständlich wirkt und damit eine nor-
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Verhaltensökonomie
malisierte Basis für die schnelle Entscheidung und Handlung des Systems 1 bereitstellt. Das kulturelle Argument wird in einer ökonomischen Perspektive insbesondere von dem Wirtschaftsnobelpreisträger George A. Akerlof und seiner Kollegin Rachel E. Kranton vorgetragen (vgl. Akerlof und Kranton 2011). Stabile Präferenzen scheinen in diesem Konzept bereits verabschiedet, weil sie davon ausgehen, dass Entscheidungen nicht nur »durch idiosynkratische Vorlieben (was etwas Anderes als stabile Präferenzen sind [Anm. des Verfassers]) motiviert, sondern auch durch internalisierte soziale Normen« (ebd.: S. 29) gelenkt werden können. Die Botschaft, die hier vermittelt wird, ist eine interessante Verbindung dessen, was bereits im epistemischen und dem psychologischen Argument ausgeführt wurde: Wir können nicht alles wissen, was für die jeweilige Entscheidung relevant ist, und wir interpretieren diese Herausforderungen zunächst im Vergleich zu dem, was wir kennen. Dieses Kennen wird aber durch das kulturelle Argument noch weiter differenziert, weil »das Verhalten des Individuums von seinem Selbstverständnis abhängt« (ebd.: S. 34). Mit diesen gewichtigen Argumenten lässt sich nunmehr fragen, wie eine vernünftige Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung als Zukunftskunst gelingen kann, wenn doch auf der Verhaltensebene kognitive Einschränkungen entgegenstehen.
»Nudging« – eine verhaltensökonomische Antwort: Stupsen in die ›richtige‹ Richtung? »Nudging«, wie es etwa Thaler und Sunstein (2011: S. 38) denken, ist ein Versuch, die beiden Systeme 1 und 2 leichter überführbar zu machen. Nudging soll helfen, den Menschen, die intuitiv Entscheidungen im System 1 treffen, gewissermaßen einen Mechanismus an die Seite zu stellen, der es ermöglichen soll, dass sich die Menschen »bedenkenlos auf ihr automatisches System 159
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verlassen können, ohne sich damit in Schwierigkeiten zu bringen« (ebd.). Genauer gesagt definieren Thaler und Sunstein (2011: S. 15) unter Nudges »alle Maßnahmen, mit denen Entscheidungsarchitekten das Verhalten von Menschen in vorhersagbarer Weise verändern können, ohne irgendwelche Optionen auszuschließen oder wirtschaftliche Anreize stark zu verändern«. Es geht dabei nicht um Gesetze in Form von Verbotsnormen, sondern vielmehr um Gestaltungsarrangements von kollektiven Akteur*innen (Politik, Verwaltung, Unternehmen etc.), mit dem Ziel, individuelle Akteur*innen in eine Richtung zu stupsen, die Vernunft und Entscheidung, bzw. Handlung wieder enger zusammenführt. Man könnte auch von ›gutgemeinter Manipulation‹ sprechen. Für eine nachhaltige Entwicklung bedarf es einer Verhaltensänderung, die dem menschlichen Entscheidungsprozess nicht gerade entgegenkommt. Mit dem Status Quo Bias haben die »Menschen eine starke Neigung, den Status quo oder die vorgegebene Option jeder Veränderung vorzuziehen« (Thaler und Sunstein 2011: S. 18). Um diese Trägheit zu überwinden, müssen die Menschen in die richtige Richtung gestupst werden, ohne die grundsätzliche Entscheidungsfreiheit einzuschränken. Es geht also darum, dass den Menschen die richtige Richtung gezeigt wird, damit sie diesen Weg dann aber freiwillig aus eigener Entscheidung einschlagen. Nudges für Nachhaltigkeit sind im Wesentlichen mit sehr konkretem Feedback an die Konsument*innen verbunden, in dem verständliche Informationen, bzw. Formen der Offenlegung von Verbrauchsdaten zur Verfügung gestellt werden (vgl. Thaler und Sunstein 2011: S. 260). Beispiele für die Formen des Nudging sind: Etikettierungen, wie zum Beispiel die Umweltplakette, die die Schadstoffklasse eines Autos nach außen kenntlich macht, oder das Tragen einer Glaskugel, »Ambient Orb, die rot leuchtet, wenn ein Kunde viel Energie verbraucht, und grün, wenn der Verbrauch sich in Grenzen hält« (Thaler und Sunstein 160
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2011: S. 268), oder die Installation von REM (Residential Energy Management Systems)-Systemen in Wohnungen und Häusern, die über den Energieverbrauch informieren (vgl. Rodriguez 2012: S. 253), aber auch die automatisierte Benachrichtigung beim Erstellen eines Termins im Kalender, ob ein physisches Treffen notwendig ist oder ggf. Reisetätigkeiten durch ein Telefonat vermieden werden können. Hier lassen sich unendlich viele Beispiele finden, die häufig sogar sehr einfach und günstig sind, und einige Untersuchungen zeigen bereits, dass diese Art des Nudgings durchaus positive Effekte in Richtung der intendierten Verhaltensänderung haben (vgl. Thaler und Sunstein 2011: S. 268ff.). Wenn eine nachhaltige Entwicklung tatsächlich gewollt ist, dann werden solche verhaltensändernden Maßnahmen ein wichtiger Baustein in dem Aktionsplan sein müssen. Welche Nudges effektiv wirken, ohne die individuelle Autonomie einzuschränken, wäre zukünftig zu erproben. Den Ort, wo diese Erprobung stattfinden könnte, haben wir bereits kennengelernt: das Reallabor, in dem Zukunftskunst ausprobiert und geübt wird.
Nudging als gutgemeinte Manipulation, aber unter zivilgesellschaftlicher Kontrolle Hier wird nachhaltige Entwicklung als Zukunftskunst für eine gesellschaftliche Transformation eingeführt. Hürden für das Gelingen dieser Transformation lassen sich auf verschiedenen Ebenen finden. Eine ganz praktische Hürde ist der menschliche Entscheidungsprozess, der uns Menschen als beschränkt rationale Wesen darstellt. Wie aber kommen bei dieser Beschränktheit gute und vernünftige Ideen in den Lebensalltag der Menschen? Verbotsnormen wären eine Antwort der Politik. Aber es gibt auch andere Wege, von denen einer in diesem Beitrag vorgestellt wurde: Nicht Verbote, sondern Maßnahmen, die 161
Marc C. Hübscher
Menschen im Lebensalltag auf die richtige, nachhaltigere Handlungsalternative stupsen, sind ein Weg, nachhaltige Entwicklung ganz praktisch werden zu lassen. Die Ausgestaltung dieser Maßnahmen muss freilich erprobt werden. In Reallaboren könnten solche institutionellen Settings entwickelt und ausprobiert werden. Allerdings bestehen hier auch ganz grundlegende Probleme in der Anwendung. Wenn es richtig ist, dass Nudging eine Art der gutgemeinten Manipulation von Menschen ist, dann sind solche Eingriffe in die individuelle Entscheidungsarchitektur auch mit zentralen moralischen Einwänden konfrontiert. Darf die individuelle Autonomie dergestalt eingeschränkt werden, dass der Mensch in seinem Verhalten gewissermaßen heteronom gelenkt wird? Die Frage ist kompliziert und kann hier nicht vertieft werden. Allerdings sollte bedacht werden, dass wir, aufgrund der drängenden Probleme unserer Zeit, neue Wege gehen müssen. Dafür benötigen wir Ideen und Konzepte für Experimente in Reallaboren, die zivilgesellschaftlich kontrolliert werden müssen. Die zivilgesellschaftliche Kontrolle aber ist ein weiteres wichtiges Thema, dass an dieser Stelle nur zum Weiterdenken anregen soll: Welche Manipulation ist gutgemeint, oder aber dürfen, müssen oder sollen wir alle Manipulationen akzeptieren, die gutgemeint sind? – Die Frage muss von uns allen gestellt und beantwortet werden.
Zum Weiterlesen Beck, Hanno (2014): Behavioral Economics. Wiesbaden: Springer Gabler. Sunstein, Cass R. (2014): Why Nudge? The Politics of Libertarian Paternalism (The Storrs Lectures Series). Yale: University Press. Thaler, Richard H. (2018): Misbehaving. Was uns die Verhaltensökonomik über unsere Entscheidungen verrät. München: Siedler.
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Verhaltensökonomie
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Relationale Phänomenologie Die Unverfügbarkeit der Nachhaltigkeit Katharina Block
Der Begriff der »Flugscham« wurde vor Kurzem u.a. durch die Klimaaktivistin Greta Thunberg in den ökologischen Diskurs eingebracht. Seine appellative Funktion ist, jede/n einzelne/n von uns an ihre/seine individuelle Verantwortung zu erinnern, den anthropogen verursachten Klimawandel aufzuhalten, in dem er/sie Flugreisen unterlässt. D.h. Flugscham enthält indirekt eine Anweisung für nachhaltiges Handeln, deren aktive Umsetzung, den jüngsten Meldungen zufolge,1 allerdings wenig Erfolg verzeichnet. Trotz der sehr gut nachzuvollziehenden Gründe (Zerstörung der eigenen Lebensgrundlage) für einen Flugverzicht, scheinen die Menschen einfach nicht nachhaltig handeln zu wollen oder zu können. Aber woran liegt das? Liegt es gar in ihrer Natur, nicht nachhaltig zu handeln? Der Blick, der auf die Frage nach den Ursachen nicht-nachhaltigen Handelns im Folgenden geworfen wird, basiert auf der relationalen Phänomenologie Helmuth Plessners (Plessner [1928] 1975). Denn diese kann in Bezug auf die Umsetzung eines nachhaltigen Handelns zur Klärung der Frage beitragen, ob anthropologische Gründe für die Unverfügbarkeit nachhaltigen Handelns 1 | Bezogen wird sich dabei auf eine vom Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft in Auftrag gegebene repräsentative Studie u.a. im Tagesspiegel: https://www.tagesspiegel.de/politik/umfrage-zur-flugschamgruenen-anhaenger-fliegen-am-meisten-und-haben-das-schlechteste-ge wissen/24679158.html
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Katharina Block
plausibel gemacht werden können oder ob sie in den komplexen Verhältnissen spätmoderner Gesellschaften liegen. Mit der Unverfügbarkeit nachhaltigen Handelns ist gemeint, dass die unmittelbare Herstellung von Nachhaltigkeit nicht realisierbar ist. Je nachdem aber, ob dafür anthropologische oder strukturelle Gründe angeführt werden, werden auch Verantwortungszuschreibungen unterschiedlich adressierbar. So liegt es aus einer handlungstheoretischen Perspektive bspw. nahe, eine Verantwortung für nachhaltige Entwicklung vor allem beim Einzelnen zu sehen. Individuen wird zwar Verantwortung zugewiesen, diese symbolisch vermittelten Zuweisungen müssen aus handlungstheoretischer Perspektive jedoch von den Adressat*innen aktiv internalisiert werden, damit Nachhaltigkeit als Praxis hervorgebracht und auf Dauer gestellt werden kann. Für die soziologische Nachhaltigkeitsforschung wird Nachhaltigkeit gerade mit diesem Erfordernis aktiver Internalisierung individueller Verantwortung durch die Akteure zu einem handlungstheoretischen Problem, denn, so stellen Anna Henkel et al. fest, »stets geht es handlungsorientiert um die Frage, wie hinsichtlich dieses Gegenstands ein Umgang aussehen kann und soll« (Henkel et al. 2017: S. 4). Dem Einfluss impliziter anthropologischer Annahmen kommt bei der Beantwortung dieser Frage eine Schlüsselrolle zu. Denn je nachdem, welche Eigenschaften der menschliche Akteur aufgrund des Menschseins attestiert werden, werden auch Lösungsvorschläge zur Umsetzung von Nachhaltigkeit formuliert. Der Fall, der in diesem Beitrag analysiert wird, ist deswegen der nicht-nachhaltig handelnde Mensch der Handlungstheorie. Dieser wird zunächst im Rahmen des handlungstheoretischen Ansatzes der Rational-Choice-Theorie (RCT) vorgestellt, denn der handelnde Akteur der RCT ist durch starke anthropologische Prämissen bestimmt. Im Anschluss an die Darstellung des Falls wird in die Perspektive der relationalen Phänomenologie eingeführt. Die relationale Phänomenologie 168
Relationale Phänomenologie
begreift menschliche Akteure von ihren leiblichen Vollzügen aus, wodurch sowohl kognitiv-reflexive als auch leiblich-körperliche Aspekte dieser Vollzüge sowie ihre soziale Vermitteltheit in Relation zueinander berücksichtigt werden können. Plessners triadisch konzipierter Weltzugang kann – so die These – der mehrdimensionalen Komplexität von Handlungsvollzügen Rechnung tragen. Abschließend werden beide Perspektiven entlang des Falls aufeinander bezogen.
Der Fall: Anthropologie der Nicht-Nachhaltigkeit Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der individuellen Realisierung nachhaltigen bzw. nicht-nachhaltigen Handelns kann in der Soziologie von verschiedenen Perspektiven aus beantwortet werden u.a. auch mittels Rational-Choice-Theorien (RCT), in denen von Akteuren ausgegangen wird, die stets bewusste und rationale Entscheidungen aktiv treffen. Die Ursache für ein ökologisch nachhaltiges Handeln bzw. für sein Nicht-Eintreten werden in den RCT aber nicht primär im sozio-kulturellen Kontext oder in materiellen Vermittlungsebenen, sondern im Menschsein als solchem gesucht: »Will man die Gründe für das […] wenig umweltschonende Verhalten des Menschen erkennen, erscheint es sinnvoll, nach den generellen Orientierungen menschlichen Handelns zu fragen. Ich gehe dabei davon aus, dass der Mensch sich grundsätzlich zweckrational verhält, das heißt, sein Handeln dient einer individuell definierten Zielerreichung. Dieses Ziel ist mit einem ebenfalls individuell bewerteten Nutzen verbunden.« (Leunig 2008: S. 316) Sven Leunig greift in seiner Perspektive auf die menschlichen Möglichkeiten ökologisch nachhaltigen Handelns auf die RCT zurück, die innerhalb der Soziologie als methodologische Individualismen gelten (vgl. Rosa et al. 2007). Das bedeutet, dass diese Theorien als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen stets das einzelne Individuum setzen. Die Grundannahme, auf der die RCT dabei 169
Katharina Block
aufbauen, ist schnell formuliert: Jedes Individuum entscheidet sich für die Handlung, die für dieses den größten individuellen Nutzen bringt. Trotz einer intensiven Weiterentwicklung des RC-Ansatzes – vom Ansetzen beim engen Modell des Homo oeconomicus über das sog. RREEMM-Modell bis hin zum Framing-Modell – ist diesem im Kern das Prinzip der Nutzenmaximierung als primäre Entscheidungsregel erhalten geblieben, wie Jochen Mayerl (2013) gezeigt hat. So stellt Mayerl in Reflexion über den Zusammenhang von Menschenbild und RCT fest, dass das aktuelle Framing-Modell »erstaunlich ›klassisch‹ bei der Modellierung seiner formalen Entscheidungsregel der Modus-Selektion [verfährt]: es ist weiterhin das Prinzip der Nutzenmaximierung […]. Menschen ›sind‹ also auch in dieser weiten RC-Variante Maximierer, wenn auch ›raffinierte Maximierer‹, die häufig auch mit wenig Aufwand und wie automatisch zum Ziel kommen.« (Mayerl 2013: S. 167) Die Maximierer-Annahme vorausgesetzt, ist das Ziel dieses methodologischen Individualismus, über die Festlegung formaler Entscheidungsregeln spezifische Gesetzmäßigkeiten zu formulieren, die erklären, warum Akteure aus Handlungsalternativen eine bestimmte selektieren und diese Handlung vollziehen. Dieser Anspruch erfordert dabei die Zusatzannahme, dass die Handlungssituationen, in denen sich Akteure entscheiden, objektiv einsehbare sind. Ausschlaggebendes Positionskriterium der RCT ist somit die Annahme der Objektivität, die es der soziologischen Beobachterin erlaubt, Handlungssituationen von außen einzusehen und aus diesen gesetzmäßige Erklärungen für kognitiv-rational geleitete Handlungen abzuleiten. Diese deduktiv-nomologisch erklärende Programmatik hat ihr Explanans dabei in evolutionstheoretisch-anthropologischen Prämissen. Insbesondere die Ausführungen Hartmut Essers, der (zusammen mit James Coleman) als Begründer der soziologischen RC-Variante gilt, machen diese Position deutlich: 170
Relationale Phänomenologie
»Es geht in der Evolution wie beim gesellschaftlichen Handeln immer nur um den nächsten Schritt und um das Lösen von Problemen des jetzt drängenden Alltags. Das Schicksal der Art bzw. das der menschlichen Gesellschaft wird bei der individuellen biogenetischen bzw. sozialen Reproduktion nicht bedacht. Menschen sind nur in sehr begrenztem Umfang Empathisanten füreinander. Was ihnen ferner steht, interessiert sie nicht – und kann sie in aller Regel auch nicht interessieren. […] Menschliche wie andere Organismen sind von jeher (fast) nur der kurzfristigen und kurzsichtigen Maximierung ihrer eigenen fitness […] gefolgt. Und sie konnten angesichts der enormen Ressourcenkonkurrenz auch gar nicht anders. […] Die meisten Menschen können sich Weitsicht und langfristige Verantwortung außerhalb ihrer unmittelbaren Lebenswelt schlicht nicht leisten. Und sie maximieren daher immer nur mit einem doch stark beschränkten Horizont der Folgen ihres Tuns.« (Esser [1993]1999: S. 228f., Herv. i. O.) In den RCT, die sich auch in der soziologischen Nachhaltigkeitsforschung verdient gemacht haben, herrschen also klare anthropologische Vorstellungen, die Esser sehr deutlich gemacht hat. Eine verantwortungsbewusste Weitsicht, bspw. für Nachhaltigkeit, über den Kontext hinaus, schreibt Esser seinem Akteur nicht zu, denn diese bleiben anthropologisch bedingt kognitiv an den Entscheidungskontext gebunden. Deswegen können diesem Ansatz nach, abstrakte Ziele – wie Nachhaltigkeit eines ist – lediglich als eine indirekte Folge, etwa von Konsumentscheidungen, hergestellt werden. Der menschliche Akteur selbst kann aufgrund seiner anthropologisch begründeten Beschränkung solche Ziele aber nicht erreichen.
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Katharina Block
Die Perspektive: Relationale Phänomenologie Dem Fall des aufgrund anthropologischer Bedingungen nichtnachhaltig handelnden Menschen der RCT soll in diesem Abschnitt eine Perspektive an die Seite gestellt werden, mit der sich dieses Menschenbild hinterfragen lässt. Nimmt man die anthropologisch begründete Systematisierung des menschlichen Umfeldbezugs in den RCT ernst, stellt sich die Frage, ob sich menschliche Akteure tatsächlich derart eindimensional auf ihr Umfeld beziehen oder ob Handlungsvollzüge nicht doch komplexer sind. Dabei lässt sich bspw. an die Relevanz leiblich vermittelten Erlebens, dessen körperlicher Ausdruck sowie dessen symbolische Deutung und soziale Bedeutung in der Realisierung in diesen Bezügen denken. Fragt man danach, welche Rolle der Zusammenhang von Erleben, Verstehen und sozialem Kontext in der Realisierung nachhaltigen Handelns spielen, bietet es sich an, dies aus einer phänomenologischen Perspektive heraus zu tun, da eine solche Perspektive erlaubt, vom Erleben auszugehen. Im Folgenden soll dies von dem Ansatz einer relationalen Phänomenologie aus geschehen, die hier im Anschluss an Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie entfaltet wird. Plessner dekliniert in seinem bekannten naturphilosophischen Werk »Die Stufen des Organischen und der Mensch« verschiedene Stufen des Lebendigen durch, wobei er die letzte Stufe als exzentrische Positionalität bezeichnet (vgl. für das Folgende Plessner [1928] 1975). Diese naturphilosophisch begründete Stufe lässt sich nach Plessner phänomenologisch u.a. am menschlichen Lebewesen explizieren, phänomenal als eine dreifache Lebensweise zur Anschauung kommt. Damit eröffnet Plessner die Möglichkeit, in Reflexion auf einen dreifachen Verweisungszusammenhang des Erlebens, der sich auf der Stufe exzentrischer Positionalität entfaltet – Im-Körper-Sein, Als-Körper-Sein und Außer-dem-Körper-Sein – eine phänomenologisch-verstehende Perspektive auf den Menschen als einen sozialen Akteur 172
Relationale Phänomenologie
einzunehmen. Selbst-Welt-Beziehungen können so als dreifach strukturierte gefasst werden: Die eigene Erfahrung lehrt, dass einerseits das Selbst in Form von Gefühlen, Gedanken, deren Verstrickungen und des Wollens leiblich erlebt wird. Andererseits werden Dinge als außerhalb seines Selbst liegend erlebt. Als selbständige Dinge und Sachverhalte, auf die sich das Bewusstsein als Vollzugsgeschehen in diesem Geschehen richten kann, erscheinen sie im Modus der »Eigengegründetheit« (ebd.: S. 293) und begegnen insofern als objektiv verfasstes Außen. Zudem steht dieses Erleben von leiblichem Selbst und äußerer Welt stets im Verhältnis zu Anderen. Denn die Möglichkeit sich als ein Ich-Selbst wahrzunehmen, wäre ohne ein Du sowie das Wissen um das allgemeine Wir, indem sich der eigene Körper als Körper unter anderen befindet, nicht gegeben. Mit anderen Worten: Durch den Vollzug dieses dreifachen Verweisungszusammenhangs wird das Erleben einer Selbst-Welt-Beziehung gewährleistet. Anstatt dabei diese drei Sphären des Selbstseins, Weltseins und Miteinanderseins als voneinander getrennte und dadurch von jeweils anderen Voraussetzungen bestimmte Sphären zu behandeln, entwickelt Plessner alle drei aus demselben Prinzip, der exzentrischen Positionalität. Das Erleben von Welt als eine dreidimensionale Wirklichkeit zeichnet insofern das menschliche Leben aus und begründet dessen personalen Status. In der Auseinandersetzung mit der Welt ist der menschliche Akteur sinnvoll in sie eingebettet. Sowohl psychisch als auch körperleiblich in ihr situiert, führt und erfährt er sein Leben denkend, fühlend, wollend und handelnd als Person in Beziehung zu anderen Personen und zu den Objekten einer geteilten Welt. Getragen von sozialen Normen, Werten, Institutionen und Strukturen, die ihm als sinnhafte Vermittlungsmedien von Welt begegnen, drückt er sich zugleich in leiblich vermittelter Verkörperung dieser sinnhaften Formen in der Welt aus. Mit Plessner werden leiblich vermittelte Lebensvollzüge damit zu einer kom173
Katharina Block
plexen Angelegenheit, die nur in Relation zu einem gemeinsam geteilten Sinnhorizont Bedeutung erhalten, d.h. in Reflexion auf die soziale Situation bspw. als gelungen oder gescheitert gedeutet werden und keiner anthropologischen Fixierung zugeführt werden können. Diese relationale Phänomenologie im Anschluss an Plessner hat bereits Eingang in die Soziologie gefunden (Lindemann 2014; 2017; Block 2016; 2018; Henkel 2019) und wird von mir als corporal turn der Sozialtheorie gefasst.
Die Unverfügbarkeit der Nachhaltigkeit als komplexer Sachverhalt Die RCT, die eine sog. realistische Position vertreten, bringen mit der explizit evolutionsbiologisch begründeten Anthropologie im Ergebnis einen menschlichen Akteur hervor, für den aufgrund seiner anthropologisch bedingten Kurzsichtigkeit – auch Myopie genannt (Meinhold 2001) – lediglich die für ihn kognitiv unmittelbar erreichbaren Umfeldbedingungen handlungsrelevant werden, d.h. zu denen er einen unmittelbaren kausalen Bezug herstellen kann (vgl. für das Folgende Block 2016). Kognitives Bewusstsein und Handeln sind hier letztlich als linear kausales Verhältnis konzipiert. Die anthropologische Konsequenz von RCT ist somit das myopische Individuum, das – im übertragenen Sinne – aufgrund seiner Myopie nutzenmaximierend handeln muss und insofern rational entscheidet. Nachhaltigkeit im Sinne eines abstrakten Ziels ist für einen solchen Akteur daher schwerlich fassbar, denn sie stellt keine unmittelbare Umgebungsbedingung dar. Im Gegenteil erfordert das Erfassen eines solchen Abstraktums eine reflexive Weitsicht, die sich der myopische Akteur jedoch laut Esser nicht leisten kann. Die Herstellung nachhaltiger Vergesellschaftungsprozesse obliegt in den RCT somit einem rationalen Individuum das kognitiv derart gestrickt ist, dass es zwar in jeder Situation erfolgreich Entscheidungen treffen, diese aber nur auf den unmittelbaren 174
Relationale Phänomenologie
eigenen Nutzen beziehen kann. Nachhaltigkeit als ein abstraktes Ziel, dessen Realisierung erstens in der Zukunft liegt und dessen Erreichen zweitens – das zeigte nicht zuletzt der letzte IPCC-Bericht von 2018 – bisher mehr durch Scheitern geprägt war, ist allenfalls als Nebenfolge zu verstehen, die Effekt von ausreichend erfolgreich getroffener individueller Entscheidungen sein kann. Dass menschliche Handlungsvollzüge komplexer sind, als uns die RCT theoretisch suggerieren, wissen zwar auch RC-Theoretiker*innen (u.a. Tutic 2015), dennoch erschwert die Theoriekonstruktion diese Komplexität hinreichend zu berücksichtigen. Aufgabe einer reflexiven Soziologie der Nachhaltigkeit müsste es daher unter anderem sein, solche anthropologischen Annahmen, wie wir sie in den RCT vorfinden, aufzudecken, wenn sie im Rahmen soziologischer Nachhaltigkeitsforschung theorieleitend sind. Vor dem Hintergrund eines reflexiven Zugangs zur eigenen Theoriebildung bedeutet dies für handlungstheoretische Ansätze der soziologischen Nachhaltigkeitsforschung Handlungsmodelle zu konzipieren, die dem tatsächlichen beobachtbaren Handeln in sozialen Handlungssituationen möglichst entsprechen. Da es sich bei diesen Konzipierungen stets um ein Modell handelt, ist eine vollständige Deckungsgleichheit zwar nicht erreichbar. Im Anschluss an den corporal turn, d.h. in der Wendung hin zu leiblichen Vollzügen, kann nachhaltiges Handeln aber als ein hoch komplexer Sachverhalt sichtbar werden, dessen Realisierung mehr verlangt, als kognitiv kompetente Akteur*innen. Die anthropologische Reduktion akteurialer Kompetenzen auf kognitive Fähigkeiten in den RCT bekommt all das nicht in den Blick, was außerhalb des kognitiven Bereichs Handlungsrelevanz besitzt. Das gilt insbesondere für Sachverhalte, die mittels eines phänomenologischen Zugangs erschließbar sind, wie bspw. leiblich vermitteltes implizites Wissen, statt explizitem 175
Katharina Block
Handlungswissen oder affektive Betroffenheiten, die keiner rationalen Ebene zuzuordnen sind sowie in sozialen Kontexten erlebte Widerfahrnisse, die als Erfahrungen des Unverfügbaren reformuliert werden könnten (vgl. zum Unverfügbaren Block 2016). Eine solche Reformulierung könnte systematisch eine Möglichkeit zur phänomenologischen Erschließung des Scheiterns von Nachhaltigkeit bereitstellen. Statt dabei aber von einem stets erfolgreichen Anschließen an die nächste Handlungsentscheidung auszugehen, das als unmittelbar gegeben angenommen wird, können die Gründe für ein nicht-nachhaltiges Handeln nun von dem triadischen Zusammenhang aus leiblichem Erleben, reflektierendem Verstehen und sozialem Kontext erschlossen werden. Verantwortung für nachhaltiges Handeln muss dann auch nicht mehr einseitig dem handelnden Akteur zugeschrieben werden, sondern kann vielmehr als ein mehrdimensionaler, komplexer Sachverhalt sichtbar werden, der keine einfachen Zuschreibungen erlaubt. Abschließend lassen sich für handlungstheoretisch orientierte Soziologien der Nachhaltigkeit folgende Implikationen aus dem bisher Gesagten zusammenfassen: Zum einen brauchen handlungstheoretische Ansätze, die die individuelle Umsetzbarkeit von Nachhaltigkeit in den Blick nehmen generell mehr Mut, Nachhaltigkeit auch vom Scheitern statt vom Gelingen aus zu bearbeiten. Nachhaltigkeit als einen Sachverhalt des Unverfügbaren, statt des Verfügbaren zu konzeptualisieren, birgt die Chance, bisher ungesehene Probleme sichtbar zu machen (Henkel 2018), denn der genealogische Blick auf den Nachhaltigkeitsdiskurs findet auf seiner praktischen Seite primär eine Geschichte des Scheiterns vor (vgl. dazu Block et al. 2019). Dafür ist es zum anderen allerdings erforderlich, dass handlungsrelevante Annahmen Berücksichtigung finden, die den Akteur als einen scheiternden hervortreten lassen können. Hierfür bieten sich Anschlüsse und Weiterentwicklungen an den corporal 176
Relationale Phänomenologie
turn an, der neben der kognitiv-symbolischen auch die leibliche und soziale Dimension von Handlungen berücksichtigt. Wissenschaftstheoretisch gesprochen bedeutet dies, sich der eigenen Reduktionismen stets bewusst zu sein, um sie in Reflexion darauf überwinden zu können. Eine Soziologie der Nachhaltigkeit sollte daher eine »Normativität der Reflexion« (Block et al. 2019) verfolgen, die eine »reflexive Anthropologie« (Lindemann 2014) einschließt, wenn sie im hochaktuellen Nachhaltigkeitsdiskurs ernstzunehmende Ansprechpartnerin für die Formulierung lösungsorientierter Handlungsanweisungen sein will.
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Autorinnen und Autoren Adloff, Frank ist seit 2016 Professor für Soziologie (insbes. Dynamiken und Regulierung von Wirtschaft und Gesellschaft) am Fachbereich Sozialökonomie der Universität Hamburg, zuvor hatte er eine Professur an der Universität Erlangen-Nürnberg inne. Er ist stellvertretender Sprecher der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe »Zukünfte der Nachhaltigkeit« an der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Nachhaltigkeit, Postwachstum, Theorie der Gabe und Zivilgesellschaft. Aktuelle Publikation: Politik der Gabe. Für anderes Zusammenleben, Hamburg 2018. Barth, Thomas ist akademischer Rat auf Zeit am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er studierte Soziologie und Politikwissenschaft an der FSU Jena. 2014 wurde er mit einer Arbeit über die »Politik mit der Umwelt. Zur Politischen Soziologie der Luftreinhaltung in Deutschland« promoviert. Er war Promotionsstipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Promotionskolleg »Demokratie und Kapitalismus« und anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FSU Jena. Arbeitsschwerpunkte: gesellschaftliche Naturverhältnisse, politische Soziologie, Arbeit und Nachhaltigkeit. Block, Katharina ist Juniorprofessorin für Sozialtheorie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Sie studierte Soziologie, Kulturwissenschaften und Psychologie an der Universität Bremen. 2015 promovierte sie in der Philosophie mit der wissenschaftstheoretischen Arbeit »Von der Umwelt zur Welt. Der Weltbegriff in der Umweltsoziologie« bei Christian Bermes (Universität Koblenz-Landau) und Hartmut Rosa (FriedrichSchiller-Universität Jena). Nach einem Forschungsstipendium 181
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des Human Dynamics Centre (Julius-Maximilians-Universität Würzburg) lehrte sie zudem an der Leibniz Universität Hannover. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sozialtheorie, Gesellschaftstheorie, Philosophische Anthropologie, Phänomenologie, Wissenssoziologie, Wissenschaftstheorie (insb. das Verhältnis von Anthropologie und Soziologie sowie gesellschaftliche Naturverhältnisse). Böschen, Stefan ist Professor für »Technik und Gesellschaft« am HumTec der RWTH Aachen. Zuvor war er Forschungsbereichsleiter für den Forschungsbereich »Wissensgesellschaft und Wissenspolitik« am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am KIT. Studium des Chemieingenieurwesens, der Philosophie und Soziologie in Erlangen-Nürnberg, Diplom als Chemie-Ingenieur, Promotion und Habilitation in Soziologie. Schwerpunkte: Wissenschafts-, Technik-, und Risikoforschung, Technikfolgenabschätzung, Theorie moderner Gesellschaften. Aktuelle Projekte: »ComplexEthics« (BMBF), »Hochschulkommunikation organisieren« (VW Stiftung). Buschmann, Nikolaus ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sportwissenschaft der Universität Oldenburg und Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Zentrums »Genealogie der Gegenwart«. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Kulturgeschichte der Gegenwart, Geschichte der Nachhaltigkeit, soziologische Praxistheorien und historische Subjektivierungsforschung. Aktuelle Publikationen: (Herausgeber gemeinsam mit Thomas Alkemeyer und Thomas Etzemüller) Gegenwartsdiagnosen. Kulturelle Formen gesellschaftlicher Selbstproblematisierung in der Moderne. Bielefeld: transcript Verlag, 2019; Zukunftsverantwortung. Zur Diagnostifizierung des Verhältnisses von Mensch und Natur nach 1945. In: Anna Henkel, Nico Lüdtke, Nikolaus Buschmann und Lars Hochmann (Hg.). Reflexive Re182
Autorinnen und Autoren
sponsibilisierung. Verantwortung für nachhaltige Entwicklung. Bielefeld: transcript Verlag, 2018, S. 211-231. Dickel, Sascha ist Juniorprofessor für Mediensoziologie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Munich Center for Technology in Society der TU München und am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wissenschafts- und Technikforschung, Digitalisierung, Zukünfte und Nachhaltigkeit. Aktuelle Publikation: Dickel, Sascha (2019): Prototyping Society. Zur vorauseilenden Technologisierung der Zukunft. Bielefeld: transcript. Görgen, Benjamin studierte Sozialwissenschaften, Wirtschaftsund Sozialpsychologie und Soziologie an den Universitäten Köln und Münster. Seit 2014 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Münster und promoviert dort zum Thema Nachhaltige Lebensführung. Er ist assoziiertes Mitglied des DFG-Netzwerks »Soziologie der Nachhaltigkeit« und Mitherausgeber des Open-Access-Journals »Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung«. Forschungsschwerpunkte: Umweltsoziologie, Nachhaltigkeitsforschung, Protest- und Bewegungsforschung, Praxistheorien und empirische Sozialforschung. Henkel, Anna ist Professorin und hat seit 2019 den Lehrstuhl für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung an der Universität Passau inne. Zuvor war sie Professorin an der Universität Lüneburg und Juniorprofessorin an Universität Oldenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der soziologischen Theorie sowie der Wissens-, Materialitätsund Nachhaltigkeitsforschung. Sie verbindet gesellschaftstheo183
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retische Perspektiven mit empirischer Forschung, etwa bei der Frage nach dem Wandel von Verantwortungsverhältnissen. Zu Nachhaltigkeit zuletzt erschienen: Henkel, Anna, Bergmann, Matthias et al. (2018): »Dilemmata der Nachhaltigkeit zwischen Evaluation und Reflexion. Begründete Kriterien und Leitlinien für Nachhaltigkeitswissen«. In: Nico Lüdtke und Anna Henkel (Hg.). Das Wissen der Nachhaltigkeit. Herausforderungen zwischen Forschung und Beratung. München: oekom. S: 147-172; Henkel, Anna, Luedtke, Nico, et al. (Hg.) (2018): Reflexive Responsibilisierung. Verantwortung für nachhaltige Entwicklung. Bielefeld: transcript. Huber, Fabian ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im SNF-Projekt »Urban Green Religions« am Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik (ZRWP) der Universität Basel. Er studierte Soziologie, Religionswissenschaft und Politikwissenschaft an der Universität Zürich. Er arbeitet an seiner Dissertation über das Zusammenspiel medialer und nicht-medialer Formen religiöser Vergemeinschaftung an der Universität Fribourg. Hübscher, Marc C. ist Partner einer international tätigen Unternehmensberatungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaft sowie Lehrbeauftragter an den Universitäten Göttingen und Ulm. Er studierte von 1996 bis 2001 in Oldenburg Lehramt für berufsbildende Schulen (Dipl.-Handelslehrer) und Wirtschaftswissenschaften (Diplom-Ökonom). 2010 promovierte er mit einer Arbeit über »Die Firma als Nexus von Rechtfertigungskontexten« in Oldenburg. Seit 2010 ist er Mitherausgeber der Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik. Forschungsschwerpunkte: Wirtschafts- und Unternehmensethik, Unternehmensphilosophie und -theorie, Transformation und Nachhaltigkeit.
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Autorinnen und Autoren
Köhrsen, Jens ist Assistenzprofessor am Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik an der Universität Basel. Er studierte an der Universität Oldenburg Soziologie, Philosophie, evangelische Theologie (Magister), Sozialwissenschaften (Diplom) und Wirtschaftswissenschaften (Diplom) und hat im Fach Soziologie an der Universität Bielefeld und der École des Hautes Études en Sciences Sociales promoviert. Neckel, Sighard ist Professor für Gesellschaftsanalyse und sozialen Wandel am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Hamburg. Zuvor hatte er Professuren u.a. in Gießen, Wien und Frankfurt a.M. inne und gehörte dem Kollegium des Frankfurter Instituts für Sozialforschung an. Er ist Sprecher der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe »Zukünfte der Nachhaltigkeit« an der Universität Hamburg und Mitglied des Sonderforschungsbereichs 1171 »Affective Societies« an der FU Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wirtschafts- und Finanzsoziologie, soziale Ungleichheit, Gesellschaftstheorie, Emotionssoziologie, Konflikte um Nachhaltigkeit. Zuletzt erschienen: Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit. Umrisse eines Forschungsprogramms, Bielefeld 2018; Die globale Finanzklasse. Business, Karriere, Kultur in Frankfurt und Sydney, Frankfurt/New York 2018. Pohlmann, Angela studierte in Göttingen und Hamburg die Fächer Ethnologie, Soziologie und Rechtswissenschaften. Sie promovierte 2016 mit der Arbeit »Situating Social Practices. Three Case Studies about the Contextuality of Local Renewable Energy Production« bei Prof. Dr. Anita Engels an der Universität Hamburg. Während ihrer Promotion wurde sie vom Studienwerk der Heinrich-Böll-Stiftung gefördert und ist Mitglied im Cluster Transformationsforschung der Böll Stiftung. Für ihre Promotion führte sie von 2012 – 2013 ethnographische Forschungen 185
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in lokalen Projekten der erneuerbaren Energieproduktion in Deutschland und Schottland durch. 2014 war sie Gastwissenschaftlerin an der University of Edinburgh. Von 2016 bis 2017 fungierte Angela Pohlmann als Wissenschaftliche Koordinatorin der durch die DFG geförderten Rundgespräche Klimawandel und nachhaltige Entwicklung. Seit August 2017 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Globalisierung, Umwelt und Gesellschaft der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg. Sulmowski, Jędrzej ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftlichen Zentrum Genealogie der Gegenwart an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören praxissoziologische und ethnographische Forschung zu sozial-ökologischen Transformationen, Science and Technology Studies sowie die Verknüpfung von sozialwissenschaftlichen und graphischen Erzählformen. Wendt, Björn studierte von 2005-2011 Soziologie und Politikwissenschaft an der Universität Münster, wo er von 2012-2017 zum Thema »Nachhaltigkeit als Utopie« promovierte und zurzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie tätig ist. Er ist Mitherausgeber der Beitragsreihe »Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung« und Mitglied des DFG-Netzwerkes »Soziologie der Nachhaltigkeit«. Seine Lehr- und Forschungsgebiete sind Utopieforschung und Wissenssoziologie, Elitensoziologie und Machtstrukturforschung, Protest- und Bewegungsforschung sowie Umweltsoziologie und Soziologie der Nachhaltigkeit.
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Soziologie Naika Foroutan
Die postmigrantische Gesellschaft Ein Versprechen der pluralen Demokratie 2019, 280 S., kart., 18 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4263-6 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4263-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4263-6
Maria Björkman (Hg.)
Der Mann und die Prostata Kulturelle, medizinische und gesellschaftliche Perspektiven 2019, 162 S., kart., 10 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4866-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4866-3
Franz Schultheis
Unternehmen Bourdieu Ein Erfahrungsbericht 2019, 106 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4786-0 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4786-4 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4786-0
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Soziologie Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)
Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten 2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7
Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf
Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2
Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)
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