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German Pages [160] Year 2012
Hannes Fernow
Z y kl i s c he s Eri nnern Alfred Hrdlickas Radierzyklus »Wie ein Totentanz« – Die Ereignisse des 20. Juli 1944
2012 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Herausgegeben von Professor Dr. Dietrich Schubert, Universität Heidelberg
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Ahlers AG. Herford Nicolas Schubert, Heidelberg Villa Grisebach, Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Alfred Hrdlicka, Abb. XXXVII aus dem Zyklus »Wie ein Totentanz« – Die Ereignisse des 20. Juli 1944, »Die haben mich ja alle im Stich gelassen« © 2012 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Layout: Bettina Waringer Druck und Bindung: Holzhausen Druck GmbH Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Austria ISBN 978-3-205-78857-7
Für Sabine Fernow (1953–2010)
Inhalt
1 . Ei n l e i t ung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 . B es ta n dsaufnahm e
11
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
3 . Th e m at ische Übersicht üb er den Z yklus .
. . . . . . . . . . . . . . . . .
21
4 . B l at t 29: D i e c hr istl iche Visi o n d es H aup tm a nns Axel Frei herr von de m Bus s ch e . . . . . . . . . . . . 39 4.1 Massenhinrichtung in der Ukraine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 4.2 Eingebildeter Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
5 . B l at t 4 : D i e S el b stendl ö sung ( Otto Wein in ge r) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 5.1 Kopfgeburten in der Studierstube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 5.2 Übertragener Selbsthass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
6 . B l at t 3 4 : »D er Führer ist nicht to t!« .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
6.1 Tumulte in der Bendlerstraße in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 6.2 Der makabre Tanz des Widerstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 6.3 Der 20. Juli 1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
7
7 . B l at t 46: A c ht Zi g a retten p ro Hinri ch tun g . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
7.1 Massenhinrichtung im Gefängnis Plötzensee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 7.2 »Plötzenseer Totentanz« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 7.3 Die Strafanstalt Plötzensee im »Dritten Reich« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 7.4 Callot, Goya und Dix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 7.5 Grausamkeit der Rache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
8 . De r hi s to ri sche Ko ntext des Z yklus » W ie e in Toten tan z« . . . . . . 73 8.1 Biographische Werkmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
8.2 Die kunsthistorische Konstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
8.2.1 Modische Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 8.2.2 Wunderlich, Scheibe, Grieshaber und Matta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 8.3 Motivvariationen innerhalb des eigenen Œuvres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
9 . Di e M e tho de des zy kl ischen Erin n ern s . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 1 0 . Zum V erstä ndni s vo n Hrdlickas K un s t . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 10.1 Kritischer Humanismus und bildnerische Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 10.2 Form und Stil der Grausamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 10.3 Warum Kunst über Gewalt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
1 1 . Aus d r ucksg eha lt des Zy kl us » Wie ein Tote n tan z« . . . . . . . . . . . 117 11.1 Kompetenzen der »schönen Künste« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 11.2 Die Widerstandsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .119 11.3 Recht und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 11.4 Noch ein »Totentanz«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 11.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
8
1 2 . H i s t o r i sche Po siti o nierung de s Ges amtwe rkes . . . . . . . . . . . .
127
1 3 . Zus a mm enfa ssung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133
L i t e r at ur verzei chni s . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
135
Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
A n h a n g . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145
Rezeptionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
P e r s o n en r eg i ster .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Zum D a n k . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153
Abbi l d un g s verzei chni s . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
155
9
1. Einleitung Noch immer das hölzern pedantische Volk, Noch immer ein rechter Winkel In jeder Bewegung, und im Gesicht Der eingefrorene Dünkel. Sie stelzen noch immer so steif herum, So kerzengerade geschniegelt, Als hätten sie verschluckt den Stock, Womit man sie einst geprügelt. Ja, ganz verschwand die Fuchtel nie, Sie tragen sie jetzt im Innern; Das trauliche Du wird immer noch An das Alte Er erinnern.1
bung und Charakterisierung des Werkes unter Einbezug des historischen Kontextes stehen dabei im Zentrum. Erste, einführende Überlegungen widmen sich der methodischen Vorgehensweise, mittels derer eine adäquate Annäherung an Hrdlickas Zyklus gelingen soll: Spricht man lediglich von historischen Dokumenten, repräsentierenden Symbolen, verweisenden Zeichen oder Illust-
F
rationen, von alten und neuen Medien oder von visueller orschungsgegenstand dieser Arbeit ist Alfred
Kommunikation, wird die eigengesetzliche Wirklichkeit
Hrdlickas Radierzyklus »Wie ein Totentanz – Die Er-
eines Kunstwerks nivelliert. Zumindest geschieht dies
1
eignisse des 20. Juli 1944«. Ziel der Untersuchung
dann, wenn es um »Kunst-Bilder« im vorausgesetzten,
ist der Versuch einer grundlegenden Interpretation der
modernen Sinne des 19. und 20. Jahrhunderts geht.
im Jahre 1973 gezeichneten 53 Graphiken, die in dieser
Statt nur als Mittel für einen – religiösen – Zweck zu fun-
Form noch nicht vorliegt.3 Die ausführliche Beschrei-
gieren oder in der Abbild-Suggestion technischer Simu-
2
lationstechniken aufzugehen und sich damit als Bilder selbst aufzuheben, haben diese ein spezifisch künstle1
Heinrich Heine: Deutschland – Ein Wintermärchen [1844], 6.–8. Strophe aus Caput III, Frankfurt a. M. 1983, S. 18.
2
3
risches Fürsichsein.4 Nach der »Erweiterung des Kunst
Vgl. Michael Lewin: Alfred Hrdlicka – Das Gesamtwerk, Druckgraphik, Bd. III/1, Wien 1987, WVZ–Nr. 565–617 [Werk-
»Wie ein Totentanz«, Ausstellungskatalog der National
verzeichnis-Referenzen werden im Folgenden zitiert als:
galerie Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz,
LEWIN mit Bandangabe und entsprechender Nummer].
vom 19. Juli bis zum 31. August 1975, Einführung Wieland
Einen wichtigen Aufsatz zu diesem Thema schrieb 1975
Schmied, Texte zu den Radierungen v. Alfred Hrdlicka,
Wieland Schmied für die Ausstellung des Zyklus in Berlin. Er wurde in den darauf folgenden Jahren entweder erneut abgedruckt oder vielfach zitiert; vgl.: Alfred Hrdlicka –
Berlin 1975 [im Folgenden zit. als: AK Berlin 1975]. 4
Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik [1960], Gesammelte
1. Einleitung
11
begriffs« gelten folgende Reflexionen selbstverständ-
dass das den Bildern implizite Wissen ein Spezifisches
lich nur bedingt für kulturelle Phänomene, die absolute
ist, d. h. nicht durch sprachlich verfasstes Wissen ersetz-
Bedeutungsoffenheit postulieren. Hrdlickas Schaffen
bar. Es gelte darum, das Verständnis für den Eigenwert
indes liegt ein traditioneller Werkbegriff zugrunde. Das
und die Wirklichkeit des Kunst-Bildes zu rehabilitieren.
heißt, statt sich in der Funktion eines vermittelnden Sig-
Der Begriff der »ikonischen Differenz« besagt, dass Bil-
nifikanten zu erschöpfen, besitzen Zeichnungen, Gemäl-
der nicht einfach Ansammlungen von Details seien, son-
de und insbesondere Skulpturen eine stoffliche, sinn-
dern Sinneinheiten. Diese pikturale Einheit ergibt sich
liche Präsenz im Raum. Sie ist das primär Begegnende,
aus dem Verhältnis zwischen der Gesamtfläche und der
noch vor dem erst auszulegenden Dargestellten. Darin
Vielfalt der einzelnen Binnenereignisse. Diese allgemei-
besteht ein fundamentaler Unterschied der bildenden
ne Bestimmung kann unterschiedliche Formen anneh-
Kunst selbst zu Film und Literatur: Fiktionalität und Vir-
men. Ein Bild kann den ikonischen Kontrast beinhalten
tualität der »Sinn-Expression« stehen in unvergleichlich
zwischen der wirklichen Materialität und dem immateri-
oszillierender Beziehung zur körperlichen Gegenwär-
ellen Ausdrucksgehalt, zwischen der zweidimensionalen
5
tigkeit der »Form-Gestalt«. Kunst-Bilder zeichnen sich
Fläche und einem suggerierten Tiefenraum, zwischen
durch eine starke »ikonische Differenz« aus. Gottfried
der Simultaneität des Anschaulichen und dem narrativ
Boehm prägte diesen Begriff 1994 in seinem Aufsatz
Sequentiellen, zwischen der Rahmung und der dadurch
»Die Wiederkehr der Bilder« und begründete damit
entstehenden Binnenfläche. So ermöglicht erst die Qua-
den kunstwissenschaftlichen Theorieansatz des »iconic
drierung des Formats ein Oben und ein Unten, ein Links
turn«, der sich daraufhin zum interdisziplinären Mode-
und ein Rechts, eine Mitte und eine Peripherie, einen
konzept einer »Bildwissenschaft« ausdehnte. Boehm
Vordergrund und einen Hintergrund. Dazu Boehm: »Die
interessierte die ästhetische Reflexion auf die Möglich-
pikturale Differenz, die dem Menschen spezifisch ist, de-
keitsbedingungen des Bildes selbst und er versuchte das
finiert sich als das Vermögen, das bewegliche Wahrneh-
literarische, textnahe Verstehen von Bildern zu überwin-
mungsfeld des alltäglichen Sehens mit seinen offenen
den. Dabei wollte er die Aufmerksamkeit darauf lenken,
Rändern, seiner flexiblen Neuanpassung an Situationen
6
in ein begrenztes und stabiles Bildfeld umzustilisieWerke, Bd. 1 Hermeneutik I, Tübingen 1986, S. 143, u. Gadamers Anm. 266 auf S. 157 [im Folgenden zit. als: Hans-Georg-
ren, als Bildwerk, als Gefäß, als Ritzzeichnung odgl. zu gestalten.«7
Gadamer 1986]; vgl. ergänzend Hans-Ulrich Gumbrecht: 5
Diesseits der Hermeneutik, Frankfurt a. Main 2004.
Eine kunstgeschichtliche Interpretation, die nicht darauf
Die Begriffe sind entlehnt von Meyer Schapiro und Carl Ein-
bedacht ist, ein gestaltetes, durchdachtes, sein letztes
stein. 6
Vgl. Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, in: Was
Geheimnis nie ganz preisgebendes Kunstwerk von den
ist ein Bild? [1994], hg. v. Gottfried Boehm, München 2006, 12
1. Einleitung
S. 11–38 [im Folgenden zit. als: Gottfried Boehm 2006].
7
Gottfried Boehm 2006, S. 31.
»Bildern« der Television, dem semiotischen Instrumen-
gehen weder das spekulativ Hineingedachte noch das
tarium der Piktogramme, den »Sehbildern« des Wahr-
ikonographisch bzw. zeit- und stilgeschichtlich deduk-
nehmungsbewusstseins oder anderen Abbildern und
tiv Abgeleitete. Sondern grundlegend wird der – im
Spiegelbildern konsequent zu unterscheiden, führt sich
bewussten Formsehen zugängliche – »anschauliche
selbst sowie den Umkreis ihrer Wissenschaftsgegen-
Charakter« des Einzelwerks.9 Diesen gilt es mittels der
stände ad absurdum.8 Wenn das Kunstwerk und sein Er-
beschreibenden Charakterisierung eines Bildaufbaus zu
leben zu Epiphänomenen eines kulturhistorischen Refe-
erarbeiten. Dabei handelt es sich um einen Sehens- und
renzbodens werden, so führt dies zu einer inadäquaten
Denkprozess, im Zuge dessen sich das Kunstwerk dem
Methodik, welche die Eigentümlichkeit der Kunst nicht
Betrachter mitteilt und dieser es seinerseits verstehend
berücksichtigt, sie stattdessen instrumentalisiert und
vergegenwärtigt.10 Auf diese Weise werden weder
damit zu ungesicherten oder heteronom deduzierten
Vorurteile dupliziert noch konstruiert. Die sprachlich
Ergebnissen gelangt. Denn sofern über die Unterschied-
ausgearbeiteten Begründungsgänge sorgen für die
lichkeit der Gegenstandsbereiche hinweggegangen
Diskursfähigkeit der Beiträge. Der zu uns sprechende
wird, können auch keine Differenzen hinsichtlich der
physiognomische Charakter11 konstituiert den qualitati-
Zugangsart mehr vollzogen werden. Dabei ist es für die
ven Sinnzusammenhang zwischen den verschiedenen
Wissenschaft entscheidend, dass das Forschen zu dem
Werkebenen – zwischen Material, Technik, ikonischer
zu Erforschenden in einem jeweils angemessenen Ver-
Differenz, ikonographischem Bildthema und ikonologi-
hältnis steht.
scher Bedeutung. Mittels einer »strukturanalytischen«
Steht das Werk selbst im Zentrum, dann ist der we-
Deskription des anschaulichen Charakters qualitativ he-
sentliche Ausgangspunkt für das kunsthistorische Vor-
rausragender und historisch wichtiger Werke können selbst allgemeine kulturhistorische Phänomene veran-
8
Vgl. zum ikonischen Werkaspekt von bildender Kunst: Max Imdahl: Ikonik. Bilder und ihre Anschauung, in: Was ist ein Bild? [1994], hg. v. Gottfried Boehm, München 2006,
schaulicht werden. Eine dies berücksichtigende Werkinterpretation, die nach dem Gehalt sucht, muss im Ergebnis nicht wahr
S. 300–324; Gottfried Boehm: Was heißt: Interpretation? [1986], in: Clemens Fruh, Raphael Rosenberg, Hans-Peter Rosinski (Hg.): Kunstgeschichte – aber wie?, Berlin 1989,
9
S. 13–26 [im Folgenden zit. als: Gottfried Boehm 1989]; leider unterlaufen Boehm immer wieder zweifelhafte »Interpretationen«, so z. B. bezüglich Mondrians »Komposition
Hans Sedlmayr: Probleme der Interpretation [1957], in: Kunst und Wahrheit, Mittenwald 1978, S. 105 ff [im Folgenden zit. als: Hans Sedlmayr 1978].
10 Vgl. Hans-Georg Gadamer 1986, S. 170, 174. Zur Einführung
mit vier gelben Linien« [1933]: »Es ist ein abgegrenzter Kos-
in die phänomenologische Deskription vgl. Martin Hei-
mos, aber auch dank seiner allseitigen Ausgeglichenheit
degger: Sein und Zeit [1927], Tübingen 2001, S. 27–39 [im
und Ruhe sowie der Betonung der Mitte eine Veranschaulichung des Selbst. Das Quadrat deutet auf die Identität einer Ordnung von Welt und Person.« (a. a. O., S. 23).
Folgenden zit. als: Martin Heidegger SuZ]. 11
Analog zu »anschaulicher Charakter« (vgl. Hans Sedlmayr 1978, S. 105).
1. Einleitung
13
14
1. Einleitung
oder falsch sein – in Relation zu der »einen« Wahrheit.
verstehen. Kunsthistorische Interpretationen sind dabei
Wie aber verhalten sich dann Interpretationen zu be-
nicht mit den exakten Ergebnissen der empirischen Wis-
leg- und falsifizierbaren Urteilen auf der einen Seite und
senschaften zu verwechseln, doch methodische Strenge
zu willkürlichen Meinungen auf der anderen? Damit in
können sie durchaus aufweisen.
den interpretierenden Ästhetik-Diskurs nicht nur Kon-
Nach dieser allgemeinen Reflexion der methodischen
tingenzen des Geschmacks, sondern auch Regeln der
Struktur der für die vorliegende Untersuchung maßgeb-
Rationalität Einzug halten, ist es erforderlich, auf Basis
lichen Vorgehensweise wird im Folgenden der Aufbau
der gewonnenen Werkcharakteristika historisch-kritisch
der Arbeit geschildert. Das an die Einleitung anschließen-
zu argumentieren und das Kunstwerk im Kontext sei-
de 2. Kapitel widmet sich der Klärung der technischen
ner philosophischen und geschichtlichen Situiertheit zu
Realien und der Untersuchung der Auftragslage. Das
verorten. Das heißt, die Kunstgeschichte sieht sich vor
3. Kapitel gibt einen thematischen Überblick über den
die Herausforderung gestellt, ihren Gegenstand in das
gesamten Zyklus Hrdlickas zum 20. Juli 1944. Es handelt
rechte Licht zu rücken, will sie Wissenschaftlichkeit be-
sich bei dem Zyklus aus dem Jahre 1974 nicht um eine
anspruchen können. Auf diese Weise wird erhellt, was –
Serie absolut eigenständiger Werke. Erst die Gesamtheit
der jeweiligen Fragestellung entsprechend – als Wesens
der einzelnen Radierungen bildet das eigentliche Werk.
aspekte der zu untersuchenden Sache im Vordergrund
Der vereinheitlichende Blick soll den Horizont spannen,
zu stehen hat. Nur sofern Interpretationen sich begrün-
aus dem heraus jede Einzelheit ihre Bezüglichkeit und ih-
dend auf wesentliche Erscheinungsformen der Sache
ren je eigenen Ort gewinnt. Mit den Kapiteln 4 bis 7 fol-
selbst beziehen, unterscheiden sie sich von willkürlichen
gen vier detaillierte Einzelanalysen exemplarisch ausge-
Meinungen oder von geistreich akkumuliertem Wissen.
wählter Blätter des Zyklus. Interpretiert werden Blatt 29
Um andere Perspektiven als die des Ausgangsstand-
Die christliche Vision des Hauptmanns Axel Freiherr von
punktes einnehmen zu können, empfiehlt sich eine his-
dem Bussche, Blatt 4 Die Selbstendlösung (Otto Weinin-
torische Rekonstruktion, welche die entsprechenden
ger), Blatt 34 »Der Führer ist nicht tot!« sowie Blatt 46
Kontexte des »Primärtextes« erhellt. Demgegenüber
Acht Zigaretten pro Hinrichtung.
neigt eine Dekontextualisierung, die das Werk aus der
Das 8. Kapitel erarbeitet den dem Zyklus zugrunde
politischen Situation, der kunsthistorischen Konstellati-
liegenden historischen Kontext und geht dabei auf die
on oder den Intentionen des Künstlers herauslöst, dazu,
biographische Motivation des Künstlers sowie auf die
die Botschaft des Künstlers in die Botschaft des Betrach-
kunsthistorische Konstellation zur Entstehungszeit ein.
ters zu verwandeln. Auch diese Herangehensweise kann
Zudem gibt es einen Überblick über Motivvariationen
das Kunstwerk lebendig halten, aber nicht als wissen-
des Zyklus »Wie ein Totentanz« innerhalb des eigenen
schaftlich bezeichnet werden. Die Einbeziehung des
Œuvres.
Kontextes will ein Wissen bereitstellen, das es ermög-
Die Frage nach der Darstellungsstruktur des Zykli-
licht, das Werk bewusster zu sehen und umfassender zu
schen untersucht die vorliegende Arbeit im 9. Kapitel.
Dort wird über das Was des Mitgeteilten hinaus nach
zumal Hrdlicka kein Wissenschaftler, sondern ein bilden-
dem Wie gefragt. An diese Überlegungen anknüp-
der Künstler ist. Sein Vorgehen ist dahin gehend zu inter-
fend, beschäftigt sich Kapitel 10 mit Stil und Gehalt von
pretieren, dass er sich der Komplexität seines Vorhabens
Hrdlickas modernem Realismus. Im Zentrum steht die
und der Wichtigkeit einer reflektierten Vorgehensweise
Frage, wie Grausamkeit und Gewalt in Kunst übersetz-
bewusst ist. Das gerne bemühte Diktum vom »Chaotiker«
bar ist, warum sich ein Künstler ihrer Darstellung ver-
Hrdlicka, das auf Elias Canetti zurückgeht, erfasst nicht die
schreibt und welches Menschenbild Hrdlickas Werken
Eigentümlichkeit der Serie »Wie ein Totentanz«.13 Seine
zugrunde liegt.
Werke sind nicht das Ergebnis eines spontanen, fassungs-
Darauf aufbauend wird im 11. Kapitel der Ausdrucks-
losen Sichgehenlassens bzw. emotionaler »Entladungen«,
gehalt des gesamten Zyklus interpretiert. Es stellt die
sondern mit Problembewusstsein geplant: Hrdlicka hat
wesentliche Zusammenfassung der in den einzelnen Ab-
sich als Künstler vor und auch während seiner Arbeit ganz
schnitten erarbeiteten Ergebnisse dar und beantwortet
konkret mit der Herausforderung befasst, wie ein Einzel-
die Fragen nach dem Gehalt des Zyklus und seiner Bot-
ner historisch und sozialpsychologisch derart umfassen-
schaft. Das folgende 12. Kapitel geht auf die Bedeutung
den und komplexen Phänomenen wie den Grausamkeiten
und Aktualität von Hrdlickas Kunst ein. Abschließend
des NS-Deutschlands gerecht werden kann. Die Proble-
werden unter Punkt 13 die wesentlichen Ergebnisse der
matik der Aufarbeitung besaß und besitzt nach wie vor
vorliegenden Untersuchung geschlossen präsentiert.
gesamtgesellschaftliche Relevanz.
Der Anhang enthält einen Abschnitt zur Rezeptions-
Die Schwierigkeit und Herausforderung, vor der Hrd
geschichte. Dieser gibt einen Überblick über die Ausstel-
licka dabei stand, ist im Unterschied zur lebenswelt-
lungen des Zyklus »Wie ein Totentanz« und berichtet
lichen Problematik der Verarbeitung jedes Einzelnen
von einschlägigen Aufsätzen und Katalogbeiträgen.
eine spezifisch künstlerische: Wie sind die Schrecken des »Nationalsozialismus« mit bildnerischen Mitteln um-
Dass ein Künstler einem Thema 53 ausgewählte Graphi-
setzbar? Ein Blick auf die Berliner Stelen von Peter Eisen-
ken mit bedeutungs- und anspielungsreichen Bildtiteln
man zeigt, inwiefern sich das Postulat der Undarstell-
widmet, 52 Kommentare verfasst und unterschiedlichste
barkeit des »Holocaust« zu einem neuen Bilderverbot
Literatur konsultiert , zeugt von einer intensiven Beschäf-
verselbstständigt hat. Die Analyse der konstruierenden
tigung. Zugrunde liegt ein äußerst intellektueller Ansatz,
und selbstbezüglichen Momente der erzählenden oder
12
13
12
Folgende Literatur zitiert Hrdlicka in seinen Kommentaren:
Vgl. Christine Pielken: Der Mensch ist des Menschen Tod.
J. C. Fest: Hitler – Eine Biographie; P. Hoffmann: Widerstand,
Zur Hrdlicka-Druckgraphiksammlung der Universität, in:
Staatsstreich, Attentat; H. G. Adler: Der verwaltete Mensch;
Jürg Meyer zur Capellen/Christine Pielken/Daniela Winkel-
V. v. Gostomski u. W. Loch: Der Tod von Plötzensee; ferner:
haus-Elsing (Hg.): Alfred Hrdlicka – Ästhetik des Grauens
Schriften von Giacomo Casanova, Henriette Vogel, Friedrich
– Die Wiedertäufer, Münster 2003, S. 67 [im Folgenden zit.
Engels, Otto Weininger, Thomas Mann, Albert Speer.
als: Christine Pielken 2003].
1. Einleitung
15
darstellenden Erinnerung, die daher nie authentisch sein
Wieland Schmied notierte diesbezüglich:
kann, ist indes kein Argument gegen die Möglichkeit dieser Form der Erinnerung. Sie ist lediglich eine Beschrei-
Können wir denn noch lesen? Gehen uns Wort und Bild
14
bung ihrer Eigenart, derer man sich bewusst sein muss.
noch zusammen? Verbindet sich noch die Nachricht mit
Die Eigentümlichkeit der methodischen Struktur ei-
der Vorstellung? Erreicht sie noch unser Bewußtsein?
ner künstlerischen Erinnerungsform besteht sodann in
[…] Alle Ereignisse verlieren ihren Geschmack und Ge-
ihrer möglichen Universalität. Aus diesem Grund lässt
ruch. Alles unterliegt dem Raster und dem Klischee, al-
sich die These aufstellen, dass eine Werkgestalt – sofern
les ordnet sich in Spalten und Kästchen […]. Da stehen
der Künstler sein Vorhaben anschaulich umsetzt – über-
die Namen von Orten und die Namen von Männern,
tragbaren Vorbild-Charakter hat. Das heißt, dass eine
und immer meinen sie Blut und Betrug, Totschlag und
Methode auch unabhängig von der besonderen künst-
Täuschung, Machtgier und Ehrgeiz, Intrige und Eitel-
lerischen Form grundsätzliche Vorgehensweisen aufzu-
keit, und immer bedeuten sie Untat und Unglück. […].
zeigen vermag.
Wer kann das noch aufnehmen? Wie müßte ein Gewis-
Der rote Faden, der sich durch die vorliegende Arbeit
sen beschaffen sein, das das alles verarbeitet? Und auf
zieht, spürt exakt diesen Fragen nach: Gelingt Hrdlickas
welche Weise könnte es reagieren? Hrdlicka gibt uns
»Künstlerwollen«, vermag sein Zyklus zum 20. Juli zu
ein Beispiel.15
überzeugen, und kann er uns mit seinem Versuch der Verarbeitung und Bewältigung eines unfassbaren und unaussprechlichen Grauens ein Beispiel geben?
14
Vgl. Hottner, Wolfgang: Die Erfindung vertritt die Erinnerung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 255, 2. 11. 2011, S. N3. Nach Abschluss des Manuskriptes erschien von Gerald Schröder: Schmerzensmänner, München 2011. Schröders Studie geht davon aus, dass in den Werken von Günter Brus, Rudolf Schwarzkogler und Arnulf Rainer eine überzeugende »Auseinandersetzung« (scheinbar eine Zerreißprobe à la Brus) der österreichischen Kunst der 1960er und 1970er Jahre mit der NS-Zeit, mit körperlichem Schmerz und psychischen Traumata stattfindet. Die Tatsa-
16
1. Einleitung
15
Wieland Schmied: Alfred Hrdlicka will gelesen werden, in:
che, dass auf den annähernd 600 Seiten kein einziges Mal,
Alfred Hrdlicka – Graphik, mit Werkkatalog, Frankfurt a.
nicht einmal in den Fußnoten, der Name Alfred Hrdlicka
M./Berlin/Wien 1973, S. 86 [dieses erste Graphik-Werkver-
erwähnt wird, darf als unhistorisch und inkonsequent
zeichnis wird im Folgenden zit. als: Alfred Hrdlicka – Gra-
bezeichnet werden.
phik – 1973].
2. Bestandsaufnahme
D
er Radierzyklus »Wie ein Totentanz – Die Ereig-
Interview von 2008 bekannte er: »Ich geb’s zu, ich lie-
nisse des 20. Juli 1944« wurde 1974 ediert. Die
fere zu meinen Bildern gerne den Ton mit, ich bin ein
Maße der mit schnellem Strich innerhalb von
Fernseher.«18 Wie die zum Teil langen, literarisch anmu-
ca. drei Monaten gezeichneten 53 Metallplatten vari-
tenden Bildtitel tragen sie wesentlich zum Verständnis
iert: die kleinste misst 18,9 x 18,1 cm und die größte 60
bei. Nicht übersehen werden darf, dass Hrdlickas Stel-
x 95,7 cm. Die Papierformate (BFK Rives) sind einheitli-
lungnahmen zu den historischen Vorgängen sich oft nur
cher gewählt. 18 Blätter sind 53 x 76 cm groß, 35 Blätter
indirekt auf die entsprechenden Radierungen beziehen.
76 x 100,6 cm. Das Mappenwerk ist vom Berliner Propy-
Die Graphiken sind keine Illustrationen der Texte und die
läen Verlag in dreißig Exemplaren und von der Pantheon
Texte keine Bildbeschreibungen.
Presse in Rom in zwanzig Exemplaren herausgegeben worden.
Die Technik der Tiefdrucke reicht von der typischen Ra-
Nebst einigen Épreuves d’artistes und mehreren Zu-
dierung, der leicht von der Hand gehenden Strichätzung
standsdrucken entstanden zusätzlich elf Variationen zu
auf Kupferplatten, bis hin zu mehrfach überarbeiteten
den einzelnen Blättern und sechs weitere Szenen. Fer-
Aquatinten. Besonders eindrucksvoll ist, wie Hrdlicka
16
ner schrieb Hrdlicka im selben Zeitraum zu den einzelnen Arbeiten bzw. ihren thematisierten Hintergründen erläuternde Anmerkungen, außer zu Blatt 18.17 In einem
diskutieren bei Valentien über das Thema Widerstand, in: Stuttgarter Nachrichten, Nr. 167, 18. 07. 1974, S. 16). Ausstellungs.-Kat. folgender Jahre druckten ihn selten
16 Vgl. LEWIN III/1, 618–634.
ab. Alle Anmerkungen sind erstmalig auf den jeweiligen
17
Die Zitate der Kommentare rekurrieren auf LEWIN IV, 56.
Schutzumschlägen des Propyläen Verlages veröffentlicht
Hrdlickas Texte zu »Wie ein Totentanz« sind, bezüglich der
worden. Manfred Chobots dreibändiges Graphik-Werkver-
Anordnung der Graphiken, mit Nummern versehen. Im
zeichnis von 1975 (Folge II, Politische Radierungen, Zyklus
Folgenden werden sie ausschließlich unter der entspre-
»Wie ein Totentanz«) sowie der Berliner Katalog 1975
chenden Ziffer zitiert. Der einführende Text, die »Vorrede«, wurde das erste Mal am 18. Juli in den »Stuttgarter Nachrichten« veröffentlicht (Schöllkopf und Hrdlicka
machten sie einem breiteren Publikum zugänglich. 18
Alfred Hrdlicka im Interview mit Hanno Rauterberg, in: DIE ZEIT, Nr. 9, 21. 02. 2008, S. 25.
2. Bestandsaufnahme
17
auf den meisten Blättern in komplizierten Verfahren
sondern ein vierseitig bedrucktes Faltblatt. Manfred
verschiedenste Möglichkeiten der Plattenbearbeitung
Chobots dreiteiliges Graphik-Werkverzeichnis von 1975
miteinander kombiniert: dunkle Aquatinta-Gründe oder
publizierte erstmals alle 53 Arbeiten.20 Der Katalog des
die noch schwärzeren Mezzotinto-Zonen stehen im
Berliner Propyläen Verlags im selben Jahr zur Ausstel-
Verbund mit versierter Schabtechnik und prägnanten
lung der Mappe in der Nationalgalerie Berlin ist die ers-
Akzentsetzungen durch Kaltnadel, Stichel und Roulette.
te Veröffentlichung, die sich ausschließlich dem Zyklus
Auf diese Weise werden die mannigfaltigen Methoden
widmet.21 Maßgeblichen Anteil hatte daran der Verleger
der Radierung mit den Techniken des Kupferstichs und
Wolf Jobst Siedler, der nicht nur Joachim Fest zu seiner
der polierenden Schabekunst vermischt. Dabei bezieht
Biographie über Hitler anregte, sondern auch lange Ge-
der Künstler den Zufall mit ein und integriert »abstrakte«
spräche mit Fest und Hrdlicka in Wien und Berlin führte.22
Bildelemente durch Direktätzung oder nicht vollständig
Obwohl es sich bei dem Zyklus zum 20. Juli um öffentlich
weggewischte Druckfarbe. Auch Schmirgelpapier findet
memorierende Kunst handelt und die Konfrontation mit
Verwendung. In vier Platten kratzte Hrdlicka längere
dem Werk ein Aufklärungs- und Bildungserlebnis bedeu-
Schriftzüge. Auffallend sind zudem die lange und damit
tet, steht kein offizieller Auftrag im Hintergrund.23 Zu
tief geätzten Zinkplatten, die bereits durch den säurebe-
beachten ist die schon durch den Titel nahegelegte Ver-
ständigen Abdecklack leicht korrodieren und damit auf
bindung von »Wie ein Totentanz« zum zwei Jahre vorher
der ganzen Fläche leicht aufgeraut werden und einen
abgeschlossenen »Plötzenseer Totentanz« im Evangeli-
starken Plattenton hinterlassen. Die Möglichkeiten der
schen Gemeindezentrum Charlottenburg-Nord. Auch im
druckgraphischen Techniken kreativ entfaltend, zeich-
Berliner Totentanz konfrontiert Hrdlicka den Betrach-
net Hrdlicka in nervöser, zuweilen skizzenhaft anmutender Strichführung drastische Figurenszenen. Auf dem
veröffentlichte am 22. Juli den Artikel von Gerhard Hesler:
einzelnen Blatt stehen detailreiche Verdichtungen mit
Dramatische Bilder, scheue Begegnungen, in: Stuttgarter
aufgelockerten, offeneren Zonen im Dialog und steigern
Zeitung, 22. 07. 1974. Der Verfasser bedankt sich für die
sich in ihrer Wirkung gegenseitig. Dies wird im Einzelnen
freundliche Unterstützung bei Frau Seger, Galerie Valenti-
noch zu zeigen sein.
en. 20
Vom 20. Juli bis zum 15. August 1974 präsentierte der Galerist Freerk Valentien Hrdlickas Andrucke in Stuttgart
Vgl. Alfred Hrdlicka – Radierungen, Folge II, Politische Radierungen, Zyklus »Wie ein Totentanz«, Berlin 1975.
21 Vgl. AK Berlin 1975. 22
in der Galerie am Königsbau.19 Es erschien kein Katalog,
Vgl. Trautl Brandstaller: Alfred Hrdlicka – Stein des Anstoßes, in: Hrdlicka – Eine Hommage, hg. v. Trautl Brandstaller u. Barbara Sternthal, St. Pölten/Salzburg 2008, S. 25 [im Folgenden zit. als: Trautl Brandstaller 2008].
19 18
2. Bes tandsaufnahme
Freerk Valentien zeigte Hrdlickas Werke zusammen
23
Es fand jedoch eine enge Zusammenarbeit mit dem Ber-
mit einer Porträtserie von 23 Radierungen von Günter
liner Propyläen Verlag statt. Entscheidende Anregungen
Schöllkopf zum 20. Juli 1944. Die »Stuttgarter Zeitung«
stammen von Wolf Jobst Siedler.
ter unter anderem mit den grausamen Hinrichtungen von »Vaterlandsverrätern« nach dem 20. Juli 1944. Die großformatigen Graphitzeichnungen entstanden in den Jahren von 1970 bis 1972, da der Pfarrer Bringfried Naumann 1969 den Wiener Künstler beauftragte, Wandbilder für das Gemeindezentrum zu gestalten.24 Abschnitt 7.2 wird auf die Berliner Tafeln genauer eingehen.
24
Vgl. zum »Plötzenseer Totentanz«: Alfred Hrdlicka – Skulptur und große Zeichnungen, Werkkatalog v. Manfred Chobot, Wien/München 1973 [im Folgenden zit. als: Alfred Hrdlicka – Skulptur – 1973]; Bringfried Naumann (Hg.): Alfred Hrdlicka – Des anderen Last, Druckgraphik, Zeichnungen, Skulpturen, Ausstellung zum Kirchentag Berlin, Sonderdruck Kirchliche Nachrichten in Berlin-Charlottenburg, Berlin 1977 [im Folgenden zit. als: Bringfried Naumann 1977]; Ingrid Mössinger: Der Plötzenseer Totentanz – im Evang. Gemeindezentrum Plötzensee, München 1982 [im Folgenden zit. als: Ingrid Mössinger 1982]; Dietrich Schubert: Hrdlickas Gummitod, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 48/49, Köln 1988, S. 409–427 [wieder in: ders.: Alfred Hrdlicka – Beiträge zu seinem Werk, Worms 2007, S. 59– 78, im Folgenden zit. als: Dietrich Schubert 2007]; ders.: Funktionen und Formen der Handzeichnung im Werk Alfred Hrdlickas, in: AK Magdeburg: Alfred Hrdlicka – Der Tod und das Mädchen, Werke 1944–1997, hg. v. Matthias Puhle u. Jürgen Fitschen, Ausstellung im Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen, Magdeburg 2000, S. 35–52 (wieder in: Dietrich Schubert 2007, S. 83–105).
2. Bestandsaufnahme
19
Abb. 1 Weder Fromm noch Kluge Nr. 35; 600 x 948 mm; Ätzung und Kaltnadel auf Kupfer; LEWIN III/1, 599
3. Thematische Übersicht über den Zyklus
D
er im Wesen eines Zyklus liegende Zusammen-
Dem Titel zufolge thematisiert der Zyklus die späte
hang einzelner Werke ist bei »Wie ein Toten-
Revolte von Wehrmacht-Offizieren gegen Hitler, kul-
tanz« noch zwingender als bei jedem anderen
minierend in dem Attentatsversuch von Claus Schenk
Zyklus Hrdlickas, da er hier erstmals eine chronologische
Graf von Stauffenberg am 20. Juli 1944. Doch schon der
Erzähltechnik entwickelt, changierend zwischen großen
erste Blick auf alle 53 Werke und ihre jeweiligen Bildti-
Zeitsprüngen und dem Verweilen bei wichtigen Ereignis-
tel verrät, dass dieses historische Ereignis nicht auf allen
sen. So werden beispielsweise die Geschehnisse eines
Blättern gegenwärtig ist. In streng chronologisch ausge-
einzigen Tages, des 20. Juli 1944, auf elf Radierungen
wählten Episoden und veritablen »Momentaufnahmen«
entfaltet. Im Kontrast dazu liegen zwischen den darge-
nähert sich der Künstler erst seinem Sujet, um sich an-
stellten Szenen des ersten und des zweiten Blattes 47
schließend wieder davon zu entfernen bzw. um darauf
Jahre Historie. Andererseits verdichtet Hrdlicka, im Sin-
Folgendes aufzugreifen. Dadurch suggeriert er die Vor-
ne fotografischer Überblendungen, auf einem einzelnen
stellung, im Rahmen der Aufarbeitung des 20. Juli auch
Blatt räumlich und zeitlich unterschiedliche Momente,
Ursachen und Wirkungen mit einzubeziehen. Greift man
die verbunden sind mit den vorhergehenden und nach-
auf die von Hrdlicka selbst verfassten Kommentare zu-
folgenden Graphiken. Ein Beispiel dafür ist Blatt 35 We-
rück, dann wird deutlich, dass er den deutschen Faschis-
der Fromm noch Kluge (Abb. 1).
mus fest in militärischen Ordnungssystemen verwurzelt
In diesem Abschnitt wird versucht, jenen Erzähl-
sieht, die eine unheilvolle Verbindung mit enttäuschtem
strang zu rekonstruieren und anhand von ausgewählten
Größenwahn und damit einhergehenden Selbstzerstö-
Graphiken zu erläutern. Die Zusammenstellung mehre-
rungstendenzen eingingen.
rer Werke zu einem Zyklus bedeutet in der Regel eine
Diese Ideen müssen jedoch nachvollziehbar gemacht
Folge von Darstellungen gleicher Thematik. Daraus er-
werden. Schließlich könnte die Reihung der einzelnen
geben sich Fragen wie: Worin besteht die Perspektive,
Arbeiten wesentlich heterogener sein. In einem Inter-
die alle zur Mappe zählenden Graphiken vereint? Welche
view mit Walter Schurian erläutert Hrdlicka: »Wie ein To-
sind die bestimmenden Inhalte, die der Zyklus auf sei-
tentanz beginnt mit einer Eingrenzung, indem ich etwa
nem roten Faden aufreiht?
die Vorgeschichte des preußischen Staates beschreibe. […] Wie ein Totentanz ist ein festgelegtes Thema, das
3. Thematische Übersicht über den Zyklus
21
am Hof Friedrichs des Gro��������������������������������� ßen������������������������������ (Abb. 2) bildet eine Art einleitende »Exposition«, in der das Hauptmotiv vorgestellt wird. Im rechten Bilddrittel posiert eine Figur in Uniform. Ihre Gestik vermittelt repressive Dominanz. Zu ihren Füßen kriecht eine verängstigte Gestalt mit einer Zahnbürste in der rechten Hand: Eine frühe Vorwegnahme des »Straße waschenden Juden« von 1977/1984. Aus Hrdlickas Kommentar erfahren wir, dass Friedrich II. bei einer Kaserneninspektion, der Casanova beiwohnen durfte, in brüllenden Generalston verfiel, weil ihn ein unsauberer Nachttopf verärgerte. Dieser ist in der linken unteren Ecke des Querformats dargestellt. Hrdlicka lässt die phosphoreszierenden Gestalten des Blattes durch Schabkunst in gespenstischem Licht vor dunklem, unbestimmtem Aquatintafond aufleuchten, als sehe er das längst Vergangene in historischem Röntgenblick neu. Mit diesem Blatt deutet er bereits an, was seiner Auffassung nach das eiAbb. 2 Casanova am Hof Friedrichs des Großen
seinen Höhepunkt im Attentat auf Hitler findet und mit
gentliche Feindbild des Militarismus ist: die Unordnung,
Nr. 1; 316 x 600 mm; Aquatinta geschabt; LEWIN III/1, 565
der Niederschlagung der Aktion ›Walküre‹ und der Hin-
das Zivile, das unkontrollierbar Individuelle.27
richtung der Beteiligten endet.«25 Programmatisch setzt
Der Darstellung des Zivilisten Giacomo Casanova
die umfangreiche Folge 180 Jahre früher, sprich 1764 bei
folgen Blätter zu Kleist, Wagner, Weininger und Nolde.
Friedrich dem Großen ein, der Sachsen und Schlesien
Beschäftigt sich Hrdlicka bei den drei Letztgenannten
überfallen hatte und in dem Hrdlicka den preußischen
mit dem morbiden Reigen von Innerlichkeit und Assi-
Militarismus verkörpert sieht. Das erste Blatt Casanova
milation, so sieht er in Kleist, Spross eines preußischen
26
Offiziersgeschlechts, die Kraft des zivilen Ungehorsams 25
Zit. nach: Walter Schurian (Hg.): Von Robespierre zu Hitler – Die Pervertierung der Revolution seit 1789, Hamburg 1988,
verkörpert. Dieses »andere Preußen« begegnet uns in Herders Worten:
S. 19 [im Folgenden zit. als: Walter Schurian 1988]. 26
Es ist allgemein bekannt, dass Goebbels im Preußenkönig
Absicht Veit Harlans Film »Der große König« uraufgeführt
Friedrich II. den »ersten Nationalsozialisten« sah und Hitler
wurde und dass im Berliner »Führerbunker« das Friedrich-
sich mit Vorliebe in ihm spiegelte. In der Tat sah der »Phi-
Porträt von Anton Graff hing. Vgl. den gebündelten Kom-
losophenkönig« des Siebenjährigen Krieges im Judentum
mentar von Rainer Blasius: Der Preußen-König und der
eine Sekte, die es auszulöschen gelte. Ferner ist daran 22
3. Thematische Übersicht über den Zyk lus
zu erinnern, dass am 3. März 1942 in propagandistischer
Nazi-Feldherr, in: Faz, Nr. 3, 4. 01. 2012, S. 8. 27
Zum »Feindbild Unordnung« vgl. Text 6.
Was ist Nation? Ein großer, ungejäteter Garten voll Kraut und Unkraut. Wer wollt sich dieses Sammelplatzes von Torheiten und Fehlern so wie von Vortrefflichkeiten und Tugenden ohne Unterschied annehmen und […] gegen andere Nationen den Speer brechen? Lasst uns, so viel wir können, zur Ehre der Nation beitragen; auch verteidigen sollen wir sie, wo man ihr Unrecht tut […] sie aber ex professo preisen, das halte ich für einen Selbstruhm […]. Offenbar ist die Anlage der Natur, daß wie Ein Mensch, so auch Ein Geschlecht, also auch Ein Volk von und mit dem anderen lerne […] bis alle endlich die schwere Lektion gefaßt haben: kein Volk ist ein von Gott auserwähltes Volk der Erde; die Wahrheit müsse von allen gesucht werden […]. So darf sich auch kein Volk Europas vom anderen abschließen, und töricht sagen: bei mir allein, bei mir wohnt alle Weisheit.28 Dieses antinationalistische, liberale Denken, sich aufreibend am deutschen Untertanengeist, resigniert letzten Endes. Kleist erschoss sich und seine Freundin Henriette Vogel am 21. November 1811. Auf Hrdlickas Graphik Heinrich von Kleist verübt gemeinsam mit Henriette Vogel Selbstmord (Abb. 3) liegen beide am Ufer des Kleinen Wannsees tot im Gras. Die Tatsache, dass Hrdlicka dieses Blatt in den Zyklus mit aufgenommen hat, zeugt von dem Versuch, eine gedankliche Verbindung zu den Offizieren des deutschen Widerstands zu knüpfen.
Abb. 3 Heinrich von Kleist verübt gemeinsam mit Henriette Vogel Selbstmord Nr. 2; 601 x 501 mm; Ätzung und Direktätzung auf Kupfer; LEWIN III/1, 566
28
Zit. aus: Herder Lesebuch, hg. v. Siegfried Hartmut Sunnus, Frankf./Leipzig 1994, S. 268 f.
3. Thematische Übersicht über den Zyklus
23
Abb. 4 Paramilitärische Paralyse der Weimarer Republik Nr. 6; 600 x 957 mm; Ätzung, Direktätzung und Kaltnadel auf Kupfer; LEWIN III/1, 570
Mit dem sechsten Blatt kommt Hrdlicka zur Paramili-
schließlich eine Art von Partisanentum, einen Guerilla-
tärischen Paralyse der Weimarer Republik (Abb. 4). Auf
krieg organisieren können. Der einzige Waffenträger der
großem Format zeigt es eindrucksvoll, wie unterschied-
Nation wurde die Reichswehr. Selbst Hitler hat über den
liche Freikorps und Milizen »das demokratische Gefüge
unelitären SA-Pöbel gespottet, Röhm störte ihn.
in ein Chaos«29 verwandeln. Es folgen Radierungen zur
Der neue Mensch dagegen, so der Titel der zwölften
Wehrmacht, zur Parteiarmee SA und zum angeblichen
Graphik (Abb. 5), funktioniert auf hohem Niveau. Dieses
»Röhm-Putsch« am 30. Juni 1934. Hrdlicka bearbeitet
erreicht er über militärischen Drill. Im linken unteren
dieses Thema karikaturistisch – nicht zuletzt, weil in ge-
Eck des Querformats ist zu sehen, wie jemand mit einer
wisser Hinsicht schon die SA am Widerstand scheiterte.
Zahnbürste den Boden schrubbt. Zu seinem ersten Haar-
Als das Millionenheer seine Macht und Funktion an die
mann-Zyklus aus dem Jahr 1965 bemerkte der Bildhau-
SS und an die Wehrmacht übergeben musste, hätte es
er: »Mit der Zahnbürste die Stube scheuern, zählte im Dritten Reich zu jenen arbeitstherapeutischen Maßnah-
24
3. Thematische Übersicht über den Zyk lus
29
Text 6.
men, mit denen man Sauberkeit und Vollbeschäftigung
demonstrieren wollte.«30 Insbesondere aber waren es Wiener Juden, die 1938 pro-österreichische Parolen von den Straßen bürsten mussten. Doch auch der »Arier« verkörpert nicht den Selbstwert des Individuums. Der neue Mensch ist ein schneidiger Soldat – selbst noch auf dem »Donnerbalken«. Er muss in einem anstehenden Krieg gut kämpfen können. Dafür wird er diszipliniert und getrimmt: Er macht Liegestütze, marschiert im Gleichschritt und hebt gehorsam den rechten Arm zum »deutschen Gruß«. In seinem Beitrag zur Graphikmappe anlässlich des vierzigjährigen Jubiläums der Befreiung des KZ Mauthausen 1985 schrieb Hrdlicka über die stumpfsinnigen Rituale des Faschismus: Wehrertüchtigung war im Dritten Reich obligatorisch und fast hatte man den Eindruck, sie sei Sinn und Zweck jedweder staatlichen Einrichtung. […] In meinem letzten Schuljahr wurde die Klasse samt Lehrpersonal […] zwecks körperlicher Ertüchtigung aufs Land verfrachtet, nach Ausschlag-Zöbern, Niederösterreich. Was dort gelehrt wurde, kann man sich vorstellen: Bettenbau, Aufstehen, Niedersetzen, Rechtsum, Linksum, Robben, Liegestütz, Kniebeuge, Geländemarsch, Rot gegen Blau, Grüßen, Meldung machen, und die dazugehörige Seelenmassage, damit der deutsche Junge auch weiß, warum er schon in frühen Jahren so sinnlos he rumhampelt.31
30
Alfred Hrdlicka, in: Alfred Hrdlicka: Schaustellungen, Bekenntnisse in Wort und Bild, hg. v. Walter Schurian, München 1984, S. 120 [im Folgenden zit. als: Schaustellungen 1984].
31
Alfred Hrdlicka: Höhlenbewohner [1985], in: LEWIN IV, 181.
Hrdlicka zeigt, dass faschistische Tendenzen sich viel-
Abb. 5 Der neue Mensch
fältig manifestieren. Beispielhaft dafür ist das Prinzip
Nr. 12; 501 x 601 mm; Ätzung auf Zink; LEWIN III/1, 570
des widerspruchsfreien Gehorsams, der Mechanismus von Befehl und Durchführung sowie die Zurechtstutzung alles Heterogenen in ein Ordnungssystem, in dem
3. Thematische Übersicht über den Zyklus
25
Abb. 7 Gefallenenehrung auf dem Luitpoldfeld in Nürnberg (1934)
nationalsozialistische Wahlversammlung schreibt: ›Zuerst einmal übten sie aufstehen und niedersetzen‹.«32 Zusammenfassend lässt sich sagen: Der neue Mensch ist ein blind gehorchender, angepasst das System stützender und also ein missbrauchbarer. Der neue Mensch ist eine Marionette, folglich das Gegenteil des Ideals der Expressionisten nach dem Krieg, z. B. von Georg Kaiser und René Schickele formuliert. Auch Die schönste Form (Abb. 6) wurde im »Dritten Reich« nicht human, nicht körperlich oder künstlerischpersönlich gedacht. Dem Titel zufolge ist sie die des Stahlhelms, sind es die Formen einer technizistischen Abb. 6 Die schönste Form
das Individuelle nur mehr in Reih und Glied marschiert.
Nr. 13; 500 x 600 mm; Aquatinta geschabt;
»Nicht die Einsicht in politische Zusammenhänge war
LEWIN III/1, 577
es unbedingt, die mich die Nazis hassen ließ, sondern schon deren Umgang miteinander, dieses andauernde Männchenmachen und Herumgehampel, Ehrenbezeu-
26
3. Thematische Übersicht über den Zyk lus
gung, Grußpflicht oder, wie schon Tucholsky über eine
32
Ders.: Die Ästhetik des automatischen Faschismus, in: LEWIN IV, 166; der ursprünglich in »Literatur Konkret« 1983 veröffentlichte Essay wurde wiederabgedruckt in: Schaustellungen 1984, S. 106–112; der Verfasser zitiert den Text im Folgenden nach der Gesamtausgabe der Schriften.
und konstruktivistischen Ordnung, die das Maß vorgeben: Die schönste Form muss eckig, zackig und rechtwinklig sein. »Symbole, Runen, Uniformen, Standarten, Aufmarschpläne für geometrisch geordnete Menschenmassen, die das Aufgehen im Großen und Ganzen vorexerzierten, waren vorrangige künstlerische Anliegen der Nazis«33, so Hrdlicka (Abb. 7). Auf dass das Mechanische über das Organische obsiege und jedes Haupt sich im sterilen Design präsentiere. Denn »ein Uniformierter kommt sich nie so überflüssig vor wie ein Zivilist, sagten sich die Nazis«.34 Inwiefern lauert in der Radikalität der Reinheit, in Sauberkeit, der Ordnung und der »männlich«-geometrischen Sterilität – ob nun in ästhetisch-theoretischer oder in lebensweltlich-praktischer Hinsicht – das Monströse und Gewalttätige, und zwar weil es alles Physische, Lebendige und Chaotische diskriminiert? Die Problematisierung dieses Zusammenhangs darf als eines der zentralen Themen in Hrdlickas Œuvre betrachtet werden. Das Phänomen der mathematischlogischen Realitätsrepräsentanz ist vor dem Horizont von Hrdlickas Beschäftigung mit Winckelmann, Mondrian und dem homosexuellen Massenmörder Haarmann zu betrachten. In der klassizistischen Reinheits- und Vollkommenheitsästhetik erkennt Hrdlicka Momente eines Männlichkeitskultes. Dessen Paradigma – kantige »Einfalt« und phallische »Größe«35 – liegt für Hrdlicka dem
seine Lehre verfasste, war er alles denn impotent, seine
Abb. 8 Lebensborn (Der SS-Staat)
preußischen Militarismus zugrunde. »Als Winckelmann
ganze Schönheitslehre gilt der männlichen Gestalt, al-
Nr. 15; 450 x 600 mm; Aquatinta geschabt;
lerdings in verklausulierter und kompensierter Form.«
LEWIN III/1, 579
33
Ebd., S. 181; »Die Nazis waren massentypisierte Avantgar-
Und unter Bezugnahme auf das Italien der 1920er-Jahre
de«, sagte Hrdlicka an anderer Stelle – vgl. Dietrich Schu-
beobachtete Hans Ulrich Gumbrecht: »Virilität wird im
bert 2007, S. 47. 34 35
36
Text 6.
faschistischen Leben und in der faschistischen Kunst
Vgl. Derridas Kritik am »Phallogozentrismus«. (Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt a. M. 1983 )
36
Alfred Hrdlicka: Winckelmann, in: Schaustellungen 1984, S. 118.
3. Thematische Übersicht über den Zyklus
27
zur Norm. Die Gabelung der weiblichen Identität – entweder Mutter oder Prostituierte – wird offiziell auf den positiven Pol reduziert und inoffiziell bestätigt.«37 In den Graphiken zum Körperkult der straff geführten Turnjugend und den Heimen des LebensbornVereins entlarvt Hrdlicka die Ideologie der »nordischen Reinrassigkeit«. Geht es in den Zuchtanstalten der Nazis doch in erster Linie um »Menschenmaterialbeschaffung für ein Feudalheer«38, um »Kanonenfutter«39 für einen Krieg, der Menschen für strategische und ökonomische Interessen funktionalisiert. Die Aquatinta-Arbeit Lebensborn (Der SS-Staat) (Abb. 8) veranschaulicht das rassisch »hochwertige Produkt« aus der Synthese von »blutsguten Ariern«: einen zukünftigen Berg zusammengeschossener Kriegsleichen. Die zerstückelten Gliedmaßen in der Mitte des Blattes sind mit den schönen Körpern links und rechts kontrastiert. »Auf der einen Seite […] die schöne, keusche, heroische Frau«40, für Hrdlicka das Frauenbild des Faschismus. Auf der anderen der anonyme, ordentlich salutierende Athlet. Die indirekten sexuellen Anspielungen des erhobenen männlichen Armes und des von der weiblichen Turnerin in die Höhe gereckten Reifs sind für Hrdlicka untypisch. Er neigt eher zur
Abb. 9 Der Schönheitsstaat Nr. 14; 502 x 649 mm; Kaltnadel, Ätzung und Stichel auf Kupfer; LEWIN III/1, 578
37
Hans Ulrich Gumbrecht: 1926, Ein Jahr am Rande der Zeit, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 2001, S. 335.
38
Text 12.
39
Text 15.
40
Alfred Hrdlicka im Interview: Ein jakobinischer Denkmalkünstler, in: Erich Fried/Alfred Hrdlicka/Erwin Ringel: Die da reden gegen Vernichtung, Psychologie, bildende Kunst und Dichtung gegen den Krieg, hg. v. Alexander Klauser u. Judith Klauser u. Michael Lewin, Wien 1986, S. 131 [im
28
3. Thematische Übersicht über den Zyk lus
Folgenden zit. als: Fried/Hrdlicka/Ringel 1986].
direkten Gestaltung. Es kann sich daher um eine parodistische Bezugnahme auf die technoide Verbrämung des Sexuellen bei den Nazis handeln. Ähnlich setzt der Künstler auch die »konstruktivistische Rahmung«41 des Weiblichen durch das Rhönrad ins Bild (Abb. 9): Der Schönheitsstaat. Sofern Hrdlicka tatsächlich eine historische Kontextualisierung seines Stoffes leistet, erwartet man Radierungen zu den Schrecken des Krieges, zum DeutschFranzösischen Krieg von 1870/71 sowie zum verlorenen Ersten Weltkrieg. In diesen Zusammenhang sind die Blätter 17, 18 und 23 gestellt. Die beiden ersten widmen sich ironisch dem Krieg als »Handwerk« und »Familien tradition« von Stauffenberg und Hitler. Im Zentrum dieser Thematik steht die 23. Graphik des Zyklus, mit dem Titel: Hitler zu General Guderian: »Glauben Sie, daß die Grenadiere Friedrichs des Großen gern gestorben sind?« (Abb. 10). Wie Untote taumeln die Grenadiere Friedrichs des Großen über die Schlachtfelder des russischen Winters. Oder tanzen die Soldaten in karikierender Manier ihren »Totentanz« nur auf dem Parkett eines Kostümballs? In seinem Text zur Graphik verweist Hrdlicka auf
Ein weiteres Blatt, das Züge des Stilelements der
Abb. 10 Hitler zu General Guderian: »Glauben Sie, daß die
die bewusst einkalkulierten Verluste der Hitler-Soldaten
Karikatur trägt und zu den eindrucksvollsten des Zy-
Grenadiere Friedrichs des Großen gern gestorben sind?«
im Russlandfeldzug. Der Künstler thematisiert einerseits
klus zählt, behandelt den Paranoide[n] Pantragismus
Nr. 23; 600 x 948 mm; Ätzung und Kaltnadel auf Kupfer;
die Heroisierung der militärischen Härte und anderer-
von Hitler und Benito Mussolini (Abb. 11). Die bei-
seits die historisierenden Verharmlosungen. In gleiten-
den Faschisten machen in einer Sommernacht 1941
der Bildzeitlichkeit treten Cäsar, Friedrich der Große im
in Weißrussland einen Spaziergang, während Hitler
Kontext des Siebenjährigen Krieges, der Deutsch-Fran-
von seinem hasserfüllten Kampf gegen die Welt zu
zösische Krieg und die beiden Weltkriege auf.
monologisieren scheint. Gesäumt ist ihr Weg von
LEWIN III/1, 587
Trümmern und Leichen. Sich in »schwärmerischen 41
Text 14.
3. Thematische Übersicht über den Zyklus
29
Abb. 11 Paranoider Pantragismus Nr. 21; 600 x 500 mm; Ätzung, Kaltnadel, Stichel und Wiegemesser auf Kupfer; LEWIN III/1, 585
30
3. Thematische Übersicht über den Zyk lus
Weltaufteilungsplänen«42 ergehend, zeigt Mussolini auf die Mondsichel. Hrdlicka zufolge teilt er Hitler mit, dass ihnen am Ende wohl nur noch der Mond als Ziel ihres Eroberungswillens bliebe. Im Zentrum der Radierfolge und in gewissem Sinne als ihre »Durchführung« stehen die Aufarbeitung des Attentatsversuches und die Bezeugung der grausamen Racheakte. Denn auf die gescheiterte »Revolte« folgte sogleich die brutale »Reaktion«, d. h. die Verurteilung und Massenhinrichtung der Widerstandskämpfer, angeblichen Mitwisser und vieler Unbeteiligter hinter den Mauern des Plötzenseer Gefängnisses. Die Radierung Das Attentat (Abb. 12) ist eines jener Blätter, in die der Betrachter sich lange hineinsehen muss. Das Zentrum des Querformats bildet die Andeutung einer senkrecht in die Höhe geschleuderten Tischplatte. Dadurch erscheint eine der vier Tischecken als Dreiecksspitze in der Fläche des Formats. Es muss dieses Möbelstück sein, welches die schräg im Raum stehende Figur nach hinten wirft. Die Arme der zentralen Figur sind emporgerissen, die Mütze fliegt vom Kopf
nach der Explosion zu sehen, die rechts davon noch in
Abb. 12 Das Attentat
und die Hose ist bereits zerfetzt. Allerdings scheint ge-
vollem Gange ist.
Nr. 31; Ätzung, Kaltnadel und grobes Schmirgelpapier auf
rade jene Platte sie auch vor den Tumulten im rechten
Dargestellt ist die Baracke im Führerhauptquartier ,
Raumdrittel zu bewahren. Die Imagination des Betrach-
wo gerade die Bombe explodiert. Die von dem Tisch wie
ters ergänzt den zeitlich früheren Moment, in dem alle
durch einen Schild geschützte Figur zeigt Adolf Hitler,
Beteiligten noch um den Kartentisch herum stehen.
dem es zwar die Hose in Streifen zerfetzte, der das At-
Die beruhigte Szenerie auf der linken Seite mit einem
tentat jedoch überlebt. Dazu Hrdlicka: »Wie stellt man
der fünf Kreuzfenster und den an der Wand lehnenden
ein misslungenes Attentat dar? Das Blatt trägt karikie-
43
Kupfer; 502 x 805 mm; LEWIN III/1, 595
Latten muss im Gegensatz dazu als ein im Geschehen späterer Moment verstanden werden: hier ist der Raum
43
Vgl. Edward Korpalski (Hg.): Das Führerhauptquartier (FHQu), Wolfsschanze im Bild, Eine Chronik, Rastenburg
42
Text 21.
1997 [im Folgenden zit. als: Edward Korpalski 1997].
3. Thematische Übersicht über den Zyklus
31
Abb. 13 »Die haben mich ja alle im Stich gelassen« Nr. 37; 499 x 488 mm; Ätzung, Kaltnadel auf Kupfer; LEWIN III/1, 601
32
3. Thematische Übersicht über den Zyk lus
rende Züge, was in dem Zyklus kein Einzelfall ist, zeichnet sich doch die Monstrosität des Nationalsozialismus nicht zuletzt durch ungeheure Lächerlichkeit aus.«44 Auf Blatt 37 (Abb. 13) sieht man Graf Schenk von Stauffenberg mit seiner charakteristischen Augenklappe rechts im Bild: ausweglos isoliert im Weiß des Papiers, eingefangen vom Türrahmen im Hintergrund, der ihm zum Käfig wird. Der amputierte und am linken Oberarm erneut verletzte Stauffenberg kann kaum seine Waffe halten. Seine Gegner sind in Überzahl. Die Lage ist aussichtlos und doch stellt er sich ihr entschlossen. Noch am Abend des 20. Julis wurde er von Militärs verhaftet. Mit Erschrecken musste er feststellen: »Die haben mich ja alle im Stich gelassen« – so Hrdlickas Bildtitel. Die nächsten zehn Blätter offenbaren, was auf das Attentat folgte: die Vergeltungsschläge der Nazis bzw. wie der 20. Juli zum Anlass genommen wurde, Menschen zu foltern und zu ermorden. Man schob sie unter das Messer der Guillotine, trieb sie in den Selbstmord, erschoss, verbrannte oder strangulierte sie, an Fleischerhaken aufgehängt. Wie zynisch klingt da aus der heutigen Perspektive der Ausruf: »Es lebe das heilige Deutschland!« – nur ist es der an die Wand gestellte Stauffenberg selbst, dessen letzte Worte Hrdlicka zitiert.45 Die so betitelte 44
Text 31.
45
Im George-Kreis, dem Claus Graf Stauffenberg geistig stets
Abb. 14 »Es lebe das heilige Deutschland!« Nr. 40; 436 x 501 mm; Ätzung und Mezzotinto auf Kupfer;
verbunden blieb, sprach man vom »geheimen Deutschland«. Vgl. zum Ruf Stauffenbergs Hoffmann 2009, Anm.
feierlichen Bekenntnisdokument der Erhebung, niederge-
318, S. 638. Siehe zum »preußisch-germanischen« Sen-
schrieben im Juli 1944, führte der Glaube an die Überlegen-
dungsbewusstsein den »Schwur« der Brüder Stauffenberg
heit »des Deutschen« die Feder. Nach dem Putsch sollte
und Rudolf Fahrners (Hoffmann 2009, S. 422 f.). In diesem
Stauffenberg zufolge das Offizierskorps das Volk führen.
LEWIN III/1, 604
3. Thematische Übersicht über den Zyklus
33
Schenk von Stauffenberg, Friedrich Olbricht, Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim und Werner von Haeften. Generaloberst Beck schied kurz zuvor durch Freitod aus dem Leben. Schlicht Fabian von Schlabrendorff ist jene Arbeit benannt (Abb. 15), in deren Mitte der typische GestapoSchreibtischtäter das unter Folter erzwungene Geständnis Schlabrendorffs aufnimmt. Auf der rechten Seite ist eine Anspielung auf das grausame Morden im Berliner Gefängnis Plötzensee zu sehen. Insgesamt sieben Blätter nehmen sich dieses Themas der Massenhinrichtung von Delinquenten an. Hinrichtung hieß, an einem Fleischerhaken erhängt zu werden. Eine der Einzelbesprechungen wird im 7. Abschnitt darauf zurückkommen. Es folgen drei Graphiken, die den Wahnsinn bis April 1945 zeigen: Körperlich und psychisch verwundete Kriegsheimkehrer, Mobilisierungen von Kindern für den Straßenkampf in Berlin und die Liquidierungen politischer Häftlinge in den allerletzten Tagen. Am Schluss zieht Hrdlicka die Handlung in einer Art »Reprise«, die zeigt, dass mit dem Ende des Krieges der Einfluss der Nazis nicht verschwand, bis in die Entstehungszeit des Zyklus weiter. Thematisiert wird die damalige Militärdiktatur in Chile (Abb. 16). Diese stürzte mit Unterstützung der USA die Regierung Salvador Allendes (*1903). Man tötete den linkssozialistischen Abb. 15 Fabian von Schlabrendorff
Graphik (Abb. 14) zeigt, wie Hrdlicka die Erschießung
Politiker, der seit 1970 demokratisch gewählter Staats-
Nr. 48; 500 x 638 mm; Ätzung und Kaltnadel auf Kupfer;
Stauffenbergs und drei seiner Mitverschwörer dem Dun-
präsident war, beim Militärputsch 1973. Sein Kopf ist
LEWIN III/1, 612
kel der Vergangenheit entreißt. Links im Geviert stehen
in der linken, unteren Bildecke zu sehen. Walter Rauff,
das Peloton der Infanterie und ein offener Wagen, des-
ein als Kriegsverbrecher gesuchter SS-Offizier und Kom-
sen Scheinwerfer einen Lichtkegel auf die Opfer werfen,
mandant deutscher Konzentrationslager, assistierte da-
wodurch das Blatt diagonal in eine schwarze und in eine
mals dem chilenischen Geheimdienst als Militärberater.
weiße Hälfte geteilt wird. Erschossen werden Claus Graf
Dargestellt ist er rechts neben dem Torpfosten in Zivil
34
3. Thematische Übersicht über den Zyk lus
Abb. 16 Chile 1974 Nr. 53; 505 x 598 mm; Ätzung, Kaltnadel, Mezzotinto geschabt und Stichel auf Kupfer; LEWIN III/1, 617
stehend. Sein mitleidslos und gehässig wirkender Schä-
foltert und bis zu 4 000 ermordet. Unter ihnen auch der
del ragt akzentuiert aus dunklem Hintergrund hervor.
chilenische Volkssänger Victor Jara (1938–1973).
Schauplatz ist das Fußballstadion in Santiago de Chile, das Pinochets Schergen zur Gefängnis- und Folterstätte
Abschließend bleibt zu fragen, warum Hrdlicka im Zuge
pervertierten. In ihm wurden rund 30 000 Menschen ge-
seiner historischen »Hinführung« weder dem Sterben
3. Thematische Übersicht über den Zyklus
35
vor Verdun 1916 noch den Sanktionen des Versailler Vertrages und dem damit verbundenen militärischen Größenwahn aus der idée fixe des Revanchismus, noch dem »welthistorische[n] Ereignis Russische Revolution«46 eigene Graphiken widmet. Schließlich, so Karl Löwith, begann »die deutsche Revolution von 1933 mit dem Ausbruch des [ersten] Weltkriegs. Was seit 1933 in Deutschland geschieht, ist der Versuch, den verlorenen Krieg zu gewinnen. Das Dritte Reich ist das Bismarcksche Reich in zweiter Potenz und der ›Hitlerismus‹ ein gesteigerter ›Wilhelmismus‹ […].«47 Ferner schreckt der expressive Verist und Antifaschist scheinbar auch vor dem Thema der Massenvernichtung in Konzentrationslagern zurück und kapituliert vor dem Dilemma der Beschreibung des Unbeschreibbaren. Dies verwundert, da diese ihm wichtige Thematik doch selbst die biblischen Sujets bestimmt und Hrdlicka in Christus »so etwas wie […] eine KZ-Figur sieht.«48 Jedoch befinden sich bereits auf der elften Radierung, Der panmilitärische Parasitenstaat (Abb. 17), sowie auf Blatt 28 (Abb. 18) Darstellungsansätze von Vernichtungslagern und Krematorien. Das entscheidende Blatt bezüglich dieser Thematik, das nicht nur an die Qualen der deutschen Widerständler, sondern auch an das Elend der Juden erinnert, ist allerdings Die christliche Vision des Hauptmanns Axel Freiherr von dem Bussche. Im folgen-
Abb. 17 Der panmilitärische Parasitenstaat
46
Text 7.
47
Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933,
48
Alfred Hrdlicka, in: AK Mauthausen: Sieben Künstler malen
Nr. 11; 432 x 501 mm; Ätzung auf Klischeezink; LEWIN III/1, 575
Ein Bericht, Stuttgart 1986, S. 1. Zeitgeschichte, Ausstellung v. 14. Juni bis 15. Nov. 1985, Mauthausen 1985, S. 39 [im Folgenden zit. als: AK Maut-
36
3. Thematische Übersicht über den Zyk lus
hausen 1985].
Abb. 18 Vom Todeskult zur Todesfabrik Nr. 28; 500 x 651 mm; Aquatinta geschabt, Kaltnadel und Wiegemesser auf Kupfer; LEWIN III/1, 592
den 4. Abschnitt wird die Untersuchung auf diese he
sollen. Neben der Beschreibung und Charakterisierung
rausragende Radierung zu sprechen kommen.
der Formgestalt liegt der Schwerpunkt auf der inhaltli-
In den Kapiteln 5 bis 7 wird entschieden und umfassend
chen Relevanz dieser vier Radierungen. Die jeweiligen In-
auf drei weitere, bisher kaum angesprochene Blätter ein-
terpretationen werden unterschiedliche Perspektiven ein-
gegangen, die in ihrer Variabilität sowohl auf der bildne-
nehmen. Sie bemühen sich weniger um die Wahrung einer
rischen Ebene als auch in der Dimension des Sinngehalts
unverrückbaren Systematik, denn um eine Reflexion, was
den Reichtum des Zyklus exemplarisch veranschaulichen
für das Verständnis der jeweiligen Graphiken wichtig ist.
3. Thematische Übersicht über den Zyklus
37
Abb. 19 Die christliche Vision des Hauptmanns Axel Freiherr von dem Bussche Nr. 29; Ätzung, Direktätzung, Kaltnadel und geätztes Wiegemesser auf Kupfer; LEWIN III/1, 593575
4. Blatt 29: Die christliche Vision des Hauptmanns Axel Freiherr von dem Bussche
H
rdlicka variiert und synthetisiert auf dem 600 x
schaftliche Zugang zu einem Kunstwerk ist bereits eine
957 mm großen Blatt mehrere Möglichkeiten
Vorentscheidung, deren Berechtigung erst ausgewiesen
der Kupferplattenbearbeitung (Abb. 19). Geätzt
werden muss. »Schließlich sind Kunstwerke nicht ge-
wurden die Zeichnungen der Radiernadel und des Wie-
schaffen worden, um Objekte einer wissenschaftlichen
gemessers, dessen Spitzen normalerweise direkt ins
Untersuchung zu werden!«49
Metall gedrückt werden. In diesem Fall sind dadurch
Selbstverständlich kann das analytische Wissen um
die zarten Kratzspuren entstanden. Auch Direktätzun-
Genealogie und Funktionsprinzipien des gemachten
gen, die den nebligen Zonen auf der linken und rechten
Werkes den sinnlichen Lustgewinn, den »Kunstge-
Seite zugrunde liegen, können nachgewiesen werden.
nuss« steigern. Doch ist dieser hier angebracht, wäre
Zudem sind die dickeren und dunkleren Furchen der
er nicht zynisch? Würde der Betrachter im »reenacting«
direkten Kaltnadel zu sehen, und zwar als isolierte Stri-
der Rezeption nicht zum sadistischen Wiederholungs-
che, als P arallel- und Kreuzschraffuren. Sie sind das Er-
täter?
gebnis späterer Arbeitsschritte und dienen der Akzentsetzung.
Auch ein Künstler, der sich mit den Mitteln der »schönen Künste« dem Leid der Opfer widmet, sieht sich mit dem Vorwurf der Inadäquatheit seiner Herangehenswei-
Im Zuge dieser Ausführungen stellt sich die Frage, ob
se konfrontiert. Zu diesem Thema sagte Hrdlicka in ei-
eine solch nüchterne Beschreibung und Analyse der
nem Interview mit Hans-Dieter Schütt: »Die größte Pro-
Gestaltungsprinzipien dem Dargestellten gerecht wer-
vokation ist das Fremde. Und das Fremdeste an unserer
den kann bzw. inwieweit sie nötig ist, um anschließend
Realität ist doch die Schönheit. Deshalb muss das Grau-
adäquater fortzufahren. Wird hier Kunstwissenschaft
en, wo es dargestellt wird, auch schön sein. So funkti-
nicht schnell zum Gerede? Beziehungsweise inwiefern
oniert die Verstörung am besten. […] Grausamkeit
ähnelt die Rationalität, mit der in dieser Weise den dargestellten Grausamkeiten begegnet würde, dem Wesen der »instrumentellen Vernunft«, die auch zum Planen von Verbrechen verwendet werden kann? Der wissen-
49
Raphael Rosenberg: Einleitung, in: Clemens Fruh, Raphael Rosenberg, Hans-Peter Rosinski (Hg.): Kunstgeschichte – aber wie?, Berlin 1989, S. 7.
4. Blatt 29: Die christliche Vision ...
39
kann man durch Schönheit besser darstellen als durch
eine Bewegung ein, die schräg nach rechts, über die ge-
Unappetitlichkeit.«
waltsam Hingerichteten führt. Die toten bzw. sterben-
50
Der Künstler beabsichtigt, den Blick auch für diejeni-
den Menschen stehen, sitzen und liegen nicht – sie k nien
gen Phänomene zu schärfen, deren Vergegenwärtigung
gekrümmt, kauern nah am Boden oder wirken »wie
man meidet, da sie abstoßend wirken. Auch verstörende
hingeschmissen«. Der sich durch den aufrechten Gang
Realitäten sollen ins Bewusstsein rücken. Dafür ist es im
auszeichnende Mensch wird durch das verbrecherische
Rahmen der bildenden Kunst unabdingbar, dass der Be-
Geschehen verdinglicht zu einem Brocken Erde. Rudolf
trachter genau hinsieht. Nur in dieser Hinsicht, und nicht
Burger schrieb: »Für [die Nazis] waren die Leichen tat-
im Sinne einer selbstgefälligen Formanalytik, ist die vor-
sächlich bloß Objekte, die sie fabrikmäßig produzierten,
liegende Werkdeskription zu verstehen.
um sie anschließend ebenso fabrikmäßig zu kremieren: Zu entsorgender Abfall, der als lästig ›Vorhandenes‹ anfiel bei der industriellen ›Reinigung‹ des Volkes.«51
4 . 1 M a s s en h i n r i c h tun g i n der Ukr a i n e
Der in die rechte Ecke verweisende Fuß eines Opfers und der senkrechte Schatten heben den Blick wieder nach oben, wo der Zug einer Menschenmenge, unter dem sich auch Frauen und Kinder befinden, in der Bewe-
Den Sehvorgang initiiert die Erschießungsszene auf
gung von rechts nach links dargestellt ist. Somit ist der
der linken Seite der Graphik. Denn im Fokus der Auf-
Teufelskreis geschlossen. Der am Rand des Massengra-
merksamkeit steht zuerst eine nackte Figur mit der
bes stehende Soldat ist gerade im Begriff, den tödlichen
Ausdrucksgeste des Gekreuzigten. Behangen mit dem
Schuss abzufeuern.
»Eisernen Kreuz«, befindet sie sich mit verschatteten
Bezüglich der Handschrift ist zu beobachten, dass
Leichen und Sterbenden in einer Senke, die einen Er-
sich auf einigen Partien der Radierung diffizile Lini-
schießungsgraben darstellt. Kompositorisch fungiert
ennetzwerke konzentrieren, welche die graphische Ge-
diese Szene als Scharnier, welches das Geschehen ober-
genstandsbezeichnung durch formübergreifende Strich-
halb des Grubenrandes mit dem unteren verbindet. Da-
führung ergänzt und auflockert. Zum einen entstehen
mit wird der Betrachterblick im Kreis geführt: Beginnend
so Dunkelzonen, welche die Gesamtanlage insgesamt
bei dem die Pistole haltenden Arm des Soldaten, wird
rhythmisch verlebendigen. Zum anderen suggerieren
er über die senkrecht stehende Figur des dekorierten,
diese »Unklarheiten« Unbegreifbarkeit und Unfassbar-
nackten Mannes auf den Boden verwiesen. Dort setzt
keit – auch im wörtlichen Sinne.
50
Hans-Dieter Schütt: Stein des Anstoßes, Gespräche mit Alfred Hrdlicka, Berlin 1997, S. 132 [im Folgenden zit. als:
40
4. Blatt 29: Die christliche Vision ...
Hans-Dieter Schütt 1997].
51
Rudolf Burger: Die Aufhebung des Todes, in: Adolf Frohner (Hg.): Kopfschwere Erinnerungen, Dortmund 1997, S. 120.
4 .2 Ei n gebi lde te r Wider s tand
Es gab aber auch Männer mit Gewissen, einer davon war Hauptmann Axel von dem Bussche, der hochde-
Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die
korierte Frontoffizier und schon rein äußerlich arisch-
dargestellte Gebärde des gekreuzigten Christus. Die-
nordisches Idealbild war. Auf einer Dienstreise in die
se Ausdrucksgeste ist ambivalent: einerseits handelt es
Ukraine wurde er Augenzeuge einer Massenerschie-
sich um ein »Triumphalzeichen« , ein Symbol der Selbst-
ßung, und da es sich dabei auch um Kinder und Frauen
überwindung, des Sieges oder des Sich-Aufopferns
handelte, war ihm klar, daß es keine militärische Maß-
(sacrificium) für eine Idee. Andererseits stellt sie ein
nahme sein konnte. Er hätte vielleicht eine zeitweilige
Sinnbild dar für das Leid des Unterdrücktwerdens und
Unterbrechung der Massenhinrichtung erwirken kön-
für das Geopfertwerden (victima). Auf den ersten Blick
nen, aber da er wußte, daß es sich um allerhöchsten
scheint Hrdlickas Darstellung Ersterem zu entsprechen:
Befehl handelte, unternahm er praktisch nichts. Lange
Der Gesichtsausdruck des Mannes kündet nicht von
Zeit quälte er sich mit Selbstvorwürfen und dachte
den Qualen eines Martyriums, sondern vom Trotz des
nach, wie er in dieser Situation besser hätte verfahren
Widerstands, von der antiautoritären Haltung der Rebel-
können und kam zu dem Schluß, es wäre am besten ge-
lion. Mit Respekt und Hochachtung fühlt der Betrachter
wesen, sich gleichfalls nackt ausgezogen den Henkern
sich daran erinnert, dass es Individuen gab, die in dieser
auszuliefern, um zu zeigen, daß vor Gott alle Menschen
dunklen Zeit ihren Kameraden eines zeigen wollten:
gleich sind.54
52
53
Entledigen wir uns unserer Uniformen, unserer sozialen und kulturellen Rollen, begegnen wir uns nackt, dann
Im Lichte dieser Erläuterung wandelt sich die Sicht auf
zeigt sich, dass wir alle im gleichen Sinne Menschen sind.
das Geschehen. Der Betrachter ist einer bewusst geleg-
Allerdings muss berücksichtigt werden, dass Hrdlicka
ten falschen Fährte gefolgt, wenn er an den »realen«
die Szene ikonographisch bestimmt:
Ereignishintergrund der Handlung des rebellischen Offiziers glaubte. Denn die nackte Gestalt hat sich im Zuge der Beschäftigung mit der Graphik als eine ironisch ins Bild gesetzte, phantastische Figur herauskristallisiert.
52
Vgl. zur Thematik Christian Walda: Der gekreuzigte Mensch im Werk von Alfred Hrdlicka, Unmittelbar anschauliche
53
Der Charakter des Imaginierten wird auch dadurch deutlich, dass vereinzelt Köpfe ohne Körper auftauchen, ver-
Intersubjektivität durch Leiblichkeit in der Kunst, Wien/
kehrt herum, wie aus dem Nichts. Die idealistische Ges-
Köln/Weimar 2007.
te fand also nie statt. An der Radikalität eines solchen,
Vgl. Ursula Harter: Geschunden, gehäutet, zu Tode ge-
symbolisch gemeinten, Opferganges fehlte es vielen
arbeitet, in: AK Frankfurt: Alfred Hrdlicka – Skulpturen, Zeichnungen, Druckgraphik, 1945–1997, hg. v. Klaus Klemp
Widerständlern.
u. Peter Weiermair, Ausstellung im Kunstverein Frankfurt, Zürich 1997, S. 53 [im Folgenden zit. als: AK Frankfurt 1997].
54
Text 29.
4. Blatt 29: Die christliche Vision ...
41
Im Sinne Hrdlickas erklärt sich das Scheitern des Wi-
Die Radierung Die christliche Vision ehrt nicht die
derstands nicht zuletzt durch einen immer wieder ge-
Erhebung des 20. Juli, sondern holt sie vom Sockel: zu
stalteten Befund, den Walter Schurian wie folgt reflek-
vieles blieb Überlegung und Hoffnung, einer Vision ver-
tierte: »Wenn es der einzelne nicht körperlich erfährt,
haftet, anstatt Wirklichkeit zu werden. Sie war geprägt
was ihn wie unterdrückt, und es körperlich nicht will,
von Opportunisten, von hohen Offizieren, die bereits
daß sich etwas ändert, dann wird sich nichts ändern.
1914 bis 1918 töteten. Beherrscht von Unentschlossen-
Das Ideologische geht dem Körperlichen nicht voran, es
heit und der Last des Fahneneids, konnte sich im ange-
folgt ihm nach.« Den meist adligen hohen Militärs, die
passten Gehorsamsdenken die Trägheit des Herzens
sich zum Teil Zugang zu Hitler hätten verschaffen kön-
einrichten, während sich in und um Deutschland herum
nen, um ihn zu töten, ging es gut. Ihnen wurden Aner-
die Leichen türmten. Hrdlicka schrieb: »Der Zyklus zum
kennung und Ehre zuteil. Niemand von ihnen stand im
20. Juli ist bei allem Respekt für jene Männer, die es
Erschießungsgraben. Die Bereitschaft zur Auflehnung
wagten, sich gegen ein barbarisches Regime zu erhe-
– im Zuge derer man möglicherweise das eigene Le-
ben, nicht als verspätete Heldenehrung gedacht, er ist
ben aufs Spiel setzen muss – wächst mit der leiblichen
vielmehr eine Warnung vor falschen Leitbildern. Selbst
Erfahrung von repressiven Verhältnissen, sofern keine
Stauffenberg und seine Freunde waren lange Zeit der
religiösen Kompensationsgedanken bereitstehen wie
Ansicht, das deutsche Wesen werde an der militärischen
die Aussicht auf eine Heimkehr zu Gott oder die Mög-
Disziplin genesen.«57
55
56
lichkeit, sich als Märtyrer zu profilieren. In gewisser Weise wird diese Überlegung durch die Tatsache gestützt, dass ausgerechnet der durch schwere Verwundungen beeinträchtigte Graf von Stauffenberg zum Bombenleger wurde: Ihm fehlte nicht nur das linke Auge, sondern auch die rechte Hand und zwei Finger seiner Linken.
57
Text 6. Interessant ist in diesem Zusammenhang die biographische Differenz zwischen Reichsmarschall Hermann
42
4. Blatt 29: Die christliche Vision ...
55
Walter Schurian 1988, S. 7.
Göring und seinem Bruder und Zivilisten Albert. Letzterer
56
Die Tatsache, dass die Wehrmachts-Offiziere dem NS-
soll sich in Wien in einer Solidaritätsbekundung auf allen
Regime ihre Karriere verdankten, trug zu ihrer Loyalität
vieren jüdischen Frauen angeschlossen haben, die zum
bei. Vgl. Hürter, Johannes: Hitlers Heerführer, Die deut-
Waschen der Straße gezwungen wurden. Auch dass Albert
schen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion
Göring einigen Juden durch vermittelnde Tätigkeit das
1941/1942, Oldenburg 2007; Neitzel, Sönke: Abgehört,
Leben gerettet hat, ist inzwischen bekannt. Vgl. William
Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft
Hastings Burke: Hermanns Bruder: Wer war Albert Göring?,
1942–1945, Berlin 2005.
Berlin 2012.
Doch woher rührt das entindividualisierende Prinzip des Militarismus, das jeden Aufstand des Gewissens im Keim erstickt und sich in der Parole Heinrich Lerschs von 1914 spiegelt: »Deutschland muß leben und wenn wir sterben müssen«? Der Spruch wurde in der Nazizeit besonders für Krieger-Denkmäler mit feierndem und revanchistischem Charakter verwendet. Er stammt aus dem Gedicht »Soldatenabschied«.58 Die im folgenden Abschnitt thematisierte Radierung, welche ihrerseits früh in der Reihung des Zyklus platziert ist, gibt eine Richtung an, der nachzuspüren sich lohnt. Dabei sei vorausgesetzt, dass keiner der vorgestellten Verstehensansätze eine monokausale Erklärung zu leisten beansprucht.
58
Vgl. zum Kontext Dietrich Schubert: »Ehrenhalle« für 500 Tote (1932–1933), in: Heidelberger Denkmäler 1788–1981, Heidelberg 1982, S. 78–83.
4. Blatt 29: Die christliche Vision ...
43
Abb. 20 Die Selbstendlösung (Otto Weininger); Nr. 4; Ätzung und Roulette auf Kupfer; LEWIN III/1, 568
5. Blatt 4: Die Selbstendlösung (Otto Weininger)
M
it dem Plattenmaß von 501 x 700 mm gehört
Hrdlicka typische Studienblatt-Darstellungsmethode mit
die Radierung Die Selbstendlösung zu den
ihrer skizzenhaften Anlage ins Auge. Der Charakter des
größeren innerhalb des Zyklus (Abb. 20). Als
Flüchtigen und Fragmentarischen verhält sich wiederum
Druckstock diente eine Kupferplatte. Bearbeitet wurde
kontradiktorisch zu dem Kalkül, das benötigt wird, um
der Ätzgrund mit Radiernadel und Roulette. Die hellen
auf dem 70 cm breiten Blatt Hell- und Dunkelwerte so zu
Flecken auf der rechten Seite deuten auf Spuren der
setzen, dass kein Ungleichgewicht entsteht. Das rhyth-
säurebeständigen Firnisschicht hin, die durch die Arbeit
mische Grundmuster im Sinne eines »Generalbasses«
59
auf der Plattenrückseite entstanden sind. Es existieren
wird im linken unteren Eck eingeführt: Strichärmere, hel-
auch »saubere« Abzüge.60
le, und strichreichere, dunkle, Quadrate erinnern an ein Schachbrett. Dabei sei an Hrdlickas Sentenz gedacht: »Auf meinen Graphiken gibt es immer die ›manische
5.1 Ko p fg ebur te n in de r St ud ierst ube
Ecke‹, von der aus ich ein Blatt entwickle.«61 Dieses Wechselspiel von lichten Hebungen und verschatteten Senkungen verläuft von links nach rechts. So entsteht der Eindruck von Zellen und Waben. Organische Formen
Trotz impulsiver Heftigkeit der Nadelführung, die sich in
schälen sich im Prozess der Betrachtung heraus: hier ein
einem Kreuz und Quer von Strichen manifestiert, behält
Fuß, dort ein Ohr und eine Hand, viele Gesichter. Links
Hrdlicka die als Ausdrucksträger fungierenden Physiog-
des Zentrums verharrt der Blick bei einer im Profil ge-
nomien im Blick. Die räumliche Unklarheit und das
zeichneten Figur, die mit angewinkelten Knien auf dem
scheinbare Fehlen eines Bildeinstiegs erschweren es al-
Boden sitzt. Oberhalb des Knies blickt uns ein weiteres,
lerdings dem Betrachter, sich im fiktionalen Raum der
animalisch anmutendes Gesicht mit verstörtem Aus-
Graphik zu orientieren. Stattdessen springt die für
druck an. Rechts davon steht eine Frau, die sich
59
61
Köln bei Nacht, LEWIN III/1, 589.
60 Siehe LEWIN III/1, 568.
Alfred Hrdlicka: Fragen und Antworten zur Technik, in: Schaustellungen 1984, S. 61.
5. Blatt 4: Die Selbstendlösung
45
modifizierter Haltung und Grö�������������������������� ße������������������������ , gezeichnet ist. Jedenfalls scheint diese ver-rückt synthetisierte Figur aus der Radierung – und aus der Wirklichkeit? – herauszutaumeln, um gleichsam in sie zurückzustürzen – bzw. um Weiningers Biographie aufzugreifen: um mit einer Kugel im Herzen den Tod zu finden. Die schachbrettartige Gliederung der Graphik könnte sich zwar auch vor einem monochromen Hintergrund entfalten, in diesem Fall indes verhält es sich anders: auffallend ist die Quadrierung des gesamten Querformats, die der weiteren Ausgestaltung zugrunde liegt und das Blatt in 140 gleich große Quadrate teilt. In Hrdlickas Œuvre erscheint diese Struktur zum ersten
Abb. 21 Die Nachtwache, 1968–1971
Mal 1968 auf der Graphik Die Nachtwache (Abb. 21). Hier
Zyklus »Randolectil«; 500 x 601 mm; V. Zustand; Ätzung,
erfüllt das Quadratnetz seine ursprüngliche Funktion. Es
Kaltnadel, Stichel, Roulette, Polierstahl, Mezzotinto, Mezzotinto geschabt und Schmirgelpapier auf Kupfer;
Abb. 22 Hommage à Barbara/Schachbrett (Die Dame), 1978
LEWIN III/1, 304
Zyklus »������������������������������������������������ ������������������������������������������������� Schach������������������������������������������ «����������������������������������������� ; 500 x 497 mm; Ätzung, Kaltnadel, Wiegemesser, Mezzotinto, Roulette auf Kupfer; LEWIN III/2, 755
dient als orientierendes Hilfsraster für die RembrandtParaphrase. Im Weininger-Blatt oder auch im SchachZyklus verselbstständigt sich diese Form (Abb. 22). Mit der kaleidoskopischen Flächengliederung und den gleitenden Proportionen������������������������� hängt untrennbar ������� die un-
46
5. Blatt 4: Die Selbstendlösung
aufgrund der Größenverhältnisse tiefer im suggerierten
gewöhnliche Raumsituation zusammen. Die traditionel-
Bildraum befindet. Auf diese Weise ließe sich die Be-
le Vorstellung, dass das in der Regel rechteckige Bild-
schreibung fortsetzen, ein Detail nach dem anderen er-
format einen einheitlichen, durch die perspektivische
kennend und dabei kaum zu einem Abschluss oder einer
Darstellung suggerierten empirischen Raum vermitteln
Ordnung findend.
müsse, ist aufgekündigt. Hrdlickas Alternative jedoch
Als gravitierten die Massen, werden in der Höhe
besteht weder darin, auf die zweidimensionale Gestal-
nur zwei Drittel des Blattes gestaltet. Die obere Zone
tung der Fläche zurückzugreifen, wie sie in der »Moder-
des Formats bleibt weitgehend leer. Die biomorphen
ne« von Cézanne und Gauguin eingeführt wurde, noch
Wucherungen kulminieren in einer aufrechten, männli-
versucht er, einheitlich Gegebenes mit formsystema-
chen Gestalt am rechten Rand der Radierung. Doch ist
tischer Strenge kubistisch zu zersplittern. Sein Ansatz
diese tatsächlich ganzfigurig gegeben? Der Kopf mit
ist der einer Pluralisierung der Räumlichkeit: man kann
den längeren Haaren könnte ebenso zu der knienden
von gleitender Räumlichkeit und Zeitlichkeit sprechen.
weiblichen Gestalt gehören, die in drei Varianten, mit
Das Format einer Zeichnung oder eines Gemäldes muss
keineswegs ausschließlich einen Bildraum eröffnen. Das
5 . 2 Üb er tr a gen er S el b s th a s s
Bild auf der Netzhaut bzw. die Abbildung einer Fotografie sind in dieser Hinsicht nicht maßgeblich. In der
Dem folgenden Kapitel, das eine Interpretation der
materialgebundenen Geometrie der einen Fläche, auf
Graphik Nr. 4 versucht, sei ein aufschlussreiches Brief-
der gezeichnet wird, können auch mehrere fiktive Räu-
zitat Weiningers vom 3. April 1902 vorangestellt. Dieser
me gestaltet werden. Mit dieser Methode nähert sich
spricht darin zunächst über sich selbst – doch wecken
Hrdlicka der ursprünglichen Vermittlungsinstanz des
die Worte gleichsam Assoziationen an ein in den Unter-
Wirklichen an – dem Bewusstsein: »Hrdlicka hat einen
gang marschierendes Volk der Dichter und Denker:
unstillbaren Hunger nach Wirklichkeit. Doch er bildet sie nie ab oder nach. Er zeigt sie, wie sie in sein Bewusst-
Der Künstler liebt immer nur sich selbst; der Philosoph
sein eindringt, wie sich Beobachtung neben Beobach-
haßt sich selbst. Durch das geringste Zeichen von Lie-
tung schiebt und sie überlagert, wie sich Detail an De-
be und Respekt wird im Künstler eine verklärte Liebe
tail drängt, Einzelheit mit Einzelheit verknüpft, schärfer
geschaffen, während der Philosoph als solcher niemals
wird oder verschwimmt.«
geliebt wird. Aber ist man unverstanden und dennoch
62
Festzuhalten ist, dass die klassische Einheit von Ort,
geliebt, so wird man hart, hart bis zum Selbstmitleid!
Zeit und Handlung aufgebrochen wird und damit offen,
Diese ganze Selbstprüfung ist eine für den Sich-selbst-
stellenweise auch unklar bleibt. Irreführend ist die An-
Hassenden typische Erscheinung. […] Ein Philosoph:
nahme, der Betrachter habe die Aufgabe, die Splitter
[…] Eine wild verzweifelte Geschäftigkeit, ein langsam-
erst zu komponieren und sie zum »richtigen« Bild zu-
furchtsam Erkennen in der Finsternis, ein ewiges Zu-
sammenzusetzen. Es gibt in diesem Fall kein der Empi-
rechtstellen der Dinge – […].63
rie folgendes Gesamtmuster. Die Darstellung knüpft an Hrdlickas Zyklus »Randolectil« an. Sie kann folglich sogar
Das pseudophilosophische System von Weiningers
als »Einschleichversuch« in das psychotische Bewusst-
überarbeiteter Dissertation »Geschlecht und Charakter«
sein verstanden werden. Das heißt reale und halluzinier-
entfaltet eine krude »Sexualmathematik«. Frauen und
te Gegenstände, sichtbare und unsichtbare Wirklich-
Männer seien nicht wirklich existent, sondern nur eine
keiten vereinigen sich auf dem Blatt und sind darüber
männliche und eine weibliche Substanz. Die idealen Ty-
hinaus mit Visionen oder Querverweisen des Künstlers
pen »M« und »W« enthalte jeder Mensch in unterschied-
verwoben. 63
Zit. nach: Jacques LeRider: Der Fall Otto Weininger – Wurzeln des Antifeminismus und Antisemitismus [Le cas Otto Weininger – Racines de l’antiféminisme et de l’antisémitisme, Paris 1982], übers. v. Dieter Hornig, Wien/
62
Wieland Schmied: Alfred Hrdlicka will gelesen werden, in:
München 1985, S. 38 [im Folgenden zit. als: Jacques LeRider
Alfred Hrdlicka – Graphik – 1973, S. 86.
1985], dank freundlichem Hinweis von D. Schubert.
5. Blatt 4: Die Selbstendlösung
47
Abb. 23 Variante zu: »Die Selbstendlösung (Otto Weininger)«, 1974, 331 x 499 mm; Ätzung und Kaltnadel auf Kupfer; LEWIN III/2, 620
lichem Mischverhältnis (xM + yW).64 Die Qualität W
phik ist, dass Hrdlicka sich nicht um ein abbildendes Por-
bedeute reine Materie, Sexualität und Fortpflanzungs-
trät bzw. um eine biographische Studie der konkreten
trieb; M beinhalte darüber hinaus Form, Seele, Geist
Person Otto Weininger bemüht. Das Blatt vermeidet of-
und Intuition. Am Ende setzt Weininger den Charakter
fensichtliche Identifizierungen: Weininger trug eine Bril-
der Juden mit dem der Frauen gleich und untersucht
le, kurz geschnittenes Haar und einen Oberlippenbart.
dabei das Problem der Sklaverei: je mehr die weibliche
Auch eignet sich, anders als sprachlich argumentierende
Komponente dominiere, desto geistferner und minder-
Texte, die darstellende bildende Kunst für individuelle
wertiger sei das entsprechende Individuum. Denn »das
Charakterstudien nur bedingt. Zudem hat das Subjekt
absolute Weib hat kein Ich.«65
Otto Weininger mit dem »Nationalsozialismus« und dem
Im sexistischen Antifeminismus und rassistischen An-
Offiziersaufstand lediglich indirekt etwas zu tun. Es kann
tisemitismus des Weltanschauungs-Philosophen sieht
Hrdlicka also nur um ein grundsätzliches psychologi-
Freud einen »Kastrationskomplex«.
Hrdlicka dürfte in
sches Phänomen gehen, das sich in Weiningers Person
der von Weininger indirekt bekundeten Angst vor der
und Werk manifestiert. Dargestellt in der mitunter phi-
Übermächtigkeit der Weiblichkeit – zurückzuführen auf
losophischen Ausdrucksform der bildenden Kunst – die
Weiningers Mutter – und vor dem eigenen weiblichen
eine Wahrheits-Erfahrung wie die Wissenschaft sein
Doppelgänger nicht nur ein Symptom der Epoche des
kann67 – versucht die Interpretation, dieses Phänomen
Fin de Siècle gesehen haben. Weiningers Schrecken an-
zu bergen.
66
gesichts der körperlichen Präsenz der eigenen Sexualität
In methodischer Hinsicht bleibt zu betonen, dass
(vgl. die Variante zu 4, Abb. 23) und seine puritanische Ge-
sich die vorliegende Arbeit nicht zum illusorischen Ziel
genbewegung sind für Hrdlicka noch aufschlussreicher.
setzt, den an die künstlerische Form gebundenen Gehalt
Weiningers Flucht vor dem Chaos der Leiblichkeit im
des Kunstwerks in Sprache übersetzen zu können. Das
Rückzug auf Sittlichkeit und Disziplin ebenso wie die
sprachlich verfasste Werk-Verstehen indes wird sich im
selbstpeinigende Verzweiflung daran werden im Folgen-
Vollzug seiner Auslegungsarbeit immer an Begriffen ori-
den als relevante Aspekte für die Problematisierung des
entieren müssen. Aufgabe des hermeneutisch interes-
Militarismus im Zyklus »Wie ein T otentanz« thematisiert.
sierten Kunsthistorikers ist es, Worte zu finden, die sich
Der vereinsamte »Wagnerianer« Weininger erschoss
an das bildlich vergegenwärtigte Phänomen möglichst
sich schließlich – konsequenterweise? – im Alter von nur
ähnlich anzunähern wissen.68
23 Jahren am 4. Oktober 1903 in Beethovens Sterbehaus
Dabei geht es in diesem Abschnitt nicht um eine In-
in Wien. Entscheidend für eine Interpretation der Gra-
terpretation im eigentlichen Sinne, sondern um den methodischen Versuch, der Graphik Gedankengänge
64 48
5. Blatt 4: Die Selbstendlösung
Vgl. Jacques LeRider 1985, S. 65 u. 67.
65
Zit. nach: ebd., S. 186.
67 Vgl. Hans-Georg-Gadamer 1986, S. 2.
66
Vgl. ebd., S. 11.
68
Vgl. ebd.
beizustellen, die eine ergänzende Funktion überneh-
Verbrecher an Familie, Kinder-Zeugung, idyllische Hei-
men. Sie wollen den Sinngehalt der Radierung indirekt
mat und philiströse Moral war gelebter Selbstbetrug
stärker zum Vorschein bringen. Diese komplementäre
und ging mit einer »Stählung« des Gewissens einher.
Begriffs-Bestimmung leistet vertiefende Dienste, wo das
Uniforme Disziplinierungen und das Diktat des »Kada-
sprachlich unterbestimmte Kunst-Sehen im Sinne eines
vergehorsams« bedeuten immer auch einen zermürben-
ganzheitlichen Aufnehmens künstlerisch dargestellter
den »Krieg nach innen«, sind Formen der Selbstkastei-
Gehalte konsequenterweise nicht sprechen kann.
ung: »Du bist nichts, dein Volk ist alles.«
Nicht von ungefähr behandelt Hrdlicka in seinem um-
tiert: »Ich würde dem Deutschen Volk keine Träne nach-
fangreichen Zyklus zum deutschen Faschismus und zum
weinen«, dann deshalb, weil Hrdlicka der Auffassung ist:
Zweiten Weltkrieg Themen, die um den Kampf nach
»Was die Nazis vor allem aber auszeichnet, [ist,] daß ihr
innen kreisen: Im Zentrum stehen die Entmachtung
Vernichtungswahn bis zur Selbstschädigung gegangen
der SA mittels umfangreicher Erschießungslisten, der
ist«,71 bzw. bis zur radikalen Selbstauslöschung. Freuds
Arbeitsaufwand eines gigantischen bürokratischen Ver-
Begriff »Todestrieb« wird hier evident. Damit ist der
waltungsapparates, welcher Ahnenforschung für die
Zugang zum psychologisch-philosophischen Gehalt der
gesamte Zivilbevölkerung betreibt und zu unermess
Graphik über den misogynen Antisemiten Otto Weini-
lichem Selektions-Terror der Gestapo im eigenen Land
ger, d. h. zu dessen »krankhafte[m] Selbsthass«72 be-
führte, sowie die paranoide Massenvernichtung von
reitet. Den kaleidoskopartig aufflackernden, animalisch
verdächtigen Offizieren und Zivilisten nach dem 20. Juli.
anmutenden Figuren ist die nach innen gerichtete Grau-
Auch den selbst militärisch gesehen überflüssigen
samkeit der psychischen Selbstzerfleischung im wahrs-
»Kinderkreuzzug in den Straßen Berlins«69 während
ten Sinne des Wortes ins Gesicht geschrieben. Als hätte
der letzten Tage eines längst verlorenen Krieges greift
er Hrdlickas Graphik gesehen, schrieb Jean Améry 1976:
Wenn Hrdlicka in Text 23 Hitler mit den Worten zi-
Hrdlicka auf. Die vielen nazistischen Mitläufer des »Dritten Reiches« waren keine blonden Bestien, die seelisch
Aber man vergegenwärtige sich nun den 23jährigen
befreit ihre Natürlichkeit zur Geltung brachten. Das »na-
Otto Weininger, der vor sich hin starrt und in dessen
tionalsozialistische« System war in seiner politischen
zum Tode erregten Hirn sich immer nur das Weib spie-
Radikalität und seinen sozialdarwinistischen Theorie-
gelt, das er verachtet, ohne seines Begehrens nach ihm
Absurditäten trotz allem ein institutionsgebundenes
Meister werden zu können; der stets nur den Juden
»Zivilisationsprojekt«.70 Die Bindung der pflichtgetreuen
sieht, das schimpflichste, niedrigste aller Geschöpfe,
69
Text 51.
70
Der Begriff »Zivilisationsbruch« des Historikers Dan Diner ist also problematisch.
71
Alfred Hrdlicka, in AK Mauthausen 1985, S. 40. Ergänzung
72
Text 4.
und Kursiv-Setzung durch den Verfasser. 5. Blatt 4: Die Selbstendlösung
49
den Juden, der er selber ist. Vielleicht war es ihm, als
verlernt worden, da sie insbesondere durch die christ
befände er sich in einem schmalen Raum, dessen Wän-
liche Moral einer konsequenten Abwertung unterzogen
de immer enger zusammenrücken. Dabei wurde sein
wurde. Für den Diagnostiker Nietzsche bedeutet diese
Kopf größer, wie ein Ballon, den man aufbläst, und zu-
»Verinnerlichung des Menschen«74 in den Einfriedungen
gleich immer dünner. Der Kopf schlägt an alle vier ein-
der platonisch-christlichen Kultur eine Grundbedingung
ander unerbittlich sich n���������������������������� ä��������������������������� hernden Mauern. Jede Berüh-
des kränkelnden modernen Bürgers. Er analysiert die
rung schmerzt und hallt wider, wie der Schlag auf eine
verschiedensten »Typen«, welche zeigen sollen, wie der
Kesselpauke. Am Ende trommelt der nach allen Rich-
hypertrophe Mensch der Moderne an sich selbst leidet
tungen rennende Weininger-Schädel einen rasenden
– bzw. sich leiden macht und immerzu außer sich gerät,
Wirbel – bis er. Bis er zerspringt oder »durch die Wand
will er zu sich kommen. In der Verinnerlichung75 des Men-
fährt«, sagen jene, die außerhalb des Raumes stehen
schen sieht Nietzsche die Abstinenz elementarer Lebens-
und ihn beobachten. […] Weininger wußte nichts von
vollzüge: Die ursprünglichen Daseinsweisen werden als
einem »suizidären Verhalten«. Er sah und hörte […]
unrein, stofflich, tierisch, vergänglich, oberflächlich und
ohne Unterbrechung: Weib, Jude, Ich, weg mit allem.
triebhaft abgewertet und unterdrückt. Doch »die Phy-
73
sis fällt dem Geist höchst unzimperlich in den Rücken, Diese Schilderungen richten die Aufmerksamkeit auf je-
sobald er ihr hochmütig zu entkommen versucht«.76
nen Begriff der nach innen gewendeten »Grausamkeit«.
Denn die dadurch provozierte zivilisatorische Unlust und
Angesichts ihrer strukturellen Übertragbarkeit und in-
Müdigkeit, die melancholischen und depressiven Hem-
haltlichen Reichweite gelingt es dieser Thematik, das
mungsgefühle77 verlangen nach Betäubung. Das eigene
Verstehen von Hrdlickas Graphik maßgeblich zu berei-
Leiden steht einem permanent im Weg. Dabei ist nicht
chern. Entscheidende Einsichten zu diesem Thema trug
das Leiden selbst das Unerträgliche, sondern letztlich die
erstmals Friedrich Nietzsche vor.
Sinnlosigkeit des Leidens. Dieser Not soll das asketische
Für Nietzsche bedeutet der Wille zur Macht als die Lust an den eigenen Wirkkräften eine Beförderung des
74
Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, Zweite Ab-
Lebenswillens. Das zu tun, was wir wollen und können,
handlung: »Schuld«, »schlechtes Gewissen« und Verwand-
entspricht der natürlichen Motivation des Menschen,
tes, Abschnitt 16, KSA Bd. 5, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 2007, S. 322 [im Folgenden zit. als:
die Energien des Lebens zu steigern. Unter Umständen gehört dazu auch die nach außen gerichtete Grausam-
GM, II 16, S. 322]. 75
keit. Die Bejahung der individuellen Gestaltungskräfte sei im Zuge der »Kultivierung« des Abendlandes indes
Zur Kritik der Innerlichkeit vgl. Gerhard Sauder: Zur Kontinuität von ›Innerlichkeit‹ in der deutschen Selbstreflexion, München 1985, S. 249–264.
76
Karl Diemer: Alfred Hrdlickas Beitrag zur Kunsttheorie des 20. Jahrhunderts, in: Alfred Hrdlicka – Graphik – 1973, S. 102.
73 50
5. Blatt 4: Die Selbstendlösung
Jean Améry: Hand an sich legen – Diskurs über den Freitod [1976], Stuttgart 1994, S. 15 f.
77 Vgl. GM, Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale? 17, S. 378.
Ideal begegnen. Es kann auf alles Verzicht geleistet wer-
bis dorthin, wo er anfängt [...].«82 Nietzsche spielt dabei
den, sogar auf das eigene Leben, wenn dadurch zumin-
auf Schopenhauer sowie Platon an und den moralischen
dest Sinn herrscht, ein Sinn heraufbeschworen wird.78
Gedanken der Buße, der Umkehr, des Weges heraus aus
Asketische Ideale füllen die Lücke des melancholischen
der scheinbaren Höhle des irdischen Daseins. Er versucht
Unbefriedigtseins. Sie bekämpfen den horror vacui, denn
einen anderen Standpunkt einzunehmen:
sie verführen durch Ziele, die den trügerischen, nie Halt machenden, schön-hässlichen, aber sinnfreien Lebens-
Von einem fernen Gestirn aus gelesen, würde vielleicht
strom mit all seiner Blöße einkleiden und dadurch trans
die Majuskel-Schrift unseres Erden-Daseins zu dem
zendieren. Das Fundament jedes asketischen Ideals ist
Schluss verführen, die Erde sei der eigentlich asketi-
der bejahende Glaube an »eine andre Welt als die des
sche Stern, ein Winkel missvergnügter, hochmüthiger
Lebens, der Natur und der Geschichte«.79 Dieses Funda-
und widriger Geschöpfe, die einen tiefen Verdruss an
ment fußt auf zwei tragenden Säulen: der Überschätzung
sich, an der Erde, an allem Leben gar nicht loswürden
der Wahrheit und dem Leiden an einer Verarmung des Le-
und sich selber so viel Wehe thäten als möglich, aus
bens. Folglich resümiert Nietzsche, dass die durch das
Vergnügen am Wehethun: – wahrscheinlich ihrem ein-
Christentum in die Welt gekommenen asketischen Idea-
zigen Vergnügen.83
80
le in ihrer Konsequenz »einen Willen zum Nichts, einen Widerwillen gegen das Leben« bedeuten.81 Die Götzen
An diesem Punkt stellt sich die Frage, woran Nietzsche
der asketischen Ideale – Wahrhaftigkeit, Wahrheit, Ob-
diesen Asketismus inhaltlich festmacht. In der »Genea-
jektivität, Allgemeinheit, Extremgefühle, Mitleiden – sie
logie der Moral« entfaltet er einen Katalog von »Hei-
können uns auch schaden. Sie »entselbsten« und »ent-
lungsversuchen« und »Trost-Medikationen«, die aller-
sinnlichen« uns. »Der Asket behandelt das Leben wie
dings nur mildernde und ablenkende Funktion haben.
einen Irrweg, den man endlich rückwärts gehen müsse,
Und obwohl sie eigentlich nur Erleichterung verschaffen wollen, verlangen die oftmals grausamen Mittelchen im Kampfe mit der Unlust ein »rigoröse[s] training«84 ab und fordern die konditionsstarke Konstitution der »sportsmen«.85 Das wirkungsstärkste Mittel dieses Narkotisierungsstrebens – andere Methoden seien Religion und Moral,
78 Vgl. GM, III 28, S. 411.
82
79
GM, III 24, S. 400.
83
GM, III 11, S. 362. Ebd., S. 362.
80
GM, III 25, S. 402 f.
84
GM, III 17, S. 379.
81
GM, III 28, S. 412.
85
Ebd., S. 379.
5. Blatt 4: Die Selbstendlösung
51
Arbeitssucht, mitleidende Barmherzigkeit sowie die
mer, schwächer, filigraner. Oder sie führen zu Epilep
Heerdenbildung – sieht Nietzsche in der »Ausschweifung
sien, chronischer Depression, somnambulen Hysterien,
des Gefühls«: der Wahnsinn, die nach innen gerichtete
todes süchtigem Fieberwahn und zerstörungswütigen
Grausamkeit, die Grausamkeit gegen sich selbst sei –
Affektwechseln.88
wie das Pharmazeutikum »Randolectil« – in letzter Konsequenz selbst schon ein Beruhigungsmittel. Löse sich
Zum Leiden im Sinne sadistischer und masochistischer Grausamkeit schrieb Nietzsche:
die menschliche Seele aus allen ihren Fugen und wandle sich in ein amorphes Gespinst, so werde damit erreicht,
Man soll über die Grausamkeit umlernen und die
dass das Elend der bleiernen Traurigkeit vorübergehend
Augen aufmachen; [...] Fast Alles, was wir »höhere
gebannt ist. »Ich leide: daran muss Jemand schuld sein«,
Cultur« nennen, beruht auf der Vergeistigung und
denke sich der Leidende und baue sich seine Gründe –
Vertiefung der Grausamkeit – dies ist mein Satz; [...]
denn Gründe erleichtern: »überall die Vergangenheit
Dabei muss man freilich die tölpelhafte Psychologie
zurückgekäut, die That verdreht, das ›grüne Auge‹ für
von Ehedem davon jagen, welche von der Grausam-
alles Thun; überall das zum Lebensinhalt gemachte
keit nur zu lehren wusste, dass sie beim Anblicke
Missverstehen-Wollen des Leidens, dessen Umdeutung
fremden Leides entstünde: es giebt einen reichlichen,
in Schuld-, Furcht- und Strafgefühle [...].« So sucht sich
überreichlichen Genuss auch am eigenen Leiden, am
nach Nietzsche der Leidende seinen Täter. Findet ihn
eigenen Sich-leiden-machen, – und wo nur der Mensch
in sich selbst oder im Nächsten und rächt sich an die-
zur Selbst-Verleugnung im religiösen Sinne oder zur
sem Schuldigen und Sündigen maßlos-furchtbar oder
Selbstverstümmelung, wie bei Phöniziern und Asketen,
geistig-giftig. Denn »die Affekt-Entladung ist der gröss-
oder überhaupt zur Entsinnlichung, Entfleischung, Zer-
te Erleichterungs- nämlich Betäubungs-Versuch des Lei-
knirschung [...] sich überreden lässt, da wird er heim-
denden, sein unwillkürlich begehrtes Narcoticum gegen
lich durch seine Grausamkeit gelockt und vorwärts
Qual irgend welcher Art«.87
gedrängt, jene gefährlichen Schauder der gegen sich
86
Nietzsche erinnert daran, dass all diese Exzesse, die
selbst gewendeten Grausamkeit.89
freilich unter heiligen und moralischen Namen und Zwecken firmieren und beispielsweise Tugenden hei-
Die in diesem Abschnitt zusammengefassten Analy-
ßen, allenfalls dazu dienen, die Unlust des Leidenden
sen Nietzsches vermitteln eine Vorstellung davon, was
zu bekämpfen. Die Ursache, das eigentliche Kranksein, werde dabei nicht tangiert. Und wenn doch, dann machen diese Remeduren den Kranken nur kränker: zah-
88 Vgl. GM, III 17, S. 377. u. III 29, S. 389 u. III 21, S. 391 f. 89
Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Siebentes Hauptstück: unsere Tugenden, Abschnitt 229, KSA Bd. 5,
52
5. Blatt 4: Die Selbstendlösung
86
GM, III 20, S. 390.
München 2007, S. 165 f. [im Folgenden zit. als: JGB, VII 229,
87
GM, III 15, S. 374.
S. 165 f.].
Weininger im Kontext des Zyklus verkörpert: nämlich
Weiningers Interpret Jacques LeRider bemerkte: »Weinin-
die Gefahren eines verinnerlichten Selbsthasses. Wie
ger, der genauso wie Nietzsche die Verdorbenheit seiner
das Beispiel Weininger zeigt und Nietzsche erkannte,
Zeit und die Entartung des Menschengeschlechts verur-
kann dieser Hass schnell umschlagen in Größenwahn,
teilt, führt mit seiner rigoristischen Moral, puritanischen
manische Radikaliät und Rigorosität. Diese drei Prinzipi-
Religiosität und idealistischen Metaphysik genau das wie-
en greift Hrdlicka immer wieder auf und verknüpft sie
der ein, [was Nietzsche überwinden will].«91 Exakt diese
mit der faschistischen »Endlösung«. Folgt man diesen
Erkenntnis findet in Hrdlickas Blatt 4 Die Selbstendlösung
Überlegungen, so lautet die These: Auch das von den
(Otto Weininger) ihre eindrucksvolle graphische Umset-
Nazis verübte Grauen weist Spuren eines kollektiven
zung und Vergegenwärtigung.
Betäubungsversuches auf. Es zeigt die »Ausschweifung des Gefühls« einer im Grunde kranken »Volksseele«. Die »deutsche Identität« war schon im wilhelminischen Kaiserreich fragil: Spät erst zu einem Nationalstaat zusammengefunden, waren die Nachbarländer ihm in allen Belangen voraus. Sie hatten eine lange Geschichte, eine richtige Revolution, zum Teil Demokratie, viele Kolonien und eine überlegene Marine. Der Erste Weltkrieg ging verloren und es folgte die Demütigung durch den »Versailler Vertrag«. Die Besonderheit des Weininger-Blattes im Kontext des Zyklus »Wie ein Totentanz« liegt nicht zuletzt darin, dass Gedanken über die Zusammenhänge von Minderwertigkeitskomplexen und Größenwahn zusammenfließen. Statt die Aufmerksamkeit auf die »Verführungskünste« des »Führers« zu legen – die »charismatischen« Machthaber Hitler, Himmler und Göring werden im Zyklus meist lächerlich dargestellt –, untersucht Hrdlicka die genealogischen Voraussetzungen für faschistische Tendenzen in der normalen, banalen, kleinbürgerlichen Gesellschaft: »Die Deutschen wollten auch groß sein, auch einmal Weltgeschichte machen.«90
90
Alfred Hrdlicka: Ein jakobinischer Denkmalkünstler, in: Fried/Hrdlicka/Ringel 1986, S. 143.
91
Jacques LeRider 1985, S. 134.
5. Blatt 4: Die Selbstendlösung
53
Abb. 24 »Der Führer ist nicht tot!« Nr. 34; Ätzung, Kaltnadel und Stichel auf Kupfer; LEWIN III/1, 598
6. Blatt 34: »Der Führer ist nicht tot!«
I
n gewissem Sinne als Gegenthese zur Weininger-Radierung darf das folgende Blatt 34 gesehen werden,
6. 1 T um ulte i n der B en dl er s tr a s s e i n B er l i n
das dem entschlossenen Handeln des damals 22-jäh-
rigen Infanterie-Leutnants und Widerständlers Ewald-
Zu sehen ist ein Raum im Querschnitt. Der Horizont liegt
Heinrich von Kleist-Schmenzin gewidmet ist. Es trägt
tief, der Blick des Betrachters erfasst ihn aus gleicher
den Titel »Der Führer ist nicht tot!« (Abb. 24). Statt wie
Augenhöhe. Die Blattbreite ist in drei Figurengruppen
besessen im »Innenraum« umherzuirren, schreitet von
unterteilt. Das obere Drittel des Blattes ist ungestaltet.
Kleist unbeirrt zur Tat. Räumliche Ordnung löst das Cha-
Arm- und Schulterpartien der dargestellten Figuren ver-
os der Selbstendlösung ab.
stärken die in jedem viereckigen Format angelegten Dia-
Die Radierung besitzt in etwa die gleichen Maße wie
gonalen bis zu ihrem Schnittpunkt in der Mitte des Blat-
Die Selbstendlösung. Sie ist 501 mm hoch und 689 mm
tes und etwas darüber hinaus. Dadurch wirkt die rechts
breit. Die Figuren sind mit der Radiernadel gezeichnet.
von der Mittelvertikale in die Höhe gereckte Faust wie
Die dunkleren Parallelschraffuren im Hintergrund und
die Spitze einer suggerierten Figurenpyramide.
als Binnenzeichnung an den Uniformen der in der Bild-
Bemerkenswert ist die Art und Weise, auf die Wich-
mitte gegeneinander kämpfenden Figuren sind mit der
tiges von Unwichtigem unterschieden wird: Durch den
Kaltnadel bzw. dem Stichel ausgeführt. Diese Partien
Kontrast zwischen Hell und Dunkel bzw. zwischen aus-
dienen der Erzeugung von Plastizität und Räumlichkeit
gearbeiteter und skizzenhaft angedeuteter Figur. Von
und erfolgten in späteren Arbeitsschritten. Auf dem ers-
einem bewussten Einsatz der künstlerischen Mittel
ten Zustandsdruck fehlen sie noch.92
zeugt ferner die Gestaltung des nach rechts geöffneten ikonischen »Bogens«, der vom rechten Bein des tänzerisch kämpfenden Mannes mit dem Revolver über den erhobenen linken Arm des am Tisch sitzenden führt. Zum einen erreicht Hrdlicka damit eine Dynamisierung der zentralen Kampfszene. Zum anderen führt der kon-
92
Vgl. LEWIN III/1, 598, S. 459.
trastierende Wechsel von weißem Blatthintergrund und
6. Blatt 34: »Der Führer ist nicht tot!«
55
dunkler, parallel schraffierter Hintergrundgestaltung zu
lieber nach Hause, um im Garten Unkraut zu jäten, was
einer Flächengliederung in drei Teile bzw. in drei »Büh-
Hrdlicka satirisch ins Bild setzt: Der uniformierte General
nenabschnitte«. Dadurch kann Hrdlicka auf einer Gra-
Kortzfleisch kniet mitten im Kampfgetümmel unbetei-
phik mehrere »Bilder«, in einer Szenerie mehrere Szenen
ligt vor einem Pflänzchen, das er zu entfernen versucht.
unterbringen, d. h. Simultaneität suggerieren. Ohne dabei künstliche Linien ziehen zu müssen oder die einheitliche Wirkung des Querformats einer unfreiwilligen Heterogenität opfern zu müssen.
6 .2 D e r m a k a b re Ta n z d es W ide rsta n ds
Die Radierung vereint mehrere, zeitlich divergierende Momente auf einem Blatt. Sie handelt im Wesentlichen
Die Radierung gehört zu jenen im Zyklus, die auf das
davon, dass der entschlossene Ewald von Kleist mit sei-
kunsthistorisch bedeutsame Motiv des Totentanzes
nem Revolver in der Bildmitte den Opportunisten Gene-
anspielen (Abb. 25). Die kunsthistorische Totentanz-
ral von Kortzfleisch verhaftet. Dieser weigerte sich, die
Ikonographie entstand in den Umbrüchen des 14. Jahr-
Verschwörer weiter zu unterstützen, als bekannt wurde,
hunderts in Anlehnung an die Literatur und das Brauch-
dass Hitler das Attentat überlebt hatte. Auf der linken
tum.94 Eine besondere Rolle spielte dabei die Furcht vor
Seite entwaffnet Stauffenbergs Ordonnanzoffizier von
Seuchen. Besonders verheerend war die Pestepidemie
Haeften den mit der Durchführung des Plans »Walküre«
zwischen 1347 und 1352. Vor diesem Hintergrund ent-
beauftragten Generaloberst Fromm, Oberbefehlshaber
stand ein spezifisches Bildprogramm, das sich als eigene,
des Ersatzheeres. Die Szene erweckt beinahe den An-
wenn auch nicht offizielle »Gattung« etablierte, die sich
schein, als führten sie einen »danse macabre« auf. Der
bis heute gehalten hat. Seit der Folge »Bilder des Todes«
Befehlshaber des Ersatzheeres Fromm befahl, das Un-
von Hans Holbein dem Jüngeren, ediert 1535 in 41 Holz-
ternehmen »Walküre« nicht einzuleiten. Die Nachricht »Der Führer ist nicht tot!« führte zur Lähmung der Um-
des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem Ober-
sturzbemühungen. Um weiteres Zögern zu verhindern,
befehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam
reißt der am rechten Rand der Radierung erneut abge-
leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen.« Vgl. dazu Reiner
bildete von Kleist das Telefonkabel aus der Wand.
Blasius: Vom treuen Dienen zum unbedingten Gehorsam,
Die Berufung auf den Fahneneid diente den meisten Generälen als Alibi.93 Von Kortzfleisch äußerte, er gehe
in: Faz, Nr. 176, 1. 08. 2009, S. 10. 94
Vgl. dazu und zum Folgenden: Friedrich W. Kasten (Hg.): Totentanz, Kontinuität und Wandel eines Bildthemas vom Mittelalter bis heute, Mannheim 1985 [im Folgenden zit.
93 56
6. Blatt 34: »Der Führer ist nicht tot!«
Ab dem 2. August 1934, dem Todestag des Reichspräsiden-
als: Friedrich Kasten 1985]; Uli Wunderlich: Der Tanz in den
ten Paul von Hindenburg, galt eine neue Eidesformel: »Ich
Tod, Totentänze vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Frei-
schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, dass ich dem Führer
burg 2001 [im Folgenden zit. als: Uli Wunderlich 2001].
schnitten, verschwimmen jedoch die Grenzen des für
und Holbeins Bilder des Todes von 1525/38. Die Technik
das Mittelalter klarer zu definierenden Wesens eines To-
der Druckgraphik wird in der Folgezeit das bevorzugte
tentanzes. »Konstituierendes Merkmal ist jedoch stets,
Ausdrucksmittel.
daß der Tod personifiziert wird und/oder als handelnde
Jedoch kann die Radierung »Der Führer ist nicht tot!«
Gestalt auftritt – wobei unüberhörbar die Mahnung an
keinesfalls als eine direkte Fortführung dieser Tradition
die Hinfälligkeit des Lebens als wesensbestimmendes
verstanden werden: Auf dem Blatt befindet sich keine
Kriterium mitschwingt.«95 In mittelalterlichen Totentän-
Figuration des Todes als Gerippe – im Sinne einer Allego-
zen begegnen uns größere oder kleinere Gruppen per-
rie für den Tod, der einen Lebenden bei der Hand nimmt
sonifizierter Todesgestalten. Menschen verschiedenen
und abführt. Allenfalls erscheinen manche Blätter wie
Geschlechts, Alters, Berufs und Standes werden mitten
ein Totentanz. So auch die 34. Graphik. Das Paar auf der
im Leben vom Tode abgeholt. Die Reigentänze von To-
linken Seite der Radierung wurde bereits erwähnt. Die
ten und Lebenden oder die Begegnung mit dem Tod
Kampfszene in der Mitte ist ähnlich zu deuten. Denn in
selbst, als Skelett verkörpert, wurden auf Kirchhofs- und
gewisser Weise zeigt der Tod – hier in Gestalt des Wider-
Friedhofsmauern gemalt. Man denke an das Kreuzgang-
ständlers mit verschatteter Augenpartie – einem Vertre-
Fresko der Kartause La Chaise-Dieu in der Auvergne (um
ter der militärischen Kaste seine Grenzen auf. Ebenso
1410 od. 2. Hälfte des 15. Jh.s), den Friedhofs-Zyklus des
widerfuhr es in den mittelalterlichen Totentänzen dem
Pariser Franziskanerklosters Saints Innocents (1424) oder
Edelmann, dem Kaufmann und selbst dem Papst. Er
an den Tod von Basel (1437–41). Auch wurde das Motiv
zwingt den Offizier, mit ihm einen eventuell tödlichen
des Totentanzes bald graphisch gestaltet. Zu erwähnen
Walzer zu tanzen. Das Paar dreht seine Runden, tanzt
sind hier die Pariser Holzschnitte der Danse macabre
den Reigen um Schuld und Sühne. Der Ausgang ist
(1485), der Dotendantz im Blockbuch Heidelberg (1485)
offen. Erst die nächsten Blätter werden zeigen, dass der »gerechte« Tod mit seinem Unterfangen des Tyrannenmords scheitern wird. Die Totentanz-Ikonographie geht
Abb. 25 Hans Holbein d. J.: Der Ritter, 1523–1526 Zyklus »Bilder des Todes«; 41 Holzschnitte
vom Triumph des Todes aus. Die Verbrecher befreien sich aus ihren Schlingen und werden zu Henkersknechten eines »kriminellen« Todes. Erkennt man demnach im Blatt »Der Führer ist nicht tot!« Anklänge an den traditionellen Totentanz, muss neben der formalen auch auf eine inhaltliche Differenz hingewiesen werden: In der Tradition treten Ständevertre95
Richard W. Gassen: Pest, Endzeit und Revolution, Totentanzdarstellung zwischen 1348 und 1848, in: Friedrich Kasten 1985, S. 15.
ter, später auch Individuen, dem Tod als dem »Anderen« und »Nicht-Gewollten« gegenüber. Er wird angeklagt, verurteilt oder man muss sich mit ihm als gottgegebene
6. Blatt 34: »Der Führer ist nicht tot!«
57
Notwendigkeit arrangieren. Das Attentat vom 20. Juli,
Ziel der Verschwörer um Tresckow, Olbricht, Ca-
der Mordversuch an Hitler, aber war gewollt. Auf der
naris und Goerdeler war die Einrichtung einer rechts-
34. Radierung erinnert der Kopf des Widerständlers an
staatlichen Regierung mit Generaloberst Ludwig Beck
einen Schädel. Das heißt, die Identifikationsfigur für den
als Staatsoberhaupt. Um dieses Vorhaben umsetzen
Betrachter ist nicht der Lebende, der Opportunist, son-
zu können, musste das NS-Terror-Regime gestürzt
dern die Personifikation des Todes, der Widerständler.
werden. Gelingen sollte dies mittels einer von Oberst
Der »natürliche« Tod, in Gestalt von Krankheiten
Claus Graf Stauffenberg in die »Wolfsschanze« (bei
oder des biologischen Verfalls, spielt in »Wie ein Toten-
Rastenburg, Ostpreußen) gebrachten Bombe. Schon
tanz« keine Rolle. Das Verbrechen, aber auch der Freitod
für den 15. Juli war dort ein Anschlag geplant, der aber
(Kleist, Weininger, Rommel, Beck, von Oertzen) sind
ebenso wie die Attentatsversuche am 6. und 11. Juli in
schneller. Im Zuge der in Kapitel 7 behandelten Radie-
Hitlers »Berghof« auf dem Obersalzberg kurzfristig
rung Acht Zigaretten pro Hinrichtung wird die Arbeit
abgesagt wurde, weil Göring und Himmler nicht mitan-
auf den »juristisch« verordneten Mord an sogenannten
wesend waren. Seit dem 14. Juli 1944 befand sich das
»Volksverrätern« zu sprechen kommen. Statt schicksals-
Führerhauptquartier wieder in der »Wolfsschanze«.
ergeben miteinander einen Reigen zu tanzen, erhängen
Das Attentat sollte den Auftakt für das Unternehmen
hier Menschen ihresgleichen an Fleischerhaken. Anders
»Walküre« bilden, das bereits 1941 für den Fall eines
als das unausweichliche und alles Lebendige betreffen-
Aufstandes der Fremdarbeiter im Reichsgebiet ausge-
de Sterben, steht es in der Macht der Menschen, ein der-
arbeitet worden war.
artiges Verbrechen zu vermeiden.
Bei einer Lagebesprechung mit Hitler stellte Stauffenberg den in seiner Aktentasche versteckten Sprengkörper in Hitlers Nähe unter den großen Kartentisch. Da
6. 3 D er 2 0. J ul i 1 9 4 4
er bei den Vorbereitungen gestört wurde, konnte er nur die Hälfte der ursprünglich geplanten zwei Kilogramm Sprengstoff zünden. Unter dem Vorwand telefonieren
Ehe sich die Arbeit jedoch dieser Graphik zuwendet,
zu müssen, verließ er den Raum. Kurze Zeit später deto-
werden im Folgenden die Ereignisse des 20. Juli 1944
nierte die Sprengladung. Von vierundzwanzig Personen
skizziert – jenes historischen Donnerstags also, der The-
wurden vier getötet. Alle anderen überlebten, zum Teil
ma des Blattes Nr. 34 ist.
96
Steinbach: Der 20. Juli 1944, Gesichter des Widerstands, München 2004; AK Bayreuth: Alfred Hrdlicka – »Alle Macht 96
58
6. Blatt 34: »Der Führer ist nicht tot!«
Vgl. zur Historie: Joachim Fest: Staatsstreich, Der lange
der Kunst geht vom Fleische aus«, Sammlungskatalog mit
Weg zum 20. Juli, Berlin 1994; Peter Hoffmann: Widerstand
114 Abbildungen und Ergänzungsband mit den Texten zum
gegen Hitler und das Attentat vom 20. Juli 1944, Konstanz
»Totentanz«, 2 Bände im Schuber, Bayreuth 2001, Bd. 2,
1994 [im Folgenden zit. als: Peter Hoffmann 1994]; Peter
S. 34 ff.
schwer verletzt. Hitler überstand das Attentat ohne grö-
cken fallende Generaloberst Fromm, Befehlshaber des
ßere Blessuren und empfing am Nachmittag Mussolini.
Ersatzheeres, ließ Graf von Stauffenberg, von Haeften,
Stauffenberg und sein Adjutant, Oberleutnant Werner
Olbricht und Mertz von Quirnheim wegen »Hoch-Lan-
von Haeften, flogen zurück nach Berlin und trafen, vom
desverrat« verhaften. Sie wurden umgehend, kurz nach
Erfolg des Unterfangens überzeugt, gegen 16:30 Uhr im
Mitternacht, im Hof erschossen.
Sitz des Oberkommandos der Wehrmacht in der Bend-
Bis Kriegsende verhaftete die »Sonderkommission
lerstraße ein, der den Versammlungsort der Attentäter
20. Juli« der Gestapo, der 400 Beamte angehörten, noch
bildete. Von hier aus sollte der Staatsstreich koordiniert
über 7 000 Personen, die vorgeblich mit dem 20. Juli in
werden. Geplant war, dass das Ersatzheer im Reichs
Zusammenhang standen. »Standgerichtliche Verfahren«
gebiet sowie in den besetzten Gebieten die Regierungs-
gingen den bereits beschlossenen Hinrichtungen vo
gewalt übernehmen sollte.
raus. Der Volksgerichtshof unter dem »Blutrichter« Ro-
Die Tragik bestand darin, dass Stauffenberg am
land Freisler verhängte ab dem 7. August 1944 in einer
Nachmittag nicht in Berlin sein konnte, denn seinen Mit-
Reihe von entwürdigenden Schau- und Nebenprozes-
verschworenen, z. B. General Olbricht, fehlte die Durch-
sen zahlreiche Todesurteile, die durch Strang und Beil
setzungskraft. Der Historiker Peter Hoffmann schrieb:
vollzogen wurden. Die Exekutionen in der Haftanstalt
»Aber während drei ›toten Stunden‹, zwischen dem At-
Berlin-Plötzensee mussten auf Befehl Hitlers gefilmt
tentat und der Rückkehr Stauffenbergs nach Berlin, wa-
werden. 180–200 Widerständler und zum Teil deren Fa-
ren die Verschwörer in der Bendlerstraße unsicher und
milienangehörige wurden brutal gefoltert, misshandelt
untätig.«97 Als General Fellgiebel über Telefon mitteilte,
und hingerichtet. Viele kamen in Konzentrationslagern
dass Hitler das Attentat überlebt habe, setzte eine Läh-
um oder nahmen sich selbst das Leben. Noch in den
mung ein: »Olbricht und Thiele beschlossen, erst einmal
letzten Wochen vor dem Untergang des Regimes räch-
gar nichts zu tun bzw. sich wie an jedem anderen Tag
ten sich die Nazischergen an Menschen, die gegen ihre
zu verhalten, das heißt zum Mittagessen zu gehen.«98
Macht aufbegehrten.
Entscheidend war auch, dass Generaloberst Fromm die
Dietrich Bonhoeffer wurde am 9. April 1945 im Kon-
Bestätigung der Rückfragen bezüglich der Befehle der
zentrationslager Flossenbürg ermordet – am selben Tag,
Verschwörergruppe verweigerte. Schließlich brach der
an dem in Dachau der schwäbische Schreiner Georg El-
Widerstand zusammen. Um 22:30 Uhr erfolgte durch
ser sterben musste, der mit seinem Attentat auf Hitler
die 4. Kompanie des Wachbataillons »Großdeutschland«
im Münchner Bürgerbräukeller am 8. November 1939
der Sturm auf den Bendlerblock. Der den Plan »Walkü-
gescheitert war.
re« zuerst billigende, dann den Verschwörern in den Rü-
97
Peter Hoffmann 1994, S. 125.
98
Ebd., S. 142.
6. Blatt 34: »Der Führer ist nicht tot!«
59
Abb. 26 Acht Zigaretten pro Hinrichtung Nr. 46; Aquatinta geschabt und Kaltnadel auf Kupfer; LEWIN III/1, 610
7. Blatt 46: Acht Zigaretten pro Hinrichtung
D
ie Radierung ist mit ihren Maßen von 400 auf
dierer suggeriert diesen Eindruck, indem die Figuren im
600 mm etwas kleiner als die drei vorhergehen-
Verhältnis zur Gesamtfläche des Rechtecks auffallend
den (Abb. 26). Sie gehört zu jenen zwölf der 53
groß gezeichnet sind und nah an die Blattgrenze heran-
Blätter, die sich der Aquatinta-Technik mit anschließen-
rücken.
dem Schab-Verfahren bedienen. Das heißt, es sind drei
Dabei verzichtet er auf eine ablenkende Schmückung
Tonwertigkeiten sichtbar: von den farblosen »Weiß-
des Raumes. Der Schauplatz wird minimalistisch ange-
Höhungen« der polierten Stellen über den Grauton der
deutet durch zwei Rundbogenfenster rechts des Zen-
Aquatinta-Grundlage bis hin zu den schwarzen Strichen
trums, eine in der Blattbreite nach zwei Dritteln nicht
der Kaltnadel. Radierungen wie diese erhalten ihr spe-
weiter gezeichnete Eisentraverse und durch eine Linie
zifisches Erscheinungsbild dadurch, dass nicht nur das
rechts unten im Format, die auf den Umschlag der Wand
in die Platte eingerillte Lineament der Graben, sondern
zum Boden verweist. Alles, was der suggestiven Wir-
auch die durch chemisch-mechanische Verfahren er-
kung abträglich wäre und der thematischen Tragik nicht
zeugten homogenen Flächen gedruckt werden.
gerecht werden würde, ist weggelassen. So ergänzt erst die Imagination des Betrachters die Graphik. Vergleicht man den vorgestellten Bildraum mit einer Bühne, so
7 .1 Massen hinr ichtung im Gefän gn is Pl ötzens e e
lässt sich beobachten: »Wirkung geht nur vom darstellenden Schauspieler aus […].«99 Eine illusionistische Bühnenausstattung und Gegenstände fehlen oder sind in reduzierter Weise als Tatort-Hinweise angedeutet, so-
In der frappanten Gegenüberstellung der Figuren zu den
weit sie zum Verständnis der Szene notwendig sind. Das
nicht weiter gestalteten Zonen des Aquatinta-Grundes wird deutlich, dass sich Hrdlicka auf diesem Blatt mehr noch als bisher auf das zur Aussage Notwendige konzentriert. Entscheidend ist die sechsfigurige Hinrichtungsszenerie, die nahansichtig gegeben ist. Der Ra-
99
Freerk Valentien: Skizzenhafte Betrachtungen über den Zeichner Alfred Hrdlicka, in: AK Stuttgart: Alfred Hrdlicka – Zeichnungen, Ausstellung der Galerie Valentien, Stuttgart 1983, S. 3 [im Folgenden zit. als: AK Stuttgart 1983].
7. Blatt 46: Acht Zigaretten ...
61
gleiche Prinzip findet sich auf der Zweidimensionalität
Dennoch – oder gerade deshalb – findet der Betrach-
des Blattes. Das bedeutet nicht nur, dass jene Gebiete,
ter sich auf dieser 46. Radierung schnell zurecht: Von
in denen nichts Wesentliches passiert, zeichnungsfrei
links kommend sind zwei Schupos gerade im Begriff,
bleiben. Auch sind bei manchen Figuren Rumpf und Bei-
einen Delinquenten in den kahlen Todesraum zur Hin-
ne nicht einmal andeutungsweise ausgeführt. Das mo-
richtung zu führen. In räumlicher, vielleicht auch zeit
notone Grau des Aquatinta-Grundes bleibt ungestaltet.
licher Überschneidung erhängen zwei Henker dort be-
Hier ist einer Beobachtung des Kunsthistorikers Wolf
reits einen Häftling – wie Schlachtvieh.
Stubbe zu folgen:
Zwischen den hämisch grienenden Lippen der links stehenden Figur steckt eine Zigarette. Der historische
In Goyas Sinne verwendet der Plastiker Hrdlicka Aqua-
Hintergrund dafür ist, dass die Arbeit im Gefängnis mit
tinten zur Isolierung der in Haltung und Mimik höchst
acht Zigaretten pro Exekution gelohnt wurde. Hrdlicka
expressiven Figuren. Das unartikulierte Dunkel des Hin-
schreibt dazu in seinem Kommentar: »Aus dieser Beloh-
tergrundes bewirkt das nachdrückliche Herausheben
nung ergaben sich oft Streitigkeiten unter dem Gefäng-
einer entsetzlichen Wahrheit, intensiviert ein schlim-
nispersonal, man riß sich darum, einen Verurteilten auf
mes Geschehen, weshalb man von den ›hintergrün-
seinem letzten Gang zu begleiten.«101
digen‹ Aquatintagründen Goyas gesprochen hat. So könnten auch die Dunkelheiten bei Hrdlicka charakterisiert werden.100
7 .2 »P l ö t z en se er T o t en ta n z «
Auf anderen Arbeiten im Zyklus »Wie ein Totentanz« sind die beschriebenen Leerstellen weiß gelassen oder
Das Blatt Acht Zigaretten pro Hinrichtung ist eines derer,
durch das satte Mezzotinto-Schwarz dunkel verhüllt.
die sich auf die grausamen Strangulierungen in Plöt-
Hrdlickas künstlerische Methodik ist folglich die des
zensee beziehen. Insgesamt gibt es elf Radierungen, in
Weglassens, der Andeutung und der Verschattung. So
welchen die Eisentraverse mit den Fleischerhaken direkt
kommt es zu rhythmischen Hell-Dunkel-Kontrasten, zu
oder indirekt erinnernd fungiert.
bedrohlich blendenden Weißstellen neben einem un-
Hrdlicka greift damit eine Bildidee aus dem Jahr 1969
durchsichtigen Schwarz. Dichteste Schraffuren stehen
auf: Am 1. Juni 1969 bekam er vom Berliner Pfarrer
neben erschreckendem Vakuum.
Bringfried Naumann den Auftrag, für den Kirchenraum des Gemeindezentrums in Berlin-Plötzensee Wandbilder zu gestalten102 (Abb. 27). Die Kirche wurde von 1968 bis
100 Wolf Stubbe: Manifestationen in der Radierung – Zur 62
7. Blatt 46: Acht Zigaretten ...
graphischen Technik von Alfred Hrdlicka, in: Alfred Hrdlicka
101
Text 46.
– Graphik – 1973, S. 53.
102
Erste Auftragserteilung: 1. Juni 1969. Konkreter Auftrag
Abb. 27 Enthauptung Johannes d. T. – Massenhinrichtung in Plötzensee – Die Guillotine 1970; je Tafel 350 x 99 cm; Bleistift, Kohle, Tusche, Deckweiß und Bister auf grundierten Tischlerholzplatten, Evangelisches Gemeindezentrum Berlin–Plötzensee
1970, abgesehen von ihrer sakralen Funktion, auch als Mahnstätte errichtet, um an das Grauen im ehemaligen für zwölf Tafeln: 25. Juni 1969; am 6. Oktober 1970 erfolgt der Auftrag für weitere vier Großzeichnungen; vgl. Ingrid Mössinger 1982, S. 2, sowie dieselbe: Der Plötzenseer Totentanz – im Evang. Gemeindezentrum Plötzensee, Mag.Arbeit, Univ. Frankfurt, bei Wilhelm Schlink, 1980, S. 1–3.
NS-Gefängnis in unmittelbarer Nähe zu erinnern (Abb. 28).
Von
Naumann
stammt
auch
die
Titelidee
»Plötzenseer Totentanz«. Er lernte Hrdlickas Kunst über eine Ausstellung von »Roll over Mondrian« in der Berli-
7. Blatt 46: Acht Zigaretten ...
63
Abb. 28 Kirchen- und Gemeinderaum der Gemeinde Plötzensee, Berlin
ner Galerie André kennen,103 insbesondere über das Blatt
Innerhalb der Folge sind die Großzeichnungen
Karfreitag (1966). Zur Zusammenarbeit mit dem Archi-
schließlich zu geschlossenen Darstellungseinheiten zu-
tekten Dr. Grötzebach verpflichtet, musste Hrdlicka sein
sammengefügt. Dies führt dazu, dass das steile Hoch
ursprüngliches Vorhaben, in Fresko zu arbeiten, aufge-
format der einzelnen Tafeln in einem Querformat auf
ben.104 Zu diesem Zweck hätten noch zusätzliche Ziegel-
gehoben wird. Es existieren vier solche Gruppen. Im
wände in der Kirche installiert werden müssen. Die Auf-
Ganzen ist dadurch der Programmcharakter traditio-
tragslage führte dazu, dass Hrdlicka von 1970–1972 16
neller Polyptychen auf innovative Weise variiert. Die
großformatige Zeichnungen anfertigte, obschon ihm
Tatsache, dass es bei Hrdlicka keine Mitteltafel, keine
dies vorerst als Notlösung vorgekommen sein mag.105
»Mitte«, kein Zentrum gibt, kann als ein Phänomen der
Er arbeitete mit Bleistift und Kohle, aber auch Tu-
»Moderne« verstanden werden. Die Überlegungen zur
sche, Deckweiß, Rötel und Bister kamen zum Einsatz.
zyklischen Darstellungsweise in Abschnitt 9 greifen die-
Die Arbeiten sind jeweils 3,5 m hoch, 99 cm breit und auf
ses Thema auf.
grundierten, 19 mm starken Tischlerholzplatten angefertigt. Für ihre Hängung zeichnen im Wesentlichen die
Exemplarisch geht die vorliegende Untersuchung auf
Auftraggeber verantwortlich.
die Tafeln 10 bis 12 ein, mit denen der Besucher beim
Die 16 Hochformate deuten durch die bildübergrei-
Betreten der Kirche zuerst konfrontiert ist.106 Sie sind an
fenden Rundbogenfenster und den Eisenträger an der
der Nordwand angebracht und tragen die Titel Rechter
Decke einen gemeinsamen Innenraum an und bezie-
Schächer – Gekreuzigter – Linker Schächer (Abb. 29). Die
hen sich dadurch formal und inhaltlich aufeinander. Die
drei Figuren füllen jeweils die ihnen zugedachte Tafel
Eisenvorrichtung an der Decke erscheint auf allen 16
beinahe bis zur Grenze des Formats aus. Dadurch befin-
Tafeln. Sie ist das verbindende Element bzw. das Leit
den sie sich unmittelbar im Bildvordergrund. Reliefartig
motiv.
rücken sie dem Betrachter auf den Leib. Die Köpfe befinden sich im Modus der Isokephalie auf einer Höhe. Der
103 Vgl. Alfred Hrdlicka – Skulptur – 1973, S. 19.
Schauplatz ist verortet durch die Wand mit den beiden
104 Vgl. AK Berlin: Alfred Hrdlicka – Berlin, hg. v. Ernst Hilger,
Rundbogenfenstern und die Eisentraverse an der Decke:
Ausstellung der Galerie im Körnerpark, Wien/Frankfurt 1987, o. Pag. 105
Die Tafeln waren im September 1970 vollendet; nur die
Eine »Bühne, auf der der Totentanz abrollt […].«107 Zahlreiche ikonographische Anspielungen auf Golga-
Tafeln VII–IX (Emmaus – Abendmahl – Ostern) und Tafel I
tha sind auszumachen. Beginnend mit der Titelgebung,
(Kain und Abel) wurden in dem Zeitraum bis 1972 fertigge-
finden sie anhand der Dreiergruppe mit den beiden
stellt. Bereits 1969 entstanden einige Bleistift-Arbeiten, so
Schächern, des Lanzenstichs von Longinus und der Dor-
z. B die 48 x 63,3 cm messende Zeichnung »Gehängter« auf gelblichem Büttenpapier. Sie wurde beim Berliner Auk64
7. Blatt 46: Acht Zigaretten ...
tionshaus Bassenge am 26. 11. 2011 für 800 € versteigert
106 Zum »Plötzenseer Totentanz« wie Anm. 24.
(Auktio 98, Los 8127).
107
Alfred Hrdlicka – Skulptur – 1973, S. 20.
Abb. 29 Rechter Schächer – Gekreuzigter – Linker Schächer 1970; je Tafel 350 x 99 cm; Bleistift, Kohle, Tusche, Deckweiß und Bister auf grundierten Tischlerholzplatten, Evangelisches Gemeindezentrum Berlin–Plötzensee
7. Blatt 46: Acht Zigaretten ...
65
nenkrone Christi ihre Fortführung. Auch der Adamsschädel am Boden und weitere Soldaten reihen sich in diese Tradition ein. Lediglich die Trauergemeinde fehlt. Dass Christus und die Schächer – wie nie zuvor der Fall – in einem Innenraum hängen statt im Freien auf einem Berg und dass sie nicht an Kreuze genagelt oder gebunden sind, fällt auf den ersten Blick kaum auf. Das Fehlen der Kreuze aber scheint Programm zu sein, und man muss sich dies bewusst vor Augen führen: Hrdlickas »Kirchendekoration« verwendet kein einziges Mal das Zeichen des Kreuzes – das Hoffnungssymbol des Christentums schlechthin. Er selbst kommentiert dies lakonisch: »Weg vom Überirdischen, Christus als Aufrührer und Gegner der Etablierten […].«108 Und an anderer Stelle sagt er:
Abb. 30 Die Gedenkstätte Plötzensee
»Die Kreuzigung Christi – das ist ein auf ewig überliefertes Bild des quälend langsamen Todes. Und damit ist es
Weltkriegs im Schnellverfahren politische Gefangene
für mich Symbol des Widerstandes.«109
von den Nazis hingerichtet110 (Abb. 30). Anfangs ist
Dabei ist es nicht eine überlieferte Ikonographie,
hauptsächlich das Fallbeil benutzt worden. Gegen Ende
sondern die anschauliche Leiblichkeit, die als Ausdrucks
des Krieges vollstreckte man die Hinrichtungen aus-
träger für die Qualen fungiert: die Nacktheit, die Schwe-
schließlich durch Erhängung mit Draht- und Hanfschlin-
re und Verwundung der Opfer, ihre Atemnot, das Kreis-
gen an acht Fleischerhaken, da die Guillotine bei einem
laufversagen.
Angriff zerstört worden war. Die im Zusammenhang mit dem Attentatsversuch vom 20. Juli Verurteilten sollten allerdings auf ausdrücklichen Befehl Hitlers allesamt am
7. 3 Di e S tr a fa n s ta lt P l ötz en s ee i m »D r i tten R ei c h «
Strang zu Tode kommen. Schon 1933 wurde in einem Gesetz die Todesstrafe durch Erhängen explizit gestattet. Dementsprechend wurden die Eisenträger auch erst während des NS-Re-
In den Räumen der Strafanstalt Plötzensee im Norden Charlottenburgs wurden bis kurz vor Ende des Zweiten
110
Vgl. Gedenkstätte Plötzensee, hg. v. Informationszentrum Berlin, Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstraße,
66
7. Blatt 46: Acht Zigaretten ...
108 Ebd., S. 20.
Berlin ²³1984, S. 2–6 [im Folgenden zit. als: Plötzensee
109 Hans-Dieter Schütt 1997, S. 61.
1984].
gimes angebracht. 1943 wurden allein in der Nacht vom
düstere Gestaltungsweise entsprechen. Dabei darf je-
7. auf den 8. September 186 Menschen erhängt. Insge-
doch nicht vergessen werden, dass die Form auch den
samt ließ man in der Strafanstalt Plötzensee etwa 2 900
historisch-empirisch Fakten geschuldet ist.
Menschen hinrichten. Unweit des Hinrichtungsraumes mit den zwei schmalen Fenstern befand sich im Erdgeschoss das sogenann-
7. 4 C a l l ot, G oya un d Di x
te »Todeshaus«, bestehend aus zahlreichen kleinen Zellen. Die Hände durch Handschellen gefesselt, mussten hier die zum Tode verurteilten darauf warten, dass sie
Ohne ikonographische Ableitungskunstgeschichte be-
von zwei Justizwachtmeistern abgeführt wurden.
treiben zu wollen, wohl aber um mithilfe einiger Abbil-
Wie die Gewalt als Show inszeniert wird, verdeut-
dungen formale und inhaltliche Zusammenhänge und
licht folgendes Faktum. Für die Teilnahme an den Hin-
wesentliche Unterschiede zu veranschaulichen, sei an
richtungen in Plötzensee wurden sogar Eintrittskarten
dieser Stelle an ähnliche Bildfindungen erinnert, die
verteilt.
NS-Funktionäre konnten sich nach getaner
Hrdlicka mit Sicherheit bekannt waren. Es handelt sich
»Arbeit« den grausamen Justizmord im Hinrichtungs-
dabei um das methodische Verfahren der »vergleichen-
schuppen ansehen. Hitler selbst wünschte, dass von
den Betrachtung«. Schon unter formalästhetischen Ge-
den Exekutionen Filmaufnahmen gemacht würden,
sichtspunkten lassen sich an Hrdlickas künstlerischem
um sie sich in Ruhe vorführen lassen zu können.
Stil Gestalttraditionen erkennen.
111
112
Im
»Plötzenseer Totentanz« und im Radierzyklus »Wie ein
Verwiesen sei hier zunächst auf zwei Graphiken
Totentanz« zeigt Hrdlicka nicht nur den unterdrückten
Goyas aus dem Zyklus »Los Desastres de la Guerra«,
Menschen, sondern auch, wie das leidende Individuum
auf Tampoco (Hier ebenso wenig, Abb. 31) und auf Y
zusätzlich noch zum Schau- und Lustobjekt anderer er-
No Hai Remedio (Und daran ist nichts zu ändern, Abb.
niedrigt wird. Das psychologische Phänomen des Sadis-
32). Goyas Zyklus entstand im Zeitraum zwischen 1810
mus spielt dabei eine zentrale Rolle.
bis 1820.113 »Die Schrecken des Krieges« umfassten ursprünglich 82 Radierungen und thematisieren den Wi-
Der Schauplatz der Plötzenseer Aquatinten ist nun ex-
derstandskampf der Spanier gegen die französische
plizit als der eines Gefängnisses identifiziert worden. Die
Invasionsarmee. Der Zyklus zeigt Grausamkeiten der
Kahlheit des Raumes und die Kargheit der Farbgebung
französischen Soldaten sowie die Lynchjustiz der spani-
haben dramaturgische, wirkungsästhetische Gründe: Einem thematisch düsteren Sujet muss auch eine formal
113
Die Radierfolge erscheint aber erst 1863 mit 80 Blättern in Madrid; vgl. AK Hamburg: Goya – Los Desastres de la
111
Plötzensee 1984, S. 30.
Guerra, Kat. zur Ausstellung vom 27. Nov. 1992 bis 17. Jan.
112
Vgl. ebd., S. 5.
1993 in der Hamburger Kunsthalle, Stuttgart 1992.
7. Blatt 46: Acht Zigaretten ...
67
Abb. 31 Francisco de Goya: Tampoco, ca. 1812–1815 »Los Desastres de la Guerra«; Nr. 36; Radierung und Aqua
Abb. 32 Francisco de Goya: Y No Hai Remedio, um 1814 »Los Desastres de la Guerra«; Nr. 15; Radierung; Plattengröße 140 x 167 mm
Abb. 33 Jacques Callot: Der Galgenbaum, um 1632/33 68
7. Blatt 46: Acht Zigaretten ...
»Les Misères et les Malheurs de la guerre«; Nr. 11; Radierung; II. Zustand; 82 x 187 mm
schen Zivilbevölkerung an angeblichen »Franzosen-
ve Radierfolge, die von vielen Interpreten zu Recht als
sympathisanten«.
wichtigstes Zeugnis des Krieges von 1914–1918 innerhalb
Zwei weitere druckgraphische Kriegs-Zyklen gilt es
der bildenden Kunst gesehen wird. Er ging dabei von ei-
mit einzubeziehen. Neben Dix handelt es sich um den
genen Erlebnissen als MG-Stoßtruppführer aus. Als Bei-
lothringischen Graphiker und Hofkünstler Jacques Cal-
spiel für die Gewalt, zu der Menschen im Kontext eines
lot. Die 18 Radierungen umfassende Folge der »Misères
Krieges fähig sind, betrachte man Blatt 44 Überfall einer
et les malheurs de la guerre« erschien 1633 bei Israël
Schleichpatrouille auf einen Grabenposten (Abb. 34).
Henriet in Paris.
114
Die Graphiken begleiten Verse des
Sammlers und Historikers Marolles. In Anbetracht von
Auf die vielen Differenzen zwischen den vier behan-
Hrdlickas Graphik über die Strangulierten in Plötzensee
delten Künstlern kann an dieser Stelle nur kurz einge-
konzentriert sich die vorliegende Arbeit vorwiegend auf
gangen werden. In formaler Hinsicht ist Callot ein ent-
Blatt 11: Der Galgenbaum (Abb. 33). Die Radierung zeigt
schiedener Anhänger des disegno mit manieristischer
grausame Strafmaßnahmen, vollstreckt durch die militä-
Linienführung, während die Zyklen der drei anderen
rische Gerichtsbarkeit der französischen Truppen.
gerade in ihren Versuchen, der »Griffelkunst« malerische
Der Zyklus »Der Krieg« von Otto Dix wurde im Anti-
Aspekte abzugewinnen, äußerst innovativ sind. Aber
Kriegsjahr 1924 im Verlag Karl Nierendorfs in Berlin he-
auch die thematische Ausrichtung ist teilweise verschie-
rausgegeben.115 Die fünf Mappen zu je zehn Blatt ent-
den. Hrdlicka zeigt auf seinen Blättern nicht im engen
standen innerhalb eines kurzen Zeitraums: vom Herbst
Sinne Kriegsdarstellungen. Er thematisiert, anders als
1923 bis zum Frühjahr 1924. In einer Auflage von 70
Dix, weniger das Soldatensterben als vielmehr den ver-
nummerierten Exemplaren löste das Radierwerk heftige
suchten Aufstand gegen die kriegsführende Herrschaft.
Kontroversen aus: »Wehrzersetzung« wurde ihm unter
Dabei bemüht er sich um eine politische, historische,
anderem vorgeworfen. Fünf Jahre nach dem Ende des
psychologische und philosophische Einordnung und
Abb. 34 Otto Dix: Überfall einer Schleichpatrouille auf einen
Ersten Weltkriegs schuf Dix diese technisch innovati-
entfaltet ein Panorama, das sich über zwei Jahrhunder-
Grabenposten, 1924
te erstreckt. Callots Zyklus endet mit der reaktionären
»Der Krieg«; Nr. 44; Radierung; 198 x 149 mm
Auffassung, »dass härteste militärische Strafjustiz not114
Vgl. AK Dresden: Jacques Callot – Das druckgraphische Werk im Kupferstich-Kabinett zu Dresden, bearb. v. Christian Dittrich, Kat. zur Ausstellung v. 8. 11. 1992 bis 10. 01.
115
wendig sei, um Unrecht zu sühnen und die staatlichgesellschaftliche Ordnung unter absolutistischer Ho-
1993 i. Albertinum, Dresden 1992 [im Folgenden zit. als: AK
heit wieder herzustellen«.116 Paulette Choné sieht dies
Dresden 1992].
ähnlich: »Die Idee, nach der das Militär ›die Stütze‹ und
Vgl. dazu: Dietrich Schubert: Otto Dix – Der Krieg, 50
›der Bewahrer‹ der ›res publica‹ sein muß, vor allem in
Radierungen von 1924, Marburg 2002; AK Otto Dix – »Der Krieg«, Ein Radierwerk in 5 Mappen, Kunstmuseum Thun, 1995; Olaf Peters (Hg.): Otto Dix, Neue Galerie New York 2010, S. 65–89.
116
Christian Dittrich: Callot als Graphiker, in: AK Dresden 1992, S. 14.
7. Blatt 46: Acht Zigaretten ...
69
einem besetzten Land, fand in dieser Folge eine ergrei-
7 .5 G rausa m k eit d er R a c h e
fende Illustration.« Die Kontradiktion zu Goya, Dix und 117
Hrdlickaist damit offensichtlich.
Über Otto Dix und in gewisser Weise auch über sich
Der Zusammenhang der Zyklen ist nicht zuletzt
selbst schrieb Alfred Hrdlicka 1974: »[…] und wenn er
der, dass schonungslos und künstlerisch verdichtet die
der Gesellschaft seiner Zeit ins Gesicht schlägt, so ge-
Schrecken von Kriegen anhand zeitgenössischer Gewalt
schieht dies mit der Gewalttätigkeit des Totschlägers,
dargestellt werden.118 In allen Werken wird durch eine
denn selbst seinen bösesten Bildern fehlt die vorsätzli-
bewusst eingesetzte Hell-Dunkel-Wirkung, anhand eines
che Bosheit des »Schreibtischmörders«, der sich krampf-
grauenvollen Detailreichtums und einer dramatischen
haft bemüht, schwarze Kunst zu produzieren.«121
Erzählgabe das eigene graphische Können dokumen-
Diese aggressive Stoßrichtung vollzieht sich naturge-
tiert. Alle vier Künstler leisten im Sinne Friedrich Schil-
mäß über aggressive Inhalte. Erhängungsszenen bzw.
lers eine »lebende Gestalt«119 und im Sinne Jean Pauls
grausame Strangulierungen befinden sich im Zyklus
»lebendige Poesie«120, weil sie eine Synthese von Inne-
»Wie ein Totentanz« auf insgesamt elf Blättern. Die Ei-
rem und Äußerem, von konkreter historischer Situation
sentraverse von Plötzensee erscheint dabei auf sechs
und dem allgemeinen Phänomen des Krieges suchen,
Graphiken. Den Tod, will sagen: Leichen oder Menschen,
und zwar in dezidiert individueller Gestaltung.
die gerade ermordet werden oder sich selbst das Leben nehmen, bekommt der Betrachter auf 34 Radierungen zu sehen. Mit der »mimetischen« Darstellung von Gewalt und Grausamkeit – nicht aber kopistisch abbildend, sondern künstlerisch aktualisierend122 – setzt Hrdlicka eine tief verwurzelte Tradition fort. Der Koran, das Neue Testa-
117
Paulette Choné: »Die Schrecken des Krieges« oder «»Das
121
Leben des Soldaten«: die Gewalt und das Recht, in: AK Dresden 1992, S. 19. 118
119
120 70
7. Blatt 46: Acht Zigaretten ...
Alfred Hrdlicka: Otto Dix, wie ich ihn sehe [1974], in: LEWIN IV, 54, S. 95.
122
Zum aristotelischen Begriff der Mimesis vgl. Gadamer:
Vgl. Dietrich Schubert: Otto Dix und Alfred Hrdlicka im
»Die im Spiel der Darstellung erscheinende Welt steht
Dialog, Rede im Kunstverein Heidelberg am 6. März 1983,
nicht wie ein Abbild neben der wirklichen Welt, sondern
Heidelberg 1985 [im Folgenden zit. als: Dietrich Schubert
ist diese selbst in der gesteigerten Wahrheit ihres Seins.«,
1985].
in: Hans-Georg Gadamer 1986, S. 142; oder Wedekind: »Die
Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des
Darstellung der Wirklichkeit – Mimesis – erfüllt sich nicht in
Menschen [1795], Fünfzehnter Brief, Stuttgart 2005, S. 58
der Schilderung des empirisch Wahrnehmbaren, sondern
[im Folgenden zit. als: Friedrich Schiller].
erst in der Erfassung dieser kreatürlichen Wirklichkeit.«, in:
Jean Paul: Vorschule der Ästhetik [1804], hg. v. Wolfhart
Gregor Wedekind: Le portrait mis à nu. Théodore Géricault
Henckmann, Hamburg 1990.
und die Monomanen, Berlin 2007, S. 96.
ment, die Thora ebenso wie die klassische Tragödie und
tet werden.124 Während die körperliche Gewalt in Kampf-
der archaische Mythos, d. h. alle ursprünglichen Formen
und Streitsituationen Ausdruck der »Stärke« eines
von Philosophie und Literatur, im Besonderen auch die
Einzelnen ist, der mit einem bestimmten Gewaltmittel
europäische Kunstgeschichte sind reich an Gewaltdar-
destruktiven Zwang ausübt, so liegt im Gegensatz dazu
stellungen und grausamen Vorkommnissen.
der semantische Fluchtpunkt der Macht in der Freiheit,
Wie schon in der Untersuchung des Blattes über
die sie ermöglicht. Macht und Gewalt sind Gegensätze;
Weininger ist an dieser Stelle eine begriffliche Klärung
Ursprung und Ziel der Gewalt ist das Verschwinden von
Voraussetzung für sprachlich expliziertes Verstehen.
Macht.125 Denn Macht bedeutet für Hannah Arendt die
Die einschlägigen und entscheidenden Begriffe sind
Fähigkeit, miteinander zu handeln:
»Macht«, »Gewalt«, »Stärke« und »Grausamkeit«. Sie sind nicht nur im alltäglichen, sondern auch im politisch-
Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht
philosophischen Diskurs ungenau geschieden und wer-
nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit
den jeweils unterschiedlich gebraucht. Hannah Arendt
anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen
hat der vorherrschenden Meinung, in all diesen Fällen
mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein
ginge es stets nur um Herrschaftsverhältnisse zwischen
Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur
Menschen, mit Vehemenz widersprochen.
Mit dieser
solange existent, als die Gruppe zusammenhält. Wenn
unscharfen Bestimmung hängt auch das unklare Verhält-
wir von jemand sagen, er »habe die Macht«, heißt das
nis zur Gerechtigkeit, also zu Legalität und Legitimität,
in Wirklichkeit, daß er von einer bestimmten Anzahl
zusammen. Gerade die »Gewalt« des Staates, die vom
von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu han-
Volke ausgehen soll (Art. 20 Abs. 2 GG) oder Nietzsches
deln.« 126
123
»Wille zur Macht« unterscheiden sich vom Wesen der Gewalt im Sinne Hannah Arendts, der zufolge Gewalt
Der entscheidende Begriff in Bezug auf die Folterun-
einen instrumentellen Charakter besitzt. Das gewalttä-
gen und Strangulierungen im Gefängnis Plötzensee ist
tige Handeln bedarf eines Gewaltmittels, es hat seinen
die »Grausamkeit«, die nicht normativ missverstanden
Zweck außerhalb seiner selbst und es wird in der Regel
werden sollte. Das Phänomen der Grausamkeit unter-
körperlich erlitten. Wenn Gewalt als der Versuch ver-
scheidet sich von der Gewalt nicht zuletzt darin, dass
standen wird, Zwang auszuüben und Gegensätze aus
ein Mensch nicht bloß Opfer, Erleidender von Gewalt
der Welt zu schaffen, dann muss auch jedes Harmonisie-
ist, dessen Leiden in gewisser Hinsicht auch legitim sein
rungsstreben auf seine strukturelle Gewalt hin betrach124 123
Vgl. Hannah Arendt: Macht und Gewalt [On Violence,
Vgl. Wieland Schmied: Wie ein Totentanz, in: AK Berlin 1975, S. 7.
1970], aus dem Engl. v. Gisela Uellenberg, München/Zürich
125 Vgl. Hannah Arendt MuG, S. 57.
2008, S. 45–47 [im Folgenden zit. als: Hannah Arendt MuG].
126
Hannah Arendt MuG, S. 45.
7. Blatt 46: Acht Zigaretten ...
71
kann: Man denke an das Recht auf Selbstverteidigung,
– nichts sonst. Der von tyrannischen Fürsten, einfältigen
an das Widerstandsrecht (20. Juli 1944!) oder an medi-
Verbrechern oder ehrgeizigen Märtyrern verursachte
zinische Operationen – im Notfall ohne Narkotisierung.
oder erlittene Schmerz ist körperlich präsent und unter
Grausamkeit bedeutet, dass ein Mensch bewusst als
Umständen grauenvoll. Doch anders als beispielswei-
Mittel zu einem Zweck instrumentalisiert wird: er dient
se der Kreuzestod Jesu Christi im Sinne der christlichen
als Werkzeug. Man spießt ihn zur Abschreckung am
Theologie ist er sinnlos und nichtig: er kann keinen Mehr-
Wegesrand auf oder foltert ihn, um bestimmte Bedürf-
wert besitzen, der als Ergebnis einer theologischen oder
nisse, und sei es die Rachsucht des Ressentiments, zu be-
revolutionären
friedigen und sich dadurch Lustgefühle zu verschaffen.
wird.
Nietzsche tritt auch in diesem Zusammenhang als Desillusionierer auf:
Kosten-Nutzen-Rechnung
postuliert
Befragt Hrdlicka perverse oder banale Grausamkeiten auf ihre Ursachen hin, so lassen sie sich für ihn nicht mit einer Ideologie entschuldigen, historisch aufrechnen
Welcher Genuss ist für Menschen im Kriegszustande
oder wissenschaftlich ausleuchten. Die Grenzen des
[…] der höchste? […] Der Genuss der Grausamkeit: so
Blattformats oder des Steinblocks sind in der Regel zu
wie es auch zur Tugend einer solchen Seele in diesen
eng bemessen. Die Proportionen entgleiten. Auf Blatt
Zuständen gerechnet wird, in der Grausamkeit erfinde-
46 ist die Szenerie ins Nichts hineingehalten. Das Be-
risch und unersättlich zu sein. An dem Thun des Grau-
zeichnete mündet in fragwürdige Abgründe, die durch
samen erquickt sich die Gemeinde und wirft einmal die
Hrdlickas Aquatinta-Grund symbolisiert sind. Die Grau-
Düsterkeit der beständigen Angst und Vorsicht von
samkeit fußt auf mindestens doppeltem Boden.
sich. Die Grausamkeit gehört zur ältesten Festfreude der Menschheit.127 Das Christentum maß dem Leiden der Ausgestoßenen, der zur Opferung bestimmten »Sündenböcke«, einen intellektuellen und moralischen Wert bei. In Nietzsches Sinne holt Hrdlicka dieses Leid auf seinen tragischen Grund zurück. Er sieht in ihm einen körperlichen Schmerz
127
Friedrich Nietzsche: Morgenröthe, Gedanken über die moralischen Vorurtheile [1881], KGW, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Fünfte Abteilung, Bd. 1, Berlin/New York 1971, S. 26; vgl. auch: JGB, VII 229, S. 165 f.; sowie: GM,
72
7. Blatt 46: Acht Zigaretten ...
II 6, S. 300–302.
8. Der historische Kontext des Zyklus »Wie ein Totentanz«
8.1 B i o grap his che We r kmotivation
Geschichtlichkeit unablässig und provokant zur Schau stellte, ist es vor allem die Biographie, die Wegmarken für den Gang der Interpretation anbietet.
Für mich ist Faschismus (faschistoid!) nicht einfach ein Begriff, mit dem es sich leichthin argumentieren läßt,
Dass Hrdlickas feines Gespür für Machtmissbrauch, alles
sondern Empirie. Ich habe meine Kindheit und einige
Totalitäre und letztlich für »das Böse« im Menschen sich
Jahre meiner Jugend unter dieser Fuchtel verlebt.128
schon sehr früh entfaltete, betonte er selbst immer wie-
W
der. In einem Gespräch mit Hans-Dieter Schütt äußerte enn ein moderner Künstler ein Werk
er sich wie folgt: »Meine Kindheit – das sind politische
schafft, so verfolgt er damit eine Absicht,
Erinnerungen. [...] Es war eine furchtbare Zeit der Ge-
sonst würde er es nicht in die Welt setzen.
walt, in die ich hineinwuchs und die ich als Welt-Erklä-
Selbst dekorative oder hedonistische Kunst ist intentio-
rungshilfe nie loswurde. Nachbarn sind verschwunden,
nal verfasst – nämlich gerichtet auf schmückende oder
Menschen wurden auf offener Straße geschlagen.«129
Genuss bereitende Wirkung. Im Nachhinein zu leisten-
Und an anderer Stelle: »Ich habe den Staat ja in unter-
den Interpretationen des Riegl’schen »Kunstwollens«
schiedlicher Weise als schnüffelndes, beleidigendes Or-
bzw. des »Künstlerwollens« muss daher eine Kenntnis
gan kennengelernt.«130 Es ist nicht verwunderlich, dass
des zeitgeschichtlichen Kontextes vorausgehen, in des-
er schließlich resümierte: »Von oben verordnetes Ver-
sen Wirkungszusammenhängen ein solcher Wille steht.
halten war das Letzte, staatlich abgesegnete Vorbilder
Das heißt, dass diese letztlich die Bedingungen sind, aus
Feindbild, die Form des Zusammenlebens unprätentiös,
welchen Kunstwerke erwachsen, so Carl Einstein. Bei
misstrauend jeder falschen Vertraulichkeit.«131
einem Künstler wie Hrdlicka, der in seiner Kunst seine persönliche Haltung zu Politik und Gesellschaft in ihrer 129 128
Hans-Dieter Schütt 1997, S. 45–47.
Alfred Hrdlicka: Die Ästhetik des automatischen Faschis-
130
Ebd., S. 57.
mus, in: LEWIN IV, 166, S. 180.
131
Schaustellungen 1984, S. 108.
8. Der historische Kontext ...
73
1928 geboren, wuchs Hrdlicka Anfang der 30er-Jahre
Besonders 1969 begann Hrdlicka, sich intensiv mit
in einer Arbeitslosensiedlung am Stadtrand Wiens auf.
der Geschichte des Widerstands gegen die NS-Diktatur
Die Wohnung wurde wegen illegaler kommunistischer
zu beschäftigen, da er den Auftrag zur Gestaltung des
Tätigkeit des Vaters durchsucht und verwüstet und die-
Gemeindezentrums Plötzensee in Charlottenburg-Nord
ser 1934 sowie 1936 verhaftet und verprügelt, während
erhielt, an dem er bis 1972 arbeitete.135 Dass Hrdlicka ei-
man der Familie Schweigepflicht auferlegte.132 1934 kam
nige Jahre seiner Kindheit und Jugend unter dem Aus-
es in Wien zum Nazi-Putsch-Versuch, wobei der öster-
trofaschismus leben musste, verdeutlicht, dass seine
reichische Kanzler Engelbert Dollfuß ermordet wurde.
künstlerisch-politische Haltung auch in seiner Biographie
1938 annektierte Hitler Österreich. Mit 14 Jahren erfuhr
begründet liegt. In der Bendlerstraße war Hrdlicka 1944
Hrdlicka vom Tod seines Bruders Ernst, der im Alter von
aber nicht. Die radierten Szenen sind folglich zum gro-
20 Jahren 1942 als Wehrmachtssoldat vor Leningrad fiel.
ßen Teil keine direkt beobachteten. Sie leben von einer
Sein Vater musste 1943 in einer Strafkompanie der »Or-
intensiven Beschäftigung mit der Geschichte und von
ganisation Todt« Frondienste leisten.
der Imagination: Hrdlicka zeichnete nicht, was er unmit-
Geprägt hatte Hrdlicka ein Jugenderlebnis im Jahre
telbar sah, sondern was er dachte und wusste.136 Teils
1941. Die ganze Klasse musste damals mit der HJ nach
gestaltete er sogar Ereignisse, die nicht nur anders, son-
Auschlag-Zöbern im Wechselgebirge zur Wehrertüch-
dern überhaupt nicht stattfanden – beispielsweise die
tigung.133 »Und zur seelischen Abhärtung offenkundig,
im Abschnitt 4 thematisierte Vision des Hauptmanns von
oder was immer diesen Idioten eingefallen ist, haben
dem Bussche.
uns die Ausbilder in ein Kaolinbergwerk geschleppt und da habe ich die ersten KZ-Gestalten in natura gesehen.«134 Wahrscheinlich handelte es sich um russische Kriegsgefangene.
135
Siehe Abschnitt 7.2.
136
»Meine Zeichnung kommt dann aus der Erinnerung, aus der Vorstellung«, aus: AK Stuttgart 1983, Anm. 10, S. 6; schon Baudelaire sprach von Gedächtniskunst und unterschied die »mnemonische Kunst« des »guten, wahren Zeichner[s]«, der aus seiner Vorstellung, seinem Gedächt-
132
133 74
8. Der historische Kontext ...
134
»Zum Beispiel die Verhaftung meines Vaters, die sich
nis und seiner Phantasie zu schöpfen vermag, von der mi-
besonders schmerzlich und folgenreich in mir eingebrannt
metischen Kunst des »Maleraffen«, der nur ablichtet, was
hat – sie ist mit schrecklichen Phantasiebildnissen ver-
ihm unter die Augen kommt, und dabei alle Details gleich
bunden. Vielleicht war das damals die erste Szene meiner
behandelt, so dass dem Betrachter nichts in Erinnerung
späteren Bilder und Steinarbeiten« (aus: Hans-Dieter Schütt
bleibt (vgl. zum Typus des malenden Affen J.-B. Deshays
1997, S. 50).
Gemälde »Le singe peintre« in Rouen oder A.-G. Decamps,
Vgl. Alfred Hrdlicka: Höhlenbewohner, in: LEWIN IV, 181, S.
1833). Charles Baudelaire: Das Schöne, die Mode und das
192 f.; und AK Mauthausen 1985, S. 40.
Glück – Constantin Guys, der Maler des modernen Lebens
AK Mauthausen 1985, S. 40.
[1863], dt. v. Max Bruns, Berlin 1988, S. 24–28.
8.2 D i e kun sthis tor is che K o n st ellat ion
8.2.1 Mo disch e K unst In Mode war ohnehin anderes. Ein radikaler »Neube-
Es gab durchaus bildende Künstler, die nach 1945 die
ginn« sollte stattfinden – weil die traditionelle Kunst
Gewaltherrschaft der NS-Zeit, den Krieg und seine Fol-
Schuld auf sich geladen hatte? – und »Westintegration«
gen figürlich-benennend thematisierten. Doch handelt
geleistet werden: die angeblich »freie« Gegenstands-
es sich im Wesentlichen um wenig bekannte Außensei-
losigkeit nach amerikanischem Vorbild erschien als
terpositionen, von Ossip Zadkine, Otto Herrmann, Fritz
ein vielversprechendes Ideal. Das Bemühen um eine
Cremer, Georg Baselitz und Luc Tuymans abgesehen,
überzeitlich wirksame, figürliche Kunst musste dabei
oder um verklausulierte monologische Kunst, wie bei Jo-
notwendig zu kurz kommen.138 Gerade in Deutschland
seph Beuys und Anselm Kiefer. Zu bedenken ist ferner,
engagierten sich wenige für die Überlegung, dass man
dass die politische Kunst der Nachkriegszeit vorwiegend
über die Vergangenheit nicht einfach hinweggehen
graphisch arbeitete. Kleinere Zeichnungen und Radie-
kann bzw. aufgrund von anfänglicher Überforderung
rungen sind in der Regel nicht derart öffentlichkeitswirk-
nicht dazu verdammt ist, im Schweigen zu verharren.
sam wie Gemälde und Skulpturen, die in großen Ausstel-
Hrdlicka fand zu Recht »die leibhafte Gestalt des Men-
lungen dementsprechend präsentiert werden können.
schen aus der bildnerischen Vorstellungswelt der Nach-
137
kriegskunst vertrieben, psychisch verdrängt oder konzeptionell verklausuliert«.139 Veranschaulichen lässt sich diese Problematik, stellt man Hrdlickas »Cap Arcona« (Abb. 35) Ulrich Rückriems Granitstelen »Zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus in Düren« gegenüber (Abb. 36). Was dem einen bloß der Sockel, ist dem 137
Aufzuzählen sind: Schlichter, Radziwill, Hans und Lea Grun-
anderen schon das Werk.
dig, Grzimek, Olère, Zeckowski, Nussbaum, Hofer, Sand-
In diesem Sinne formulierte der in Wien lehrende Pe-
berg, Rudolph, Geiger, Birkle, Lehmden, Strempel, Sitte,
ter Gorsen: »Hrdlicka richtet seine Fleischmetapher als
Tübke, Heisig, Duwe, Krämer. Vgl. unter anderem: Gabriele
bewusst polemisches Mittel gegen eine Auffassung, die
Saure/Gisela Schirmer (Hg.): Kunst gegen Krieg und Faschismus, 37 Werkmonographien, Weimar 1999; sowie:
die Kunst wie eine pietistische Moral und christliche Re-
AK Frankfurt: Zwischen Krieg und Frieden, Ausstellung im Frankfurter Kunstverein, Frankfurt 1980. Die Frage nach
138
Vgl. Dietrich Schubert: Hamburger Feuersturm und »Cap
der Qualität und Bedeutung der jeweiligen Werke sei hier
Arcona« – zu Alfred Hrdlickas Gegendenkmal in Hamburg,
ausgeklammert; ebenso die grundsätzliche Frage nach der
in: Kritische Berichte, Jg. 15/1987, Heft 1, S. 18 (wieder in:
Darstellbarkeit der »Schoah«. Leider lässt die aufgeführte Publikation von Saure und Schirmer sowohl Otto Dix als auch Alfred Hrdlicka unberücksichtigt.
Dietrich Schubert 2007, S. 45–57). 139
Peter Gorsen: Die Emanzipation des Fleisches, in: Trautl Brandstaller 2008, S. 51.
8. Der historische Kontext ...
75
Abb. 35 Cap Arcona, 1985–86
Abb. 36 Ulrich Rückriem: »Zur Erinnerung an die Opfer des
Weißer Carrara-Marmor; 230 x 290 x 210 cm auf einem So-
Nationalsozialismus in Düren«, 1987–1990, Zehn Stelen, Gra-
ckel von 145 cm Höhe; Teil des Hamburger Gegendenkmals
nitgestein, 500 x 110 x 110 cm, davon 100 cm unterirdisch
auf dem Stephansplatz, 1983–86
76
8. Der historische Kontext ...
ligiosität würdig, sittlich, unbefleckt, letztlich naturlos –
breitet ist. Und damit verbunden und nur ein bißchen
als gereinigten, erlösten Geist – haben möchte.«
weniger gefährlich ist eine andere gängige moderne
140
Tatsächlich dachten Kunstvermittler und »Auftragge-
Erscheinung: die häufig anzutreffende Tendenz, das Ur-
ber« im Westen, d. h. Museums-Direktoren, Galeristen
teilen überhaupt zu verweigern. Aus dem Unwillen oder
und Kunstbuch-Schreiber, zu Hrdlickas Schaffenszeit ver-
der Unfähigkeit, seine Beispiele und seinen Umgang zu
stärkt in rein kunsthistorischen Fortschritts-Kategorien:
wählen, und dem Unwillen oder der Unfähigkeit, durch
Der soziale, polithistorische Kontext wurde ausgeklam-
Urteil zu Anderen in Beziehung zu treten, entstehen die
mert. »Kunst« sei schließlich »autonom«.
Dabei wird
wirklichen »skandala«, die wirklichen Stolpersteine,
vergessen, dass Kunst im öffentlichen Raum, in Galeri-
welche menschliche Macht nicht beseitigen kann,
en, Ausstellungen oder Publikationen immer schon poli-
weil sie nicht von menschlichen oder menschlich
tisch ist. Das bedeutet auch, dass Kunst, die sich dieser
verständlichen Motiven verursacht wurden. Darin liegt
Verantwortung entziehen will, dadurch bereits politisch
der Horror des Bösen und zugleich seine Banalität.142
141
angepasst ist oder eine gleichgültige Haltung einnimmt. Jenen »Kunstwerken«, die Öffentlichkeit beanspruchen
Eine nicht-kommerzielle, »zeitspiegelnde« Kunst, die
und gleichzeitig ein arbiträres Werkeln einfordern, sah
diesseits von Wissenschaft und Technik angesiedelt
Hrdlicka einen Widerspruch innewohnen. So wie das Geis-
ist, besitzt das Potenzial, als Diskursgrundlage in der
tige nur im Verbund mit dem Leiblichen auftreten kann,
»machtkritischen Öffentlichkeit« im Sinne von Jürgen
so steht auch Kunst per se in einer Beziehung zu ihrer
Habermas zu wirken. Warum liegt dieses Möglichkeits-
jeweiligen Zeit, Geschichte und Gesellschaft. Dieser Ver-
feld in der Regel brach? Warum wird an zeitgenössi-
antwortung muss Kunst auf ihre jeweilige Weise gerecht
schen »Kunstevents« so geschätzt, dass sie einem ro-
werden. Schon 1965 referierte Hannah Arendt in New
mantischen Irrationalismus und einem postmodernen
York über das Problem eines gestörten zwischenmensch-
Individualismus inständig das Wort reden?
lichen Verhältnisses – und Kunst zu produzieren bedeutet durchaus, zu dem Anderen in Beziehung zu treten: Diese Indifferenz stellt, moralisch und politisch gesprochen, die größte Gefahr dar, auch wenn sie weit ver-
Nicht die subversive »Gegenmacht«143 einer bildmächtigen Kunst, sondern die Selbstbewegung von
142
Hannah Arendt: Über das Böse, Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik [Some Questions of Moral Philosophy, 1965/2003], München/Zürich 2008, S. 150 [im Folgenden
140 Ebd., S. 55. Zur Skulpturengeschichte siehe Dietrich Schubert: Formen der Heine-Memorierung im Denkmal heute,
141
zit. als: Hannah Arendt ÜdB]. 143
Vgl. dazu Klaus von Beyme: Die Kunst der Macht und die
in: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hg.): Mnemosyne,
Gegenmacht der Kunst, Studien zum Spannungsverhältnis
Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frank-
von Kunst und Politik, Frankfurt/Main 1998, S. 7 u. 145–179;
furt a. M. 1991, S. 101–142.
überraschenderweise findet Hrdlickas Zyklus in dieser
Vgl. dazu auch Abschnitte 10 und 12.
Publikation keine Beachtung.
8. Der historische Kontext ...
77
Künstler-Ich, Material und Kapital dominierte die Kunst
auf die neo-dadaistischen Materialmontagen der Nou-
der Nachkriegszeit. Lanciert wurden Strömungen des
veaux Réalistes oder den Anschaulichkeit verweigern-
sogenannten »Modernismus«. Zu diesem Phänomen
den Okkultismus Beuys’scher Art. Der figürlich malende
zählen alle Tendenzen, die das Bemühen um »Erneue-
»Neue Realismus« der 1960er- und 70er-Jahre dagegen
rung« sowie den selbstreferenziellen Verweis auf die
erschöpft sich gemeinhin in der naturalistischen bzw. fo-
Eigenwirklichkeit eines Kunstwerks zum Selbstwert
tografischen Verdoppelung von Sehbildern oder in einer
erheben und dadurch Wesensaspekte der progressi-
mal popartigen, mal konzeptionellen Thematisierung
ven Kunst zwischen 1880 und 1920 verselbstständigen.
der Konsum- und Medienwelt.145 Diese ist jedoch selbst
Dem Selbstausdruck von Farbe und Form wurde das
nur eine zusätzliche, virtuell entfremdete Vermittlungs-
Feld überlassen. Von den 1950er- bis hin zum Beginn der
instanz der ursprünglich sinnlich-phänomenal begegnen-
70er-Jahre feierten jene Künstler Erfolge, die vergange-
den Welt. Der »wirkliche« Realismus ist an eben dieser
ne »Ismen« im Sinne der »Postmoderne« collagierend
subjektiv gegebenen Objektwelt interessiert, in welcher
zitierten und kopierten. Sie verkauften dies jedoch nicht
der Mensch leiblich und in Gemeinschaft existiert. Das
als Eklektizismus, sondern als »Avantgarde«. Das Arran-
Streben nach einer anschaulichen, zugänglichen Wirk-
gement von Gebrauchsgegenständen, die Inszenierung
lichkeitskunst, die insbesondere die NS-Verbrechen und
von Handlungsabläufen zu Events ohne Bekenntnis
beispielsweise die deutsche Widerstandsbewegung als
zum Theater sowie die reine Farb- und Geometriekunst
memorierungswürdiges Ereignis aufgreift, war in diesen
gab es freilich schon bei Kandinsky (»Komposition VI«,
Jahren nur am Rande präsent.
1913), Duchamp (»Das Fahrrad-Rad«, 1913), Malewitsch (»Schwarzes Quadrat« 1913; »Suprematismus Nr. 56«, 1916), Marinetti (»serate futuriste«), Mondrian (De StijlBewegung, »Neoplastizismus«), Ball (Cabaret Voltaire,
8 . 2. 2 W un der li ch , S ch e i b e, G r i es h ab er un d M atta
1916), Schwitters (Merzbau und -Bilder, 1920), Lissitzky (Proun-Räume), Tatlin (Assemblagen) und anderen. Zu
Und doch gibt es aus dem Jahre 1959 einen acht Blätter
Beginn des Jahrhunderts waren diese Ansätze instruktiv
umfassenden Litho-Zyklus von Paul Wunderlich, der in
und spannend.
der Nachfolge der »Art brut« und surrealistischer Strö-
Die aufgestellte These bezieht sich demnach nicht
mungen steht. Sein Titel lautet: »20. Juli 1944«.146 Ver-
nur auf die sogenannte »abstrakte Kunst«, sondern auch auf die postmoderne »Verkunstung von Ekel und Schmutz« , wie sie z. B. Dieter Roth praktizierte, auf 144
die Verwertung der Ready-made-Ästhetik Duchamps,
145
Einen Überblick verschafft AK Berlin: 1945–1985, Kunst in der Bundesrepublik Deutschland, Nationalgalerie Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1985.
146 Vgl. Dieter Brusberg (Hg.): Paul Wunderlich, Werkverzeichnis der Lithographien von 1949–1965, Hannover 1966 [im
78
8. Der historische Kontext ...
144
Ebd. S. 51.
Folgenden zit. als: Dieter Brusberg 1966].
Abb. 38 Paul Wunderlich: 20. Juli 1944, Nr. 6; Lithographie 1959; 430 x 610 mm
liche und Verwesende der menschlichen Existenz. Doch bleibt zu fragen, was das Ausschlaggebende – sprich dasjenige, was dem Betrachter anschaulich gegeben ist – tatsächlich über die Widerstandsbewegung des 20. Juli vermittelt. Oder handelt es sich um eine dekorative Ästhetik, und sei es eine »Provokationsästhetik«147, die sich der Veranschaulichung des historischen Geschehens und seiner Täter-Opfer-Dialektik klammheimlich entzieht? Werden das Leid und der Schmerz von Menschen sichtAbb. 37 Paul Wunderlich: 20. Juli 1944,
bar – oder lediglich Tuschkleckse? Wunderlichs kreative
Nr. 5; Lithographie 1959; 550 x 345 mm
Ausgangspunkte für seine Ideenillustrationen sind stets Zufallsereignisse der bildnerischen Mittel bzw. vom For-
wiesen sei auf die Abbildungen der Blätter 5 und 6 (Abb.
menfundus der Kunstgeschichte ausgehende Inspiratio-
37 u. Abb. 38). Seine Arbeiten suchen die Synthese aus
nen. Die Reize der Realität selbst scheinen ihn weniger
Abstraktion und Figürlichkeit, sie sind in der Themen-
zu interessieren. Es stellt sich die Frage, ob in diesem
wahl engagiert und sichten auf ihre Weise das Zerbrech-
Fall der Stil seinem Thema gerecht wird. Verdrängen die biomorphen, flächigen Partikel der Litho-Tinte das
147
Max Bense: Über Paul Wunderlich, in: Dieter Brusberg 1966, S. 4.
8. Der historische Kontext ...
79
eigentlich Menschliche? Das generelle Dilemma der Austauschbarkeit und Kommentarbedürftigkeit abstrakter Bilder148 wird aufgrund des proklamierten inhaltlichen Anspruchs von Wunderlichs Arbeiten zu einem konkreten Qualitätsproblem. Auch Richard Scheibes bronzenes »Ehrenmal für die Opfer des 20. Juli 1944« ist zu erwähnen. Es entstand in den Jahren 1952/53 und steht im Innenhof der »Geschichtsstätte Deutscher Widerstand« in Berlin (Abb. 39).149 Auftraggeber für die nackte Jünglingsfigur mit gefesselten Händen war der Senat von Berlin. Die Idee, ein Denkmal zu errichten, geht auf einen Vorschlag von Gerhard Graf von Schwerin im Jahre 1951 zurück.150 Allein die Tatsache, dass dem Widerstand überhaupt ein Denkmal gesetzt wurde, ist für die Bundesrepublik dieser Zeit erstaunlich. Man verhielt sich im Umgang mit den ehemaligen »Volksverrätern« entweder unentschlossen
148 Zur Kommentarbedürftigkeit siehe besonders Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei [1960], Frankfurt a. M. 1965, S. 162. 149 Vgl. Beate Eckstein: Im öffentlichen Auftrag – Architekturund Denkmalsplastik der 1920er bis 1950er Jahre im Werk
150
von Karl Albiker, Richard Scheibe und Josef Wackerle,
des 20. Juli 1944«, 1952–53
Hamburg 2005, S. 82 u. 287–300 [im Folgenden zit. als:
Bronze; 240 cm; Innenhof der »Geschichtsstätte Deutscher
Beate Eckstein 2005].
Widerstand«, Berlin
1953 bis 1980 stand die Figur noch auf einem würfelförmigen Sockel, und zwar mit einer Bronzeplinthe, die die Signatur »R. Scheibe fec. 1953« trug. Auf der Vorderseite des Sockels stand die Inschrift: »Ihr trugt die Schande nicht/Ihr wehrtet Euch/Ihr gabt das ewig wache Zeichen der Umkehr/opfernd Euer heißes Leben/für Freiheit und Recht und Ehre«. Die von E. Redslob verfasste Inschrift wurde in Bronze übertragen und in den Boden eingelassen
80
8. Der historische Kontext ...
Abb. 39 Richard Scheibe: »Ehrenmal für die Opfer
(vgl. Beate Eckstein 2005, S. 291, 300).
oder diffamierend.151 Scheibes Plastik zeigt den Widerständler eher in Leidens- und Opfer-»Bereitschaft«. Das Moment des aktiven Widerstands ist nur latent präsent. Aufschlussreich ist der Befund, dass man ohne Kenntnis des Titels in der 2,4 m hohen Figur ebenso gut eine mythologische Gestalt vor sich wähnen könnte. Die idealistisch geglättete, monumentale Gestalt ist entindividualisiert und dem historischen Gehalt, den sie memorieren soll, entrückt: verhärtete Ausdruckslosigkeit tritt dem Betrachter entgegen. Auch der Kunsthistoriker Martin Damus sieht in Scheibes Figurentypus eine Ähnlichkeit mit dessen Plastiken aus der Zeit vor 1945, die von den Nazis gefördert wurden – und damit einen eklatanten Widerspruch zwischen Form und Inhalt.152 Ähnliche Reflexionen ließen sich auch auf zeitgenössische Totentänze beziehen: Als Beispiele seien zum einen die Holzschnitte von HAP Grieshaber unter dem Titel »Der Totentanz vom Basel« erwähnt. Sie erschienen 1966 als Mappe und als Buch im Dresdner Verlag der Kunst. Abgebildet ist einer der gemalten Entwürfe für die späteren Holzschnitte: Blatt 33 des Kunstharzfarben-Zyklus »Die Gouachen zum Totentanz« (Jude, Abb.
Abb. 40 HAP Grieshaber: Jude, 1965
Abb. 41 Roberto Matta: »La Danse de la Mort«, 1972
Nr. 33 aus »Die Gouachen zum Totentanz«; Kunstharzfarbe,
Nr. 5; Strichätzung und Aquatinta auf Kupfer; 510 x 370 mm
Deckweiß, Kreiden, selbstklebende, graue Folie auf Unterlagenpapier; 450 x 357 mm auf 592 x 417 mm
151
Vgl. Ralph Giordano: Von der Leistung kein Zyniker zu sein, Reden und Schriften über Deutschland 1999 bis 2011, Köln 2012; Joachim Perels/Wolfram Wette (Hg.): Mit reinem
40). Sie sind im Herbst 1965 entstanden. Die Originale
Gewissen, Wehrmachtsrichter in der Bundesrepublik und
befinden sich im Besitz der Staatsgalerie Stuttgart.153
ihre Opfer, Berlin 2012.
Zum anderen ist auf Mattas Radierfolge »La Danse de
152 Vgl. Beate Eckstein 2005, S. 296; Martin Damus: Das Denkmal zur Erinnerung an den 20. Juli 1944 von Richard Schei-
la Mort« verwiesen (Abb. 41). Sie besteht aus acht Farb
be in Berlin – der nackte Jüngling als Symbolfigur für den Widerstand, in: Kunst und Unterricht, Sonderheft 1974, S. 70–80.
153
Wolf Schön: Grieshaber – Die Gouachen zum Totentanz, Stuttgart o. Pag./ o. J.
8. Der historische Kontext ...
81
Abb. 42 und Abb. 43 Cap Arcona, 1985–86 Weißer Carrara-Marmor; 230 x 290 x 210 cm; Teil des Hamburger Gegendenkmals auf dem Stephansplatz
82
8. Der historische Kontext ...
tentanz«.
8. 3 M oti vva r i ati on en i n n er h a l b des ei gen en Œuv r es
Durch diese Vergleiche wird deutlich, wie stilistisch un-
In seinem Hamburger Gegendenkmal auf dem Ste-
terschiedlich ein Thema – die Erinnerung an den 20. Juli
phansplatz (Abb. 42 u. Abb. 43) beabsichtigte Hrdlicka
1944 bzw. das Phänomen des Todes – künstlerisch ge-
ursprünglich die verbrecherische Nazi-Justiz und die
staltet werden kann. Da es gerade auf die gegenseiti-
Memorierung der hingerichteten Offiziere des 20. Juli
ge Durchdringung von Inhalt, Form und Stil ankommt,
erneut aufzugreifen. Man betrachte diesbezüglich die
muss nach der Qualität und Überzeugungskraft dieses
Entwurfszeichnung aus dem Jahre 1983: Vier Todesfor-
Unterfangens gefragt werden. Widersprüche zwischen
men am Hakenkreuz (Abb. 44). Diese Studie auf grünem
Formgestalt und Gehalt sind durchaus intersubjektiv
Papier reichte er zur Präsentation seines Entwurfs bei
vermittelbar – und daraus ein Urteil über künstlerische
der Kulturbehörde Hamburg ein.156 Eine der vier Etap-
und historische Signifikanz dessen, was wir Kunst nen-
pen sollte das Erhängtwerden in Plötzensee darstellen.
nen, ableitbar.
Ausgehend von einem zerborstenen Hakenkreuz, wollte
radierungen zu August Strindbergs Bühnenwerk »To-
In diesem Sinne kehrt die Untersuchung zurück zur »sozialen und geistigen Relevanz«
Hrdlicka einen der vier Winkel senkrecht in den Boden
Alfred Hrdlickas,
einlassen. So sollte der waagrechte Balken an einen Gal-
der zu Recht der Auffassung war: »Avantgarde ist das,
gen bzw. an die Plötzenseer Eisentraverse erinnern. Die-
was der mehrheitlichen Kunstauffassung in den Museen,
ser realistisch-symbolische Entwurf kam jedoch nicht zur
Kunstvereinen und Kulturredaktionen zuwiderläuft.«155
Ausführung.
154
Auch in den darauffolgenden Jahren taucht das Motiv der Fleischerhaken vereinzelt auf. Das Relief-Denk-
Abb. 44 Vier Todesformen am Hakenkreuz, 1983
mal für Eugen Bolz von 1992, das seit dem 15. März 1993
Farbige Kreide, Kunsthalle Hamburg
am Stuttgarter Königsbau steht, zeigt das Motiv des Eisenbalkens mit Haken. Ebenso das Studienblatt zum Ring des Nibelungen von 1996157 (50 x 70 cm, Kreide, Rötel, Pastell). 156
Vgl. Dietrich Schubert: Alfred Hrdlickas antifaschistisches Mahnmal in Hamburg, in: Ekkehard Mai u. Gisela Schmir-
154 Vgl. Dietrich Schubert 1985.
ber (Hg.): Denkmal – Zeichen – Monument, Skulptur und
155
öffentlicher Raum heute, München 1989, S. 134–143; sowie
Alfred Hrdlicka: Denn sie wissen nicht was sie tun, in: AK Heilbronn: Dieter E. Klump – Bildhauerei 1976–1982, Städt. Museum Heilbronn, Heilbronn 1983, S. 23; wieder in: LEWIN IV, 151, S. 168 [im Folgenden zit. als: AK Heilbronn 1983].
Dietrich Schubert 2007, S. 45–57. 157
50 x 70 cm, Kreide, Rötel, Pastell auf Papier; vgl. Trautl Brandstaller 2008, S. 210.
8. Der historische Kontext ...
83
Abb. 45 Ein Volk, ein Reich, ein Führer, 2004 Zyklus »Claus von Stauffenberg und der 20. Juli 1944«; 76 x 50 cm; Filzstift, Aquarell Abb. 46 Tunesien 1943, 2004 Zyklus »Claus von Stauffenberg und der 20. Juli 1944«; 65 x 50 cm; Filzstift, Gouache
84
8. Der historische Kontext ...
Dreißig Jahre nach der Entstehungszeit des Werkes und damit 60 Jahre nach dem missglückten Bombenattentat, widmete sich Hrdlicka 2004 auf Vorschlag des Galeristen Freerk Valentien158 erneut diesem Thema: »Claus von Stauffenberg und der 20. Juli 1944« heißt der etwa 60 Zeichnungen umfassende Zyklus, der daraufhin entstand.159 Ihn präsentierte die Galerie Valentien vom 29. Mai bis zum 30. Juli 2005. Hrdlicka selbst reiste zur Ausstellungseröffnung nach Stuttgart. Die Zeichnungen, Aquarelle und Gouachen sind enger auf die Person Stauffenbergs zugeschnitten und geprägt durch einen lockeren Duktus mit dynamischer, formübergreifender Strichführung – der Höhepunkt des Spätwerks oder Zeugnis der zunehmenden Augenschwäche des Künstlers? Stellvertretend seien an dieser Stelle drei Blätter vorgestellt, darunter Ein Volk, ein Reich, ein Führer von 2004 (Abb. 45). Die Darstellung Hitlers misst 76 x 50 cm und ist mit Filzstift und Aquarell gestaltet. Hitlers Kopf erinnert an einen Totenschädel: die Augen sind durch den Mützenschild verdeckt, der schwarze Schnurrbart suggeriert die Nasenhöhlen im Knochen.
Abb. 47 Plötzensee, 2005 Zyklus »Claus von Stauffenberg und der 20. Juli 1944«; 71 x 52,5 cm; Kohle, Filzstift, Gouache
Der Hauptverschwörer des 20. Juli, Claus Graf Schenk von Stauffenberg, ist auf der Zeichnung Tunesien 1943 dargestellt (Abb. 46). Sie misst 65 x 50 cm und ist 2004 mit Filzstift und Gouache gezeichnet worden. Blut 158
159
Gespräch des Verfassers mit jenem am 30. Juli 2005; vgl.
tropft aus dem linken Auge und auch die beiden Hände
ferner Freerk Valentien: Ein sehr persönlicher Bericht, in:
laufen in schwarzroter Farbe aus dem Umriss der ana-
AK Schwäbisch Hall: Alfred Hrdlicka – Bildhauer/Maler/
tomischen Form heraus. Bei einem Fliegerangriff am
Zeichner, Künzelsau, 2008, S. 66–73.
7. April 1943 in Nordafrika hatte Stauffenberg das linke
Vgl. Freerk Valentien (Hg.): Alfred Hrdlicka – Claus von Stauffenberg und der 20. Juli 1944, Ein Zeichnungszyklus [im Folgenden zit. als: AK Stuttgart 2005].
Auge, die rechte Hand und zwei Finger der linken verloren. Doch er gliederte sich wieder in den Generalstab
8. Der historische Kontext ...
85
ein. Am 1. Juli 1944 wurde er zum Oberst befördert. Als Stabschef beim Oberbefehlshaber des Ersatzheeres hatte er als Einziger der Verschwörer direkten Zugang zu Hitler.160 Die Hinrichtungsstätte erscheint auf der Kohle/Filzstift/Gouache-Zeichnung mit dem Titel Plötzensee aus dem Jahre 2005 (Abb. 47). Das Blatt misst 71 x 52,5 cm.
160 86
8. Der historische Kontext
Vgl. Thomas Schnabel: Claus Graf Schenk von Stauffenberg, in: AK Stuttgart 2005, S. 13 ff.
9. Die Methode des zyklischen Erinnerns
D
er folgende Abschnitt widmet sich der Struktur
(die große körperliche Kur, 1969–74) oder »Hommage
des Zyklus von »Wie ein Totentanz«. Zunächst
à Pasolini« (Pasolini als Schmerzensmann, 1982–83), an
stellt sich die Frage, weshalb der Künstler die
Reliefs wie das »Haarmann-Relief« (1967–68), den »Tod
bedeutende Thematik des 20. Juli 1944 nicht in einer ge-
des Demonstranten« (1971) in Berlin oder »Robespierre
wichtigen Einzelarbeit gestaltet. Würde er damit doch
mit dem Haupt Ludwigs XVI.« (1979–82). Insbesondere
die Tradition der Historien- und Ereignis-Kunst von Go-
Figurengruppen wie den »Haarmann-Fries« (1966–67),
yas »Erschießung der Aufständischen«, Géricaults »Floß
das »Denkmal für Friedrich Engels« (1977–81) in Wupper-
der Medusa«, Rodins »Bürger von Calais« oder Picassos
tal, das Hamburger »Denkmal gegen Krieg und Faschis-
»Guernica« fortführen. Gerade Hrdlicka, ein Hauptmeis-
mus« (Hamburger Feuersturm, Cap Arcona, 1983–86) und
ter der Denk- und Mahnmale des 20. Jahrhunderts, be-
das Wiener »Mahnmal gegen Krieg und Faschismus«
saß die dafür notwendigen Fähigkeiten. Auch betonte er
(Tor der Gewalt, Straße waschender Jude, Orpheus be-
wiederholt: »[…] im Stein [werden] die einzelnen Dinge
tritt den Hades, Stein der Republik, 1983–1991) sind ein-
formal und thematisch pointiert und auf das absolut
drucksvolle Beispiele für die Wirkungskraft der Skulptur
Wesentliche reduziert […].«
in Hrdlickas Werk.
161
Oder an anderer Stelle:
»Die Quintessenz […] ist dann die Plastik. Ich meine also: Während ich in der Graphik das ganze Thema aus-
Als Annäherung an das Thema des Zyklus »Wie ein Toten-
schöpfe, suche ich mir für die Plastik ganz spezifische
tanz« in einer Einzelarbeit kommen allenfalls zwei Stein-
Sammelpunkte. […]. Die Sternstunde eines Themas ist
arbeiten und zwei Gemälde infrage: die Memorial-Büste
die Plastik.«162
»Porträt Dietrich Bonhoeffer« in Marmor (Abb. 48)163,
Dabei ist zu denken an thematisch verdichtete Skulp-
der »Häftlingsselbstmord« aus Kalkstein (Abb. 49), das
turen wie »Martha Beck nach ihrer Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl« (1962–63), »Körperhalluzinationen«
163
Vgl. AK Berlin: Dietrich Bonhoeffer – Alfred Hrdlicka, hg. v. Antonius Jammers, Ausstellung der Staatsbibliothek zu
161
Alfred Hrdlicka, zit. nach Trautl Brandstaller 2008, S. 107.
Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Berlin 2002, S. 24 f. [im
162
Alfred Hrdlicka, in: Schaustellungen 1984, S. 60.
Folgenden zit. als: AK Berlin 2002].
9. Die Me thode des zyklischen Erinnerns
87
Abb. 48 »Porträtbüste Dietrich Bonhoeffer«, 1977 Rosa portugiesischer Marmor; 188 x 46 x 62 cm; Staats bibliothek zu Berlin Abb. 49 »Häftlingsselbstmord«, 1969–86 Jugoslawischer Kalkstein; 213 x 130 x 40 cm; Besitz des Künstlers
88
Ölgemälde »Die Badenden«, welches Massenerschießungen der SS in Polen thematisiert (Abb. 50) und die »Metamorphose der Endlösung« (Abb. 51). Doch keines der vier Werke wird der umfassenden Thematik von »Wie ein Totentanz« hinsichtlich der Verdichtung annähernd gerecht. Hrdlicka hat weder Bonhoeffer noch den Plötzenseer Häftlingsselbstmord in den Zyklus aufgenommen – bei Letzterem war dies ursprünglich geplant (Abb. 52). Die Gemälde hingegen thematisieren ihrerseits zwar die Gewalt gegen die Juden, blenden aber die komplexen Zusammenhänge der Offiziersrevolte vom 20. Juli aus.
Abb. 50 »Die Badenden«, 1955–1960
Abb. 51 »Metamorphose der Endlösung«, 1974/75
Öl, Tempera auf Leinwand; 210 x 340 cm
Öl, Tempera, Kohle, Pastell auf Leinwand; 290 x 450 cm
Daher stellt sich erneut die Frage: Warum entwickelt
maßen von vornherein eine gleichmäßige Stimmung für
Hrdlicka sein Sujet in einer »Bildergeschichte«, in der
verschiedene Blätter erzeugt, erleichtert die Möglichkeit
episch breiten Darstellung eines Radierzyklus?
eine Reihe von Gegenständen, sei es direkt eines Vorgan-
Abgesehen von der zyklischen Reihung hat die Ra-
ges oder einer fortlaufenden Entwicklung zu geben.165
dierung den Vorteil, dass der Künstler unterschiedlichste technische Darstellungsmethoden verwenden und
Künstlerisches Arbeiten bedeutet für Hrdlicka zumeist
leicht Korrekturen vornehmen kann. Aber auch dass sie
das Bearbeiten eines umfangreichen und umfassenden
vervielfältigbar ist und damit vergleichsweise »kosten-
Stoffes. Dieser muss unbedingt in seinem historischen
günstig« ein größeres Publikum erreichen kann.
Doch
Vollzug, in seiner »Handlungsbreite«166 und im Zusam-
entscheidend dürfte sein, dass der fiktionalere Raum
menhang zeitlich und räumlich unterschiedlicher Per-
eines Bildes, im Vergleich zum plastischen Bildwerk er-
spektiven betrachtet und umkreist werden. Hrdlicka
möglicht, Handlungszusammenhänge zu erzählen. Da
selbst hat dies in Interviews betont.167
164
rauf verwies schon Max Klinger in seinem Essay »Verhältnis der Zeichnung zur Malerei«, wenn er feststellte:
165
Max Klinger: Verhältnis der Zeichnung zur Malerei, in: Gedanken und Bilder aus der Werkstatt des werdenden
Die – gewöhnlich – leichte Handlichkeit der Zeichnungen (resp. Drucke) sowie die Gleichfarbigkeit, die gewisser-
Meisters, hg. v. Hildegard Heyne, Leipzig 1925, S. 57 [im Folgenden zit. als: Max Klinger 1925]. 166 Alfred Hrdlicka: Fragen und Antworten zur Technik, in: Schaustellungen 1984, S. 60.
164 Vgl. Alfred Hrdlicka: Zur Technik, in: Schaustellungen 1984, S. 59 f.
167 Vgl. AK Frankfurt 1997, S. 22; und Trautl Brandstaller 2008, S. 107.
9. Die Me thode des zyklischen Erinnerns
89
In Anbetracht des Zyklus »Wie ein Totentanz« sind
der in die Historie blickt.169 Der »narrative Aspekt« der
das Fehlen der plastischen Gestaltung »zentraler Punk-
Historie schließt das Auffinden von »Wahrheit« aus.
te«, das Moment der Heterogenität und die Weigerung,
Wieland Schmied schrieb diesbezüglich: »Hrdlicka war
die Vielfalt der Phänomene einem einzigen Prinzip oder
immer ein Mann der Zyklen, er braucht die Serie, um
einer Gestalt unterzuordnen, demnach kein negativer
sich auszusprechen, die Wirklichkeit ist ihm zu komplex,
Befund – vielmehr handelt es sich um methodische Ab-
um in einem einzelnen Werk, im isolierten graphischen
sicht:
Blatt, erfasst zu werden.«170
Ich glaube, daß die Kunst die Fähigkeit in sich birgt,
Worin besteht die Eigentümlichkeit des Zyklischen? Si-
mehrere Facetten einer Sache zu sehen. Der Künstler
grun Loos definiert sie wie folgt: »Der Begriff ›Zyklus‹ be-
muß die Fähigkeit besitzen, mehrere Ebenen in die
sagt Ideen- oder Themenkreis, in sich geschlossene Rei-
Betrachtung einzubringen […]. Die für die Kunst not-
he inhaltlich zusammengehörender Gedanken, Einfälle
wendige Tendenz zur aufklärerischen Verunsicherung
und Dinge; im weiteren Sinn auch Illustrationsfolge.«171
nimmt in dem Maße ab, in dem aufgrund der schnellen
Die Ausführung von Otto Breicha zielt auf Ähnliches
Informationsflüsse sofort passende Richtungen, die
ab: »In verschiedenen Ansichten wird eine Geschichte
Trends, eingeschlagen werden. Kurzgeschlossene Infor-
oder sonst ein komplexes Thema umbildert. Eins fügt
mationen und deren Verarbeitung führen jedoch, nicht
sich zum Anderen. Aneinander gereihte Bilder ergänzen
nur in der Kunst, zu weitreichender Verdummung. […]
sich zur Bilderfolge. Indem man es mehrfach ansichtig
Denn um etwas zu verstehen, muss ich berücksichti-
macht, können Abläufe vermittelt werden. Das, was
gen, dass dies auch noch anders sein könnte.
auf einmal nicht gesagt werden kann, wird im Mehr-
168
Abb. 52 »Häftlingsselbstmord«, 1974 Bleistift, Rötel; 200 x 160 cm
fachdazusagen sagbar.«172 Auf der Basis dieser Ansätze Die angesprochene Vielfalt der Standpunkte ist zudem dahin gehend zu interpretieren, dass für Hrdlicka eine Bedingung historischen Verstehens in der geschichtli-
169 Vgl. Dietrich Schubert: Die Verantwortung der Kunst – Alfred Hrdlickas antifaschistisches Denkmal in Hamburg, in:
chen Kontextualisierung liegt. Das meint unter anderem die Einbettung eines Ereignisses in zeitlich vorausgehendes und nachfolgendes Geschehen – allerdings ohne
Forum Wissenschaft, 5. Jg., 1988, Heft 1, S. 20–25. 170 171
Sigrun Loos: Wesen und Ausdrucksformen zyklischer Graphik, in: Dunkle Szenen – Meisterwerke zyklischer Graphik
dabei in Kategorien deterministischer Geschichts-Kausa-
von Goya bis Dubuffet, hg. v. d. Salzburger Landessamm-
lität zu denken. Die zeitliche Auffächerung wird immer motiviert sein durch die wertende Selektion desjenigen,
Wieland Schmied: Wie ein Totentanz, in: AK Berlin 1975, S. 7.
lungen Rupertinum zum eigenen Sammlungsbesitz, Salzburg 1992, S. 10 [im Folgenden zit. als: SB Salzburg 1992]. 172
Otto Breicha: Jenes gewisse Interesse, in: Beispiele zyk lischer Grafik der Gegenwart, hg. v. Otto Breicha, Eine Publikation d. Salzburger Landessammlungen Rupertinum
90
9. Die Me thode des zyklischen Erinnerns
168 Alfred Hrdlicka, in: Walter Schurian 1988, S. 16.
zum eigenen Sammlungsbestand, Salzburg 1995, S. 5.
versucht die vorliegende Arbeit, noch dezidierter die
Vorstellungen verlangt. Wird nun ferner beabsichtigt,
künstlerische Form und Struktur einer Graphikfolge zu
mehrere Arbeiten zur »Bilderfolge« eines Zyklus anei-
analysieren und philosophisch zu befragen. Das zykli-
nanderzureihen, bedarf es trotz aller Improvisationen
sche Kunstwerk soll nicht auf seinen referenziellen Cha-
auch vorausgehender dramaturgischer Reflexionen.
rakter reduziert werden, wobei lediglich die verschie-
»Weshalb zyklische Graphik in etwa auch als die ›hohe
denen Arten des Text-Bezugs, der Erzähl-Strategie im
Schule‹ des graphischen Metiers gelten darf, wie auser-
Vordergrund stünden. Als in die Irre führend erweist sich
sehen für alle diejenigen, die es sich besonders schwer
indes der Kommentar von Peter Weiermair zu Hrdlicka:
und schwierig machen.«174
»Die Bildgeschichte ist nicht Illustration eines Textes; sie
Im Zuge dieser Kunstform »für Fortgeschrittene«
bezieht sich formal auf verwandte propagandistische
reicht auch die kunstgeschichtliche Vergangenheit der
Kunstformen der Vergangenheit.«173
düsteren Schwarz-Weiß-Kunst noch offenkundiger als
Bedient sich ein Künstler der Kunstform der zyk-
bei anderen Techniken in die Gegenwart hinein. Altmeis-
lischen Druckgraphik, so handelt es sich um eine be-
ter der Druckgraphik wie Dürer und Rembrandt, Goya
wusste Entscheidung. Zeichnen und Malen sind Frei-
und Hogarth, Daumier und Klinger zeigen sich zuweilen
zeitbeschäftigungen vieler, als Kind schon wachsen die
erstaunlich »modern« hinsichtlich Formvereinfachungen
meisten damit auf. Die Druckgraphik erfordert ganz
und Bildphantasie – und empfehlen sich als Anregung
bestimmte handwerkliche Fertigkeiten und eine Werk-
und Vorbild.
statt. Dem Abzug geht ein langwieriger Entstehungs-
Das Denken in Zyklen und Serien ist kunsthistorisch
prozess mit vielen rein technischen Zwischenschritten
tief verwurzelt. Beispielhaft erwähnt seien Dürers »Apo-
voraus. Des Weiteren ist zu beachten, dass besonders
kalypse« von 1498, die »Bilder des Todes« von Hans Hol-
das Kaltnadelverfahren, bei dem der Künstler mit spit-
bein d. J. (1538), Callots »Les Misères et les Malheurs de
zer Stahlnadel die Zeichnung unmittelbar in die Kupfer-
la guerre« von 1633, Hogarth’s »The Rake’s Progress«
platte ritzt, eine vorhergehende Konzeption und klare
von 1734, Goyas »Caprichos« (1793–1798), Friedrichs Jahreszeiten/Lebenszeiten-Zyklus von 1826, Martins Mezzotinto-Zyklus von 1827 zu John Miltons »Paradise Lost«,
173
Peter Weiermair: Österreich – Ein Land der Zeichner, in: AK Klosterneuburg: Österreich 1900-2000, Konfrontationen und Kontinuitäten, Ausstellung der Sammlung Essl v. 17. 02
Klingers »Ein Leben (Opus VIII)« von 1884 – um hier nur einen seiner vielen und dabei gleichwertigen Zyklen zu
bis 21. 05. 2006 in Kunst der Gegenwart, kuratiert v. Wie-
nennen –, Beckmanns »Der Jahrmarkt« von 1921 und
land Schmied, Wien 2006, S. 63. Hrdlicka wird in dieser Pu-
nicht zuletzt Dix’ Kriegszyklus aus dem Jahre 1924.
blikation fast verschwiegen, weil Essl ihn nicht sammelte. Abgesehen von einer verschwindend kleinen Fotografie des »Gekreuzigten« von 1959 wird aber selbst im Rahmen
Auch mit anderen Techniken wurde immer schon in Folgen gearbeitet. Erinnert sei an die mehrere Register
der kunsthistorischen Katalogbeiträge keine einzige seiner bedeutenden Radierungen gezeigt.
174
Otto Breicha: Zyklisch bestimmt, in: SB Salzburg 1992, S. 9.
9. Die Me thode des zyklischen Erinnerns
91
aufweisenden karolingischen Psalter und Evangilista-
ausschmückende Funktion übernimmt. Er kann eigen-
re, an die typologischen Goldschmiedearbeiten des Ni-
ständig eine »Bildergeschichte« entwickeln. Diese um-
kolaus von Verdun (»Klosterneuburger Altar«), an den
kreist dann in einer zuweilen recht zusammenhang- und
Glasschmuck in gotischen Kathedralen, die biblischen
schauplatzlosen, nicht diskursiv nacherzählbaren Sze-
Fresken Giottos (Fresken der Arenakapelle in Padua),
nenabfolge ein bestimmtes Thema, z. B. den Tod. Dabei
das Stundenbuch der Brüder Limburg (»Trés Riches Heu-
erscheinen die Bildblätter seltener im Buch gebunden
res de Jean Duc De Berry«), und den Welterschaffungs-
denn als separate Mappenwerke.
zyklus Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle. Auch
Zudem tritt der Zyklus im Stile eines »Historienbil-
die jahreszeitlichen Landschaftszyklen Pieter Bruegels
des« oder »Ereignisbildes« auf, wobei er in der Regel
d. Ä., die Rouen-Folgen Claude Monets, Van Goghs Ge-
zeitkritisch politisches Geschehen bezeugt. So ist es bei
mälde-Ensemble für die Brüsseler Ausstellung der »Les
Callot, Goya, der Kollwitz und Dix der Fall. Dabei muss
Vingt« 1890 und Munchs Lebensfries, der als ganzer
manches mehrfach ausgesprochen werden, damit es im
1902 auf der fünften Ausstellung der Berliner Secession
Gedächtnis haften bleibt und Früchte tragen kann.
präsentiert wurde, sind zu nennen. Es muss in diesem Zusammenhang auch an Darstel-
Im Folgenden wird der Versuch einer Strukturbestim-
lungsformen der Medien und der »Popkultur« gedacht
mung des Zyklischen philosophisch vertieft. Wenn
werden: Die Simultaneität von verschiedenen, hetero-
Hrdlicka sagt: »Es gibt keinen fertigen Prozess. Jeder
genen »Bildern« und Kolumnen in der Boulevardpresse
Schaffensprozess wird eines Tages abgebrochen«175, so
sowie die Zeichnungs-Streifen der Comics haben Hrdlic-
sorgt die Reihung mehrerer Werke für Abhilfe. Denn in
ka maßgeblich geprägt – explizit den Zyklus »Roll over
einem Zyklus kann das Folgeblatt das in einer bestimm-
Mondrian« von 1965–1967.
ten Hinsicht stets unfertige und unvollkommene Einzel-
Nach diesem Exkurs geht die Arbeit zunächst auf den
blatt noch einmal aufnehmen und es dort weiterführen,
ersten Aspekt der zitierten Definitionen ein. Das heißt
wo jenes zuvor ein Ende fand. Im Gegensatz zum exklusi-
auf jene spezifische Leistung zyklischer Folgen, die darin
ven Totalbild bietet der inklusive Zyklus die Möglichkeit,
besteht, eine Geschichte, ein komplexes Thema, einen
auf verschiedene Weisen in ein Thema einzusteigen. Es
Ablauf bildlich zu vermitteln. Ein Zyklus besitzt demzu-
geht darum, den Phänomenen ihre Komplexität und da-
folge gewisse »literarische« Fähigkeiten. Liegt ihm tat-
mit ihre Wirklichkeit zu lassen, anstatt sie zu systemati-
sächlich ein Sprachwerk zugrunde, wie die Ilias oder die
sieren und zu vereinfachen, d. h. sie zu verabstrahieren.
Bibel, dann wird er zur »Illustrationsfolge«. In diesem
Von Martin Heidegger erfahren wir diesbezüglich:
Fall erscheint er vorwiegend in Buch-Form mit Textbegleitung. Man kann einen Zyklus selbst dann als »Illustrations92
9. Die Me thode des zyklischen Erinnerns
folge« bezeichnen, wenn er für sich steht und keine bloß
175
Alfred Hrdlicka, zit. nach Trautl Brandstaller 2008, S. 32.
So bewegen wir uns hier ständig im Kreise. […] Die-
sehen – als unerwartet in Verbindung stehend. Auf diese
ses im Kreise Sichbewegen der Philosophie ist wieder
Weise werden Zusammenhänge einsehbar: In der poly-
etwas, was dem vulgären Verstande zuwider ist. Er
phonen Form des Zyklus zu arbeiten heißt zu versuchen,
will gerade nur ans Ziel kommen, so, wie man der Din-
der Mannigfaltigkeit der Teile eines komplexen Themas
ge im Handgriff habhaft wird. Im Kreis gehen – das
über verbindende »Fugen« deren eigentliches Nachbar-
führt zu nichts. Vor allem aber macht es schwindlig,
schaftsverhältnis zurückzugeben.
und Schwindel ist unheimlich. Man kommt sich vor, als
Neben dem Merkmal der umkreisenden Reihung im-
hänge man zwischen dem Nichts. Daher ja nicht diese
pliziert das Zyklische das Element der Periodik. Darunter
Kreisbewegung und so auch kein Zirkel! […] Bei dieser
werden üblicherweise zeitliche Rhythmen mit regelmä-
Kreisbewegung ist nicht das entscheidend, was der vul-
ßig wiederkehrenden Momenten verstanden. Das heißt,
gäre Verstand allein sieht, das Entlanglaufen an der Pe-
wenn ein Phänomen bewusst in der zyklischen Form
ripherie und das Zurückkommen an dieselbe Stelle auf
behandelt wird, zeigt sich darin ein bestimmter Gedan-
der Peripherie, sondern das im Kreisgang mögliche und
ke des Künstlers: er sieht im Behandelten – z. B. in den
in ihm allein mögliche Blicken ins Zentrum als solches.
Ereignissen des 20. Juli 1944 – etwas sich Wiederholen-
Dieses als ein solches offenbart sich nur im Kreisen um
des. Im Falle des Zyklus »Wie ein Totentanz« wären dies
es.
Gewalt und Gegengewalt sowie das militaristische Prin-
176
zip von Befehl und Gehorsam bzw. die Möglichkeit des Ein Thema wird im Zyklus pluralistisch in verschiedener
Nicht-Gehorsams. Hrdlicka bringt zur Anschauung, dass
Hinsicht betrachtet und dadurch umsichtiger ausge
das Wiederkehrende immer auch in einem anderen Mo-
lotet. Es kann zeitlich in ein Vorher und ein Nachher ein-
dus wiederkehren kann, z. B. kann der Gehorsam dem
gebettet und zurechtgerückt werden. Dabei zieht eine
Widerstand Platz machen. Aber auch die Verweigerung
Darstellung eine folgende entweder in kohärenter und
des Gehorsams bleibt eine Reaktion innerhalb eines
schlüssiger Weise nach sich oder sie wird mit einer an-
hierarchisch organisierten Systems. Aus der Innenper-
deren kontrastiert. In beiden Fällen erläutern sie sich
spektive betrachtet bedeutet der Widerstand vor al-
im zyklischen Zusammenhalt gegenseitig: Im ersten Fall
lem eines: einen Verrat zu begehen. In der Regel ist er
wird Ähnliches in seiner Vielfalt wieder miteinander ver-
entweder ohnmächtig oder es werden die Herrschafts-
bunden. Im zweiten entlarvt sich Gegensätzliches – ver-
verhältnisse sogar noch gefestigt. Periodische Verläufe
mittelt durch die Idee des Künstlers, es miteinander zu
wären demnach als eine Weise der »Metamorphose« zu verstehen. Jene vereint Kontinuität und Wandel im Sin-
176
Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik, Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Freiburger Vorlesung Wintersemester 1929/30 [1983], Frankfurt a. M. 2004, S. 266 ff.
ne der »ewigen Wiederkehr desselben«: ein Phänomen unterliegt zwar einem Gestaltwandel, bleibt in seinem Wesen jedoch mit sich selbst identisch. Wenn Hrdlicka in den Ereignissen des 20. Juli keine singulären, keine
9. Die Me thode des zyklischen Erinnerns
93
historisch abgeschlossenen Vorfälle sieht, dann heißt
Das angesprochene moderne Lebensgefühl findet
das, dass auch deren Erinnerung und Reflexion im Plural
sich auch in folgendem Merkmal wieder. Die Ansätze
stattfinden muss, will man Fortunas Schicksalsrad in die
in zyklischen Arbeiten zeugen davon, statt einheitlich
Speichen greifen können.
vielmehr ganzheitlich zu empfinden und zu denken. Darin liegt die Möglichkeit, die »Zersplitterung« aufzu-
Das graphische Arbeiten in der Form des Zyklus kann
heben, in der die Phänomene alltäglich begegnen, wenn
auch als die Kristallisation eines modernen Lebensge-
sie jeweilige Identität durch gegenseitige Abgrenzung
fühls verstanden werden. Es geht um jene Grundbefind-
wahren müssen. In einer Reihung existieren die einzel-
lichkeit, die ihr Epizentrum in Revolutions- und Kriegser-
nen Teile nie substanziell isoliert. Sie sind immer schon
fahrungen, im »Tode Gottes« oder im Theorieproblem
Moment eines Ganzen und tragen so dessen einheitli-
von Relativismus und Skeptizismus hat. Zunächst ist
chen Zweck auch in sich selbst. Dies greift einen System-
diesbezüglich eine scheinbar technische Eigentümlich-
Gedanken Hegels auf. Bewusstseinsgestalten – »Ob-
keit der Druckgraphik zu berücksichtigen: Das bildne-
jekte« im weitesten Sinne, sprich Gedanken, Personen,
rische Charakteristikum des Dunklen und Düsteren.
Werke, Institutionen – werden nicht mehr verdingli-
Positivistisch gedacht, ließe sich dies auf das harte,
chend als ein An-sich vorgestellt, sondern in ihrer Bezüg-
schwarz-weiße Erscheinungsbild von meist schwarzer
lichkeit und Relation erkannt.178 Der Begründer der Phä-
Druckfarbe auf weißem Papier reduzieren. Das ist nicht
nomenologie, Edmund Husserl, erkennt die »Sachen«
von der Hand zu weisen, doch ist eine Vorliebe für fins-
als Bewusstseinsobjekte und damit immer schon in
tere Motivik, Atmosphäre und Stimmung in Holzschnit-
Verbindung stehend zu dem entsprechend gerichteten
ten, Radierungen und Lithographien seit Goya nicht zu
Bewusstseinsakt und dem Standpunkt des Subjekts.
leugnen. So gesehen wird das zunächst als Wirkung
Für Husserl ergibt sich das Verschiedene überhaupt erst
Beobachtete zum primären Ausgangspunkt. Der Künst-
durch die vermittelnden Konstitutionsleistungen des
ler bedient sich bewusst der Druckgraphik, um in einem
Bewusstseins: Die Bezugspunkte des Wahrnehmens,
angemessenen Stil Gewalt sowie sozialem und individu-
Sprechens, Denkens, Erinnerns und Erwartens sind
ellem Elend gerecht zu werden. Max Klinger betonte
dabei bestimmt durch die Standpunkte desjenigen,
in seinem schon zu Beginn dieses Abschnittes zitierten
der wahrnimmt, spricht, denkt, erinnert und erwartet.
Text über Malerei und Zeichnung, dass man in der »Grif-
Ferner zeigt sich eine »Sache« immer in »Abschattun-
felkunst« besser Hässliches und Grausames darstellen
gen«, gegeben ist nur ein bestimmter, fokussierter
könne. Denn sie verzichte auf den Pathos-Effekt der Far-
Aspekt vor einem »mitgegenwärtigen« Hintergrund.179
ben.177 178
Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des
179
Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenolo-
Geistes [1807], Hamburg 1988. 94
9. Die Me thode des zyklischen Erinnerns
177
Max Klinger 1925, S. 57.
Hermeneutische und strukturalistische Ansätze führen
Gedankenmotiv der Dialektik des Scheins181 – das Äs-
dies in gewisser Weise fort. Sie fordern für das notwen-
thetische als Reich des Scheins wird zum Medium der
dig zirkelhafte Verstehen, das sich immer schon in Vor-
Wahrheit – liegt im Fragmentarischen, Gebrochenen,
Verständnissen bewegt, Kontexte und Subtexte neben
Funktionslosen die eigentliche Ehrlichkeit der moder-
den Haupttext zu stellen und die strukturellen Verweise
nen Kunst zu sich selbst. Was Adorno über die Kunst
und regelhaften Muster aufzudecken.
im Allgemeinen sagt, zeigt sich konzentriert in der
Die Dinge ganzheitlich und in Zusammenhängen zu
Form des Zyklus. Indem sie sich in ihrer Unvollständig-
sehen bedeutet des Weiteren, im Hinblick auf das Ge-
keit, Rätselhaftigkeit und Antisystematik selbst infrage
samt der Dinge, sie nicht als absolute Einheiten zu ver-
stellt, zerfalle die charakteristische Schein-Einheit und
stehen. So zeugt der Zyklus vom Bemühen, angebliche
Geschlossenheit der Kunst. Sie offenbart sich in ihrer
Absolutheiten und die Vorstellung von einheitlichen
Unwirklichkeit und wird zum Ort der Wahrheit, d. h.,
Identitäten dekonstruktivistisch zu differenzieren und
sie zeigt das Besondere, des Inkommensurable, die
das uneinholbar Andere und Fremde nicht zu nivellieren.
Differenz, das Nicht-Einheitliche und Nicht-Identische.
Werner Schmidt schrieb 1978 über den Zyklus »Wie ein
Die Einheits- und Sinnauflösung gehört nach Adorno
Totentanz«: »Die Störung im Mitteilen zeigt den Bruch
zum Wesen des dialektischen modernen Kunstwerks,
oder die Lücke in einer Angelegenheit, den Widerspruch
zugleich reflektiere sie aber auch kritisch die gesell-
als Kern des Wirklichen, den Hrdlicka sucht. Er reißt Ver-
schaftliche Regression, die gerade darin bestehe, einen
hüllungen herunter, lüftet Gloriennebel und paßt auf,
repressiven Vereinheitlichungsdruck aufzubauen. Es gilt,
daß Aufklärung nicht zur neuen Verkleisterung wird.«180
sich der Vortäuschung einer Versöhnung hinsichtlich
Ausgehend von den Merkmalen des Pluralistischen
der Entfremdung des Subjekts von seinen intentionalen
und Heterogenen, die schon der Form des Zyklus einge-
Objekten zu verweigern. »›Wahr‹ […] nennt Adorno die
schrieben sind, sowie den Charakteristika des Hässlichen
Kunst, die die gesellschaftlichen Verhältnisse als ›negati-
und des Rudimentären, die zur spezifischen Formge-
ve‹, als entfremdete und verdinglichte erkennt.«182 Die-
stalt von Hrdlickas Kunst gehören, dient an dieser Stelle
se wahre Kunst sei damit die entscheidende Kraft zum
Theodor W. Adorno als Stichwortgeber. Nach Adornos
Protest gegen die gesellschaftlichen Tendenzen der sozialen Vereinheitlichung und Gleichschaltung sowie der Verdinglichung des Einzelnen. Gerade in Hrdlicka ist eine
gie und phänomenologischen Philosophie [1913], Tübingen 1993.
181
180 Werner Schmidt: Alfred Hrdlicka – »Wie ein Totentanz«, in:
Vgl. Christoph Menke: Theodor Wiesengrund Adorno, in: Ästhetik und Kunstphilosophie – Von der Antike bis zur Ge-
Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen
genwart in Einzeldarstellungen, hg. v. Julian Nida-Rümelin
Dresden, Erwerbungen 32, zur Ausstellung im Kupferstich-
u. Monika Betzler, Stuttgart 1998, S. 5–15 [im Folgenden
Kabinett vom 13. 09. 1978 bis 12. 01. 1979, Dresden 1978, S. 1 [im Folgenden zit. als: Werner Schmidt 1978].
zit. als Christoph Menke 1998]. 182
Christoph Menke 1998, S. 7.
9. Die Me thode des zyklischen Erinnerns
95
intellektuelle und ästhetische Subjektivität zu erkennen,
die Möglichkeit zu geben, seine Bildgedanken assozia-
die sich dadurch auszeichnet, stets eine kritische Distanz
tiv in Schritten und Sprüngen zu entwickeln. Christine
gegenüber gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen
Pielken schrieb 2003: »Gerade der Entwurfscharakter,
eingenommen zu haben.
der Eindruck des Unvollendeten und die Verwendung
Die Infragestellung von ästhetischer Einheit und
von Überblendungen verleiht den Werken Unmittel-
Abgeschlossenheit, welche die Form des Zyklus leis-
barkeit und Dynamik, verlangt dem Betrachter beson-
tet, entfaltet darüber hinaus einen anderen Begriff des
dere Aufmerksamkeit ab […].« Diese Aufmerksamkeit
Gelingens. Wann ist – sowohl in ästhetischer als auch
braucht einen langen Atem. Schließlich, so Pielken wei-
in ethisch-praktischer Hinsicht – »Ganzheit« erreicht?
ter, »wandeln sich innerhalb Hrdlickas Zyklen auch die
Auf Kriterien wie absolute Einheit oder die Utopie von
Sympathien des Betrachters, der Eindruck und Perspek-
Perfektion ist nicht mehr zurückzugreifen. Maßgeblich
tive immer wieder neu in Frage stellen muss und dessen
ist vielmehr der Versuch, die Transitorik des Werdens
Wertungen ständig wieder ins Wanken geraten.«184
in integrierende Zusammenhänge zu überführen. Das
Gerade deshalb zeigt sich die Reihungsstruktur des
bedeutet, das uneinholbar Fremde des Noch-nicht und
Zyklischen als veritable Methode. Methodenfragen be-
des Nicht-mehr sowie die Vereinzelung jedes Moments,
treffen üblicherweise das Problem des Zugangs einer
jeder Radierung, als in einer »Bewandtnisganzheit«
Wissenschaft zu ihren Gegenstandsgebieten. In diesem
183
miteinander vernetzt zu begreifen.
Sinne bestimmt der Mediziner eine spezifische Behand-
Diesem sowohl antisystematischen als auch anti
lungsart eines Leidens, die zu einem Therapieerfolg füh-
atomistischen Ansatz entspricht in der Philosophie die
ren soll; der Interpret eines Kunstwerks reflektiert mög-
Form des Essays, der ineinander übergehenden Beiträge,
liche Vorgehensweisen seines Auslegungsgeschäfts, um
der Aufsatz- und Aphorismensammlung. Als Analogon in
einem Missverstehen entgegenzuwirken; der Naturwis-
der bildenden Kunst kann die zyklische Reihung bezeich-
senschaftler folgt jenen Wegen, die ihm verheißen, von
net werden.
seinen Ausgangsfragen zu »objektiven« Antworten zu gelangen. Der Ansatz der vorliegenden Untersuchung
96
9. Die Me thode des zyklischen Erinnerns
Lässt man sich auf die skizzierten Analysen ein, die im
besteht dahingegen in der Idee, dass schon dem Gegen-
Rahmen der vorliegenden kunsthistorischen Untersu-
stand selbst, in diesem Falle Hrdlickas Zyklus, eine Me-
chung nicht weiter ausgeführt werden können, offen-
thodik zugrunde liegen kann.
bart sich die zyklische Form als eine ideale Weise, sowohl
Die methodische Struktur des Zyklus »Wie ein Toten-
der Erlebnisvielfalt eines Themas in seinen komplexen
tanz« kann uns, sofern sie herausgearbeitet wird, für
Überlagerungen, seiner Prozesshaftigkeit und Mehr-
unsere Verarbeitungs- und Erinnerungsstrategien ein An-
ansichtigkeit gerecht zu werden als auch dem Künstler
gebot machen. Die dem Werk implizite Form des »zykli-
183
184 Christine Pielken 2003, S. 67, 74.
Begriff entlehnt von Martin Heidegger SuZ, S. 84.
schen Erinnerns« zeigt eine weitreichende Leistung von Hrdlickas Ansatz: Er stellt sich in den 1970er-Jahren stellvertretend für viele Andere der Frage, wie derart übermächtige und schwer zu bewältigende Ereignisse wie der Zweite Weltkrieg oder auch der Offiziersaufstand des 20. Juli von einzelnen Subjekten überhaupt ver- und aufgearbeitet werden können – ohne vor dieser Aufgabe zu kapitulieren und statt dessen in entwirklichenden »Abstraktionen« Zuflucht zu suchen. Mittels einer konsequenten Entfaltung der zyklischen Form und damit einer pluralistischen, repetierenden, assoziativen und nie abgeschlossenen Vorgehensweise löst Hrdlicka diese Schwierigkeit auf eine mögliche Weise. Erneut sei Werner Schmidt zitiert: »Die persönliche Sicht, in der sich Erfahrung, Wissen und Betroffenheit durchdringen, verleiht dem Werk lebendige Gegenwärtigkeit, die von der graphischen Sprache getragen und gesteigert wird. Hrdlicka doziert nicht, er fordert heraus. Seine offene, heftige Zeichenweise mit Tilgungen, Korrekturen und Zusätzen regt den Betrachter an, seinerseits zu ergänzen, zu streichen oder zu widersprechen und also Partei zu nehmen.«185
185
Werner Schmidt 1978, S. 3.
9. Die Me thode des zyklischen Erinnerns
97
10. Zum Verständnis von Hrdlickas Kunst
10 .1 Krit ische r Humanis mus und bi ldn eri sche Phänome nolo gie
das figürliche Malen und Bildhauern gelte als »unfrei« und »reaktionär«, ein Urteil, wie es Produzierende, Theoretiker und Ausstellende der »Kunstbetriebskunst«188 lancierten. Hrdlicka zerbricht sich nicht den Kopf darü-
Das anpassungsfähige, experimentierbeflissene Meer-
ber, ob der Mensch in oder out ist, denn »was sollte er
schwein Künstler hat […] den Menschen aus seiner
denn sonst sein, wenn nicht in? Ob im Kino, im Theater,
bildnerischen Vorstellungswelt eliminiert. Ein Weltbild
im Ministerium, in der Fabrik, im Wirtshaus, im Weltall
ohne Menschenbild, dominiert von Quadraten, Orna-
oder im Bett – die Menschen beschäftigen sich mit sich
menten, Strukturen, Nirostaplatten und -röhren, Stan-
und ihresgleichen.«189
gen, Kugeln, Würfeln und ähnlich aufregenden und gestaltungswürdigen Bildinhalten.186
Hrdlickas Werk zeugt unter diesem Gesichtspunkt von einem ernsten, verantwortungsbewussten und politisch denkenden Künstler. »Kunstmarktmoden, Muse-
Hrdlicka ergänzt diese Beobachtung durch den Hinweis,
ums- und documenta-Installationen interessieren mich
dass auch Schriftsteller keineswegs Buchstaben auf
nicht. Ich bin weder Modeschöpfer noch Installateur.
Papier arrangierten, sondern nach wie vor menschen-
Ich mache zeitbezogene Kunst.«190 Vieles von dem, was
bezogene Prosa und Lyrik schrieben, abgesehen von
er erfährt, weiß bzw. unmittelbar sieht, stimmt ihn zor-
einzelnen dadaistischen Experimenten in der konkreten
nig und lässt ihn eine spöttisch-sarkastische Haltung
Poesie. Und dass im Theater wie eh und je Menschen
einnehmen. Anstatt sich mit Askese, Indifferenz oder
musizieren, tanzen, sprechen und singen – ohne »dass
theoretisierendem Bastlertum auf- und rauszuhalten,
jemand in einem Anfall von spontaner Selbstverwirkli-
bezieht er Position, teilt sich mit und stellt grundsätz
chung außer Programm kreativ geworden« sei.187 Nur 188 Ders.: ebd., S. 178. 186 Alfred Hrdlicka: Die Ästhetik des automatischen Faschismus [1983], in: LEWIN IV, 166, S. 182. 187
Ders.: Als die Freiheit anfing [1983], in: LEWIN IV, 163, S. 178.
189 Ders.: ebd., S. 179. 190 Alfred Hrdlicka: Die Moden des Marktes interessieren mich nicht, in: ART 3/1991.
10. Zum Verständnis von Hrdlickas Kunst
99
liche Fragen nach der condition humaine: Was zeichnet
Der selbstreferenzielle Charakter der International Ab-
Menschen aus? Lassen sich konstante Befindlichkeiten
stract Art vertreibt und verdrängt nicht nur die leibhaf-
und Nöte benennen?
te Gestalt des Menschen, sondern er ebnet auch jene
Schön anzusehendes Dekor, poppig-serielle Men-
spannungsgeladene Differenz zwischen Bild und Abge-
schenbilder, der angestrebte Selbstausdruck von gegen-
bildetem ein. Baudrillard folgert daraus: »Das Bild muß
standslosen Materialarrangements oder der Rückzug
in gewissem Sinne auch sich selbst gegenüber fremd
in konzeptionelle Privatmythologien sind nicht seine
bleiben. Es darf sich nicht als Medium reflektieren, sich
Sache.
Denn »man sollte doch […] keinen Augenblick
nicht für ein Bild halten. Es muß eine Fiktion bleiben,
vergessen, dass die Malerei überhaupt […] keine bloße
eine Fabel, und auf diese Weise der unlösbaren Fiktion
Farbenkunst, sondern dass auch [ihr] Wesen und die
des Ereignisses als Echo dienen.«193 Hrdlicka ist die As-
Grundlage durchaus plastisch ist, also in jedem Theile an-
similierung von Realität und Kunst nicht nur zu fade,
schauliche Bestimmtheit und einen karakteristischen Aus-
sondern er erkennt auch die Gefahr der impliziten inhalt-
druck ihrer Gegenstände fordert«192, schrieb Carl Ludwig
lichen Beliebigkeit: Wenn alles geht, erübrigt sich jedes
Fernow 1806.
kritische Denken, weil somit Wertmaßstäbe nicht mehr
191
Ausgehend von einer figürlich-expressiven, realis-
anlegbar sind. Da Hrdlicka aber die faschistische Verach-
tisch-anschaulichen Form zielen Hrdlickas Werke auf
tung der Menschenwürde erleben musste, ist ihm der
das mahnende Denk-mal, die empörte Anklage, den
Selbstwert des Subjekts stets oberstes Kriterium.
polemischen Gedankenanstoß, die bissige Interpretation von geschichtlichen und zeitgenössischen Ereig-
Exakt dieses Problem der Umwertbarkeit der Werte
nissen ab. Auf der Bühne seiner Kunst führt er Stücke
pocht in den Adern von Hrdlickas Figuren. Der engagier-
auf, die das menschliche Dasein betreffen, anstatt sich
te Realist meißelt aus seinen Beobachtungen die Einsicht
auf re dundante Weise mit Form-Fragen aufzuhalten.
heraus, dass Menschen nicht fest und stabil auf einem Grund stehen. Zwar lässt die Psychodynamik der Triebe nach Selbsterhaltung, Fortpflanzung und Macht das In-
191
In Abgrenzung zu einer »anschaulich wirksamen« bilden-
dividuum im Alltag dingbezogen in der Welt aufgehen,
den Kunst bzw. einer »sozialen Bildlichkeit« sprach Dietrich
hält es jedoch zugleich in latenter Unruhe, die auch in
Schubert vom ästhetischen Arrangieren und Komponieren trivialen Materials; vgl. Formen der Heinrich-Heine-Memo-
Gewalt umschlagen kann. Haus und Hof der alltäglichen
rierung im Denkmal heute, in: Aleida Assmann, Dietrich
Ordnung sind grundsätzlich einsturzgefährdet. Tritt das
Harth (Hg.): Mnemosyne, Formen und Funktionen der
menschliche Leben z. B. im Kontext eines Krieges aus
kulturellen Erinnerung, Frankfurt a. M. 1993, S. 101–143, hier 110.
100
10. Zum Verständnis von Hrdlickas Kunst
192 Carl Ludwig Fernow: Über die Landschaftsmalerei [Römi-
193 Jean Baudrillard: Warum ist nicht alles schon verschwun-
sche Studien, 2. Theil, Zürich 1806], in: Werner Busch (Hg.):
den?, Berlin 2008, S. 36 [im Folgenden zit. als: Jean Baudril-
Landschaftsmalerei, Berlin 1997, S. 245.
lard 2008].
der konventionell besorgten Umwelt heraus, kann dem
Hervor treten vielmehr Dimensionen der Existenz, die
späteren Zeugen die ehemals ausgelegte und vertrau-
auch im Alltag gegenwärtig sind, dort jedoch im Hinter-
te Welt als un-heimlich und absurd begegnen.194 Wenn
grund verborgen liegen. In der biederen Rechtschaffen-
humanistische Werte und Unwerte in Gleichgültigkeit
heit, die davon ausgeht, der Mensch hätte mit der obs-
versinken, könnte selbst das Töten eine angemessene
zönen Bilderwelt in Hrdlickas Œuvre eigentlich nichts zu
Weise des Überlebens und der Weltbeherrschung sein
tun, ist die »Banalität des Bösen« schon angelegt. Und
– und als eine »konstruktive soziale Handlung«195 neben
zwar insofern, als es dieser an der Bereitschaft mangelt,
die Wissenschaft und die Ingenieurskunst treten. Das
sich der Anstrengung einer unerschrockenen Selbstre-
Selbstbild westlicher Gesellschaften vermeidet, Phäno-
flexion zu stellen.
mene wie Gewalt und Mord unter diesen Aspekten zu
Hrdlicka geht noch einen Schritt weiter. Da für Mas-
betrachten. Dass Gewalt eine faktische Option des Han-
ken, Verstellung und Selbstinszenierung weder Raum
delns ist, muss aber reflektiert werden. »Weil Hrdlicka
noch Zeit bleibt, offenbart der Mensch in entsprechen-
das Bestialische am deutschen Faschismus als etwas bei-
den »Extremsituationen« eher etwas von seinem Mensch-
nahe Kreatürliches, als etwas nahezu biologisch Zwang-
sein als unter normalen, d. h. sicheren und bequemen
haftes, das tendenziell in uns allen steckt, erkannt und
Umständen. Erst »[i]m Schmerzhaften, im Leiden, finde
ins Bild umgedeutet hat, kann es befreiend wirken«,
ich, zeigt sich, was den Menschen ausmacht«.197 »Sicht-
196
schlussfolgerte Walter Schurian. Hrdlickas Werke verweisen auf eine Welt ohne Selbst-
bar wird das Triebhafte, das Brutale und auch das zutiefst Lächerliche am Gehabe aller Bonzen und Popanze.«198
beherrschung: Den Grausamen ruft kein Gewissen zur
Diese Auffassung teilt er mit Otto Dix, der 1961 äußer-
Raison. Der Leidende gibt sich seinem Leid hin. Der Ero-
te: »Man muß den Menschen in diesem entfesselten Zu-
tiker befriedigt seine Gelüste. Wenn »Apokalypse« im
stand gesehen haben, um etwas über den Menschen zu
weitesten Sinne als Zivilisationsbruch verstanden wird,
wissen.«199 Auch Dostojewskij schreibt in den »Aufzeich-
kann vom apokalyptischen Gehalt in Hrdlickas Kunst ge-
nungen aus dem Kellerloch«: »Das Leiden – das ist ja der
sprochen werden. Die Pointe ist darin zu sehen, dass
einzige Grund des Bewusstseins.«200 Manchmal scheint
Hrdlicka die Apokalypse in der Banalität des Alltäglichen verortet. In den Szenerien jenseits der Normalität zeigt sich kein »unnatürlicher«, »kranker« Ausnahmezustand.
197
Alfred Hrdlicka im Interview mit Hanno Rauterberg, in: DIE ZEIT, Nr. 9, 21. 02. 2008, S. 45.
198 Walter Schurian 1988, S. 50. 194 Vgl. Martin Heidegger SuZ, S. 184–191; sowie Albert Camus:
199 Zit. nach: Hans Kinkel: Begegnung mit Otto Dix, in: Stutt-
Der Mythos des Sisyphos [1942], übers. v. Vincent von
garter Zeitung vom 30.11.1961; auch Dietrich Schubert: Otto
Wroblewsky, Reinbek bei Hamburg 1999.
Dix mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek
Sönke Neitzel/Harald Welzer: Soldaten, Protokolle vom
bei Hamburg 62005, S. 25; auch ders. (Hg.): Otto Dix – Der
195
Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a. M. 2011, S. 420. 196 Walter Schurian 1988, S. 50.
Krieg, 50 Radierungen von 1924, Marburg 2002, S. 9. 200 Dostojewskij, Fjodor: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch
10. Zum Verständnis von Hrdlickas Kunst
101
es also gerade die Finsternis zu sein, die das hellste Licht
oder förderlicher Weise angehen. Die Leiblichkeit kons-
wirft. Nicht zuletzt in dieser paradoxen Einsicht sind
tituiert seine Angewiesenheit auf das Andere. Durch sie
sich alle drei Künstler einig. Das Licht meint hier die auf-
existiert der Mensch immer in praktischer Bezugnahme
klärende Wirkung, die der Konfrontation mit dem Schre-
zu den Bedeutungszusammenhängen der Welt. Ihn in
cken innewohnt.
seiner Leiblichkeit zu verstehen heißt, sein Gestellt-Sein in Handlungszusammenhänge zu erkennen und damit
Nach dieser allgemeinen philosophischen Positions-
das Menschsein existenzial zu begreifen.202
bestimmung gilt es nun, das Behandelte unter jenen
Hrdlicka stellt diesen leibbasierten Konnex von Gehalt
Begrifflichkeiten zu subsumieren, die eng an Hrdlickas
und anschaulicher Gestaltung – z. B. die notwendig figür-
Werk gebunden sind. Menschliches Leid, dessen Um-
liche Darstellung von Phänomenen wie Erregtheit und
stände und Ursachen bilden die thematische Maserung
Aggressivität – in einer Skizze selbst dar. Das »Fleisch =
von Hrdlickas Werken. Dieser Hintergrund soll nun an-
Kunst«-Dreieck aus dem Jahre 1973 (Abb. 53) 203 ist in der
hand von vier Aspekten in den Fokus gerückt werden:
Absicht einer Selbstinterpretation gezeichnet.
Im Zentrum stehen erstens die verbrecherischen Ten-
Um dem Problem der Ideologie gerecht zu werden,
denzen jeder Ideologie, zweitens die Pathologie von »le-
darf man nicht vergessen, wie neben der Leiblichkeit
bensverneinendem« Verhalten gegen sich und andere
des Menschen Staat und Gesellschaft mittels ihrer je-
und drittens die Kulturphänomene der Sexualität. Diese
weiligen Normierungsgeflechte das individuelle Dasein
drei Aspekte sind bei Hrdlicka stets anhand der Physio
stets mitbestimmen. Politische Phänomene, auch in ih-
gnomie und des individuellen menschlichen Leibes, des-
rem geschichtlichen Vorlauf, sind immer auch Bestand-
sen Körperhaltung und Handlungssituation dargestellt.
teil der Lebensform von Individuen. Hrdlicka ist in dieser
In Hrdlickas Werk ist der Leib der zentrale Ausdrucksträ-
Hinsicht im Besonderen Antifaschist und Kulturkritiker
ger. Die Leibpriorität des menschlichen Weltbezugs und
im Allgemeinen: Die Zivilisation in Gestalt von Religion,
der Kunst – »Alle Macht in der Kunst geht vom Fleisch
Wirtschaft und Politik versteht er als weniger fördernd
aus«
denn repressiv.
201
– stellt folglich den vierten Aspekt dar. Den Men-
schen in seiner Leiblichkeit zu zeigen bedeutet, ihn in seiner praktisch-handelnden Bezogenheit auf die Welt zu verstehen. Denn nur insofern der Mensch körperlich ist, kann die Welt ihn als etwas Anderes in abträglicher
202 Vgl. zur Leiblichkeit menschlicher Reflexivität und zum Leib als Nahtstelle der Realität Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966. Daran anschließend Lorenz Dittmann: Kunstwissenschaft und Phänomenologie des Leibes, in: Aachener Kunstblätter,
[1864], aus dem Russischen von Swetlana Geier, Frankfurt a. M. 2007, S. 42. 201 Alfred Hrdlicka: Alle Macht in der Kunst geht vom Fleisch 102
10. Zum Verständnis von Hrdlickas Kunst
aus, in: Alfred Hrdlicka – Skulptur – 1973, S. 8.
44/1973, S. 287–316. 203 Die entsprechende Zeichnung, nebst den drei Vorstudien ist abgebildet in: Barbara Hrdlicka/Theodor Scheufele (Hg.): Alfred Hrdlicka – Zeichnungen, Dortmund 1994, S. 12 f.
sind dadurch in ihrer Macht begrenzt. Phänomene wie militanter Männlichkeitskult, manischer Ordnungssinn und missionarischer Revolutionseifer sind in Hrdlickas Sinne als Regressionen zu verstehen. An dieser Stelle sei auf die Zyklen »Bauernkrieg«, »Französische Revolution«, »Wie ein Totentanz« und alle Arbeiten zu »Haarmann« verwiesen. Das zweite Menschenbild zeigt den Menschen in Revolte und Auflehnung.204 Dafür steht die geballte Faust des Widerstands. Hrdlickas Augenmerk liegt auf der Beobachtung, dass das Aufbegehren gegen Obrigkeiten und autoritär verwaltete Gewaltmonopole deren Machtinhaber im Zuge von Gegenschlägen immer wieder zur Lust an der grausamen Schändung verführt. Exemplarisch beschäftigte sich der Künstler damit im »Plötzenseer Totentanz«, in den Arbeiten zu »Marsyas«, »Orpheus«, »Christus« und »Pasolini«. Abb. 53 »Fleisch = Kunst«, 1973 Tusche, Buntstift; 33 x 28 cm
Das dritte Menschenbild Hrdlickas bezieht den Rezipienten mit ein, der bei bloßer Betrachtung, Mitleid und Furcht nicht verweilen kann. Da von Hrdlickas Kunst unbestreitbar eine aufrüttelnde und empörende Wirkung
Ausgehend von den genannten vier Themenkomple-
ausgeht, wird der Betrachter auf sich selbst zurückge-
xen lässt sich feststellen, dass in Hrdlickas Œuvre drei
worfen und stellt sich, sofern er dies zulässt, selbst in-
»Menschenbilder« gegenwärtig sind. Das erste zeichnet
frage. Eine Möglichkeit des Reagierens ist das Antwort-
den Menschen als Ausübenden und Opfer von Gewalt.
Geben durch die Übernahme von Verantwortung. Werte
Die Verstehensarbeit hinsichtlich der Entstehung und
wie freiheitliche Selbstbestimmung und humanistisches
des Ausbruchs von Gewalt führte ihn dabei in deren ge-
Engagement werden gerade durch ihre Abwesenheit in
wöhnliche »Banalität« und ließ ihn freudianisch erken-
Hrdlickas Bilderwelt wieder präsent. Denn seine Kunst
nen, dass die Bedrohung für die bürgerliche Gesellschaft
macht demjenigen, der sich ihr aussetzt, deutlich, dass
in erster Linie verdrängte und entfremdete Triebe sind. Durch sie handelt der Einzelne aus der angewachsenen Eigenmacht des Unbewussten heraus und nicht aus wacher Deliberation. Moralische Kontrollmechanismen
204 Vgl. Albert Camus: Der Mensch in der Revolte [1951], aus dem Französischen v. Justus Streller, Reinbek bei Hamburg 2006.
10. Zum Verständnis von Hrdlickas Kunst
103
das Humane im Menschen ein äußerst gefährdetes Gut
ters« von Hrdlickas Kunst sich im komplexen Phänomen
ist. Es ist die ethische Pflicht jedes Einzelnen, sich selbst
der Gewalt bzw. der Grausamkeit manifestiert. Das will
im Auge zu behalten, im Zwiegespräch mit sich zu blei-
nachvollzogen sein.
ben, damit man sich in seinem eigenständigen Wesen
Der Form-Aspekt einer Graphik oder Skulptur ist in
als Mensch nicht verliert und sich selbst noch ertragen
all seiner »Materialität« nie strukturlos, er tritt als ein
kann. Der neben dem repressiven Peiniger und dem
immer schon gestalteter auf. Das heißt, er zeichnet sich
renitenten Revolutionär dritte Typus meint ein Indivi-
durch ikonische Charakteristika aus. Diese konstituie-
duum, das sich gestalterisch und mit Sinn für die Men-
ren den »Gehalt« des Werkes. Das sich dem Betrachter
schenwürde am Gemeinwesen beteiligt. Er ist, obzwar
zeigende Gegenüber eines Kunstwerks kann demnach
im Œuvre allgegenwärtig, nicht unmittelbar dargestellt
kein bloß vorhandener Wahrnehmungsgegenstand sein,
– er muss gelebt werden.205
sondern ist ein artikuliertes Gebilde, das einen Sinn zeigt und darstellend ausspricht.208 Es steht damit anders als beispielsweise der Stein auf dem Feldweg in dem Be-
1 0. 2 F or m un d S ti l der Gr aus a m kei t
deutungszusammenhang des menschlichen Lebens. Darauf aufbauend folgt der zweite Gedankenschritt. Die Einleitung im 1. Abschnitt fordert, dass die Einheit von Gestalt und Bedeutung eines Werkes – was schon
Des Tags bin ich Baron, des Nachts bin ich Verbrecher.
206
Hegel postulierte – visuell anschaulich bzw. atmosphärisch gegenwärtig sein muss. Andernfalls ist jene Ein-
Die Finsternis im Angesicht der schlafenden Vernunft
heit nicht erreicht. Das heißt, wenn dasjenige, was ein
führt auf den im 7. Kapitel behandelten Begriff der
Kunstwerk mitzuteilen hat, nicht überzeugend über die
Grausamkeit zurück. Schließlich lautet eine der The-
Werkgestalt vermittelt ist, leidet es an einem Defizit.209
sen dieser Arbeit, dass die Werk-Einheit im Sinne des »Totaleindrucks«207 bzw. des »anschaulichen Charak-
208 Vgl. Gottfried Boehm 1989, S. 15. Schon der Soziologe Hans Freyer sprach von »sinnhaltiger Form«. Vgl. dazu Günther Fiensch: Form und Gegenstand, Studien zur niederländi-
205 Vgl. Peter Sloterdijk: »Ist nicht bedeutende Kunst immer konkav? Was ihren Klang ausmacht, wird von dem be-
104
10. Zum Verständnis von Hrdlickas Kunst
schen Malerei des 15. Jahrhunderts, Köln 1961, S. 4–12/ 102–104.
stimmt, was sie nicht mehr sagt.« Aus ders.: Kopernikani-
209 Das auf Aristoteles zurückgehende Postulat der Einheit
sche Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung, Frank-
von »Stoff« und »Form« war ein zentrales Anliegen der
furt a. M. 1987, S. 74.
klassischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts (vgl. Friedrich
206 Zit. nach Trautl Brandstaller 2008, S. 130.
Schiller, Neunter Brief, S. 34). Im weitesten Sinne greift
207 Der Begriff des »Totaleindrucks« wurde von A. G. Baum-
dieser ästhetische Ansatz einen Gedanken der christlichen
garten, C. L. Fernow, A. v. Humboldt und G. Morelli ver-
Theologie auf, die in der »Inkarnation« die dem Menschen
wendet.
gemäße Erscheinungsweise des Intelligiblen sieht: Geist
Es spricht mithin vieles dafür, in ebendiesem Aspekt
gedacht, denn der Marmor oder die Kupferplatte sind
ein wichtiges Qualitäts-Kriterium zu erkennen: Haftet
keine Menschen. Es handelt sich um eine Strukturanalo-
einem Werk sein Thema nur äußerlich an, oder ist es
gie, um einen Vergleich in Bezug auf die Lust und das Be-
anschaulich gemacht und transportiert das Werk damit
friedigungsgefühl beim »Verletzen« von Gegenständen
formimmanent und formtransparent den Gehalt? Wenn
im künstlerischen Schaffensprozess. Hrdlicka äußerte:
grundsätzlich – um mit Theodor Lipps zu sprechen – »künstlerische Form nichts anderes als die Daseinsweise
Denn im Prinzip habe auch ich jahrelang nichts anderes
des Inhalts [ist]« , dann gewinnt ein Kunstwerk desto
gemacht, als männliche Körper zu zerstückeln und zu
mehr an Überzeugungskraft, je besser das Wie das Was
dezimieren. Die Faszination für das Anatomische, ja
vermittelt.
geradezu die Sucht des Zerlegens, ergibt Berührungs-
210
Unter Berücksichtigung dessen, dass sich originäre
punkte. Wer mein Frühwerk kennt, versteht das. Ich
bildende Kunst nicht zuletzt dadurch auszeichnet, ihr
mache es mir schwer mit meinen Monumenten, weil
Thema durch Form und Stil zum Ausdruck zu bringen
ich über kurz oder lang von dem Verlangen befallen
und es so zu veranschaulichen, soll im Folgenden nach-
werde, das Ganze zu zerstückeln. Meine Bildhauerei
vollzogen werden, dass bereits die Art und Weise, wie
kostet mich einiges an Überwindung, da ich gern alles
Hrdlicka seine Steine und Platten bearbeitet, auf den
wieder zertrümmern möchte – eine ironische Übertrei-
Aspekt der Gewalt und Grausamkeit verweist: Denn
bung, aber die Wahrheit. Es gilt für mich, aber nicht
Hrdlicka schindet und traktiert sein Material, wie Ernst
nur für mich: Kunst ist das, was übrig bleibt.212
Fischer korrekt beobachtete: »Hrdlickas Plastiken werden, mit Hammer und Meißel, zersprengt, zerfurcht,
Um diesen Aspekt genauer zu fassen, bedarf es im Sinne
geschunden, bis die Materie restlos Energie geworden
Alois Riegls einer »kritischen Stilanalyse« von Hrdlickas
ist.«
Kunst, die auch technisch-formale Aspekte berücksich-
211
Grausamkeit ist hier nicht als ethische Kategorie
tigt. Hrdlicka tastet sich an sein widerständiges Material nicht vorsichtig und behutsam heran, sondern wagt im muss Fleisch werden, um sich dem Menschen zeigen zu
Taille directe-Verfahren den zwar überlegten, doch letzt-
können. Das philosophische Problem der Einheit von Logos
lich immer einschneidenden Schlag, der auch vor radi-
(„Geist«) und Phänomen („Materie«) wurde dem Evangelisten Johannes zufolge in der inkarnierten Gottesfigur
kalen »Zerstörungen« nicht zurückschreckt. Auf ähnlich
Jesus Christus gelöst. Der Phänomenologe Edmund Husserl
rigorose Weise ritzt er mit schnellem Strich in die Kupf-
dachte es im intentionalen Bewusstsein und Martin Heid
erplatten und tilgt im Arbeitsprozess bereits Geleiste-
egger im In-der-Welt-sein des Daseins.
tes oder setzt zu großflächigen Übermalungen auf der
210 Theodor Lipps: Ästhetik, Zweiter Teil, Die ästhetische Betrachtung und die bildende Kunst, Hamburg/Leipzig 1906,
Leinwand an. »Neben der zitternd empfindsamen Linie
S. 95. 211
Alfred Hrdlicka – Graphik – 1973, S. 3.
212
Alfred Hrdlicka, zit. nach: Walter Schurian 1988, S. 19.
10. Zum Verständnis von Hrdlickas Kunst
105
kratzt die Radiernadel rau schraffierte Dunkelheit.«213
der Formvereinfachung, Unschärfe und Detaileinspa-
Hrdlickas Stil stört mit Methode jeden Wohlklang, der im
rung sind.
Verdacht steht, die Begegnungsweise der Phänomene in
Der Dualismus zwischen realistischer, »menschenbil-
ihrer Widersprüchlichkeit, Unplausibilität, Unüberschau-
dender« und abstrakter, »weltarmer« Kunst wiederholt
barkeit und auch in ihrer Grausamkeit zu ästhetisieren.
trotz aller Unterschiede in gewisser Weise die kulturhis-
Stattdessen will er seiner bewegten menschlichen
torische Dialektik von griechischem und christlichem Stil
Figur mitgeben, was sie bewegt. Darum ist die von ihm
ideal im Sinne Erich Auerbachs. In dieser Hinsicht besitzt
gestaltete steinerne Materie so energetisch und die
die Kunst Hrdlickas durchaus ein christliches Erbe, denn
Anatomie der Physis derart antiklassisch. Das bedeutet
»es war die Geschichte Christi, mit ihrer rücksichtslosen
nicht, dass die Natur verfremdet ist oder einem verein-
Mischung von alltäglich Wirklichem und höchster, erha-
heitlichenden Formprinzip unterworfen wird. Hrdlicka
benster Tragik, die die antike Stilregel überwältigte«.215
sieht vielmehr eine Herausforderung darin, dem jeweils
Für klassizistisch-idealistische Strömungen dürfe »das
Charakteristischen über eine verdichtende Herange-
alltägliche und praktisch Wirkliche nur im Rahmen einer
hensweise näherzukommen. Die paradigmatische Me-
niederen und mittleren Stilart« dargestellt werden und
thode aller realistisch-expressiven Kunst besteht in der
nicht auf ernste, tragische, erhabene Weise.216 Die bib-
Technik der Deformation, die zu einer Konzentration auf
lische Erzählform und der moderne Realismus, mit ihm
das Wesentliche des Ausdrucksgehalts führen soll. Die
Hrdlicka, unterscheiden sich aber noch in einem zwei-
Anamorphose ist ferner ein Mittel, um innere Bewegt-
ten Punkt vom Klassizismus. Denn sie verabschieden
heit auszudrücken und spannungsgeladene Lebendig-
sich in ganzer Konsequenz von dem plastisch-epischen
keit zu suggerieren. In Anbetracht der Gestaltungs-
Grundimpuls, der darin besteht, die Entscheidungen
prinzipien seines Bruders hat schon Theo van Gogh die
gleichmäßig ausgeformt, ohne dunklen Rest, wohldispo-
entsprechenden Begriffe fixiert.
Für die déformation
niert, in allen Details tast- und sichtbar zu vergegenwär-
kann auf zwei verschiedene Gestaltungsweisen zurück-
tigen. Die Ereignisse vollziehen sich nicht ort- und zeit-
gegriffen werden, die auch in Beziehung zueinander
bestimmt im hellen Vordergrund, sondern sind dunkel,
gesetzt werden können: Einerseits die exagération,
hintergründig, rätselvoll und gleichzeitig übereinander
sprich die Übertreibung, Karikierung und Überdetailie-
gelagert.217 Diese beiden Merkmale der biblischen Erzäh-
rung. Andererseits die simplicité, deren Prinzipien die
lungen, die Darstellung des Alltäglichen im »großen Stil«
213
Werner Schmidt 1978, S. 1.
215
214
Vgl. Dietrich Schubert: Vincent van Goghs Gemälde in der
214
Ausstellung bei ›Les Vingt‹ in Brüssel im Januar 1890, in: 106
10. Zum Verständnis von Hrdlickas Kunst
Erich Auerbach: Mimesis, Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur [1946], Bern/Stuttgart 1988, S. 516 [im Folgenden zit. als: Erich Auerbach 1988].
Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, 3, Bd. 55, Mün-
216
Erich Auerbach 1988, S. 515.
chen 2004, S. 203 f.
217
Vgl. ebd., S. 8 u. 14–15.
und die realistisch-hintergründige Gebrochenheit dieses
versuche es an dieser Stelle noch einmal. In der Graphik
großen Stils, zeichnen auch Hrdlickas Kunst aus.
ist es wie beim Schreiben. Man kann etwas so durchstrei-
Doch ebenso wie die Kehrseite der realistischen Ver-
chen, daß man es dennoch lesen kann, und einen Zusatz
einfachung die unplastische Verflachung ist, droht dem
machen.«220 Auch allgemein ist feststellbar, dass die grö-
Mittel der Übersteigerung das manieristische Pathos. Ba-
beren Anfangszustände wie der roh bossierte Marmor
rocke Kabinettstücke vermeidet Hrdlicka jedoch ebenso
oder die skizzenhafte Gliederung des Blattes nicht voll-
wie das Unversehrtheits-Pathos der »psycho-physischen
ständig und systematisch weitergeführt und »zu Ende
Vollkommenheitsideologie in der NS-Kunst«,
gebracht« werden. Sie bleiben neben oder unter ausge-
218
indem er
dem Künstlerverlangen nach Perfektion und Abgeschlos-
arbeiteten Stellen »rustiziert« stehen.
senheit widersteht. Das Skizzenhafte, das Nonfinito, aber
Diese anschauliche Manifestation eines Arbeitspro-
auch das Gebrochene und Torsierte lassen seine Werke
zesses macht die der Kunst eigene, performative Er-
bescheiden auftreten. Durch die formale Offenheit und
kenntnis- und Produktionsweise sichtbar. Kunst setzt
Unabgeschlossenheit zeigt sich das Kunstwerk als Bruch-
nicht einen bereits feststehenden Gehalt formgebend
stück eines umfassenderen dynamischen Geschehens.
oder gar vervielfältigend um – als bestehe er auch un-
»So sind die meisten meiner Skulpturen, auch die ›Voll-
abhängig von seiner künstlerischen Vergegenwärtigung.
ständigen‹, Bruchstücke eines Geschehens, herausge-
Der Kunstgehalt entwickelt und entfaltet sich vielmehr
brochene Momentaufnahmen, zugehörig einem Zyklus
in seiner Besonderheit für den Künstler erst im prakti-
oder Bewegungsrhythmus.«
Das Feste und Stabile ist
schen Vollzug der Werkgenese. Dieses Wesen künstleri-
lediglich dasjenige, was im Zuge eines Entstehungs- und
schen Schaffens ist in seinen Ausmaßen immer bedingt
Arbeitsprozesses übrig bleibt und Einblick gewährt in
durch die Technik. »Die Verfestigung einer Bildvorstel-
das Gesamt jenes Hergangs, dem das Werk entspringt.
lung im Arbeitsvollzug, ihr Werden im Werken, wird
Vieles von diesem Entstehungsprozess ist in Hrdlickas
gerade dadurch, daß die Radierplatte beinahe endlose
Kunst dennoch gegenwärtig, da er die angesprochene
Überarbeitungen zulässt, in hohem Maße gefördert.«221
Arbeit, welche dem Präsentationszustand vorausgeht,
Nicht selten änderte sich bei Hrdlicka sogar die Thematik
nicht verschleiert, sondern zu einem Bestandteil des
im Laufe des Arbeitsprozesses – auch bei Skulpturen.222
fertigen Werkes macht. Bezüglich seiner Radierungen
In der altmeisterlichen Lasurmalerei, die im 20. Jahrhun-
219
äußerte er: »Bei der Graphik kann man auch das zu Korrigierende erhalten. Es muß nicht immer verloren gehen
220 Alfred Hrdlicka: Fragen und Antworten zur Technik, in:
– man kann es nur flüchtig ausstreichen und sagen: Ich
Schaustellungen 1984, S. 61. 221
Wolf Stubbe: Manifestationen in der Radierung – Zur graphischen Technik von Alfred Hrdlicka, in: Alfred Hrdlicka
218
Peter Gorsen: Die Emanzipation des Fleisches, in: Trautl Brandstaller 2008, S. 56.
219
Zit. nach: Trautl Brandstaller 2008, S. 36.
– Graphik – 1973, S. 53. 222
Vgl. Alfred Hrdlicka: Fragen und Antworten zur Technik, in: Schaustellungen 1984, S. 62.
10. Zum Verständnis von Hrdlickas Kunst
107
dert z. B. Otto Dix wieder aufgriff, verhält sich dieser
wissenschaftliche Modelle, Kunstwerke etc. überein.223
Entwicklungsprozess nur auf den ersten Blick anders als
Die bildende Kunst reflektiert darüber hinaus unausge-
in der »alla Prima-Malerei«. Denn Vorzeichnungen und
sprochen die ikonische Verfasstheit der sprachlich fixier-
Karton-Entwürfe zählen zum Gesamtkunstwerk unbe-
ten Realität – analog zu dem, was die Literatur in Bezug
dingt dazu. Stellt man in diesem Fall die verschiedenen
auf die sprachliche Verarbeitung und Konstituierung von
Entwicklungsschritte nebeneinander, so wird das Phä-
Wirklichkeit leistet. Auf die Theorieansätze zum »iconic
nomen der organischen Bildentfaltung auch innerhalb
turn« sei im Rahmen dieser Untersuchung lediglich hin-
der Lasurmalerei anschaulich.
gewiesen.
Analog zur Genese des Werkes im Schaffensprozess
Stattdessen kehren die Überlegungen an dieser Stelle
muss auch seine Entschlüsselung durch den Betrachter
zurück zu Hrdlickas Stil. Nach der Erörterung von Struk-
im praktischen Vollzug der Rezeption verortet werden.
turmerkmalen des Fragmentarischen und Improvisierten
Die theoretische Kenntnis eines Kunstwerks allein »vom
sprengt die Arbeit nun den gängigen Stilbegriff, indem
Hörensagen« ist eine beschränkte. Die ursprüngliche Er-
sie die Entscheidung des Künstlers für ein figürliches
schließung ist nur im Zeit beanspruchenden, betrachten-
»Sujet« vom Verzicht auf jegliche Motive abgrenzt.
den Dialog mit dem Original möglich. Wissenschaftliche
Wie bereits betont, richtet sich Hrdlickas künstlerische
Untersuchungen wie die Vorliegende müssen als Deriva-
Schaffenskraft seiner Thematik entsprechend auf die
te verstanden werden. Sie versprachlichen das Kunst-
individuelle, bewegte menschliche Figur als Ausdrucks-
erlebnis, wollen es bewusster machen und besitzen im
träger. Damit findet er die Antwort auf die Frage, wel-
günstigsten Fall eine anregende, bereichernde und ver-
cher Gestaltungsmodus der Thematik des Menschlichen
tiefende Funktion. Die ästhetische Erfahrung im Zwiege-
gerecht wird. Kann dies in ähnlicher Bestimmtheit der
spräch mit dem Kunstwerk selbst können und wollen sie
Selbstausdruck »reiner« Farbe, Form und Komposition
nicht ersetzen.
weltarmer Kunst224 leisten? Ist diese nicht angesichts ih-
Zu gunsten dieses Werkverstehens will in diesem Kontext ferner reflektiert sein, dass die Wirklichkeitsauslegung, welche die bildende Kunst leistet, eine spezifische ist – d. h. eine andere als die der Literatur oder der Wissenschaft. Sie ist in ihrer sinnlichen und einheitlichen
scheren wie »abstrakte Kunst« oder »gegenstandslose Kunst«. Erstens abstrahiert jede Kunst und zweitens besticht Hrdlickas »gegenständliche Kunst« auch nicht
die fundamentale Verstehensstruktur, dass jedes Etwas
durch Gegenstände wie blaue Kacheln (H.-P. Reuter) oder
liegt allen Wirklichkeitsvermittlungen gleichermaßen zu10. Zum Verständnis von Hrdlickas Kunst
224 Ich präferiere diesen Begriff im Kontrast zu problemati-
Augenblicklichkeit besonders und unersetzlich. Lediglich immer schon auf eine Bedeutung hin erschlossen ist, 108
223 Vgl. Martin Heidegger SuZ, S. 142–148.
grunde. Darin stimmen Wahrnehmung, Denken, Fühlen,
Plastikeimer und Topfblumen (D. Krieg), sondern durch Menschendarstellungen. Ungenau ist ebenso ein Begriff wie »Figuration«, schließlich kann auch das Gestalten von geometrischen Figuren wie Kreise und Dreiecke als Figura-
rer weitgehend beliebigen Auslegbarkeit kommentarbe-
mats. All dies gehört zu den abstrakten Prinzipien, zur
dürftig? Hrdlicka schreibt zu diesem Thema: »[D]ie abs-
ikonischen Eigenwirklichkeit und nach Imdahl »höheren
trakte Kunst hat die Kunst der Abstraktion ad absurdum
Sinntotalität« eines Kunstbildes.
geführt.«
225
Wir halten fest: »Figurative Kunst« ist immer schon ein
Kunst als Mimesis befindet sich per se auf einer ab
abstraktes Gebilde. Unser Form-Sehen ist in dieser Hin-
strahierten Metaebene: Das Dargestellte ist lediglich
sicht nur ungenügend ausgebildet. Arbeitet ein Künstler
ein Simulacrum. Erstens erscheint es selektiv, aus ei-
mit der menschlichen Figur, steht ihm zusätzlich das um-
nem Kontext herausgehoben und vereinfacht, subjektiv
fassende »Vokabular« von Blicken, Mimik, Gestik, Gebär-
verdichtet. Zweitens existiert ein empirischer Baum als
den und Habitus zur Verfügung. Weil der Mensch diese
künstlerisch dargestellter auch in einer anderen Form,
Körpersprache wie seine Muttersprache in der Kindheit
beispielsweise als bleigraues Strichgewebe auf Papier.
erlernt, kann der Künstler im Dialog mit dem Betrachter
Die mimetische Bezugnahme eines Kunst-Bildes auf die
an dessen »bildliches Verstehen«, wie Michael Bockemühl
Realität geschieht immer im Modus von Elementen wie
es nennt, besser anknüpfen, als wenn er den Menschen
Punkten, Strichen oder Farbfeldern auf einer Fläche.
aus der Kunst verbannt. Hrdlicka bezieht klar Position:
Es existieren ikonische Bezüge – in Analogie zu mathematischen oder syntaktischen Strukturen – eines jeden
Ich bin in Wirklichkeit ein künstlerischer Vertreter des
Flecks zum Mittelpunkt sowie zu den Rändern des For-
Selbstverständlichen. Ich glaube, dass die Kunst doch überhaupt nicht auskommen kann ohne dem, was mir ein Leitprinzip meiner Kunst ist. Und meine Kunst bil-
tion verstanden werden. Wenn bei der Formel »weltarmer
det den Menschen ab.226
Kunst« von einem Entbehren der Welt die Rede sein soll, dann bezieht sich der Begriff »Welt« im Sinne Heideggers auf das, worin wir leben: auf den Funktionszusammenhang der uns umgebenden und gegenseitig auf sich ver-
des verselbstständigten Kreativitätspostulats postmo-
weisenden Dinge, die in ihrer Relevanz letztlich alle auf das
derner Künstler und die »Idealität« fotografischer Male-
soziale menschliche Leben bezogen sind. Die Welt ist das,
rei mit. Mit dem Historisch-Werden der abstrakten, welt-
was uns zugänglich ist und worin wir uns alltäglich bewe-
armen Kunst kommt Hrdlicka heute, da mehr Künstler
gen, womit wir umgehen und wovon wir angegangen werden können, was wir erinnern und entwerfen. In diesen
225
Dabei schwingt Empörung über die Leibvergessenheit
wieder figürlich malen, scheinbar die Opposition abhan-
Weltzusammenhang sind wir immer schon integriert, die
den. Doch wirft man einen Blick auf die seit den 1990er-
Welt ist sowohl das, wohinein der Mensch geschichtlich
Jahren – in Anlehnung an die frühen 80er – inflationär
geworfen ist als auch das, was er bildet.
ausgerufene, bunt-verspielte »Neue Malerei« von Künst-
Alfred Hrdlicka, in der im September 1979 veröffentlichen Zeitschrift »Neolithikum«, anlässlich der Ausstellung der
lern wie Alex Katz, Dieter Krieg, Eberhard Havekost, Eric
Stuttgarter Bildhauerklasse A. H.s; wieder abgedruckt in: LEWIN IV, 92, S. 130.
226 Alfred Hrdlicka, in: Trautl Brandstaller 2008, S. 140.
10. Zum Verständnis von Hrdlickas Kunst
109
Abb. 54 Jan Matthys wird in 100 Stücke geschlagen, 1993
Fischl, Jonathan Meese, Karin Kneffel, Thomas Schütte
Schule« werden sich auf lange Sicht schätzungsweise
»Zyklus Wiedertäufer«; Nr. 7;
u. a., muss man feststellen, dass auch sie nicht ernsthaft
die wenigsten etablieren, schon jetzt leidet sie unter
Kohle, Kreide, Rötel, Pastell; 56 x 76 cm
an der Gestaltung von sinnlich-geistig, d. h. menschlich
einem »Burn-out-Syndrom«.227 Ins Schwarze trifft Peter
vermittelten Wirklichkeits-Phänomenen oder existen-
Gorsen, wenn er schreibt:
ziellen Befindlichkeiten interessiert sind. Bunt und iroAbb. 55 Der Todeskuß, 1970 »Zyklus Haarmann II«; Nr. 2; Ätzung, Kaltnadel, Wiegemesser und Mezzotinto geschabt, 40 x 49,9 cm
nisch steht das Harmlos-Schickliche der Medienoptik im
Wer allerdings in der momentanen Rückkehr zum ge-
Vordergrund. Was die Nachkriegskunst viele Jahre präg-
genständlichen Bild wie in der Malerei der Leipziger
te, gilt auch heute noch: Der schöne Schein stellt sich in
Schule oder im megalomanen medienästhetischen
seiner integralen Autonomie selbst aus. Man geht dabei
Fotonaturalismus ein Revival des kritischen Realismus
kein thematisches Risiko ein, weil eine marktorientierte Bilderwelt sich um ihre Nachfrage bringt, sobald sie es wagt, Erwartungen zu enttäuschen und »weh«zutun. Ob die Trittbrettfahrer angesagter »Moden« jedoch als Klassiker für spätere Generationen einst bedeutsam sein 110
10. Zum Verständnis von Hrdlickas Kunst
werden, bleibt abzuwarten. Von der »Neuen Leipziger
227
Vgl. Der Spiegel 26/2008, S. 156/157. Trotz Markterfolg und neo-surrealistischem Raunen muss natürlich die künstlerische Qualität von Malern wie Jonas Burgert, Peter Doig, Marlene Dumas, Neo Rauch, Daniel Richter oder David Schnell hervorgehoben werden.
zu erkennen meint, täuscht sich gründlich. Dinge und
1 0. 3 Wa r um K un s t üb er G ewa lt?
Körper, die sinnliche Erfahrung, werden vom materiellen Gebrauchs- und Lebenszusammenhang abgetrennt und in die Sphäre der Ironie, der subjektiven Projekti-
Sagen Sie, Sie haben da so eine eigenartige Vorliebe
onen und des ›dereïstischen‹ Denkens versetzt, wo sie
für Haarmann – sind Sie homosexuell, oder sind Sie ein
eine fetischistische Qualität bekommen.
Sadist, der es gern hat, wenn Menschen zerstückelt
228
werden?229 Die Analyse der antiklassischen Deformation von Hrdlickas leibbasierter Kunst hat gezeigt, dass die Form-
Was hat das Obszöne und Hässliche, was hat das unsäg-
gestalt nicht nur dem Temperament des Künstlers ge-
liche Grauen als Sujet und Thema in den »schönen Küns-
schuldet ist, sondern auch seinen Intentionen entspricht.
ten« verloren? Hrdlicka denkt dialektisch und weiß sich
Interessiert man sich für die psychologisierende Darstel-
via negationes mitzuteilen. Wenn er das menschliche
lung des Menschen, kann man nicht »abstrakt« arbeiten.
Leben in seiner verkümmerten, rudimentären Daseins-
Beabsichtigt man, grausame Schlächter und die geschun-
weise zeigt, dann liegt dem ein bestimmter Zeitbezug
dene Kreatur ins Bild zu setzen, kann man weder monu-
zugrunde: Die vollkommene Fülle und Einheit kann als
mental und idealisierend vorgehen noch modische Ob-
klassisches Ideal des anciens in der modernen, fragmen-
jekte produzieren. Hrdlicka verfolgt keinen bestimmten
tarischen Welt nicht mehr dargestellt werden, ohne un-
Stil als Selbstzweck. Er versucht, sich selbst, seine Gefüh-
glaubwürdig und anachronistisch auf den Betrachter zu
le, Gedanken und Erlebnisse auszudrücken. Seine expres-
wirken. Auch für Adorno ist das vollkommene und harm-
sive und autobiographische Kunst ist dabei immer gelei-
lose Werk Trug in einer Welt nach der Katastrophe, die
tet von strenger Selbstprüfung: Er befragt sein Werk auf
alles andere als vollkommen ist. Die Positivität des bloß
dessen allgemeingültige und politische Relevanz hin.
schönen Werkes ist ein falscher Trost, weil sie eine to-
Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit der Frag-
talitäre Verklärung des Bestehenden betreibt. »›Wahr‹
würdigkeit derart exzessiver Gewaltdarstellungen und
[…] nennt Adorno die Kunst, die die gesellschaftlichen
will zu einem allgemeinen Verständnis der ihnen zugrun-
Verhältnisse als ›negative‹, als entfremdete und verding-
de liegenden künstlerischen Absicht beitragen (vgl. Abb.
lichte erkennt.«230 Als Kind seiner Zeit entstammt Hrdlic-
54 und Abb. 55).
ka einer Epoche, die von Arbeitsteilung, Fachspezialisierung, Werte-Pluralismus und Perspektivismus-Theorien geprägt ist und innerhalb von nur 30 Jahren durch zwei Weltkriege in ihren Grundfesten erschüttert wurde.
228 Peter Gorsen: Die Emanzipation des Fleisches, in: Trautl Brandstaller 2008, S. 53.
229 Zit. nach Fried/Hrdlicka/Ringel 1986, S. 134. 230 Christoph Menke 1998, S. 7.
10. Zum Verständnis von Hrdlickas Kunst
111
Hrdlicka selbst litt unter dem Faschismus in Wien und
Supan formuliert dieses Phänomen wie folgt: »Die um-
kannte Verfolgung, Krieg und Gewalt. Gemessen an der
gebende Grenze, Todesdarstellung und tote Materie,
Realität des gewalttätigen 20. Jahrhunderts konnte für
fordert dazu auf, die Zeit des Lebens zu nutzen und den
ihn an Winckelmanns »Edle Einfalt und stille Größe« nur
Wert des Lebens zu achten. Wer das Dunkle wahrnimmt,
im Modus eines »Roll over« erinnert werden. Es empör-
wird den Glanz des Hellen umso intensiver empfinden
te und erschrak ihn zu Recht, dass die meisten Künstler
und ihn zu mehren sich bemühen.«231
seiner Zeit, in der Regel sensible und reflektierte Beobachter, das – um mit Ernst Fischer zu sprechen – »Gol-
Auf die Frage »Warum grausame Kunst?« antwortet
gatha des 20. Jahrhunderts« unthematisiert links liegen
noch ein weiterer Aspekt. Man denke an Aristoteles’
ließen. Statt Zeugnis über die Zeit abzulegen, frönten sie
»Poetik« und seine Idee von der läuternden bzw. hei-
ihrem Ordnungssinn und ironisch gemeinten Kreativi-
lenden katharsis (Reinigung). Der Begriff der katharsis
tätsschüben.
stammt aus der antiken Medizin und bezeichnet ur-
Dennoch kann auch realistische Kunst von Optimis-
sprünglich die Wirkung von Abführmitteln.232 Es emp-
mus getragen sein und die Versöhnung wollen. Um der
fiehlt sich daher, die befreiende Wirkung heftiger Mit-
Historie gerecht zu werden, muss sie das Glücksver-
leids- und Furchtaffekte (eleos und phobos) im Kontext
sprechen des Schönen negativ darstellen: als Zerfall der
der Kunst nicht zwangsläufig moralisch-didaktisch zu
vereinheitlichenden Form oder als Riss im klassischen
deuten. Durch den zivilisatorischen Verinnerlichungs-
Raum-Zeit-Gewebe. Der Entwurf »schöner« Verhältnis-
druck mittels der rationalistischen Dreifaltigkeit von
se muss in die Darstellung entfremdeter gekleidet sein.
instrumenteller Vernunft, technischem Fortschritt und
Darum wird der Betrachter dem Blick in den hässlichen
wirtschaftlicher Effizienz werden viele naturwüchsige
Abgrund von Verbrechen, Grausamkeit und Perversion
Emotionen wie Zorn oder die Lust an der Grausamkeit
ausgesetzt. Denn nur über die Offenheit dem Grauen
aufgestaut und abgeschoben. Dadurch können sie
gegenüber, nur über eine Kritik des Falschen, ist sich
unverarbeitet wuchern, schleichend schädigen, Teil
dem jeweils »Richtigen« anzunähern. Die abstoßende
einer Pathogenese werden oder direkt Verbrechen
Wirkung des von Hrdlicka zur Anschauung Gebrachten
stimulieren. Darum wäre es »nicht die schlechteste
betont das Anziehende des Gegenteiligen umso mehr.
Aufgabe von Kunstwerken, Gefäß zu sein für Affekte,
Gerade dieser Blick ins ganz Andere macht das eigene
die herausgelassen gehören wie die Körpergifte, die
Wohlbefinden als solches erst bewusst. Dem Naiven begegnet das Schöne als selbstverständlich und unantastbar. Der Leidgeprüfte erkennt es als seltenes und teures Gut. Die fiktionale Begegnung mit Leid trägt demnach zur Wertschätzung der Unversehrtheit bei und kann so112
10. Zum Verständnis von Hrdlickas Kunst
gar zu sozialem Engagement anregen. Helmut Börsch-
231
Zit. nach: Bringfried Naumann 1973, S. 3.
232
Vgl. zur Poetik Christof Rapp: Aristoteles, in: Ästhetik und Kunstphilosophie – Von der Antike bis zur Gegenwart in Einzeldarstellungen, hg. v. J. Nida-Rümelin u. M. Betzler, Stuttgart 1998, S. 23–35.
man in früheren Zeiten mit dem Aderlass zu drainieren
vielmehr um den genuin aristotelischen Gedanken des
hoffte«.
Ausgleichs, der Angemessenheit, des ausgewogenen
233
Über das Verschwinden von Gewalt, existenzieller
Maßes (mesotes) im Seelenhaushalt.
Bedrohung und einer Kultur des Sterbens und Todes
Diese psychologisch gedachte Anspruchshaltung ge-
aus der technisierten, virtuellen Alltäglichkeit schreibt
genüber Kunst lässt sich in verschiedener Hinsicht nu-
Baudrillard: »[…] aber wie man weiß, endet alles, was
ancieren – beispielsweise von Starobinski, der schreibt:
auf diese Weise verdrängt oder eliminiert wird, in einer
»Dem namenlosen Grauen einen Namen geben und es
bös artigen viralen Infiltrierung des Sozialkörpers wie
zu einem Gegenstand der Darstellung machen heißt,
des individuellen Körpers.«234 »Alles was verschwin-
das, was über unser Fassungsvermögen geht, in etwas
det, infiltriert unser Leben in kleinsten Dosen, die oft-
zu verwandeln, das wir beherrschen; heißt, dem Unsäg-
mals gefährlicher sind als die sichtbare Instanz, die uns
lichen eine Gestalt zu verleihen, mit der alsbald die Spra-
beherrschte.«
che ihr willkürliches Spiel treiben wird.«236
235
Aus diesem Grund darf die Bedeutsam-
keit kathartischer Kunst nicht unterschätzt werden. Die spielerische Entladung durch das Ventil der künstleri-
An Aristoteles anschließend, kommt nun ein letzter
schen Aufarbeitung, die Möglichkeit der Sublimierung ist
Aspekt zum Thema »Grausamkeit in der Kunst« zur Spra-
im Kontext der Zivilisation eine unersetzbare Leistung.
che. Abgesehen von den kathartischen Effekten grausa-
Sich das eigene, naturwüchsige »Barbarentum« selbst
mer Kunst und den zeitbezogenen Kontradiktionen zu
reflexiv einzugestehen und es fiktional auszuleben, trägt
idealistischer Beruhigungs-Kunst darf hinsichtlich einer
zu einem höheren Maß an Authentizität bei. Der »my-
ästhetischen Theorie zu Hrdlickas Œuvre der Verweis
thologische«
auf Friedrich Nietzsche nicht fehlen. Im Gegensatz zu
Aufklärungsprozess
kritisch-grausamer
Kunst ermöglicht eine Enthemmung und Entlastung des
Aristoteles’ Wirkungsästhetik handelt es sich bei Nietz-
In-der-Welt-seins, da die Last des Verdrängten und Un-
sche um einen produktionsästhetischen Ansatz. Da es
eingestandenen nachlässt.
um perspektivische Unterschiede geht, ist eine gegenseitige Ergänzung durchaus möglich.
Dieser Deutung zufolge kommt es Aristoteles weniger auf Zügelung und Reinigung an denn auf eine Aus
Der entscheidende Begriff bei Nietzsche ist der des
balancierung von Gefühlen und Trieben. Es geht nicht
Dionysischen, als Referenz-Literatur dient unter ande-
um eine platonisch-christliche Affektreduktion, sondern
rem »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«, in der er die These vertritt: Das Tragisch-Düstere
233 Durs Grünbein: Lüpertz oder der Überfluss, in: DIE ZEIT, Nr. 51, 10. 12. 2009, S. 54.
236 Jean Starobinski: Porträt des Künstlers als Gaukler, Drei
234 Jean Baudrillard 2008, S. 20.
Essays, übers. v. Markus Jakob, Frankfurt a. M. 1985,
235 Ebd., S. 17.
S. 110/111 [im Folgenden zit. als: Jean Starobinski 1985].
10. Zum Verständnis von Hrdlickas Kunst
113
und nicht der schöne Schein sei der »symbolische Aus-
das Zerbrechen alter Formen und Werte erst möglich.239
druck« dionysischer Kunst und dionysischer Weisheit.237
In der »Götzen-Dämmerung« schrieb Nietzsche:
Nietzsche versucht, das Phänomen des Dionysischen in der griechischen Kultur wiederzubeleben. Der wandern-
Damit es Kunst giebt, damit es irgendein ästhetisches
de Gott Dionysos sei der eigentliche Künstler-Gott und
Thun und Schauen giebt, dazu ist eine physiologische
Gegenpol zum apollinischen Sokrates. Er repräsentiert
Vorbedingung unumgänglich: der Rausch. Der Rausch
den orgiastisch-fruchtbaren Boden des entfesselten
muss erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine gestei-
Tanzes, des leidenschaftlichen Liebesrausches sowie –
gert haben: eher kommt es zu keiner Kunst. […] – Das
mit Nietzsche gesprochen – jeglicher kreativer »Entzü-
Wesentliche am Rausch ist das Gefühl der Kraftsteige-
ckungsspitzen«:
rung und Fülle.240
Mit dem Wort »dionysisch« ist ausgedrückt: […] das
Nietzsche sieht in der Berauschung – durch Sexualität,
leidenschaftlich-schmerzliche Überschwellen in dunk-
Grausamkeit, Wettkämpfe, Drogen oder einen leiden-
lere vollere schwebendere Zustände; ein verzücktes
schaftlichen, entpersonalisierten Willen – das ursprüng-
Jasagen zum Gesammt-Charakter des Lebens, als dem
liche Stimulans kreativer Zustände. Sie sind Schaffens-
in allem Wechsel Gleichen, Gleich-Mächtigen, Gleich-Se-
bedingung dionysischer Kunstproduktion. Sinnbildlich
ligen; die große […] Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit,
stellt sich Nietzsche das Kunstwerk als Eruption einer
welche auch die furchtbarsten und fragwürdigsten
erregten Welt- und Selbsterfahrung vor.
Eigenschaften des Lebens gutheißt und heiligt, aus ei-
Hrdlickas »dionysische« Kunst zeugt in diesem Sinne
nem ewigen Willen zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur
von »hässlichen« Grundbefindlichkeiten des Menschen,
Ewigkeit heraus: als Einheitsgefühl von der Nothwen-
die im alltäglichen Betrieb der Besorgungen brachlie-
digkeit des Schaffens und Vernichtens […].
gen. Der »Wahrheitstrieb« des dionysischen Menschen
238
Im Augenblick des Rauschzustandes, einer dionysischen Ekstase, wird für Nietzsche der Gedanke von der ewigen Wiederkunft erahnt und bejaht, ist visionäres Schaffen,
239 Nietzsche zufolge würden wir in »dionysischer Entzückung« die ewige Daseinslust des Weltwillens ahnen, der wahrer sei als jede vereinzelte Erscheinung (Friedrich Nietzsche GT, S. 109). Vgl. dazu Günther Wohlfart: Friedrich
237
Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem
Nietzsche, in: Ästhetik und Kunstphilosophie – Von der
Geiste der Musik [1872], KSA 1, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzi-
Antike bis zur Gegenwart in Einzeldarstellungen, hg. v. J.
no Montinari, München 2007, S. 108 [im Folgenden zit. als: Friedrich Nietzsche GT]. 238 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 114
10. Zum Verständnis von Hrdlickas Kunst
Nida-Rümelin u. M. Betzler, Stuttgart 1998, S. 578–584. 240 Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophiert, Streifzüge eines Unzeit-
1888, 14 [14], KGW, Achte Abteilung, Bd. 3, Berlin/New
gemässen 8 [1889], KGW, Sechste Abteilung, Bd. 3, Berlin
York 1972, S. 16.
1969, S. 110.
will diese bergen und sich dazu bekennen, dass der
Entscheidend an Hrdlickas werkimmanenten Verwei-
Machtwille des Subjekts und die Auslebung der indivi-
sen auf dionysische Dimensionen und Befindlichkeiten
duellen Wirkkraft mitunter von grausamen Instinkten
im Menschen ist nicht nur, dass aus ihnen heraus Kunst
getragen sein können. Wenn diese aktiven Energien je-
produziert wird und dieses Schaffen im Sinne der Sub-
doch nicht nur in vitalistischem Eifer bejaht, sondern im
limierung notwendig ist. Erfahren kann der Betrachter
Rahmen der Menschenrechte auch lebbar sein sollen,
und Interpret auch, dass jene aggressiven Stimmungen
bietet sich dazu nebst dem Sport vor allem die Kunst an.
nach einer ganz spezifischen Kunst verlangen: nach
Nietzsches Idee ist, dass der denkende Künstler, der mit
expressiver Kunst. Das anthropologisch virulente Krie-
seinen Händen Welten schafft und zerstört, noch stolz
ger- und Barbarentum kann nicht in linear-beruhigter,
dem »Kriege, dem Herumschweifen, dem Abenteuer«
241
sondern ausschließlich in expressiver Kunst zur Geltung
nachgehen kann. Der Bildhauer als Typus ist ein Mensch,
kommen: In den Deformationen gestischer Malerei, den
der mittels Kunst, in effigie, die Kriegs- und Kampfeslust
wuchtigen Werken aggressiver Bildhauer und in nervö-
des zornigen Ringens und Zerstörens innerhalb unserer
sen Schwarz-Weiß-Kontrasten energischer Metallplat-
geltenden Rechtsordnung leben kann. Der Stein, auf
ten-Ritzer.
den er einschlägt, ist sein feindlicher Widerstand. Gezeichnete Menschen können ausradiert, Marmorbeine abgeschlagen werden. Im Falle des glücklichen Sieges über das Ungeheure und Formlose entsteht eine neue Ordnung – eine erhabene Ordnung, sofern sie das Leben zeigt.
241
GM, II 16, S. 322.
10. Zum Verständnis von Hrdlickas Kunst
115
11. Ausdrucksgehalt des Zyklus »Wie ein Totentanz«
11.1 Ko mp et e nze n d er »sch ö n en Küns te«
lus will etwas mitteilen, und zwar ohne Prunk und Feierlichkeit – weiß auf schwarz und schwarz auf weiß. Alles Unwichtige und Dekorative lässt er entschieden beiseite
Wie war das möglich? Sobald die Sprache auf den Zwei-
oder streicht es durch. Oft genügt die skizzenhafte An-
ten Weltkrieg kommt, ist man versucht, Drittes Reich,
deutung. Verkörpert »Wie ein Totentanz« einerseits die
Auschwitz etc. als unfassbare Entgleisung abzutun, nie
Weigerung zu schweigen und zu vergessen, entzieht er
und nimmer wiederholbar in unseren Breitengraden,
sich andererseits allem verobjektivierenden Weg-Erklä-
uneinfühlbar und letztlich ein riesiges Missverständnis.
ren. Die der Kunst eigene Offenheit ist auch Hrdlickas
[…] Ganz gleich, ob man es als ästhetisches oder psy-
Radierungen inhärent und fordert den Betrachter zum
chologisches Phänomen einstuft, es fällt auf, daß die
Mitdenken auf.
Gegner von Krieg und Unterdrückung durchaus fähig
Doch wie gelingt es dem Künstler, den Betrachter
sind, dies in der Bildnerei darzustellen, jene aber, de-
anzusprechen? Er muss das Dargestellte so zeigen, dass
nen dies Lebenselixier ist, unfähig. Die ganze Blut-und-
jener sich einsehend einfühlen kann. Das heißt, der Gra-
Boden-Kunst hat nichts hervorgebracht, was sich mit
phiker steht vor der Aufgabe, die menschliche Figur und
Picassos ›Guernica‹ messen könnte.242
das Geschehen, in dem sie steht, so suggestiv zu gestalten, dass nicht nur Striche und Linien, Flecken und
Hrdlickas Zyklus kann weder als schmückendes Wand-
Flächen zu sehen sind. Es sind Dynamik und Bewegung
dekor noch als Illustration der Geschichte verstanden
des Gestalteten, die das tote Blatt beseelen.243 Dem In-
werden. Seinem Wesen nach begegnet er dem Betrach-
terpreten stellt sich zunächst die Frage, ob Hrdlicka sein
ter als anregende Memorial- und Daseinskunst. »Wie ein Totentanz« dient im Verbund mit dazugehörigen Texten dem intellektuellen, überzeitlichen Austausch. Der Zyk-
243 Schon Rembrandt wies darauf hin, wenn er 1639 in einem Brief an seinen Förderer Constantijn Huygens von der größten und natürlichsten Bewegung spricht – »die meeste ende naetuereelste beweegelickheit«; in: AK Kassel:
242 Alfred Hrdlicka: Die Ästhetik des automatischen Faschismus [1983], in: LEWIN IV, 166, S. 180 ff.
Rembrandts Landschaften, hg. von Gregor J. M. Weber, Museum Schloß Wilhelmshöhe, Kassel 2006.
11. Ausdrucksgehalt
117
Bild davon, wie es den am Krieg beteiligten und von ihm
sizistischer Ästhetiken oder deren Negations-Varianten.
betroffenen Menschen ergangen sein mag, aus seiner
Entscheidend ist vielmehr: Die Form-Gestalt muss dem
Vorstellung auf das Blatt übersetzen konnte.
Gehalt entsprechen.244
Mit Blick auf die Einzelinterpretationen der Kapitel
Der Juli-Zyklus löst weder »interesseloses Wohl
4 bis 7 zeigt sich, dass umfangreiche Interpretationen
gefallen«245 aus, noch vermittelt er »edle Einfalt und
möglich sind – selbst wenn im Rahmen dieser Arbeit der
stille Größe«246. Auf diese Weise vermeidet er die Ästhe
eine oder andere Aspekt nur angedeutet werden konn-
tisierung des Schrecklichen oder einen »Todeskult«,
te. Auf komisch-karikierende Graphiken (Blatt 22, 39)
in dem immer schon die Bereitschaft zum Krieg mit-
folgen schockierende (48, 53). Sie sind aufrüttelnd, wer-
schwingt.247 Stattdessen rückt Hrdlicka das Fremde des
fen Fragen auf und verlangen nach Interpretation. Vieles
Vergangenen wieder näher an die Gegenwart heran. Der
verliert sich im Dunklen und Diffusen. Doch die Grau-
folgende Abschnitt stellt die Frage, worin dieses Fremde
samkeiten des Krieges werden dem Betrachter stets
besteht.
schonungslos vor Augen geführt – in einer Drastik, der selbst filmische Dokumentationen über die NS-Zeit oft ausweichen. Hrdlickas Graphiken sind bei aller subjektiven Zuspitzung um existenzielle Authentizität bemüht. Man sieht sterbende Soldaten, die sich übergeben, Tote, denen Blut aus dem Mund fließt, und Hinrichtungsopfer, die Todesagonien durchleiden. Die Radierungen widersetzen sich konsequent einem beruhigenden »Kunstgenuss«, weil dieser dem Werkgehalt nicht gerecht werden würde. Die meist um Attraktivität bemühten »schönen Künste« sind in diesem Fall abstoßend. Jedoch nicht im Sinne der Provokationsästhetiken des 20. Jahr-
keitsverweis, Moralität oder Freiheitsbewusstsein – und später bei Nietzsche – qua Vitalität: Konrad Paul Liessmann: Der hässliche Mensch, Ästhetische Streifzüge durch
lien, deren laute Gesten oft Selbstzweck waren. Man
das entstellte Gesicht, in: Jürg Meyer zur Capellen/Christi-
in erster Linie keine Auseinandersetzung mit den Konventionen der Kunstgeschichte, sondern mit der condition humaine. Dabei kann sich die Darstellung aus Hass handelnder Menschen nur in »hässlicher Kunst« manifestieren. Kunst muss nicht entweder nur schön oder 11. Ausdrucksgehalt
Ikonographie, Kant und Rosenkranz – qua Vergänglich-
hunderts, deren schimmelnde und stinkende Materiamag es anachronistisch finden, aber Hrdlickas Kunst ist
118
244 Vgl. zur Nobilitierung der Hässlichkeit durch die christliche
nur hässlich sein. Das sind Irrmeinungen griechisch-klas-
ne Pielken/Daniela Winkelhaus-Elsing (Hg.): Alfred Hrdlicka – Ästhetik des Grauens – Die Wiedertäufer, Münster 2003, S. 32–39. 245 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft [1790], Werkausgabe, Bd. 10, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1974. 246 Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst [1755], Baden-Baden 1962. 247 Vgl. Dietrich Schubert 1985.
11.2 D i e Wi d e r s tands be we gung
ren der deutschen Bevölkerung gegen ihre »Regierung«. Angesichts der Aussichtslosigkeit des Zweifrontenkrieges wollte die preußische Militäraristokratie – spät und
Das große Geheimnis ist nicht das Böse. Nein, es ist
zögerlich – den Nazis die politische Führung ab- und
die Frage, warum es noch unter den schlimmsten Um-
sie selbst übernehmen. Weder die viel beschworene
ständen immer einzelne gibt, die sich nicht bloß dem
Zivilcourage noch heldenhafter Widerstand aufgrund
Mittun verweigern, sondern Leib und Leben aufs Spiel
moralischer Überlegungen sind Gegenstand des Zyklus,
setzen für Zwecke und Ideen, die wir summarisch »das
sondern der versuchte Staatsstreich einer kleinen mi-
Gute« nennen.248
litärischen Opposition zu einem Zeitpunkt, als sich abzeichnete, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war,
Den historischen Hintergrund des Zyklus »Wie ein To-
als Luftangriffe deutsche Städte zerstörten und Ernäh-
tentanz« bildet die NS-Politik und die Nazi-Ideologie
rungsschwierigkeiten in der Heimat zunahmen.250
mit ihren »Konsequenzen« der Massenvernichtung von Juden, politisch Andersdenkenden, Deserteuren und
Hrdlicka arbeitet die Verschwörer plastisch heraus,
Dissidenten. Die Graphiken stellen neben der Grausam-
sprich er verschleiert nicht deren Schattenwurf. Neben
keit der Herrschenden im »Dritten Reich« das Leid jener
den systemischen Problemen des Militarismus zeigt er
dar, die sich ihm entgegenstellten. Im Ganzen betrach-
die individuelle Feigheit und zögerliche Halbherzigkeit,
tet steht jedoch der lange Prozess des Untergangs des
das Eigeninteresse und die karriereorientierte Ange-
preußischen Militarismus im Zentrum, in den sich sowohl
passtheit vieler Generäle. Risikobereitschaft, Mut und
der Atavismus der »Militärdiktatur« als auch der geschei-
Entschlossenheit – trotz des Fahneneids – legten nur
terte Generals-Aufstand vom 20. Juli einreihen.249 Der
Einzelne an den Tag. Viele handelten selbst dann noch
Attentatsversuch war keine Revolte der Opfer. Er war
zögerlich, als man immer mehr über das gesamte Aus-
weder eine Widerstandsbewegung jüdischer oder kom-
maß der Verbrechen in den besetzten Ostgebieten
munistischer Zivilisten noch ein moralisches Aufbegeh-
erfuhr. Erst das Scheitern des »Unternehmens Barbarossa« im Winter 1941/42 vor Moskau und insbesonde-
248 Franziska Augstein: Taten und Täter, in: Hannah Arendt ÜdB, S. 194 f. [im Folgenden zit. als: Franziska Augstein 2008].
re die Niederlage von Stalingrad im Winter 1942/43, als von 290 000 deutschen Soldaten nur etwa 5 000 in ihre Heimat zurückkehrten, verbreitete Hoffnungslosigkeit.
249 Zum Nachdenken regt die These des Politologen Zbigniew Brzezinski aus dem Jahr 1968 an: »Revolutionen sind oft die letzten Zuckungen der Vergangenheit und in Wirklich-
250 Die Pläne und Überlegungen der Militäropposition zwi-
keit daher gar keine Revolutionen, sondern Konterrevo-
schen 1938 und 1942 unterscheiden sich in ihrer handlungs-
lutionen, die im Namen von Revolutionen operieren« (Zit.
orientierten Perspektive grundlegend von den Attentats-
nach Hannah Arendt MuG, S. 91).
versuchen ab 1943.
11. Ausdrucksgehalt
119
»Die Bindung an den auf den Führer geleisteten Eid
Selbst wenn das Attentat geglückt wäre, hätte das
und das der Tradition verhaftete Denken der Militärs,
noch längst kein Gelingen des Staatsstreiches gewähr-
die Furcht vor einer zweiten ›Dolchstoßlegende‹, ge-
leistet. Abgesehen davon, dass die einsamen Verschwö-
gensätzliche politische Grundeinstellungen und unter-
rer nicht von der öffentlichen Meinung, der »Volks-
schiedliche geistige Prägung der oppositionellen Grup-
stimmung« getragen wurden, fehlten Stauffenberg
pen waren weitere Gründe, frühere Putschversuche zu
insbesondere führende Frontgeneräle als Verbündete.255
verhindern«, so Edward Korpalski.
Die Kaste der ab 1943 über 1 000 Generäle der Militärdik-
251
Graf von Stauffenberg war einer der wenigen, die
tatur entwickelte eine Eigendynamik, die auf Selbster-
konsequent und aus moralischen Motiven handelten.
haltung und »Gemeinschaftsgefühle« geeicht war. Dazu
Er machte die »Wandlung zum Zivilisten durch, der nur
schrieb Hrdlicka: »Der Staatsstreich vom 20. Juli wurde
dem eigenen Gewissen verantwortlich ist«252, ohne
von Militärs niedergeschlagen, der Parteiapparat der Na-
dabei zum Grübler und Zauderer zu werden. Wie auch
zis war nicht mehr als interessierter Zuschauer.«256 Auf
Dietrich Bonhoeffer muss er zu der Überzeugung ge-
die »Stunde der Offiziere« legte sich der lange Schatten
langt sein, dass allein in der Tat Freiheit zu finden ist.
der Opportunisten.
253
Doch Hrdlicka verfällt keineswegs in Personenkult und
Der Widerstand gegen die Naziherrschaft scheiterte.
Idolatrie. Auf das bereits angeführte Zitat zu Blatt 6 sei
Stauffenberg und seine wenigen Verbündeten wurden
an dieser Stelle erneut verwiesen: »Der Zyklus zum 20.
ans Kreuz ihrer eigenen Courage genagelt. Ihr Mut war
Juli ist bei allem Respekt für jene Männer, die es wagten,
nicht sinnlos, blieb aber ergebnislos, nicht zuletzt weil
sich gegen ein barbarisches Regime zu erheben, nicht
er machtlos war. Dass damit gerechnet wurde, zeigt ein
als verspätete Heldenehrung gedacht, er ist vielmehr
Ausspruch des Generalmajors und antreibenden Mitver-
eine Warnung vor falschen Leitbildern. Selbst Stauffen-
schwörers Henning von Tresckow. Im Juni 1944 formu-
berg und seine Freunde waren lange Zeit der Ansicht,
lierte er:
das deutsche Wesen werde an der militärischen Disziplin genesen.«254
Das Attentat auf Hitler muß erfolgen, um jeden Preis. Sollte es nicht gelingen, so muß trotzdem der Staats-
251
Edward Korpalski 1997, S. 67.
252 Wieland Schmied: Wie ein Totentanz, in: AK Berlin 1975,
streich versucht werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die
S. VII. 253 Vgl. Dietrich Bonhoeffers Gedicht »Stationen auf dem Wege zur Freiheit«, in: AK Berlin 2002, S. 22. 254 Text 6. Auf die Verwurzelung der idealisierten Widerstandskämpfer in den Denkmustern des Militarismus und auch der NS-Ideologie wies davor schon Hans Mommsen 120
11. Ausdrucksgehalt
hin. Vgl. ferner Kapitel 4.2 dieser Arbeit.
255 Zum Attentat bereit waren neben Stauffenberg lediglich: Kurt Frh. v. Hammerstein-Equord, Axel Frhr. v. dem Bussche, Eberhard v. Breitenbuch, Christoph Frhr. v. Gersdorff, Ewald-Heinrich v. Kleist-Schmenzin, Fabian v. Schlabrendorff, Henning v. Tresckow. 256 Text 30.
deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor
Zeit vor der Entstehung von »Wie ein Totentanz«. Den-
der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entschei-
noch hätte Hrdlicka neben den Blättern zu Wagner und
denden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben
Weininger eine neue Haarmann-Radierung in seinen Zy-
gleichgültig.
klus aufnehmen können. Ferner ist das wichtige 4. Blatt
257
Die Selbstendlösung (Otto Weininger), dessen Erörterung in Abschnitt 5 erfolgte, keine Versubjektivierung der Nazi-Verbrechen. Die Beschäftigung mit den Gefahren von
11.3 Rech t und Ge walt
Minderwertigkeitskomplexen, romantischem Todeskult, suizidaler Resignation und einer Entladung des Selbsthasses nach außen eröffnet ein Themenfeld, bei dem es
Neben der historischen Dimension des Zyklus steht ein
lediglich um den Versuch einer Klärung von bestimmten
eher diskursiver Aspekt im Zentrum des Werkes. Ge-
Voraussetzungen geht. Diese haben nicht unbedingt et-
meint ist das allgegenwärtige Phänomen der Gewalt
was mit dem Wesen einer Sache gemein.
bzw. der Grausamkeit. Ersterer begegnet Hrdlicka auf
Die Graphiken zum 20. Juli konzentrieren sich in ihrer
komplexe Art und Weise. Viele seiner – christlich gepräg-
Gesamtheit auf politische Verantwortungslosigkeit in
ten – Interpreten postulieren die Schuldigkeit des Ge-
einem menschenverachtenden System und problemati-
walttätigen. Autoren wie Friedhelm Mennekes sind der
sieren Gefahren und Grenzen der Staatsräson und des
Ansicht, Hrdlicka zeige »das Böse« der Gewalt. Jedoch
Militarismus. Dessen Organisationsform ist der Mecha-
durchleuchtet er vielmehr das ambivalente Verhältnis
nismus von Führerbefehl und Kadavergehorsam. Darin
zwischen Opfer und Täter »jenseits von Gut und Böse«.
wurzelt das entscheidende Problem, da dies zur Legali-
Die angeblichen Pole sind gerade nicht als solche ausein-
sierung selbst der kriminellsten Handlung führen kann.
anderzudividieren, sondern man muss, wie die Geschich-
»Verantwortlich war jeder seinem Vorgesetzten, und
te zeigt – und Hrdlicka an ihr –, von einer ineinander ver-
somit war niemand verantwortlich, da jeder Vorgesetzte
schränkten Allianz ausgehen.
wieder einen Vorgesetzten hatte, und dem allerobers-
Der Zyklus zum 20. Juli zeigt weniger die Patholo-
ten Führer die Vorsehung den Auftrag erteilte.«258 In
gie der Gewalt. Dies leisten insbesondere die Plastiken,
einer Militärmaschinerie ist jede Tat immer nur eine Be-
Skulpturen und Radierungen zum Lust- und Massen-
fehlsausübung, ob es dabei um das Reinigen der Stiefel
mörder Friedrich Haarmann. »Wie ein Totentanz« ist in
geht oder um die Exekution anderer Menschen. Selbst
seiner Anlage politischer. Hrdlickas viel zitierte Aussa-
Letzteres wurde mit sachlich-perversem Verwaltungs-
ge, der Haarmann-Zyklus sei sein politischster Zyklus, stammt wohlgemerkt aus dem Jahre 1973, also aus einer
258 Text 11. Hannah Arendt würde in diesem Fall von »Niemandsherrschaft« sprechen, vgl. Hannah Arendt MuG,
257
Zit. nach Peter Hoffmann 2009, S. 412 f.
S. 39 f
11. Ausdrucksgehalt
121
aufwand organisiert, anders wäre die »Hypertrophie der
gen« und Stärkeren. Die Selbstherrlichkeit der angepass-
Massenvernichtung«
nicht zu bewerkstelligen gewe-
ten Mehrheit geht immer einher mit der Unterdrückung
sen. Man muss wissen, dass viele Wehrmachtssoldaten
und Terrorisierung von Minderheiten. Darin besteht für
und SS-Männer sich als »Opfer einer Aufgabe«, als »Räd-
Hrdlicka das Wesen des Faschismus.261 Sowohl die »Elite«
chen im Getriebe« verstanden und sich bedingungslos
des preußischen Militärstabs als auch das »aufgeklärte«
dem Dienst an eine höhere Sache unterstellten. Diese
Bürgertum waren eingeschüchtert und gehemmt, als es
höhere Sache war »eine systemische Logik, die auf Ge-
darum ging, die Kraft zum Widerstand gegen ihren Un-
walt und Vernichtung zielte«.
259
Die Nazis trennten ihre
rechtsstaat in vollem Umfang zu mobilisieren. Und sie
eigene Person von ihren pflichtgetreuen Handlungen,
waren es selbst dann noch, als ihre eigene Angelegenheit
von der »notwendigen« Tötung der »Feinde«. Man kann
bedroht war: die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft.
daraus schließen, dass der humanistische Sinn für das
Die Konsequenz von Hrdlickas Aussage, alle Macht gehe
freie Individuum, die Anstrengung der Selbstreflexion
vom Fleisch aus, scheint nicht zuletzt darin zu liegen, dass
und die Bereitschaft, sich der »kommunikativen Ver-
der Mensch in seiner Leiblichkeit ein »Naturrecht« auf
nunft« zu stellen, als Bedingungen für die Bildung eines
Gewalttätigkeit und damit »Immoralität« gegenüber re-
Widerstandsgeistes angesehen werden müssen. Es gibt
pressiver Ordnung und – bezüglich der Menschenrechte
Phänomene, an denen sich bestimmte Notwendigkeiten
– rechtswidriger Moralität besitzt.262 Je nachdem wie das
besonders gut abzeichnen. Das Beispiel der inneren Lo-
»positive Recht« beschaffen ist, geht er damit das Risiko
gik eines totalitären Systems, das nicht auf Individuen,
ein, für sein Handeln ins Gefängnis zu müssen oder gar
sondern auf Massen setzt, macht die Bedeutung eines
erhängt zu werden. Doch die Natur dürfe und müsse sich
Verfassungsstaates deutlich, der »Verantwortungsge-
gegen die Herrschaft der instrumentellen Vernunft zur
rechtigkeit« ermöglicht. Das heißt eines Staates, der die
Wehr setzen. Nach 1945 setzte sich in Deutschland die
politische Möglichkeit schafft, dass jeder Einzelne für
Einsicht durch, dass das positive Recht einer bürgerlichen
sich und sein Umfeld Verantwortung übernehmen kann
Gesellschaft in bestimmten Fällen ein Recht, wenn nicht
und diese damit faktisch auch trägt.
sogar eine Pflicht zum Widerstand implizieren muss: Ge-
260
Was Hrdlicka an den Hierarchie-Strukturen des ostina-
setze, welche die Freiheit der Menschen nicht sichern
ten Militarismus aufzeigt, ist der »Übermut der Mächti-
oder erweitern, sondern willkürlich belasten, einschränken oder gar negieren, sind rechtswidrig.263 Schließlich
259 Alfred Hrdlicka/H. G. Behr: Der Klotz bleibt, aber er wird zum antifaschistischen Mahnmal, in: KONKRET (München),
261 Vgl. Fried/Hrdlicka/Ringel 1986, S. 142–144.
no. 12/1983, S. 92, zit. nach: Dietrich Schubert: Die Verant-
262 Vgl. Peter Gorsen: Die Emanzipation des Fleisches, in:
wortung der Kunst – Alfred Hrdlickas antifaschistisches Denkmal in Hamburg, in: Forum Wissenschaft, 5. Jg., 1988, Heft 1, S. 20–25. 122
11. Ausdrucksgehalt
260 Franziska Augstein 2008, S. 194.
Trautl Brandstaller 2008, S. 54. 263 Vgl. Artikel 20 GG. Bahnbrechend in Bezug auf den rechtlichen Status des Widerstands gegen das NS-Regime wirkte die rechtstheoretische Argumentation des Heidelberger
basiert seit dem 18. Jahrhundert die Legitimation von
man damit indirekt in die homo-sacer-Logik der Ausgren-
Gesetzen auf den Menschenrechten, die wesentlich Frei-
zung zurückfällt.264 Das heißt, es bedarf eines externen
heitsrechte sind. Sie gewährleisten die Konstitution einer
Maßstabes, anhand dessen das Töten von »jüdisch-bol-
bürgerlichen Gesellschaft. Diese ist nur sie selbst, solan-
schewistischen Untermenschen« verboten, der »Tyran-
ge sie Freiheit und Würde aller Bürger achtet. Gesetze,
nenmord« erlaubt und der »Märtyrertod« verehrungs-
die ein Subjekt zum Objekt der Willkür machen, ziehen
würdig ist. Die »Würde des Menschen« leistet dies nur
die Pflicht zum Widerstand nach sich.
bedingt, weil diese erstens eine Definition voraussetzt, welche Zugehörige von Ausgeschlossenen scheidet, und
Mag Gewalt in Ausnahmefällen für kurzfristige Ziele »ra-
weil man zweitens im Falle des Tyrannenmordes den ei-
tional« rechtfertigbar sein, bleibt doch das grundsätz
nen Toten mit den vielen Toten verrechnen muss. In allen
liche Engagement für eine gewaltlose Konfliktlösung
drei Beispielfällen wird der eigene oder der fremde Tod
ein Hauptanliegen von Hrdlickas Kunst. Während seine
zu einem Mittel für einen »höheren Zweck«. Peter Gor-
Werke oftmals das Fehlen von Macht hervorheben, im
sens Kommentar zum Zyklus der Französischen Revolu-
Sinne des solidarischen Handelns von Individuen for-
tion gilt somit auch für »Wie ein Totentanz«:
dern sie dazu auf, die paradoxe Struktur jeder »vernünftigen« Legitimation von Gewalt zu reflektieren. Andern-
Hrdlicka lehnt die propagandistische Verherrlichung
falls hätte Hrdlicka die Gewalt in seinem Œuvre nicht auf
der Revolution und der Revolutionäre ab. Partei zu
derart drastische und abschreckende Weise anschaulich
ergreifen für die eine oder andere Seite der Gewalt er-
gemacht und er hätte auch nicht unablässig die Einsicht
scheint ihm lächerlich, daher »ist eine Spur Zynismus in
thematisiert, dass Gewalt Gegengewalt erzeugt. Denn
meinem Zyklus«. Er finde für sich keine Funktion in der
bei der These, dass es ein Töten gebe, das kein Morden
Revolution und sehe sich heute in der Lage, die Revolu-
sei, handelt es sich um einen abgründigen Ansatz, weil
tion in ihrer Dialektik von Freiheit und Schrecken zu demolieren. Man müsse sehen, wie der Terror sich »aufgeschaukelt« hat, wenn zu den »Septembermorden«
Juristen Gustav Radbruch, derzufolge das positive Gesetz
die erste »Nationalhymne« der Revolution intoniert
den Maßstäben des »übergesetzlichen Rechtes« gerecht
wurde. »Ça ira, ça ira, les aristocrates à la lanterne!!!«265
werden müsse. 1952 setzte sich der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer im Braunschweiger Remer-Prozess grundlegend für das Widerstandsrecht und die Rehabilitierung der Männer des 20. Juli ein. Vgl. Wassermann, Rudolf: Widerstand als Rechtsproblem, Zur rechtlichen Rezeption des Widerstandes gegen das NS-Regime, in: Ueberschär,
264 Vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer, Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt a. M. 2002. 265 Peter Gorsen: Hrdlicka Sansculotte – Bildkommentare zum
Gerd B. (Hg.): Der 20. Juli 1944, Bewertung und Rezeption
Zyklus der Französischen Revolution, in: Alfred Hrdlicka,
des deutschen Widerstandes gegen das NS-Regime, Köln
Die große Französische Revolution, Wien 1989, S. XXV–
1994, S. 203–213.
XXXI, hier S. XXX.
11. Ausdrucksgehalt
123
1 1 . 4 N o c h ei n »T oten ta n z « ?
doch nicht im Sinne der Bildpredigten christlicher To-
Bisher stand die Untersuchung des Ausdrucksgehalts des
»Wie ein Totentanz«. Ihm geht es weder um den Tod
Zyklus »Wie ein Totentanz« hinsichtlich der geistesge-
als »Strafe« eines zornigen Gottes noch um den natür
schichtlichen Wurzeln des Faschismus im 19. Jahrhundert
lichen Tod durch Krankheit oder Alter und ebenso wenig
sowie der von Gewalt, Furcht und Grausamkeit geprägten
um eine Vergegenwärtigung der Endlichkeit im Werden
Ereignisse um den 20. Juli 1944 im Zentrum der vorliegen-
und Vergehen alles Lebendigen im Sinne des christlich-
den Arbeit. Im Folgenden wird unter Rückgriff auf Kapitel
barocken memento mori. Die Konzeption eines unter-
6.2 der Titel des Zyklus genauer betrachtet. Sein Verhält-
schiedslosen und »gerechten« – da niemanden über-
nis zum mittelalterlichen Topos des Totentanzes will klar
gehenden – Todes, der aufgrund seiner Sinnhaftigkeit
bestimmt sein. Die kunsthistorische Vorliebe für angebli-
ein Trostpotenzial impliziert, ist aufgehoben. Hrdlicka
che Traditionen, konstruierte Kausalitäten, spitzfindige
zeigt die Gewalt am Gewaltlosen, den mordenden Men-
Ableitungen und Subordinationen trägt in der Regel we-
schen und die Dekonstruktion seiner »Menschlichkeit«.
nig zum Verstehen des speziellen Werkes bei. Zumindest
Er empört sich über die Entwertung und Vernichtung
müssen diese Zusammenhänge sorgfältig geprüft wer-
von Menschen. Des Todes Zeichen sind nicht Sense und
den. Ein möglicher Zusammenhang von Hrdlickas Zyklus
Stundenglas, sondern Hakenkreuz, Machtgier und In-
mit der Tradition des Totentanz-Motivs besteht in seiner
toleranz. Hrdlickas Totentanz-Paraphrase ist Ausdruck
Präsentationsform: Einige der mittelalterlichen Totentän-
der Bedrohung durch männliche Gewalt. In dem Zyklus
ze kombinieren die bildhaften Darstellungen mit Texten
ist der Mensch des Menschen Tod. Wesentlich ist nicht
– ebenso wie Hrdlicka.
mehr das »Gedenke, dass du sterben musst«, sondern
266
Auch im Prinzip »Bildergeschich-
te« kann ein gemeinsamer Nenner gesehen werden.
tentänze. Darum nennt Hrdlicka seinen Zyklus auch
ein »Gedenke, dass du zu morden vermagst«. Vor allem
Jedoch stellt der Juli-Zyklus keine fiedelnden Kno-
in kriegerischen Zuständen kann der Mensch seinem
chenmänner dar, sondern die grausamen Verbrechen
Mitmenschen tatsächlich zum »Wolf«267 werden – d. h.
des Faschismus. Mit »Wie ein Totentanz« reiht Hrdlicka
er kann zum Unterdrücker und Folterer werden. Folgt
sich nicht in den allegorischen Reigen der Toten ein. Wer
daraus ein pazifistisches Postulat? In seiner Eigenschaft
im Zyklus zum 20. Juli einen »symbolistischen« Toten-
als Kunstwerk lässt der Zyklus Fragen wie diese letztlich
tanz oder ein »deutsches Singspiel« sieht, verharmlost
offen – offen zur Auseinandersetzung und individuellen
die Historie. Auf den Graphiken grinsen keine Schädel,
Beantwortung für jeden Einzelnen, der sich ihnen stellt.
es turnen keine lebendigen Gebeine durchs Bild, und zum Tanzen der Skelette bleibt auch keine Zeit. Stattdessen wird gemordet. Der Tod ist durchaus präsent,
267 Um an das berühmte Diktum »homo homini lupus est« zu erinnern. Vgl. Thomas Hobbes: Vom Menschen, Vom Bürger [De cive, 1642], Elemente der Philosophie 2/3, hg, v.
124
11. Ausdrucksgehalt
266 Vgl. Friedrich Kasten 1985.
Günter Gawlick, Hamburg 1994.
11.5 Fazi t Blickt man zurück auf die Dramaturgie des Zyklus, auf Hrdlickas Texte und die vorgenommenen Einzelinterpretationen, wird deutlich, was der Zyklus zum 20. Juli nahelegt: Es gibt einen Konnex der Gründe für das Scheitern des Attentats und der Voraussetzungen für den »Nationalsozialismus«. Zum einen denkt Hrdlicka dabei an militärische Disziplinierung: Dafür steht exemplarisch Blatt 1 Casanova am Hof Friedrichs des Großen. Zum anderen verweist er auf die morbide »Tiefe« der Romantik, auf verklärten Selbsthass und Vernichtungswahn. Dieses Thema behandeln die Radierungen 3 und 4 über Wagner und Weininger. Der Geist des 19. Jahrhunderts spielte sich nicht nur in Potsdam, Weimar und Wien ab. Vor allem aber endet er nicht mit der Jahrhundertwende. Hrdlicka regt den Betrachter seiner Radierungen an, über sozialpsychologische und politische Folgen nachzudenken – und nicht zu glauben, mit Chile 1974 sei alles vorüber.
11. Ausdrucksgehalt
125
12. Historische Positionierung des Gesamtwerkes
Die Kunst selbst existiert in der Moderne nur auf der
und nachträglich legitimierenden Kunsttheorien geführt
Grundlage ihres Verschwindens […]. Eben darin wurde
haben.
sie zum Ereignis […], heute ist die Kunst verschwun-
Die Hauptwerke jener bildender Künstler, die auf
den, weiß dies aber nicht, was das schlimmste ist, und
individuelle Weise ihre je eigene Zeit mit bildnerischen
zieht in einem überholten Koma ihre Bahn. […] Weil
Mitteln zu fassen versuchten, entfalteten auf längere
sie sich immer mehr mit der objektiven Banalität ver-
Sicht gesehen nicht zufällig eine herausragende Wir-
mischte und daher aufhörte, sich vom Leben zu unter-
kungsgeschichte im Verlauf der europäischen Kunst-
scheiden, ist sie überflüssig geworden.
geschichte. Man denke an Grünewald, Michelangelo,
268
V
El Greco, Rembrandt, Goya, Van Gogh, Rodin, Picasso
dass die bildende Kunst einen Bedeutungsver-
suche, die divergierendsten Künstlerpersönlichkeiten
lust erleiden könnte, wenn man den Kunstbegriff in mal
unter einen Hut zu bringen, das heißt aufgrund irgend-
spielerischer, mal mystischer Weise unter dem Vorwand
welcher Stilmerkmale, um andererseits Epigonentum,
der »Erweiterung« auflöst. An der weitgehenden Ab-
Ismenhäufung als logisches Abfolgespiel einer hypothe-
wesenheit sozial relevanter und anschaulich gemachter
tischen Kunstentwicklung darzustellen, kann man mir
Kunstinhalte nahmen seit 1945 nur wenige auf argumen-
nicht so leicht unter die Weste jubeln. Stammbaumlehre
tierende Weise Anstoß.
erstörend unzeitgemäß erschienen diejenigen
und Beckmann. Hrdlicka selbst warnte jedoch: »Das
Künstler der Nachkriegszeit, die früh ahnten,
Systemdenken der Historiker und Theoretiker, ihre Ver-
Es stellt sich die Frage, ob
und historischer Brückenschlag sind in der Regel Selbst-
nicht in den letzten 60 Jahren das Beuys’sche Diktum
zweck und Zeilenschinderei.«270 Dass das Betreiben von
»jeder ist ein Künstler« und das postmoderne »anything
Ableitungskunstgeschichte
goes« zu einem inflationären Überfluss an behaupteter
das Verständnis des Besonderen nicht erweitert, sei
Kunst und bewusster Antikunst, an »Kunstrevolutionen«
vorausgesetzt. Festzuhalten ist dennoch, dass Hrdlicka
268 Jean Baudrillard 2008, S. 14 ff.
270 Alfred Hrdlicka: Egon Schiele [1985], in: LEWIN IV, 183,
269
269 Vgl. Jost Nolte: Kollaps der Moderne, Hamburg 1989.
S. 194.
und
Fortschritts-Denken
12. Historische Positionierung
127
in der Nachkriegskunst zu den wenigen gehörte, die
könnte selbst der Macht der elektronischen Massen-
sich auf hohem künstlerischen Niveau in die Tradition
medien und ihrem Einfluss auf Wahrnehmung und Den-
derer einreihten, die mit der menschlichen Figur als Aus-
ken etwas entgegensetzen. »Das Fernsehen stopft uns
drucksträger arbeiten – trotz oder gerade wegen ihrer
zwar voll, alles jedoch huscht durch uns hindurch. Auch
stereotypen Indienstnahme von der Nazi-Kunst.271 Die
Schreckensnachrichten sind ein Teil der Unterhaltung
künstlerische Negation der Idee, sich veranschaulichend
geworden [...] In dieser gräßlichen Situation hat Kunst
zu artikulieren, subsumieren Kunsthistoriker gern unter
die Chance, durch Absagen an Perfektion und Glätte
Begrifflichkeiten wie geheimnisvoll, mysteriös, unbe-
Nachdenklichkeit zu schaffen.«272
greiflich oder gar avantgardistisch. Der inflationäre Gebrauch dieser Kategorien erschwert es, die tatsächliche
Hrdlickas Bestreben zielte darauf ab, seine Zeit und de-
inhaltliche Bestimmtheit von Begriffen wie Einheitlich-
ren Menschen subjektiv zu deuten. In seinen Werken
keit und Unbestimmtheit oder Charakterisierungen wie
scheint dabei im Besonderen das Allgemeine auf. Zu
nonverbal und intuitiv – im Gegensatz zur Diskursivität
allen Zeiten gab es Künstler, die darum bemüht waren
der Wort-Sprache – dort zum Tragen zu bringen, wo sie
»in ihren Werken Artikulationen dessen [zu] geben, was
wirklich zum Verständnis der Sache beitragen.
unsere Zeit mit der Vergangenheit verbindet und wel-
Weiterhin führte Hrdlicka die Tradition derer fort,
che Möglichkeiten neu hinzugekommen sind, den Men-
die der Ansicht waren, dass neben naturwissenschaft-
schen mit seiner veränderten Umwelt in Harmonie zu
lichen Messungen und Beobachtungen, neben Musik,
bringen«.273 Diese Kompetenz, Bezugssysteme zwischen
Literatur und philosophischem Denken auch die »stum-
Kunst und der lebendigen Bewegung einer Gesellschaft
me« bildende Kunst eine Möglichkeit darstellt, Bedeu-
zu knüpfen, wird oft postuliert und ihr Versprechen sel-
tungen und Deutungen zu schaffen und zu vermitteln.
ten eingelöst. Es muss folglich zwischen der Motivation
Das Kunstwerk als »Ereignis« oder als »drittes Auge«
des Künstlers und der gelingenden Umsetzung, der spe-
ermöglicht eine einheitlichere Wirklichkeitserfahrung,
zifischen Qualität eines Kunstwerks unterschieden wer-
als sinnliche Wahrnehmung und begriffliches Denken
den. Beide Aspekte sind jeweils für sich zu beurteilen.
dies im Einzelnen leisten könnten. Denn in der bilden-
Hrdlicka stellt sich der Herausforderung, auf individuelle
den Kunst wird das Sinnliche geistig vermittelt und das
Weise das humanistische Projekt der Aufklärung ins Ge-
Geistige tritt sinnlich in Erscheinung. Dieses Potenzial
dächtnis zu rufen. Für den Künstler heißt das: Über antifaschistische Kunst an den Selbstzweck jedes Menschen zu erinnern. Im Gegensatz dazu steht der Selbstzweck
271
Die Torsierung des Körpers stellt freilich eine offensichtliche Kontradiktion zu den unversehrten »Bodybuildern«
der Kunst. Das Artistentum des »l’art pour l’art« nach
der Nazi-Künstler dar. Vgl. die Datenbank zu den »Großen 128
12. Historische Positionierung
Deutschen Kunstausstellungen« von 1937–1944, online
272
Hans-Dieter Schütt 1997, S. 26.
unter: www.gdk-research.de.
273
Udo Kultermann 1996, S. 241.
Théophile Gautier hat zweifellos narzisstische Züge.
fähigkeit, Unangenehmes wahrzunehmen und Formen
Denn: »Die Schönheit, die sich selbst genügt, ist andro-
des Umgangs zu entwickeln. Diese »allzu menschlichen«
gyn: Wenn sie begehrt, begehrt sie sich selbst.«274
Verarbeitungsverweigerungen – insbesondere mit Blick
In Hrdlickas Kunst steht nicht die Ersatzwelt der
auf den NS-Faschismus – waren Hrdlickastets ein An-
Zirkusarena, sondern die soziale und psychologische
sporn, Strategien der Enthüllung zu entwickeln. Nicht
Lebenswelt des Menschen im Zentrum. Aspekte der
zuletzt daher erregte Hrdlickas Kunst immer wieder
menschlichen Konstitution und ihre Abgründe werden
Anstoß. Doch vor den Schattenseiten unseres religiö-
anhand faktischer Ereignisse der Historie zur Anschau-
sen, revolutionären, politischen und wirtschaftlichen
ung gebracht. Das heißt, mit historischen Themen
Tuns die Augen zu schließen bedeutet, sich Illusionen
machte er immer auch auf soziale und individualpsycho-
über den Stand der Dinge zu machen. Grundrechtswid-
logische Missstände seiner Zeit aufmerksam. In diesem
rige Entwicklungen können auf diese Weise weder pro-
Sinne handelt es sich um Memorial- und Daseinskunst,
blematisiert noch kritisiert werden. Wohin pathologisch
die das Bild der Geschichte nicht glättet, sondern durch
pervertierte menschliche Urtriebe führen können, wenn
Verfremdung und Betonung des Hässlichen aufraut und
die sozialen Umstände dafür Raum geben, zeigen bei-
damit wach hält. »Mit Trost macht man keinem Mut.
spielsweise Hrdlickas Arbeiten zum Polizeispitzel und
Die Tiere lernen durch Schrecken und die Menschen
Lustmörder Friedrich Haarmann (1879–1924), die zwi-
auch.«275 Dabei zeigt sich Hrdlickas Kunst als Anwalt ei-
schen 1965 und 1971 entstanden sind.276
nes ganzheitlichen Existenz-Verständnisses, welches das
Aus einer ethischen Perspektive betrachtet ist daher
leidende Individuum mit einbezieht. Diese Vorgehens-
das Mitwirken an den sozialen Umständen und die Über-
weise ist nicht nur historisch, sondern auch politisch
nahme von Verantwortung des Ich für ein Wir geboten.
motiviert. Daran, dass das marktwirtschaftliche Gesell-
In dieser Hinsicht bedeutet jeder soziale Rückzug eine
schaftssystem mit seiner profit- und konsumorientierten
Entfremdung vom ganzheitlichen Menschsein, insofern,
Ausrichtung die Bedingung der Möglichkeit für die beste
als wir als zoon politikon sowohl Individuum als auch
aller Welten bildet, glaubte Hrdlicka nicht.
Glied eines Gemeinwesens sind.277 Eine Kunst, die nur als
Im Zentrum seiner Aufmerksamkeit standen daher die Strategien der Verdrängung. Dabei war ihm durchaus bewusst, dass gerade im Namen einer »freien Kunst«
276 Siehe Philipp Gutbrod: Zur Darstellung von Gewalt im Haarmann-Zyklus des Alfred Hrdlicka, in: AK Magdeburg: Alfred
freiheitsraubende, weil existenz- und geschichtszen-
Hrdlicka – Der Tod und das Mädchen, Werke 1944–1997,
sierende Bilderverbote den Kunstmarkt dominierten.
hg. v. Matthias Puhle u. Jürgen Fitschen, Ausstellung im
Hrdlickas Drastik ist immer auch eine Kritik an der Un-
Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen, Magdeburg 2000, S. 21–33. 277
Vgl. Martin Heidegger: »Existierendes Seiendes sichtet
274 Jean Starobinski 1985, S. 39.
»sich« nur, sofern es sich gleichursprünglich in seinem Sein
275
bei der Welt, im Mitsein mit Anderen als der konstitutiven
Zit. nach: Hans-Dieter Schütt 1997, S. 36.
12. Historische Positionierung
129
»Vehikel öder Selbstverwirklichung«278 oder der privatis-
Hrdlicka konnte das kreative Aufstellen von künstli-
tischen Freizeitgestaltung dient, bedeutet in ihrer l’art
chen Attrappenwelten nie wirklich nachvollziehen, denn
pour l’art-Selbstgefälligkeit per se politische Anpassung,
»die Kunst gibt es ja nicht, damit es Kunst gibt, sondern
bzw. ist ein Ausdruck von Indifferenz der Realität des
damit sich etwas bewegt«.282 Denn »[m]an sollte Kunst
Menschen gegenüber. Schon Thoré-Bürger prägte im 19.
nicht unterschätzen für die Entwicklung von stimulie-
Jahrhundert in Opposition zum Selbstzweck-Konzept
renden politischen Haltungen«283. Im Rahmen der hier
von Victor Cousin und Théophile Gautier den Begriff des
zitierten Podiumsdiskussion aus dem Jahre 1980 in Ber-
»l’art pour l’homme«.
Théophile Thoré – alias Willem
lin führte Klaus Traube diesen Gedanken wie folgt fort:
Bürger bzw. Thoré-Bürger – schrieb 1857 in seinem Es-
»Kunst kann die Erinnerung an die Grenzen des Sach-
say »Neue Bestrebungen der Kunst« über die Künstler
zwangsystems wach halten und damit den Widerstands-
der romantischen Schule, dass sie mit der Eroberung
willen wecken.«284
279
der Freiheit in Erfindung und Stil viel erreicht hätten.
In diesem Sinne hinterlässt Hrdlicka als aufmerksa-
Zugleich stellte er aber die Frage, was sie mit dieser
mer und unbequemer Zeuge seiner Zeit sein Werk als
gewonnenen Freiheit nun anfangen würden.280 Thoré-
anregendes »Reibflächen-Multiple«. Unruhe und Nervo-
Bürger hegte die Hoffnung, dass die Künste, nachdem
sität sprechen aus seinem Œuvre. Mit der drastischen
sie nicht mehr in Symbolen und Hieroglyphen die alten
Thematisierung des eskamotierten Todes, der Veran-
Göttergeschichten wiedergeben müssten, sich endlich
schaulichung verdrängter Grausamkeit und Aggressivi-
für die Lebenswelt des Menschen öffneten; dass sie zu
tät sowie der Enthüllung der handlungsprägenden Kraft
einem unmittelbaren Ausdruck, zu einer verständlichen
des Eros trifft Hrdlicka die Nerven des 20. Jahrhunderts.
Sprache fänden, die »zur Mitteilung und zum Austausch
Demnach lässt sich auf den zu Beginn des Kapitels zitier-
der Gefühle dient«.281
ten Jean Boudrillard mit den Worten Carl Ludwig Fernows – mit leiser Ironie – antworten: Aber auch dieser scheinbare Stillestand der Kunst war
Momente seiner Existenz durchsichtig geworden ist.«
zur Vorbereitung einer neuen Periode nöthig; […] die
[Martin Heidegger SuZ, S. 146].
Wiederanerkennung der Vortrefflichkeit der alten Bild-
278 Alfred Hrdlicka: Denn sie wissen nicht, was sie tun, in: AK Heilbronn 1983, S. 23. 279 Théophile Thoré: Neue Bestrebungen der Kunst [1857], in: A. Schmarsow u. B. Klemm (Hg.): W. Bürger’s Kunstkritik, dt. Bearbeitung, Bd. 1 Neue Bestrebungen der Kunst,
12. Historische Positionierung
281
ZEIT, Nr. 9, 21. 02. 2008, S. 45. 283 Alfred Hrdlicka zit. nach: Überleben durch Kunst, Eine
Landschaftsmalerei, Leipzig 1908, S. 30 [im Folgenden zit.
Diskussionsmontage v. Wolfgang Max Faust des Karl-
als: Théophile Thoré 1908].
Hofer-Symposions in der Hochschule der Künste, Berlin, in:
280 Vgl. Théophile Thoré 1908, S. 1. 130
282 Alfred Hrdlicka im Interview mit Hanno Rauterberg, in: DIE
Ebd. S. 34.
KUNSTFORUM, Bd. 43, 1/81, Mainz 1981, S. 95. 284 Klaus Traube, in: ebd., S. 99.
werke muste das Bedürfnis nach dem Besseren rege
Hrdlickas ausführliche Selbstreflexionen dürfen nicht zu
gemacht haben, um ein Streben nach demselben zu
unkritischen, konsensorientierten Interpretationen füh-
bewirken; die Gemüther muste kein herschendes Vor-
ren. Auch sie wollen – genau wie sein Werk – hinterfragt
urteil mehr gefesselt halten, um des Besseren desto
sein. Doch dass Hrdlicka als bildender Künstler und Au-
leichter empfänglich zu seyn.285
tor begegnet, darf als gute Grundlage dafür gelten, dass sein Werk auch in der Zukunft zugänglich sein wird.
Im Kontext seiner kulturellen Leistung ist abschließend auf Hrdlickas schriftliche Äußerungen einzugehen. Kunsthistoriker stehen oft vor dem Problem, dass sie zu einer Kluft zwischen reflektierter und produzierter Kunst beitragen. Hrdlicka stellt sich durch beständige Selbstreflexion jenen Entwicklungen in den Weg, die dazu führen, dass dieser Gegensatz widersprüchliche Ausmaße annimmt. Das, was Hrdlicka aufzeigt, bewertet und mitteilt wird zugänglicher, stellt man das ästhetisch-leibliche Verstehen neben das sprachliche und umgekehrt: Ich bin zwar ein großer Anhänger der Bilderwelt, aber von dieser geht nur zusammen mit dem Wort etwas Bewirkendes aus. Das Bild in seiner Anschaulichkeit regt unmittelbar an. […] Meine Arbeiten bilden eine Kombination von Wort und Bild, was nichts mit Illus tration zu tun hat. Dabei besteht jedes Bild auch für sich selbst, also auch ohne das Wort. Doch zusammen erst formen Wort und Bild das Andere, eben Kunst.286
285 Carl Ludwig Fernow: Über den Bildhauer Canova und dessen Werke [1806], hg. v. Alexander Auf der Heyde, Bassano del Grappa 2006, S. 15. 286 Zit. nach: Walter Schurian 1988, S. 21.
12. Historische Positionierung
131
13. Zusammenfassung
H
rdlicka wendet sich in seinem bedeutendsten
züglich des deutschen Faschismus. Die Untersuchung
und umfangreichsten Radierzyklus
»Wie ein
hat gezeigt, dass er dabei den sozialpsychologischen Zu-
Totentanz – Die Ereignisse des 20. Juli 1944« der
sammenhängen von Militarismus und Männlichkeitskult,
deutschen Geschichte zu. Das behandelte historische
von Grausamkeit und politisch verantwortungsloser
Geschehen wird im Lichte einer bestimmten Darstel-
Innerlichkeit auf der Spur ist. Künstler sind keine distan-
lungstechnik, der zyklischen Druckgraphik, gesehen und
zierten Chronisten, d. h. Hrdlickas Herangehensweise ist
in den Kontext einer zeitenübergreifenden Entwicklung
keine dokumentarisch-neutrale, sondern eine emotional
gestellt. Die erschütternde Darstellung des körperlichen
aufrüttelnde und subjektiv deutende. Obwohl einzel-
Schmerzes enthält eine allgemeingültige und ins Ge-
ne Szenen von anekdotischem Charakter sind, verleiht
dächtnis brennende Anklage gegen Menschverachtung
er jeder einzelnen Radierung dennoch ein ästhetisch
und Terror.
komponiertes Erscheinungsbild, das ihre überzeitliche
287
Exemplifiziert wird dieses Thema am gescheiterten
Wirkung garantiert.288 Dadurch unterscheiden sie sich
Generalsaufstand 1944 in Berlin und Paris sowie an den
von Illustrationen und Karikaturen. Auch als Propagan-
Hinrichtungen in Berlin-Plötzensee. Die Widerstandsbe-
dablätter sind sie nicht zu bezeichnen, da Hrdlicka für
wegung des 20. Juli 1944 dient heutzutage in Deutsch-
seine politisch-psychologischen Interessen die Kunst
land als Identität stiftende Rettungsinsel einer schiff-
nicht benutzt, sondern sich bewusst auf ihre spezifi-
brüchigen deutschen Tradition. Hrdlicka reflektiert die
schen Möglichkeiten und Grenzen einlässt. Somit wird
Ereignisse um den 20. Juli in dialektischem Zugriff und
die Institution der bildenden Kunst als gesellschaftliches
betreibt anhand dieses Themas Ursachenforschung be-
Funktionssystem gestärkt: Denn als kunstspezifische, d. h. veranschaulichende »Urteilsform« und als eine auf-
287 Der Zyklus »Die große Französische Revolution« umfasst 42 Radierungen sowie 19 weitere »Szenen zur Französi-
288 Vorausgesetzt sei, dass »Regeln« des Bildaufbaus, der
schen Revolution« [1985–1989, vgl. Lewin III/2 1043–1103].
Komposition, der Flächeneinteilung existieren. Bei einem
Bezieht man alle zusätzlichen Szenen und Varianten mit
in dieser Hinsicht gelungenen Werk ist von einem »l’effet
ein, besteht »Wie ein Totentanz« aus 70 Radierungen.
du tout-ensemble« (Roger de Piles) zu sprechen.
13. Zusammenfassung
133
klärerische Weise der »Gedächtnisstiftung« kann sie eine
fizient, sondern wahrheitsdienlich. Hrdlicka betrachtet
intellektuelle Bedeutung für die bürgerliche Gesellschaft
erinnerungswürdige Ereignisse differenziert, d. h. aus
besitzen. Ein zentrales Ergebnis der Arbeit ist der Nach-
miteinander konkurrierenden Blickwinkeln. Dabei wird
weis der kulturgeschichtlichen Relevanz des Zyklus zum
bei aller kunstspezifischen Offenheit verbindlich nach
20. Juli.
historischen und philosophischen Voraussetzungen wie
Die Sinndimension von Hrdlickas Werk bricht mit der
Konsequenzen geforscht. Denn »wenn sich das kulturel-
weitgehenden Abstinenz einer ernsthaften Erörterung
le Gedächtnis an Fixpunkten festmacht, ist nach deren
des fragwürdig gewordenen humanistischen Menschen-
Entstehung zu fragen«.290
Bildes in der bildenden Kunst der Nachkriegszeit. In der
Mit der Herausarbeitung der Methode des »zykli-
Einleitung wurde konstatiert, dass sich Hrdlicka ab den
schen Erinnerns« ist eine Antwort auf das in der Einlei-
1960er-Jahren mit der Frage beschäftigte: Auf welchen
tung zur Disposition gestellte Problem gefunden, wie
Wegen ist mit der fatalen »Schweige-Krankheit« der
Erinnerungskultur und Bewältigungsarbeit geleistet
deutschen Nachkriegszeit umzugehen? Der figürliche
werden können. Anstatt inhaltlich austauschbare Be-
Stil und die gegenseitige Ergänzung von Wort und Bild
onstelen aufzustellen oder feierliche Schlusssteine zu
wurden in der vorliegenden Arbeit als ein Plädoyer dafür
setzen,291 bieten Hrdlickas Radierungen eine Reihe von
interpretiert, die Wahrheit des Krieges – Leid und Tod –
bildnerischen Ideen an, die als anregende Diskursgrund-
verbindlich zu benennen und anschaulich zu vergegen-
lage auf lange Zeit hin wirksam sein können.
wärtigen: Den Tätern und Opfern ist Gestalt und Gesicht gegeben.289 Die Struktur des Zyklus deutet die vorliegende Untersuchung dahin gehend, dass zur Verarbeitung dieser Ereignisse im Informationszeitalter für das Individuum einzig der »offene Stil« bleibt. Ein für sich stehendes, statisches Großprojekt mit dem Anspruch auf Abgeschlossenheit ist zum Scheitern verurteilt. Stattdessen bieten sich das ständig zu erneuernde, skizzenhafte Versuchen und die assoziative Annäherung an den Gegenstand an. Die Umkreisung des Themas führt zu einer Pluralität der Standorte und Blickpunkte. Der
290 Jochen Spielmann: Stein des Anstoßes oder Schlußstein der Auseinandersetzung? Bemerkungen zum Prozeß der
scheinbare Widerspruch in der Gegenüberstellung un-
Entstehung von Denkmalen und zu aktuellen Tendenzen,
terschiedlicher Perspektiven auf die Ereignisse regt zum
in: Denkmal – Zeichen – Monument, Skulptur und öffentlicher Raum heute, hg. v. Ekkehard Mai u. Gisela Schmirber,
Nachdenken an. Diese Herangehensweise ist nicht de-
München 1989, S. 110. 291
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13. Zusammenfassung
289 Vgl. Christine Pielken 2003, S. 67.
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Stubbe, Wolf: Manifestationen in der Radierung – Zur
standes gegen das NS-Regime, Köln 1994, S. 203–213.
graphischen Technik von Alfred Hrdlicka, in: Alfred Hrdlicka – Graphik, mit Werkkatalog, Frankfurt a. M./Ber-
Wedekind, Gregor: Le portrait mis à nu. �������������� Théodore Géri-
lin/Wien 1973, S. 53.
cault und die Monomanen, Berlin 2007.
Überleben durch Kunst, Eine Diskussionsmontage v.
Weiermair, Peter: Österreich – Ein Land der Zeichner, in:
Wolfgang Max Faust des Karl-Hofer-Symposions in der
AK Klosterneuburg: Österreich 1900–2000, Konfronta-
Hochschule der Künste, Berlin, in: KUNSTFORUM, Bd.
tionen und Kontinuitäten, Ausst. der Sammlung Essl v.
43, 1/81, Mainz 1981.
17. 02 bis 21. 05. 2006 i. Kunst der Gegenwart, kuratiert v. Wieland Schmied, Wien 2006.
Ueberschär, Gerd B. (Hg.): Der 20. Juli 1944, Bewertung und Rezeption des deutschen Widerstandes gegen das
Wohlfart, Günther: Friedrich Nietzsche, in: Ästhetik und
NS-Regime, Köln 1994.
Kunstphilosophie – Von der Antike bis zur Gegenwart in Einzeldarstellungen, hg. v. J. Nida-Rümelin u. M. Betzler,
Valentien, Freerk: Skizzenhafte Betrachtungen über den
Stuttgart 1998, S. 578–584.
Zeichner Alfred Hrdlicka, in: AK Stuttgart: Alfred Hrdlic-
144
Literaturverzeichnis
ka – Zeichnungen, Ausst. der Galerie Valentien, Stuttgart
Wunderlich, Uli: Der Tanz in den Tod, Totentänze vom
1983, S. 2–9.
Mittelalter bis zur Gegenwart, Freiburg 2001.
Anhang
Rezep t i o n sge s chichte
einzusetzen. Sie sollen für viele Menschen erschwinglich bleiben.
Eine Monographie oder eigenständige kunsthistorische Publikation zu Hrdlickas Zyklus »Wie ein Totentanz«
Der möglicherweise entscheidende Parameter betrifft
existiert nicht. Doch finden sich einige Aufsätze in Aus-
die Ausstellungen und ihre Relevanz. Sie sind Thema
stellungskatalogen sowie Presseartikel und Reden zu
dieses Abschnitts. Welchen Weg nahm der Werkkom-
Ausstellungen. Nur die wichtigsten Texte seien hier er-
plex? Erreichte er seine Adressaten? »Wie ein Totentanz«
wähnt, z. B. 1975 die Einführung von Wieland Schmied
gehört zu den meistausgestellten graphischen Zyklen
für die Westberliner Ausstellung, 1978 der Aufsatz von
Hrdlickas. Zum ersten Mal wurde er in einer Ausstellung
Werner Schmidt für die Erwerbung des Dresdner Kup-
der Stuttgarter »Galerie Valentien« vom 20. Juli bis zum
ferstichkabinetts und 1982 der Text »Der Krieg als To-
15. August 1974 gezeigt, also exakt 30 Jahre nach der
tentanz« von Wouter Kotte, der Otto Dix’ »Der Krieg«
Detonation der Sprengladung im Führerbunker. Im Jahr
Alfred Hrdlickas »Wie ein Totentanz« in Utrecht gegen-
darauf war er vom 19. Juli bis zum 31. August in der Na-
überstellte. 1985 erschien die Heidelberger Rede von
tionalgalerie West-Berlin zu sehen. Dieter Honisch war
Dietrich Schubert »Otto Dix und Alfred Hrdlicka im Dia-
dort seit dem 1. Juni Direktor. Der Kunstverein Heilbronn
log« und 2002 der Aufsatz der Künstlerin Waltraud Jam-
veranstaltete vom 2. bis zum 30. November desselben
mers anlässlich des Umzugs der Bonhoeffer-Büste in die
Jahres eine Doppel-Ausstellung mit Gunther Stilling. Im
Staatsbibliothek zu Berlin.
Rahmen des Evangelischen Kirchentags 1977 ging eine Mappe vom 15. Mai bis zum 16. Juni ein weiteres Mal
Weitere Parameter für die Qualität der Rezeption sind
nach Berlin, und zwar ins Gemeindezentrum Plötzensee.
die kunsthistorische Wirkung, das Auftreten von künst-
1978 erhielt das Kupferstichkabinett der »Staatlichen
lerischen Zitaten, Anspielungen und Fortführungen und
Kunstsammlungen zu Dresden« den Zyklus »Wie ein
die erzielten Preise auf dem Kunstmarkt. Die Preise für
Totentanz« als Geschenk von Alfred Hrdlicka und prä-
die Radierungen sind niedrig. Doch beabsichtigte Hrdlic-
sentierte ihn vom 13. 09. 1978 bis zum 12. 01. 1979 der
ka selbst, seine Graphiken als »kleines Massenmedium«
Öffentlichkeit. 1980 war er sogar in zwei Städten zu se-
Anhang
145
146
Anhang
hen: vom 29. Juni bis zum 31. August im »Museum am
von Constanze und Dr. Helmut Meyer aus. 2002 befand
Dom« in Lübeck und anlässlich des Tages der Bildenden
sich ein Exemplar des Zyklus in Berlin, wo es vom 28.
Kunst im Klub der Kulturschaffenden »Johannes R. Be-
Januar bis zum 2. März der Marmorbüste »Dietrich Bon-
cher« mit 35 Blättern vom 18. Oktober bis zum 25. No-
hoeffer« gegenübergestellt wurde (Staatsbibliothek zu
vember in Berlin. Das »Karl Ernst Osthaus Museum« in
Berlin – Preußischer Kulturbesitz). Vom 4. Juni bis zum
Hagen stellte ihn vom 17. Januar bis zum 22. Februar
25. August desselben Jahres hing der Zyklus auch im
1981 und vom 6. bis zum 28. November 1982 aus. Auch
Schloß Morsbroich des Städtischen Museums Leverku-
in der »Alten Synagoge Essen« (30. Juni–10. August) und
sen anlässlich seiner Neuerwerbung für die graphische
in Mürzzuschlag, organisiert von der Walter Buchebner
Sammlung. Ein Großteil der Blätter befand sich vom
Gesellschaft im Bundesschulzentrum (1.–27. November;
3. 09. bis 2. 11. 2003 in der Ausstellung der »Versiche-
»steirischer Herbst ’82«) war der Juli-Zyklus 1982 zu se-
rungskammer Bayern« in München. 2004, zum 60. Jah-
hen. Eine weitere wichtige Ausstellung von Wouter Kot-
restag des Aufstandes, zeigte die Galerie Valentien ein
te stellte 1982/83 in Utrecht (Hedendaagse Kunst) den
Portfolio in Stuttgart (18. September–16. Oktober). Au-
Zyklus 50 Radierungen von Otto Dix’ Mappe »Der Krieg«
ßerdem wurde der Zyklus aus der Sammlung Alfred Hoh
gegenüber. Auf Initiative von Dietrich Schubert gelang
vom 20. Juli bis zum 31. Oktober im Nürnberger »Doku-
es dem Leiter des Heidelberger Kunstvereins Hans Ger-
mentationszentrum Reichsparteitagsgebäude« präsen-
cke, diese Ausstellung am 6. März 1983 nach Heidel-
tiert. 2005 konnte man die Radierungen vom 1. Juli bis
berg zu holen. Vom 14. Juni bis zum 15. November 1985
zum 14. August in Salzgitter-Salder bei Braunschweig
beteiligte sich Hrdlicka mit »Wie ein Totentanz« an der
sehen (Städtische Kunstsammlungen Schloss Salder).
Ausstellung »Sieben Künstler malen Zeitgeschichte« des
Die Gegenüberstellung der beiden wichtigsten graphi-
ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen. 1989
schen Kriegszyklen des 20. Jahrhunderts – Dix’ Mappe
stellte die Staatliche Kunsthalle Berlin das druckgraphi-
»Der Krieg« und Hrdlickas Zyklus »Wie ein Totentanz« –
sche Gesamtwerk aus. Vom 11. Oktober bis zum 15. No-
gelang erneut dem »Kunstforum Ostdeutsche Galerie«
vember 1992 hingen sieben Radierungen im Foyer der
vom 23. 10. 2005 bis zum 29. 01. 2006 in Regensburg im
Staatsoper Stuttgart. 1994, als sich der 20. Juli zum fünf-
Rahmen der Dix-Ausstellung »Welt & Sinnlichkeit«, die
zigsten Mal jährte, erfuhr »Wie ein Totentanz« wieder
Ulrike Lorenz organisierte. Das Kunstmuseum Erlangen
größere Aufmerksamkeit: in Frankfurt, Galerie im Kar-
richtete 2007 dem Zyklus eine eigene Ausstellung vom
meliterkloster, in Trier im Bischöflichen Dom- und Diöze-
17. Juni bis zum 29. Juli ein. Ein eigener Raum wurde
sanmuseum vom 10. Juni bis zum 7. August sowie erneut
»Wie ein Totentanz« auch im Rahmen der groß angeleg-
in Berlin-Plötzensee. Im Rahmen der Frankfurter Retros-
ten Retrospektive zum 80. Geburtstag in der Kunsthal-
pektive 1997 präsentierte die Städtische Galerie den Zyk-
le Würth in Schwäbisch Hall zugeteilt. Er war dort vom
lus wieder im Karmeliterkloster. Im Jahr 2001 stellte das
19. Januar bis zum 14. September 2008 zu sehen.
Bayreuther Kunstmuseum eine Mappe der Sammlung
Vom 7. März bis zum 15. August 2010 präsentierte das Leverkusener Museum Morsbroich mit einer kurzen Unterbrechung erneut den Juli-Zyklus aus dem eigenen Sammlungsbestand. Vollständigkeit kann diese Aufzählung nicht beanspruchen, doch allein die genannten 31 Termine sind beachtlich. Eine ablehnende Rezeption des Zyklus ist nicht bekannt. Er wurde im Zuge seiner Präsentation stets begrüßt. Bedauerlich ist, dass abgesehen von den frühen Ausstellungen in Berlin und Dresden kein größeres Museum sich in die Liste einreiht. Beispielsweise 1994, fünfzig Jahre nach dem 20. Juli, wäre ein geeigneter Anlass für eine große Ausstellung gewesen, ebenso 2004! Doch erneut zeigte kein deutsches Museum den Zyklus.
Anhang
147
Personenregister
A
Bussche, Axel Freiherr von dem 14, 36, 41, 74
Adorno, Theodor W. 95, 111
C
Agamben, Giorgio 123
Callot, Jacques 69, 91 f.
Allende, Salvador 34
Camus, Albert 101, 103
Améry, Jean 49
Canaris, Wilhelm 58
Arendt, Hannah 71, 77, 121
Canetti, Elias 15
Aristoteles 112 ff
Casanova, Giacomo 22, 125
Auerbach, Erich 106
Cäsar, Gaius Julius 29
B
Cézanne, Paul 46
Ball, Hugo 78
Chobot, Manfred 18
Baselitz, Georg 75
Choné, Paulette 69
Baudrillard, Jean 100, 113, 130
Christus, Jesus 36, 66, 72, 103, 106
Beck, Ludwig 34, 58
Cousin, Victor 130
Beck, Martha 87
Cremer, Fritz 75
Beckmann, Max 91, 127
D
Beethoven, Ludwig van 48
Damus, Martin 81
Beuys, Joseph 78, 127
Daumier, Honoré 91
Bockemühl, Michael 109
Diemer, Karl 50
Boehm, Gottfried 12 f.
Dix, Otto 69 f., 91 f., 101, 108, 145 f.
Bolz, Eugen 83
Dollfuß, Engelbert 74
Bonhoeffer, Dietrich 59, 87, 89, 120, 145 f.
Dostojewskij, Fjodor 101
Börsch-Supan, Helmut 112
Duchamp, Marcel 78
Breicha, Otto 90
Dürer, Albrecht 91
Bruegel d. Ä., Pieter 92
Einstein, Carl 12, 73
Burger, Rudolf 40
Eisenman, Peter 15
Personenregister
149
Elser, Georg 59
Gumbrecht, Hans-Ulrich 27
Engels, Friedrich 87
H
F
Haarmann, Friedrich 27, 87, 103, 121, 129
Fellgiebel, Erich 59
Habermas, Jürgen 77
Fernow, Carl Ludwig 100, 130
Haeften, Werner von 34, 56, 59
Fest, Joachim 18
Havekost, Eberhard 109
Fischer, Ernst 105, 112
Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 94, 104
Fischl, Eric 110
Heidegger, Martin 92
Freisler, Roland 59
Heine, Heinrich 11
Freud, Sigmund 48 f.
Henriet, Israël 69
Friedrich II. 22, 29, 125
Herder, Johann Gottfried 22
Friedrich, Caspar David 91
Herrmann, Otto 75
Fromm, Friedrich 21, 56, 59
Himmler, Heinrich 53, 58
G
Hitler, Adolf 18, 21 f., 24, 29, 31, 42, 49, 53, 56, 58 f., 66 f.,
Gadamer, Hans-Georg 11, 13, 48, 70
150
Personenregister
74, 85 f., 120
Gauguin, Paul 46
Hobbes, Thomas 124
Gautier, Théophile 129 f.
Hoffmann, Peter 59
Gehlen, Arnold 80
Hogarth, William 91
George, Stefan 33
Hoh, Alfred 146
Gercke, Hans 145
Holbein d. J., Hans 56 f., 91
Géricault, Théodore 87
Honisch, Dieter 145
Giotto di Bondone 92
Hrdlicka, Leopold (Vater) 74
Goerdeler, Carl Friedrich 58
Husserl, Edmund 94
Gogh, Theo van 106
I
Gogh, Vincent van 92, 127
Imdahl, Max 13, 109
Göring, Hermann 53, 58
J
Gorsen, Peter 75, 110, 123
Jammers, Waltraud 145
Goya, Francisco de 62, 67, 70, 87, 91 f., 94, 127
Jara, Victor 35
Greco, El 127
K
Grieshaber, HAP 81
Kaiser, Georg 26
Grötzebach, Dietmar 64
Kandinsky, Wassily 78
Grünewald, Matthias 127
Kant, Immanuel 118
Guderian, Heinz 29
Katz, Alex 109
Kiefer, Anselm 75
Mondrian, Piet 27, 63, 78
Kleist-Schmenzin, Ewald-Heinrich von 55 f.
Monet, Claude 92
Kleist, Heinrich von 22 f., 58
Munch, Edvard 92
Klinger, Max 89, 91, 94
Mussolini, Benito 29, 31, 59
Kluge, Günther von 21
Naumann, Bringfried 19, 62 f.
Kneffel, Karin 110
Nierendorf, Karl 69
Kollwitz, Käthe 92
N
Korpalski, Edward 120
Nietzsche, Friedrich 50 ff, 71 f., 113 ff
Kortzfleisch, Joachim von 56
Nolde, Emil 22
Kotte, Wouter 145 f.
O
Krieg, Dieter 109
Oertzen, Hans-Ulrich von 58
L
Olbricht, Friedrich 34, 58 f.
LeRider, Jacques 53
P
Lersch, Heinrich 43
Pasolini, Pier Paolo 87, 103
Limburg, Brüder von 92
Paul, Jean 70
Lipps, Theodor 105
Picasso, Pablo 87, 117, 127
Lissitzky, El 78
Pielken, Christine 96
Longinus (Heiliger) 64
Pinochet, Augusto 35
Loos, Sigrun 90
Platon 51
Lorenz, Ulrike 146
Q
Löwith, Karl 36
Quirnheim, Albrecht Ritter Mertz von 34, 59
Ludwig XVI. 87
R
M
Rauff, Walter 34
Malewitsch, Kasimir 78
Rembrandt van Rijn 91, 117, 127
Marinetti, Filippo T. 78
Riegl, Alois 73, 105
Marolles, Michel de 69
Robespierre, Maximilien de 87
Martin, John 91
Rodin, Auguste 87, 127
Matta, Roberto 81
Röhm, Ernst 24
Mennekes, Friedhelm 121
Rommel, Erwin 58
Merleau-Ponty, Maurice 102
Rosenkranz, Karl 118
Meyer, Constanze und Helmut 146
Roth, Dieter 78
Michelangelo Buonarroti 92, 127
Rückriem, Ulrich 75
Milton, John 91
Personenregister
151
S
Valentien, Freerk 18, 85, 145 f.
Schapiro, Meyer 12
Verdun, Nikolaus von 92
Scheibe, Richard 80 f.
Vogel, Henriette 23
Schickele, René 26
W
Schiller, Friedrich 70
Wagner, Richard 22, 121, 125
Schlabrendorff, Fabian von 34
Weiermair, Peter 91
Schmidt, Werner 95, 97, 145
Weininger, Otto 14, 22, 46 ff, 53, 55, 58, 71, 121, 125
Schmied, Wieland 16, 90, 145
Winckelmann, Johann Joachim 27, 112
Schopenhauer, Arthur 51
Wunderlich, Paul 78 ff
Schubert, Dietrich 145 f.
Z
Schurian, Walter 21, 42, 101
Zadkine, Ossip 75
Schütt, Hans-Dieter 39, 73 Schütte, Thomas 110 Schwerin, Gerhard Graf von 80 Schwitters, Kurt 78 Sedlmayr, Hans 13 Siedler, Wolf Jobst 18 Sokrates 114 Starobinski, Jean 113 Stauffenberg, Claus Schenk Graf von 21, 29, 33 f., 42, 56, 58 f., 85, 120 Stilling, Gunther 145 Strindberg, August 83 Stubbe, Wolf 62 T Tatlin, Wladimir 78 Thiele, Fritz 59 Thoré-Bürger, Théophile 130 Traube, Klaus 130 Tresckow, Henning von 58, 120 Tucholsky, Kurt 26 Tuymans, Luc 75 152
Personenregister
V
Zum Dank
Ohne die Mitwirkung vieler Personen und Institutionen gäbe es diese Studie über das Kunstschaffen des Wiener Bildhauers Alfred Hrdlicka nicht. Besonders danke ich Dietrich Schubert, der diese Arbeit von Anfang bis Ende kritisch begleitet und inspirierend gefördert hat. Nadja Wünsche ist es auf einmalige Weise gelungen, dunkle Formulierungen aufzuhellen. Korrekturen, konstruktive Anregungen und auch fröhliche Kartengrüße verdanke ich Ulla Hullmann, Oda Maschke sowie meinen Eltern Sabine und Eginhard Fernow. Stefanie Kovacic und Bettina Waringer aus dem Böhlau Verlag danke ich für ihre kollegiale Redaktion. Angelina Hrdlickaund das HrdlickaArchiv in Wien unter der Leitung des Nachlassverwalters Dietmar Kolb haben die Reproduktionsrechte für die Radierungen eingeräumt, und Renate Deckers-Matzko zeichnet für die Digitalisierungen der Abbildungen verantwortlich. Die Drucklegung wurde gefördert mit freundlicher Unterstützung der Ahlers AG. (Herford), Nicolas Schubert (Heidelberg), der Villa Grisebach (Berlin) sowie weiterer ungenannter Spender.
Zum Dank
153
Abbildungs verzeichnis
1.
Abb. aus: AK Berlin: Alfred Hrdlicka – »Wie ein Totentanz«��������������������������������������� , Ausstellungskatalog der Nationalgale-
Das Gesamtwerk, Druckgraphik, Bd. III/2, Wien/Zürich 1987, S. 865.
rie Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbe-
22. Abb. aus: Das Gesamtwerk, Bd. III/2, S. 579.
sitz, Berlin 1975, S. XXXI.
23. Abb. aus: Das Gesamtwerk, Bd. III/1, S. 477.
2.
Abb. aus: AK Berlin 1975, S. IX.
24. Abb. aus: AK Berlin 1975, S. XXXI.
3.
Abb. aus: AK Berlin 1975, S. X.
25. Abb. aus: Hans Holbein d. J., Bilder des Todes, Leip-
4.
Abb. aus: AK Berlin 1975, S. XIII f.
5.
Abb. aus: AK Berlin 1975, S. XVI.
26. Abb. aus: AK Berlin 1975, S. XXXVIII.
6.
Abb. aus: AK Berlin 1975, S. XVII.
27. Abb. aus: Mössinger, Ingrid: Der Plötzenseer To-
7.
Abb. aus: Sinnbilder des Reiches, München 1938,
tentanz – im Evang. Gemeindezentrum Plötzensee,
Abb. 47.
München 1982, S. 15.
zig 1977, o. Pag.
8.
Abb. aus: AK Berlin 1975, S. XVIII.
28. Abb. aus: Mössinger 1982, S. 1.
9.
Abb. aus: AK Berlin 1975, S. XVIII.
29. Abb. aus: Mössinger 1982, S. 12.
10. Abb. aus: AK Berlin 1975, S. XXIII f.
30. Abb. aus: Mössinger 1982, S. 19.
11. Abb. aus: AK Berlin 1975, S. XXI.
31. Abb. aus: AK Hamburg: Goya – Los Desastres de la
12. Abb. aus: AK Berlin 1975, S. XXIX.
Guerra, Kat. zur Ausst. in der Hamburger Kunsthal-
13. Abb. aus: AK Berlin 1975, S. XXXII.
le, Stuttgart 1992, S. 80.
14. Abb. aus: AK Berlin 1975, S. XXXIV.
32. Abb. aus: AK Hamburg 1992, S. 38.
15. Abb. aus: AK Berlin 1975, S. XXXIX.
33. Abb. aus: Jacques Callot – Das druckgraphische
16. Abb. aus: AK Berlin 1975, S. XLII.
Werk im Kupferstich-Kabinett zu Dresden, bearb.
17. Abb. aus: AK Berlin 1975, S. XVI.
v. Christian Dittrich, Kat. zur Ausst. i. Albertinum,
18. Abb. aus: AK Berlin 1975, S. XXVI. 19. Abb. aus: AK Berlin 1975, S. XXVII f.
Dresden 1992, S. 97. 34. Abb. aus: AK Thun: Otto Dix – »Der Krieg«, Ein Ra-
20. Abb. aus: AK Berlin 1975, S. XI.
dierwerk in 5 Mappen, Kat. zur Ausst. i. Kunstmuse-
21. Abb. aus: Lewin, Michael (Hg.): Alfred Hrdlicka –
um Thun, Thun 1995. o. Pag.
Abbildungsverzeichnis
155
35. Abb. Fotografie Hannes Fernow. 36. Abb. aus: Die Rückriem-Stelen, Dürener Geschichtswerkstatt, Düren 1991, S. 6.
Wien/München 1973, S. 11/12. 51. Abb. aus: Hrdlicka, Barbara/Scheufele, Theodor
Werkverzeichnis der Lithographien von 1949–1965,
(Hg.): Alfred Hrdlicka – Zeichnungen, Dortmund 1994, S. 138.
38. Abb. aus: Brusberg 1966, S. 37.
52. Abb. aus: Hrdlicka/Scheufele 1994, S. 149.
39. Abb. Fotografie Hannes Fernow.
53. Abb. aus: Hrdlicka/Scheufele 1994, S. 13.
40. Abb. aus: Schön, Wolf: Grieshaber – Die Gouachen
54. Abb. aus: Hrdlicka/Scheufele 1994, S. 130.
zum Totentanz, Stuttgart o. Pag./ o. J. 41. Abb. aus: Beispiele zyklischer Grafik der Gegenwart, hg. v. Otto Breicha, Eine Publikation d. Salzburger Landessammlungen Rupertinum zum eigenenSamm lungsbestand, Salzburg 1995, S. 26. 42. Abb. aus: Brandstaller, Trautl/Sternthal, Barbara (Hg.): Hrdlicka – Eine Hommage –, St. Pölten/Salzburg 2008, S. 96, Fotografie Rudolf Meisch. 43. Abb. Fotografie Hannes Fernow. 44. Abb. aus: Schubert 2007, S. 44. 45. Abb. aus: AK Stuttgart: Alfred Hrdlicka – Claus von Stauffenberg und der 20. Juli 1944, Ein Zeichnungszyklus, hg. v. Freerk Valentien, Stuttgart 2005, S. 26. 46. Abb. aus: AK Stuttgart 2005, S. 30. 47. Abb. aus: AK Stuttgart 2005, S. 40. 48. Abb. aus: AK Berlin: Dietrich Bonhoeffer – Alfred Hrdlicka, hg. v. Antonius Jammers, Ausst. der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Berlin 2002, S. 32, Fotografie Prof. Rainer König. 49. Abb. aus: AK Schwäbisch Hall: Alfred Hrdlicka – Bildhauer/Maler/Zeichner, Künzelsau, 2008, S. 83. Abbildungsverzeichnis
Zeichnungen, Werkkatalog v. Manfred Chobot,
37. Abb. aus: Brusberg, Dieter (Hg.): Paul Wunderlich, Hannover 1966, S. 36.
156
50. Abb. aus: Alfred Hrdlicka – Skulptur und große
55. Abb. aus: Das Gesamtwerk, Bd. III/1, S. 297.
CHRISTIAN WALDA
DER GEKREUZIGTE MENSCH IM WERK VON ALFRED HRDLICKA UNMITTELBAR ANSCHAULICHE INTERSUBJEKTIVITÄT DURCH LEIBLICHKEIT IN DER KUNST
Das Werk des großen österreichischen Bildhauers und Grafi kers Alfred Hrdlicka lässt sich durch ein zentrales Motiv seines Oeuvres erschließen: über den gekreuzigten Menschen. Wenn der Gekreuzigte auch ein Motiv aus dem christlich-europäischen Formenrepertoire ist – das prominenteste sogar –, so ist die anschaulich transportierte Aussage kulturell nicht gebunden, sondern jedem sehenden Menschen unmittelbar zugänglich und in ihrem aufklärerischen Gehalt verständlich. 2007. 403 S. 116 S/W-ABB. BR. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-205-77708-3
böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
Christian Fuhrmeister / Johannes Griebel / stephan KlinGen / r alF peters (hG.)
KunsthistoriKer im KrieG DeutsCher militärisCher KunstsChutz in italien 1943–1945
Nach der Landung der Alliierten auf Sizilien im Juli 1943 und der Amtsenthebung Mussolinis besetzten deutsche Truppen Italien. Gemäß der Haager Landkriegsordnung wurde im Herbst 1943 im Rahmen der deutschen Militärverwaltung eine Abteilung für »Kunst-, Archiv- und Bibliotheksschutz« eingerichtet. Namhafte deutsche Kunsthistoriker arbeiteten in den Dienststellen des Kunstschutzes in Rom und Florenz, Mailand und zuletzt Fasano del Garda. Zu ihren Aufgaben zählte die Erfassung schützenswerter Bauwerke, die Errichtung von Schutzbauten sowie die Auslagerung beweglicher Kunstgegenstände in Depots. Ab Sommer 1944 rückte indes die fotografische Dokumentation der durch alliierte Luftangriffe verursachten Schäden an Kulturdenkmälern in den Vordergrund. Diese Wendung zur Kulturpropaganda veranschaulichen die rund 2000 Aufnahmen des kürzlich aufgefundenen »Fotoarchivs zerstörter Kunstwerke«. Mit den Voraussetzungen, Bedingungen und der Durchführung des »Kunstschutzes« in Italien sowie den Grenzen kunsthistorischer und denkmalpflegerischer Tätigkeit im Krieg beschäftigen sich die Beiträge in diesem Band. Er stellt zudem eine exemplarische Auswahl des Fotokonvoluts vor. 2012. 450 S. 298 S/w-Abb. und FAkSimileS. FrAnz. br. 170 x 240 mm. iSbn 978-3-412-20804-2
böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
HERWIG ZENS
HERWIG ZENS DAS DRUCKGRAPHISCHE WERK 1965–2007 WERKVERZEICHNIS
Österreichische Künstler wie Alfred Kubin, aber auch Oskar Kokoschka und Kurt Absolon wussten die Reize der Druckgraphik für ihre Bildwerke zu nutzen. Für den Maler Herwig Zens hat sich die Druckgraphik im Laufe seines Künstlerlebens einen ganz besonderen Platz erobert, neben Malerei, Zeichnungen, Videofi lmen, Büchern und Buchillustrationen sowie Möbelbemalungen. Zum überwiegenden Teil besteht das Zens’sche Druckwerk aus Radierungen, häufig in Kombination mit Aquatinta eingesetzt. Seine spezielle Vorliebe dafür ist, so Zens, dass sie die „ehrlichere Technik“ ist als beispielsweise die Malerei und „sehr disziplinierend“. Hinzu kommt der ganz spezielle reduktonistische Schwarz-Weiß-Kontrast, der von Zens nur in ganz seltenen Fällen durch Farbübermalungen kontrastiert oder durch den Aquatintaeffekt in Brauntönen erweitert wird. Mit dem Werkverzeichnis der Druckgraphik von Herwig Zens legt Johannes Scheer erstmals die Zusammenschau des Gesamtwerks des Künstlers in dieser Technik von 1966 bis 2007 vor. 2007. 217 S. ZAHLR. S/W-ABB. BR. 290 X 290 MM | ISBN 978-3-205-77633-8
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Sabine FaStert / alexiS JoachimideS / Verena Krieger (hg.)
die WiederKehr deS KünStlerS themen und PoSitionen der aK tuellen KünStler /innen ForSchung (KunSt – geSchichte – gegenWart, band 2)
Nachdem die Kunstgeschichte im 20. Jahrhundert erfolgreich bemüht war, die Fixierung auf das Künstlersubjekt zu überwinden, ist um die Jahrtausendwende die Figur des Künstlers wieder verstärkt in ihren Fokus geraten. Die Künstler/innen-Forschung geht heute von einer theoretisch und methodologisch neu reflektierten Basis aus. Anstatt naiv »das Leben« oder »die Seele« des Künstlers zum Ausgangspunkt der Analyse zu machen, begreift sie die Verbindung von Biografie, Sozialstatus, psychischer Konstitution, Habitus und Werk als komplexe Konstruktionen, die es in ihrer je spezifischen historischen Situation zu analysieren gilt. Der vorliegende Band gibt – konzentriert auf die Moderne vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart – einen Einblick in die aktuelle Künstler/innen-Forschung. 2011. 362 S. Mit 74 S/w-Abb. FrAnz. br. 155 x 230 MM. iSbn 978-3-412-20727-4
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