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German Pages 402 [404] Year 2005
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Conrad Wiedemann
Band 176
Carl Niekerk
Zwischen Naturgeschichte und Anthropologie Lichtenberg im Kontext der Spätaufklärung
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005
Gedruckt mit Unterstützung des Research Board der University of Illinois/UrbanaChampaign.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-18176-1
ISSN 0081-7236
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2005 http://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Geiger, Ammerbuch
Inhalt
Einleitung
ι
Kapitel i: Naturgeschichte
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Foucault — Cassirer — Leibniz
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1.2
Aufgeklärte Naturgeschichte als Praxis
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1.2.1 1.2.2
Blumenbachs >Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte< als Beispiel
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A u f der Suche nach einer Ästhetik der Natur
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1.2.3 Die Kritik der naturgeschichtlichen Praxis in Wielands >Geschichte der Abderiten
Zeit
Schriften und Briefe< (München 1 9 6 8 - 9 2 ) . Die Abkürzung 1/57, Β 35 verweist zum Beispiel auf Band 1 der Promies-Ausgabe, Seite 57, Fragment Β 35. Hinweise auf den von Ulrich Joost und Albrecht Schöne herausgegebenen >Briefwechsel< (München i983fF.) werden von der Abkürzung >Br.< gekennzeichnet. Die Abkürzung Br. 2/192, 792 verweist zum Beispiel auf Band 2 der Briefausgabe, Seite 1 9 2 , Brief Nummer 792.
VII
voor mijn ouders
Einleitung
Aus einer zeitlichen Distanz von mehr als 200 Jahren kann man nur staunen, wie vielseitig die wissenschaftlichen Interessen des Aufklärers Georg Christoph Lichtenberg waren. Es scheint kein wissenschaftliches Thema des 18. Jahrhunderts zu geben, zu dem sich Lichtenberg in seinen Essays, den Fragmenten der >Sudelbücher< oder in seiner Korrespondenz mit Freunden und Kollegen nicht irgendwann geäußert hat. Die hier vorgelegte Studie befaßt sich mit einem Aspekt von Lichtenbergs wissenschaftlichem Denken, der bisher von der Sekundärliteratur vernachlässigt wurde. Wenn in der Forschung von Lichtenbergs naturwissenschaftlichen Interessen die Rede ist, dann beschränkt man sich zumeist auf Lichtenbergs Arbeiten zur Astronomie, Experimentalphysik und Chemie.1 Im Kontext seines wissenschaftlichen Wirkens werden ferner auch seine Reflexionen über philosophische und psychologische Fragestellungen hervorgehoben.2 Was dabei übersehen wird, ist die Tatsache, daß Lichtenbergs Interessen in seinen Essays, in den >Sudelbüchern< und in seiner Korrespondenz sehr viel breiter waren, als man auf Grund seiner fachlichen Kompetenz vermuten würde. Unter anderem interessierte Lichtenberg sich wie viele seiner Zeitgenossen auch fur Naturgeschichte und Anthropologie Ohne jeden Zweifel ist der NaturbegrifF im 18. Jahrhundert und noch lange danach ein Schlüsselkonzept des abendländischen Denkens. Auf exemplarische Weise macht dies Richard Rortys Buch >Philosophy and the Mirror of Nature< klar. Ziel dieser Studie ist eine Genealogie der Schlüsselfragen der westeuropäischen Moderne. Er geht davon aus, daß die Hauptthemen, mit denen sich das abendländische Denken beschäftigt, keineswegs ahistorische Konstanten, sondern ideengeschichtliche Konstrukte sind, die von einer gewissen Willkürlichkeit geprägt werden. Nach Rorty befinden sich Philosophie und Epistemologie der Moderne im Banne der idee fixe, daß es eine außersubjektive Wirklichkeit — Rorty bezeichnet sie interessanterweise als >Natur< - gibt, die sich in der Psyche des Subjekts spiegelt.3 Das Subjekt stellt es sich selbst als Aufgabe, 1
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Vgl. dazu exemplarisch den besonders hilfreichen Forschungsbericht von Rainer Baasner, Georg Christoph Lichtenberg, 1992, S. 154fr. u. 162fr. Baasner, Georg Christoph Lichtenberg, S. 135fr. Am klarsten formuliert Rorty das Anliegen seiner Studie am Ende der >IntroductionNaturNaturgeschichte< und >Anthropologie< — sind als Referenzpunkte gemeint, von denen aus die großen Debatten um das Wesen von Welt und Mensch im 18. Jahrhundert organisiert wurden. Es handelt sich gewissermaßen um zwei Pole, zwischen denen sich auch Lichtenbergs Denken bewegt. Was die Analyse kompliziert aber zugleich auch außerordentlich spannend macht, ist die Tatsache, daß sich beide Begriffe, >Naturgeschichte< und >Anthropologies in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreuen und es deshalb nicht einfach ist, sie auf klar umrissene Definitionen festzulegen. Am Anfang des 18. Jahrhunderts gibt es die Naturgeschichte im Sinne einer stabilen, hierarchischen Ordnung der Na-
mirror, containing various representations — some accurate, some not — and capable of being studied by pure, nonempirical methods.« (Philosophy and the Mirror of Nature, 1980, S. 12) 4
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V g l . Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, S. 139fr.
tur. Die Natur ist dieser Auffassung nach ein großes, sorgfältig organisiertes Tableau. Dieses Systemdenken war damals und ist noch immer mit dem Namen Carl von Linnes verbunden, dessen >Systema naturae< 1 7 3 5 zum ersten Mal erschienen war. Im Laufe des 18. Jahrhunderts gerät die von Linne vertretene Vorstellung einer stabilen, hierarchisch geordneten Natur jedoch immer mehr unter Legitimationsdruck. Als Konsequenz der zahlreichen Entdeckungsreisen wird die Menschheit mit immer mehr Lebewesen, ja mit einer scheinbar unendlichen Zahl von Pflanzen- und Tierarten konfrontiert. Die Hinweise häufen sich, daß bestimmte Tierarten, die einst existiert hatten, nicht länger auf der Erde vorkommen. Selbst über die Verwandtschaft zwischen Mensch und Affe wird spekuliert. Unter dem Einfluß von Linnes Antipoden, Georges-Louis Leclerc Comte de Buffon, setzt sich im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine verzeitlichte Sicht von Natur und Mensch, der es um kausale und genetische Zusammenhänge geht, mehr oder weniger endgültig durch. Lebewesen werden nunmehr als dynamische, sich immer in einer Entwicklung befindende Entitäten gesehen. Sie sind Produkte von Klima, geologischer Lage, Beschaffenheit der Erde und Nahrung. Die Verzeitlichung der Sicht von Natur und Mensch wird mit Hilfe einer Milieu-Theorie denkbar. Paradoxerweise bedeutet diese verzeitlichte Sicht der Natur in einer Formulierung von Wolf Lepenies zugleich jedoch auch das >Ende der NaturgeschichteNaturgeschichte< die Rede ist, ist mit diesem Begriff meistens nicht die ganze Reichweite der Naturgeschichte gemeint, die zum Beispiel auch die Geschichte der Erde, die Entstehung von Gebirgen und die Organisation der anorganischen Natur umfaßt. In dieser Studie beschränke ich mich auf die organische Natur. Vgl. dazu z.B. Frank Dougherty, Buffons Bedeutung fiir die Entwicklung des anthropologischen Denkens im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: ders., Gesammelte Aufsätze zu Themen der klassischen Periode der Naturgeschichte, 1996, S. 70—88, u. Wolf Lepenies, Naturgeschichte und Anthropologie im 18. Jahrhundert. In: Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen,
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nimmt die Anthropologie von der Naturgeschichte die Einsicht in die temporale Bedingtheit allen Lebens auf der Erde, auch der menschlichen Existenz. Zugleich ist die Anthropologie andererseits als Produkt der zunehmenden Spezialisierung der Wissenschaften zu verstehen. >Anthropologie< wird zum Sammelbegriff fur eine Reihe von Disziplinen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Menschen als Naturwesen beschäftigen. Spekuliert wird nicht nur über die Urgeschichte der Menschheit und die mögliche Verwandtschaft zwischen Mensch und Affe, sondern auch über den Ursprung der > natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechter 8 Man interessiert sich fur die biologischen und kulturellen Unterschiede zwischen Völkern. Im selben Kontext wird auch die Frage nach der Beziehung zwischen Körper und Vernunft aktuell: Bewegt die Menschheit sich in Richtung einer immer vernünftigeren Welt, oder läßt die Naturgeschichte eine solche Schlußfolgerung nicht zu? Ist der Mensch letzten Endes ein Produkt seiner intellektuellen Fähigkeiten oder seiner körperlichen Bedürfnisse? Schon in einer Frühphase der Arbeit an diesem Projekt wurde mir klar, daß es wenig Sinn hat, Naturgeschichte oder Anthropologie ausschließlich im deutschen Kontext zu behandeln. Fruchtbarer ist es, den Anthropologie-Begriff im Zusammenhang mit der europäischen Diskussion über eine Wissenschaft vom Menschen zu betrachten, auch wenn eine solche Debatte sich im 18. Jahrhundert erst in ihren Anfängen befindet. 9 Vor dem Hintergrund der europäischen Debatten um Naturgeschichte und Anthropologie im Jahrhundert der Aufklärung ist zu berücksichtigen, daß die Körper-Geist-Problematik, die unter dem Einfluß von Platners 1 7 7 2 veröffentlichter Schrift >Anthropologie für Aerzte und Weltweise< oft zur Kernproblematik der deutschen AnthropologieDebatte im 18. Jahrhundert gemacht wird, im Kontext des europäischen Diskurses eine eher untergeordnete Rolle spielt. Sie wird deshalb in der vorliegenden Studie nur im Kontext der übergreifenden Debatten um die Verzeitlichung des Wissens vom >Naturwesen Mensch< behandelt. Die Tatsache, daß Anthropologie und Naturgeschichte in Lichtenbergs wissenschaftlicher Arbeit eher Randgebiete sind, wird dadurch kompensiert, daß
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hg. von Bernhard Fabian, Wilhelm Schmidt-Biggemann und Rudolf Vierhaus, 1980, S. 2 1 1 - 2 2 6 . Die Entstehung der Anthropologie des 18. Jahrhunderts im Kontext der Debatten um die Naturgeschichte wird im Allgemeinen von der am deutschen Sprachraum orientierten Forschung übersehen. Ausfuhrlicher diskutiere ich diese Problematik in Kapitel 3.2. Ich entnehme diese Formulierung Blumenbachs zuerst 1 7 7 6 veröffentlichter Schrift >Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechter Die Fragestellung findet sich vor Blumenbach auch schon bei Buffon. Auf den europäischen Hintergrund der Anthropologie-Diskussion in Deutschland macht insbesondere auch Werner Krauss in seiner wegweisenden, aber leider unvollendet gebliebenen Studie >Zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Die Frühgeschichte der Menschheit im Blickpunkt der Aufklärung< (1987) aufmerksam.
Göttingen in der Entwicklung der neuen anthropologischen Disziplin auch im europäischen Kontext eine Schlüsselrolle spielt. 10 Auch Lichtenberg wird vom Enthusiasmus für die neuen Wissenschaften angesteckt. Der wichtigste Vermittler der gesamteuropäischen anthropologischen und naturgeschichtlichen Diskurse ist für Lichtenberg fraglos sein Kollege und enger Freund Johann Friedrich Blumenbach ( 1 7 5 2 - 1 8 4 0 ) , der manchmal als der erste Anthropologe überhaupt bezeichnet wird. Blumenbach ist ein bedeutender Vertreter der neuen Naturgeschichte. Intellektuell ist er vor allem von Buffon und Camper beeinflußt. (Letzterer besuchte Lichtenberg und Blumenbach übrigens einmal in Göttingen.) Blumenbach bricht unter dem Einfluß dieser beiden Denker mit dem statischen, religiös gefärbten naturgeschichtlichen Modell von Linne und Bonnet. Um die Entwicklung einzelner Varietäten einer Art im Tier- und Menschenreich zu erklären, entwickelt Blumenbach sowohl das Konzept des Bildungstriebes als auch den Degenerationsgedanken. Ohne die katastrophalen Konsequenzen des Degenerationsgedankens nach dem 18. Jahrhundert verharmlosen zu wollen, ist es trotzdem wichtig, diese Entwürfe im Kontext des Aufklärungsdenkens zu lesen. Daß ein fortschrittlicher Aufklärer wie Blumenbach eine Degenerationstheorie formuliert, scheint möglicherweise weniger paradox, wenn man weiß, daß Blumenbach dieses Konzept einsetzt, um die Idee einer Verwandtschaft von Affe und Mensch zu bestreiten. Mit diesem Gedanken wurde unter anderem der Sklavenhandel legitimiert. Blumenbach handelt also, zumindest seiner Selbsteinschätzung nach, aus humanitären Gründen. 1 1 Zunächst geht es mir in dieser Studie vor allem darum, am Beispiel Lichtenbergs die Wurzeln der anthropologischen Diskussion in anverwandten Disziplinen im Denken des 18. Jahrhunderts zu zeigen. Im ersten Kapitel stehen Lichtenbergs Überlegungen zu den naturgeschichtlichen Debatten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Mittelpunkt. Auch Lichtenberg zeigt Interesse an der von Buffons Schriften in die Naturgeschichte eingeführten Perspektive, auch wenn er ihr nicht ganz unkritisch gegenübersteht, vor allem wenn es um die normativen Implikationen der neuen Denkweise geht. Das zweite Kapitel behandelt die Medizin. Lichtenberg sucht in der Medizin der Aufklärung vor allem eine Bestätigung des neuen, von der Naturgeschichte propagierten Menschenbildes, das materialistisch orientiert ist. Für meine Studie ist die Medizin
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Vgl. zum Beitrag von Göttingen zur Wissenschaftsentwicklung im 18. Jahrhundert: Luigi Marino, Praeceptores Germaniae. Göttingen 1 7 7 0 — 1 8 2 0 , 1995. Die Rolle Blumenbachs diskutiert Marino S. 1 2 0 — 1 3 7 . " Vgl. zu Blumenbach, der bis vor kurzem von Germanistik und Ideengeschichte fast völlig vernachlässigt wurde, neben dem schon erwähnten Buch von Marino insbesondere die Arbeiten von Frank Dougherty (jetzt zusammengestellt in: Gesammelte Aufsätze zu Themen der klassischen Periode der Naturgeschichte, 1996) und auch Helmut Müller-Sievers, Self-generation: Biology, Philosophy, and Literature around 1800, 1997.
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aber auch deshalb von Bedeutung, weil sich an ihr am klarsten zeigen läßt, wie Lichtenbergs Sicht des eigenen Körpers nicht nur von den medizinischen Vorstellungen seines Zeitalters geprägt wird, sondern von ihm sozusagen zum Ausgangspunkt einer anthropologischen Versuchsanordnung gemacht wird. Es gibt, anders formuliert, eine Verbindung zwischen Lichtenbergs Reflexionen zum eigenen Körper einerseits und seinen naturgeschichtlichen und anthropologischen Auffassungen andererseits. Im dritten Kapitel versuche ich eine mehr oder weniger systematische Übersicht von Lichtenbergs anthropologischem Denken zu geben. Um nicht den Eindruck zu vermitteln, Lichtenberg habe jemals eine kohärente anthropologische Theorie entworfen, bevorzuge ich es, von Lichtenbergs >Anthropologie in Bruchstücken< zu sprechen. Der erste Abschnitt des dritten Kapitels hat die Funktion einer Überleitung. In ihm werden die Auseinandersetzungen über die Physiognomik in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts behandelt. Dabei interessiert mich vor allem die Frage, ob und wie Lichtenberg in seinen Überlegungen zur Physiognomik Ansätze zu einer neuen Anthropologie formuliert. Während die existierende Sekundärliteratur vor allem dazu tendiert, Lichtenbergs Physiognomik-Essays als Kritik an einem überholten Wissenschaftsmodell zu lesen, geht es in dieser Studie vor allem um deren kreative Komponente. Ich versuche sie auf ein neues, hier mit dem Stichwort >Anthropologie< umrissenes Modell hin zu lesen. Im zweiten Teil von Kapitel 3 wird dann Lichtenbergs Stellung innerhalb der Entfaltung der Anthropologie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beleuchtet. Um die Spezifik von Lichtenbergs Perspektive herausarbeiten zu können, schlage ich eine zeitlich gegliederte, begriffliche Bestimmung der Anthropologie im 18. Jahrundert vor, die sowohl der Tatsache gerecht zu werden sucht, daß das Konzept >Anthropologie< in einem spezifischen historischen und ideengeschichtlichen Kontext entstand, als auch die Flexibilität des Begriffs berücksichtigen will. Ich interessiere mich dabei sowohl für die diachronen als auch fur die synchronen Folgen, die die Idee vom Menschen als Naturwesen für das Denken des 18. Jahrhunderts hatte. Im letztgenannten Kontext werden auch Lichtenbergs Überlegungen zur KörperGeist-Problematik behandelt (vgl. dazu Kap. 3.2.2 u. 3.2.3). Im dritten Teil des dritten Kapitels geht es schließlich um eine Reihe von Einzelthemen, die im Kontext der sich entwickelnden anthropologischen Sichtweise aktuell werden: Lichtenbergs Sicht der Geschlechterbeziehungen; sein Interesse an anderen, vor allem nicht-europäischen Völkern und Kulturen; und sein Judenbild. Ein jeder, der Lichtenbergs >Sudelbücher< auch nur oberflächlich gelesen hat, weiß, wie sehr sich Lichtenberg für andere Völker und ihre Sitten, Lebensweisen und Gewohnheiten interessierte, und wie viel er über diese Themen las. Lichtenberg äußerte sich sehr kritisch über den Sklavenhandel und die Art und Weise, wie die Europäer in Südafrika die Hottentotten behandelten. Man kann nur darüber staunen, daß derselbe Lichtenberg, der mit so viel intellektueller
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Neugierde und Einfühlungsvermögen über fremde Völker und Kulturen reflektiert, sich vor allem in seinen letzten Jahren so feindlich über Juden äußerte. Zum Teil gibt es dafür vermutlich völlig irrationale, in Lichtenbergs Psyche zu lokalisierende, aber jetzt nicht mehr nachvollziehbare oder rekonstruierbare Gründe. Es ist aber nicht zu leugnen, daß anti-jüdische Tendenzen zumindest implizit auch von den ersten Versuchen modernen anthropologischen und ethnographischen Denkens im 18. Jahrhundert legitimiert wurden (vgl. dazu Kap. 3.3.3). In den Kapiteln 4 und 5 schließlich stehen die Konsequenzen der anthropologischen Denkweise für andere Aspekte von Lichtenbergs Denken im Mittelpunkt. Im vierten Kapitel nehme ich Lichtenbergs Hogarth-Kommentare zum Anlaß, seine Sicht der modernen Gesellschaft zu rekonstruieren. Mit ihrer Milieu-Theorie ermöglicht die Anthropologie auch eine neue Sicht auf den Prozeß der gesellschaftlichen Modernisierung, so wie er sich im 18. Jahrhundert vor allem in England abzuspielen beginnt. Im fünften Kapitel geht es um die Bedeutung der Anthropologie für den geschichtsphilosophischen Diskurs der Spätaufklärung. Ausgangspunkt ist hier Odo Marquards These, das neue anthropologische Wissen problematisiere die Idee des geschichtlichen Fortschritts. 12 Auch hier werden wir im Falle Lichtenbergs mit paradoxen Stellungnahmen konfrontiert. In seinen geschichtsphilosophischen Überlegungen hält Lichtenberg einerseits an der prinzipiellen Möglichkeit eines progressiv sozialgesellschaftlichen Programms fest, obwohl er sich andererseits unleugbar immer stärker mit politisch konservativen Positionen identifiziert. Zusammengefaßt sind die prinzipiellen Anliegen der vorliegenden Studie drei einander ergänzende Erkenntnisinteressen: Im Vergleich zur existierenden Sekundärliteratur zu Lichtenberg interessiert sie sich zuallererst für einen Aspekt seines wissenschaftlichen Denkens, der bisher unterbewertet wurde: die bereits diskutierten naturgeschichtlichen und anthropologischen Interessen Lichtenbergs. Zweitens möchte sie einen Gelehrten-Diskurs der Aufklärung rekonstruieren, der im Vergleich zu philosophischen und ästhetischen Diskursen bis vor kurzem in der Forschung zum 18. Jahrhundert eine eher untergeordnete Rolle spielte. 13 Wer sich eine populärwissenschaftliche Veröffentlichung des letzten 12
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Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, 1 9 9 7 , S. I28ff. Seit kurzem ist die anthropologische Problematik allerdings zu einem fruchtbaren Topos der Germanistik und deutsch-orientierten Ideengeschichte geworden. V g l . dazu den ausfuhrlichen Forschungsbericht von Wolfgang Riedel, Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 6. Sonderheft, Forschungsreferate 3. Folge, 1 9 9 4 , S. 9 3 —157. Bahnbrechend waren insbesondere auch die folgenden Veröffentlichungen: Helmut Pfotenhauer, Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte — am Leitfaden des Leibes, 1 9 8 7 ; J ü r g e n Bark-
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Drittels des 18. Jahrhunderts angesehen hat, weiß, daß BufFon, Camper und Blumenbach in der europäischen intellektuellen Landschaft dieser Periode prominente Spieler waren. Sie beschäftigten sich mit Themen, die ihre Zeitgenossen in hohem Maße interessierten. Das 18. Jahrhundert entwickelte eine kaum zu unterschätzende Neugier fur andere Völker und Kulturen. Die Bedeutung von Intellektuellen wie BufFon, Camper, Blumenbach und nicht zuletzt auch Lichtenberg bestand im Zeitalter der Aufklärung darin, daß sie in ihren Schriften die Konsequenzen dieses erweiterten Weltbildes philosophisch zu reflektieren versuchten. Ein drittes Erkenntnisinteresse wurde bisher noch nicht erwähnt. Meine These ist, daß die in dieser Studie diskutierten Materialien dabei helfen können, Lichtenbergs Stellung innerhalb des Aufklärungsdiskurses genauer zu umreißen. Lichtenberg ist ein typischer Vertreter der Spätaufklärung.14 Er hält bis zum Ende am Aufklärungsprogramm fest. Zugleich wird er in immer stärkerem Maße mit den Widersprüchlichkeiten ihrer Ausgangspunkte konfrontiert. Man könnte sagen, daß sein Denken selbst bis zu einem gewissen Grade Ausdruck der problematischen Seite der Aufklärung ist, auch wenn er als überzeugter Aufklärer immer wieder versucht, auch diese widersprüchliche und problematische Seite der Aufklärung reflexiv zu bewältigen. Es ist in diesem Kontext hilfreich, daran zu erinnern, daß Lichtenberg unter seinen Zeitgenossen zunächst vor allem als Verfasser von populärwissenschaftlichen Essays bekannt war. Ich meine damit nicht nur die bekannten Beiträge Lichtenbergs zur Physiognomik-Debatte, sondern vor allem auch die zahlreichen Aufsätze in den >Goettinger Taschen Calendern< (1778—1799). Meine Analyse beabsichtigt keine Spezialstudie zu Lichtenbergs Essayistik, sie möchte jedoch darauf aufmerksam machen, daß Lichtenbergs Essays ein integraler Teil seines Denkens und seiner Schreibarbeit waren. Ohne Zweifel wird der essayistische Aspekt in Lichtenbergs Schreiben und Denken unter zeitgenössischen Lichtenberg-Forschern und -Liebhabern vernachlässigt, was unter anderem auch daran zu erkennen ist, daß es keine zeitgenössische vollständige Edition der Lichtenbergschen Essays gibt. 15
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hoff u. Eda Sagarra (Hg.), Anthropologie und Literatur um 1800, 1992; Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, 1994; u. Jutta Heinz, Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung, 1996. Vgl. dazu auch Peter-Andre Alt, der die Anthropologie fiir eine konstitutive Komponente der Spätaufklärung hält (Aufklärung, 1996, S. 3ioff.). Sowohl die von Promies als auch die von Mautner veröffentlichten Ausgaben der »Schriften und Briefe« Lichtenbergs bieten nur eine sehr begrenzte Auswahl aus Lichtenbergs Essays. Die vollständigste Sammlung der Essays bieten die ab 1844 in der Dieterichschen Buchhandlung erschienenen »Vermischten Schriften. Neue vermehrte, von dessen Söhnen veranstaltete Original-AusgabeSchriften< oder nach
In seiner Geschichte des Essays im deutschsprachigen Raum zwischen 1680 und 1 8 1 5 plädiert John A. McCarthy dafür, diese literarische Gattung nicht vor dem Hintergrund bestimmter, sie prägender formaler Merkmale zu verstehen, sondern von einer gewissen Modalität her. Entscheidend fur die essayistische Präsentationsform ist die ihr zugrundeliegende Haltung sowohl der im Essay behandelten Thematik als auch dem Leser gegenüber. Es geht dem Autor nicht darum, in seinem Essay eine gewisse Botschaft — geschweige denn eine Ideologie — zu vermitteln, sondern darum, den Leser an der Suche nach Antworten auf eine bestimmte Frage teilnehmen zu lassen. 16 Vor allem will der Autor eines Essays eine Denkweise erproben und damit in Kooperation mit seinem Leser Neuland betreten. Essays sind deshalb durch eine grundsätzliche Offenheit geprägt; in ihnen geht es vor allem um die Erprobung von einander entgegengesetzten, unterschiedlichen Perspektiven hinsichtlich eines Problems, was sich auch als Denken »in komplexen Beziehungen« 17 bezeichnen ließe. Auch in Bezug auf Lichtenberg kann man deshalb sagen, daß es ihm immer wieder um die Herausarbeitung von Konstellationen, und nicht um die Formulierung einer Ideologie geht. Eine so verstandene essayistische und dialogische Struktur ist ohne Zweifel auch für Lichtenbergs Werk charakteristisch. Diese These wird davon untermauert, daß diese >essayistische< Kommunikationsform, wie McCarthy klar macht, 18 nicht nur fur die Gattung des Essays charakteristisch ist, sondern auch für andere Formen, die von Lichtenberg bevorzugt wurden, wie z.B. den Aphorismus und den Brief. Immer wieder nähert sich Lichtenberg einem Problem aus unterschiedlichen Richtungen, erwägt die Vor- und Nachteile einer Position und ist bereit, die Regel zugunsten des Einzelfalls zumindest vorübergehend auszuklammern. Bemerkenswert ist dabei, daß diese essayistische Denkweise bei Lichtenberg in zunehmendem Maße auch das Aufklärungsprogramm selbst betrifft. Dies läßt sich am Beispiel der anthropologischen und naturgeschichtlichen Debatten des 18. Jahrhunderts illustrieren. Die durch Buffons Vorschläge reformierte Naturgeschichte und Anthropologie propagieren innerhalb des Aufklärungsprogramms auf exemplarische Weise eine moderne und im Vergleich zu manch anderen Tendenzen der Aufklärung vor allem auch radikale Denkweise. Die neue Naturgeschichte und Anthropologie privile-
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dem von Joost und Schöne herausgegebenen »Briefwechseln Bei den Essays wurde immer der Kontext der Originalveröffentlichung in den >Goettinger Taschen Calend e r s oder im »Magazin der Wissenschaften und Litteratur< berücksichtigt. Wenn bei den Essays keine neuere Ausgabe zur Verfügung stand, wurde, wenn möglich, nach dem Erstdruck im >Calender< oder >Magazin< zitiert. John A. McCarthy bezeichnet dies als »non-directive attitude of the writer toward her/his subject and audience« (Crossing Boundaries: A Theory and History of Essay Writing in German 1 6 8 0 - 1 8 1 5 , 1989, S. 41). Vgl. dazu McCarthys >Conclusion< in »Crossing Boundarieshier und jetzt< beharrt und vor allem theologischen Systemen äußerst skeptisch gegenübersteht. Der neue Naturbegriff, so wie er sich im Laufe des 18. Jahrhunderts entwickelt, betont Dynamik und widersetzt sich damit Ansätzen, die mit dem Hinweis auf eine stabile Ordnung der Natur die herrschende Gesellschaftsstruktur zu legitimieren versuchen. Die konsequente Verzeitlichung der Sicht von Mensch und Natur impliziert idealerweise auch eine grundsätzlich offene Sicht hinsichtlich der teleologischen Komponente der Aufklärung (wenngleich nicht alle Vertreter der neuen Wissenschaft das kritische Potential dieses Aspekts des neuen Denkens realisieren). Die anthropologische Perspektive kann schließlich auch als Korrektur einer Aufklärung fungieren, die allzu selbstbewußt annimmt, die Legitimationsbedürfnisse, die die alten Dogmen erfüllten, mit Hilfe des neuen Rationalismus lückenlos ersetzen zu können. Vor allem gibt es innerhalb dieses neuen Denkens prinzipiell Raum für Mehrdeutigkeit. Wenn auch nicht immer, so ist Lichtenberg doch häufig dazu fähig, die Vorund Nachteile der neuen Denkweise wahrzunehmen, sogar wenn sich manche seiner Zeitgenossen der neuen Mode eher naiv oder unkritisch hingeben. Nimmt man diese widersprüchliche Struktur, die Lichtenbergs Denken und dem Diskurs der Aufklärung generell inhärent ist, ernst, dann hat dies weitreichende Konsequenzen sowohl fur das Lichtenberg-Bild als auch fur das Bild der Aufklärung, so wie es in der Ideengeschichte heutzutage dominiert. Trotz der Sympathie, die man einer Person wie Lichtenberg entgegenzubringen geneigt ist, soll dies kein Argument dafür sein, die dunkle Seite seines Denkens zu ignorieren, vor allem wenn sich nachweisen läßt, daß sie ein kohärenter Teil seines Denkens ist. Dasselbe gilt für die Aufklärung im Allgemeinen. Das Konzept >Aufklärung< stand im 18. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht für Fortschritt und Toleranz. Auch diese Ideale haben jedoch eine Schattenseite, die schon im Aufklärungsdenken selbst angedeutet wird, wie im Folgenden am Beispiel von Lichtenbergs Schreiben klar werden soll. Bekanntlich ist die Aufklärungsforschung heutzutage polarisiert. Dies gilt vor allem fur die sozialhistorisch argumentierende Richtung. 19 Horkheimer und Adorno sehen die Aufklärung als Ursprung einer instrumenteilen, zweckrationalen Vernunft, der es letzten Endes nur um die Beherrschung von Welt und Mensch geht. Foucault macht auf die der Aufklärung inhärenten Ausschlußmechanismen aufmerksam. Habermas jedoch macht den Aufklärungsdiskurs zum Ausgangspunkt eines Offentlichkeitsideals und des damit verbundenen kommunikationstheoretischen Ansatzes, dem es darum geht, die kolonisatorischen Effekte einer einseitigen Vernunft nun gerade zu vermeiden. Bei all diesen kritischen Ansätzen ist daran zu erinnern, daß das Konzept >Aufklärung< trotz aller präskriptiven Ansprüche, die 19
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Vgl. dazu insbesondere Peter Pütz, Die deutsche Aufklärung, 1 9 9 1 , S. 133fr. Die Aufklärungskritik Foucaults behandelt Pütz ebd. S. i6j&.
man auf der Basis des mit diesem Begriff verbundenen — oder des ihm unterstellten — Programms gelegentlich entweder für oder gegen die Aufklärung zu formulieren versucht (die Kontroversen zwischen Habermas und unterschiedlichen poststrukturalistischen Ansätzen 20 sind in dieser Hinsicht durchaus instruktiv), vor allem auch ein deskriptiver Begriff ist, der eine Vielzahl von Ansätzen beschreiben will. Als Forschungsstrategie ist es vielleicht hilfreich, zunächst einmal davon auszugehen, daß die Aufklärung als polyphoner Diskurs sowohl Licht- als auch Schattenseiten hatte, bevor man sich dazu entschließt, einen dieser beiden Aspekte zu privilegieren. Daß die vorliegende Studie einige der dominanten Polarisierungen innerhalb der Aufklärungsforschung vermeiden will, bedeutet nicht, daß sie ihrerseits keine kritischen Ansprüche hat. Wenn im Folgenden Foucaults Konzeptualisierung der Aufklärung kritisch überprüft wird (vgl. Kap. I.I), dann geschieht dies ausdrücklich nicht mit der Absicht, Foucaults Kritik durch einen rein affirmativen Aufklärungsbegriff zu ersetzen. Man kann Foucault jedoch vorwerfen, daß er die Aufklärung auf ein Modell reduziert, das ihrem Selbstverständnis nicht nur zutiefst widerspricht, sondern auch der Theorie und Praxis des Aufklärungsdenkens nicht gerecht wird. Interessanterweise basiert Foucault sein Aufklärungsbild unter anderem auch auf Entwicklungen der aufgeklärten Naturgeschichte. Foucault wirft der Aufklärung zum Beispiel vor, sie halte an einem statischen Naturbild fest, das im Wesentlichen noch aus dem 17. Jahrhundert stamme. Über dieses Naturbild wird eine normative Dimension in den Aufklärungsdiskurs hineingebracht, die er mit Recht abweist. Interessanter ist es jedoch anzunehmen, daß die Aufklärung eine neue Normativität schafft, die in manchem wohl alten Modellen gleicht, in vielem jedoch auch mit den neuen von der Aufklärung propagierten Denkweisen zusammenhängt. Erst dann werden die Kontinuitäten zwischen dem 18. Jahrhundert und der Gegenwart sichtbar. Neben vielem anderen ist die vorliegende Studie damit auch als Plädoyer für die Ideen eines Repräsentanten der älteren Aufklärungsforschung, Ernst Cassirer, gemeint.
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Vgl. dazu Pütz, Die deutsche Aufklärung, S. 1 6 5 - 1 8 8 .
Kapitel ι: Naturgeschichte
In dem von Lichtenberg herausgegebenen >Goettinger Taschen Calender< fur das Jahr 1788 findet sich die folgende Anekdote: In des Königs von Frankreich Cabinet befindet sich jetzt ein Affe, der sich von allen übrigen Arten durch eine sehr schöne Nase, die der Menschlichen gleichet, unterscheidet, auch ist die Zwischenwand zwischen den Naslöchern (Septum), die gewöhnlich bey den Affen sonst sehr dick ist, bey diesem dünne, wie bey den Menschen. Der Schriftsteller, aus dem ich diese Nachricht entlehne, meint, dieser Affe sey seiner Aehnlichkeit mit dem Menschen wegen, eine wahre Demüthigung fur den Stolz derselben. Das hat aber alles wohl wenig zu bedeuten, so lange die Affen, und hätten sie auch die Nase des vaticanischen Apoll, keine Menschen in ihren Naturaliencabineten aufstellen. Hr. Daubenton hat ihm den Namen SIMIA NASALIS gegeben. 1
Lichtenberg schrieb im >Goettinger Taschen Calender< nicht primär über sein Spezialgebiet, die Experimentalphysik, sondern über viele und sehr unterschiedliche wissenschaftliche Themen, von denen er glaubte, daß sie die Leser des Magazins interessieren würden. Die zitierte Anekdote ist in dieser Hinsicht durchaus repräsentativ. Oberflächlich betrachtet geht es hier vor allem um ein naturgeschichtliches Thema: die genaue Beschaffenheit des Skelettes eines Affen im Naturalienkabinett des französischen Königs. Tatsächlich geht es aber um viel mehr: Was wären die Konsequenzen, wenn dieses Skelett mehr als eine einmalige Kuriosität ist? Wenn Mensch und Affe einander womöglich näher verwandt sind als bis zum damaligen Zeitpunkt angenommen und für möglich gehalten? Damit berührt die Anekdote — lange bevor Darwin sein Buch >The Descent of Man< veröffentlichte ( 1 8 7 1 ) — Fragen, die Lichtenberg und seine Zeitgenossen zutiefst beschäftigten. Diese Fragen beziehen sich vor allem auf den Menschen als Naturwesen und auf die Konsequenzen, die eine solche Konzeptualisierung für seinen Status hat, insbesondere für seine Stellung in der rationalen Ordnung der Natur und fur seine Selbstinterpretation als Vernunftwesen. Vor allem der Naturgeschichte und der sich während des 18. Jahrhunderts allmählich von ihr ablösenden neuen Disziplin der Anthropologie scheinen Schlüsselrollen in dieser Debatte über den Menschen als Objekt empirischer Erkenntnis zuzukommen. 1
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Einige neue Erfindungen, physikalische und andere Merkwürdigkeiten. In: Goettinger Taschen Calender vom Jahr 1 7 8 8 , S. 1 8 8 - 1 9 6 , Zitat S. 193.
i.i
Foucault — Cassirer — Leibniz
Vermutlich hat kein Buch zum heutigen Interesse an der Geschichte von Anthropologie und Naturgeschichte in den Geisteswissenschaften so viel beigetragen wie Foucaults 1966 veröffentlichte Studie >Die Ordnung der Dinge, eine Archäologie der HumanwissenschaftenDie Ordnung der Dinge< sind durchaus kritisch. Er warnt vor allem vor der Gefahr, allzu leichtsinnig unsere eigene Zeit als logischen Endpunkt bei der Beschreibung anderer Perioden zu betrachten. Die Entwicklung der Wissenschaften in Europa seit dem späten Mittelalter — um jene geht es Foucault in seiner Studie vor allem — ist keineswegs ein ununterbrochener Weg in Richtung eines zuletzt ausschließlich empirisch arbeitenden, von allen Vorurteilen befreiten Wissenschaftskonzepts. Es gibt keine konstante Entwicklungslinie, keinen langsamen, aber unaufhaltsamen Prozeß des Fortschritts und der Emanzipation des Wissens. Vielmehr verfugt jede Periode (und auch die unsere) über ihre eigenen Kriterien und Maßstäbe, darüber zu entscheiden, was und was nicht zu Wissen werden kann. Jede Epoche verfugt über ihre eigene Episteme, und manchmal ist aus unserer heutigen Perspektive schwer nachvollziehbar, was in einer vor uns liegenden Epoche als Wissen betrachtet werden konnte. So heißt es bezüglich des 17. und 18. Jahrhunderts zum Beispiel: D i e für uns so evidente Trennung zwischen dem, was wir sehen, und dem, was die anderen beobachtet und überliefert haben, was schließlich andere denken oder naiv glauben, die große Dreiteilung, die so einfach und so unmittelbar erscheint, zwischen der Beobachtung,
dem Dokument
und der Fabel,
existierte nicht. 2
Den Wissenschaftlern des 17. und 18. Jahrhunderts ist es angeblich wichtiger gewesen, Überliefertes in ihr wissenschaftliches Weltbild oder System zu integrieren als durch eigene Beobachtungen Überliefertes zu bestätigen. Nicht eigene Beobachtungen oder Untersuchungen bestimmten nach Foucault, was zu Erkenntnis werden konnte, sondern vor allem die Frage, ob das Gefundene nicht dem widersprach, was immer schon zum Thema gesagt worden war oder dem allgemeinen Glauben entsprach.
2
Michel Foucault, D i e Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, 1 9 8 0 , S. ι β ^ ί .
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Foucault unterscheidet in seiner Studie drei Epochen, die jeweils von einer bestimmten Episteme charakterisiert werden. Die erste umfaßt das späte Mittelalter und das 16. Jahrhundert. Die zweite Epoche, von ihm als >das klassische Zeitalter< bezeichnet, besteht aus dem 1 7 . und 18. Jahrhundert. Die dritte Epoche fing im späten 18. bzw. frühen 19. Jahrhundert an, und wird von Foucault gelegentlich auch als >Zeitalter der Geschichte< bezeichnet. Die ihr zugehörige Episteme bestimmt noch unsere Gegenwart. 3 Für uns ist in diesem Kontext vor allem Foucaults Charakterisierung der klassischen und der modernen, nach-klassischen Epoche relevant. Die Spezifizierung der klassischen Episteme versucht Foucault mit zwei Begriffen zu fassen: >Repräsentation< und >KlassifikationKlassifikation< ist das ordnungsstiftende Prinzip. Die Naturgeschichte ist eines der Felder, an dem Foucault die semiotischen Grundlagen der von ihm isolierten klassischen Episteme exemplarisch studiert. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einerseits handelt es sich bei der Naturgeschichte um eine Vorform der >Humanwissenschaften< oder »Wissenschaften 3
Eine Übersicht von Foucaults Periodisierungsvorschlägen und ihrer semiotischen Spezifität bietet Manfred Frank, Was ist Neostrukturalismus?, 1 9 8 3 , S. 149^ Frank weist auf Foucaults besonders breite Auffassung des klassischen Zeitalters< hin, das nicht nur das 18. Jahrhundert, die Aufklärung im engeren Sinne also, sondern bewußt auch das 1 7 . Jahrhundert umfaßt (ebd. S. I54f·, Fußnote 3). Dies ist fur unsere Fragestellung insofern relevant, als daß Theoretiker wie Cassirer und Lepenies, die deutlich zwischen dem 1 7 . und dem 18. Jahrhundert differenzieren, möglicherweise dank dieser Differenzierung zu einer ganz anderen erkenntnistheoretischen Charakterisierung des 18. Jahrhunderts gelangen als Foucault.
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Vgl. zum Folgenden insbesondere Kapitel 3 >Repräsentieren< (Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 7 8 — 1 1 3 ) und Kapitel 5 »Klassifizieren (ebd. S. 165 — 210). Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 98.
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vom MenschenOrdnung der Dinge< ist. Andererseits lassen sich an keinem anderen Wissensbereich die Strategien der Klassifikation so gut studieren wie an der Naturgeschichte. Die Naturgeschichte wird von Foucault als »Wissenschaft von Merkmalen« definiert, »die die Kontinuität der Natur und ihre Verzahnung gliedern«. 6 Pflanzen und Tiere werden nicht als organische Einheiten betrachtet, sondern in einzelne Organe zergliedert, sie sind die Summe ihrer einzelnen Teile. Der Organismus-Begriff ist ohne Bedeutung fur die klassische Episteme. 7 Ähnliches gilt für andere, mit ihm verwandte oder von ihm direkt oder indirekt abgeleitete Begriffe. Nach Foucault gibt es im Denken des 1 7 . und 18. Jahrhunderts nicht nur keinen Raum fur »Evolutionismus« oder »Transformismus«, 8 das klassische Zeitalter verfugt darüber hinaus angeblich noch nicht über ein biologisches Lebenskonzept: Bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts existiert in der Tat das Leben nicht, sondern lediglich Lebewesen. Diese bilden eine oder vielmehr mehrere Klassen in der Folge aller Dinge auf der Welt: und wenn man vom Leben sprechen kann, dann lediglich als von einem Merkmal — im taxinomischen Sinne des Wortes — in der allgemeinen Verteilung der Wesen. 9
Foucaults Behauptung mag hier auf den ersten Blick überspitzt anmuten, sie ist aber durchaus repräsentativ für die Tendenz und Einzelanalysen in der »Ordnung der Dinge«. Dies hängt wohl mit dem polemischen Interesse zusammen, das Foucault mit seinem Unternehmen verfolgt. Die These, es gebe das ganze 18. Jahrhundert hindurch noch kein biologisches Konzept von Leben, ist unter Historikern der Aufklärung nämlich keineswegs unumstritten. Dies gesteht auch Foucault selbst, 10 und interessanterweise erwähnt er den LichtenbergFreund und -Kollegen Johann Friedrich Blumenbach als einen derjenigen, deren Werk die Existenz eines Lebensprinzips im Denken der Aufklärung belegen soll. Foucault war nicht der Erste, der auf die Bedeutung des Prinzips der Klassifikation für die Wissenschaften des (17. und) 18. Jahrhunderts aufmerksam machte. Spezifisch fur Foucaults Interpretation ist vor allem sein Beharren darauf, daß dies das einzige Modell ist, das in dieser Periode gilt. Während Foucault also von nur einem, alles dominierenden Modell ausgeht, vertritt Ernst Cassirer die These, daß die Aufklärung von zwei unterschiedlichen und mitein6 7 8
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Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 109. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. i79f. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 195. Auch Lepenies, dessen Thesen sonst erheblich von Foucault abweichen, verwirft den Gedanken, daß im Denken des 18. Jahrhunderts eine »Vorwegnahme evolutionären Denkens« anzunehmen sei. Vgl. Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, 1976, S. 75. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 207. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 166.
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ander konkurrierenden epistemischen Modellen geprägt wird. Cassirer interpretiert somit die Aufklärung auf eine von Foucault radikal verschiedene Art und Weise. Einerseits gibt es nach Cassirer den aus dem 1 7 . Jahrhundert überlieferten Systemgeist, andererseits aber eine neuere Tendenz, die sich von diesem Systemgeist abzusetzen versucht. Dabei ist die Kritik am Systembegriff für Cassirer von grundlegender Bedeutung für das Denken des 18. Jahrhunderts: Dem zählenden, dem ordnenden und rechnenden Geist, dem Geist des Rationalismus des siebzehnten Jahrhunderts, tritt jetzt ein neues Streben gegenüber; ein Streben, sich der reinen F ü l l e der Wirklichkeit zu versichern und sich ihr unbefangen hinzugeben, gleichviel ob sich diese Fülle in klaren und deutlichen Begriffen bezeichnen, ob sie sich ausmessen und berechnen läßt."
Dem neuen epistemischen Modell geht es nach Cassirer an erster Stelle um synthetische Verbindungen statt um eine analytische Aufteilung. Es versucht, Gesetzlichkeiten auf der Grundlage konkreter und positiver Wahrnehmungen ausfindig zu machen, statt sich an abstrakten Systementwürfen und an mit ihnen zusammenhängenden Spekulationen zu klammern. 12 Von ausschlaggebender Bedeutung fur das neue epistemische Modell ist nach Cassirer vor allem das Prinzip der » V e r k n ü p f u n g « — »Verwandtschaft«, »Übergang«, »Entwicklung« und »Umbildung« sind die neuen Stichwörter. 13 Über Buffon, der für Cassirer vor allem das Innovative vertritt, heißt es zum Beispiel, daß für ihn »die Natur von einer Art zur andern und oft von einer Gattung zur andern durch unmerkliche Unterschiede fortschreitet, derartig, daß sich eine große Zahl von Mittelstufen findet, die halb dieser, halb jener Gattung anzugehören scheinen«. 14 Dem Intellekt obliegt es nach Buffon, solche Entwicklungen nachzuvollziehen. Foucault ist sich zwar dessen bewußt, daß solche Prinzipien — grundsätzlich eine der biologischen Erkenntnis eigentümliche Struktur - auch für das 18. Jahrhundert angenommen werden. Er spricht tatsächlich auch von der »Vorstellung [ . . . ] daß die lebendigen Formen ineinander übergehen können«, 1 5 weist ihnen aber im Verhältnis zum Prinzip der Klassifikation, zum Systemzwang also, eine untergeordnete Bedeutung zu. Daß Foucault und Cassi-
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Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, 1 9 7 3 , S. 100. Daß für Cassirer die Kritik am Systembegriff entscheidend fur die intellektuelle Identität der Aufklärung und gleichzeitig das Hauptmerkmal ist, durch das die Aufklärung sich vom 1 7 . Jahrhundert unterscheidet, wird auch daran sichtbar, daß er sie bereits in seiner Einleitung ausfuhrlich erörtert (ebd. S. 8ff.). " Vgl. dazu auch Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 9ff. Hier betont Cassirer die Bedeutung Newtons für dieses neue Wissenschaftsideal. Newton hatte sicher auch fur Lichtenberg eine wegweisende Funktion. 13 Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 104. 14 Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. I04f. 15 Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 196.
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rer zu solchen einander radikal entgegengesetzten Analysen der Epistemologie des 18. Jahrhunderts kommen, hat wohl auch mit Unterschieden in der Periodisierung zu tun: Cassirer hebt vor allem die Eigenständigkeit des aufgeklärten 18. Jahrhunderts gegenüber dem 1 7 . Jahrhundert hervor, Foucault hingegen geht von einer Kontinuität zwischen beiden Jahrhunderten aus, die er zusammen als das >klassische Zeitalter< bezeichnet. In Cassirers Denken findet sich jedoch auch ein relativierendes Moment. Er geht zwar von einem Konkurrenzverhältnis zwischen zwei grundsätzlich divergierenden Tendenzen aus, für ihn kommt aber das zweite (auf Verknüpfung basierende) Modell nicht ohne das erste (systematische) Modell aus. Trotz der grundsätzlichen Systemfeindlichkeit der Aufklärung, von der Cassirers Argumentation ausgeht, gilt doch auch wieder, daß »der >esprit systematique< keineswegs gering geschätzt oder beiseite geschoben wird; aber er wird aufs schärfste vom bloßen >esprit de systeme< geschieden«. 1 0 Auch Cassirer gesteht damit eine Abhängigkeit der neuen Episteme von der alten ein. Man könnte beide wohl als Idealtypen begreifen, die noch eng miteinander verknüpft sind und dadurch in einer absolut reinen Form nicht oft vorkommen, wenngleich sie von der Tendenz her in ganz unterschiedliche Richtungen weisen. Cassirer argumentiert vor allem (jedoch nicht ausschließlich) philosophiegeschichtlich. Wolf Lepenies, unter anderem Cassirers Denkanstöße weiterführend, interessiert sich vor allem flir Naturgeschichte. Wie Cassirer geht auch Lepenies von einem Konfliktmodell aus, wenn es darum geht, das 18. Jahrhundert erkenntnistheoretisch zu beschreiben. Entscheidend für die erkenntnistheoretische Entwicklung des 18. Jahrhunderts ist nach Lepenies vor allem der durch unausgesetzte empirische Untersuchungen erreichte Wissenszuwachs, der mit »herkömmlichen informationsverarbeitenden Techniken« — konkret: dem Tableau, der Strategie der Klassifikation — nicht mehr verarbeitet werden kann. 17 Lepenies setzt in seiner Skizze andere Akzente als Cassirer. Für ihn ist vor allem der Ubergang zur Verzeitlichung entscheidend fur die erkenntnistheoretische Entwicklung des 18. Jahrhunderts. Die Annahme einer zeitlichen Dimension ermöglicht dem Wissenschaftler alternative und vor allem auch komplexere Organisationsformen. Die Naturgeschichte entwickelt sich nach Lepenies, das Prinzip der Verzeitlichung ernst nehmend, von einer »mühsam errungenen unhistorischen Systematik« zu einer »unsystematischen Chronik«. 18 Das statische und im Grunde ahistorische Modell der Naturgeschichte wird von einem dynamischen Modell abgelöst. Die Naturgeschichte verliert dadurch ihren zeitlosen Charakter und wird instabil. Lepenies bringt seine Hauptgedanken auf folgende Formel: ' 6 Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 9. 17 Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, S. 16. 18 Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, S. 63.
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Was einst Naturgeschichte hieß und im wesentlichen eine immer subtiler werdende und schließlich den Erkenntnisfortschritt hemmende Klassifikation der von der Tradition überlieferten Wissensbestände war, wird allmählich zu einer sich auf die Erfahrung berufenden, dem Anspruch nach traditionsentlasteten, unvoreingenommenen Betrachtung und Beschreibung der Natur. 1 9
Im Konflikt um die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Naturgeschichte trägt von den widerstreitenden Tendenzen allmählich die empirische Richtung den Sieg davon. Lepenies hebt vor allem den spezifisch modernen Aspekt der epistemischen Wende in der Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts hervor: Das Prinzip der Ordnung dient vor allem dem Ordnen überlieferten Wissens, während die Alternative vor allem auf eigener Erfahrung und Beobachtung zu basieren scheint. Durch den enormen Zuwachs an Erfahrungswissen in der Aufklärung werden die zu engen Grenzen der systematisch arbeitenden Naturgeschichte gesprengt. Exemplarisch läßt sich diese Entwicklung nach Lepenies an Carl von Linne einerseits und Georges-Louis Leclerc Comte de Buffon, meistens einfach Buffon genannt, andererseits nachweisen. Der Name Linne wird auch heutzutage noch aufs engste mit dem Prinzip der Klassifikation assoziiert. Ordnungsliebe ist die Charakteristik, die Linnes Werk sogar in dessen Selbsteinschätzung zu einer Einheit macht.20 Allerdings gibt es auch bei Linne Zeichen, daß er sich einer Krise seines Vorgehens im Laufe seiner Entwicklung bewußt wurde. In der letzten zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Ausgabe des >Systema naturae< macht auch Linne fur ein zeitlich zu interpretierendes Entwicklungsprinzip Platz, indem er die Möglichkeit der Entwicklung neuer Arten zum ersten Mal explizit einräumt.21 Noch klarer wird die Tendenz einer Verzeitlichung der Naturerkenntnis bei Buffon. In Buffons naturgeschichtlichen Versuchen artikulieren sich »die Zweifel einer Epoche, die den Schritt von der statischen Naturschilderung zu einer wahren Geschichte der Natur noch nicht wagen konnte, noch nicht wagen wollte«.22 Cassirer geht hier weiter und identifiziert Buffon, wie bereits gezeigt, ohne allzu große Bedenken mit der neuen Episteme. Lepenies ist vorsichtiger. Interessant ist vor allem die Deutung, die er dem Neuerungswillen Buffons gibt. Zwar weist auch er darauf hin, daß Buffons Beobachtungsgabe von der Rezeption weitgehend anerkannt wurde.23 Lepenies aber hebt insbesondere hervor, daß es Buffon primär um die konkrete Beschreibung der Natur statt um die Klassifikation von Naturphänomenen geht. Obwohl auch Buffon dem älteren Paradigma der Naturgeschichte immerhin noch ver-
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Lepenies, Autoren und Wissenschaftler im 18. Jahrhundert. Linne — Buffon — Winckelmann — Georg Forster — Erasmus Darwin, 1988, S. 7. Lepenies, Autoren und Wissenschaftler, S. 34. Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, S. 70. Lepenies, Autoren und Wissenschaftler, S. 63. Lepenies, Autoren und Wissenschaftler, S. 63.
haftet ist, scheint er doch auch der Meinung zu sein, daß die Natur zu reich und zu vielgestaltig ist, um sie vollständig in einem Klassifikationssystem unterbringen zu können. Dies gesteht sogar Foucault ein. 24 Im Grunde steht Buffon Lepenies' Meinung nach damit mehr noch als Linne zwischen den Traditionen, Buffon ist nämlich zugleich »Naturalist und Geschichtsschreiber des Lebens«. 25 Linne überzeugt vor allem visuell durch eine räumliche Organisation der Naturgeschichte. Buffon hingegen arbeitet primär mit dem Medium der Sprache, indem er sprachlich Verbindungen und Kontinuitäten herstellt. Buffon ist damit für die Innovationen im naturgeschichtlichen Denken des 18. Jahrhunderts von besonderer Bedeutung. Das Programm einer neuen Naturgeschichte stellt er vor allem in der ersten Abhandlung seiner Allgemeinen Naturgeschichte< mit dem Titel >Von der besten Art, die Naturgeschichte zu erlernen und vorzutragen vor, die den Anspruch hat, einen methodischen Rahmen für die neue Naturgeschichte zu schaffen. 26 Buffon widersetzt sich, wie bereits von Cassirer angedeutet, tatsächlich einem gewissen Ordnungsgeist, der sich der Naturgeschichte bemächtigt hat, und bezieht sich dabei auch mehrfach auf Linne, dem er vorwirft, »der Neigung, Klassen zu machen, bis zur Ausschweifung nachzuhängen«. 27 Neben dem Systemgeist kritisiert Buffon auch die Abhängigkeit mancher Naturgeschichtsschreiber von älteren und oft unzuverlässigen Quellen, obwohl er zugibt, daß dieser Fehler im »gegenwärtigen Jahrhundert« nicht mehr gemacht wird. 28 Buffon selbst formuliert ein alternatives Programm, das aus drei Komponenten besteht: erstens einer genauen Beschreibung des Gegenstands, zweitens einer Darstellung seiner Geschichte und drittens dem Versuch, die so errungenen Einsichten nach den Beziehungen zu ordnen, die sie zum Menschen haben. 29 Ganz ohne Ordnungsbegriff kommt also auch Buffon nicht aus. Entscheidend fur ihn ist aber die Forderung, daß seine Ordnung eine natürliche sei, und keine willkürliche. Buffon untermauert sein Programm, indem er dazu auffordert, die Physik statt der Mathematik in der Untersuchung der Natur als Vorbild zu nehmen. Die Mathematik deduziert ihre Wahrheiten aus angenommenen, abstrakten Sätzen; die Physik hingegen 24 25 26
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Vgl. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 166. Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, S. 72. Seinen Ansprüchen nach läßt sich dieser Text durchaus mit Descartes' »Discours de la Methode< vergleichen. Vgl. zu Buffons Innovation der Naturgeschichte und zur Stellung seiner >AbhandlungNaturgeschichtePhilosophie der Aufklärung< beruft Cassirer sich, sowohl wenn es darum geht, die >Denkform< der Aufklärung im Allgemeinen, als auch die naturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen im Speziellen zu rekonstruieren, auf Leibniz, um die grundsätzliche Widersprüchlichkeit der Aufklärung zu erklären. Leibniz ist für Cassirer deshalb so interessant, weil er als Vertreter der Frühphase der Aufklärung den Beleg dafür liefert, daß der oben beschriebene epistemische Wechsel grundsätzlich vom Anfang der Aufklärung an auf einer theoretischen Ebene reflektiert werden konnte und auch wurde. Daß die Leibniz-Rezeption in Europa erst allmählich und vielfach auch indirekt in Gang kam, 3 2 soll nach Cassirer nicht von Leibniz' gewaltigem Einfluß ablenken. Buffons >Naturgeschichte< zum Beispiel ist für Cassirer eines der Werke, die von Leibniz' Denken maßgeblich beeinflußt wurden. 3 3 Vieles weist daraufhin, daß auch Lichtenberg mit Leibniz' Schriften gut bekannt war. 34 Leibniz' Innovation besteht, so Cassirer, vor allem in einer Dynamisierung des philosophischen Weltbildes. Sie findet ihren Ausdruck unter anderem in seiner Vorliebe für Kombinatorik und in einem auf dem Prinzip der Tätigkeit basierenden SubstanzbegrifF, durch den unserer Weltsicht Kontinuität gewährt werden soll. 35 Diese Grundeinsicht versucht Leibniz vor allem durch seinen Begriff der Kraft, der für ihn eine Schlüsselrolle spielt, zum Ausdruck zu bringen. 3 6 U m der Komplexität der hier angedeuteten Fragestellungen gerecht zu 30
B u f f o n , A l l g e m e i n e Naturgeschichte, Bd. 1, S. 8-jff.
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V g l . Sloan, Natural History, 1 6 7 0 - 1 8 0 2 , S. 305.
32
Cassirer, D i e Philosophie der A u f k l ä r u n g , S. 4 } f f .
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Cassirer, D i e Philosophie der A u f k l ä r u n g , S. 4 5 .
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Herbert Breger weist nach, d a ß Lichtenberg Leibniz' Schriften intensiv rezipiert hat und auch durchaus positiv beurteilte, wenngleich dies in Lichtenbergs eigenem W e r k e nur » p u n k t u e l l « nachgewiesen werden kann. V g l . dazu Herbert Breger, Ein Lichtenbergscher B l i c k auf Leibniz. In: Lichtenberg-Jahrbuch 1998, S. 6 3 — 7 8 , insbesondere S. 64.
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Cassirer, D i e Philosophie der A u f k l ä r u n g , S. 36 u. 38f.
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Cassirer, D i e Philosophie der A u f k l ä r u n g , S. 4 i f .
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werden, vor allem in Bezug auf einige Probleme, mit denen ich mich auch in den folgenden Kapiteln befassen werde, sollen im Folgenden zwei Texte von Leibniz, die der Nachwelt als >Neues System< und >Monadologie< bekannt geworden sind, genauer betrachet werden. Cassirers Deutung ist nicht unbedingt die einzig mögliche. Der Titel des ersten Textes, der aus dem Jahre 1695 stammt, lautet vollständig: >Neues System der Natur und des Verkehrs der Substanzen sowie der Verbindung, die es zwischen Körper und Seele gibtUnterredungen über die Schönheit der NaturÄsthetik< als Sonderdisziplin ermöglicht es im Prinzip, bis zum damaligen Zeitpunkt nur lose zusammenhängende Diskussionen miteinander zu verbinden. Als Begründer der Ästhetik gilt Alexander Gottlieb Baumgarten ( 1 7 1 4 - 1 7 6 2 ) , der den Begriff zum ersten Mal benutzt, um damit einen Wissenszweig zu bezeichnen, der sich spezifisch mit Sinnlichkeit bzw. sinnlicher Erkenntnis beschäftigt. 101 Allerdings entwickelt Baumgarten seine Ästhetik nicht in einem ideengeschichtlichen Vakuum. Vor allem ICO
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Saine, Natural Science and the Ideology of Nature, S. 7 1 . Saine hält dies fur eine grundlegende Komponente des aufklärerischen Naturbegriffs, wobei das Ästhetische mit der Ordnung der Natur eng zusammenhängt: »It is not simple to define >nature< [d.h.: den aufklärerischen Naturbegrifif] but it will suffice for our purpose if we regard >nature< originally as the embodiment of those laws created by God in order to keep his universe running properly in the order in which he intended, and, at the first remove, as a semi-divine incarnation of these laws and this creating power (which may be called >natureÄsthetik< explizit als »Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis«; vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der >Aesthetica< (1750/58), 1983, S. 2. Baumgarten veröffentlichte seine >Aesthetica< 1 7 5 0 und 1 7 5 8 zuerst auf Latein. Er hatte den Ästhetik-Begriff schon früher in seinen >Meditationes philosophicae de nonnullis ad poeme pertinentibus< ( 1 7 3 5 ) benutzt; vgl. zu Baumgartens Ästhetik und deren frühen Rezeption: Adler, Aisthesis, S. 90ff.
seine Abhängigkeit von Leibniz wird oft betont. 102 Vielleicht ermöglicht Leibniz es uns in der Tat, eine proto-ästhetische Tradition vor allem auch in Bezug auf Natur und Naturgeschichte wahrzunehmen. Dies ist auch deshalb wichtig, weil von einer Rezeption Baumgartens im Umkreis Lichtenbergs, wie im Folgenden noch näher zu erörtern ist, nichts nachzuweisen ist. In Leibniz' Epistemologie spielten, wie an vorangegangener Stelle schon gezeigt, die Kategorien >Harmonie< und >Vollkommenheit< eine Schlüsselrolle. Die ästhetische Dimension solcher Kategorien — oder zumindest die Möglichkeit, Konzepten wie >Harmonie< und >Vollkommenheit< unter anderem auch eine ästhetische Deutung zu geben — ist unverkennbar, wie auch Cassirer bemerkt hat. Es handelt sich zwar noch nicht um eine Ästhetik im eigentlichen Sinne, sondern um einen proto-ästhetischen Diskurs. Leibniz geht von der Existenz einer »>dunklen< Erkenntnis« bzw. einer »>dunklen VorstellungausdrücktEinheit< bedeutet nicht das blosse Zusammenlesen und Verknüpfen des verstreut Gegebenen: sondern den Keim, der in sich selbst die Mannigfaltigkeit, die erst zu
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Vgl. dazu Hans Rudolf Schweizer, Einführung. In: Baumgarten, Theoretische Ästhetik, S. VII—XVIII, insbesondere S. X . Die Nähe zu Leibniz wird unter anderem aus Baumgartens Erklärung der Schönheit der Erkenntnis klar. Ähnlich Leibniz' These der >prästabilisierten Harmonie< unterscheidet Baumgarten drei Komponenten, die »die Schönheit der allgemeinen Erkenntnis« erklären sollen: 1) »die Übereinstimmung der Gedanken [ . . . ] unter sich zur Einheit, die Erscheinung genannt sei, d. h. die Schönheit der Sachen und Gedanken«, 2) »die Übereinstimmung der Ordnung, in der wir die schön gedachten Sachen überdenken, mit sich selbst und mit den Sachen, soweit sie in Erscheinung tritt«, und 3) »die Übereinstimmung der Zeichen (Ausdrucksmittel) unter sich und mit der Ordnung und den Sachen, soweit sie in Erscheinung tritt«. (Baumgarten, Theoretische Ästhetik, S. 1 3 ) Auch für Baumgarten ist der Gedanke einer der Natur innewohnenden Ordnung grundlegend. Seine Überlegungen ließen sich damit durchaus auch auf die Naturgeschichte beziehen. Lichtenberg besaß von Baumgarten dessen >Metaphysica< (vgl. Gumbert, Bibliotheca Lichtenbergiana, S. 210), wo dieser sich vor allem im Kapitel über die Erfahrungspsychologie unter anderem auch mit ästhetischen Themen beschäftigt. Mit der Frage nach der »Vollkommenheit bzw. »Unvollkommenheit der Dinge< und ihrer Rolle für die menschliche Erkenntnis beschäftigt Baumgarten sich im Abschnitt über das »Urteilsvermögen (Baumgarten, Texte zur Grundlegung der Ästhetik, 1 9 8 3 , S. 55ff ). Cassirer, Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, S. 459ffCassirer, Leibniz' System, S. 464.
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erschaffen ist, enthält und v o r b i l d e t . « 1 0 5 Die gesuchte Einheit ist erkenntnistheoretisch privilegiert. Gesucht wird nicht eine Ordnung, die empirisch G e gebenes willkürlich zusammenbringt, sondern eine Ordnung, die Ausdruck unter der Oberfläche liegender und damit tieferer Beziehungen alles empirisch Gegebenen zueinander ist. Sie trägt dadurch zu unserer Erkenntnis bei, daß sie Erkenntnis auf einer grundlegenderen Ebene ermöglicht. Die gesuchte ästhetische Ordnung hat schließlich flir Leibniz auch eine ethische Dimension, auf die Cassirer mehrfach anspielt. Was Cassirer als das ästhetische Problem bei Leibniz bezeichnet, soll uns helfen, den >Begriff der ethischen Person< bei demselben zu verstehen. Das ästhetische Wohlempfinden, die ästhetische Lust, ist nach Leibniz im Grunde nichts anderes als die »Empfindung einer Vollkommenheit oder Vortrefflichkeit«, und »Schönheit erwecket Liebe«.106 Leibniz' Gedanken zur Schönheit der Natur könnte man als proto-ästhetisch bezeichnen. Eine explizite Ästhetik, im Sinne einer Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis, der es um das Problem der ästhetischen Erfahrung und ihrer Bedeutung fur unsere Erkenntnis der Natur geht, entsteht erst in der zweiten Hälfte des 1 8 . Jahrhunderts, und sie gelangt vor allem durch die Philosophie
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Cassirer, Leibniz' System, S. 4 6 1 . Anderswo in seinen ästhetischen Überlegungen zu Leibniz macht Cassirer den Zusammenhang zwischen dieser ästhetischen Ordnung und Leibniz' Konzept der Naturphilosophie und deren Dynamisierung im Allgemeinen deutlich: »Die >Einheit in der Mannigfaltigkeit bedeutet keineswegs nur die mathematische Proposition. Die philosophische Ursprungsstelle des Prinzips liegt, wie wir sahen, im Problem des Organismus. Die Vielheit und die stete Wandlung der Bildungen trat uns hier als Aeusserungsform und Selbstdarstellung einer ursprünglichem Einheit des Lebens entgegen. Das Sinnlich-Einzelne wurde in seinem Wert erhöht, indem wir es als momentane Ausprägung, damit aber als notwendige Vermittlung dieses Gesamtgesetzes der Entwicklung dachten. [...] In dieser Betrachtung ist bereits ein Analogon der aesthetischen Auffassung enthalten. >Das Gesetz, das in die Erscheinung tritt, in der grössten Freiheit, nach seinen eigensten Bedingungen, bringt — nach Goethes Wort — das Objektiv-Schöne hervor.Aehnlichkeit des VielenVermögen< der Vorstellungen definiert werden kann. Hier sind die Bedingungen fur die Konstitution des ästhetischen Subjekts gegeben.« [Cassirers Rechtschreibung ist hier inkonsistent] (ebd. S. 465) Leibniz, Von der Glückseligkeit, zitiert nach Cassirer, Leibniz' System, S. 462 u. 4 6 1 .
Immanuel Kants zu allgemeiner Anerkennung. Der Gedanke der Schönheitserfahrung durch »Einheit in Mannigfaltigkeit« war schon vor der Entwicklung dieses ästhetischen Diskurses im eigentlichen Sinne allgemeines Gedankengut. Moses Mendelssohns Definition eines schönen Gegenstands in seiner Schrift >Ueber die Hauptgrundsatze der schonen Künste und Wissenschaften< steht Leibniz' proto-ästhetischen Überlegungen sehr nahe. Auch Mendelssohn betont, daß »Theile [ . . . ] auf eine sinnliche Art übereinstimmen« und damit »ein Ganzes« ausmachen müssen, damit »Ordnung und Regelmäßigkeit« wahrnehmbar sind und ein Gegenstand als schön empfunden werden kann. 1 0 7 Eine solche ästhetische Interpretation des Leibnizschen Vollkommenheitsbegriffs ist aber im 18. Jahrhundert offenbar nicht unproblematisch. Obwohl Mendelssohn Leibniz' proto-ästhetischem Denken einerseits deutlich nahesteht, protestiert er andererseits doch auch zum Beispiel gegen die Gleichsetzung von >Vollkommenheit< — einem Kernbegriff der Epistemologie von Leibniz — und >SchönheitSudelbüchern< formuliert er in Anlehnung an Mendelssohns >Ueber die Hauptgrundsatze der schonen Künste und Wissenschaften einige interessante Beobachtungen, in denen er sich mit der ästhetischen Dimension der Natur befaßt: Die Schönheit der äußerlichen Formen überhaupt, sagt Mendelssohn (Über die HauptGrundsätze der schönen Künste), ist nur ein geringer Teil von den Absichten der Natur, und sie hat dieselbe zuweilen größeren Absichten nachsetzen müssen. Unsere Empfindung ist sicherlich nicht der Maßstab fiir die Schönheit des unübersehbaren Plans der Natur. (1/598, F 960 u. 9 6 i ) ' ° 9
Aus beiden Fragmenten werden Lichtenbergs (und Mendelssohns) Skepsis gegenüber einer ästhetischen Ideologie der Natur deutlich. Lichtenberg leugnet zwar die Schönheit der Natur nicht, und auch nicht, daß sich aus der Schönheit
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Moses Mendelssohn, Ueber die Hauptgrundsätze der schonen Künste und Wissenschaften. In: Moses Mendelssohns Gesammelte Schriften, Bd. 1 , 1 8 4 3 , S. 279 — 305, Zitate S. 284. Saine, Natural Science and the Ideology of Nature, S. 75. Lichtenbergs Überlegungen beziehen sich auf die folgende Stelle bei Mendelssohn: »Die Natur hat einen unermeßlichen Plan. Die Mannigfaltigkeit desselben erstreckt sich vom unendlich Kleinen bis ins unendlich Große, und seine Einheit ist über alles Erstaunen hinweg. Die Schönheit der äußerlichen Formen überhaupt, ist nur ein sehr geringer Theil von ihren Absichten, und sie hat dieselbe zuweilen großem Absichten nachsetzen müssen. Ist es also wohl möglich, daß der eingeschränkte Raum, welchen wir von der Natur betrachten können, daß dieser Raum, in so fern er uns in die Sinne fallt, alle Eigenschaften der idealischen Schönheit erschöpfen sollte?« (Mendelssohn, Ueber die Hauptgrundsätze, S. 288f.)
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der Natur so etwas wie deren Zweck erfahrbar wäre, er grenzt die teleologische Bedeutung der ästhetischen Naturerfahrung aber ein, indem er die Schönheit für nur einen Teil, und zwar für einen kleinen Teil, des Naturplans hält. Im zweiten Fragment spielt Lichtenberg dann mit dem Gedanken, daß die Schönheit der Natur unserem Wahrnehmungsvermögen nicht zugänglich wäre. Dem Menschen wird die Fähigkeit abgesprochen, die Schönheit der Natur zu erkennen, da die Ordnung der Natur »unübersehbar« — zu gewaltig, um vom Menschen erfaßt zu werden - ist. 3. Ein weiterer Beleg für die Existenz eines ästhetischen Natur-Diskurses liegt in der Gestalt eines anonymen Essays im von Lichtenberg und Georg Forster herausgegebenen >Gottingischen Magazin der Wissenschaften und Litteratur< vor, der im ersten Heft des dritten Jahrgangs (1782) erschien. Der Titel dieses Essays ist >Ueber die Theorie der SchonheitAgathonUeber die Theorie der Schönheit < eng miteinander verbunden. Interessant sind an diesem Aufsatz 110
Ueber die Theorie der Schönheit. In: Gottingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur, Dritten Jahrgangs Erstes Stuck, 1 7 8 2 , S. 4 2 - 6 1 , hier S. 4 5 .
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Ueber die Theorie der Schönheit, S. 4 8 .
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Ueber die Theorie der Schönheit, S. 5 6 .
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Ueber die Theorie der Schönheit, S. 5 9 .
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Ueber die Theorie der Schönheit, S. 5 9 .
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vielleicht nicht an erster Stelle die Thesen, die in ihm vertreten werden und die vor allem auf eine Synthese zwischen Rationalismus und Sensualismus hinauslaufen, mit der die fur die (Proto-)Ästhetik des 18. Jahrhunderts prägende Spaltung 1 1 5 überwunden wird. Interessant ist vielmehr auch die Unwissenheit hinsichtlich des ideengeschichtlichen Hintergrunds dieser Gedanken. Mit Baumgartens >ÄsthetikKritik der Urteilskraft^, die 1790 in einer ersten Auflage erschien. In vielerlei Hinsicht stellt auch Kants Buch wie der anonyme Essay im >Gottingischen Magazin< den Versuch dar, eine Synthese zwischen ihm vorausgehenden Positionen herzustellen, nämlich zwischen Sensualismus und Rationalismus, vielleicht auch allgemeiner zwischen Empirismus und Rationalismus. Auch das begriffliche Instrumentarium erinnert an seine Vorgänger. Wenn Kant die Urteilskraft als »das Vermögen« definiert, »das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken«," 6 spielt er damit eindeutig auf das bereits vor ihm artikulierte Verlangen nach ästhetischer Ordnung, nach Einheit in der Mannigfaltigkeit an. Mit Baumgarten und der ihm vorausgegangenen proto-ästhetischen Tradition hat Kants Ästhetik gemein, daß sie nicht oder nur in einem äußerst beschränkten Maße Kunsttheorie sein will, und stattdessen vielmehr ein Teil der Erkenntnistheorie. Innerhalb dieser Erkenntnistheorie hat sie die Funktion, eine Brücke zwischen Verstand und Vernunft, zwischen dem sinnlich-empirischen und dem moralischen Bereich, zwischen Natur und Freiheit zu schlagen. 1 1 7 Ähnlich wie Mendelssohn problematisiert auch Kant eine allzu leichtfertige Mobilisierung des Schönheitsbegriffs im Dienste einer Teleologie der Natur. Dies wird vor allem auch aus der Struktur der >Kritik der Urteilskraft^ klar, die zweigliedrig angelegt ist. Die Frage nach den ästhetischen Kategorien des Erhabenen und des Schönen gehört nach Kant zur >Kritik der ästhetischen Urteilskraft^ Die Kategorien sind damit rein formal - das heißt: sie beziehen sich nicht auf »existierende Dinge« - und deshalb kann nur von einer »subjektiven Zweckmäßigkeit« die Rede sein. 1 1 8 Wenn im berühmten Paragraphen 59 seines Werkes die Schönheit als »Symbol des Sittlichguten« definiert w i r d , 1 1 9 bedeutet dies vor dem Hintergrund der Tradition, von der Kant sich absetzt, " 5 Vgl. dazu Jung, Von der Mimesis zur Simulation, S. 60. 1,6 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe, Bd. X , 1 9 7 4 , S. 8 7 . 117 Kant, Kritik der Urteilskraft, insbesondere Abschnitt III der Einleitung, S. 84fr. V g l . auch Otfried Höffe, Immanuel Kant, 1 9 8 8 , S. 260f. 118 Höffe, S. 262. Das Schöne diskutiert Kant in der >Kritik der UrteilskraftGeschichte der Abderiten< Es gibt also eine Kehrseite der enormen Popularisierung der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, welche in zeitgenössischen Texten reflektiert wurde. Dies wird zum Beispiel deutlich an den Überlegungen zur öffentlichen Funktion der Naturwissenschaften, so wie sie in den ersten zwei Büchern von Wielands >Geschichte der Abderiten< diskutiert werden. Interessant ist vor allem die Interaktion zwischen Demokrit, der in der >Geschichte der Abderiten< die wissenschaftlichen Hoffnungen der Aufklärung — trotz des satirischen Grundtons des in der griechischen Antike spielenden Romans — in einem durchaus positiven Sinne vertritt, und seinen Stadtgenossen, an denen Wieland vor allem das Nichtfunktionieren der Öffentlichkeit demonstriert. Der Roman betont Demokrits Interesse an fremden Ländern und Völkern, was als durchaus repräsentativ für das Interesse des 18. Jahrhunderts insbesondere an außereuropäischen Gebieten gelten kann, aber darüber hinaus auch metaphorisch zu interpretieren ist, nämlich als Ausdruck einer allgemeinen wissenschaftlichen Neugier, die sich darauf richtet, das Unbekannte kennenzulernen und mit wissenschaftlichen Mitteln zu begreifen. Uber diesen Demokrit heißt es: »Überhaupt ist es gar nicht wahrscheinlich, daß Demokritus ein System gemacht habe«. 1 2 5 Wielands Text ist damit ein weiterer Beleg dafür, daß die Kritik am Systemgeist ein integraler Aspekt der Aufklärung war und nicht erst nach deren Ende erkannt wurde. Nicht nur das Systemdenken wird in Wielands >Geschichte der Abderiten< kritisiert, auch die Existenz einer alternativen Episteme wird angedeutet. Als Grund für Demokrits Skepsis gegenüber einem Systemdenken wird angegeben, 125
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Christoph Martin Wielaad, Geschichte der Abderiten. In: ders., Werke, Bd. 2, hg. von Fritz Martini u. Hans Seiffert, 1966, S. 209.
daß jemand, der »sein Leben [ . . . ] mit Reisen, Beobachtungen und Versuchen zubringt, [ . . . ] selten lange genug [lebt], um die Resultate dessen, was er gesehen und erfahren, in ein kunstmäßiges Lehrgebäude zusammenzufügen«. 126 Demokrits intellektuelle Attitüde, seine Skepsis gegenüber dem Systemdenken, so wie sie im obigen Zitat angedeutet wird, impliziert zwar eine Absage an den Systemzuw2£, an die Gleichsetzung von System und Wissenschaft, doch erhebt Demokrit nicht den Anspruch, daß die Wissenschaften ganz ohne System auskommen können: Demokritus reisete nicht bloß [...] um Pflanzen und Tiere abzuzeichnen und unter Classen zu bringen, wie Doctor Solander: sondern er reisete, um Natur und Kunst in allen ihren Wirkungen und Ursachen, den Menschen in seiner Nacktheit und in allen seinen Einkleidungen und Verkleidungen, roh und bearbeitet, bemalt und unbemalt, ganz und verstümmelt, und die übrigen Dinge in allen ihren Beziehungen auf den Menschen, kennen zu lernen." 7
Liest man diese Stelle vor dem Hintergrund von Cassirers Theorie, dann zeigt sich in Demokrits Arbeitsweise eine deutliche Vorliebe für das zweite, auf dem Prinzip der kausalen Verknüpfung basierende epistemische Modell. Dies wird vor allem daran deutlich, daß Demokrits Erkenntnisinteresse von einem Verlangen getrieben wird, die »Wirkungen und Ursachen« zu durchschauen. Auch an anderer Stelle ist die Rede von Demokrits »Lieblingsstudium, die Erforschung der Naturwirkungen«. 128 Als Konsequenz eines solchen kausal-orientierten Denkens sieht Demokrit den Menschen als soziales Wesen, als Teil eines sozio-kulturellen Feldes, und nicht ausschließlich als eine Kategorie unter vielen anderen in einer enzyklopädischen Übersicht der Natur. Die polemische Bedeutung der eben zitierten Charakterisierung der wissenschaftlichen Vorgehensweise Demokrits wird erst deutlich, wenn man sie auf ihren Kontext bezieht. Ihr folgt nämlich eine Auseinandersetzung über Demokrits Reisen und seine Erfahrungen in anderen Ländern. Die Erforschung der außereuropäischen Welt wird hier, wie es im 18. Jahrhundert überhaupt der Fall war, 1 2 9 zum Testfall für die Fragen nach Wesen und Funktion der Wissenschaften. Ein »abderitischer Gelehrter« behauptet, Demokrit sei nie in Äthiopien gewesen, da er sonst »mit den Agriophagen, deren König nur ein Auge über der Nase hat, mit den Sambern, die allezeit einen Hund zu ihrem König erwählen, und mit den Artabatiten, die auf allen Vieren gehen, Bekanntschaft 126 127 128 129
Wieland, Geschichte der Abderiten, S. 209. Wieland, Geschichte der Abderiten, S. I38f. Wieland, Geschichte der Abderiten, S. 1 7 2 . Vgl. dazu das Kapitel >Science, planetary consciousness, interiorsBeyträgen zur Naturgeschichtec »Ich liefere in diesen Beyträgen lauter eigne Aufsätze und zwar blos solche von denen ich
Die Naturgeschichte hat, anders formuliert, eine Schlüsselfunktion bei der Verständigung darüber, welche Bedeutung Wissen und Wissenschaft haben, aber auch allgemeiner macht sie die Öffentlichkeit mit dem bekannt, was Wissenschaft ist, wie sie funktioniert und was ihre Ziele sind. Dabei mag auch die Tatsache eine Rolle gespielt haben, daß sich an der Naturgeschichte vielleicht am prägnantesten die quantitativen Fortschritte der aufgeklärten Wissenschaften manifestieren. Der enge Zusammenhang zwischen einer solchen quantitativen Erweiterung der Naturgeschichte und der Entdeckung bzw. naturgeschichtlichen Beschreibung neuer Weltteile, die auf die Öffentlichkeit ebenfalls eine faszinierende Wirkung ausübte, was sich unter anderem an der explosionsartig wachsenden Lektüre von Reiseberichten nachweisen läßt, 1 3 9 mag dabei sicherlich auch von Bedeutung gewesen sein. Der letzte hier genannte Aspekt - die Bedeutung der Naturgeschichte fur die Öffentlichkeit - ist in Bezug auf die >Sudelbücher< weniger relevant, weil diese in erster Linie private Aufzeichnungen sind. Im Folgenden soll der zweite hier erwähnte Aspekt genauer betrachtet werden: die Funktion der Naturgeschichte als heuristisches Hilfsmittel beziehungsweise als Ort, an dem die methodischen Grundlagen der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit reflektiert werden können. Ich konzentriere mich dabei insbesondere auf Lichtenbergs Überlegungen zur Naturgeschichte in den Heften F ( 1 7 7 6 — 1 7 7 9 ) und J (1789—1793) der >SudelbücherNature< of Enlightenment. In: The Sciences in Enlightened Europe, hg. von William Cark u.a., S. 2 7 2 — 304, insbesondere S. 273f. •39 Vgl. dazu Pratt, insbesondere S. 38ff. Auch Wielands >Geschichte der Abderiten< belegt, wie oben gezeigt wurde, diese wachsende Neugier des Publikums an Reiseberichten.
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A u f den ersten Blick geht es in diesem Fragment um eine naturgeschichtliche Fragestellung, und zwar um die Frage nach einem der Naturgeschichte zugrundeliegenden System. Lichtenberg unterscheidet dabei zwischen einem »natürlichen« und einem »künstlichen« System. Die A n t w o r t auf die Frage nach der faktischen Existenz eines der Naturgeschichte zugrundeliegenden »natürlichen Systems« -
das heißt eines Systems, von dem angenommen wird, daß es in
der Natur objektiv, faktisch existiert — bleibt in diesem Fragment undeutlich. D i e Möglichkeit, daß je ein solches natürliches System entdeckt werden wird, läßt Lichtenberg nachdrücklich offen. Dies soll aber nicht als Argument gegen »künstliche Systeme« ausgelegt werden. Solche »künstlichen« Systeme haben einen Hypothesen vergleichbaren Status. Lichtenberg stellt in diesem Fragment eine deutliche Verbindung her zwischen Naturgeschichte einerseits und einer allgemeiner aufgefaßten, generellen naturwissenschaftlichen Tätigkeit andererseits. Der letzte Satz des Fragments bezieht sich nicht mehr nur auf die Naturgeschichte allein, sondern auf die Arbeitsweise der Wissenschaften im weiteren Sinne. Man könnte ihn als Verallgemeinerung der eben diskutierten Problematik verstehen. Welchen Status hat dieser Satz aber? G e h t es Lichtenberg tatsächlich darum, mit Hilfe des Hypothesen-Konzepts die Funktionsweise künstlicher Systeme in der Naturgeschichte zu erläutern, oder ist es eher umgekehrt, und soll das Beispiel der künstlichen Klassifikationen der Naturgeschichte die Rolle von Hypothesen bei der wissenschaftlichen Arbeit generell verdeutlichen? Für die letzte M ö g lichkeit spricht, daß es logischer ist, etwas Abstraktes mit etwas Konkretem zu erläutern, aber auch, daß die auf J 1360 folgenden Fragmente sich mit wissenschaftlicher Tätigkeit generell, und nicht nur mit der Naturgeschichte allein beschäftigen. Im eben zitierten Fragment J 1360 hat der Systembegriff eine epistemische Bedeutung in einem durchaus positiven Sinne: Das System ermöglicht Erkenntnis. Dies wird auch von den zwei unmittelbar folgenden Fragmenten (2/251, J 1 3 6 1 u. 1362) bestätigt, in denen es um die Suche nach einem »Paradigma« geht, und zwar vor allem u m ein Paradigma, das man »deklinieren« kann (2/251, J 1362), das sich also in unterschiedliche Subsysteme aufspalten läßt. Die beiden folgenden Fragmente nämlich stellen die Existenz eines Systems im Sinne eines aller Erkenntnis zugrundeliegenden Paradigmas grundsätzlich in Frage: An jeder Sache etwas zu sehen suchen was noch niemand gesehen und woran noch niemand gedacht hat. Zuweilen Beschreibungen in poetischer Prose zu machen oder sonst Schilderungen von einzelnen Gegenständen; sie können alle gebraucht werden. (2/251, J 1363 u. 1364)
Während das frühere Fragment J 1360 die Bedeutung des Systems betonte, wird es hier radikal in Frage gestellt. Fragment J 1363 richtet sich auf diejenigen Aspekte eines Objekts, die sich einem klassifikatorischen Z u g a n g entziehen,
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nämlich »was noch niemand gesehen und woran noch niemand gedacht hat«. Dabei handelt es sich nicht nur um eine mit J 1360 kontrastierende Aussage, sondern um eine, die die Möglichkeit eines künstlichen oder natürlichen Systems im Sinne von J 1360 ausschließt. Auch das darauf folgende Fragment steht dem Systemgedanken entgegen: »Beschreibungen« oder »Schilderungen von einzelnen Gegenständen« sind dem Klassifikationsgedanken der Intention nach entgegengesetzt. Das Fragment enthält darüber hinaus einen versteckten Hinweis auf Buffon, nicht nur wegen der Betonung der Beschreibung, sondern auch weil von »poetischer Prose«. die Rede ist, wofür Buffon unter seinen Zeitgenossen bekannt war. 1 4 0 Lichtenberg denkt in Konstellationen. Er spielt hier deutlich mit völlig auseinandergehenden, kontrastiven oder sogar kontradiktorischen Gedanken. Man könnte auch von einem Riß durch Lichtenbergs Gedankengebäude sprechen, der erklärungsbedürftig ist und sehr wohl etwas mit unausgesprochenen normativen Aspekten der miteinander konkurrierenden Wissenschaftskonzepte des 18. Jahrhunderts zu tun haben könnte. Die Kritik am Systemgeist — meistens im Kontext naturgeschichtlicher Klassifikationen diskutiert — ist einer der dominierenden und augenfälligsten Topoi in den erkenntnistheoretischen Überlegungen in Lichtenbergs >SudelbüchernSudelbüchernNaturgeschichte< ( 1 7 5 1 ) behandelt (Vorrede zum Ersten Theile der allgemeinen Historie der Natur. In: ders., Sammlung kleiner hallerischer Schriften, Bd. 1 , 1 7 7 2 , 8 . 4 7 - 7 7 , besonders S. 5 jff.). Im Gegensatz zur späteren Generation von Buffon-Rezipienten in Göttingen (Blumenbach, Lichtenberg) ist Hallers Haltung gegenüber Buffon überwiegend skeptisch bis negativ.
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Lichtenberg:
Kommentar:
Das Studium der Naturhistorie ist nun in Deutschland zur Raserei gestiegen. Es ist freilich immer besser als strotzende Freiheits-Oden zu verfertigen, oder das Dutzend Ideen unserer sogenannten großen Dichter bald in 3- bald sechszolligen Zeilen in erstimulierter Begeisterung zu mischen. Allein obgleich vor Gott das Insekt so viel gilt als der Mensch, so ist es fur unsern Nerven-Knaul doch nicht. Gütiger Himmel, wie viel hat der Mensch in Ordnung zu bringen bis er auf Vögel und Schmetterlinge kommt. Lerne deinen Körper kennen, und das was du von deiner Seele wissen kannst, gewöhne dich zur Arbeit, und lerne deine Bequemlichkeit überwinden, gewöhne deinen Verstand zum Zweifel und dein Herz zur Verträglichkeit. Lerne den Menschen kennen und waffne dich mit Mut zum Vorteil deines Nebenmenschen die Wahrheit zu reden. Schärfe deinen Verstand mit Meßkunst, wo du sonst keine Gegenstände findest, allein hüte dich vor Namen-Registern von Würmern, wovon eine flüchtige [Kenntnis] nicht nützt und eine gnaue ins Unendliche fuhrt. Aber Gott ist unendlich im Insekt wie in der Sonne. Ο ich gestehe dieses gerne zu. Er ist aber auch im Sand des Meeres unermeßlich den noch kein Linne nach seinen Gestalten geordnet
Kritik einer vor allem in Deutschland zur Mode gewordenen Naturgeschichte.
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Es ist pragmatischer, sich mit Menschen statt Insekten (der weiter unten erwähnten »Namen-Registern von Würmern«) zu beschäftigen. Kritik des Ordnungszwangs (1. Episteme). Der eigene Körper wird hier zur Basis einer alternativen Erkenntnisstrategie. Der Körper als heuristisches Medium (2. Episteme?).
Es gibt pragmatische Gründe, das Wissen vom Menschen zu bevorzugen: dies führt zu einer besseren Welt.
Kritik der naturgeschlichtlichen Klassifikation.
Die Natur ist unendlich. Die Masse der (empirisch erhaltbaren) Information fordert andere Informationsverarbeitende Techniken als die Klassifikation.' 4 4
Lichtenberg kritisiert hier genau das, was Lepenies zufolge zu einer Absage an das System- und Klassifikationsdenken der Naturgeschichte führte. Nach Lepenies zwingt der »Zuwachs an Erfahrung« die Wissenschaften dazu, neue »empirische Verfahrensweisen zu entwickeln« (Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, S. 22).
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hat. Wenn du nicht besondern Beruf hast in jenen Gegenden nach Perlen zu fischen, so bleibe hier und baue deinen Acker, er erfordert deinen ganzen Fleiß, und bedenke daß die Zahl der Fibern deines Gehirns und ihrer Brüche und Falten endlich ist, wo ein Schmetterlings-Historie steht, wäre Platz für Plutarchs Leben gewesen die dich zu großen Taten angefeuert hätten. Ist nicht Geschichte der Künste notwendiger und nützlicher? Ich wollte lieber wissen was in der Geschichte der Handwerke und Künste steht, als alles was Linne je gedacht und geschrieben, weiß, wußte und wieder vergessen hat. Allein es ist das Los des Deutschen jeden großen Ausländer, der nichts anderes tun konnte, als was er tat, der den ausdrücklichen Befehl der Natur hatte in diesem und keinem andern Fache groß zu werden, ich sage es ist des Deutschen Los diesen Mann nachzuahmen, nicht allein ohne Befehl der Natur, sonder selbst wider ihren Willen, (vid. p. 19) (i/498f„ F 262)
Das menschliche Erkenntnisvermögen ist im Gegensatz zur Natur endlich. Wiederholte Kritik des Ordnungszwangs der Naturgeschichte.
Pragmatische Einwände gegen die Naturgeschichte. Bevorzugung des Kulturellen gegenüber dem Natürlichen.
Die mnemotechnische Bedeutung der Klassifikationen ist beschränkt.
Letztlich verfehlt die Naturgeschichte auch den »Willen« der Natur.
Oberflächlich betrachtet scheint es Lichtenberg in diesem Fragment vor allem um die Kritik an einer intellektuellen Mode, einer gelehrten Schwärmerei zu gehen, die zum Beispiel mit der Tendenz, »strotzende Freiheits-Oden zu verfertigen«, verglichen wird. Liest man das Fragment aber genauer, dann findet man hinter dieser zeitkritischen Fassade eine erkenntnistheoretische Problematik verborgen. Interessant ist daran, daß das Fragment F 262 neben der schon erörterten Kritik am Systemgeist dem Körper erstmals eine klare, sich von diesem Modell abgrenzende heuristische Funktion zuweist, die als Alternative zum naturgeschichtlichen Modell oder doch zumindest als divergierende Neuinterpretation dienen soll, und damit über die Fragmente F 149 und J 392 deutlich hinausgeht. Lichtenberg problematisiert dabei vor allem vier Aspekte der alten, auf dem statischen Modell der Klassifikation beruhenden Episteme. 64
Vor dem Hintergrund der Erkenntnistheorie von Leibniz verdient vor allem Lichtenbergs Schlußbemerkung besondere Beachtung. Sie enthält die Warnung vor der Gefahr, den »Willen« der Natur zu verfehlen, indem man die naturgeschichtliche Mode allzu ernst nimmt. Das statische Modell läßt die dynamischen Kräfte und womöglich auch die teleologische Komponente der Natur denn auch sie ist im Konzept des Willens mitgedacht - außer Betracht. Man könnte dies wohl als den erkenntnistheoretisch wichtigsten Hinweis auf einen Epistemenwechsel im Fragment F 262 bezeichnen. Darüber hinaus handelt es sich nicht um eine isolierte Beobachtung, sondern um eine Schlußfolgerung, die sich einer Reihe früherer Überlegungen anschließt. F 262 knüpft auch sonst an frühere Gedanken an. So ist hier zum Beispiel von der Unendlichkeit der Natur die Rede — ein Thema, das an die Problematik des holistischen Naturverständnisses in J 392 erinnert. Anders als in Fragment J 392 jedoch wird an dieser Stelle nicht die prinzipielle Erkennbarkeit der Natur in Frage gestellt, sondern das Vermögen des Menschen, sie in ihrer Unendlichkeit zu überschauen, weil das menschliche Denkvermögen - die »Zahl der Fibern« seines Gehirns und »ihrer Brüche und Falten« — »endlich« ist. Das Fragment bestätigt damit das Problematischwerden des Systemmodells vor dem Hintergrund des im 18. Jahrhundert sprunghaften Erkenntniszuwachses, auf den vor allem Lepenies hingewiesen hat. Dies ist ein Argument gegen das Systemdenken, weil Klassifikationen per definitionem eine endliche Zahl von Entitäten voraussetzen. Ferner wird nun dem statischen naturgeschichtlichen Modell sein Reduktionismus vorgeworfen. Es verfehlt die kulturellen Leistungen des Menschen, weil der Mensch nach diesem Modell nur Naturwesen ist. So sind die Hinweise auf »Plutarchs Leben« und auf die »Geschichte der Handwerke und der Künste« zu verstehen (dieselbe Kritik gab es übrigens auch in Wielands b e schichte der AbderitenPhilosophische Versuche über die menschliche Erkenntnis< erinnernden, vor allem auf Kausalität gerichteten Vorgehensweise. Lichtenberg wählt das kausalgenetische Modell angeblich aber nicht aus Überzeugung, sondern nur weil er keine plausiblen Alternativen sieht: Es gibt »kein anderes Mittel«, weil die Alternative ein Aufgeben von Erkenntnisansprüchen im Allgemeinen wäre. Eine Kontinuität früherer naturgeschichtlicher Überlegungen wird in diesem Fragment sichtbar, da auch hier ein naturgeschichtliches Thema — ein Problem, das sich auf die Beschreibung und auch die Erklärung der »Geheimnisse der Natur« bezieht — zur Reflexion der erkenntnistheoretischen Problematik herangezogen wird. Es handelt sich um die auch Zeitgenossen lebhaft beschäftigende Frage nach der Herkunft der Fossilien, die in den Bergen gefunden worden waren 147 und eine Schlüsselrolle in der Debatte um die geologischen Wandlungsprozesse spielten, weil unklar war, ob aus ihnen auf eine frühere, nun überwundene Stufe irdischen Lebens geschlossen werden könne. Lichtenberg äußert dazu die Meinung, daß die »Muscheln in den Bergen gewachsen sein könnten«, artikuliert aber zugleich Zweifel an der Richtigkeit dieser These. Es bleibt also undeutlich, ob die sich anbietende kausal-genetische Erklärung zutrifft. 148 •47 Vgl. Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, S. 42. 148
Später revidiert Lichtenberg diese Auffassung. In seinem im >Taschen Calender< für 1795 veröffentlichten Aufsatz >Geologische Phantasien (Franklins Geogenie)< nimmt er an, daß »Revolutionen auf der Erde« für die Anwesenheit von (Fossilien von) »Seetieren auf den Spitzen der Berge« verantwortlich sind (3/112). Man vergleiche dazu auch Blumenbachs Essay >Ein Blick in die VorweltMensch< ist genauso beschränkt wie die heuristische Funktion einer kausalen, entwicklungsgenetisch argumentierden Naturgeschichte auf der Suche nach dem »Ursprung der Welt«. Der Pessimismus in Bezug auf das menschliche Erkenntnisvermögen sollte aber nicht davon ablenken, daß in diesem Fragment eine wichtige Mitteilung gemacht bzw. Einsicht formuliert wird, und zwar über die privilegierte Funktion des menschlichen Körpers hinsichtlich unseres Erkenntnisvermögens. Lichtenbergs Versuche, die eigene intellektuelle Tätigkeit erkenntnistheoretisch zu fundieren, sind von einer eigentümlichen Widersprüchlichkeit geprägt. Immer wieder bezieht er sich auf die Naturgeschichte als Modell, immer wieder bewegt er sich aber auch von ihr weg und versucht, Alternativen zu formulieren. Lichtenbergs Erkenntnisgebäude ist von einem Riß durchzogen, der zu den Aporien der erkenntnistheoretischen Überlegungen Lichtenbergs gehört, zugleich aber erklärungsbedürftig ist. Das Unbehagen, das Lichtenberg vor allem gegenüber dem naturgeschichtlichen Modell empfindet, könnte sehr wohl etwas mit den normativen Implikationen dieser Episteme zu tun haben. Explizit werden sie von Lichtenberg nicht problematisiert, es gibt jedoch Hinweise, daß er sich dieser Dimension naturgeschichtlichen Denkens bewußt war. Dies wird zum Beispiel aus einer Notiz in Heft L klar, in der es scheinbar nur am Rande um Naturgeschichte geht: Ich glaube es ist ein großer Fehler, dessen sich die Natur-Geschicht-Schreiber des Skribenten-Reichs schuldig machen, daß sie in ihren Journalen und Zeitungen nicht bloß den Charakter der Gattungen und Arten der Schriftsteller angeben, sondern sich zugleich herausnehmen über den Wert dieser Geschöpfe zu urteilen. Ich glaube, wenn dieses nicht Vermessenheit ist, so verrät es wenigstens philosophischen Blödsinn, und Mangel an hohem Überblick. Linne sagt: die Wanze riecht nicht sonderlich, und das ist wahr: aber er sagt nicht, die Wanze hätte zu Hause bleiben können, wir hätten der stinkenden Tiere schon genug. Wie unsere Rezensenten sagen usw. (1/908, L 395)
Auch wenn die Naturgeschichte hier nur nebenbei erwähnt wird und es Lichtenberg eigentlich um etwas ganz anderes geht, so enthält dieses Fragment doch eine interessante Information. Lichtenberg warnt davor, aus einer deskrip69
tiven Ordnung eine präskriptive Ordnung abzuleiten. Linne tut dies nach Lichtenberg auch nicht, obwohl Lichtenberg die Gefahr eines solchen Mißbrauchs andeutet. Das Fragment zeigt, daß Lichtenberg sich der Möglichkeit der Existenz einer normativen Dimension der naturgeschichtlichen Episteme zwar bewußt war, es aber bevorzugte, sie nicht wahrzunehmen. Die dem eigenen Erkenntnismodell inhärente normative Dimension manifestiert sich in der Regel aber nicht unmittelbar, sondern indirekt, zum Beispiel als Nebeneffekt einer ästhetischen Ideologie (vgl. 1.2.2). Reflektiert Lichtenberg eine solche Tendenz? In seinem Buch >Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen< eröffnet Friedrich Cramer jedes Kapitel mit einem zum Teil aus authentischen Sätzen zusammengesetzten, insgesamt aber fiktiven Dialog zwischen bekannten Personen der Vergangenheit, zumeist Wissenschaftlern. Bei Cramer avanciert Lichtenberg zum Chaos-Theoretiker avant la lettre, oder zumindest zu einem Intellektuellen, der der chaotischen Essenz der Welt zeitweilig nahekommt - dies aber vor allem in Zitaten, die nicht Lichtenbergs Werk selbst entnommen sind. 1 ' 0 Lichtenbergs Skeptizismus hat viel mit den epistemologischen Auseinandersetzungen des 18. Jahrhunderts zu tun, vor allem mit der Überbelastung der naturgeschichtlichen Episteme durch den raschen Zuwachs empirischer Daten und der Suche nach alternativen Erkenntnismodellen, wie ich bereits dargelegt habe. Primär geht es Lichtenberg also um eine Neufundierung seiner Erkenntnistheorie, nicht um Skeptizismus gegenüber der Erkennbarkeit der Natur im Allgemeinen. Trotzdem sieht auch er sich gelegentlich mit einem Dilemma konfrontiert, auf das Cramer aufmerksam macht: Die Alternative zur Annahme einer der Natur zugrundeliegenden Ordnung der Natur ist >ChaosNaturgeschichte< gewesen sein mag. Blumenbach eröffnet seinen Aufsatz >Über die Liebe der Tiere< ( 1 7 8 1 ) mit einem Plädoyer dafür, nicht nur dem Instinkhaften im Menschen mehr Interesse zu widmen, sondern auch dem Vernünftigen im Tierreich, und beruft sich dabei explizit auf die Fähigkeit der Bienen, »Zellen zu bauen und Vorrath einzutragen«. 162 Auch Lichtenberg neigt dazu, Insekten zumindest eine primitive Form von Vernunft zu unterstellen 1 0 3 und weicht damit der radikaleren Schlußfolgerung aus, die das eigene Erkenntnisvermögen in Frage stellen würde. Das Phänomen des Wabenbaus der Bienen bringt aber auf mustergültige Weise einige Problemkonstanten der Erkenntnistheorie des 18. Jahrhunderts zusammen. Erkenntnis der Natur heißt im 18. Jahrhundert vor allem Einsicht in die rationale Ordnung der Natur. Eine leitende Funktion kommt der Vorstellung einer schönen Natur zu. Der Ordnungsbegriff des 18. Jahrhunderts hat damit eine ästhetische Dimension, und vieles weist darauf hin, daß diese
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Gerhard Neumann, >ut apes geometriam< Z u Lichtenbergs Schöpfungstheorie und zur Geschichte des Topos-Begriffs. In: Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung, hg. von Ortrud Gutjahr, Wilhelm Kühlmann und Wolf Wucherpfennig, 1993, S. 1 8 7 - 2 0 9 , Zitate S. 187. 160 ]sj e u m a nn, >ut apes geometriamut apes geometriams S. 190. 162 Blumenbach, Ueber die Liebe der Thiere. In: Gottingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur, Zweyten Jahrgangs Viertes Stück, 1 7 8 1 , S. 9 3 - 1 0 7 , hier S. 95. 163 »Bey manchen Thieren scheint es als fieng ein Funke von Vernunft in ihnen zu der Zeit an zu glimmen, Schlauigkeit, Addresse, und alle Schmeichlerkünste steigen bey ihnen so hoch als es ihre Natur verträgt. Selbst bey Insekten geht dieses weiter als mancher Beobachter denken sollte. Ich habe eine Fliege, die eine gefährliche Absicht auf eine andre hatte, wohl einen Zolllang seitwärts gehen sehen. Eine menschliche Seele in dem Körper einer Fliege hätte nicht mehr thun können.« Lichtenberg, Erklärung der Kupferstiche. In: Goettinger Taschen Calender vom Jahr 1 7 8 1 , S. 1 1 6 — 1 2 5 , Zitat S. 1 i6f.
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ästhetische Komponente im Laufe des Jahrhunderts sowohl praktisch als auch theoretisch an Prominenz gewinnt. Zugleich aber kommt die Frage auf, wo diese ästhetische Komponente zu lokalisieren ist, in der Natur selbst oder im Menschen? Ist sie eine objektive Eigenschaft des Objekts oder wird sie dem Objekt vom Subjekt unterstellt? Kant hat auf diese Fragen scheinbar endgültige Antworten formuliert, seine Position ist aber nicht repräsentativ fiir das gesamte 18. Jahrhundert. Die Frage nach dem genauen Status der ästhetischen Ordnung der Natur wird das ganze Jahrhundert hindurch kontrovers diskutiert, und auch Lichtenbergs Werk ist als Beitrag zu dieser Debatte zu verstehen.
1 . 4 Lichtenberg lesen — Methodisches Die vorangehenden Überlegungen zu den epistemologischen Konflikten, die das 18. Jahrhundert beherrschten, nahmen ihren Anfang von der Auseinandersetzung mit einigen Theoremen Michel Foucaults, dessen Bedeutung, wie ich bereits bemerkt habe, fiir das wiedererwachte Interesse an der Anthropologie im ausgehenden 18. Jahrhundert kaum zu überschätzen ist. Als intrikat wurde vor allem die These Foucaults empfunden, daß der Mensch eine relativ neue Erfindung sei - genauer: eine Erfindung bzw. Konstruktion des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. 164 Der Übergang zwischen 18. und 19. Jahrhundert fungiert bei Foucault nicht nur als Geburtsdatum der verschiedenen empirischen Wissenschaften vom Menschen, sondern auch als Wendezeit, in der dem neuen Wissen vom Menschen epistemische Bedeutung zugewiesen wird. Zu dieser Einsicht gelangt Foucault dank einer Reihe von spezifischen methodischen Voraussetzungen, die ihm seine kritische Perspektive möglich machen. Im Laufe seiner Entwicklung erläutert er seine Arbeitsweise mit Hilfe von zwei Konzepten: >Archäologie< und >GenealogieArchäologie< versteht Foucault den Versuch, die den einzelnen Sprechakt konstituierenden, oft implizit wirkenden Regeln herauszuarbeiten. Der Archäologe in Foucaults Sinne interessiert sich deshalb fiir den systematischen Zusammenhang einzelner Äußerungen.' 65 Foucaults >Genealogie< richtet sich vor allem auf die Machtmechanismen und Praktiken, die Diskursen zugrundeliegen und ihr Entstehen erklä-
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Vgl. dazu Foucault, Die Ordnung der Dinge; das Aufkommen der Wissenschaften vom Menschen diskutiert er vor allem im zweiten Teil seiner Studie (ebd. S. 269fr.), seine Datierung fiir die neue Episteme begründet er auf S. 27 3f.; vgl. zu Foucaults These der Entstehung eines neuen Wissens vom Menschen auch Manfred Frank, Was ist Neostrukturalismus?, S. i89ff. Vgl. Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow, Michel Foucault: Beyond Structuralism and Hermeneutics, 1 9 8 3 , insbesondere S. 54ff.
ren, zugleich aber doch auch fast unentwirrbar mit ihnen verbunden bleiben.' 66 Während Foucaults frühe Arbeiten sich vor allem mit archäologischen Fragen beschäftigen, verschiebt sich sein Interesse immer mehr in Richtung des Arbeitsbereichs seiner Genealogie. 167 So analysiert Foucault die Entstehung eines spezifischen Wissens vom Menschen bzw. des Diskurses der Menschen-Wissenschaften und seine epistemologische Bedeutung vor allem im Buch >Die Ordnung der Dinge< (1966). Für die mit dieser Entwicklung sich herausbildenden Institutionen, Praktiken und Machtstrategien interessiert Foucault sich vor allem in >Überwachen und Strafen< (1975) und im ersten Band seiner> Geschichte der Sexualität« (1977). Innerhalb Foucaults kombinierter Archäologie und Genealogie hat das Subjekt einen prekären Status. Die klassische Subjektauffassung, die vor allem dessen Autonomie und Fähigkeit zu Selbsttransparenz betonte, wird zugunsten eines Subjektbegriffs aufgegeben, nach dem das Subjekt einerseits als diskursives Konstrukt, andererseits als Medium diverser Machtmechanismen funktioniert. Foucault will damit eine Alternative zu einer Subjektauffassung bieten, die vor allem die Autonomie und Selbsttransparenz des Subjekts hervorhebt. Zu fragen wäre nun allerdings, ob die Autonomie und das (Selbst-)Bewußtsein des Subjekts damit völlig aufgegeben werden müssen, oder ob in beschränktem Maße doch noch an beiden festgehalten werden kann. Die deutsche FoucaultRezeption neigt zu ersterer Annahme, nämlich daß Foucaults Werk die Abschaffung des autonomen, sich selbst transparenten Subjekt befürworte oder doch zumindest impliziere. So ist beispielsweise in der Einleitung zu einer für die Verbreitung der Theorien Foucaults im deutschsprachigen Raum wichtigen Sammlung von Essays, herausgegeben von Friedrich A. Kittler und Horst Turk, die Rede vom »Status der sprechenden Wesen, der [in Foucaults Modell der Diskursanalyse] eine irreduzible Andersheit ist«. 1 0 8 Hubert L. Dreyfus und 166
Dreyfus/Rabinow, Michel Foucault: Beyond Structuralism and Hermeneutics,
u.a.
S. i o 6 f f . u . l i ^ f f . 167
D r e y f u s / R a b i n o w , M i c h e l F o u c a u l t : B e y o n d S t r u c t u r a l i s m a n d H e r m e n e u t i c s , S. 1 0 5 u. 2 5 6 .
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H o r s t T u r k u n d F r i e d r i c h A . K i t t l e r , E i n l e i t u n g . In: U r s z e n e n . L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t als D i s k u r s a n a l y s e u n d D i s k u r s k r i t i k , h g . v o n von F r i e d r i c h A . K i t t l e r u . H o r s t T u r k , J
9 7 7 > S. 9 — 4 3 , hier S. 2 0 . A u c h F r a n k u n d H a b e r m a s interpretieren F o u c a u l t so.
V g l . F r a n k , W a s ist N e o s t r u k t u r a l i s m u s ? , S. 1 2 1 : » A l l d a s , w a s in der k l a s s i s c h e n P h i l o s o p h i e für eine A k t i v i t ä t d e s S u b j e k t s g e h a l t e n w u r d e : seine F ä h i g k e i t , D i n g e w a h r z u n e h m e n , ihr V e r h ä l t n i s zueinander f e s t z u s t e l l e n u n d sie s o zu b e s t i m m e n , w i r d von F o u c a u l t als ein S e k u n d ä r e f f e k t d e s s e n a n g e s e h e n , w a s er d i e d i s k u r s i v e F o r m a t i o n einer E p o c h e n e n n t . « H a b e r m a s f ä n g t d i e b e i d e n F o u c a u l t - V o r l e s u n g e n i m P h i l o s o p h i s c h e n D i s k u r s der M o d e r n e « m i t d e s s e n I d e e v o m V e r s c h w i n d e n d e s S u b j e k t s a n (S. 2jc)ff.),
u n d s p r i c h t später d a v o n , d a ß nach F o u c a u l t d i e » F i k t i o n e n d e s > W e r k e s «
u n d d e s >Autors< als eines U r h e b e r s von T e x t e n « nichts als » W e r k z e u g e einer u n z u l ä s s i g e n K o m p l e x i t ä t s r e d u k t i o n , Verfahren der E i n d ä m m u n g d e s s p o n t a n e n Ü b e r q u i l lens von D i s k u r s e n « s i n d (ebd. S. 294).
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Paul Rabinow, die Autoren von >Michel Foucault: Beyond Structuralism and HermeneuticsWas ist Neostrukturalismus?< (1983) formuliert. Nach Frank reicht die Einsicht in die sprachliche Konstitution des Subjekts nicht aus, um ihm jede Fähigkeit zu Rationalität und Selbsttransparenz abzusprechen: »Bewußtsein und Selbstbewußtsein lassen sich nicht reduzieren auf das, ohne welches sie gewiß nicht zustande kämen, durch das allein sie aber auch nicht erklärt werden können.« 170 Ein solcher Versuch — basierend auf der Vorstellung sich selbst perpetuierender Diskurse bzw. einer sich selbst sprechenden Sprache — ruft notwendigerweise Widersprüche hervor: »Alle Versuche, Bewußtsein aus einem wie immer beschaffenen Verhältnis zwischen Elementen abzuleiten, sind philosopisch undiskutabel, sofern sie Bewußtsein immer schon präsupponieren.« 171 Der Rekurs auf ein Subjekt, das trotz seiner diskursiven Konstitution nicht alle Macht über sein Schicksal verloren hat, bietet damit nach Frank eine Lösung für zumindest einen der Widerspüche, die sich bei Foucault erkennen lassen. Es gibt aber weitere Widersprüchlichkeiten in Foucaults Werk. Unklar bleibt beispielsweise, ob es ihm in seinen einzelnen Arbeiten wirklich um Rekonstruktion eines spezifischen Diskurses geht oder vielmehr um diejenigen Momente, da der Diskurs unterbrochen wird und sich widersprüchliche Tendenzen manifestieren? Vor allem in seiner > Archäologie des WissensDer philosophische Diskurs der Moderne< spricht Manfred Frank von einer der Moderne inhärenten subjektkritischen Tendenz, in der das autonome und sich selbst durchschauende Subjekt »zugunsten trans- oder vor-subjektiver Ursprungsmächte« in Frage gestellt wird. 1 7 ® Als Beispiele solcher »trans- oder vor-subjektiven Ursprungsmächte« nennt Frank die Mächte »des Willens, des Unbewußten, des Seins, der differance oder der nackten Macht«. 1 7 9 Die Beispiele, die Frank hier anfuhrt, sind ideengeschichtlich sehr unterschiedlicher Herkunft. Schaut man sie sich genauer an, dann ließe sich die Subjektkritik der Moderne nach zwei unterschiedlichen Tendenzen ordnen. Einerseits gibt es diejenigen Ursprungsmächte, die sich auf das sozial-gesellschaftliche Funktionieren des Subjekts beziehen — Sprache und Macht als Medien, durch die sich das Subjekt im sozialen und kulturellen Bereich manifestieren kann - , andererseits aber gibt es auch Ursprungsmächte, die die Kon-
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Vgl. dazu stellvertretend Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderae. Zwölf Vorlesungen, 1988, u.a. S. 292 u. 3 1 6 , und auch Gerald Graff, Co-optation. In: The New Historicism, hg. von H. Aram Veeser, 1989, S. 1 6 8 - 1 8 1 . Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 344f. Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, S. 12. Frank bezieht sich dabei direkt auf Habermas' »Philosophischen Diskurs der Modernetrans-subjektiven< — das heißt für alle Subjekte als soziale Wesen ungefähr gleichen — Ursprungsmächten einerseits, und >vor-subjektiven< — in der Konstitution eines jeden Individuums eine Rolle spielenden und deshalb mehr oder weniger unabhängig vom Sozial-Gesellschaftlichen funktionierenden - Ursprungsmächten andererseits. Foucaults Modell ist, wenn man seine letzten aporetischen Bemerkungen zum Subjektivitätsthema für einen Augenblick außer Betracht läßt, in Franks Vokabular vor allem ein >trans-subjektives< Modell. Kritisch ist dieses Modell, weil mit ihm gegen die klassische Vorstellung vom Subjekt zugunsten einer Auffassung argumentiert wird, die die Abhängigkeit des Subjekts von übergreifenden Strukturen betont. Fraglich ist nun allerdings, ob das (selbst-)kritische Potential der Moderne in Foucaults Theorien damit adäquat vertreten ist. Für die ebenfalls subjektkritischen >vor-subjektiven< Ursprungsmächte scheint es in seinen Theorien keinen Ort zu geben. Gilt dasselbe aber nicht auch für die hermeneutische Alternative? Franks Überlegungen setzen sich deutlich gegen Foucaults aus seiner Sicht reduktionistische Tendenz ab. Wie bereits angedeutet, kritisiert er an den Neostrukturalisten, daß sie ohne Konzept eines (selbst-)bewußten Subjekts nicht auskommen. Diese Einsicht ist wiederum die Basis eines Plädoyers für das Prinzip der Individualität. Frank schlägt vor, Derridas Konzept der »differance als Individualität zu denken«.1®1 Nimmt man die Aktivität eines Subjekts bzw. dessen konstitutive Teilnahme am Kommunikationsprozeß an, dann kann plausibel gemacht werden, daß jeder neue Gebrauch eines Zeichens (Derridas Prin180
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Frank spricht in Anlehnung an Richard Rorty von einem »linguistic tum«, der den subjektkritischen Paradigmen gemeinsam sei; vgl. Was ist Neostrukturalismus?, S. 282fF. Frank, Was ist Neostrukturalismus?, S. 555.
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zip der >differanceSubjekt