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German Pages 340 Year 2007
Dahlmann/Hilbrenner
Zwischen großen Erwartungen und bösem Erwachen
DITTMAR DAHLMANN ANKE HILBRENNER Herausgeber
Zwischen großen Erwartungen und bösem Erwachen Juden, Politik und Antisemitismus in Ost- und Südosteuropa 1918-1945
FERDINAND SCHÖNINGH PADERBORN · MÜNCHEN · WIEN · ZÜRICH
Titelphoto: In Mukacˇevo 1938. Photo von Roman Vishniac (aus: Roman Vishniac, Verschwundene Welt. Carl Hanser Verlag: München, Wien 1983)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlaggestaltung: Evelyn Ziegler, München Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier ! ISO 9706 © 2007 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn ISBN 978-3-506-75746-3
Inhaltsverzeichnis Anke Hilbrenner, Dittmar Dahlmann Einführung: Antisemitismus und Ausgrenzung der Juden in Ost- und Südosteuropa in der Zwischenkriegszeit.................................
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Ezra Mendelsohn Zwischen großen Erwartungen und bösem Erwachen: Das Ende der multinationalen Reiche in Ostmittelund Südosteuropa aus jüdischer Perspektive .............................................
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Albert Lichtblau Das fragile Korsett der Koexistenz: Zum Verhältnis von jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung in Österreich 1918 bis 1938 .......................................................................
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Klaus-Peter Friedrich Von der ydokomuna zur Lösung einer „jüdischen Frage“ durch Auswanderung: Die politische Instrumentalisierung ethnischer und kultureller Differenzen in Polen 1917/18 bis 1939 .....................................................
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Albert S. Kotowski „Polska dla Polaków“: Über den Antisemitismus in Polen in der Zwischenkriegszeit ..................
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Eglè Bendikaite Zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Die Politik gegenüber den Juden in Litauen in der Zwischenkriegszeit .................................................................................... 101 Martin Schulze Wessel Entwürfe und Wirklichkeiten: Die Politik gegenüber den Juden in der Ersten Tschechoslowakischen Republik 1918 bis 1938 ....................................... 121 Heinz-Dietrich Löwe Die Juden im bol’ševikischen System: Zwischen sozialem Wandel und Intervention............................................ 137
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Inhaltsverzeichnis
Kristina Tomovska Juden und andere Minderheiten: Die jugoslawische Politik gegenüber Juden in Vardar-Makedonien in der Zwischenkriegszeit.........................................
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Milan Ristovi „Unsere“ und „fremde“Juden: Zum Problem der jüdischen Flüchtlinge in Jugoslawien 1938-1941..................................................................................................
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Jens Hoppe Juden als Feinde Bulgariens? Zur Politik gegenüber den bulgarischen Juden in der Zwischenkriegszeit ....................................................................................
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Dietmar Müller Paradigmatische oder unvergleichbare Minderheit? Juden im Nationscode und in der Minderheitenpolitik Rumäniens in der Zwischenkriegszeit .......................................................
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Krisztián Ungváry Die „Judenfrage“ in der Sozial- und Siedlungspolitik: Zur Genese antisemitischer Politik in Ungarn...........................................
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Abkürzungsverzeichnis..............................................................................
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Glossar ......................................................................................................
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Literaturverzeichnis ...................................................................................
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Autorinnen und Autoren ............................................................................
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Einführung: Antisemitismus und Ausgrenzung der Juden in Ost- und Südosteuropa in der Zwischenkriegszeit ANKE HILBRENNER, DITTMAR DAHLMANN Die Zeitenwende vom Ausbruch der russischen Revolution 1917 bis zum Abschluß der Pariser Vorortverträge 1919/20 hatte tiefgreifende Veränderungen in Ostmittel- und Südosteuropa zur Folge. Die verhaßten autoritären Vielvölkerreiche, auch „Völkerkerker“ genannt, verschwanden von der Landkarte und an ihre Stelle traten vorgeblich moderne Nationalstaaten, die doch alle Nationalitätenstaaten blieben. In jedem der neuen sogenannten Nationalstaaten war der Anteil der nicht zur Titularnation gehörenden Minderheiten, der Sprecher anderer Sprachen, der Gläubigen anderer Religionen und der Träger anderer Kulturen, hoch. In der rasch aufziehenden Krise dieser jungen Staaten richteten diese sich gegen ihre eigene strukturelle Heterogenität, die ein Charakteristikum Ostmittel- und Südosteuropas war und dementsprechend von Beginn an diesen „Nationalstaaten“ immanent blieb: „So wird überall in Europa an der Vervollkommnung des je Eigenen gearbeitet, mit einer Leidenschaft, die vor nichts zurückschreckt. Es wird germanisiert, polonisiert, rumanisiert, magyarisiert, bulgarisiert, tschechisiert.“1 Dieser Versuch, die Fiktion des Nationalstaates in Ostmittel- und Südosteuropa zu realisieren, stabilisierte das Eigene auf Kosten der Anderen. Die Anderen, also die national-ethnischen und religiösen Minderheiten, wurden zum Zwecke der Stabilisierung aus dem neuen Nationalstaat herausgedrängt: „Die Sprachen werden zum Schlachtfeld, die Kulturen zum Medium des Hasses, die Parlamente zum Sprachrohr der Diffamierung und Volksverhetzung.“2 Die Juden, die als „imperiale“3 Bevölkerung in ihren transterritorial und transnational formierten Lebenswelten die historisch gewachsene strukturelle Heterogenität Ostmittel- und Südosteuropas in besonderer Weise repräsentierten, wurden zu den ersten Opfern dieser nationalen Homogenisierungsbestrebungen. Deshalb eignet sich der Blick auf die Juden als historische Subjekte, aber auch als historische Objekte in besonderer Weise, um eine Perspektive zu erreichen, die den ostmittel- und südosteuropäischen Raum in seiner Gesamtheit beleuchtet, und der damit Gemeinsamkeiten und Unterschiede in vergleichender Perspektive in den Blick nehmen kann. Die ethnisch-nationale und religiöse Heterogenität des östlichen und südöstlichen Europa stand dem vermeintlich „modernisierenden“ Potential der National1 2 3
Karl Schlögel, Planet der Nomaden, in: Ders., Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang, München 2002, S. 65-123, S. 86. Ebd. Dan Diner, Editorial, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Institutes 1, 2003, S. 9-14, S. 11.
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staaten entgegen. Dennoch wurde das nationalstaatliche Prinzip implementiert und potenzierte die „Urkatastrophe“ des Ersten Weltkrieges in eine krisenhafte Zwischenkriegszeit, die im Völkermorden des Zweiten Weltkrieges gipfelte. Dieser Zweite Weltkrieg beendete auf brutale Weise die ethnisch-nationale und religiöse Heterogenität weiter Teile Ostmittel- und Südosteuropas, die Fiktion des Nationalstaates bahnte sich gewaltsam ihren Weg in die Realität. Anhand der Politik gegenüber den Juden in den neuen Nationalstaaten sollen die Praktiken partikularer Aus- und Eingrenzung und ihr krisenhaftes Potential bei der Durchsetzung des nationalstaatlichen Prinzips in Ostmittelund Südosteuropa in einer vergleichenden Perspektive deutlich werden. Einerseits soll die Ebene der politischen Handlungen und Entscheidungsträger in den Blick genommen werden. Analysiert werden dabei primär politikgeschichtliche Felder wie Gesetzgebung, Innen- und Sicherheitspolitik sowie Steuer- und Wirtschaftspolitik, die in vielen Fällen einer schleichenden Entrechtung der jüdischen Minderheiten gleichkam. Andererseits aber soll der öffentliche Diskurs zur „jüdischen Frage“ untersucht werden, ebenso wie die Interaktion zwischen Öffentlichkeit und Politik. Die Radikalisierung des öffentlichen Diskurses gegenüber den Juden und die Verschärfung der „Judenpolitik“ war ein wechselseitiger Prozeß, der auch mit dem jeweiligen Blick auf das Ausland eine eigene Dynamik gewann. Vor diesem Hintergrund ist eine vergleichende Perspektive unerläßlich. Auf die transnationalen und transterritorialen Bedingungen Ostmittel- und Südosteuropas und auf die Chance, die in der Erforschung dieser Phänomene jenseits der Paradigmen von Nation und Staat im Sinne einer Geschichte von Heterogenität und Differenz als Strukturmerkmalen Europas liegt, haben sowohl Karl Schlögel als auch Dan Diner überzeugend hingewiesen. Die europäistische Perspektive ist deshalb besonders bedeutend, weil die Politik gegenüber den Juden in keinem der Fälle allein eine innenpolitische Frage war. Eine wichtige Rolle für die Minderheitenpolitik der ostmittel- und südosteuropäischen Staaten spielten nicht nur der Völkerbund und die Siegermächte des Ersten Weltkrieges, sondern auch internationale jüdische Organisationen. Auch territoriale Fragen waren im Zwischenkriegseuropa abhängig von dem Wohlwollen der Staatengemeinschaft. Wirtschaftliche Entwicklungen erzwangen darüber hinaus außenpolitische Loyalitäten. Bereits in der Folge des Ersten Weltkrieges, besonders aber nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland 1933, wurde auch das Problem der jüdischen Flüchtlinge ein entscheidender Schrittmacher in der Politik gegenüber den Juden. Bei allen Strukturmerkmalen, die dem ostmittel- und südosteuropäischen Raum gemeinsam waren, gab es auch zahlreiche Unterschiede, die für die Politik gegenüber den Juden ausschlaggebend waren. Diese Spezifika sollen durch folgende Fragen angedeutet werden: War es für Antisemitismus und Ausgrenzung der Juden entscheidend, ob der zu untersuchende Staat durch die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg zu einem „Verlierer“, wie z.B. Ungarn, oder einem „Gewinner“, wie z.B. Polen, wurde? Wie wurden die
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nationalstaatlichen Homogenisierungsbemühungen durch massive Gebietsverluste (wie in Ungarn) oder gar Verluste der imperialen Identität (wie in Österreich) beeinflußt? Wie wirkte sich das Verhältnis von Religion und Staat in den unterschiedlichen Ländern von der atheistischen Sowjetunion bis ins katholische Polen auf die „Politik gegenüber den Juden“ aus? Wie funktionierten die Homogenisierungsbestrebungen in jenen neuen Staaten, die selbst zumindest nominell als Nationalitätenstaaten entstanden waren, wie Jugoslawien oder die Tschechoslowakei? Lassen sich überhaupt anhand dieser Vielzahl von unterschiedlichen Rahmenbedingungen, die sich gegenseitig überlagerten, bedingten und nur manchmal einander ausschlossen, Gemeinsamkeiten finden? Oder war der virulente Antisemitismus – in seinen unterschiedlichen Spielarten – und das spätere Schicksal dieser Staaten die einzige „Gemeinsamkeit“? Durch den Blick auf die Judenheiten des östlichen und südöstlichen Europa wird die Fragestellung dieses aus der Tagung „Die Politik gegenüber den Juden in den neuen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas als Vergleichsmoment für Krise und Identitätspolitik in der Zwischenkriegszeit“ in Königswinter im April 2005 hervorgegangenen Sammelbandes zusätzlich verkompliziert. Die jüdische Erfahrung in der Zwischenkriegszeit in Ost- und Südosteuropa wird einleitend von Ezra Mendelsohn dargestellt. Dieser Blick aus jüdischer Perspektive bildet gleichzeitig Grundlage und Rahmen der weitergehenden Untersuchungen. Deshalb ist der Titel seines Beitrages auch dem ganzen Band vorangestellt. „Große Erwartungen und böses Erwachen“ trifft die Erwartungen der Juden des östlichen und südöstlichen Europa angesichts der Versprechungen der Moderne, die nach dem Epochenwandel von 1917/18 endlich Einzug zu halten schienen, ebenso wie die der anderen Bevölkerungsgruppen der neuen Staaten Ost- und Südosteuropas. Die jüdische Erfahrung aber läßt sich ebenso wenig auf einen einzigen gemeinsamen Nenner bringen, wie sich die Minderheitenpolitik der neuen Staaten vereinheitlichen ließ. Idealtypisch teilt Ezra Mendelsohn die Juden in vier große Gruppen ein: Das nationale, das integrationistische, das traditionell religiöse und das linke Lager. Die Anhänger dieser verschiedenen Lager verbanden ganz unterschiedliche Erwartungen mit den politischen Neuerungen, die der Epochenwandel von 1917/18 mit sich brachte, die abermals in den jeweiligen Ländern andere Konsequenzen für Politik und Zusammenleben hatten. Entscheidend dabei war jeweils die Frage, welche Rolle die Juden im Nationscode der jeweiligen Titularnation spielten. Mit dieser Frage setzt sich vor allem Dietmar Müller für das Fallbeispiel Rumänien auseinander und stellt dabei die Frage, ob Juden als paradigmatischer Fall für die Minderheitenpolitik generell oder als unvergleichbarer Sonderfall gelten können. Im Vergleich zu Rumänien galten Juden z.B. in Bulgarien zunächst nicht als die Anderen im Nationscode, trotzdem revidiert Jens Hoppe das populäre Bild vom „Sonderfall Bulgarien“, in dem der bulgarische Zar die Juden vor den
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Deutschen gerettet habe. Weitere Revisionen liebgewordener Mythen von den „positiven Ausnahmen“ eines ansonsten vom Antisemitismus geprägten östlichen und südöstlichen Europa bieten die Beiträge von Martin Schulze Wessel über die Tschechoslowakei und von Eglè Bendikaite über Litauen. Ein neues Bild entsteht auch über die nur scheinbar unproblematische Lage der Juden im vermeintlichen Nationalitätenstaat Jugoslawien. Während Milan Ristovi sich vor allem auf die Politik Jugoslawiens gegenüber den jüdischen Flüchtlingen bezieht, und zeigt, wie sich ihre Situation und damit auch die der einheimischen Juden immer mehr verschärfte, macht Kristina Tomovska am Beispiel Makedoniens deutlich, wie die Politik gegenüber den Juden von der allgemeinen Minderheitenpolitik der serbisch dominierten Zentralregierung instrumentalisiert und wie die Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausgespielt wurden. Auch Krisztián Ungváry setzt in seiner Untersuchung zu Ungarn die Politik gegenüber den Juden in Beziehung zur Politik gegenüber den als Schwaben bezeichneten Deutschen. In dem durch den Trianon-Vertrag massiv verkleinerten und seiner Identität verlustig gegangenen Ungarn galten allerdings beide Gruppen als Ausbeuter, Fremde und Feinde der ungarischen Sache. Der ungarische Antisemitismus weist dennoch durchaus Parallelen zum österreichischen auf, den Albert Lichtblau in seiner Studie zum Zusammenleben von Juden und Nicht-Juden beleuchtet. Dem „klassischen Fall“ des Antisemitismus im östlichen Europa – Polen – sind gleich zwei Aufsätze gewidmet. Albert Kotowski bezieht sich besonders auf die Forschungsdesiderate zur Geschichte des Antisemitismus in Polen, während Klaus-Peter Friedrich vor allem die Gleichsetzung von Juden und Kommunisten im Klischee der ydokomuna zum Thema macht. Während Friedrich über die Bedeutung der Bedrohung Polens durch die Sowjetunion für die polnische antijüdische Politik schreibt, nimmt Heinz-Dietrich Löwe die sowjetische Politik gegenüber den Juden selbst in den Blick. Er legt das Augenmerk vor allem auf strukturelle Phänomene langer Dauer, wie die Modernisierung der jüdischen Lebenswelten und die damit verbundenen ökonomischen Krisen der Juden in der jungen Sowjetunion. Neben den Motiven, die viele Juden zu Unterstützern der Sowjetmacht machten, zeigt er auch die Gründe auf, die sie zu den „natürlichen Feinden“ der neuen Ordnung werden ließen. Das Bild, das durch die Untersuchung der verschiedenen Fallbeispiele entsteht, bleibt heterogen, trotzdem lassen sich doch auch Gemeinsamkeiten herausarbeiten. Auf die großen Erwartungen, die sowohl Juden als auch NichtJuden an den Epochenwandel von 1917/18 herantrugen, folgte in allen Fällen ein böses Erwachen. In einigen Fällen spiegelte es die historischen Erfahrungen der Juden der Region, in anderen kam es überraschend, war aber dadurch nicht weniger grausam. Die Untersuchung zeigt die Grenzen des Konzeptes des homogenen Nationalstaates im östlichen und südöstlichen Europa und die Notwendigkeiten und Bedingungen eines Zusammenlebens der unterschiedlichen Religionen, Kulturen und Nationen auf engstem Raum,
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ein Strukturmerkmal sowohl der europäischen Geschichte als auch der europäischen Gegenwart. Zu danken haben wir der Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Hamburg, für die großzügige Finanzierung der Tagung, die vom 28. bis 30. April 2005 im Adam-Stegerwald-Haus in Königswinter stattfand. Mit einer Ausnahme sind alle dort gehaltenen Vorträge in diesem Band versammelt. Der Beitrag über Bulgarien blieb jedoch erheblich hinter den Ergebnissen neuerer Forschung zurück, so daß wir Jens Hoppe, der sich freundlicherweise bereit erklärte, binnen kurzer Frist einen Artikel zu diesem Thema zu verfassen, sehr zu Dank verpflichtet sind. Zusätzlich aufgenommen wurde der Beitrag von Kristina Tomovska „Juden und andere Minderheiten“ in Vardar-Makedonien. Unser Dank gilt auch Julia Hildt, M.A., die vor und während der Tagung alle anfallenden organisatorischen Probleme löste, ebenso wie Alexander Chertov und Marina Hrka , die an der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität tätig sind, für die redaktionelle Bearbeitung der Texte und deren Umwandlung in eine Druckformatvorlage. Iraida Pehl, die Sekretärin der Abteilung für Osteuropäische Geschichte hat auch bei dieser Tagung wieder still und im Hintergrund all jene Dinge erledigt, ohne die solche Veranstaltungen gar nicht durchzuführen wären. Dafür gebührt ihr unser herzlicher Dank. Schließlich ist Michael Werner vom Verlag Ferdinand Schöningh herzlich zu danken, der von dem Band so überzeugt war, daß er ihn ohne zu zögern in das Verlagsprogramm aufgenommen hat. Bonn, im März 2007 Anke Hilbrenner und Dittmar Dahlmann
Zwischen großen Erwartungen und bösem Erwachen: Das Ende der multinationalen Reiche in Ostmittel- und Südosteuropa aus jüdischer Perspektive EZRA MENDELSOHN Die Jahre 1914 bis 1918 brachten Europa Tod und Zerstörung in einem Ausmaß, wie es vorher noch nie gesehen worden war, aber für einige Europäer (und ebenso für einige Bewohner des Mittleren Ostens) war der Zerfall der drei großen multinationalen Reiche im Gefolge des Ersten Weltkrieges ein lang ersehntes und geradezu überwältigendes Ereignis. Den vielen Nationalisten innerhalb der kleinen staatenlosen Völker Zentral- und Osteuropas brachte der Krieg nach Jahrhunderten der, wie sie es nannten, „Knechtschaft“ die nationale Unabhängigkeit. Man denkt dabei sofort an Polen, aber dies trifft auch auf die Nationalisten unter den Tschechen sowie einigen südslavischen und baltischen Völkern zu. Die arabischen politischen Führer im Mittleren Osten weinten dem Osmanischen Reich ebenso wenig eine Träne nach wie die kleine jüdische Gemeinschaft in Palästina. Das Ende des Ersten Weltkrieges markierte den Triumph des „nationalen Prinzips“. Das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ hatte sich durchgesetzt und damit die Hoffnungen der Masaryks, Piłsudskis und ihrer Anhänger im europäischen nationalen Lager. In der anbrechenden neuen Ära konnten schließlich die „kleinen Nationen“ in Europa (und anderswo) die ihnen zustehenden rechtmäßigen Plätze als vollwertige Mitglieder in der Welt der Nationalstaaten einnehmen. Allerdings waren die zwischen 1918 und 1920 gegründeten „Nationalstaaten“ in der Regel überhaupt keine Nationalstaaten, sondern beheimateten bedeutsame Minderheitengruppen, die sich benachteiligt fühlten (wie jene in Polen, dem für ostmitteleuropäische Verhältnisse „klassischen Fall“ der Zwischenkriegszeit). Dennoch trifft es zu, daß früher von den imperialen Mächten „verschluckte“ Völker nun in der Lage waren, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen; lokale Kulturen blühten mit staatlicher Unterstützung auf, und frühere „Bauernsprachen“ wurden offiziell anerkannt. Diese Vorteile erwiesen sich darüber hinaus als dauerhaft, da sie sogar die folgenschweren Umbrüche des Zweiten Weltkrieges und den Zusammenbruch der Sowjetunion überlebt haben. Was aber geschah mit den Juden in Ost- und Ostmitteleuropa? Im Unterschied zu den Völkern, mit denen sie zusammenlebten, und die in der einen oder anderen Weise über eine territoriale Grundlage verfügten, waren die Juden überall eine landlose Minderheit. Deshalb hatten sie an der territorialen Umverteilung nach dem Ersten Weltkrieg keinen Anteil. Tatsächlich gab es für viele von ihnen keinen besonderen Grund, sich über den
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Zusammenbruch der alten multinationalen Staaten zu freuen. Dies traf sicherlich auf die meisten osmanischen Juden zu. Sie hatten das Osmanische Reich unterstützt und als Staat angesehen, der ihnen Sicherheit garantierte, sie schützte und ihnen zu bestimmten Zeiten sogar erlaubt hatte, zu einer ökonomischen Blüte zu gelangen. Gleichzeitig hatte dieser Staat sich nicht in ihre kulturellen Angelegenheiten eingemischt und ihnen eine umfassende Selbstverwaltung ermöglicht.1 Viele von ihnen sahen die alten osmanischen Strukturen als sicherer, zuverlässiger und möglicherweise weniger gefährlich an als die der neuen Nationalstaaten Griechenland und Bulgarien. Der Übergang von Saloniki, der Heimat der größten jüdischen Gemeinde im Osmanischen Reich, unter griechische Herrschaft im Jahr 1912 war deswegen besonders beunruhigend, weil Griechenland ein Staat war, der alle seine Einwohner hellenisieren wollte und nicht Griechisch sprechende nationale oder religiöse Minderheiten – die große Mehrheit der Juden in Saloniki sprach Ladino, das sie nach ihrer Vertreibung aus Spanien 1492 mitgebracht hatten – äußerst argwöhnisch betrachtete.2 Sicherlich ermöglichte auf lange Sicht die Auflösung des Osmanischen Reiches die Schaffung des britischen Mandates in Palästina und möglicherweise die Gründung des Staates Israel, aber dies konnte im späten 19. Jahrhundert oder auch im Jahr 1919 kaum jemand vorhersehen. Was für die osmanischen Juden galt, traf auch auf die österreichischungarischen Juden zu. Unter komplexen multinationalen Rahmenbedingungen waren seit 1867 unterschiedliche Grade nationaler Autonomie für bestimmte nationale Minderheiten garantiert worden, vor allem für die galizischen Polen. Die Juden erreichten im Habsburgerreich niemals den Status einer anerkannten nationalen Minderheit, viele von ihnen strebten einen solchen Status auch gar nicht an. Aber sie erhielten 1867 den Status einer völlig emanzipierten religiösen Minderheit und verhielten sich, wie ihre Glaubensbrüder im Osmanischen Reich, grundsätzlich loyal gegenüber Staat und Dynastie. Die größte jüdische Gemeinde in Cisleithanien lebte im Kronland Galizien, wo die große Mehrheit Jiddisch sprach und die meisten der religiösen Orthodoxie alten Stils anhingen, während eine wachsende Minderheit sich unter dem Einfluß der jüdischen Aufklärungsbewegung (Haskalah), akkulturierte (deutsch, später polnisch) und sich in einigen Fällen zum Zionismus bekannte. Die jüdische Kultur blühte hier, und wenn auch die Vorstellung von Galizien als einem liberalen Paradies nicht ganz zutreffend ist, gab es doch keine gewalttätigen Pogrome nach russischem Muster.3 In der 1 2 3
Vgl. Sarah Abrevaya Stein, Making Jews Modern. The Jiddish and Ladino Press in the Russian and Ottoman Empires, Bloomington 2004, S. 1-16. Vgl. Mark Mazower, Salonica, City of Ghosts. Christians, Muslims and Jews, 1430-1950, New York 2005, S. 281f. Vgl. Keely Stauter-Halsted, Jews as Middlemen Minorities in Rural Poland: Understanding the Galician Pogroms of 1898, in: Robert Blobaum (Hg.), Antisemitism and Its Opponents in Modern Poland, Ithaca 2005, S. 39-59.
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benachbarten Bukowina erhielten die Juden nahezu den Status einer nationalen Gruppe, und die jüdische Gemeinschaft hatte, besonders in der Hauptstadt Czernowitz, in der Vorkriegszeit kaum Grund zur Klage.4 Im ungarischen Teil des Reiches beteiligten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Juden engagiert am Prozeß der „Magyarisierung“ und identifizierten sich völlig mit der ungarischen Sache, sehr zum Leidwesen der rumänischen oder auch der slowakischen Minderheit. Die ungarischen Behörden ihrerseits taten ihr möglichstes, lautstarken Antisemitismus niederzuschlagen und behielten eine positive Einstellung gegenüber der jüdischen Minderheit, die hier ebenfalls vor allem als religiöse Minderheit angesehen wurde, deren Loyalität in dieser ethnisch gemischten Region als grundlegend angesehen wurde und deren wirtschaftliche Aktivitäten dazu beitrugen, die Region zu bereichern.5 Auch wenn es übertrieben wäre, zu behaupten, daß Österreich-Ungarn in der Vorkriegszeit ein Paradies für Juden gewesen sei, so war es sicherlich Rumänien, diesem 1878 unabhängig gewordenen Nationalstaat, vorzuziehen, der es, trotz internationalen Drucks, standhaft abgelehnt hatte, seine relativ große jüdische Gemeinschaft zu emanzipieren. Der russische Fall liegt anders. Wenige, wenn überhaupt ein russischer Jude, hatten Grund, den Systemwechsel im zarischen Rußland mit seiner offiziellen antisemitischen Politik und seinen seit Ende des 19. Jahrhunderts beinahe allgegenwärtigen Pogromen zu betrauern. Trotzdem wollten viele sozialistisch gesinnte und liberale Juden die weiten Grenzen und demgemäß auch den multi-ethnischen Charakter Rußlands erhalten. Sie wünschten sich lediglich einen Regimewechsel, der die gleichen Rechte für die Juden als Individuen garantieren und vielleicht zu ihrer Anerkennung als eine der zahlreichen nationalen Gruppierungen, die zusammengenommen diesen Staat konstituierten, führen würde. Die Revolution von 1917 schien darauf bedacht zu sein, diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen, was erklärt, warum viele Juden sie begrüßten. Neben den beunruhigenden Begleiterscheinungen des Zerfalls der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reichs gab es noch andere Gründe für böse Vorahnungen der Juden, als nach 1918 die neue Ära begann. Vor allem gab es einen beispiellosen Ausbruch antijüdischer Gewalt in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Gewalt gegen Juden war in Osteuropa nichts Neues. Am bekanntesten sind die den Chmel’nickij-Aufstand gegen die polnische Oberschicht begleitenden Pogrome im 17. Jahrhundert. In neuerer Zeit hatte es in Südrußland 1881 und 1882 Pogromwellen gegeben, danach den berüchtigten Kišinev-Pogrom von 1903. Die schlimmste Erschütterung erlebten die Juden im Russischen Reich durch die Pogromwellen von 1905 4 5
Zu den Juden in der Bukowina vgl. David Shaari, Yehudei bukovinah bein shtei milhamot haolam, Tel Aviv 2004. Es gibt eine umfangreiche Literatur zu den ungarischen Juden vor dem Ersten Weltkrieg. Vgl. z.B. Nathaniel Katzburg, Hungary and the Jews 1920-1943, Ranat-Gan 1981; Randolph Braham, The Politics of Genocide. The Holocaust in Hungary, Bd. 1, New York 1981.
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und 1906. Diese Ereignisse hatten grundlegende Veränderungen in der modernen jüdischen Geschichte zur Folge, weil sie dazu beitrugen, die Massenemigration aus Rußland nach Amerika zu befördern. Außerdem bildete sich eine neue politische Führungselite heraus, die häufig nationalistisch ausgerichtet war.6 Entstehung und Entwicklung des Zionismus ist ohne diese tragischen Ereignisse unvorstellbar. Die Tradition antijüdischer Gewalt in Osteuropa erreichte einen neuen Höhepunkt während des russischen Bürgerkrieges, in dessen Verlauf zahlreiche jüdische Gemeinschaften verwüstet wurden. Verschiedene antibol’ševikische Gruppierungen hatten Judenhaß zu einem ihrer leitenden Grundsätze gemacht.7 Diese schrecklichen Pogrome verdeutlichen, daß für Juden, wie auch für andere exponierte Minderheiten, der Zusammenbruch von Gesetz und Ordnung eine besonders furchtbare Bedrohung ist, der nahezu jede andere Alternative vorzuziehen ist. Einige Ereignisse am Beginn der neuen Ära scheinen bei vielen Juden die Erkenntnis befördert zu haben, daß die Gründung der neuen „Nationalstaaten“ in Osteuropa ihren Interessen eher zuwiderlief. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist das Beispiel Polen, in dessen Grenzen während der Zwischenkriegszeit mehr als drei Millionen Juden lebten. Es läßt sich nur schwer sagen, was die Mehrheit dieser Juden von der Idee eines wiederhergestellten polnischen Staates hielt; klar ist aber, daß der Kampf um die polnische Unabhängigkeit von gewalttätigem Antisemitismus begleitet wurde. So brach z.B. im November 1918 in Lemberg im Verlauf des Krieges zwischen Polen und Ukrainern über die Kontrolle Ostgaliziens ein blutiger Pogrom aus.8 Im April 1919 kam es zu einem Pogrom in Wilna, das ebenfalls ein Zankapfel zwischen Polen und seinen Nachbarn war. Dieser Ausbruch antijüdischer Gewalt hinterließ einen nachhaltigen Eindruck in der jüdischen öffentlichen Meinung im neuen polnischen Staat, der im Spätjahr 1918 gegründet worden war. Ein anderes Land, dessen Geburt von antijüdischen Gewalttaten begleitet wurde, war Ungarn. Der Zusammenbruch des Vorkriegs-Ungarn bedeutete 6
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Ein kürzlich erschienener Überblick über die moderne jüdische Geschichte im Russischen Reich bis zum Jahr 1881 ist Israel Bartal, The Jews of Eastern Europe 1772-1881, Philadelphia 2005. Vgl. auch Jonathan Frankel, Prophecy and Politics: Socialism, Nationalism and the Russian Jews 1862-1917, Cambridge 1984. Eine lebendige Beschreibung in S. An-sky (Salomon Zanvil Rapoport), Hurban hayehudim bepolin, galitsiyah ubukovinah, Tel Aviv o.J.; vgl. auch Elias Tcherikower, Di ukrainer pogromen in yor 1919, New York 1965. Vgl. den wichtigen Artikel von William Hagen, The Moral Economy of Popular Violence: The Pogrom in Lwów, November 1918, in: Blobaum (Hg.), Antisemitism, S. 114-147. Es gibt eine umfangreiche Literatur zu diesem Pogrom, in dem vermutlich bis zu 70 Juden getötet und zahlreiche verletzt wurden. Einige Polen sahen dieses Ereignis im Zusammenhang mit der jüdischen Gleichgültigkeit gegenüber dem polnischen Schicksal, weil die Juden in diesem Gebiet ihre „Neutralität“ im Kampf um Ostgalizien erklärt und sich geweigert hatten, auf der polnischen Seite zu stehen.
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unzweifelhaft eine Katastrophe für seine jüdische Gemeinschaft, die sich stark mit der magyarischen Nation, mit ihrer Kultur und ihren nationalen Bestrebungen identifizierte. Nach dem Krieg übernahm vorübergehend eine kommunistische Regierung die Herrschaft, an der erstaunlich viele Ungarn jüdischer Herkunft beteiligt waren. Sie wurde bereits nach wenigen Monaten durch eine rechte Obrigkeit, die von Admiral Miklós Horthy geführt wurde, ersetzt. Es folgte der „weiße Terror“, der sich bis zu einem gewissen Grade gegen die Juden des nunmehr stark geschrumpften ungarischen Staates richtete.9 Anderswo in der Region wurde die Geburt der neuen politischen Ordnung nicht von solch dramatischen antijüdischen Gewaltausbrüchen begleitet, obwohl es hier und da Probleme gab. Doch auch nachdem die Gewalt einmal niedergeschlagen und die neuen Grenzen festgelegt worden waren, blieb das Schicksal der jüdischen Gemeinschaft in der Schwebe. Würden die Juden sich nun auf einen Integrationsprozeß in den verschiedenen Staaten dieser Region einlassen, wie dies ihre Glaubensgenossen in Westeuropa im Laufe des 19. Jahrhunderts vorgemacht hatten? Würde es den Juden oder zumindest einigen von ihnen möglich sein, Polen oder Rumänen zu werden, wie sie Briten oder Italiener geworden waren? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, ist es unbedingt notwendig, die Einstellungen der Juden am Vorabend der neuen Ära nach dem Ende des Ersten Weltkrieg zu bedenken. Welche Hoffnungen und Erwartungen hegten sie? Offensichtlich sprach die jüdische Gemeinschaft, wie alle anderen nationalen, religiösen und ethnischen Gruppen in Osteuropa, nicht mit einer Stimme. Darüber hinaus können wir annehmen, daß alle Juden hofften, gleiche Rechte in jenen Ländern (Rußland und Rumänien) zu bekommen, in denen sie diese vor dem Krieg nicht gehabt hatten. Darüber hinaus können wir annehmen, daß alle hofften, gute Beziehungen zu ihren Nachbarn unterhalten zu können und nach Möglichkeit in Frieden und Wohlstand leben wollten. Neben diesen gewöhnlich für alle zutreffenden Bestrebungen gab es tiefe Risse innerhalb der jüdischen Welt, die sich in den unvereinbaren Plänen verschiedener jüdischer Organisationen für die neue Welt, in der sie sich jetzt wiederfanden, zeigten.10 Selbst auf die Gefahr hin zu vereinfachen, schlage ich vor, die Juden in verschiedene Gruppen oder „Lager“ einzuteilen, die alle ihre eigenen Erwartungen, Forderungen und Hoffnungen hatten, die sie im neuen Osteuropa hofften verwirklichen zu können. Da wäre zunächst das „nationale Lager“, diese große und vielfältige Gruppe, die darauf bestand, daß die Juden eine moderne Nation seien, mehr oder weniger wie die anderen Nationen in Osteuropa, und daß ihnen nationale Rechte in den neuen Staaten der Region garantiert werden müßten. Die entscheidende Grenze innerhalb dieses „Lagers“ verlief zwischen Zionisten 9 10
Vgl. Katzburg, Hungary and the Jews, S. 32-59. Diese Unterteilungen sind Thema meines Buches: On Modern Jewish Politics, New York 1991.
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(die sich aber ebenfalls keinesfalls einig waren), die auf die Wiederherstellung des jüdischen Staates in Palästina hofften (Erez Israel), und „Diaspora Nationalisten“ oder Autonomisten, welche die Notwendigkeit eines Territorialstaates verneinten und stattdessen nationale Rechte in der Diaspora forderten, d.h. Anerkennung der Juden als landlose Nation, deren nationale Einrichtungen, insbesondere Schulen in denen in Nationalsprache unterrichtet wurde (Hebräisch oder Jiddisch), vom Staat finanziert werden müßten. In diesem Zusammenhang soll darauf hingewiesen werden, daß auch die Zionisten, trotz ihres Territorialismus, hofften, in solchen Ländern wie Polen, Rumänien und Litauen für ihre Wähler den gesetzlich garantierten Status einer Nation mit nationalen Rechten zu erreichen. Schließlich würde die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina eine Zeit dauern – unterdessen sollte den Juden erlaubt sein, in der Diaspora ein nationales Leben zu gestalten. Die meisten „Autonomisten“ sahen in der jiddischen Alltagssprache der Menschen die bedeutendste Zierde der jüdischen Nation, während die Zionisten hofften, das jüdische nationale Leben sogar im Exil (galut) auf dem Hebräischen als Nationalsprache zu gründen. Diese Sprache galt ihnen als Erbe der glorreichen jüdischen Vergangenheit und Künderin einer nicht weniger glorreichen Zukunft. Sämtliche jüdischen Nationalisten nahmen an, daß die große Mehrheit der osteuropäischen Juden Anhänger der jüdischen Nationalidee waren. Dies war aber keineswegs der Fall. Es gab zudem ein jüdisches politisches bzw. kulturelles Lager, das die Idee der jüdischen Integration in die osteuropäischen Gesellschaften unterstützte. Wenn die territoriale Basis des jüdischen Nationalismus im alten russisch-jüdischen Ansiedlungsrayon und in Galizien zu verorten war (in der Zwischenkriegszeit bedeutete dies Polen und Teile der baltischen Gebiete, Rumäniens und selbstverständlich der Sowjetunion), fand die jüdische Integrationsbewegung ihr Zentrum in der Zwischenkriegszeit in Ungarn, aber es existierte auch überall dort, wo es einigermaßen große städtische jüdische Bevölkerungsteile gab. Das galt in Warschau ebenso wie in Budapest und in Bukarest ebenso wie in Prag. Vereinfacht gesagt, wollten die Integrationisten (dabei handelt es sich nicht um einen Quellenbegriff, sondern um einen von mir gewählten) in der übrigen Bevölkerung aufgehen, genauso wie es deutsche, französische, italienische und britische Juden in der Neuzeit gemacht hatten. Dies beinhaltete zwar nicht den völligen Verlust ihrer jüdischen Identität, aber es bedeutete die Betonung von Akkulturation, Patriotismus und die Selbstwahrnehmung als „Polen, Rumänen, Russen, Tschechen (und so weiter) jüdischen Glaubens“. Dies bedeutet, in anderen Worten, die allgemeine Anerkennung der Vorstellung, daß „Jüdischsein“ mehr oder weniger identisch mit einer religiösen Weltsicht war und nicht die Mitgliedschaft in einer bestimmten nationalen Gruppe implizierte. Gewöhnlich hielt sich eine solche religiöse Identität von der traditionellen jüdischen Orthodoxie fern und unterstützte stattdessen eine moderne Form des Judaismus (wie den ungarischen Neologismus).
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Ein weiteres klar abgrenzbares jüdisches „Lager“ bestand aus jenen von den Integrationisten so verabscheuten traditionellen orthodoxen Juden, die auch unter ihrer hebräischen Bezeichnung haredim bekannt sind. Osteuropa war, historisch gesehen, die territoriale Basis der altmodischen jüdischen Orthodoxie, die strikt die jüdischen Gesetze befolgte, besondere Kleidung trug, Loyalität gegenüber der jiddischen Sprache bewies und gewöhnlich nicht an nicht-jüdischer Kultur interessiert war. Diese Menschen, von denen viele der chassidischen Bewegung angehörten, die in den polnischen Gebieten während des 18. Jahrhunderts entstanden war, standen dem modernen jüdischen Nationalismus feindlich gegenüber, weil er größtenteils weltlich ausgerichtet war und von daher im Gegensatz zu Gottes Plänen für das jüdische Volk stand. Sie lehnten außerdem den Integrationismus ab, da er eine Abschaffung großer Teile des jüdischen Lebens, insbesondere des orthodoxen Judaismus, bedeutete. Von den neuen Staaten der Region erwarteten sie Tolerierung und das Recht, ihre Art zu leben, ihr traditionelles Schulsystem und ihre besondere Form jüdischer Kultur aufrechterhalten zu dürfen. Solche Juden fand man überall, wenn auch ihre Basis wiederum in Galizien und dem alten Russischen Reich lag, wobei einige Teile des alten Ungarn (Siebenbürgen und die Karpatoukraine) dazu kamen. Ein weiteres jüdisches „Lager“ wären die Linken. Dabei haben wir es mit einer Reihe jüdischer Organisationen und Einzelpersonen zu tun, die sich selbst ideologisch als Sympathisanten des europäischen Sozialismus oder Kommunismus bezeichneten. Hier konnte man sowohl jüdische Nationalisten als auch Integrationisten finden, dagegen kaum streng orthodoxe Juden. Mitglieder dieses weit gefaßten Lagers hofften vor allem auf eine Revolution, zum einen im allgemeinen und zum anderen (im Fall der jüdischen sozialistischen Bewegung) in der jüdischen Gesellschaft. Die Nationalisten hofften, eine Revolution „auf die jüdische Gasse“ der osteuropäischen Diaspora zu bringen, wie beispielsweise die Mitglieder des jüdischen „Bund“, während die linken Zionisten von einem sozialistischen Staat in Erez Israel träumten. Viele jüdische Einzelpersonen, die kein besonderes Interesse am jüdischen Leben hatten, wurden aus unterschiedlichen Gründen von der Linken angezogen, und spielten in der Politik des linken Flügels im Osteuropa der Zwischenkriegszeit eine große Rolle. In der Tat wurde ihre auffallende Präsenz häufig von Antisemiten unterstrichen, die dazu neigten, die Linke generell mit der „Weltjudenheit“11 gleichzusetzen. Eine Möglichkeit, die Geschichte der Juden in Osteuropa in der Zwischenkriegszeit zu betrachten, ist zu fragen, bis zu welchem Ausmaß die Hoffnungen und Erwartungen der Anhänger dieser verschiedenen Lager erfüllt wurden. Selbstverständlich gibt es auf diese Frage keine einfache Antwort. Zunächst zum Schicksal des jüdischen „nationalen“ Lagers: Die neue 11
Eine allgemeine Diskussion im einführenden Essay zu Mendelsohn, Essential Papers on Jews and the Left, New York 1997, S. 1-17.
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Ordnung in Osteuropa schien zu Beginn der Zwischenkriegszeit vom nationalen jüdischen Standpunkt aus gesehen ziemlich günstig zu sein. Schließlich repräsentierte diese neue Ordnung, wie wir bereits gezeigt haben, den Triumph des nationalen Prinzips, und das Vorhandensein eines gewalttätigen Antisemitismus schien zu beweisen, daß die zionistische Überzeugung, daß es keine „Lösung“ der jüdischen Frage in der europäischen Diaspora geben könne, gerechtfertigt war. Darüber hinaus gaben Ereignisse außerhalb Osteuropas dem Zionismus einen kräftigen Auftrieb – die Balfour-Deklaration von 1917, die Eroberung Palästinas durch britische Truppen und die Errichtung des britischen Mandats verwandelten den Zionismus plötzlich von einem utopischen Traum in ein erheblich realistischeres Unternehmen. Wer hätte sich 1914 vorgestellt, daß die osmanische Herrschaft über Palästina zerbröckeln würde und daß eine große europäische Macht mit der Verpflichtung, dort eine „jüdische Nationalheimat“ zu errichten, mit voller Unterstützung der internationalen Gemeinschaft die Kontrolle übernehmen würde? In der Tat gibt es keinen Zweifel, daß sich in der Zwischenkriegszeit der Zionismus in Osteuropa zu einer Massenbewegung entwickelte – was er vor dem Ersten Weltkrieg nicht gewesen war – die von Hunderten und aber Hunderten von Juden unterstützt wurde. Zwar bedeutete die Einstellung der Sowjetunion, die den Zionismus als eine bürgerliche, reaktionäre und klerikale Bewegung betrachtete und sie ab Mitte der 1920er Jahre verbot, einen herben Schlag. Dadurch wurden traditionell stark zionistische Gebiete wie die Sowjetukraine und Weißrußland von allen zionistischen Aktivitäten abgeschnitten. Millionen sowjetischer Juden gingen der zionistischen Bewegung verloren und konnten erst in den 1970er Jahren zurückgewonnen werden, als die Einwanderung sowjetischer Juden nach Israel (alijah) begann. Der Mittelpunkt der zionistischen Aktivitäten verlagerte sich deshalb auf das Gebiet des unabhängigen Polen und, wenn auch in einem erheblich geringeren Maß, in die neuen Staaten Litauen und Lettland sowie in Teile Rumäniens (besonders Bessarabien, dessen Juden vorher Bewohner des russischen jüdischen Ansiedlungsrayons gewesen waren). In diesen Ländern, besonders in Polen, erzielten die Zionisten Erfolge, auch wenn diese nicht so überwältigend waren, wie ihre Führer erhofft hatten.12 Der polnische Staat gestand, im Gegensatz zur Sowjetunion, den zahlreichen zionistischen Organisationen im Land die Freiheit zu, ihre Ziele zu verfolgen und nahm sogar eine pro-zionistische Haltung ein (er wünschte ebenfalls, die Juden würden in den Mittleren Osten emigrieren). Hunderte und aber Hunderte polnischer Juden beteiligten sich an zionistischen Spendensammlungen, an der Wahl zionistischer Kongresse und örtlicher Konferenzen, während Zehntausende jüdischer Kinder von Zionisten geführte Grund- und weiterführende Schulen besuchten, deren Schulsprache Hebräisch war, wodurch eine 12
Einen Überblick über die ersten Jahre bietet Ezra Mendelsohn, Zionism in Poland: The Formative Years 1915-1926, New Haven u.a. 1981.
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kleine, aber beeindruckende neue Generation Hebräisch sprechender Jugendlicher heranwuchs, ein neues Phänomen im jüdischen Leben Osteuropas.13 Die vielleicht größte Bewährungsprobe für die Bewegung war die Anzahl der Juden, die sie nach Palästina schicken konnte. Alles in allem emigrierten rund 150.000 polnische Juden in der Zwischenkriegszeit dorthin, sicherlich nur ein kleiner Prozentsatz, da die Zahl der polnischen Juden sich auf über drei Millionen belief, aber in der Tat eine sehr bedeutende Zahl für die jüdische Gemeinschaft in Palästina (jishuv). Es ist schwer vorstellbar, daß es der jüdischen Gemeinschaft möglich gewesen wäre, sich ohne diese polnische alijah zu halten und schließlich die arabischen Truppen, mit denen sie 1948 konfrontiert wurde, zu besiegen. Auch in anderen Teilen Osteuropas erhielt der Zionismus bemerkenswerte Unterstützung. Die vorherrschende nationalistische Atmosphäre, die bevorzugten Einstellungen der verschiedenen Regierungen und die offensichtlichen antisemitischen Tendenzen machten dies unvermeidlich. Besonders in den baltischen Staaten waren die kulturellen Aktivitäten der Zionisten äußerst erfolgreich. Der Zionismus besaß aber keinen großen Einfluß in Ungarn, trotz der antisemitischen Einstellung aller ungarischen Regierungen in der Zwischenkriegszeit, und selbst in der Tschechoslowakei war er im wesentlichen eine Minderheitenbewegung. Vor allem scheiterten die Bemühungen der Zionisten definitiv, eine wirklich beeindruckende Zahl osteuropäischer Juden dazuzubringen, nach Palästina auszuwandern. Selbstverständlich machte die zionistische Bewegung die Weigerung der Briten, freie Einwanderung zu unterstützen, für diesen Umstand verantwortlich, vor allem während der späten 1930er Jahre, als sich die Lebensbedingungen für die jüdischen Gemeinschaften überall in Europa, besonders aber in Polen, verschlechterten. Wie aber erging es dem feindlichen Zwilling des Zionismus, der nationalen Diaspora oder dem autonomistischen Flügel der jüdischen Nationalbewegung: Paradoxerweise war die Sowjetunion das einzige Land, in dem die Juden offiziell als eine landlose Nation anerkannt wurden und ihnen für verschiedene kulturelle Aktivitäten staatliche Unterstützung garantiert wurde. Während der 1920er und 1930er Jahre subventionierte der sowjetische Staat jüdische Kultur (in jiddischer Sprache, Hebräisch war jenseits der Grenzen des Erlaubten), einschließlich solcher Institutionen wie jüdische Schulen und Theater sowie Forschungen zur jüdischen Geschichte und Gesellschaft. Eine spezielle „jüdische Sektion“ der Kommunistischen Partei wurde eigens gegründet, um diese Aktivitäten zu überwachen.14 Viele Juden betrachteten die sowjetische 13
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Diese waren als Tarbut-(Kultur)-Schulen bekannt. Eine kurze Beschreibung in Joseph Marcus, Social and Political History of the Jews in Poland 1919-1939, Berlin/New York/Amsterdam 1983, S. 150ff. Vgl. die noch immer äußerst nützliche Studie von Zvi Yechiel Gitelman, Jewish Nationality and Soviet Politics. The Jewish Sections of the CPSU 1917-1930, Princeton 1972. Eine wichtige Studie zum jüdischen Theater in der UdSSR ist Jeffrey Veidlinger, The Moscow State Yiddish Theatre. Jewish Culture on the Soviet Stage, Bloomington 2000.
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Unterstützung der jüdischen Kultur als Beweis, daß die Regierung grundsätzlich pro-jüdisch eingestellt war. Diese Politik lieferte also einen weiteren Grund, sich mit dem Kommunismus zu verbünden. Die Unterstützung verschwand jedoch in den 1930er Jahren allmählich (die jüdische Sektion wurde 1930 geschlossen) und jüdische „Nationalisten“ wurden zunehmend, zusammen mit anderen „nationalen Abweichlern“, unterdrückt. Von der Politik, die einstmals jüdische nationale Kultur unterstützt hatte, blieb nach dem Zweiten Weltkrieg nichts übrig. In den nicht-kommunistischen, pluralistischen, aber in der Regel längst nicht liberalen Gesellschaften, die in weiten Teilen Osteuropas vorherrschten, erwies sich der jüdische Nationalismus in der Diaspora als nicht besonders erfolgreich, obwohl das Bild hier nicht einheitlich ist. Der Hauptschauplatz, auf dem der Kampf um solche Rechte ausgetragen wurde, war Polen, dessen große, hauptsächlich jiddisch-sprechende jüdische Gemeinschaft von autonomistischen Ideologen für ein solches Experiment der landlosen Nationenbildung als hervorragend geeignet angesehen wurde. Die Anstrengungen verschiedener jüdischer Organisationen und ihrer Verbündeten, die nationalen Rechte für die jüdische Minderheit in Osteuropa zu sichern, sind gut bekannt und bestens dokumentiert.15 In diesem Zusammenhang ist die Tatsache besonders interessant, daß amerikanische jüdische Organisationen, obwohl sie selbstverständlich nicht daran interessiert waren, nationale Rechte für amerikanische Juden zu gewinnen, sich an den Anstrengungen beteiligten, ihren polnischen religiösen Mitstreitern solche Rechte zu sichern. Diese Anstrengung muß vor dem Hintergrund der Bemühungen nationaler Gruppen überall in Osteuropa verstanden werden, solche Rechte für sich selbst zu erlangen; in Polen waren die Ukrainer die wichtigste Gruppe, die solche Forderungen stellen konnte, aber auch die Deutschen, die Weißrussen und andere, kleinere nationale Gruppen, die sich selbst als Einwohner des neuen polnischen Staates wiederfanden, taten dies. Am Ende war der polnische Staat dennoch nicht bereit, jüdische Kulturinstitutionen zu unterstützen, ebenso war er höchst unwillig, dies im Fall der anderen Minderheiten zu tun.16 Jüdische Privatschulen, ob sie in Hebräisch, Jiddisch, Polnisch oder einer Kombination aus diesen Sprachen unterrichteten, erhielten keinerlei staatliche Hilfe und waren gezwungen, aus Fonds, die von der jüdischen Gemeinschaft eingerichtet wurden, zu existieren. Juden wurden als separate Gemeinschaft mit sowohl nationalen als auch religiösen Charakteristika angesehen, und es war ihnen gestattet, kommunale Körperschaften beizubehalten (kehillot), die bestimmte, meist religiöse Aspekte des jüdischen Gemeinschaftslebens überwachten. Das war das äußerste, wozu der Staat 15 16
Vgl. Carole Fink, Defending the Rights of Others. The Great Powers, the Jews and International Minority Protection 1878-1938, New York 2004. Zur staatlichen Politik Polens siehe Jerzy Tomaszewski, Rzeczpospolita wielu narodów, Warschau 1985.
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bereit war. Unter solchen Umständen ist es nicht überraschend, daß die Mehrheit der jüdischen Kinder die kostenlosen staatlichen polnischen Schulen besuchte. Nicht zuletzt deshalb erreichte während der Zwischenkriegszeit, trotz der Existenz qualitativ hochwertiger Schulen, die in Jiddisch oder Hebräisch unterrichteten, die jüdische Akkulturation an die polnische Sprache und Kultur neue und unvorhersehbare Höhen. Der schöne Traum, eine jüdische (säkulare) Nation auf polnischem Boden zu erreichen, erwies sich als unrealistisch und unerreichbar. In Litauen erzielte die jüdische Autonomie ohne ein eigenes Territorium ihre größten Erfolge – überraschenderweise in einem neuen Staat, dessen Sprache der jüdischen Gemeinschaft nicht vertraut war. Litauen war zumindest für eine Weile ein Staat, der der jüdischen Gemeinschaft die Wahl ihres eigenen nationalen Rates erlaubte. Unter der Führung dieses Rates wurden jüdische nationale Institutionen gegründet und vom Staat anerkannt. Hier besuchten die meisten jüdischen Kinder jüdisch geführte Schulen, die staatliche Unterstützung erhielten. Diese Einrichtungen blieben sogar nach dem Zusammenbruch des jüdischen Nationalrates bestehen.17 Andernorts konnte die Doktrin der jüdischen nationalen Autonomie nur wenige Fortschritte machen. Da die neuen Staaten Osteuropas sich selbst als Nationalstaaten zu etablieren suchten, verstanden sie sich nicht als Staaten, die bereit waren, ungeliebte nationale Minderheiten zu unterstützen, die oft als Bedrohung angesehen wurden (wie im Fall der Ukrainer in Polen). Für das sogenannte „integrationistische Lager“ scheint der Befund einfacher: Die Juden, die sich mit dieser besonderen Weltsicht identifizierten, glaubten, daß die jüdische Geschichte der Neuzeit die Unvermeidbarkeit der jüdischen Akkulturation und Integration in die Aufnahmegesellschaft lehre. Dies war in Deutschland geschehen, und so würde es auch in Polen und vermutlich sogar in solchen völlig neuen Staaten wie Lettland und Litauen sein. Auf eine gewisse Art und Weise hatten sie damit recht. Weit mehr Juden als je zuvor sprachen 1939 Polnisch – das Ergebnis einer zwanzigjährigen, hauptsächlich polnischsprachigen Erziehung. In der Zwischenkriegszeit lernten Juden Rumänisch, Tschechisch, Bulgarisch, Serbisch und sogar Litauisch. Die jiddische Muttersprache war selbst in ihrer polnischen Bastion im Niedergang begriffen, auch wenn ihr völliges Verschwinden noch nicht bevorstand. Dennoch ist es wohl am treffendsten, diesen Prozeß als einen der „Akkulturation ohne Integration“ zu definieren. Es gibt dafür verschiedene Gründe. Zum einen ist es sicherlich zutreffend, daß nicht alle Juden, die in den neuen Staaten Osteuropas lebten „Polen“ oder „Rumänen“ werden wollten. Wir wissen aus Zensusangaben in Polen aus den Jahren 1921 und 1931, daß ledig17
Siehe Alvydas Nikžentaitis/Stefan Schreiner/Darius Staliunas (Hg.), The Vanished World of Lithuanian Jews, Amsterdam/New York 2004, besonders den Artikel von Verena Dohrn, The First Lithuanian Republic and S.M. Dubnov’s Concept of Cultural Autonomy, S. 155-175; vgl. außerdem Šar nas Liekis, A State Within a State? Jewish Autonomy in Lithuania 19181925, Wilna 2003.
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lich eine Minderheit – auch wenn diese keineswegs zu vernachlässigen war – polnischer Juden sich entschied, sich selbst als „Polen gemäß Nationalität“ zu identifizieren, während die Mehrheit für eine jüdische nationale Identität optierte.18 Diese Ergebnisse wurden sicherlich durch die vorherrschende Einstellung gegenüber den Juden in Polen beeinflußt, aber sie reflektieren auch ein starkes jüdisches Nationalgefühl in diesem und anderen osteuropäischen Staaten (in Litauen bezeichneten sich z.B. nach dem Zensus von 1923 praktisch alle Juden als Juden gemäß Nationalität; ähnliche Zahlen wurden auch in Rumänien erreicht). Zusätzlich wurde der jüdischen Integration durch wichtige Teile innerhalb der polnischen Gesellschaft entgegengearbeitet. Die politische Rechte lehnte die Vorstellung, Juden in die polnische Nation einzubeziehen, ebenso ab, wie die einflußreiche polnische katholische Kirche.19 Dies war in der Tat während der 1920er und 1930er Jahre die vorherrschende polnische Meinung, die stark von Roman Dmowskis besonderer Form des Nationalismus beeinflußt wurde.20 Juden mögen polnisch sprechen, sogar polnisch schreiben aber sie konnten nicht für echte Polen gehalten werden. Diese Einstellung, die Parallelen in ganz Osteuropa hatte, verhinderte, daß das integrationistische Lager eine dominierende Kraft im jüdischen Leben in Polen oder Rumänien in der Zwischenkriegszeit wurde. In jenen Gebieten Ost- oder Ostmitteleuropas, in denen die Integration bereits in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ernstzunehmende Erfolge erzielt hatte, wurden diese in der Zwischenkriegszeit zwar nicht völlig zurückgenommen, ihre Voraussetzungen wurden jedoch ernsthaft auf die Probe gestellt. Ungarn ist der klassische Fall. Im kleinen Ungarn der Zwischenkriegszeit, dem seine multinationalen und ärmeren Randgebiete genommen worden waren, stellten ungarisch-sprechende und patriotische ungarische Juden sicherlich die große Mehrheit und wurden hinlänglich durch die große jüdische Gemeinde in Budapest repräsentiert. Für diese Juden bedeutete die Zwischenkriegszeit eine Katastrophe. Der ungarische Nationalismus, der einstmals bereit gewesen war, alle diejenigen, welche die „ungarische Sache“ unterstützten als seinesgleichen zu akzeptieren, wandte nun einen erheblich engeren Begriff vom Magyarentum an. Bereits 1920 mußte die ungarische Judenheit angesichts der Verabschiedung eines Gesetzes, das die Zahl der Juden in höheren Bildungsinstitutionen beschränkte, zu ihrem Entsetzen feststellen, daß sie nicht länger als wirklich „ungarisch“ angesehen wurde. 18 19
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Zahlen bei Ezra Mendelsohn, The Jews of East Central Europe Between the Two World Wars, Bloomington 1983, S. 30f. Zur Einstellung der Kirche vgl. den ausgezeichneten Artikel von Brian Porter, Antisemitism and the Search for a Catholic Identity, in: Blobaum (Hg.), Antisemitism, S. 103-123; und die äußerst wichtige Studie von Viktoria Pollmann, Untermieter im christlichen Haus. Die Kirche und die „jüdische Frage“ in Polen anhand der Bistumspresse der Metropolie Krakau 19291939, Wiesbaden 2001. Siehe besonders Brian Porter, When Nationalism Began to Hate. Imagining Modern Politics in Nineteenth-Century Poland, New York/Oxford 2000.
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Gegen Ende der 1930er Jahre verschlimmerte sich die Lage, als Ungarn, nach dem Vorbild Deutschlands, eine Reihe von „Judengesetzen“ verabschiedete, welche die jüdische Gemeinschaft zu isolieren suchten und die jüdische Emanzipation zurücknahmen, die 1867 errungen worden war.21 In der Tat wurde Ungarn zum „Vorreiter“ der antijüdischen Gesetzgebung in Ostmitteleuropa. Wenn die Integration in Ungarn ein Fehlschlag war, gilt das ohne weiteres auch für die meisten anderen Länder. Die Tschechoslowakei mag in dieser Hinsicht eine Ausnahme gewesen sein, da sie liberaler als ihre Nachbarn war. Während Juden in den tschechischen oder slowakischen nationalen Gemeinschaften möglicherweise nicht willkommen gewesen sind, wurden sie doch als loyale Tschechoslowaken angesehen, und so ähnlich war es möglicherweise auch in Bulgarien, wo eine sehr kleine und hauptsächlich sephardische Gemeinschaft lebte. In Polen sahen sich diejenigen Juden, die als Polen akzeptiert werden wollten – und dies war keine unbedeutende Zahl – zurechtund zurückgewiesen. Erneut zeigt sich die Sowjetunion als außergewöhnlicher Fall. Wir haben bereits festgestellt, daß die jüdischen Verfechter nationaler Rechte in den 1920er Jahren von der sowjetischen Politik ermutigt wurden, aber der wichtigste Trend in der sowjetischen jüdischen Geschichte in der Zwischenkriegszeit war der von Russifizierung und Integration, wenn nicht in die russische Nation, dann wenigstens in das sowjetische Gemeinwesen. Hunderte und aber Hunderte Juden wanderten aus dem alten jüdischen Ansiedlungsrayon in die neuen Zentren, besonders nach Moskau und Leningrad, wo sie Russisch als ihre Sprache und Kultur übernahmen und von der offiziellen Ablehnung des Antisemitismus von Seiten des Regimes profitierten sowie von seiner Bereitschaft, den Juden zu erlauben, in die neue sowjetische Mittelklasse einzutreten. Viele dieser Juden wurden treue Anhänger des neuen Regimes, das ihnen frei von Diskriminierung schien und ihnen wirtschaftliche und soziale Mobilität ermöglichte.22 Sie unterliefen deshalb einen Prozeß der „Sowjetisierung“, der sie in russisch-sprechende, regimetreue Juden verwandelte. Allerdings begrüßten nicht alle sowjetischen Juden diesen Prozeß – religiöse Juden wurden rücksichtslos verfolgt, ebenso wie jene, deren politische Ansichten dem Regime zuwiderliefen. Dennoch war in den 1920er und 1930er Jahren und darüber hinaus bis in die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges hinein der Prozeß der „Integration“ in der Sowjetunion erfolgreich. Für das orthodoxe Lager war die Sowjetunion mit dem einzigen antireligiösen Regime der Region der denkbar schlechteste Ort. Der orthodoxe Ju21
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Siehe Katzburg, Hungary and the Jews, S. 94ff.; Braham, Politics of Genocide; siehe außerdem im allgemeinen Victor Karády, Juden in Ungarn: Historische Identitätsmuster und Identitätsstrategien, Leipzig 1998. Dieser Prozeß wird betont in Yuri Slezkine, The Jewish Century, Princeton 2004, S. 105ff.; Gabriele Freitag, Nächstes Jahr in Moskau! Die Zuwanderung von Juden in die sowjetische Metropole 1917-1932, Göttingen 2004; siehe auch Mordechai Altshuler, Soviet Jewry on the Eve of the Holocaust: A Social and Demographic Profile, Jerusalem 1998.
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daismus erlitt auf sowjetischem Boden einen schrecklichen Schlag, von dem er sich nie wieder richtig erholte. Einige Juden gaben die Orthodoxie aus eigenem Entschluß auf, wie sie es stets seit dem 19. Jahrhundert getan hatten, während andere unter Verfolgung zu leiden hatten. Synagogen und yeshivas wurden geschlossen, und das orthodoxe Leben spielte sich nunmehr hauptsächlich im Untergrund ab, um erst in den 1960er und 1970er Jahren wiederzuerstehen. Dies ist der Grund, warum die große sowjetische alijah nach Israel seit den 1970er Jahren im großen und ganzen eine alijah säkularer Juden war, deren Wissen um den Judaismus gering oder nicht existent war. Anderswo in dieser Region war die Situation völlig anders. Ostmitteleuropa wurde von konservativen Regierungen geführt, in denen verschiedene christliche Kirchen eine bedeutende Rolle im sozialen und politischen ebenso wie im geistigen Leben spielten. Dies war eine Atmosphäre, in der orthodoxer Judaismus ebenfalls gedeihen konnte. In Polen genossen orthodoxe Juden und ihre Organisationen, ebenso wie in allen anderen Ländern, völlige Aktionsfreiheit. Ganz wichtig ist, daß orthodoxe jüdische Schulen existieren durften (obwohl sie im Normalfall nicht vom Staat unterstützt wurden), wodurch die Beibehaltung des traditionellen jüdischen religiösen Lebens unter den Jüngeren gesichert wurde. Sicherlich war auch in Polen, wie überall sonst, die Orthodoxie auf dem Rückzug und verlor unzweifelhaft zahlreiche ihrer Jugendlichen.23 Dies lag zum Teil an der wachsenden Attraktivität des säkularen Lebensstils und zum Teil an ökonomischen Gründen, denn ohne staatliche Unterstützung und in einer Situation allgemeinen wirtschaftlichen Niedergangs war es für orthodoxe jüdische Organisationen ausgesprochen schwierig, sich selbst zu erhalten. Außerdem boten miteinander wetteifernde Ideologien wie säkularer Nationalismus und Sozialismus Perspektiven für die Zukunft, gegen die die Orthodoxie schwer zu kämpfen hatte. Dennoch erhielt sich in Polen, großen Teilen Rumäniens und den baltischen Staaten ein traditionelles Milieu jüdischen Lebens besonders unter der chassidischen Bevölkerung; Juden kleideten sich weiterhin auf traditionelle Art, Rabbis und Rebes (Führer chassidischer Gemeinschaften) verfügten weiterhin über bemerkenswerte Macht, traditionelle jüdische Schulen blieben allgegenwärtig, yeshivas waren ebenso gut besucht wie Synagogen. Diese Art zu leben, die Hunderte von Jahren unter der ashkenasischen Bevölkerung Osteuropas vorgeherrscht hatte und die in der jüdischen Literatur und Kunst unsterblich gemacht worden ist, wurde erst von den Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkrieges ausgelöscht. Heutzutage lebt sie hauptsächlich in Israel und in den USA weiter. 23
Es ist nicht möglich, auch nur halbwegs genau zu berechnen, wie viele Juden aus orthodoxen Familien den Schoß der Familie während der Zwischenkriegszeit verließen. Die Sammlung von Autobiographien polnischer jüdischer Jugendlicher im Yivo-Archiv in New York deutet jedoch darauf hin, daß dies ziemlich verbreitet war. Vgl. Jeffrey Shandler (Hg.), Awakening Lives: Autobiographies of Jewish Youth in Poland Before the Holocaust, New Haven 2002.
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Was das Lager der jüdischen Linken anging, bedeutete die Zwischenkriegszeit die Fortführung eines Trends, der sich bereits am Ende des 19. Jahrhunderts abgezeichnet hatte. Zahlreiche Juden wandten sich unterschiedlichen sozialistischen Bewegungen zu. Dies galt, wenn auch nicht ausschließlich, so doch besonders für das Russische Reich.24 Die Rolle, die Männer und Frauen jüdischer Herkunft im ungarischen kommunistischen Regime von 1919 spielten, war sicherlich bemerkenswert und selbstverständlich spielten einzelne Juden eine bedeutende Rolle in der bol’ševikischen Revolution und in den men’ševikischen und sozialrevolutionären Parteien. Auch darüber hinaus gab es starke linke jüdische Organisationen. Am Ende des hier betrachteten Zeitraums war der sozialistische „Bund“, der den Marxismus mit einer Verpflichtung bezüglich jüdischer nationaler Rechte verband, wahrscheinlich die wichtigste jüdische politische Partei in Polen.25 Innerhalb der zionistischen Bewegung erlebten die 1930er Jahre den Bedeutungsaufstieg der zionistischen Linken, deren Spektrum vom strikten Marxismus bis zu moderateren Ideologien reichte und großen Zuspruch bei der zionistischen Jugend fand. Überall in Osteuropa spielten einzelne Juden bedeutsame Rollen in lokalen sozialistischer Bewegungen. In Polen wurden die Forderungen der ydokomuna gewöhnlich gehört, obwohl die Zahl jüdischer Kommunisten in diesem Land eher gering war.26 Es ist nicht schwer, die Attraktivität der Linken zu erklären. Die Antwort auf den endemischen Antisemitismus, mit dem viele Juden sich konfrontiert sahen, war eine Revolution, die zu einer gerechten Gesellschaft führen würde, in der alle Bürger gleiche Möglichkeiten haben würden. Trotzdem war der Erfolg der jüdischen Linken und der Juden auf der Linken nicht besonders beeindruckend. Der Sozialismus blieb überall in der Region eine Minderheitenbewegung, mit Ausnahme der Sowjetunion, wo ironischerweise besonders jüdische linke Bewegungen verboten waren. Es ist richtig, daß innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Polen Kräfte des linken Flügels wichtig waren, aber sie besaßen nur geringe Macht, um die Lebensumstände der Juden zu verändern. Intensive Bemühungen von seiten des „Bund“, Allianzen mit der polnischen Linken zustande zu bringen, trugen keine Früchte. Den größten Triumph erzielte die jüdische Linke in Palästina, wo der zionistische Sozialismus zur bedeutendsten jüdischen politischen Organisation wurde und von 1948 bis 1977 der linke Flügel des Zionismus die politische Szene in Israel dominierte. Alle hier diskutierten jüdischen „Lager“ befanden sich in der Zwischenkriegszeit in Osteuropa in einer äußerst schwierigen Lage. In den meisten 24 25 26
Vgl. Erich Haberer, Jews and Revolution in Nineteenth Century Russia, Cambridge 1995. Gertrud Pickhan, „Gegen den Strom“: Der Allgemeine jüdische Arbeiterbund „Bund“ in Polen 1918-1938, Stuttgart/München 2001. Vgl. Jaff Schatz, Jews and the Communist Movement in Interwar Poland, in: Jonathan Frankel (Hg.), Dark Times, Dire Decisions. Jews and Communism, New York u.a. 2004, S. 13-37.
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Staaten Ostmitteleuropas, besonders in Polen, Rumänien und Ungarn, war der Antisemitismus eine machtvolle Kraft und wurde im Laufe der Jahre noch machtvoller. In Polen, dem wichtigsten Schauplatz der osteuropäischen jüdischen Geschichte in der Zwischenkriegszeit, wurde Antisemitismus in den späten 1930er Jahren zur offiziellen Politik des Staates: die Regierungspartei erklärte, unterstützt von der obsessiv antijüdisch eingestellen polnischen Kirche, daß lediglich die Emigration die jüdische Frage lösen könne und die jüdische „Macht“ verringert werden müsse, um einer „polnischen“ Mittelklasse Entwicklungsmöglichen zu geben. Ähnliche Trends herrschten in Rumänien, Ungarn und selbst in den relativ gemäßigten Balkanstaaten vor. Warum gedieh der Antisemitismus und welche Auswirkungen hatte er auf die Juden? Nirgendwo in der Region konnten Demokratie und Liberalismus wirklich Fuß fassen. Die Tschechoslowakei war wiederum so etwas wie eine Ausnahme. Fast überall zogen die Auswirkungen des Krieges und die Depression der 1930er Jahre wirtschaftliches Chaos und Niedergang nach sich. Die Probleme nationaler Minderheiten waren groß und trafen mit dem vorherrschenden Ethos des Nationalstaates zusammen. Die relativ großen jüdischen Gemeinschaften fanden sich selbst gefangen zwischen sich bekämpfenden nationalen Zielen und sahen sich für die ungelösten gesellschaftlichen Probleme verantwortlich gemacht. Die mächtigen christlichen Kirchen waren gewöhnlich antijüdisch eingestellt. Außerdem gab es unselige Vorbilder, zunächst im faschistischen Italien und, entschiedener, im nationalsozialistischen Deutschland. Juden wurden beschuldigt, Kommunisten zu sein, die am meisten gehaßte und gefürchtete Bewegung in dieser Region. Juden wurde vorgeworfen, zu große wirtschaftliche Macht zu haben und vor allem wurden sie verdächtigt, sich illoyal gegenüber der herrschenden Nation zu verhalten. In aller Kürze könnte man sagen, daß in Osteuropa in der Zwischenkriegszeit bereits alles vorhanden war, was schließlich zur Katastrophe der jüdischen Gemeinschaften führte. In welchem Ausmaß betraf der Antisemitismus die jüdischen Gemeinschaften? Es gibt in der Literatur unterschiedliche Ansichten darüber, ob die polnischen Juden durch antisemitische Agitationen (einschließlich wirtschaftlicher Boykotte) in den 1930er Jahren ökonomisch benachteiligt wurden.27 Jüdische Beobachter beschreiben eine zunehmende Pauperisierung der jüdischen Gemeinschaften, die sich ökonomisch wegen des Geflechts antijüdischer Einstellungen und Maßnahmen, die sie aus den Universitäten ebenso ausschlossen wie aus staatlichen und kommunalen Stellen, nicht entwickeln konnten. Was auch immer geschah, der Zustand der Juden am Ende der 1930er Jahren war sowohl in Polen als auch anderswo bemitleidenswert. Der Titel eines kürzlich veröffentlichten Buches über die polnischen Juden mit dem Titel „No Way Out“, faßt die Gefühle zahlreicher polnischer Juden in den späten 1930er Jahren zusammen: Es schien keinen Weg zu geben, gegen die 27
Siehe Marcus, Social and Political History, Teil II, S. 29-257.
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steigende antisemitische Flut effektiv anzugehen. Darüber hinaus gab es auch keinen Ausweg, da weder das isolationistische Amerika noch die meisten anderen westlichen Länder die Möglichkeit zur Einwanderung boten. Das britische Palästina konnte nicht genügend Juden aufnehmen, um eine wirkliche Option in der Not zu sein.28 Das jüdische Leiden in Osteuropa in den 1930er Jahren existierte nicht in einem Vakuum. Die gesamte Region war von Armut, Arbeitslosigkeit und sozialen Unruhen erschüttert. Es gab aber unzweifelhaft eine besondere jüdische Dimension. Keine andere ethnische Gruppe oder religiöse Gemeinschaft (vielleicht mit Ausnahme der Roma) wurde einem solchen Frontalangriff ausgesetzt wie die Juden, trotz der Tatsache, daß sie, im Gegensatz zu den Deutschen in der Tschechoslowakei und den Ungarn in Siebenbürgen, keine irredentistischen Sympathien hegten. Welche „Lektionen“ können aus dieser Zeit hinsichtlich der Juden gelernt werden. Was kann der jüdische Historiker zu dieser Frage sagen? Zunächst ist es offensichtlich, daß keine der im späten 19. Jahrhundert ausgearbeiteten jüdischen Ideologien, die das Los der Juden verbessern sollten, im osteuropäischen Kontext lebensfähig war. Der Zionismus scheiterte daran, wirklich bedeutsame Anteile von Juden nach Palästina zu bringen, die nationale Autonomie war ein Fehlschlag in Ostmitteleuropa und lediglich ein vorübergehender Erfolg in der Sowjetunion. Integration scheiterte in Polen und anderswo, und selbst wenn sie in der Sowjetunion zeitweilig erfolgreich war, muß gesagt werden, daß es sich dort um eine Integration in eine neue „sowjetische“ Identität handelte und nicht in eine der vorherrschenden nationalen Gruppen in diesem multinationalen Staat. Die Orthodoxie durfte zwar, mit Ausnahme der UdSSR, überall existieren, aber sie war überall rückläufig, und es gelang ihr nicht, neue Anhänger zu gewinnen. Die jüdische Linke wurde in der UdSSR ausgelöscht und scheiterte bei dem Versuch, ein tragfähiges Bündnis mit der nicht-jüdischen Linken zu schmieden.29 Zweifellos war die Situation in Osteuropa in der Zwischenkriegszeit grundsätzlich „schlecht für die Juden“. Es gibt allerdings eine zweite Seite dieser Medaille, die nicht ignoriert werden sollte. Die alles beherrschende nationale Atmosphäre in Ostmitteleuropa verstärkte den jüdischen Nationalismus, und der Erfolg lokaler Nationalbewegungen schuf der zionistischen Bewegung viele nachahmenswerte Vorbilder, vor allem das des erfolgreichen polnischen Nationalismus. Der politische und kulturelle Pluralismus, der in ausgesprochen vielen Gebieten dieser Region während des größten Teils der Zwischenkriegszeit praktiziert wurde, ermöglichte die Existenz von Schulen,
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Emanuel Melzer, No Way Out. The Politics of Polish Jewry 1935-1939, Cincinnati 1997. Siehe dazu Joshua D. Zimmerman, Poles, Jews and the Politics of Nationality, Madison/Wisc. 2004. Die Studie behandelt zwar vor allem die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, ist aber dennoch auch für unser Thema relevant.
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die in Hebräisch und Jiddisch unterrichteten, und jüdischer politischer Parteien, Zeitungen und einer Unmenge anderer Institutionen. Wie erinnern Juden selbst die Zwischenkriegszeit in Osteuropa? Wie sollten jüdische Historiker sie erinnern? Für einige zeigt sie sich als eine Art Vorspiel oder sogar Generalprobe für den Holocaust, eine Zeit unerbittlichen Antisemitismus und der Verarmung der jüdischen Gemeinschaft als Ergebnis dieser Politik, als Beweis der Machtlosigkeit der Juden in der Diaspora Osteuropas, des christlichen Hasses auf die Juden und (manchmal wird dies hinzugefügt) der Wirksamkeit der zionistischen Interpretation jüdischer Geschichte.30 Sie kann außerdem als letztes Kapitel in der einzigartigen Geschichte der jiddisch-sprechenden orthodoxen osteuropäischen Judenheit gesehen werden, dem letzten Kapitel ihrer einzigartigen Kultur, die von den Nationalsozialisten für immer zerstört wurde. Es kann auch als letztes Hurra der säkularen jiddischen Kultur gesehen werden, die im 19. Jahrhundert erfunden wurde und sich in Zentren wie Warschau, Wilna und Minsk konzentrierte. Eine weitere Möglichkeit ihrer Interpretation besteht darin, ihre Beziehungen zu dem 1948 in gewissem Maß als „Nachfolgestaat“ der Juden aus Polen, Rumänien und dem Baltikum gegründeten Staat Israel zu betonen. Dieser Blickwinkel berücksichtigt die relativ große Zahl von Juden aus diesen Ländern, die in den 1920er und 1930er Jahren nach Palästina gingen und die osteuropäische Kultur und ihre Erfahrungen mit einer pluralistischen politischen und kulturellen Szene, die in diesem Teil der Welt existierte, mitnahmen. Viele von ihnen brachten Kenntnisse des modernen Hebräisch mit, wie es in den Tarbut-Schulen in Polen und Litauen gelehrt wurde, und waren deshalb in der Lage, sich problemlos in die hebräisch-sprechende jüdische Gemeinde in Palästina zu integrieren, die von einer vorhergehenden Generation osteuropäischer Juden, die zum größten Teil aus dem Russischen Reich gekommen war, gegründet worden war. Deswegen betrachtet der jüdische Historiker diese zwanzigjährige Ära mit gemischten Gefühlen. Es ist nicht nur eine Geschichte des wachsenden Antisemitismus, sondern auch eine der intensiven jüdischen kulturellen und politischen Errungenschaften. Und jüdische Nationalisten sollten sich daran erinnern, daß ohne die zionistischen Aktivitäten in der Zwischenkriegszeit der Staat Israel möglicherweise nicht gegründet worden wäre. Aus dem Englischen übersetzt von Liane Boll.
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Dies wird in der Art und Weise deutlich, wie dieser Zeitraum in einer Reihe von Büchern über jüdische Gemeinschaften in Osteuropa in der Neuzeit unter dem Titel Pinkas ha-kehillot (Das Buch der jüdischen Gemeinschaften), das in zahlreichen Bänden in Jerusalem seit 1970 bis heute veröffentlicht wurde, beschrieben wird.
Das fragile Korsett der Koexistenz: Zum Verhältnis von jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung in Österreich 1918 bis 1938 ALBERT LICHTBLAU Österreich spielte für die Entwicklung des „modernen Antisemitismus“, also des politisch-ideologisierten, der zu Gründungen von politischen Parteien führte und sich in die Ideologien und Programmatik von anderen Parteien einschrieb, eine eminent wichtige Rolle.1 Ging der Impuls vom Deutschen Reich rund um die Personen des Berliner Hofpredigers Adolf Stöcker und des Historikers Heinrich von Treitschke aus, war es der deutschsprachige Teil der Habsburgermonarchie, in dem der parteipolitische Antisemitismus sich im deutschnationalen und christlich-konservativen Milieu flächendeckend durchsetzen konnte. Der als charismatisch geltende, von 1897 bis 1910 amtierende Wiener Bürgermeister Karl Lueger und der weniger erfolgreiche, aber in seiner ideologischen und aktionistischen Radikalität konsequentere Georg Ritter von Schönerer waren die Protagonisten der beiden politischen Lager des „modernen Antisemitismus“.2 Für Adolf Hitler wurde Wien zu einer Studierstube in punkto antisemitischer Politik, die er, wenn auch sehr verklärend, in „Mein Kampf“ beschrieb.3 Die Hauptstadt des Vielvölkerstaates war die erste antisemitisch regierte europäische Metropole, und der Antisemitismus wurde in vielen Schichten, besonders unter Handwerkern, Gewerbetreibenden, Beamten, Handelsangestellten und dem Klerus populär. Schon früh wurden jüdische Studenten aus den Burschenschaften ausgeschlossen und eine in Vereinsstatuten fixierte Barriere zwischen Antisemiten und der jüdische Bevölkerung aufgebaut. Der Erfolg des Antisemitismus in den österreichischen Alpenländern und das frühe Scheitern liberaler Parteien hatten das Vorhandensein einer antisemitisch sozialisierten Bildungsschicht zu Beginn der Ersten Republik zur Folge, die als Meinungsträgerin in Parteien, Institutionen, Berufsverbänden, Zeitungen, Schulen und Universitäten tätig war. Ein österreichisches Phänomen war, daß der konservative Antisemitismus zwar ein vornehmlich verbaler war, jedoch in der Radikalität seiner Sprache sehr weit ging, da der Antisemitismus eine Verbindungsklammer zu den 1 2
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Vgl. Peter Pulzer, The Rise of Political Antisemitism in Germany and Austria, London 1988. John W. Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna. The Origins of the Christian Social Movement 1848-1897, Chicago 1981; Johannes Hawlik, Der Bürgerkaiser. Karl Lueger und seine Zeit, Wien/München 1985; Andrew G. Whiteside, Georg Ritter von Schönerer. Alldeutschland und sein Prophet, Graz/Wien/Köln 1981. Vgl. auch Klaus Hödl, Wiener Juden – jüdische Wiener. Identität, Gedächtnis und Performanz im 19. Jahrhundert, Innsbruck/Wien/Bozen 2006. Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München 1996, S. 337ff.
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Deutschnationalen bildete, mit der sie von den konservativ orientierten Antisemiten ideologisch umgarnt werden sollten, um ihr Wählerpotential abzuschöpfen. Das ideologische Repertoire des Antisemitismus war bis zum Zusammenbruch der Monarchie vollständig ausgebreitet und wurde danach lediglich in der ideologischen Gewichtung und in seinen Ausdrucksformen verändert. Abgesehen vom frühen Erfolg antisemitischer Parteien unterscheiden einige Faktoren die Lage der jüdischen Bevölkerung Österreichs von jener in anderen Ländern. Bemerkenswert ist der hohe Urbanisierungsgrad der jüdischen Bevölkerung nach 1918, denn bei der letzten Volkszählung vor dem Anschluß im Jahr 1934 lebten 93,7% aller Juden und Jüdinnen in einer der Landeshauptstädte. Zum Vergleich: Unter der nichtjüdischen Bevölkerung lag der Anteil der in einer Landeshauptstadt Lebenden lediglich bei 32,7%. Der hohe Urbanisierungsgrad der jüdische Bevölkerung war vor allem auf die jüdische Bevölkerung in Wien zurückzuführen, denn knapp 92% aller Juden und Jüdinnen lebten (1934) in Wien. Da es in vielen österreichischen Provinzen der jüdischen Bevölkerung bis 1848 bzw. 1867 untersagt gewesen war, sich niederzulassen, war ihr Bevölkerungsanteil außerhalb Wiens sehr gering geblieben. Obwohl auch Wien erst seit 1848 für die Ansiedlung von Personen jüdischer Religionszugehörigkeit offen stand, war die Anziehungskraft danach so stark, daß die jüdische Bevölkerung bis 1923 kontinuierlich zunahm und mit 201.513 Personen bzw. einem Bevölkerungsanteil von 10,8% bei der Volkszählung 1923 ihren Höhepunkt erreichte.4 Der letzte Bevölkerungsaufschwung beruhte auf Flüchtlingen aus Galizien und der Bukowina, die während des Ersten Weltkrieges vor den gefürchteten russischen Truppen ins Landesinnere geflüchtet waren. Im Oktober 1917 befanden sich beispielsweise 77.090 staatlich unterstützte jüdische Flüchtlinge in Wien. Zwar kehrten die meisten zurück, doch ungefähr 25.000 Flüchtlinge blieben in Wien.5 Für die Antisemiten waren sie ein willkommenes Angriffsziel, entsprachen doch viele ihrem ikonographischen Klischee, das auf sogenannte Ostjuden abzielte. Der Krieg brachte viele arme, gläubige, jiddisch sprechende Juden und Jüdinnen mit der traditionellen Kleidung und Haartracht in die Stadt. Die Antisemiten sahen sich in ihrer Annahme bestätigt, daß „der Jude“ ein „Fremder“ war, – ein „Orientale“, „Asiate“ – ausgestattet mit allen Insignien des „Anderen“. Spöttisch wurden in den antisemitischen Medien die Angriffe gegen die sogenannten Ostjuden zur „Ostjudenfrage“ hochstilisiert und diese wurde zu einem Dauerthema der ersten Jahre der jungen Republik. Auch die Sozialdemokratie schloß sich mit xenophoben Reflexen diesen Angriffen an, und einflußreiche Politiker, wie 4 5
Bis zur letzten Volkszählung vor dem Anschluß, die im Jahr 1934 stattfand, sank die Zahl der jüdischen Bevölkerung in Wien auf 176.034 Personen. Beatrix Hoffmann-Holter, „Abreisendmachung“. Jüdische Kriegsflüchtlinge in Wien 1914 bis 1923, Wien/Köln/Weimar 1995.
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der niederösterreichische Landeshauptmann Albert Sever, forderten die Abschiebung der jüdischen Flüchtlinge.6 Unisono war sich die österreichische Politik einig, daß die jüdischen Flüchtlinge ausgewiesen werden sollten, manche, wie der zum radikalen Flügel der Antisemiten gehörende christlichsoziale Leopold Kunschak, forderten gar die Internierung der Flüchtlinge in Konzentrationslagern.7
Die Folgen des Zusammenbruchs der Habsburgermonarchie Mit dem Wegbrechen der Monarchie blieb Wien als einzige Metropole des Landes übrig, und der Antiurbanismus und Antimodernismus fokussierten sich auf diese Stadt. War Wien wegen der Herrschaft der antisemitischen Christlichsozialen bis 1918 für Antisemiten positiv besetzt, kippte diese Idealisierung in der Ersten Republik in pure Aversion. Nach der Aufgabe des kommunalen Kurienwahlrechtes und der Einführung des allgemeinen kommunalen Wahlrechtes erzielte die Sozialdemokratie in Wien bis zu ihrem Verbot 1934 satte absolute Mehrheiten.8 Wegen des hohen jüdischen Bevölkerungsanteils geriet Wien für Antisemiten in einen doppelt negativen Ruf, jenen des „Roten Wien“ und des „Verjudeten Wien“. Während sich der „moderne“ Antisemitismus ursprünglich anfangs vor allem gegen die „Juden“ als „Propheten“ des Kapitalismus9 wandte, gewann nach dem Niedergang des Liberalismus und dem Erstarken der Sozialdemokratie auch in Österreich der Topos der „Juden“ als „Umstürzler“ und „Bolschewisten“ die Oberhand. Die als Kriegsfolge einherziehende Radikalisierung der Politik benötigte genau diese Argumentation, denn die Antisemiten unterstellten damit ihrem vermeintlichen jüdischen Konterpart die Bereitschaft zu revolutionärer Gewalt. Daß Juden unter den Revolutionären der Räterepubliken in Ungarn prominent vertreten waren und nach dem Scheitern der Revolution vorübergehend in Wien Zuflucht fanden, kam den Antisemiten dabei entgegen. Für die jüdische Bevölkerung Österreichs konnte der Zusammenbruch des Vielvölkerstaates angesichts der Stärke antisemitischer Parteien nicht erstrebenswert sein. Die Hoffnung darauf, daß der Staat den Einsatz jüdischer Soldaten als Ausdruck der patriotischen Gesinnung und Loyalität honorieren 6 7 8 9
Eine fragwürdige Publikation der österreichischen Sozialdemokratie ist: Christoph Hinteregger, Der Judenschwindel, Wien 1923. Vgl. Bruce F. Pauley, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993, S. 208ff.; Arbeiterzeitung, 30.4.1920. Vgl. Maren Seliger/Karl Ucakar, Wahlrecht und Wahlverhalten in Wien 1848-1932, Wien/München 1984. Dieses Bild blieb dennoch weiterhin bestehen, vgl. etwa den Beitrag des im Austrofaschismus als Wiener Bürgermeister amtierenden Richard Schmitz über den „Praktischen Antisemitismus“, in: Archiv für Präsides. Monatsschrift für katholisch-soziale Vereinsarbeit 1919, S. 140ff.
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würde, zerbrach mit der Niederlage und dem Zerfall der Habsburgermonarchie.10 Auch aus lebenspraktischen Gründen war für sie der Zusammenbruch ein Nachteil, denn die Mehrheit stammte noch aus Provinzen der Monarchie, die außerhalb der Ersten Republik lagen. Auf Grund der Staatsgründungen in den ehemaligen habsburgischen Kronländern verlor die jüdische Bevölkerung Österreichs das Potential einer weiteren unbeschränkten Zuwanderung, weswegen sie in eine demographische Krise geriet.11 Eine weitere Verlagerung der Gewichtung des österreichischen Antisemitismus ergab sich dadurch, daß die radikalen Deutschnationalen rund um Georg Ritter von Schönerer während der Habsburgermonarchie gegen das Staatssystem der Habsburgermonarchie und des hegemonialen Katholizismus agierten. Mit der damals nur wenige Anhänger anziehenden Aggressivität ihres Auftretens stellten sich Schönerer und seine Anhänger zusätzlich ins politische Abseits. Doch in der Ersten Republik wurden sie angesichts der labilen nationalen Österreich-Identität, der Zustimmung zum Anschluß an Deutschland nahezu systemkonform. Auch mit der Nähe zu politischkrimineller Gewalt standen radikale Deutschnationale nun nicht mehr alleine, sondern wurden Teil der militarisierten politischen Kultur des Landes.
Exponierung War der Antisemitismus unter den konservativen Christlichsozialen und Deutschnationalen schon vor 1914 ausgeprägt, gehörte er doch zu einem Konglomerat nationalistischer Argumentation, das sich im Zuge des sogenannten Nationalitätenstreits auch gegen andere nicht-deutsche Bevölkerungsgruppen des Vielvölkerstaates gerichtet hatte, vor allem gegen die ungarische und tschechische. Die Erste Republik war jedoch in ihrer Konstellation ein mono-nationaler Staat mit nur geringen Anteilen von Minderheiten, nämlich tschechischer und slowakischer Bevölkerung in Wien, ungarischer und kroatischer bzw. der Roma im neu an Österreich angegliederten Burgenland und slowenischer in Kärnten. Diese Gruppen waren politisch wenig relevant, d. h. die jüdische Bevölkerung blieb als einziges direktes inneres Angriffsziel für die nationalistischen Parteien übrig. Dabei waren die vor 1918 den Wiener Gemeinderat majorisierenden Christlichsozialen bis dahin äußerst aggressiv gegen die Minderheit der Wiener Tschechen vorgegangen, etwa durch die Verhinderung neuer tschechischer Schulen. Für die tschechische Minderheit änderte sich die Situation durch die Gründung der Tschechoslowakischen Republik grundlegend, da ihre Minder10
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Vgl. Marsha L. Rozenblit, Jewish Ethnicity in a New Nation-State. The Crisis of Identity in the Austrian Republic, in: Michael Brenner/Derek J. Penslar (Hg.), In Search of Jewish Community. Jewish Identities in Germany and Austria, 1918-1933, Bloomington 1998, S. 138f. Vgl. Leo Goldhammer, Die Juden Wiens. Eine statistische Studie, Wien/Leipzig 1927.
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heitenrechte nun zu einem bilateralen Vertragsgegenstand wurden, und sich Österreich schon auf Grund ökonomischer Interessen um gute Beziehungen bemühen mußte.12 Die Wiener Tschechen hatten somit die Rückendeckung einer Schutzmacht. Die neue Konstellation wirkte sich auch auf das politische Leben der Minderheit aus, denn als sich die tschechischen Sozialdemokraten 1923 der österreichischen Partei anschlossen, erhielten die Wiener Tschechen bei den Wiener Gemeinderatswahlen zwei zugesicherte Mandate. Mit dem Wegfall der übrigen Hauptangriffsziele – Tschechen und Ungarn – fokussierte sich mit Beginn der Ersten Republik die nationalistische Energie der Antisemiten – so meine These – umso stärker auf die jüdische Bevölkerung. Es ist kein Zufall, daß in der Konjunkturkurve des österreichischen Antisemitismus die Nachkriegsjahre als erster Höhepunkt gelten, gefolgt von einem kurzen Aufschwung Mitte der 1920er Jahre und einem bis zum Austrofaschismus (1934-1938) andauernden Hoch ab Ende der 1920er Jahre.13 Der Antisemitismus behielt in der Anfangsphase noch seinen parteienübergreifenden Schulterschluß zwischen Christlichsozialen und Deutschnationalen. Dieser fand einen institutionellen Ausdruck im Antisemitenbund, der sich als Dachverband für Antisemiten aller politischen Couleurs verstand. Ihm gelang es, für März 1921 eine Aufsehen erregende international beschickte Tagung nach Wien einzuberufen.14 Der Antisemitenbund wurde vom christlichsozialen Parlamentsabgeordneten Anton Jerzabek geleitet, der in seiner Rede den Verbalradikalismus ausreizte, die „arischen Körperschaften“ begrüßte, von der „Hydra des Verrats“ und von „asiatischen Fremdlingen“ sprach, die „Schritt für Schritt zu einer Herrschaft über unsere Volksgenossen“ gelangt seien.15 Wie sehr der Antisemitismus die österreichische Bevölkerung durchdrungen hatte, zeigt sich daran, daß an dieser Tagung 62 österreichische Organisationen teilnahmen, denen – wenn auch vermutlich mit Mehrfachzugehörigkeiten – insgesamt ungefähr 400.000 Personen angehört haben sollen. 12
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Vgl. Karl M. Brousek, Wien und seine Tschechen. Integration und Assimilation einer Minderheit im 20. Jahrhundert, München 1980; Monika Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900, München/Wien 1972; Albert Lichtblau, Zwischen den Mühlsteinen. Der Einfluß der Politik auf die Dimension von Minderheiten am Beispiel der Tschechen und Juden im Wien des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Michael John/Oto Luthar (Hg.), Un-Verständnis der Kulturen. Multikulturalismus in Mitteleuropa in historischer Perspektive, Klagenfurt/Ljubljana/Wien 1997, S. 87-113. Als Langzeitperspektive vgl. Pauley, Antisemitismus; ferner: Thomas Albrich, Vom Vorurteil zum Pogrom: Antisemitismus von Schönerer bis Hitler, in: Rolf Steininger/Michael Gehler (Hg.), Österreich im 20. Jahrhundert, Bd. 1, Wien/Köln/Weimar 1997, S. 309-366; Herbert Rütgen, Antisemitismus in allen Lagern. Publizistische Dokumente zur Ersten Republik Österreich 1918-1938, Graz 1989 (unveröff. Dissertation); Sylvia Steinbauer, Antisemitismus in der Ersten Republik Österreich. Ein Phänomen mit vielen Gesichtern, betrachtet im Spiegel zeitgenössischer Quellen unter besonderer Berücksichtigung der Karikatur in der periodischen Publizistik, Wien 1996 (unveröff. Dissertation). Vgl. österreichische Tageszeitungen vom 12. bis zum 14.3.1921. Vgl. Deutsches Volksblatt, 12.3.1921.
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Die konservativen Christlichsozialen liebäugelten zu Beginn der Ersten Republik ganz offen mit der Radikalität ihrer Koalitionspartner und der neu in Erscheinung tretenden Nationalsozialisten. Die christlichsoziale Reichspost kommentierte die Übergriffe der „Hakenkreuzler“ gegen die jüdische Bevölkerung bei Demonstrationen immer wieder mit bewunderndem Wohlwollen. Der Antisemitenbund und damit der österreichische Weg des parteienübergreifenden Antisemitismus geriet erst in die Krise, als der radikale, einen intentionalen Antisemitismus vertretende Flügel – die Nationalsozialisten – 1924 ausscherte und den Verbalantisemiten wegen ihres inkonsequenten Verhaltens den Kampf ansagte. 16 Wie in anderen Ländern hatte der Erste Weltkrieg fatale Folgen, die besonders das Leben von Minderheiten betrafen. Die Austragung von Politik mit kriegerischer Gewalt hatte die politischen Ausdrucksformen auf ein gewaltbereites Niveau gehoben. In Österreich spiegelt sich dies in der Bewaffnung politischer Gruppierungen, die sich vordergründig defensiv als „Wehrverbände“ (Heimwehr, Republikanischer Schutzbund etc.) verstanden.17 Die paranoiden Bedrohungsszenarien legitimierten die Militarisierung der Politik, die schließlich in bürgerkriegsähnlichen Zuständen, politisch motivierter krimineller Gewalt, Zusammenstößen und 1934 in den Bürgerkrieg zwischen der Sozialdemokratie und der christlichsozial geführten Regierung mündeten.18 Der kriminelle Antisemitismus war für Österreich ein in dieser Intensität neues und erschreckendes Phänomen. Er gipfelte in zwei Morden: Das erste Mordopfer war der bekannte Journalist und Schriftsteller Hugo Bettauer, der am 10. März 1925 von dem Nationalsozialisten Otto Rothstock umgebracht wurde. Bettauer ist für seinen utopischen Roman „Die Stadt ohne Juden“ bekannt, in dem er die Provinzialisierung Wiens durch die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung voraussah.19 Das zweite Opfer war ein 1933 ermordeter Juwelier. Der kriminelle Antisemitismus und das Ausscheren der Nationalsozialisten aus dem Antisemitenbund zwangen jene, die den Antisemitismus vor allem als probates Mittel der demagogischen Agitation sahen, sich neu zu positionieren. Damit verlor der Antisemitismus seine überparteiliche Bindegliedfunktion, und je stärker die Konkurrenz der Nationalsozialisten zu Beginn der 1930er Jahre wurde, umso klarer distanzierten sich die Christlichsozialen und der ihnen nahe stehende katholische Klerus von der rein rassistischen Version des
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Vgl. Pauley, Antisemitismus, S. 124; Günter Fellner, Antisemitismus in Salzburg 1918-1938, Wien/Salzburg 1979, S. 128ff. Earl Edmondson, Heimwehren und andere Wehrverbände, in; Emmerich Tálos/Herbert Dachs/Ernst Hanisch u.a. (Hg.), Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918-1933, Wien 1995, S. 261-276. Gerhard Botz, Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche, Unruhen in Österreich 1918 bis 1938, 2. Aufl., München 1983. Murray G. Hall, Der Fall Bettauer, Wien 1978.
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Antisemitismus.20 Anfang der 1930er Jahre erzielten die Nationalsozialisten auch in Österreich die ersten Wahlerfolge. Bei der Gemeinderatswahl 1932 in Wien erhielten sie 201.411 Stimmen, das waren siebenmal so viele wie bei der Nationalratswahl 1930. Der Antisemitismus übernahm abermals eine integrative Funktion für die heterogene Anhängerschaft der enorm rasch an Zuwachs gewinnenden Nationalsozialistischen Partei.21 Antisemitismus war aber nicht das einzige Element, das Anziehungskraft auf die nationalsozialistische Wählerschaft ausübte, immerhin waren auch die Kernbereiche Nationalismus und Sozialismus das rechte und linke Parteienspektrum vordergründig übergreifende Ideologieangebote. Den Antisemitismus betreffend war der Wechsel zu dieser radikalen Partei anscheinend für viele möglich, da es in Österreich an verbaler Radikalität in den antisemitischen Diskursen nie gemangelt hatte.
Betätigungsfelder der Antisemiten Die neue Ausdrucksform von Antisemiten der Ersten Republik bestand darin, Gewalt anzudrohen und auszuüben. So wurden nach antisemitischen Versammlungen und Demonstrationen immer wieder Cafés, Restaurants oder Straßenbahnen mit der Aufforderung „Juden raus“ überfallen. Noch waren die Aktionen wenig zielgerichtet, denn auch nichtjüdische Personen, die „jüdisch wirkten“, wurden bedroht und attackiert.22 Den Nationalsozialisten waren die Universitäten ein Übungsfeld für spätere Übergriffe. Sie begannen schon 1923, durch Attacken auf jüdische Studierende an der Technischen Universität Wien, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es handelte sich nun nicht mehr um Radauantisemitismus, sondern um einen kriminellen Antisemitismus, ähnlich wie in Deutschland.23 Politisch zielten die Aktionen auf 20
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Vgl. Pauley, Antisemitismus bzw. Peter Malina, Die ,,Reichspost“. Deutschnationalsozialistischer Antisemitismus und österreichisch-christliche Judenfeindschaft 1933/1934, in: Das jüdische Echo. Zeitschrift für Kultur und Politik 46, 1997, S. 125-129. Eine der bekanntesten Distanzierungen vom rassistischen Antisemitismus der Nationalsozialisten unter Beibehaltung der antisemitischen Grundhaltung stammt vom Linzer Bischof Johannes Maria Gföllner in seinem Hirtenbrief vom 23. Januar 1933. Er wandte sich gegen die Vergötterung der „arischen“ Rasse, aber auch gegen den vermeintlichen internationalen jüdischen Weltgeist etc., vgl. Michael John/Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, 2. Aufl., Wien/Köln 1993, S. 305ff. Vgl. auch Erika Weinzierl, Religiöser Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit, in: Das jüdische Echo. Zeitschrift für Kultur und Politik 46, 1997, S. 109-114; Walter Hannot, Die Judenfrage in der katholischen Tagespresse Deutschlands und Österreichs 1923-1933, Mainz 1990, S. 184ff. Pauley, Antisemitismus, S. 239. Vgl. z.B. das Kapitel „Varieties of Fascism in Austria”, in: Stein Ugelvik Larsen/Bernt Hagtvet/Jan Petter Myklebust (Hg.), Who Were the Fascists? Social Roots of European Fascism, Bergen/Oslo/Tromsø 1980, S. 192ff. Vgl. z. B. Pauley, Antisemitismus, S. 243, 245. Dirk Walter, Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik, Bonn 1999.
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Einschüchterung, Ausgrenzung und Separation ab. Auch in der Ersten Republik forderten die antisemitischen Studenten immer wieder die Einführung eines numerus clausus für jüdische Studierende und sahen sich hierbei von Teilen der Professorenschaft bestärkt. Die Wiener Rektorenkonferenz wollte 1930 die Studierenden in vier Nationen unterteilen, eine deutsche, nichtdeutsche, gemischte und eine sogenannte „andere“. Jüdische Studierende wären dieser Vorstellung entsprechend zur nichtdeutschen Nation gezählt worden, auch wenn sie die österreichische Staatsbürgerschaft besessen hätten. Dies ist eines von vielen Beispielen für die Gesellschaftsfähigkeit eines „praktischen“ Antisemitismus innerhalb der Eliten. Der österreichische Verfassungsgerichtshof wies diese Verordnung jedoch 1931 zurück, worauf es zu den schwersten Ausschreitungen auf akademischem Boden kam. Rabiate deutschnationale Studenten attackierten jüdische bzw. sozialdemokratische Studentinnen und Studenten mit Gummiknüppeln und Schlagstöcken, 15 Personen wurden schwer verletzt.24 Die Abschwächung der antisemitischen Energie Mitte der 1920er Jahre wird auf die kurze Phase wirtschaftlicher Konsolidierung zurückgeführt, wobei die organisatorische Krise der Rechtsextremen vermutlich eine wichtigere Rolle spielte. Trotzdem war das Mobilisierungspotential der gewaltbereiten Antisemiten während dieser Phase ungebrochen, wie sich bei den Ausschreitungen rund um den im August 1925 in Wien abgehaltenen XIV. Zionistischen Weltkongreß zeigt. Nach dem zuvor beschriebenen Muster kam es nach antisemitischen Versammlungen gegen den Kongreß, die einige Tage vor dessen Eröffnung stattfanden, zu Übergriffen. Daraufhin wurde eine für den 17. August 1925 geplante Demonstration polizeilich verboten. Bei einer illegal abgehaltenen Versammlung, an der rund 6.000 Personen teilnahmen, attackierten die Demonstranten Polizisten und Personen, die sie für jüdisch hielten. Eine Gruppe von 1.000 Antisemiten wollte in das jüdische Viertel Wiens, in den Bezirk Leopoldstadt ziehen, wurde jedoch von der Polizei daran gehindert.25 In dieser Nacht wurden 132 Personen verhaftet, die meisten jedoch bald darauf wieder freigelassen, 40 Personen, darunter 21 Polizisten, wurden verletzt.26 Mit der Konsolidierung der Nationalsozialisten und dem aus Deutschland kommenden Aufschwung nahm der Antisemitismus ab dem Ende der 1920er Jahre nochmals einen beängstigenden Aufschwung. Die Nationalsozialisten griffen nun zu Mitteln des politischen Terrors.27 Das kriminelle Gewaltpotential richtete sich auch gegen die jüdische Bevölkerung, die sich zur Wehr zu setzen begann. Ein Beispiel: Im Oktober 1932 überfielen National24 25 26
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Vgl. Pauley, Antisemitismus, S. 171ff., auch S. 132ff. Der jüdische Bevölkerungsanteil lag 1934 in diesem Bezirk bei 34%. Pauley, Antisemitismus, S.154ff. Wie niedrig das Sprachniveau und wie hoch das verbale Aggressionspotential war, zeigt die Überschrift „50.000 Saujuden noch mehr nach Wien“. Vgl. Deutsche Arbeiterpresse vom 18.9.1925. Vgl. Botz, Gewalt.
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sozialisten in Wien das Café Sperl in der Großen Sperlgasse. Es war zu diesem Zeitpunkt als jüdisches Bethaus für die Neujahrsgottesdienste angemietet worden. Die Militarisierung der Politik hatte sich inzwischen auch in der Jüdischen Gemeinde durchgesetzt. Der Bund jüdischer Frontsoldaten und die Haganah28 fungierten in diesen Tagen als jüdische Selbstschutzorganisationen, die darauf achteten, daß während der hohen jüdischen Feiertage gewaltbereite Antisemiten von den Synagogen und Bethäusern ferngehalten wurden. Ungefähr 40 Nationalsozialisten zertrümmerten die Fenster des Cafés und schlugen wahllos auf Frauen und Männer ein. Charakteristisch für ihre Desorientierung bei der Wahl der Opfer ist es, daß der Schlägertrupp zuvor dem Besitzer eines dem Café gegenüberliegenden Weinhauses auf den „Schädel hieben“, weil sie ihn für einen Juden hielten. Wie so oft bei derartigen Gewaltaktionen war dies ein Irrtum, es handelte sich laut Zeitungsberichten um einen Italiener. Nicht die Polizei, sondern Mitglieder des Bundes jüdischer Frontsoldaten und „beherzte Mitglieder des Sportklubs Hakoah“ stellten sich dem Schlägertrupp entgegen.29
Bedrohter Schutzkonsens Der für Minderheiten wichtige Schutzkonsens der Gesellschaft verlor nach 1918 für die jüdische Bevölkerung immer mehr an Tragkraft. Abgesehen von einer kurzen Anfangsphase wurde Österreich von Parteien mit antisemitischer Programmatik regiert – seien es die Christlichsozialen, die Großdeutsche Partei oder der Landbund. Damit geriet die jüdische Bevölkerung in eine paradoxe Situation: Die seit 1867 geltende Gleichberechtigung mußte von Parteien gewährleistet werden, die in ihren Programmen und Medien das Gegenteil forderten. Der Wählerschaft wurde damit signalisiert, es sei legitim gegen Juden und Jüdinnen vorzugehen, doch irgendetwas schien die Politiker daran zu hindern. Als die Nationalsozialisten im März 1938 putschartig und ohne Widerstand an die Macht gelangten und Österreich an Deutschland angeschlossen wurde, nahm die jahrzehntelang vom Antisemitismus indoktrinierte österreichische Bevölkerung die Sache in den ersten Tagen „selbst in die Hand“ und sah sich dazu berechtigt, Juden und Jüdinnen zu demütigen, zu berauben und sie aus den Wohnungen zu werfen. Da kaum jemand den Bedrohten half, trug die österreichische Bevölkerung aktiv zur Verschärfung der antijüdischen Politik des NS-Regimes bei. Sie offenbarte den neuen Machthabern die hohe Zustimmung zu antijüdischen Handlungen, das hohe Potential an Mitläufern, das Ausbleiben solidarischer Aktivitäten und das 28
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Die haganah schützte Versammlungen jüdischer Vereine oder Andachten in Bethäusern und Synagogen vor Angriffen der Nationalsozialisten. Vgl. z. B. den Bericht von Benno Weiser Baron, in: Adi Wimmer (Hg.), Die Heimat wurde ihnen fremd, die Fremde nicht zur Heimat. Erinnerungen österreichischer Juden aus dem Exil, Wien 1993, S. 39ff. Die Stimme, 6.10.1932, S. 1.
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stillschweigende Zusehen jener, die damit nicht einverstanden waren, aber es durch ihr Nichthandeln billigten. Deswegen wähle ich den Begriff „fragiles Korsett“ zur Charakterisierung der Situation der jüdischen Bevölkerung vor dem Nationalsozialismus in Österreich. Korsett meint, daß es am Ende für die jüdische Bevölkerung keine Alternative mehr gab, als den Schutz bei den vergleichsweise moderaten Antisemiten zu suchen. Der Austrofaschismus wurde von den nicht verbotenen jüdischen Organisationen weitgehend als Schutz vor dem drohenden Nationalsozialismus und als Garantie für das Weiterbestehen Österreichs begrüßt. Daß die ständische Maiverfassung mit den Worten „Im Namen Gottes, des Allmächtigen, von dem alles Recht ausgeht“ begann, wurde in dieser Situation mit Erleichterung registriert, denn die Alternative faschistischen Selbstverständnisses wäre eigentlich das Führerprinzip gewesen. Besonders die Orthodoxie erhoffte sich von einem religiösen Staat eine Unterstützung ihrer Positionen.30 Daß die zionistischen Funktionäre der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde die ihnen auferlegten Funktionen im Austrofaschismus 1934 bis 1938 übernahmen, war weniger auf die Begeisterung für das autoritäre Staatsmodell zurückzuführen, sondern eher auf reinen Pragmatismus.31 Fragil meint, daß der Schutzkonsens angesichts der Attraktivität autoritärer politischer Lösungen gefährdet war, da jede politische Krise, die in Gewalt mündete, die Gefahr in sich barg, daß sich diese gegen die jüdische Bevölkerung richten würde. Daß dies im Bürgerkrieg 1934 nicht geschah, wäre nochmals genauer zu analysieren.32 Noch etwas kam hinzu: Mit dem Wegfall des Kaiserhauses fiel der Monarch als „Schutzherr“ der jüdischen Bevölkerung weg, eine Rolle, die der konservative Franz Joseph I. – darin unterschied er sich von den Hohenzollern – immer wieder eingenommen hatte, selbst als es bereits die Gleichberechtigung gab. Daß er die Anerkennung des populären Antisemiten Karl Lueger als Wiener Bürgermeister zunächst verweigerte und ihn erst nach Rücksprache und mehrmaliger Wahl akzeptierte, wurde dem Kaiser seitens der jüdischen Bevölkerung hoch angerechnet. Wenn Franz Joseph I. eher einer obsoleten monarchischen Schutzherrschaftsidee des Herrschaftshauses folgte, gab es dennoch dafür keinen Ersatz im republikanischen Modell, da sich keine adäquate politische Autorität fand, die sich derart offensiv für den Schutz der jüdischen Bevölkerung eingesetzt hätte.
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Sylvia Maderegger, Die Juden im österreichischen Ständestaat 1934–1938, Wien/Salzburg 1973, S. 86ff. Ebd., S. 95ff. Ebd., S. 84ff.
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Die Krise der Identitäten Ähnlich der Weimarer Republik befand sich die Erste Republik in einer Dauerkrise. Im Unterschied zu Deutschland gesellte sich eine anders gelagerte Krise der nationalen Identität hinzu, da es für eine „österreichische Nationalität“ an einer positiven Grundlage fehlte. Parteienübergreifend wurde an einem Überleben des Reststaates der Habsburgermonarchie gezweifelt und der Anschluß an Deutschland erschien von Beginn an als eine attraktive Option. Der Versuch, eine restaurative christlich-österreichische Ideologie zu etablieren, wie sie die neu begründeten Festspiele rund um Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal anboten, blieb zunächst ein intellektuelles Experiment ohne Breitenwirkung.33 Der Symbolhaushalt Österreichs schwächelte zutiefst, und es fehlte an einem positiven, sich von einer Orientierung am „Deutschen“ abgrenzenden österreichischen, Minderheiten inkludierenden Patriotismus. Die zuvor erwähnte Maiverfassung von 1934 kreierte im Namen Gottes einen „christlichen deutschen Bundesstaat“. Marsha L. Rozenblit stellte in ihren Arbeiten für die österreichische jüdische Bevölkerung der Habsburgermonarchie die These der dreifachen Identitätszuschreibung auf: Sie konnten sich in ihrer Loyalität als Österreicher verstehen, sich kulturell an einem der Völker der Habsburgermonarchie orientieren und sich „ethnisch“ als jüdisch fühlen.34 Die Definition der jüdischen Bevölkerung als nicht-nationale, sondern religiöse, die sich – unabhängig von der unterschiedlichen religiösen jüdischen Orientierung – lokal in jeweils einer Israelitischen Kultusgemeinde zusammenschließen mußte, wurde auch in der Ersten Republik und im Austrofaschismus fortgeführt. Bemühungen der Zionisten um Anerkennung als nationale Gruppe – in der Terminologie der Habsburgermonarchie „Volksstamm“ genannt – blieben während der Monarchie und am Beginn der Ersten Republik, als die Zionisten sich nochmals intensiv darum bemühten, ohne Erfolg. 35 Die Antisemiten erklärten fadenscheinig die Unterstützung der zionistischen Forderung nach Anerkennung der jüdischen Bevölkerung als eigene Nation. Es ging es ihnen dabei aber nicht um Minderheitenrechte, sondern um die Möglichkeit der Ausgrenzung. Im Programm der Wiener Christlichsozialen Partei vom Dezember 1918 heißt es beispielsweise: „Als eigene Nation anerkannt, sollen die Juden ihre Selbstbestimmung haben; die Herren des deutschen Volkes dürfen sie nicht sein.“36 Ähnlich forderte das Salzburger Programm der Großdeutschen Volkspartei von 1920: „Wir verlangen die 33 34 35 36
Michael P. Steinberg, Ursprung und Ideologie der Salzburger Festspiele 1890-1938, Salzburg/München 2000. Rozenblit, Ethnicity, S. 136. Gerald Stourzh, Galten die Juden als Nationalität Altösterreichs?, in: Studia Judaica Austriaca, Bd. 10, Eisenstadt 1984, S. 73-117. Zit. in Klaus Berchtold (Hg.), Österreichische Parteiprogramme 1868-1966, Wien 1967, S. 357.
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Behandlung der Juden als eigene Nation mit allen sich daraus ergebenden Folgerungen, eine Forderung, die ja auch von einem Teil der Judenschaft selbst vertreten wird.“37 Das von den Großdeutschen vertretene, ausführliche antisemitische Programm verstand darunter aber ein Erstarken der deutschen Nation, um die „Herrschaft des Judentums“ zu beenden. Der sogenannte Landbund sprach in seinen politischen Leitsätzen von 1923 nicht mehr von Nation, sondern von der „jüdischen Rasse“ als „volkszersetzendem Element“, das mit Hilfe des international organisierten Proletariats die „Weltherrschaft“ erlangen wolle.38 Da diese rechten Regierungsparteien die jüdische Bevölkerung klar im Gegensatz zur deutsch-österreichischen festschrieben und sie als bedrohliche Fremde sehen wollten, mußte das Identitätendreieck – wenn das Modell von Marsha L. Rozenblit übernommen wird – mit Gründung der Ersten Republik in eine tiefe Krise geraten. Das nationale Selbstverständnis der Vertreter des neuen Staates war ein negatives, am ehesten orientiert am Kernbegriff „Deutsch“ und damit verschlossen für alles vermeintlich NichtDeutsche. Bei den Christlichsozialen kam noch der exkludierende Begriff „christlich“ hinzu. Im Parteiprogramm der Wiener Christlichsozialen paarten sich die beiden Begriffe mit der Judenfeindschaft, denn es hieß, die Partei strebe den Interessenausgleich der „verschiedenen Bevölkerungsschichten auf christlicher, deutscher und antisemitischer Grundlage an.“39 Es sei jedoch davor gewarnt, die Krise der Identitäten nur mit publizierten Positionen abzustecken. Auf die jüdische Bevölkerung prasselte eine Dauerattacke von absurden Angriffen ein, und dies mußte Einzelne im Lebensverlauf immer wieder verunsichern. Die Begriffe Nation, Volk, Rasse, Antisemitismus, Heimat, Vaterland und Gemeinschaft begleiteten die Menschen. Und ihre Bedeutung veränderte sich mit der jeweiligen politischen Konstellation und unter dem Einfluß aktueller Ereignisse. Insofern kann von einer Dauerkrise der sich auf Grund der äußeren Ereignisse immer wieder neu ordnenden jüdischen Identitätsfindung jener Zeit ausgegangen werden. Am stabilsten scheint der kleine Prozentsatz orthodox Orientierter, die sich wegen der von religiösen Vorschriften her begründeten Absentierung erst gar nicht um Integration in eine wie auch immer geartete österreichisch-nichtjüdische Lebensweise bemühten, sondern, im Gegenteil, ihre Eigenständigkeit bewußt lebten.40
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Ebd., S. 481. Ebd., S. 483. Ebd., S. 364. Für die jüdische Orthodoxie des Burgenlandes gilt dies jedoch nur begrenzt, da ihre Angehörigen schon auf Grund der wirtschaftlichen Beziehungen traditionell intensive Kontakte zur christlichen Bevölkerung pflegten. Vgl. Alfred Lang/Barbara Tobler/Gert Tschögl (Hg.), Vertrieben. Erinnerungen burgenländischer Juden und Jüdinnen, Wien 2004.
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Sonderfall Sozialdemokratie Obwohl sich die Sozialdemokratie jüdischen Mitgliedern nicht verschloß bzw. etliche ihrer führenden Funktionäre – Otto Bauer, Friedrich Adler und Friedrich Austerlitz – jüdischer Herkunft waren, kann die Partei nicht als antiantisemitisch orientiert bezeichnet werden. Daß sie den Antisemiten wegen der Politik und ihrer Offenheit für Funktionäre jüdischer Herkunft als „Judenschutztruppe“ galt, kann davon nicht ablenken. Wie bereits erwähnt, griff die Sozialdemokratie die feindliche Stimmung gegen die „ostjüdischen“41 Kriegsflüchtlinge auf. Außerdem versuchte sie nachzuweisen, daß die korrumpierbaren christlichsozialen Antisemiten mit den „Ostjuden ihre Geschäfte“ machen würden.42 In dieser verqueren Form wurde von „verjudetem Antisemitismus“43 geschrieben und behauptet, die Sozialdemokratie würde effizienter gegen die reichen (Ost-)Juden agieren, als dies die christlichsoziale Partei von sich behauptete. Dennoch war die Sozialdemokratie in der Ersten Republik für die jüdische Wählerschaft die einzig wählbare Option, die nach dem Scheitern jüdischer Parteien Chancen auf Mandate hatte. Es wird vermutet, daß ca. 75% der jüdischen Wählerinnen und Wähler für die Sozialdemokratie stimmten. Eigentlich wäre es das Stimmenpotential einer mehr als 200.000 Personen umfassenden Minderheit Wert gewesen, umworben zu werden. Aber die Sozialdemokratie konnte sich in Wien mangels Alternativen darauf verlassen, die Stimmen zu bekommen, auch wenn sie sich nach außen hin nicht als judenfreundliche Partei gab.44
Die Auswirkungen des Antisemitismus auf die jüdische Bevölkerung Wie sehr die jüdische Bevölkerung politisch in die Isolation geraten war, kann an den Ergebnissen der Wahlen zur Israelitischen Kultusgemeinde Wien beobachtet werden. Während im Österreich der Ersten Republik keine relevante liberale Partei mehr vorhanden war, stimmten die jüdischen Wähler bei den 41
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Ich setze hier den Begriff in Anführungszeichen, da er als polemischer zur Diskreditierung der gesamten Gruppe verwendet wurde. Säkular orientierte Juden und Jüdinnen aus Czernowitz hätten es sich verbeten, abfällig als „Ostjuden“ bezeichnet zu werden. Der „Osten“ war somit zu einem Kampfbegriff geworden, der mit abwertenden Argumentationsmustern Minderwertigkeit konnotieren sollte. Vgl. auch Hödl, Wiener Juden, S. 123ff.; Michaela Raggam, Zwischen Ost und West. Weiblich jüdische Identitätskonstruktionen in autobiographischen Erinnerungen jüdischer Frauen. Wien am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts (unveröff. Dissertation), Graz/Wien 2005, S. 90ff., 248ff. Vgl. Hinteregger, Judenschwindel, S. 79. Z. B. in Arbeiterzeitung vom 22.7.1923. Vgl. z. B. Robert S. Wistrich, Sozialdemokratie, Antisemitismus und die Wiener Juden, in: Gerhard Botz/Ivar Oxaal/Michael Pollak (Hg.), Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Buchloe 1990, S. 169-180; Steinbauer, Antisemitismus in der Ersten Republik.
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Kultusgemeindewahlen bis in die 1930er Jahre mehrheitlich für die liberale Liste der „Union österreichischer Juden“. Diese war 1885 als Reaktion auf den „modernen Antisemitismus“ gegründet worden und anfangs durchaus innovativ, da sie sich dem Antisemitismus offensiv entgegenstellte.45 Der zweiten starken Gruppe, den Zionisten, galten die Liberalen schlichtweg als Assimilanten. Die Union entwickelte in der Ersten Republik tatsächlich einen befremdlichen Patriotismus und hielt bis zuletzt an der Loyalität zum Staat fest. Anscheinend hofften viele, dadurch die Existenzberechtigung der Minderheit als Teil des österreichischen Ganzen festigen zu können. Noch kurz vor dem „Anschluß“ (Einmarsch deutscher Truppen und nationalsozialistische Machtübernahme im März 1938), im Februar 1938, wurde in der Zeitung der „Union österreichischer Juden“ behauptet, sich „zum jüdischen Nationalismus bekennen, heißt, vor dem Hakenkreuz kapitulieren!“ Und: „Wer vaterlandslos ist, muß nach Palästina.“46 Das Ringen um Integration in die österreichische Gesellschaft, zeigte sich bei der „Union österreichischer Juden“ deutlich in einer 1937 herausgegebenen Festschrift, in der es heißt, sie seien „nicht österreichische Juden, sondern jüdische Österreicher“.47 Angesichts des drohenden Nationalsozialismus und der fortdauernden Schwäche des österreichischen Nationsbegriffs auch im Austrofaschismus wirkt das Festklammern der patriotisch gesinnten Liberalen wie ein Ignorieren der Realität. Anders als die Liberalen waren die Zionisten wie auch die sozialdemokratischen und orthodoxen Listen mehrfach gespalten. Ihnen gelang es nach dem Erfolg bei den Wahlen Ende 1932, die Leitung der Wiener Kultusgemeinde zu übernehmen. Dies wird auch als eine Reaktion auf den Erfolg der Nationalsozialisten sowohl in Österreich als auch Deutschland interpretiert, hat aber auch mit der geringer gewordenen Attraktivität liberaler Politik zu tun. Während die Sozialdemokratische Partei bei den Parlaments- und Kommunalwahlen mit der überwiegenden Mehrheit der jüdischen Wählerstimmen rechnen konnte, erlangten sozialdemokratische Listen bei den Wahlen zur Wiener Kultusgemeinde maximal 15%.48 Der Erfolg der Zionisten könnte aber auch anders interpretiert werden, nämlich als die hohe Akzeptanz nationalistischer politischer Haltungen innerhalb der jüdischen Bevölkerung. Dennoch wäre dies ein vorschneller Schluß, da, anders als bei der nichtjüdischen rechts orientierten Bevölkerung, nur eine Minderheit autoritärfaschistischen Idealen nachhing. Angesichts der geringen Zahl unterschied sich die Lage der jüdischen Bevölkerung in den Provinzen fundamental von jener in Wien. Für die Provinz45 46 47
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Vgl. dazu Pauley, Antisemitismus, S. 88ff. Die Wahrheit vom 18.2.1938, S. 5. Vgl. auch Maderegger, Ständestaat, S. 7. Festschrift zur Feier des 50-jährigen Bestandes der Union österreichischer Juden, Wien 1937, S. 61; Jacob Toury, Troubled Beginnings. The Emergence of the Österreichisch-Israelitische Union, in: Leo Baeck Institute Yearbook 30, 1985, S. 457-475. Harriet Pass Freidenreich, Jewish Politics in Vienna 1918-1938, Bloomington 1991.
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Antisemiten war es ein Leichtes, Juden und Jüdinnen zu identifizieren und drangsalieren. Schon vor dem Nationalsozialismus wurden sogenannte „Judenkataster“ angelegt, bzw. der „Eiserne Besen“, die in Salzburg herausgegebene Zeitschrift des Antisemitenbundes, listete die Namen der jüdischen Geschäftsleute der Stadt auf, und in den Landgemeinden forderten Antisemiten immer wieder zum Boykott der Geschäfte auf. 49 Auch deswegen hatten nach dem „Anschluß“ die Nationalsozialisten ein leichtes Spiel, die jüdische Bevölkerung außerhalb Wiens zu identifizieren. Die Antisemiten versuchten die jüdische Bevölkerung nicht nur mit Boykottaufrufen im Wirtschaftsleben und im Bildungsbereich zu treffen, sondern sie auch in ihrem Freizeitverhalten zu diskriminieren, weswegen für die Arierparagraph-Polemik mit Vorliebe Sportvereinigungen und Sommerfrischeorte ausgewählt wurden. Zahlreiche Organisationen nahmen sogenannte „Arierparagraphen“ in ihre Statuten auf und schlossen die jüdischen Mitglieder aus. Das ging von kleinen lokalen Segelklubs bis hin zum Aufsehen erregenden Fall des Alpenvereins. Daß Hoteliers und Gaststätten in einschlägigen Zeitungen Annoncen mit „Juden unerwünscht“ oder „Nur für Arier“ aufgaben, ist ein Indiz dafür, daß der Antisemitismus inzwischen ein ökonomischer Faktor geworden war. Die jüdischen Organisationen versuchten sich gegen diese Diskriminierungen zur Wehr zu setzen, doch abgesehen von kleinen Erfolgen, führte der Kampf gegen das Apartheidsdenken zu ernüchternden Ergebnissen und zeigte, daß auf juristischer Ebene der Kampf gegen den Antisemitismus nicht zu gewinnen war, sondern nur auf politischer.50 Trotz der Erfolge der Antisemiten im zunehmenden Durchdringen der Alltagskultur, blieb das Leben in Österreich für die jüdische Bevölkerung weiterhin lebenswert. Dies hatte sicherlich mit der Konzentration der jüdischen Bevölkerung in Wien zu tun, die es Juden und Jüdinnen ermöglichte, sich innerhalb jüdischer bzw. sie tolerierender nichtjüdischer Kreise zu bewegen. Daß die Wiener Wählerschaft mehrheitlich sozialdemokratisch wählte, machte die Stadt innerhalb Österreichs für die jüdische Bevölkerung tatsächlich lebenswerter und attraktiver. Gerade deswegen bleibt die Frage im
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Im Austrofaschismus erhielten nicht-zensierte antijüdische Boykottaufrufe – etwa jener des Gewerbebundes, an dessen Spitze der Wiener Vizebürgermeister Kresse stand – gleichsam offiziellen Charakter. Vgl. Maderegger, Ständestaat, S. 167ff. Zum Antisemitismus unter österreichischen Alpinisten vgl. Rainer Amstädter, Der Alpinismus. Kultur - Organisation - Politik, Wien 1996. Albert Lichtblau, Die Chiffre Sommerfrische als Erinnerungstopos. Der retrospektiv-lebensgeschichtliche Blick, in: Sabine Hödl/Eleonore Lappin (Hg.), Erinnerung als Gegenwart. Jüdische Gedenkkulturen, Berlin/Wien 2000, S. 89-128. Die Funktionäre der Israelitischen Kultusgemeinde versuchten durch Interventionen bei Politikern die Wahrung der staatsbürgerlichen Rechte einzufordern. „ […] nicht immer aber konnte die Behörde die gesetzliche Handhabe für ein Einschreiten finden.“, heißt es über die vergebliche Intervention beispielsweise in: Bericht der Israelitischen Kultusgemeinde Wien über die Tätigkeit in der Periode 1925-1928, Wien 1928, S. 11.
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Raum stehen, warum in Wien der „Anschluß“-Pogrom von 1938 derart brutal ausgeführt wurde und auf keinen nennenswerten Widerstand stieß. War es das Ziel der Antisemiten, Barrieren zwischen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung aufzubauen, so gelang ihnen dies vor dem „Anschluß“ nur zum Teil. Die Bindung an die jüdische Religion wurde immer lockerer und die Zahl der aus der jüdischen Religion Austretenden war noch nie so hoch gewesen wie in diesem Zeitraum. Wenn auch die „Flucht aus dem Judentum“ eine vergebliche werden sollte, signalisiert sie die geringer gewordene Bindung bei den säkular orientierten Personen jüdischer Herkunft. 1918 bis 1937 verließen in Wien 17.701 Personen die jüdische Religionsgemeinschaft, aber immerhin 6.692 schlossen sich ihr (zum Teil wieder) an. Jedoch betraf die Austrittswelle auch die anderen Religionsgemeinschaften und war somit kein spezifisch jüdisches Phänomen, auch wenn das österreichische Eherecht Heiratswillige aus katholisch-jüdischen Beziehungen zu Übertritten zwang. Der auf Exklusion ausgerichtete Antisemitismus konnte zwar vereinzelt Erfolge verbuchen, aber bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme blieben sie begrenzt. Die Reaktionen der jüdischen Bevölkerung auf den Antisemitismus waren vielfältig, sie reichten von Anpassung, über den Rückzug ins Privatleben bis zu selbstbewußtem, offen jüdischem Auftreten. Am sinnvollsten schien das Vermeiden von Kontakten mit Antisemiten, deswegen waren die Schulen, Universitäten und Sommerfrischen ausgesuchte Ziele antijüdischer Agitation, da ein Ausweichen an diesen Orten schwer möglich war. Eine bemerkenswerte Umgangsform mit dem Antisemitismus offerierte beispielsweise der 1909 gegründete jüdische Allroundsportverein Hakoah, dessen Mitglieder bei Sportveranstaltungen mit einem Davidstern offen ihre jüdische Zugehörigkeit kundtaten. Hakoah war eines der erfolgreichsten Mittel gegen die Isolations- und Apartheidsbemühungen der Antisemiten. Die Fußballmannschaft des jüdischen Allroundsportklubs stellte in der Saison 1924/25 den österreichischen Fußballmeister – und damals genoß der österreichische Fußballsport noch internationales Ansehen. Aber auch in anderen Sportarten, etwa dem Schwimmen oder dem Ringen, gewannen Mitglieder von Hakoah österreichische Meisterschaften.51 Wären die Antisemiten rationalen Argumenten zugänglich gewesen, so hätte dies ein Gegenbeispiel für ihre Vorurteile über vermeintlich schwache und faule „Juden“ sein können. Doch die Vorurteile waren bei den antisemitisch infiltrierten Menschen schon zu tief eingeschrieben und in ihrer Gedankenwelt konterten sie etwa mit der Begründung: „Ja, wenn alle so wären!“ Hakoah war enorm wichtig für die heranwachsenden jüdischen Jugendlichen, der erfolgreiche Verein gab ihnen ein positives jüdisches Selbstvertrauen und entlastete sie von den inter-
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Arthur Baar, 50 Jahre Hakoah 1909-1959, Tel-Aviv 1959; John Bunzl (Hg.), Hoppauf Hakoah. Jüdischer Sport in Österreich. Von den Anfängen bis in die Gegenwart, Wien 1987.
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nalisierten Stereotypen, mit denen jüdische Jugendliche unweigerlich aufwachsen mußten.52 Als eine andere Facette der Reaktionspalette des Lebens in einer von antisemitischen Diskursen geprägten Gesellschaft könnte die Anpassung an die herkömmliche österreichische Kultur interpretiert werden, einer Kultur, von der das Land heute noch profitiert. Etliche Kulturschaffende gestalteten eine Hoch- und Unterhaltungskultur, die als zutiefst österreichisch bzw. wienerisch gilt. Gemeint sind auch die zahlreichen jüdischen Wienerlied- und Operettenkomponisten bzw. Librettisten sowie die Kabarettisten. Fritz Löhner-Beda war Zionist, erster Präsident der Hakoah und schrieb für Franz Lehár und andere Libretti und Liedtexte.53 Nach der NS-Machtübernahme gerieten die prominenten jüdischen Unterhaltungskünstler sofort ins Visier der Verfolger. Etliche von ihnen überleben die KZs nicht, unter ihnen auch Löhner-Beda, der am Tag des „Anschlusses“ verhaftet und ins KZ Dachau, später nach Buchenwald gebracht wurde. Gemeinsam mit dem populären Wienerliedkomponisten Hermann Leopoldi, dem später die Flucht in die Vereinigten Staaten noch gelingen sollte, schrieb er das Buchenwald-Lied, das vielen Häftlingen Trost spendete. Obwohl es schon viele Antisemiten auf der Ebene der Hoch- und Unterhaltungskultur gab und manche von ihnen im Nationalsozialismus noch Karriere machen sollten, gelang es ihnen jedoch nicht wirklich, der traditionell inkludierten österreichischen Kulturtradition vor 1938 etwas entgegen zu setzen.54 Trotz antisemitischer Politiker in den österreichischen Regierungen und dem Erstarken antisemitischer Ausgrenzungsstrategien konnte das innerjüdische Leben – vor allem in Wien – einen letzten, beeindruckenden Aufschwung erleben. Zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ existierten in Österreich 589 jüdische Vereine, unter ihnen 78 Bethausvereine – ein Indiz für die religiöse Heterogenität –, 17 Tempelvereine und sehr viele Wohltätigkeitsvereine.55 Nach dem Ersten Weltkrieg kam es noch einmal zu wichtigen Neugründungen, etwa einem Privatgymnasium, das schließlich nach dem
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Vgl. auch Michael John, Ein „kultureller Code“? Antisemitismus im österreichischen Sport der Ersten Republik, in: Michael Brenner/Gideon Reuveni (Hg.), Emanzipation durch Muskelkraft. Juden und Sport in Europa, Göttingen 2006, S. 121-142. Vgl. z. B. Günther Schwarberg, Dein ist mein ganzes Herz. Die Geschichte von Fritz LöhnerBeda, der die schönsten Lieder der Welt schrieb und warum Hitler ihn ermorden ließ, Göttingen 2000. Nach dem Zweiten Weltkrieg bezog sich die jüdische Gemeinde Österreichs stark auf diese spezifisch österreichisch-jüdische Kulturtradition. Vgl. Matti Bunzl, Symptoms of Modernity. Jews and Queers in Late-Twentieth-Century Vienna, Berkeley/Los Angeles/London 2004. Den nostalgischen Blick gab es bereits Ende des 19. Jahrhunderts als eine Identität stiftende Waffe gegen den Antisemitismus. Vgl. z. B. Hödl, Wiener Juden, S. 73ff. Shoshana Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, Vereine, Stiftungen und Fonds. „Arisierung“ und Restitution, Wien/München 2004.
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1927 verstorbenen, zionistisch-orientierten Oberrabbiner von Wien ChajesGymnasium benannt wurde.56 Abschließend soll die Frage nach den Freundschaften zwischen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung beleuchtet werden. In zwei Projekten wurden jüdische Vertriebene österreichischer Herkunft über ihren Freundeskreis vor dem „Anschluß“ befragt. Bei einer in den 1980er Jahren in Israel durchgeführten Fragebogenerhebung antworteten 82,1%, daß sich ihr Freundeskreis entweder vollständig bzw. zur überwiegenden Mehrheit aus einem jüdischem Milieu zusammengesetzt hatte; nur 12,6% der 2.330 Befragten hatten mehrheitlich einen nichtjüdischen Bekanntenkreis.57 Eine ähnliche Umfrage, die seit Mitte der 1990er Jahre in den USA durchgeführt wird, kam zu anderen Ergebnissen. Mit einem Drittel der Befragten war der Anteil derjenigen wesentlich höher, die von sich behaupteten, ihr Freundeskreis sei ein gemischter bzw. hauptsächlich nichtjüdischer gewesen.58 Der retrospektive Blick scheint in den USA ein milderer gewesen zu sein als jener in Israel. Dies zeigt sich auch bei der – allerdings unterschiedlich formulierten – Frage,59 die erheben sollte, ob jemand vor dem „Anschluß“ persönlich antisemitische Erfahrungen gemacht hätte. In den USA antworteten 47%, daß sie keine antisemitischen Erfahrungen gemacht hätten, bei der Umfrage in Israel waren es hingegen nur 11,6%.60
Die letzten Jahre – der Austrofaschismus Der Austrofaschismus (1934-1938) ist im Kontext faschistischer Bewegungen in Europa, der spezifisch österreichischen katholisch-christlichsozialen Tradition und in seiner Konkurrenzrolle zum Nationalsozialismus zu verstehen. Obwohl die nach dem Bürgerkrieg 1934 nun autoritär allein regierende 56
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Vgl. Moritz Rosenfeld/H.P. Chajes, Reden und Vorträge, Wien 1993; George Weidenfeld, Von Menschen und Zeiten. Die Autobiographie, Wien/München 1995; Binyamin Shimron, Das Chajesrealgymnasium in Wien 1919-1938, Tel Aviv 1989. Christian Haerpfer, Israelische Bürger österreichischer Herkunft, Variablenliste. Häufigkeitstabelle, Wien 1990 (unveröff. Typoskript), S. 46; vgl. Erika Weinzierl/Otto D. Kulka, Vertreibung und Neubeginn. Israelische Bürger österreichischer Herkunft, Wien/Köln/ Weimar 1992. Datenbank des Austrian Heritage Collection Projekts am Leo Baeck Institute, New York (n=377). Vgl. Albert Lichtblau, Erfahrungen, Erinnerungen und Bewertungen. Österreichisch-jüdische Emigranten in den USA/ Experience, Recollection and Evaluation. Austrian Jewish Emigrants to the USA, in: Werner Hanak/Niko Wahl (Hg.), Vom Großvater vertrieben, vom Enkel erforscht? Zivildienst in New York, Wien 2002, S. 63-105. In Israel lautete die Frage: Haben Sie in Österreich unter Antisemitismus gelitten? Es konnte eine vorgegebene Antwort ausgewählt werden. Das in den USA durchgeführte Projekt formulierte die Frage wie folgt: Haben Sie oder Ihre Familie vor März 1938 antisemitische Erfahrungen gemacht? Die Antwort war jedoch nicht vorgegeben, sondern sollte frei formuliert werden. Weitere 32,7% der Umfrage in Israel kreuzten die Antwort „mittelmäßig“ an.
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Christlichsoziale Partei nach wie vor den Antisemitismus vertrat, enthielten sich die beiden Bundeskanzler des Austrofaschismus, Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg, während ihrer Regentschaft antisemitischer Äußerungen. Die Veränderung des politischen Systems, die mit der Auflösung des Parlaments im März 1933 begann, wurde von den liberalen und zionistischen jüdischen Zeitungen positiv bewertet, da die neue Machtkonstellation als Schutz gegen die Gewalt und drohende Machtübernahme der Nationalsozialisten gesehen wurde. Daß mit Engelbert Dollfuß ein Mann nahezu verehrt wurde, der noch 1920 und 1921 für den Antisemitenbund Reden gehalten hatte, zeigt, wie dünn der Schutzkonsens in der österreichischen Gesellschaft geworden war.61 Unter dem seit 1932 als Bundeskanzler amtierenden Engelbert Dollfuß wurden Maßnahmen getroffen, die von den jüdischen Presseorganen mit Erleichterung kommentiert wurden: Die von den Nationalsozialisten infiltrierte Deutsche Studentenschaft wurde verboten, die Autonomie der Universitäten, die ein Eingreifen der Polizei auf universitärem Boden untersagte, aufgehoben und die NSDAP im Juni 1933 verboten. Nach dem Mordanschlag im Herbst 1933 und der Ermordung von Bundeskanzler Dollfuß am 25. Juli 1934 erhielt er enthusiastische Nachrufe in den jüdischen Zeitungen. Bruce F. Pauley argumentiert, daß die neutrale Position der austrofaschistischen Bundeskanzler gegenüber der jüdischen Bevölkerung einerseits als Abgrenzung zum Nationalsozialismus, der mit Antisemitismus identifiziert wurde, interpretiert werden könnte, aber auch als pragmatisches politisches Handeln. Einen weiteren Handelsboykott, dem Österreich bis 1936 von Seiten des nationalsozialistischen Deutschland ausgesetzt war, galt es zu vermeiden.62 Mit einer antisemitischen Regierungspolitik hätte das Land jedoch mit Sanktionen durch andere Staaten und durch wichtige Handelspartner rechnen müssen. Der traditionelle österreichische Antisemitismus fand im Austrofaschismus eine Fortsetzung und der Faktor „Trennung“ galt weiterhin als regierungspolitisch wünschenswert. So verordnete das Unterrichtsministerium im September 1934 Parallelklassen von katholischen und nichtkatholischen Kindern. Schon im Parteiprogramm der Wiener Christlichsozialen hieß es 1919: „Die jüdischen Kinder sind in eigene Schulen oder Klassen zusammenzuziehen.“63 Die Parallelklassen-Verordnung wurde an einigen Wiener Schulen umgesetzt und führte dazu, daß Klassen mit mehrheitlich jüdischen Kindern gebildet wurden. Erst die Proteste der Jüdischen Gemeinde und internationale
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Vgl. Gerhard Hartmann, Im Gestern bewährt. Im Heute bereit. 100 Jahre Carolina. Zur Geschichte des Verbandskatholizismus, Graz/Wien/Köln 1988, S. 416 f.; Albrich, Vorurteil, S. 324; Pauley, Antisemitismus, S. 317ff.; Insgesamt: Maderegger, Ständestaat. Pauley, Antisemitismus, S. 321ff. Berchtold, Parteiprogramme, S. 365.
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Einsprüche führten zur Rücknahme der Verordnung, die jedoch bereits gebildeten Parallelklassen blieben bestehen.64 Nach dem Bürgerkrieg und dem Verbot der Sozialdemokratie richteten sich zahlreiche berufspolitische Maßnahmen unverblümt gegen die jüdische Bevölkerung. In städtischen Krankenhäusern Wiens wurden die Verträge von jüdischen Ärztinnen und Ärzten, die der Sozialdemokratischen Partei angehört hatten, nicht mehr verlängert, während viele nichtjüdische ehemalige Parteimitglieder weiterhin beschäftigt wurden. Jüdische Ärztinnen und Ärzte fanden außerdem während des Austrofaschismus keine Anstellung in öffentlichen Krankenhäusern.65 Die vom Ständestaat als Ersatz für bürgerliche politische Parteien gegründete Vaterländische Front66 stand jüdischen Mitgliedern zwar offen, doch mit einer Karriere konnte niemand rechnen. Im Sinne einer ständischen Ordnung wurde der Präsident der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde Mitglied des Staatsrates. Aber auch innerhalb der Vaterländischen Front wurden Maßnahmen zur Separierung gesetzt: Im Januar 1938 wurde z. B. für jüdische Kinder eine separate Organisation innerhalb des sogenannten „Jungvolk“ geschaffen.67 Dem antisemitischen Grundkonsens der österreichischen Gesellschaft setzte der Austrofaschismus nichts entgegen.68 Wichtiger waren jedoch die Entwicklungen im benachbarten Deutschland. Selbst assimilationsbereite Juden und Jüdinnen, für die Religion kein starkes Bindeglied mehr bildete – Harriet Pass Freidenreich verwendet für sie die Bezeichnung „Just Jews“ – beschreiben in ihren Erinnerungen, daß mit dem Erstarken und der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland sich auch für sie die Lage verschlechterte. Vermutlich wurde das Vorhandensein des Antisemitismus auch von jenen bewußter wahrgenommen, die sich eigentlich nur mehr lose mit dem Jüdischen verbunden fühlten. Das Ausmaß der drohenden Gefahr sahen jedoch nur die wenigsten voraus.69 Tatsächlich gefährlich wurde es für die jüdische Minderheit auf Grund der Schwäche der Austrofaschisten, die ab 1936 auf deutschen Druck hin begannen, den anscheinend gemäßigten 64 65 66
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Helmut Wohnout, Die Janusköpfigkeit des autoritären Österreich. Katholischer Antisemitismus in den Jahren vor 1938, in: Geschichte und Gegenwart 13, Heft 1, 1994, S. 3-16. Pauley, Antisemitismus, S. 329. Vgl. Emmerich Tálos/Walter Manoschek, Aspekte der politischen Struktur des Austrofaschismus, in: Emmerich Tálos/Wolfgang Neugebauer, Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933-1938, Wien 2005, S. 145ff. Pauley, Antisemitismus, S. 331. Über die Haltung der Regierung und der Vaterländischen Front vgl. Maderegger, Ständestaat, S. 115ff. Harriet Pass Freidenreich, Female, Jewish, and Educated. The Lives of Central European University Women, Bloomington 2002, S. 34. Freidenreich unterscheidet zwischen „Jewish Jews“, „Just Jews“ und „Former Jews“. Natürlich hat auch die religiöse jüdische Bevölkerung die Verschlechterung des Klimas nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland wahrgenommen. Vgl. z. B. David Herzog, Erinnerungen eines Rabbiners 19321940. Auf Grundlage einer Diplomarbeit von Andreas Schweiger, hg. von Walter Höflechner, Graz 1995, S. 2.
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Flügel der Nationalsozialisten zu integrieren – und zwar am Ende sogar als Regierungsmitglieder –, während es für derartige Verbindungen zu den besiegten Sozialdemokraten keine Anzeichen gab. Der jüdischen Bevölkerung blieb am Ende nichts anderes übrig, als alles auf die Karte des Austrofaschismus zu setzen, da er die einzige Alternative zum Nationalsozialismus schien. Deswegen engagierten sich die jüdischen Organisationen in der für den 13. März 1938 geplanten Volksabstimmung für ein „freies und deutsches […] christliches und einiges Österreich“ und die Israelitische Kultusgemeinde Wien spendete für den Wahlfonds.70 Der „Anschluß“ verhinderte die Volksabstimmung und die Nationalsozialisten instrumentalisierten die Unterstützung der jüdischen Bevölkerung für die geplante Volksabstimmung. Sie verhafteten die Funktionäre der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien und suchten nach Belegen für den Wahlfonds. Im „Anschluß“-Pogrom wurden jüdische Frauen und Männer gezwungen, mit unzureichenden Mitteln zum Gaudium der Umstehenden die Parolen für die Volksabstimmung zu entfernen. Antisemitismus hatte sich in die Ideologien und damit politischen Visionen der österreichischen konservativen und nationalen Parteien und deren Anhängerschaft eingeschrieben. Wie sehr es gelungen war, die jüdische Bevölkerung als eine „fremde“ zu kategorisieren und sie, trotz der Anpassung und Identifikation mit dem österreichischen Lebensstil, als Sinnbild für das „Andere“, das „Nicht-Deutsch-Österreichische“ festzuschreiben, zeigte sich unmittelbar nach dem „Anschluß“. Wenn auch viele andere Faktoren beachtet werden müssen, kann das aktiv aggressive Verhalten der österreichischen Bevölkerung gegenüber der jüdischen Minderheit zu Beginn und während des Nationalsozialismus ohne die Vorgeschichte des Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit nicht erklärt werden.
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Vgl. die letzten Nummern der vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten herausgegebenen Zeitungen, etwa Die Stimme und Die Wahrheit, 11.3.1938.
Von der ydokomuna zur Lösung einer „jüdischen Frage“ durch Auswanderung: Die politische Instrumentalisierung ethnischer und kultureller Differenzen in Polen 1917/18 bis 1939 KLAUS-PETER FRIEDRICH Der faktographische Forschungsstand zur Stellung der Juden in Staat und Gesellschaft ist im Falle Polens in bezug auf politikhistorische Felder bereits seit den 1980er Jahren recht weit vorangeschritten.1 Weniger intensiv aufgearbeitet ist dagegen der öffentliche Diskurs zur „jüdischen Frage“. Es erscheint daher berechtigt, den vorliegenden Beitrag diesem weniger bekannten Aspekt zu widmen. Meine Absicht ist dabei ein Vergleich der Haltung gegenüber den Juden in der Zweiten Polnischen Republik in zwei Umbruchsphasen: in den Jahren während und nach der Staatsgründung und in der Phase unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg. Das Augenmerk gilt zunächst jenem Stereotyp, das der jüdischen Bevölkerung eine quasi angeborene Affinität zum Kommunismus unterstellte. Dies muß vor dem Hintergrund der Nationsbildungsprozesse in Ostmitteleuropa 1
Siehe die einschlägigen Beiträge in den Sammelbänden: Yisrael Gutman u.a. (Hg.), The Jews of Poland between Two World Wars, Hanover/NH. 1986, und Chimen Abramsky/Maciej Jachimczyk/Antony Polonsky (Hg.), The Jews in Poland, Oxford 1986; Andrzej K. Paluch (Hg.), The Jews in Poland, Bd.1, Krakau 1992, sowie das dem Thema „Jews in Independent Poland, 1918-1939“ gewidmete Jahrbuch Polin 8, 1994, hg. von Antony Polonsky u.a.; ferner Ezra Mendelsohn, ydzi Europy rodkowo-Wschodniej w okresie mi dzywojennym, Warschau 1992 (engl. Fassung: The Jews of East Central Europe between the World Wars, Bloomington 1983), seine Studie über den Zionismus: Zionism in Poland. The Formative Years, 1915-1926, New Haven 1981, und seine Reflections on East European Jewish Politics in the Twentieth Century, in: YIVO Annual 20, 1991, S. 23-37. Vgl. auch seine Einleitung: The Jews of Poland between Two World Wars – Myth and Reality zu dem Sammelband: Gutman, The Jews of Poland, S. 1-8, und den darin enthaltenen Beitrag über das politische Leben der jüdischen Bevölkerungsgruppe: Jewish Politics in Interwar Poland: An Overview, S. 9-19; sowie ders., Jewish Historiography on Polish Jewry in the Interwar Period, in: Polin 8, 1994, S. 3-13. Weitere Hinweise zur Forschungsliteratur in Klaus-Peter Friedrich, Juden und jüdisch-polnische Beziehungen in der Zweiten Polnischen Republik (1918-1939). Neuere Literatur, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 46/4, 1997, S. 535-560. Wenig erhellend ist zuletzt das äußerst einseitige Elaborat von David Cymet, Polish State Antisemitism as a Major Factor Leading to the Holocaust, in: Journal of Genocide Research 1, Heft 2, 1999, S. 169-212. Der Daniel Goldhagens Vorgehensweise auf Polen anwendende Verfasser glaubt, in der polnischen Spielart des Antisemitismus ein „eliminatorisches“ Programm ausmachen zu können, das durch das Eingreifen Hitlers mit breiter polnischer Unterstützung verwirklicht worden sei. Cymet, der polnischsprachige Dokumente und die umfangreiche polnischsprachige Literatur nicht verwendet, bedient sich einer Überinterpretation einzelner antijüdischer Äußerungen, einer großen Zahl unbelegter Behauptungen sowie falscher Angaben und Schreibweisen − und münzt all dies in einige forsche (und irrige) Thesen um.
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und im Kontext der Konkurrenz zweier sich entfaltender Nationalismen – des jüdischen und des polnischen − betrachtet werden. Triebkräfte, die einem allseits gedeihlichen Zusammenleben abträglich waren, gab es also auf beiden Seiten. Dabei ist mit David Blatman daran zu erinnern, daß der Antagonismus zwischen Polen und Juden auch Ergebnis einer sozialen und politischen Wirklichkeit war, in der Vorurteile und Dämonisierungen beiden Seiten als Fundament einer abwertenden Behandlung des jeweils anderen lieferten; in den Krisenjahren verstärkte sich dann sowohl die antijüdische Stimmung unter Polen als auch die antipolnische unter Juden.2 Ein polnisch-britischer Historiker hat diesen Zustand zuletzt allzu sehr – und allzu einseitig – in der Behauptung überspitzt, Mehrheits- und Minderheitsbevölkerung hätten sich in gegenseitiger Ablehnung in nichts nachgestanden: „Jewish polonophobia was as powerfully on display as Polish anti-Semitism. Most Jews did not want to mix with their Polish neighbours […]. For them, the state and the Poles were objects of contempt and antipathy.“3 Darüber hinaus unterstellt er der jüdischen Minderheit pauschal eine grundsätzlich feindselige Einstellung gegenüber dem wiedererstehenden polnischen Staat: „[…] they [the Jews] were hostile to the establishment of an independent Poland and continued in this vein after 1918.“4 Polnischer Nationalismus nährte sich aus Bedrohungsängsten, die sich auf die russischen/sowjetischen und deutschen äußeren Feinde wie auch den jüdischen „Feind im Innern“ bezogen, als sich das Einstellungsklischee der „Judenkommune“ ( ydokomuna) herausbildete. In der polnischen Wahrnehmung war die kommunistische Partei eine von Juden zutiefst geprägte umstürzlerische Vereinigung, die es darauf abgesehen habe, Polen zu verraten und ihrer Loyalität gegenüber der Sowjetunion tatkräftig Ausdruck zu verleihen. Doch auch die anderen linken jüdischen Parteien hätten, so Peter Stachura, sich im Polnisch-sowjetischen Krieg illoyal verhalten. Der zionistische Politiker Icchak Grünbaum habe ununterbrochen gegen den Staat agitiert und die Pressefreiheit zu diesem Zwecke mißbraucht. Indes muß hier daran erinnert werden, daß Loyalitätsbeweise gegenüber Polen, die es auch gab, seinerzeit als solche nicht gewürdigt wurden. Grünbaum etwa wies die Regierenden auf jüdische Aufrufe hin, in die polnische Armee einzutreten und für die Sache Polens Geld zu spenden – und mußte zugleich beklagen, daß die polnische Presse diese Initiativen wie auch patriotische Artikel in der jüdischen Presse verschwieg.5 Stachura selbst bewertet sie schlicht als 2 3
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Vgl. David Blatman, Polish Antisemitism and „Judeo-Communism“: Historiography and Memory, in: East European Jewish Affairs 27, 1997, Nr. 1, S. 23-43, besonders S. 26f. Peter D. Stachura, National Identity and the Ethnic Minorities in Early Inter-War Poland, in: Peter D. Stachura (Hg.), Poland between the Wars, 1918-1939, London u.a. 1998, S. 60-86, hier S. 77. Stachura, National Identity, S. 74. Szymon Rudnicki, Rozmowy ydów z rz dem w okresie obrad Sejmu Ustawodawczego, in: Rozdział wspólnej historii. Studia z dziejów ydów w Polsce ofiarowane profesorowi
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unzureichend: „While some Jews gave their lives for Poland […] a large majority made their loyalties all to clear: they were pro-Soviet or Zionist, and anti-Polish.“6 In einem Zwischenfazit läßt sich feststellen, daß von vielen, über die Rechte weit hinausgehenden politischen Gruppierungen ydokomuna als neuer antisemitischer Kampfbegriff verwendet wurde, der sich unterschiedslos gegen alle Juden − einschließlich der Zionisten − richtete. Ein zweiter Schwerpunkt gilt im Folgenden der Debatte über die Minderheitenpolitik in der Endphase der Zweiten Polnischen Republik, als sich im politischen Diskurs und in der gesellschaftlichen Wahrnehmung die Notwendigkeit, eine „jüdische Frage“ zu „lösen“, in den Vordergrund schob. Angestrebt wurde diese „Lösung“ durch eine rechtliche Schlechterstellung und erzwungene Massenauswanderung der jüdischen Bevölkerung. Der Vergleich soll in den beiden durch einen Zeitraum von 15 bis 20 Jahren getrennten Phasen Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich machen. Dabei ist der Frage nachzugehen, ob für die Zeit von 1936 bis zum Beginn des Krieges von einer ideologischen Radikalisierung der polnischen Haltung(en) gegenüber der jüdischen Bevölkerung gesprochen werden kann.
Die Anfangsjahre der Zweiten Polnischen Republik 1917/18-1923 Im Prozeß der modernen polnischen Nationsbildung galt das Bild vom Juden als der Andere, auf den die Entwicklung der eigenen Ethnie referierte und von dem sich die nichtjüdische Mehrheitsbevölkerung abgrenzte. Dabei war Antisemitismus traditionell vorwiegend religiös und ökonomisch begründet. Im Vergleich mit Deutschland schwangen in Polen weniger antikapitalistische und antikirchliche Vorstellungen mit. Dies änderte sich mit dem Aufkommen des Nationalismus im 19. Jahrhundert. Doch die Ausführungen zum Wesen einer spezifisch polnischen Geisteshaltung in den Schriften polnischer nationaler Ideologen blieben nebulös. Für sie war es − wie Jerzy Jedlicki feststellt − leichter, negative Züge eines
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Jerzemu Tomaszewskiemu w siedemdziesi t rocznic urodzin, hg. von Jolanta yndul, Warschau 2001, S. 199-210. Stachura, National Identity, S. 74f. An anderer Stelle konkretisiert Stachura diese Pauschalvorwürfe − und bezieht in seine Kritik auch die bürgerlichen Kräfte mit ein, die ein klares Auftreten gegen den Bolschewismus hätten missen lassen: „[…] in Eastern Poland in particular, with its substantial Jewish population, relatively large numbers of Jews, especially younger ones, articulated their unhappiness at being citizens of the new Polish state by openly or tacitly supporting the Bolsheviks. Parts of the extensive Jewish press in major cities […] were noticeably reticent in reporting developments at the front; while too many Jewish leaders, other than the small group of assimilationists in the Agudat Israel, kept such a low profile as to raise legitimate questions about were their sympathies lay.“ Peter D. Stachura, The Battle of Warsaw, August 1920, and the Development of the Second Polish Republic, in: Ders. (Hg.), Poland between the Wars, S. 43-59, hier S. 53.
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russischen Denkens und einer „jüdischen Seele“ aufzuzeigen; der nationaldemokratische Kulturtheoretiker Zygmunt Wasilewski versuchte in seinen 1908 in Lemberg (poln. Lwów, ukr. L’viv) veröffentlichten Listy dziennikarza w sprawach kultury narodowej (Briefe eines Journalisten zu Fragen der Nationalkultur) eine nationale Selbstvergewisserung allein aus der strikten Abgrenzung gegen unerwünschte äußere Einflüsse zu gewinnen. Wasilewski agitierte gegen die „Lakaien des Fortschritts“, die, wie er drastisch schrieb, „mit fremden Kulturen Unzucht treiben“ und dabei den nationalen Geist verleugneten.7 Die Nationaldemokratie war die größte und einflußreichste politische Bewegung auf dem rechten Spektrum in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zählte bis in den Zweiten Weltkrieg hinein zu den bedeutendsten politischen Kräften des Landes. Die politische Ideenwelt der Nationaldemokraten leitete sich ganz wesentlich von den Schriften ihres Mitbegründers Roman Dmowski her.8 Wie Marek Cichocki feststellt, war Dmowskis Nationsidee „mit dem Antisemitismus der Nationaldemokraten historisch verbunden“, wobei es aber − seiner Auffassung nach − keinen substantiellen Zusammenhang „zwischen der Idee der modernen Nation und dem Antisemitismus“ gebe.9 Dmowski sah das polnische Volk jedenfalls von drei Feinden bedrängt: den Deutschen im Westen, den Russen im Osten und den Juden im Innern des polnischen Siedlungsgebiets. In der Praxis hatte der Politiker Dmowski als Duma-Abgeordneter in St. Petersburg versucht, die Wiedererrichtung Polens als Staat in Anlehnung an das große slawische Brudervolk zu erreichen. Nach der bol’ševikischen Revolution in Rußland, die als von Juden angeleiteter und durchgeführter Umsturz wahrgenommen wurde, richtete sich die Nationaldemokratie streng antisowjetisch und antikommunistisch aus. Währenddessen war für Dmowski der Katholizismus ein ureigener Ausdruck des Polentums, zumal sich über ihn eine klare Unterscheidung von den „alttestamentarischen“ Juden ergab. Die Schattenseite der nationalen, mit der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit Polens verbundenen Euphorie war, daß die aggressive 7
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Jerzy Jedlicki, Polish Concepts of Native Culture, in: Ivo Banac/Katherine Verdery (Hg.), National Character and National Ideology in Interwar Eastern Europe, New Haven 1995, S. 1-22, hier S. 19. Der Verfasser weist hier zugleich auf gemeinsame Muster des Nationalismus in verschiedenen Ländern und unter verschiedenen Völkern hin, deren Ursprung in Frankreich und Deutschland zu finden sei − und bemerkt: „It has often been remarked that there is nothing less national than nationalism“ (S. 21). Zur Entwicklung des polnischen Nationsbegriffs siehe zuletzt Marek A. Cichocki, Drei Traditionen des Nationsbegriffs in Polen, in: Robert Maier (Hg.), Die Präsenz des Nationalen im (ost)mitteleuropäischen Geschichtsdiskurs, Hannover 2002, S. 93-102. Demnach begriff Dmowski die „Nation als Ausdruck des politischen Egoismus“ und verfolgte im Unterschied zu seinen Vorgängern ein antiromantisches und antirepublikanisches Konzept (S. 99), das „die Beziehungen zwischen den Nationen eher in darwinistischen Kategorien“ betrachtet habe (S. 101); siehe auch Albert S. Kotowski, Hitlers Bewegung im Urteil der polnischen Nationaldemokratie, Wiesbaden 2000. Ebd., S. 101f.
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Fremdenfeindlichkeit in den ersten Jahren der Zweiten Polnischen Republik noch zunahm. Jerzy Jedlicki macht dies an Zygmunt Wasilewskis 1921 in Warschau erschienener Schrift O yciu i katastrofach cywilizacji narodowej (Über das Leben und die Katastrophen einer nationalen Zivilisation)10 deutlich. Dort warnt Wasilewski vor einem anderen, verderblichen Typ von Zivilisation, der bereits seit langem die Ideale und das Denken der polnischen inteligencja verändere: „It finds collaborators among all those native individuals and organizations, especially left-wing ones, which ‘have directly submitted to the intellectual rule of alien elements, waging war against the Polish national civilization‘.“11 Auf jüdischer Seite setzte sich die seit dem 19. Jahrhundert verstärkte Durchdringung der jüdischen Lebenswelt mit äußeren – meist polnischen – Einflüssen und deren Aneignung bis in die Zwischenkriegszeit hinein fort.12 An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stellte sich aber die jüdische Nationalbewegung der Assimilation entgegen. Es festigte sich die Überzeugung von einer spezifischen „national-kulturellen Eigenart“ der jüdischen Gemeinschaft in Polen. Die Juden Osteuropas hörten auf, eine bloße Religionsgemeinschaft zu sein und verstanden sich – nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Diskriminierung – als eine auch durch ethnische, kulturelle und sprachliche Kriterien definierte Gemeinschaft. Damit einhergehend öffneten sich polnische Juden einer zunehmenden Verweltlichung und Politisierung. Sie setzten sich in zionistischen Gruppen dafür ein, eine eigene nationale jüdische Heimstatt in Palästina zu erlangen. Für viele näher liegend war freilich das Bemühen um einen größeren nationalen und kulturellen Freiraum für ihre Volksgruppe in einem zukünftigen polnischen Staat. Der Weltkrieg verstärkte diese Entwicklung unter dem Besatzungsregime der Mittelmächte, welche die polnischen Gebiete im Westen des Zarenreiches seit 1915 besetzt hatten und jüdischen Selbstorganisations-Bestrebungen entgegenkamen. Dank dieser Wendung stieg der Einfluß zionistischer Parteien.13 Politisch interessierte Juden hofften, nach Ende des Krieges ihr nationales, kulturelles und sprachliches Sonderbewußtsein auf Augenhöhe mit anderen Volksgruppen artikulieren zu können. Die rechtliche Ausgestaltung einer spezifischen „national-kulturellen Eigenart“ der jüdischen Gemeinschaft in Polen war eine zentrale Frage der Minderheitenpolitik in der Zweiten Polnischen Republik. Zwischen den Weltkriegen gehörten in Polen weit mehr als 30% der Staatsbevölkerung 10 11 12
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O yciu i katastrofach cywilizacji narodowej. Wst p do rozwa a nad programowemi zagadnienami doby obecnej, Warschau 1921. Jedlicki, Polish Concepts of Native Culture, S. 20. Zu dem in Polen mißlungenen sozialen Experiment der Assimilierung siehe den Überblick von Joseph Lichten, Notes on the Assimilation and Acculturation of Jews in Poland 18631943, in: Abramsky/Jachimczyk/Polonsky (Hg.), The Jews in Poland, S. 106-129. Mendelsohn, ydzi Europy rodkowo-Wschodniej, S. 78.
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sogenannten nationalen Minderheiten an. Der Anteil jener Menschen, die sich zur jüdischen Religion bekannten, betrug etwa 10% der Bevölkerung. Juden waren, außer in Großpolen (Wielka Polska) und Pommerellen (Pomorze), überaus zahlreich unter den Einwohnern der Städte und Kleinstädte. In bestimmten Wirtschaftsbereichen – insbesondere in Handel und Handwerk, aber auch in den freien Berufen – war ihr Anteil stark überproportional. Außerdem verließen infolge einer stetigen Auswanderung insgesamt mehr als 300.000 Juden in den Zwischenkriegsjahren das Land.14 Ich gehe mit Ezra Mendelsohn davon aus, daß die Zweite Polnische Republik ein antisemitisches Land gewesen ist, dessen Antisemitismus nicht lediglich als ein fremdartiger Import aus Rußland oder Deutschland angesehen werden kann.15 Die unter der nichtjüdischen Bevölkerung vorherrschenden Einstellungen gegenüber der jüdischen Minderheit unterschieden sich − wie schon Włodzimierz Mich herausgefunden hat − wesentlich von der Abneigung gegen andere „Fremde im polnischen Haus“.16 Dies rührte daher, daß sie sehr stark von althergebrachten religiösen und ökonomischen, zunehmend aber auch von politisch-ideologischen Negativklischees geprägt waren. Die deutschen und österreichisch-ungarischen Besatzungsmächte im russischen Teilungsgebiet sahen sich 1915 zu Zugeständnissen an die polnische Bevölkerung veranlaßt. Mitte Januar 1917 erfolgte die Konstituierung eines Staatsrates als vorläufiges Repräsentativorgan für die Bevölkerung des besetzten Territoriums. In dem Staatsrat waren auch jüdische Mitglieder vertreten, von denen drei durch Wahl in Kurien bestimmt – Noach Pryłucki, Adolf Weisblatt (für Warschau) und Dr. Jerzy Rosenblatt (für Lodz [Łód ]) – und vier durch den Regentschaftsrat ernannt wurden – Bolesław Eiger, Józef Natanson, Joel Wegmeister und Moj esz Pfeffer. Der Rabbiner Abraham Cwi Perlmutter fungierte als geistlicher Vertreter.17 Zwischen den jüdischen Räten der Bürgerlichen und der Linken kam es rasch zu Konflikten. Moj esz Pfeffer erklärte: „Wir wollen keinen Staat im Staate errichten.“ 1918, in einer Konfrontation über die Frage der Obergrenze für Mieterhöhungen18 zwischen dem Folkisten Noach Pryłucki und Pfeffer warf Letzterer seinem Kontrahenten unter dem Beifall der Staatsratsmitglieder vor, Pryłucki sei „darauf aus, in Polen den Bolschewismus einzuführen“; wenn Pryłucki dieses System vorziehe und mit ihm sympathisiere, so möge er doch dorthin zurück-
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Vgl. Grzegorz Berendt, Polacy – ydzi 1918-1945-1989, in: Roman Wapi ski (Hg.), U progu niepodległo ci 1918-1989, Danzig 1999, S. 171-193, besonders S. 174ff. Siehe: Mendelsohn, ydzi Europy rodkowo-Wschodniej. Włodzimierz Mich, Obcy w polskim domu. Nacjonalistyczne koncepcje rozwi zania problemu mniejszo ci narodowych 1918-1939, Lublin 1994. Isaac Lewin, The Political History of Polish Jewry, 1918-1919, in: Ders./Nahum Michael Gelber (Hg.), A History of Polish Jewry during the Revival of Poland, New York 1990, S. 5220, besonders S. 17. Lewin, ebd., S. 37ff.
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kehren, wo der Bolschewismus herrsche.19 Dieser Wortwechsel macht deutlich, daß der Bolschewismus-Vorwurf auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft benutzt wurde, um den politischen Gegner zu diskreditieren. 1918/19 übertrug sich die nationale Euphorie der Polen (und Ukrainer) auf einen Teil der jüdischen Bevölkerung. Gesellschaftliche und politische Kräfte strebten danach, der jüdischen Volksgruppe ein möglichst großes Maß an Selbstbestimmung zu gewährleisten und die jüdische Bevölkerung vor antijüdischen Übergriffen zu bewahren. Der Wunsch, im neuen polnischen Staat einen größeren kulturellen Freiraum für ihre Volksgruppe dauerhaft vertraglich abzusichern, fand zunächst Ausdruck in Gesprächen jüdischer Vertreter mehr oder weniger repräsentativer Organisationen mit polnischen Regierungsvertretern. Später äußerte er sich in reger politisch-parlamentarischer Arbeit.20 Schon in der Anfangsphase der Zweiten Republik zeigte sich jedoch, daß hier einige ethnisch/national und kulturell definierte Interessen mit denen der Mehrheitsbevölkerung in Konflikt gerieten. Die 1918 in Städten Mittelpolens und Galiziens entstandenen jüdischen Nationalräte entsandten von Zionisten angeführte Beauftragte zur Pariser Friedenskonferenz.21 Diese forderten eine Kulturautonomie: Sie verlangten 1) eine dem jüdischen Bevölkerungsanteil proportionale Vertretung der Juden im Sejm, 2) die Einrichtung demokratisch gewählter Kultusgemeinden (kehillot) als autonome Einheiten der gemeindlichen Organisation sowie 3) die Schaffung eines von der jüdischen Bevölkerung gewählten Jüdischen Nationalrats ( ydowska Rada Narodowa) und die Wahrung ihrer Interessen durch einen der polnischen Regierung ständig beigestellten jüdischen Vertreter. Doch war auf polnischer Seite niemand bereit, diese Forderungen zu erfüllen. Auch die zur gleichen Zeit in Polen geführten Verhandlungen verliefen ergebnislos und wurden von polnischer Seite abgebrochen.22 Das fiel ihr angesichts der Tatsache nicht allzu schwer, daß die jüdische Gemeinschaft keinen einheitlichen Standpunkt vertrat und die polnische Seite sich die Differenzen zwischen den Befürwortern einer Kulturautonomie und deren orthodoxen Gegnern zunutze machen konnte.23 Pogromartige Gewaltakte belasteten unterdessen das Verhältnis zwischen Juden und Polen.24 Plakate auf den Straßen Warschaus, u.a. von der anti19 20
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Ebd., S. 39. Pryłucki stammte aus dem ukrainischen Berdy iv (russ. Berdi ev), das zur Sowjetunion gehörte. Siehe Katrin Steffen, Jüdische Polonität. Ethnizität und Nation im Spiegel der polnischsprachigen jüdischen Presse 1918-1939, Göttingen 2004; Rudnicki, Rozmowy ydów z rz dem w okresie obrad Sejmu Ustawodawczego. Mendelsohn, ydzi Europy rodkowo-Wschodniej, S. 79. Ebd., S. 59f. Ebd., S. 72ff. Vgl. die Literaturhinweise in Friedrich, Juden und jüdisch-polnische Beziehungen in der Zweiten Polnischen Republik, S. 549, Anm. 52, sowie meine Sammelrezension zu acht ausgewählten Neuerscheinungen zur Lage der Juden im damaligen Polen in: Aschkenas 7, 1997, Nr. 2, S. 555-566.
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semitischen Handwerkervereinigung Rozwój, forderten dazu auf, gegen die vermeintliche „Beleidigung der [gerade im Entstehen befindlichen; K.-P. F.] Polnischen Armee durch die Juden“ vorzugehen; und da „die Juden“ Polen diffamiert hätten, sollten sie auf polnischem Grund und Boden nicht mehr geduldet werden.25 Das Krakauer Blatt Nowy Dziennik, das sich an eine jüdische Leserschaft richtete, erstattete im November 1918 Bericht über antijüdische Pogrome und Ausschreitungen in mehreren Orten im Süden des Landes. Zudem publizierte das Blatt eine empörte Beschwerde von Juden aus Zator an die Polnische Liquidierungskommission in Westgalizien mit der Beschreibung eines kollektiven Raubzuges von polnischen Bauern und Soldaten. In einer Unterredung mit jüdischen Vertretern gestand nun Brigadegeneral Minkiewicz ein, daß „die erregte Bevölkerung den Juden für alles und jedes die Schuld gibt“.26 Juden waren insbesondere Übergriffen polnischer Soldaten ausgesetzt, deren Charakter in der Geschichtsschreibung bis heute umstritten ist. Stachura unterstellt „den Juden“ in diesem Zusammenhang unlautere Machenschaften − eine Art Verschwörung: „[…] the Jews were determined to fight against the fledgling Polish state in order to protect what they regarded as their vital interests, and were quite prepared to mobilize world opinion behind their efforts.“27 In den Worten dieses Exponenten einer einseitigen nationalpolnischen Geschichtsinterpretation, „The provocation of the Minorities’ Treaty and the apocryphal stories of pogroms were only the beginning of Jewish-inspired opposition to the Polish state.“28 Jüngste Forschungen zeigen, daß der Antisemitismus der Nationaldemokratie als Auslöser der antijüdischen Gewalt eine herausragende Rolle spielte.29 Am bekanntesten sind die antijüdischen Ausschreitungen von Teilen der polnischen Armee in Lemberg. Während der Kämpfe zwischen Polen und Ukrainern um den Besitz der Stadt kam es Ende November 1918 zu anti25 26 27
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Lewin, Political History of Polish Jewry, in: Ders./Gelber (Hg.), History of Polish Jewry, S. 49. Ebd., S. 51f. Dadurch lasse sich erklären, warum Ende 1918 und Anfang 1919 in der internationalen Presse „Sensationsberichte von Judenpogromen in mehreren polnischen Städten lanciert wurden“. Stachura, National Identity, S. 69. Eine weit differenziertere Betrachtung dieser Problematik bietet zuletzt am Beispiel der New York Times: Piotr Wróbel, Polacy, ydzi i odbudowa Polski na stronach The New York Timesa w 1918 i 1919 roku, in: Rozdział wspólnej historii, S. 181-198. Stachura, National Identity, S. 74. Zum gegenwärtigen Aufschwung einer von nationaldemokratischen Ideologemen beeinflußten Geschichtsinterpretation in Polen siehe: KlausPeter Friedrich, Die polnische Zeitgeschichtsschreibung vor alten und neuen Herausforderungen. Kommentar zum 17. polnischen Historikertag in Krakau (15.-18.9.2004), in: Inter Finitimos. Jahrbuch zur deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte, N.F. 2, 2004, S. 4550. Stephanie Zloch, Nationsbildung und Feinderklärung: ‚Jüdischer Bolschewismus’ und der polnisch-sowjetische Krieg 1919/1920, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 4, 2005, S. 279-302.
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jüdischen Pogromen und Plünderungen.30 Antisemitische Stimmungen speisten sich zudem aus Vorwürfen, Juden hätten 1915 bis 1918 mit den deutschen und österreichischen Besatzern kollaboriert.31 Nach den Pogromen im Verlauf des polnisch-ukrainischen und des polnisch-sowjetischen Krieges 1918/19 wurde der Status der jüdischen Bevölkerung auf Drängen der westlichen Siegermächte durch einen Minderheitenschutzvertrag, der Teil der ostmitteleuropäischen Nachkriegsordnung sein sollte, völkerrechtlich abgesichert.32 Diese internationalen Verpflichtungen und die 1921 in Kraft gesetzte Verfassung machten die Juden zwar de jure zu gleichberechtigten Staatsbürgern, doch sie blieben gewissen spezifischen Einschränkungen unterworfen.33 Der Minderheitenvertrag enthielt nur zwei Klauseln, welche die Juden besonders betrafen: Eine bezog sich auf die staatliche Finanzierung jüdischer Schulen, die andere auf den staatlichen Schutz des Shabbat. Später verweigerte der Staat jedoch die Finanzierung von Schulen mit jiddischer (oder hebräischer) Unterrichtssprache. Letztlich trug diese Schulpolitik, die das Polnische zur Ersten Sprache der Bevölkerung Polens machte, zur Akkulturation der Minderheiten bei; die jüngere Generation war Ende der 1930er Jahre mehrheitlich in der polnischen Sprache verwurzelt.34 Eine ökonomische Benachteiligung jüdischer Händler und Gewerbetreibender brachte die gesetzliche Einführung der Sonntagsruhe mit sich. Die meisten Juden, die schon am Shabbat nicht arbeiteten, waren damit gezwungen, zwei Ruhetage einzuhalten.35 Wenngleich die Juden, die zuvor Untertanen des Zaren gewesen waren, zwischen 1919 und 1921 erstmals in staatsbürgerlicher Hinsicht gleichberechtigt wurden, zeigte sich schon damals, daß es an einer faktischen Gleichberechtigung von Juden im politischen und gesellschaftlichen Leben Polens mangelte. Es nimmt daher nicht wunder, daß die meisten polnischen Juden keine glühenden Patrioten des polnischen Nationalstaates waren. Diese Haltung wurde ihnen wiederum von Teilen der polnischen Bevölkerung als illoyale Haltung dem polnischen Staat gegenüber ausgelegt.
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Vgl. Friedrich, Juden und jüdisch-polnische Beziehungen, S. 550, FN 53. Mendelsohn, ydzi Europy rodkowo-Wschodniej, S. 69. Die polnische Regierung unterzeichnete den Vertrag im Juni 1919, doch er wurde erst 1921 ratifiziert. Vgl. Jerzy Tomaszewski, The Civil Rights of Jews in Poland 1918-1939, in: Polin 8, 1994, S. 115-128. Mendelsohn, ydzi Europy rodkowo-Wschodniej w okresie mi dzywojennym, S. 66, 102f. Vgl. Frank Golczewski, The Problem of Sunday Rest in Interwar Poland, in: Gutman (Hg.), The Jews of Poland between Two World Wars, S. 158-172.
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Die Anfänge des polnischen Stereotyps vom „jüdischen Bolschewismus“ Ursprünglich wurden Juden von ihrer nichtjüdischen Umgebung keineswegs als Revolutionäre wahrgenommen. Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts trat der politische Radikalismus unter den europäischen Juden in Erscheinung. Seither wurden Juden im europäischen antisemitischen Denken mit sozialistischen Bestrebungen und insbesondere dem Kommunismus gleichgesetzt. Ende des 19. Jahrhunderts traten auch in der polnischen Literatur Juden dann als politische, insbesondere sozialistische Aktivisten auf.36 Juden schlossen sich aufgrund ihrer sozialen Lage und infolge des Antisemitismus in rechten und konservativen Parteien ganz überwiegend linken, sozialistischen und radikalen Parteien an, die ihnen die Gleichberechtigung verhießen. Auf diese Weise gaben sie „eine spezifische Antwort auf ihren Ausschluß aus Politik und Gesellschaft, auf den Antisemitismus der Rechten und auf die chronische Armut“, die in den westrussischen und polnischen Siedlungsgebieten und den jüdischen Stadtvierteln herrschte.37 Nicht nur die große Mehrheit der ihren Traditionen verhafteten Juden wurden im wiedererstandenen polnischen Staat von vielen Polen als Fremdkörper empfunden. Voraussetzung für das Entstehen des Stereotyps vom „jüdischen Kommunismus“ war nämlich die sich verstärkende Akkulturation der Juden und ihr zunehmendes Bedürfnis, am politisch-gesellschaftlichen Leben zu partizipieren. Angesichts dessen bediente sich die polnische politische Rechte schon gegen Ende des Ersten Weltkriegs des Propagandaschlagworts von der „Judenkommune“. Doch die Ansicht, daß der Kommunismus von Juden inspiriert und gesteuert sei, war weit darüber hinaus verbreitet.38 Ezra Mendelsohn hält sie für „eine der wirkungsmächtigsten antisemitischen Losungen der Zwischenkriegszeit“.39 In mehreren europäischen Ländern fand seinerzeit das Stereotyp vom „jüdischen Kommunismus“ in der Zeit der Wirrnis und Instabilität, die in Mittel- und Osteuropa dem Ersten Weltkrieg folgte, weite Verbreitung. Im Stereotyp vom „jüdischen Kommunismus“ äußerte sich eine ideologisch verzerrte und politisch neu eingekleidete antisemitische Wahnvorstellung, die aus der Überzeugung erwuchs, „das Judentum“ organisiere und lenke den 36 37 38
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Irena Kami ska-Szmaj, Judzi, zohydza, ze czci odziera. J zyk propagandy politycznej w prasie 1919-1923, Breslau 1994, S. 114. William D. Rubinstein, The Left, the Right and the Jews, London u.a. 1982, S. 230. Die bislang gründlichste Studie über das seit Ende des Ersten Weltkriegs verbreitete Propagandaschlagwort von der ydokomuna bietet André Gerrits, Anti-Semitism and AntiCommunism: The Myth of „Judeo-Communism“ in Eastern Europe, in: East European Jewish Affairs 25, Nr. 1, 1995, S. 49-72. Vgl. auch Zloch, Nationsbildung und Feinderklärung; Paul Zawadzki, Protokoly Medrców Syjonu w polskiej my li antysemickiej, in: Biuletyn ydowskiego Instytutu Historycznego 3/4, 1993, (Nr. 167/168), S. 63-82, sowie Agnieszka Pufelska, Die „Judäo-Kommune“ - ein Feindbild in Polen. Das polnische Selbstverständnis im Schatten des Antisemitismus 1939-1948, Paderborn 2007. Mendelsohn, ydzi Europy rodkowo-Wschodniej, S. 96.
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Kommunismus bzw. beide verfolgten dieselben Ziele. In der Variante Hitlers und vieler deutscher Antisemiten war die Vorstellung vom „jüdischen Kommunismus“ ein neuer und sozusagen modernisierter antisemitischer Verschwörungsmythos – demnach übe das „jüdische Finanzkapital“ Kontrolle über die den Klassenkampf propagierende marxistische Arbeiterbewegung aus, um ihre Finanzinteressen zu sichern und die Menschheit zu unterjochen.40 Wenngleich der Mythos von der „Judenkommune“ sich vor allem in Deutschland entfaltete und in der NS-Propaganda Wurzeln schlug, ist er laut André Gerrits in Osteuropa aufgrund kultureller, politischer und geographischer Faktoren besonders wirksam gewesen, wobei Antisemitismus zu einem integralen Bestandteil des einheimischen Nationalismus wurde. Der jüdische Kommunist galt als Verkörperung des Bösen schlechthin. Über die Zwischenkriegszeit schreibt Peter Stachura, den ich in diesem Zusammenhang einmal zustimmend anführen möchte: „Bolshevism was widely perceived as an alien ideology and political system, associated with the detested Russians and an increasingly despised ethnic group within Poland. The connection between Bolshevism and Jews – ‘Jewish Bolshevism‘ – which was to become the stock-in-trade jibe of the radical Right across Europe, was made conclusively in Poland in 1920, and mercilessly propagated by the Endecja and its allies.“41
Diese Vorstellung verbreitete und verfestigte sich in den 1930er Jahren und dauerte bis in die Zeit des nationalsozialistischen Judenmordes und darüber hinaus an.42 Im Widerspruch dazu standen die Wahlergebnisse von 1919 unter der jüdischen Bevölkerung, die den gemäßigten und konservativen Parteien den Sieg brachten.43 Die Kommunistische Partei Polens (KPP) war verboten und spielte im offiziellen politischen Leben kaum eine Rolle; in der illegalen Parteiorganisation wirkten zahlreiche Polen jüdischer Herkunft mit.44 Der Polnisch-sowjetische Krieg von 1919/20 bestärkte große Teile der polnischen Bevölkerung in der Überzeugung, daß während der bol’ševikischen Invasion in Polen im Jahr 1920 die Juden massenhaft mit den Bolschewisten kollaboriert hätten.45 Tatsächlich gehörten Józef Unszlicht und Feliks Kohn, beide jüdischer Abstammung, neben Julian Marchlewski und Feliks Dzier y ski einer provisorischen polnischen Sowjetregierung an; auch 40 41 42 43
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Gerrits, Anti-Semitism and Anti-Communism, S. 56f. Stachura, The Battle of Warsaw, S. 49. Ebd., S. 58. Mendelsohn, ydzi Europy rodkowo-Wschodniej, S. 81; siehe auch Klaus-Peter Friedrich, Der nationalsozialistische Judenmord und das polnisch-jüdische Verhältnis im Diskurs der polnischen Untergrundpresse (1942-1944), Marburg 2006. Siehe Gabriele Simoncini. The Communist Party of Poland 1918-1929. A Study in Political Ideology, Lewiston u.a. 1993. Marek Jan Chodakiewicz, ydzi i Polacy 1918-1955. Współistnienie – zagłada – komunizm, Warschau 2000, S. 23.
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war dieses Provisorische Polnische Revolutionskomitee bemüht, die Unterstützung der jüdischen Bevölkerung zu gewinnen. Die Rolle, die Juden in den „auf polnischem Boden“ errichteten Räten spielten, blieb in frischer Erinnerung. Zusätzlich belasteten die interethnischen Beziehungen, daß bei der Wahrnehmung des Polnisch-sowjetischen Krieges seitens der politischen und militärischen Führer Polens ein pauschaler Illoyalitäts- und prosowjetischer Kollaborationsverdacht gegenüber der jüdischen Bevölkerung mehr oder weniger ausgeprägt war. Bei einem Treffen führender zionistischer Politiker mit Józef Piłsudski verlas der zionistische Politiker Icchak Grünbaum eine Erklärung, in der es hieß, die antijüdischen Stimmungen würden benutzt, „um sozialistische Bestrebungen im Keim zu ersticken“. Die polnische Presse spreche in einem Atemzug von Zionisten, Nationalisten und Bolschewisten als den Feinden Polens.46 Die Haltungen der polnischen Parteien zur „Judenfrage“ waren unterdessen von Bestrebungen zur Ausgrenzung der Juden geprägt, wobei sich die Unterschiede zwischen der politischen Mitte und der Rechten verwischten.47 Parlamentarischer Arm der Nationaldemokratie war seit 1919 der „Zwi zek Ludowo-Narodowy (Volks-Nationaler Verband, ZLN)“, der sich später in „Stronnictwo Narodowe (Nationalpartei)“ umbenannte und von dem sich radikalere Gruppen abspalten sollten.
Das antijüdische Feindbild der rechten Propaganda Die zeitgenössische Presse veranschaulicht die unter der polnischen Bevölkerung verbreiteten Einstellungen gegenüber Juden. Hier erscheint es daher angebracht, einen Blick auf das antijüdische Feindbild der rechten Propaganda zu werfen.48 Wahrnehmung und Erinnerungshaltungen zeichneten sich hier dadurch aus, daß die Interpretation der jüngsten Vergangenheit in ein antijüdisches ideologisches Korsett gezwängt wurde. Die polnische Nationaldemokratie propagierte das Schreckensbild einer jüdisch-bol’ševikischdeutschen Intrige gegen Polen. Die vom „jüdischen Thema“ besessenen rechten Blätter „entdeckten in nahezu jedem Handeln politischen, sozialen, ökonomischen oder kulturellen Charakters eine jüdische Inspiration. Man 46 47
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Lewin, Political History of Polish Jewry, S. 54. Siehe Jerzy Holzer, Polish Political Parties and Antisemitism, in: Polin 8, 1994, S. 194-205, sowie zum „katholischen“ politischen Faktor: Bogumił Grott, Nacjonalizm chrze cija ski. Narodowa-katolicka formacja ideowa w II Rzeczypospolitej na tle porównawczym, 2. veränderte Aufl., Krakau 1996, und ders., Polnische Parteien und nationalistische Gruppen in ihrem Verhältnis zur katholischen Kirche und zu deren Lehre vor dem Zweiten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 45, 1996, S. 72-88. Ich stütze mich hier auf das Material der kritischen und abgewogenen Analyse von Irena Kami ska-Szmaj, die mit einer Fülle von Originalzitaten aus der zeitgenössischen Presse aufwartet: Judzi, zohydza, ze czci odziera, S. 17-127.
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schuf Verschwörungstheorien, wonach die polnischen Juden heimlich Ränke schmiedeten und verdächtige Verbindungen mit dem internationalen Freimaurertum unterhielten.“49 Die Zeitung Gazeta Warszawska, das Zentralorgan des ZLN, hatte eine Auflage zwischen 10.000 und 20.000. Sie trat ein für das Privateigentum, eine privilegierte Stellung der römisch-katholischen Kirche und einen von ethnischen Polen regierten Nationalstaat. Religion und Familie bezeichnete sie als „zwei Leuchtfeuer der unsterblichen arischen Kultur“ (6.10.1922). Diese und der polnische Staat überhaupt würden bedroht von der „jüdischen Flut“ (31.10.1922), „der jüdisch-freimaurerischen Clique“, vom „Juden und Schieber“, die danach drängten, zu regieren (12.11.1922, sowie ähnlich 16.11.1922). Dem sogenannten Nationalen Lager (Obóz Narodowy) hielt Gazeta Warszawska zugute, es kämpfe „rücksichtslos gegen die Linke, Juden, Kommunisten, Deutschen, Russen, usw.“ (10.12.1922) und setze sich ein für die „Rettung des Staates vor der Flut von Radikalismus, Bolschewismus, Judaismus [und] dem Deutschtum“ (10.11.1922). Die Juden würden indessen Freude empfinden über die Vernichtung des christlichen Rußland (25.3.1921). Der polnischen Linken wurde häufig vorgeworfen, sie werde „von Juden gelenkt“ (2.11.1922) und ihr Präsidentschaftskandidat Gabriel Narutowicz sei ein „Günstling des Finanzjudentums“ (protegowany ydowskiej finansjery). Zugleich hielt man – im Widerspruch dazu – „die Juden“ für Feinde der auf dem Privateigentum basierenden (kapitalistischen) Wirtschaft.50 Auch das Posener nationaldemokratische Organ Kurier Pozna ski war überzeugt, daß „in der bolschewistischen Bewegung, die gegen das Privateigentum, Religion und Familie gerichtet ist, die Juden am meisten und zahlreichsten beteiligt sind“ (17.2.1921). Die nationaldemokratischen Blätter bedienten sich der Gegenüberstellung von Polentum und Judentum − den „zu uns Gehörenden“ und den „Fremden“ (swój – obcy) − und benannten die jüdische Bevölkerung als „fremdes Element ( ywioł obcy)“ im Staat.51 Dabei wandelten sich die dem Begriff Jude ( yd) traditionell angehefteten semantischen Konnotationen, so daß er als „Bankier, internationaler Finanzkapitalist, internationaler Verschwörer, Freimaurer, Kommunist, Bolschewist, Zersetzer (siła rozkładowa), innerer Feind und heimtückischer Feind“ gesehen wurde − und das Eigenschaftswort „jüdisch“ auf höchst tendenziöse Weise verknüpft wurde mit Begriffen wie Rasse, Intrige und Hass.52 Gazeta Warszawska hielt dem jüdischen politischen Gegner vor, das zionistische Programm ziele nicht nur darauf ab, einen Judenstaat in Palästina zu 49
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Kami ska-Szmaj, Judzi, zohydza, ze czci odziera, S. 124. Als Beleg für diesen wahnhaften, hermetischen Antisemitismus siehe Stanisław Kobyli ski, Antysemityzm czy emancypacja, in: Gazeta Warszawska, 10.8.1923. Kami ska-Szmaj, Judzi, zohydza, ze czci odziera, S. 123. Ebd., S. 130. Ebd., S. 128, 132.
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errichten, sondern strebe auch an, Polen selbst in eine Kolonie dieses jüdischen Palästinas zu verwandeln (2.11.1922).53 Weit häufiger freilich richtete sich die rechte Propaganda gegen den angeblich jüdischen Kommunismus bzw. Bolševismus. Ausgelöst durch die Revolution in Rußland bildete sich seit 1917 rasch der neue Stereotyp des jüdischen Bolschewiken ( yd-bolszewik) und der ydokomuna heraus.54 David Blatman macht deutlich, wie leicht sich dieses Stereotyp in überkommene antijüdische Vorstellungen einpassen ließ: „The image of the Jew as alien to the national organism and seeking to take control of society from within is firmly rooted in Polish society.“55 Die Identifizierung von Juden mit dem äußeren (Sowjet-)Feind verwandelte den politischen Konflikt in einen ethnischen – zwischen dem polnischen Volk und seinen Feinden, zwischen Polentum und Judentum. Für die rechte Presse gab es daher keinen Zweifel daran, daß „die Juden“ die treibende revolutionäre Kraft und Juden mit dem Bolschewismus quasi eine Einheit bildeten.56 Gazeta Warszawska schrieb von der „Herrschaft einer jüdisch-kosmopolitischen Bande von Kommunisten in Rußland“ (24.3.1921). Aber die vermeintliche Gefahr einer „jüdisch-bolschewistischen Herrschaft beeinflußte einen großen Teil der Gesellschaft“ in der Phase, als sich der neue polnische Staat herausbildete. Dabei wich das Bild vom jüdischen Bolschewisten erheblich von dem überkommenen Bild des Juden ab. Dieser wurde nun als außergewöhnlich grausame, als ein nach Mord und nach der Vernichtung der gesamten christlichen Zivilisation strebende Bestie dargestellt. Gazeta Warszawska bediente sich in ihren Berichten einer in Schrecken versetzenden Anhäufung von Greueltaten, an deren Ende eine Kollektivhaftung eingefordert wurde: „Für diese Verbrechen ist das ganze jüdische Volk und der internationale Sozialismus verantwortlich“ (6.10.1922). 1922, nach dem Sieg des Faschismus in Italien, warfen die Mussolini bewundernden Nationaldemokraten den Faschisten vor, in der „Judenfrage“ keinen Standpunkt zu haben.57 Für Gazeta Warszawska war der „Faschismus 53 54 55 56
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Ebd., S. 126. Ebd., S. 127f. Blatman, Polish Anti-Semitism and „Judeo-Communism“, S. 26. Anna Landau-Czajka erklärt zur Herkunft dieser Überzeugung, die eine erhebliche Verschlechterung der polnisch-jüdischen Beziehungen bewirkte: „[…] nationalists did not differentiate between communists and Jews, working on the assumption that […] all communists were Jews or at least their dupes or paid agents. Thus there arose the popular expression ydokomuna […].“ Und sie fügt hinzu: „It is difficult to judge whether this standpoint came from real convictions or was just a propaganda device to encourage Polish distaste for Jews and communists alike […].“ Anna Landau-Czajka, „The Ubiquitous Enemy“. The Jew in the Political Thought of Radical Right-Wing Nationalists in Poland, 1926-1939, in: Polin 4, 1989, S. 169-203, hier S. 192. Kami ska-Szmaj, Judzi, zohydza, ze czci odziera, S. 174. Unterdessen warnten die Berichte des Italien-Korrespondenten d’Armili vor der „jüdischen Gefahr“, die Italien drohe.
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vor allem eine Reaktion des Volksgeistes gegen den internationalen Sozialismus und die Bolschewisierung“ (31.10.1922); dem Faschismus feindlich gegenüber stünden dagegen, wie der Kurier Pozna ski ergänzte, „die Ideen, die aus Freimaurer-, sozialistischen, kommunistischen und jüdischen Kreisen kommen“ (29.10.1922).58 Manche Publizisten waren bemüht, die Berechtigung ihres Feindbildes vom jüdischen Kommunisten mit Zahlen zu belegen. So wurde etwa eine Liste der bedeutendsten bol’ševikischen Führer mit ihren Geburtsnamen vorgelegt und anhand eines solchen „Beweises“ behauptet, daß nahezu alle Juden seien.59 Nach einer weit verbreiteten Verschwörungstheorie gab es einen jüdischen Plan, wonach die Zerstörung Rußlands der erste Schritt war bei dem Unterfangen, die abendländisch-christliche Zivilisation niederzureißen und eine jüdische Weltherrschaft zu gründen.60 Wincenty Lutosławski war der Auffassung, der gegen das Christentum gerichtete Haß der Bolschewisten gehe „hauptsächlich auf die Rasse ihrer Anführer zurück, die als Juden von ihren Ahnen den Haß auf Christus geerbt haben“.61 Der katholische Priester Ignacy Charszewski schrieb, daß die Juden, welche in Rußland die Revolution angeführt hätten, „ein Werkzeug des Satans sind in seinem Streben nach Errichtung eines Höllenreiches auf Erden.“62 Charszewski war damit in der römisch-katholischen Kirche Polens zwar ein extremer, aber in der Tendenz doch kein Einzelfall.63 Brian Porter hat zuletzt aufgrund einer auf publizistische Stellungnahmen gestützten Diskursanalyse einen sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts gewaltig verstärkenden polnischkatholischen Antisemitismus festgestellt. Die Entwicklung führte dazu, daß die katholische Kirche in Polen in ihrem Kampf gegen eine vermeintliche freimaurerisch-jüdisch-bol’ševikische Verschwörung die wichtigste Quelle von Vorurteilen und Feindseligkeiten war.64
Reaktionen auf die rechte Propaganda Das Leitmotiv vom jüdischen Bolschewisten trat im Diskurs des größten Teils der polnischen Presse auf. Die Mehrzahl der Zeitungen und Autoren, die sich 58 59 60 61 62 63
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Kami ska-Szmaj, Judzi, zohydza, ze czci odziera, S. 172. Antoni Szyma ski, Bolszewizm, Posen u.a. 1921, S. 49, 54. Kami ska-Szmaj, Judzi, zohydza, ze czci odziera, S. 145. Wincenty Lutosławski, Bolszewizm a Polska, Wilna 1920, S. 66, zit. nach: Kami ska-Szmaj, Judzi, zohydza, ze czci odziera, S. 146. Polska mi dzy Bogiem a szatanem, Włocławek 1922, S. 4, zit. nach: Kami ska-Szmaj, Judzi, zohydza, ze czci odziera, S. 146. Viktoria Pollmann, Untermieter im christlichen Haus. Die Kirche und die „jüdische Frage“ in Polen anhand der Bistumspresse der Metropolie Krakau 1926-1939, Wiesbaden 2001, S. 383ff. Brian Porter, Making a Space for Antisemitism: The Catholic Hierarchy and the Jews in the Early Twentieth Century, in: Polin 16, 2003, S. 415-430, hier S. 417.
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seinerzeit zum Bolschewismus äußerten, waren davon überzeugt, daß er eine jüdische Bewegung sei, daß die Juden dank ihrer großen Finanzmacht Rußland unter ihre Herrschaft gebracht hätten und das russische Volk unterdrückten.65 Die Konservativen hielten den „jüdischen Bolschewismus“ für eine bedrohlichere Variante des Kommunismus, wobei „der ‚Bund’ als Zuarbeiter dieser ‚sowjetisch-kosmopolitischen‘ Strömung“ galt. Auch der rechte Flügel der Bauernbewegung schuf – nach dem Muster der Nationaldemokraten – einen solchen Mythos vom „jüdischen Bolschewismus“. Das Blatt der Bauernpartei Piast erwähnte bereits am 11. November 1917 in einem Bericht aus Rußland, dort finde „ein Kampf um den Frieden statt. Sogenannte Bol’ševiki, das heißt verschiedene sozialistisch eingestellte Juden“, träten gegen die in der Februarrevolution an die Macht gelangte Regierung Kerenskij auf. „Diese unter der Bezeichnung ,Bol’ševiki‘ bekannten sozialistischen Juden“, fügte Piast hinzu, „hetzen zum Klassenkampf […].“66 1918/19 galten Bol’ševiki in der Presse als russische kommunistische Revolutionäre, „die mit Hilfe von Juden und Deutschen die Macht in Rußland übernommen hatten […]“.67 „Das überkommene, negative Stereotyp vom Juden“, resümiert Irena Kami ska-Szmaj, „diente unter den konkreten politischen Bedingungen als Instrument im politischen Kampf. Aus dem Bild vom Juden […] wurden jene Elemente ausgewählt, die für die Ziele der Überzeugungsarbeit geeignet waren. Die Beziehung zur jüdischen Gemeinschaft verwandelte sich in eine politische Angelegenheit, und sie zeigte gewissermaßen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten politischen Richtung an.“
Dabei diente das „Hervorrufen von Abneigung, ja sogar Hass auf die Fremden (obcych)“ dazu, den Zusammenhalt der eigenen Gruppe zu festigen, und insbesondere die rechten Parteien nutzten das Stereotyp vom Juden, „um das Verhalten von bestimmten sozialen Gruppen zu lenken […]“.68 Von den bedeutenden polnischen Parteien bekämpfte den Antisemitismus allein die Polnische Sozialistische Partei (PPS), die zugleich der wichtigste Gegner der Nationaldemokratie und – unter antirussischem Vorzeichen – antikommunistisch war.69 Überdies verurteilten sozialistische, kommunistische und linksliberale Veröffentlichungen die Endecja und ihre Propaganda, weil sie Antisemitismus, Faschismus, Klerikalismus verbreite und die Anwendung „bolschewistischer Methoden“ befürworte. Doch selbst Robotnik, das Organ der Polnischen Sozialistischen Partei, versuchte, den gegnerischen Politiker Stro ski mit antijüdischen Bildern lächerlich zu machen: „Er schreit, verrenkt 65 66 67 68 69
Kami ska-Szmaj, Judzi, zohydza, ze czci odziera, S. 146. Ebd., S. 149. Ebd., S. 152. Ebd., S. 121f. Zloch, Nationsbildung und Feinderklärung.
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sich das Kreuz, fuchtelt mit Armen und Händen und wiegt sich wie ein Jude im Bethaus“ (15.12.1922).70 Außerdem trat das Blatt dem Zionismus entgegen und stand für die Assimilation der jüdischen Bevölkerung ein. Es bekannte sich zur Integration der Minderheit in die Mehrheitsgesellschaft: „Wir wollen zwischen den jüdischen Arbeitern und der polnischen Kultur eine goldene Brücke der Eintracht errichten“ (12.3.1921).71
Die Verschärfung des polnisch-jüdischen Gegensatzes 1936-1939 In den 1920er Jahren sollte der sich in gewalttätigen Übergriffen äußernde Antisemitismus verschwinden.72 Doch blieb er infolge eines wachsenden polnischen Nationalismus latent.73 Mit der krisenhaften Zuspitzung wirtschaftlicher Schwierigkeiten in den 1930er Jahren ging erneut eine Radikalisierung des Antisemitismus einher. Zu den auswärtigen Einflüssen, die den inneren Konflikt verschärften, gehörte aber auch die antijüdische Politik in NS-Deutschland. Ende 1926, nach dem Mai-Umsturz Piłsudskis, gruppierten sich die radikaleren, überwiegend der jüngeren Generation angehörenden Aktivisten unter der Führung Dmowskis neu in einem außerparlamentarischen „Lager für ein Großes Polen“ (Obóz Wielkiej Polski, OWP). Den Platz des ZLN nahm 1928 das Stronnictwo Narodowe (Nationalpartei, SN) ein. In diese neue Partei traten die meisten OWP-Aktivisten ein, nachdem dieser 1933 von den Behörden aufgelöst worden war. Das Stronnictwo Narodowe, die wichtigste Kraft des sogenannten Nationalen Lagers, hatte vor dem Zweiten Weltkrieg 180.000 bis 200.000 Mitglieder und war damit die mitgliederstärkste Partei in Polen.74 Vor dem Zweiten Weltkrieg stand diese Rechte in Opposition zum regierenden 70 71 72
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Zit. nach: Kami ska-Szmaj, Judzi, zohydza, ze czci odziera, S. 35f. Zit. nach: Ebd., S. 120. Über diese Phase einer zeitweiligen politischen Beruhigung antisemitischer Bestrebungen in Polen siehe Paweł Korzec, Das Abkommen zwischen der Regierung Grabski und der jüdischen Parlamentsvertretung, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 20, 1972, S. 331366. Der Verfasser gelangt hier allerdings zu dem Schluß, daß Polens „politische Führer […] mit manischem Starrsinn eine Politik des politischen Druckes und der wirtschaftlichen und kulturellen Extermination der nationalen Minderheiten“ praktiziert hätten (S. 363). Władysław Grabski hatte im Juli 1920 immerhin eine Rada do Spraw ydowskich (Rat für Jüdische Angelegenheiten) ins Leben gerufen. Siehe auch Jerzy Tomaszewski, Władysław Grabski wobec kwestii ydowskiej, in: Biuletyn ydowskiego Instytutu Historycznego 1, 1992, S. 35-51. Mendelsohn, ydzi Europy rodkowo-Wschodniej w okresie mi dzywojennym, S. 71, 87. Antoni Dudek/Grzegorz Pytel, Bolesław Piasecki. Próba biografii politycznej, London 1990, S. 69; Szymon Rudnicki, Koncepcje niepodległego pa stwa polskiego w my li politycznej obozu narodowego, in: Mieczysław Tanty (Hg.), Wizje przyszłej Polski w my li politycznej lat I i II wojny wiatowej. Materiały z konferencji naukowej w Gda sku-Sobieszewie (pa dziernik 1989 r.), Warschau 1990, S. 145-165, S. 152.
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Sanacja-Regime. Dessen Politik wurde als zu gemäßigt und „national“ nicht entschieden genug erachtet. Vor allem im Hinblick auf die „Judenfrage“ übte die radikale Rechte zunehmend Druck aus, die ökonomische, soziale und politische Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung entschlossener zu betreiben. Die Rechte radikalisierte sich unter dem Einfluß von Faschismus und Nationalsozialismus. Eine Bewegung der Jungen (Ruch Młodych) organisierte im April 1934 als rechtsradikales Sammelbecken den Obóz Narodowo-Radykalny (Nationalradikales Lager, ONR).75 Der ONR verlangte u.a. eine „Polonisierung“ (unarodowienie) des Wirtschaftslebens durch eine Übertragung ausländischer und jüdischer Unternehmen an polnische Eigentümer und den Aufbau eines hierarchisch organisierten „Nationalstaates“ (pa stwo narodowe), und er verwarf die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung. Kurz nach seiner Gründung verboten, setzte der ONR seine Tätigkeit in der Illegalität fort. Die polnischen Nationalisten betonten unablässig die zwischen allen „Feinden Polens“ (angeblich) bestehenden Verbindungen. Symptomatisch dafür ist die Äußerung in Sztafeta, einem Blatt jener Nationalradikalen, vom 22. Oktober 1933: „Die Juden“ hätten den Sozialismus und den Kommunismus wie auch den Kapitalismus geschaffen – „also sind Kommunismus, Sozialismus und Kapitalismus Mittel, um die jüdische Herrschaft über die Welt zu erreichen“.76 In den 1930er Jahren griff in der Mehrheitsbevölkerung die Überzeugung um sich, daß die Interessen von Polen und Juden grundsätzlich im Widerstreit lägen und alles Unheil auf eine einzige Ursache – „die Juden“ – zurückgeführt werden könne.77 Sie fand nun nicht zuletzt in der Bauernschaft Verbreitung,78 deren Partei Stronnictwo Ludowe der „Judenfrage“ 1935 immerhin ein Zehntel ihres Programms widmete.79 Zunehmend wurde zwischen „den Unsrigen“ (swoi) und „den Fremden“ (obcy) unterschieden, wobei die Letzteren meist mit „den Juden“ identifiziert wurden. Eine breiter werdende Strömung innerhalb der polnischen Gesellschaft unterstützte Bemühungen, Juden aus ihren Positionen – besonders in Wirtschaft und Handel und im Kultur- und Bildungswesen – herauszudrängen. Der Klerus der römischkatholischen Kirche verbreitete unter den Gläubigen einen traditionellen
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Szymon Rudnicki, Obóz Narodowy-Radykalny. Geneza i działalno , Warschau 1985. Zit. nach: Chodakiewicz, ydzi i Polacy 1918-1955, S. 39 Mich, Obcy w polskim domu, S. 65f. Vgl. auch ders., Prawa ydów w my li politycznej polskiego ruchu konserwatywnego (1918-1939), in: Biuletyn ydowskiego Instytutu Historycznego 2/3, 1992, S. 141-168; Bohdan Halczak, Cele polityki endeckiej wobec mniejszo ci ydowskiej w Polsce w latach 1919-1939, in: Biuletyn ydowskiego Instytutu Historycznego 3/95-2/96, 1995/1996, S. 37-47. Vgl. Edward D. Wynot, The Polish Peasant Movement and the Jews, 1918-1939, in: Gutman (Hg.), The Jews of Poland between Two World Wars, S. 36-55. Holzer, Polish Political Parties and Antisemitism.
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Antijudaismus und verband diesen mit antiliberalen, antikommunistischen und kulturkritischen Standpunkten.80 Ein wachsender Teil der Mehrheitsbevölkerung begann, die Möglichkeit der Assimilation (d.h. vollständigen Polonisierung der Juden) zu verwerfen.81 So wurden selbst die Assimilierungswilligen in den Zwischenkriegsjahren seitens der polnischen Gesellschaft häufig nicht (mehr) als Teil der polnischen Nation anerkannt. Seit Mitte der 1930er Jahre nahm die Agitation zu, die den Ausschluß der als moralisch minderwertig erachteten jüdischen Bevölkerungsgruppe aus der Gesellschaft forderte.82 Ein mit unüberwindbaren „psychischen“ Gegensätzen begründeter Rassismus richtete sich laut Włodzimierz Mich in seiner polnischen Ausprägung, anders als der von den Nationalsozialisten propagierte, aber allein gegen Juden und Jüdischstämmige, das heißt nicht gegen andere Gegnergruppen. Behauptet wurde deren geistige Andersartigkeit, und der Grundsatz der polnischen Rechtsradikalen lautete: Ein Jude bleibt immer ein Jude.83 Juden wurden nun zunehmend als „antinationales“ Element − und nunmehr als Mitbürger auf Zeit angesehen. Verschiedene Initiativen zielten indessen auf einen minderen Rechtsstatus der jüdischen Bevölkerung ab. Große symbolische Bedeutung hatte die Auseinandersetzung um das von Teilen des Parlaments angestrebte Schächtverbot.84 Die Propaganda ging mit einem gewaltbereiten Antisemitismus einher, der nicht zuletzt von Teilen der jungen Intelligenz getragen wurde. Schon in der Gründungsphase des neuen polnischen Staates waren die rechten Zeitungen voll von Forderungen,85 „die Universitäten vor ihrer endgültigen Verjudung zu bewahren“, was beispielsweise von der Behauptung begleitet wurde, der Senat der Jagellonen-Universität in Krakau sei „seiner personellen Zusammensetzung und seinem intellektuellen Zuschnitt nach verjudet“ (Gazeta Warszawska, 2.10.1922). Terroristische Anschläge trafen 1923 im April den Krakauer Professor Władysław Natanson, im Mai starb an der Warschauer Universität Prof. Roman Orz cki durch einen Bombenanschlag.86 Bestimmte Fakultäten waren unterdessen Brutstätten des Antisemitismus, was unter
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Vgl. Pollmann, Untermieter im christlichen Haus; Ronald Modras, The Catholic Church and Antisemitism: Poland, 1933-1939, Chur u.a. 1994. Mich, Obcy w polskim domu, S. 66. Vgl. auch Landau-Czajka, Ubiquitous Enemy, S. 175ff. Siehe die Lokalstudien: Mieczysław Wojciechowski (Hg.), Mniejszo ci narodowe i wyznaniowe w województwie pomorskim w okresie mi dzywojennym (1920-1939), Thorn 1991; Zenon Hubert Nowak (Hg.), Emancypacja – asymilacja – antysemityzm. ydzi na Pomorzu w XIX i XX wieku, Thorn 1992, sowie Jan Sziling (Hg.), Gminy wyznaniowe ydowskie w województwie pomorskim w okresie mi dzywojennym (1920-1939), Thorn 1995. Mich, Obcy w polskim domu, S. 66. Siehe Szymon Rudnicki, Ritual Slaughter as a Political Issue, in: Polin 7, 1992, S. 147-160. Kami ska-Szmaj, Judzi, zohydza, ze czci odziera, S. 127. Ebd., S. 211.
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anderem zur Folge hatte, daß zahlreichen befähigten jüdisch(stämmig)en Wissenschaftlern eine Universitätskarriere in Polen vorenthalten wurde.87 Radikalisierte nationalistische Studentengruppen setzten ihren Ehrgeiz daran, jüdische Studenten durch tätliche Übergriffe und Schikanen aus den Hochschulen hinauszuekeln. Durch stete Störmanöver an polnischen Universitäten wurde ein antijüdischer numerus clausus durchgesetzt; in den Hörsälen mußten jüdische Studierende nur ihnen vorbehaltene Sitzplätze − sog. Ghetto-Bänke − auf der linken Seite einnehmen. Die Parteien der nationalistischen Rechten engagierten sich lautstark und z.T. gewaltsam für eine „Entjudung (od ydzenie)“ der polnischen Gesellschaft.88 Ihre Aktivisten praktizierten und propagierten den ökonomischen und teils auch gesellschaftlichen Boykott jüdischer Freiberufler, Handwerker, Händler und Ladenbesitzer. Mit Plakaten und Anschlägen wurde die Mehrheitsbevölkerung auf diskriminierende Losungen eingeschworen: „Der Pole kauft nur beim Polen (Polak kupuje tylko u Polaka)“, „Juden ins Ghetto ( ydzi do getta)“.89 Bewaffnete Stoßtrupps verliehen den Forderungen mit Überfällen auf jüdische Geschäfte und psychischem Terror Nachdruck. Ein Teil der nichtjüdischen Geschäfte ging dazu über, sich als solche zu kennzeichnen.90 Zwischen 1935 und 1937 kam es in verschiedenen Orten Polens wiederholt zu größeren judenfeindlichen Ausschreitungen, bei denen mindestens 14 Tote und etwa 2.000 Verletzte zu beklagen waren.91 Die Regierung verurteilte antijüdische Gewaltakte, begrüßte jedoch den handgreiflichen wirtschaftlichen Konkurrenzkampf, bei dem Polen zum Boykott jüdischer Läden aufriefen und deren Kunden belästigten. Gemäß einer Analyse von Äußerungen zur „Judenfrage“ im Sejm bedienten sich die polnischen Abgeordneten zwischen 1936 und 1938 einer sich radikalisierenden antijüdischen Rhetorik, der die wenigen jüdischen Mandatsträger nicht gegenzuhalten vermochten.92 Regierung und öffentliche Meinung waren sich über das Ziel, die Juden durch Auswanderung aus dem Land zu entfernen, weitgehend einig − wenngleich dafür international jegliche Basis fehlte. Differenzen gab es allenfalls noch über die Mittel und Wege.93 87 88 89 90 91
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Mendelsohn, ydzi Europy rodkowo-Wschodniej w okresie mi dzywojennym, S. 70. Siehe Friedrich, Juden und jüdisch-polnische Beziehungen, S. 555ff. Wacław Wierzbieniec, Społeczno ydowska Przemy la w latach 1918-1939, Rzeszów 1996. Mendelsohn, ydzi Europy rodkowo-Wschodniej, S. 111f. Vgl. die auf einer Auswertung polnischer Presse basierende Analyse von Jolanta yndul, Zaj cia anty ydowskie w Polsce w latach 1935-1937, Warschau 1994, S. 54f. Allerdings gehörte es seinerzeit zu den Hauptanliegen der Zensurbehörden „to prevent the reportage of internal disorder“. John M. Bates, Freedom of the Press in Inter-War Poland: The System of Control, in: Stachura (Hg.), Poland between the Wars, S. 87-108, hier S. 104. Siehe auch Piotr Gontarczyk, Pogrom? Zaj cia polsko- ydowskie w Przytyku 9 marca 1936 r. Mity, fakty, dokumenty, Biała Podlaska u.a. 2000. Anna Landau-Czajka, Zbigniew Landau, Posłowie polscy w sejmie 1935-1939 o kwestii ydowskiej, in: Rozdział wspólnej historii, S. 211-224. Mendelsohn, ydzi Europy rodkowo-Wschodniej w okresie mi dzywojennym, S. 109.
Von der ydokomuna zur Lösung einer „jüdischen Frage“ durch Auswanderung
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Bogusław Miedzi ski, Chefredakteur der Gazeta Polska und wichtigster publizistischer Vertreter des Sanacja-Regimes, veröffentlichte 1938 eine Broschüre mit seinen „Anmerkungen zur jüdischen Frage“94, als deren Anhang die Beschlüsse des Obersten Rates des regierenden Obóz Zjednoczenia Narodowego (Lager der Nationalen Einigung, OZN) propagiert wurden.95 Der Vizemarschall des Sejm, der 1938 zum Marschall der zweiten Parlamentskammer, des Senats, berufen wurde, stellte darin eine „Besonderheit der jüdischen Frage“ in Polen fest. Miedzi ski griff den antikommunistischen Glaubensgrundsatz auf, der da hieß, „ein kommunistisches Polen würde aufhören, Polen zu sein“, und verband ihn unmittelbar mit seiner Auffassung von der „jüdischen Frage“, indem er verkündete, es sei schwer vorstellbar, daß dieses Phänomen „unser Verhältnis zur jüdischen Frage nicht auch tief beeinflussen würde“. Seiner Überzeugung von der Wirkungsmächtigkeit einer ydokomuna verlieh er in zwei Behauptungen Ausdruck, wonach Aktionen der Kommunistischen Internationale in Polen zu 90 Prozent von Juden durchgeführt würden, während in Kommunisten-Prozessen in der Regel nur einer von zehn Angeklagten ein ethnischer Pole sei.96 Sein als alternativlos dargestelltes Verfahren für eine Regelung der „jüdischen Frage“ verkündete die Notwendigkeit, „eine jüdische Massenauswanderung aus Polen zu realisieren“. Leitmotiv dürfe dabei nicht Rassismus, sondern müsse das Streben nach „Einheitlichkeit (jednolito )“ auf nationaler Ebene sein.97 Die Gegner der Antisemiten befanden sich auf Seiten der politischen Linken98 und der schwachen liberal-demokratisch orientierten Kräfte. Die Linke und das kleine Häuflein der Kommunisten interpretierten den Antisemitismus als bloßes Störmanöver des Klassengegners, Ausdruck des Kapitalismus und einer chauvinistischen, minderheitenfeindlichen Politik, welche die Aufmerksamkeit der Gesellschaft von den für „die Massen“ wesentlichen Angelegenheiten ablenke.99 Infolge einer unablässigen antijüdischen Demagogie fühlte sich die jüdische Minderheit zunehmend bedroht. Manche Juden reagierten darauf, indem sie zu sozialistischen oder kommunistischen Parteien Zuflucht nahmen. Andere wirkten für die zionistische Bewegung und suchten einen Ausweg in der – von der britischen Mandatsmacht indes versperrten – Auswanderung der 94
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Bogusław Miedzi ski, Uwagi o sprawie ydowskiej. Wraz z uchwałami Rady Naczelnej OZN z dnia 21 maja 1938. Obóz Zjednoczenia Narodowego. Oddział propagandy, o. O. 1938. Siehe ebd., S. 34-38: Uchwały Rady Naczelnej O.Z.N. w kwestii ydowskiej; auch in: Sprawy Narodowo ciowe 12, 1938, S. 278f. Miedzi ski, Uwagi o sprawie ydowskiej, S. 14. Ebd., S. 24-33. Vgl. Abraham Brumberg, The Bund and the Polish Socialist Party in the Late 1930s, in: Gutman (Hg.), The Jews of Poland between Two World Wars, S. 75-94. Vgl. Brumberg, Bund, S. 83f., 88, 92f.; Moshe Mishkinsky, The Communist Party of Poland and the Jews, in: Gutman (Hg.), The Jews of Poland between Two World Wars, S. 56-74, bes. S. 69.
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Klaus-Peter Friedrich
polnischen Juden nach Palästina. Viele empfanden, sie würden wirtschaftlich und gesellschaftlich an den Rand gedrängt. Die Zahl der jüdischen Läden verringerte sich – besonders dort, wo ihr Übergewicht groß war –, ständig zugunsten nichtjüdischer Geschäftsinhaber.100 Jüngere bekamen das Gefühl, einer „Generation ohne Hoffnung“ anzugehören.101 Auch in der jüdischen Gemeinschaft brachte die Krise der 1930er Jahre daher eine politische Radikalisierung mit sich, die in einer Machtverschiebung Ausdruck fand. Die zionistischen Parteien wurden, abgesehen von den rechtszionistischen Revisionisten, geschwächt, während in Wahlen der „Bund“ zur stärksten Partei aufstieg. Er verdankte dies nicht zuletzt seinem entschiedenen Einsatz gegen den Antisemitismus und einem aktiven Widerstand gegen polnische Nationalisten.102
Schlußbetrachtung Das wiedererstandene Polen befand sich seit 1918 in einer besonderen Lage, da der als „fremd“ empfundene jüdische Bevölkerungsanteil groß und die militärische Bedrohung durch die Sowjetunion sehr real war. Beide Phänomene wurden von polnischen Antisemiten in Beziehung gesetzt: Bereits während des Ersten Weltkriegs waren „die Juden“ der Kollaboration mit den Besatzungsmächten bezichtigt worden. Ungleich heftiger wurde der Vorwurf – diesmal in bezug auf die Rote Armee – im Verlauf des Polnisch-sowjetischen Krieges 1919/20 wiederholt. In den ersten Jahren der Zweiten Polnischen Republik haben wir es mit einem ethnisch definierten Gegensatz zu tun, der von polnischer wie jüdischer Seite angenommen und als Konflikt ausgetragen wurde. Auf polnischer Seite äußerte sich dies in einer weitgehenden Ablehnung jüdischer Forderungen nach gesonderter politischer Repräsentation und kultureller Autonomie. Dies ging parallel mit einer diskursiven Instrumentalisierung des Antisemitismus, mit dessen Hilfe rechte Parteien emotional mobilisierten und ihre Anhängerschaft hinter sich scharten. Auf jüdischer Seite herrschte gegenüber dem neugegründeten Staat von Anfang an Mißtrauen vor. In der aufgewühlten politischen Atmosphäre der Gründungsjahre konnte es zu keinem beide Seiten befriedigenden Ausgleich kommen. Ethnische Konflikte in der Zweiten Polnischen Republik bezogen ihre Schärfe aus einem Geflecht von Überlegenheits- und Minderwertigkeitsgefühlen, das die Beziehungen zwischen den einzelnen Volksgruppen überlagerte. Antijüdische Vorurteile unter der Mehrheitsbevölkerung beruhten 100 101 102
Mendelsohn, ydzi Europy rodkowo-Wschodniej, S. 111f. Ebd., S. 112f. Ebd., S. 114. Siehe auch Robert Moses Shapiro, Jewish Self-Government in Poland: Łód , 1914-1939, phil. Diss. Columbia University, New York 1987 (1994 bei University Microfilms International, Ann Arbor, Mich.).
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überdies meist auf Unwissen. „The Jewish population was commonly regarded as a ’dark continent‘ backward and primitive, often evoking feelings of aversion and repugnance. The Poles automatically regarded themselves as superior“. So erinnert sich Rafael Scharf.103 In den 1930er Jahren waren Juden wie manch andere (soziale) Gruppen des Landes vom wirtschaftlichen Niedergang betroffen. Wie die Angehörigen aller nationalen Minderheiten waren sie von Stellungen im öffentlichen Dienst oder in staatlichen Betrieben weitgehend ausgeschlossen. Die durch eine Radikalisierung des Antisemitismus hervorgerufenen Veränderungen führte bis Ende der 1930er Jahre zu einem zunehmend vergifteten politischen Klima. Damit einher ging eine faktische soziale Diskriminierung und Ausgrenzung, wobei Polen jedoch keine ausgesprochen antijüdische Gesetzgebung kannte; auch hielt die Opposition gegen einen ideologischen Antisemitismus an. Im Gegensatz dazu stand die weiterhin zersplitterte Politik der polnischen Juden – gemessen an ihren hochfliegenden Plänen für eine Regelung des Zusammenlebens mit der Mehrheitsbevölkerung – vor einem Scherbenhaufen: Aus der Perspektive von 1939 vor dem Kriegsbeginn waren sowohl die Bemühungen um eine Kulturautonomie als auch der Palästina-Plan der Zionisten gescheitert. Auch waren kulturelle Anpassung und sozioökonomische Modernisierung weiter vorangeschritten, so daß die jüngeren Generationen weit mehr Gemeinsamkeiten mit den Gleichaltrigen unter der nichtjüdischen Bevölkerung aufwiesen, als dies 1918 der Fall gewesen war.104 So war die jüdische Minderheit Ende der 1930er Jahre um einige enttäuschende Erfahrungen reicher, während es an neuen Lösungsansätzen mangelte, aus der politischen Sackgasse hinauszugelangen.
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Rafael F. Scharf, What Shall We Tell Miriam, in: Polin 8, 1994, S. 290-298, hier S. 297. Mendelsohn, ydzi Europy rodkowo-Wschodniej, S. 121f.
„Polska dla Polaków“: Über den Antisemitismus in Polen in der Zwischenkriegszeit 1
ALBERT S. KOTOWSKI
Über den Forschungsstand Die Geschichte der Juden in Polen und des jüdisch-polnischen Verhältnisses im 19. und 20. Jahrhundert ist Gegenstand intensiver Forschungen, insbesondere in der polnischen Geschichtsschreibung der neuesten Zeit. Sie fand bereits Widerhall in einigen allgemeinen Darstellungen zur Geschichte der Ostjuden2 und der jüdisch-polnischen Beziehungen in der Neuzeit.3 Im Mittelpunkt stehen dabei das wirtschaftliche und soziale Leben der polnischen Judenheit, ihr kulturelles Erbe, die Vernichtung der polnischen Juden während des Zweiten Weltkrieges und das Schicksal der jüdischen Minderheit in Polen nach 1945.4 In Polen war das Thema „Antisemitismus“ in der Zeit der kommunistischen Herrschaft tabuisiert und aus der Öffentlichkeit entfernt. Seit 1945 vertraten sowohl die kommunistischen Machthaber als auch die katholische Kirche die Meinung, in Polen gäbe es keine Minderheiten, somit auch kein Minderheitenproblem – das politische Gespenst und der stete Unruheherd im Polen der Zwischenkriegszeit. Diese Auffassung hinderte zwar die Kommunisten nicht daran, 1967 und 1968 eine Jagd auf „Zionisten“ zu veranstalten, um mit antisemitischen Parolen eine Säuberung in der Partei durchzuführen sowie oppositionelle Intellektuelle zur Emigration zu zwingen, dennoch blieb das Thema der polnisch-jüdischen Beziehungen weiterhin ein Tabu. Auch die Historiker hielten sich weitgehend zurück mit der Behandlung 1
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„Polska dla Polaków“ (Der polnische Staat für die Polen). Dies war eine politische Parole des seit Beginn des 20. Jahrhunderts in allen drei Teilungsgebieten Polens anwachsenden polnischen Nationalismus, die auf eine der Hauptursachen des Antisemitismus in Polen hinweist. Dieselbe Parole war zugleich ein Aufruf der polnischen Antisemiten zum Kampf gegen die Juden im 1918 wiederentstandenen Polen. Heiko Haumann, Geschichte der Ostjuden, 5. Aufl., München 1999. Frank Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen 1881-1922. Eine Studie zur Geschichte des Antisemitismus in Osteuropa, Wiesbaden 1981; Celia S. Heller, On the Edge of Destruction. Jews of Poland between the Two World Wars, New York 1977; Emanuel Melzer, No Way Out. The Politics of Polish Jewry 1935-1939, Cincinnati 1997; Jerzy Tomaszewski, Zarys dziejów ydów w Polsce w latach 1918-1939, Warschau 1990. Ausführliche Literaturhinweise zu diesen Themen bei: Jerzy Tomaszewski (Hg.), Najnowsze dzieje ydów w Polsce w zarysie (do 1950 roku), Warschau 1993; Yfaat Weiss, Deutsche und polnische Juden vor dem Holocaust. Jüdische Identität zwischen Staatsbürgerschaft und Ethnizität 1933-1940, München 2000.
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dieser Frage, mit Ausnahme von wenigen Parteitreuen, die das offizielle Propagandabild der polnisch-jüdischen Beziehungen und des polnischen Einsatzes bei der Rettung der Juden während des Zweiten Weltkrieges verbreiteten. Im Jahre 1987 veröffentlichte der polnische Publizist und Literaturkritiker Jan Bło ski einen Artikel in der unabhängigen katholischen Wochenschrift Tygodnik Powszechny (Allgemeine Wochenzeitung) unter dem Titel: „Die armen Polen schauten auf das Ghetto“, in dem er den Polen eine moralische Verantwortung für den Völkermord an den Juden zuwies. Der Artikel löste eine rege und kontroverse Diskussion über das Verhalten der Polen während des Holocausts und über den polnischen Antisemitismus aus.5 Die Diskussion dauerte jedoch nicht lange und wurde durch den Fall des Kommunismus und die aktuellen politischen Fragen im nunmehr demokratischen Polen in den Hintergrund gedrängt. Erst das im Jahre 2000 veröffentlichte Buch des exilpolnischen Historikers Jerzy Gross „Nachbarn“ über den 1941 von Polen verübten Massenmord an der jüdischen Bevölkerung des ostpolnischen Ortes Jedwabne, führte zu einer nationalen Auseinandersetzung mit der Problematik des polnischen Antisemitismus.6 Diese Auseinandersetzung dauert an, sie ist emotionsgeladen auf beiden Seiten und wurde mehrfach für politische Zwecke ausgenutzt.7 Einen der Schwerpunkte in der bisherigen Forschung bilden die jüdische Minderheit und die jüdisch-polnischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit. Im Jahre 1997 veröffentlichte Klaus-Peter Friedrich einen ausführlichen Literaturbericht zu diesem Thema über die einschlägige polnische, westeuropäische und amerikanische Literatur ab Mitte der 1980er Jahre.8 Das besondere Interesse dieser Forschungen galt vor allem den sozialen und kulturellen Fragen, den antijüdischen Ausschreitungen in Polen nach dem 5 6
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Jan Bło ski, Biedni Polacy patrz na getto, in: Tygodnik Powszechny 87, 1987. Im Jahre 1994 veröffentlichte Bło ski ein Buch unter demselben Titel, Krakau 1994. Die deutsche Ausgabe: Jan Tomasz Gross, Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, München 2001. Allein in der Regierungszeitung Rzeczpospolita wurden in der Zeit von Mai 2000 bis Juli 2001 insgesamt 102 Polemiken veröffentlicht: http://www.rzeczpospolita. pl/Plasc/jedwabne. Siehe auch: Robert Jankowski, Jedwabne. Spór historyków wokół ksi ki Jana T. Grossa „S siedzi“, Warschau 2002. In den Jahren 2001 und 2002 führte das „Institut des Nationalen Gedenkens“ (Instytut Pami ci Narodowej), eine polnische Zentralbehörde, deren Aufgabe die Aufdeckung und Verfolgung von Verbrechen gegen die polnische Nation ist, eine komplexe Untersuchung des Falls Jedwabne durch. Die Ergebnisse wurden 2002 in zwei umfangreichen Bänden veröffentlicht: Paweł Machcewicz/Krzysztof Persak (Hg.), Wokół Jedwabnego, 2 Bde., Warschau 2002. Die Zusammenfassungen des Jedwabne-Diskurses: Frank Golczewski, Der Jedwabne-Diskurs. Bemerkungen im Anschluß an den Artikel von Bogdan Musiał, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 50, 2002, S. 412-437; Karol Sauerland, Polen und Juden zwischen 1939 und 1968. Jedwabne und die Folgen, Berlin/Wien 2004; Zbigniew Wilkiewicz, Jedwabne, der polnische Historikerstreit und der polnisch-jüdische Dialog, in: Aktuelle Ostinformation. Ereignisse und Entwicklungen 33, 2002, S. 57-85. Klaus-Peter Friedrich, Juden und jüdisch-polnische Beziehungen in der Zweiten Polnischen Republik (1918-1939). Neuere Literatur, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 46, 1997, S. 535-560.
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Ersten Weltkrieg sowie dem Zusammenleben von Juden und Polen in der Zweiten Polnischen Republik.9 Nach der politischen Wende zu Beginn der 1990er Jahre ist in Polen ein steigendes Interesse am Thema Antisemitismus zu verzeichnen. In einigen Sammelbänden und Einzelveröffentlichungen wird der polnische Antisemitismus angesprochen, aber kaum ausführlich dargestellt und analysiert. In einer 1990 im Selbstverlag der Universität Warschau vervielfältigten Arbeit über die Geschichte der polnischen Juden in der Zwischenkriegszeit, die drei Jahre später auch in einem Sammelband erschien, schilderte Jerzy Tomaszewski allgemein die Lage der jüdischen Minderheit und erwähnte den wirtschaftlichen Antisemitismus der polnischen Nationaldemokratie, ohne ihn eingehend zu analysieren. Er deutete auch auf die antijüdischen Maßnahmen der polnischen Regierung in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre hin.10 In den darauf folgenden Jahren erschienen Arbeiten, die sich mit der jüdischen Frage in Polen und mit den jüdisch-polnischen Beziehungen beschäftigten, in denen auch der Antisemitismus behandelt wurde.11 Zu derselben Problematik wurden auch Studien zur Regionalgeschichte publiziert.12 Mit der Frage der Judenfeindlichkeit im politischen Leben setzten sich Autoren auseinander, die sich mit der Tätigkeit der polnischen nationalistischen Parteien, vor allem der Nationalen Partei
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Die Ergänzung zu Friedrich über den neuesten Forschungsstand zur jüdischen Arbeiterbewegung in Polen bei Gertrud Pickhan, „Gegen den Strom“: Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund „Bund“ in Polen 1918-1939, Stuttgart/München 2001. Eine Übersicht über die Forschungen zur Geschichte der Juden in Polen in der Festschrift für Jerzy Tomaszewski: Jolanta yndul (Hg.), Rozdział wspólnej historii. Studia z dziejów ydów w Polsce ofiarowane profesorowi Janowi Tomaszewskiemu w siedemdziesi t rocznic urodzin, Warschau 2001. Eine aktuelle Übersicht über die polnisch- und fremdsprachige Literatur bei Katrin Steffen, Jüdische Polonität. Ethnizität und Nation im Spiegel der polnischsprachigen jüdischen Presse 1918-1939, Göttingen 2004 sowie bei Szymon Rudnicki, ydzi w parlamencie II Rzeczypospolitej, Warschau 2004. Tomaszewski, Zarys, 18, S. 143-172. Marek Jan Chodakiewicz, ydzi i Polacy 1918-1955. Współistnienie – zagłada – komunizm, Warschau 2000; Marian Fuks, ydzi w Polsce: dawniej i dzi , Pozna 2000; Stanisław Krajewski, ydzi, judaizm, Polska, Warschau 1997; Anna Landau-Czajka, W jednym stali domu... Koncepcje rozwi zania kwestii ydowskiej w publicystyce polskiej lat 1933-1939, Warschau 1998; Stefan Wysocki, ydzi w dziejach Polski, Warschau 1995. Grzegorz Berendt, ydzi na terenie Wolnego Miasta Gda ska w latach 1920-1945, Danzig 1997; Zdzisław Biega ski, Mniejszo ydowska w Bydgoszczy 1920-1939, Bromberg 1999; Wojciech Hawryluk, ydzi lubelscy, Lublin 1996; Maciej Łagiewski, Wrocławscy ydzi, Breslau 1994; Tomasz Łaszkiewicz, ydzi w Inowrocławiu w okresie mi dzywojennym (1919-1939), Inowrocław 1997; Barbara Łuszczewska, Opolscy ydzi, Oppeln 1998; Ryszard Michalski, Obraz yda i narodu ydowskiego na łamach polskiej prasy pomorskiej w latach 1920-1939, Thorn 1997; Zenon Hubert Nowak (Hg.), Emancypacja – asymilacja – antysemityzm. ydzi na Pomorzu w XIX i XX wieku, Thorn 1992; Jerzy Polak, ydzi w Bielsku Białej i okolicy, Bielsko 1996; Jan Przedpełski, ydzi płoccy, Płock 1993; Wiesław Pu , Liszewski Stanisław (Hg.), Dzieje ydów w Łodzi 1820-1944. Wybrane problemy, Łód 1991; Paweł Samu (Hg.), Polacy – Niemcy – ydzi w Łodzi w XIX-XX w., Łód 1997; Jerzy Topolski, ydzi w Wielkopolsce na przestrzeni dziejów, Posen 1995.
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(Stronnictwo Narodowe), befaßten.13 Am Beispiel der nationaldemokratischen Presse schildern sie vor allem die Umsetzung der antijüdischen Parolen und die antijüdischen Ausschreitungen. Zwei kleinere Beiträge über den Antisemitismus in Großpolen und in Pommerellen in der Zwischenkriegszeit beschäftigen sich im wesentlichen nur mit dem antijüdischen Programm der Nationaldemokratie.14 Die Auswirkungen des Antisemitismus auf die polnische Studentenbewegung in den 1930er Jahren behandelt die im Jahre 1999 veröffentlichte Magisterarbeit von Monika Natkowska.15 Eine kleine Schrift von Jolanta yndul ist den antijüdischen Ausschreitungen in Polen in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre gewidmet.16 Einer der Bereiche, der am wenigsten erforscht ist und noch lange Zeit nach dem Umbruch in Polen tabuisiert war, ist der Antisemitismus der katholischen Kirche in Polen in der Zwischenkriegszeit. Den Durchbruch schaffte das Institut des Franziskanerordens in Lodz, das 1997 ein Symposium zum Thema „Heiliger Maximilian Maria Kolbe – Juden – Freimaurer“ organisierte. Die Tagungsbeiträge wurden 1997 in einem in der polnischen Öffentlichkeit viel beachteten Sammelband veröffentlicht.17 Den Gegenstand der Referate bildeten hauptsächlich Fragen nach dem Bild der Juden in den Zeitschriften Rycerz Niepokalanej (Der Ritter der Unbefleckten) und Mały Dziennik (Das Kleine Tageblatt), die von Kolbe gegründet und bis 1939 geleitet wurden. Ferner wurde die Einstellung des 1999 von Papst Johannes Paul II. heiliggesprochenen Geistlichen zu Juden und Freimaurern sowie die Hilfe des Franziskanerordens für die Juden während des Zweiten Weltkrieges behandelt. Wie der Herausgeber betonte, ging es den Organisatoren hauptsächlich darum, die schwierigsten Fragen über die Einstellung der katholischen Kirche zu den polnischen Juden in der Zwischenkriegszeit zu erörtern und durch die erste Bestandsaufnahme eine kritische und konstruktive Diskussion anzuregen.18 Da diesem ersten Versuch keine weiteren Einzelstudien folgten, bleibt die Entwicklung der Forschung zu dieser Thematik abzuwarten. Eine Sammlung von Skizzen zur jüdischen Frage des katholischen Publizisten Michał 13
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Olaf Bergmann, Narodowa Demokracja wobec problematyki ydowskiej w latach 1918-1929, Posen 1998; Małgorzata Domagalska, Antysemityzm dla inteligencji? Kwestia ydowska w publicystyce Adolfa Nowaczy skiego na łamach „My li Narodowej“ (1921-1934) i „Prosto z Mostu“ (1935-1939) (na tle porównawczym), Warschau 2004; Mieczysław Sobczak, Stosunek Narodowej Demokracji do kwestii ydowskiej w Polsce w latach 1918-1939, Breslau 1998. Ireneusz Kowalski, Antysemityzm w Wielkopolsce w latach 1919-1939, Kronika Wielkopolski 3, 2001, S. 31-49; Mieczysław Wojciechowski, Antysemityzm na Pomorzu w okresie mi dzywojennym, in: Zenon Hubert Nowak (Hg.), Emancypacja – asymilacja – antysemityzm. ydzi na Pomorzu w XIX i XX wieku, Thorn 1992, S. 43-59. Monika Natkowska, Numerus clausus, getto ławkowe, Numerus nullus, „paragraf aryjski“. Antysemityzm na Uniwersytecie Warszawskim 1931-1939, Warschau 1999. Jolanta yndul, Zaj cia anty ydowskie w Polsce w latach 1935-1937, Warschau 1994. Stanisław C. Napiórkowski (Hg.), A bli niego swego... Materiały z sympozjum „ w. Maksymilian Maria Kolbe – ydzi – masoni“, Lublin 1997. Ebd., S. 8f.
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Horoszewicz bringt zwar interessante Einzelheiten zum polnischen Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit, basiert aber ausschließlich auf Sekundärliteratur.19 In der deutschen Forschung ist das Problem des polnischen Antisemitismus mit wenigen Ausnahmen bisher vernachlässigt worden. An dieser Stelle ist vor allem die 1981 publizierte Habilitationsschrift von Frank Golczewski zu erwähnen, die den polnisch-jüdischen Beziehungen in den Jahren 1881 bis 1922 gewidmet ist und sich u. a. mit dem Antisemitismus in den Anfangsjahren der Zweiten Polnischen Republik befaßt.20 Im Jahre 1982 veröffentlichte Dietrich Beyrau einen Aufsatz über den Antisemitismus und das Judentum in Polen in der Zwischenkriegszeit, der den damaligen Forschungsstand wiedergab und sich eigentlich auf die verschiedenen Lebensbereiche der jüdischen Minderheit konzentriert, ohne den polnischen Antisemitismus näher zu behandeln.21 Neben diesen beiden Autoren hat auch Daniel Gerson in einem Beitrag aus dem Jahre 1993 den polnischen Antisemitismus gestreift.22 Dieser Versuch wurde allerdings als mißlungen kritisiert, und die Arbeit nur mit Vorbehalt empfohlen.23 Gerson wurden vor allem nicht verifizierbare Behauptungen, pauschale und unscharfe bzw. nichtssagende Formulierungen, inhaltliche Widersprüche und Nichtberücksichtigung der umfangreichen Literatur vorgeworfen. Albert Kotowski schrieb über die Einstellung der polnischen Nationaldemokraten zur NS-Rassentheorie und zum Antisemitismus im Dritten Reich am Beispiel der nationaldemokratischen Presse und Publizistik.24 Das Thema des Antisemitismus der katholischen Kirche in Polen sprach Ute Caumanns in ihrer Doktorarbeit über die Geschichte der Jesuitenpresse in der Zweiten Polnischen Republik an, wobei ihr Blick nur auf die wenigen Autoren gerichtet war, die dem Jesuitenorden angehörten.25 Ein Beitrag über Maximilian Kolbe, seine Presse und den polnischen Antisemitismus, der 1998 von zwei deutschen Nachwuchswissenschaftlern vom Deutschen Historischen Institut Warschau in einer Festschrift publiziert wurde, brachte keine neuen
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Michał Horoszewicz, Przez dwa millenia do rzymskiej synagogi. Szkice o ewolucji postawy Ko cioła katolickiego wobec ydów i judaizmu, Warschau 2001. Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen. Dietrich Beyrau, Antisemitismus und Judentum in Polen 1918-1939, in: Geschichte und Gesellschaft 8, 1982, S. 205-232. Daniel Gerson, Deutsche und Juden in Polen 1918-1939, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2, 1993, S. 62-92. Scharfe Kritik übte Klaus-Peter Friedrich in seinem Literaturbericht: Friedrich, Juden, S. 550, Anm. 55. Albert S. Kotowski, Hitlers Bewegung im Urteil der polnischen Nationaldemokratie, Wiesbaden 2000. Ute Caumanns, Die polnischen Jesuiten, der Przegl d Powszechny und der politische Katholizismus in der Zweiten Republik. Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Presse Polens zwischen den Weltkriegen (1918-1939), Dortmund 1996.
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Albert S. Kotowski
Erkenntnisse,26 ebensowenig wie ein Tagungsbeitrag eines Freiburger Doktoranden.27 Besondere Beachtung verdient hingegen die 2001 veröffentlichte Doktorarbeit von Viktoria Pollmann über die Einstellung der katholischen Kirche zur jüdischen Frage in Polen in den Jahren 1926 bis1939.28 Am Beispiel der Bistumspresse des Erzbistums Krakau versuchte die Autorin die jüdische Frage in ihrer Komplexität darzustellen und sie nicht nur auf den katholischen Antisemitismus selbst zu beschränken, was ihr schließlich nicht ganz gelang. In der englischsprachigen Literatur sind drei Beiträge zu berücksichtigen, die sich mit der Frage des polnischen Antisemitismus beschäftigen, und zwar aus israelischer und aus exilpolnischer Sicht.29 Darüber hinaus hat Edward D. Wynot eine Studie über den Antisemitismus der polnischen Regierung in den letzten Vorkriegsjahren veröffentlicht.30 Die beiden letztgenannten Aufsätze sind allerdings vor über dreißig Jahren geschrieben und spiegeln den damaligen Forschungsstand wider. In den bisherigen Forschungen zum Thema Antisemitismus in Polen gibt es zwei unterschiedliche Positionen, die deutlich eine subjektiv gefärbte und partiell einseitige Auffassung vertreten. Dies bezieht sich vor allem auf die Ursachen und den Charakter der antisemitischen Stimmung und der antijüdischen Ausschreitungen in Polen in den 1930er Jahren. Jüdische Autoren sehen die Ursachen der Verschärfung der polnisch-jüdischen Konflikte jener Zeit im Einfluß des Nationalsozialismus und der Judenverfolgung im Dritten Reich auf die Einstellung der polnischen Parteien, insbesondere der oppositionellen Nationaldemokratie und der polnischen Gesellschaft zu ihren jüdischen Mitbürgern.31 In diesem Zusammenhang wurde betont, daß dieser Themenkomplex noch nicht eingehend erforscht sei.32 Ezra Mendelsohn, der 26
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Ute Caumanns/Mathias Niendorf, Von Kolbe bis Kielce. Ein Heiliger, seine Presse und die Geschichte eines Pogroms, in: Hans-Jürgen Bömelburg/Beate Eschment (Hg.), „Der Fremde im Dorf“. Überlegungen zum Eigenen und zum Fremden in der Geschichte. Rex Rexheuser zum 65. Geburtstag, Lüneburg 1998, S. 169-194. Arkadiusz Andrzej Stempin, Maximilian Kolbe – Ein Heiliger gegen die Juden?, in: Kirchliche Zeitgeschichte 1, 2002, S. 218-237. Viktoria Pollmann, Untermieter im christlichen Haus. Die Kirche und die ‚jüdische Frage’ in Polen anhand der Bistumspresse der Metropolie Krakau 1926-1939,Wiesbaden 2001. Es handelt sich um zwei Aufsätze im Sammelband: Yisrael Gutman/Ezra Mendelsohn u.a. (Hg.), The Jews of Poland between Two World Wars, Hannover/London 1989. Die Autoren sind Yisrael Gutman, Polish Antisemitism between the Wars: An Overview, S. 97-108 sowie Emanuel Melzer, Antisemitism in the Last Years of the Second Polish Republic, S. 126-137. Ferner wird auf den Beitrag eines polnischen Exilhistorikers verwiesen: Paweł Korzec, Antisemitism in Poland as an Intellectual, Social and Political Movement, in: Joshua A. Fishman (Hg.), Studies on Polish Jewry 1919-1939, New York 1974, S. 12-104. Edward D. Wynot, „A Necessary Cruelty“. The Emergence of Official Anti-Semitism in Poland, 1936-1939, in: American Historical Review 76, 1971, S. 1035-1058, erweitert in: Polish Politics in Transition. The Camp of National Unity and the Struggle for Power 19351939, Athens/Ga. 1974. Hier vor allem Heller, On the Edge of Destruction und Melzer, No Way Out. Gutman, Polish Antisemitism, S. 106.
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in seinem Literaturbericht von einem „jüdischen“ und einem „polnischen Lager“ in der Historiographie schreibt, kritisiert diese These vom „Import des Antisemitismus“ nach Polen und weist auf die innenpolitischen Zusammenhänge, besonders im politischen Programm der Nationaldemokraten, hin. Er nennt die nationalsozialistische Judenpolitik und die wirtschaftliche Krise in Polen als Hauptfaktoren der polnischen Judenfeindschaft. Polnischen Historikern wirft er vor, sie wollten nicht eingestehen, daß Polen ein antisemitisches Land gewesen sei, um den polnischen Opfermythos nicht zu dekonstruieren.33 Eine andere Position nehmen die polnischen Autoren ein. Auf die einseitige Auffassung der polnischen Historiographie in der Antisemitismusfrage wies Frank Golczewski bereits in seiner Habilitationsschrift zu Beginn der 1980er Jahre hin, wobei die Kritik tiefgehender und umfassender war als diejenige von Mendelsohn. Golczewski kritisierte vor allem die verharmlosende und verzerrende Darstellung in der polnischen Geschichtsschreibung.34 Er betont den Zusammenhang des polnischen modernen Antisemitismus mit der Bildung einer modernen Nation und seine Funktion für die Konsolidierung des wiedererrichteten polnischen Staates. Auch in den neuesten polnischen Arbeiten, insbesondere zur Geschichte der polnischen politischen Ideen wurde der nationale Aspekt deutlich. Der Antisemitismus wurde traditionell vor allem den Nationaldemokraten zugerechnet und aus deren Perspektive betrachtet. Die Vereinfachung dieses Problems, so Golczewski, besteht grundsätzlich darin, daß man die Meinungen Roman Dmowskis und seiner Epigonen als repräsentativ für das Phänomen des polnischen Antisemitismus betrachtet. Die jüngeren Autoren folgten damit weitgehend der Interpretation von Roman Wapi ski, der als ein Kenner der Geschichte der Nationalen Partei gilt35. Klischeehafte Aussagen der führenden Nationaldemokraten, reflektiert auf die politische Realität, führten zur Entschärfung und Verharmlosung der Judenfeindschaft in Polen. So machten die Autoren – um nur ein Beispiel zu nennen – indirekt die Juden selbst für die Pogrome am Ende des Ersten Weltkrieges und für die antisemitischen Reaktionen der Nationaldemokraten verantwortlich, indem sie die Schuld für die Verschärfung der antijüdischen Stimmung allein der Argumentation Roman Dmowskis von der internationalen jüdischen Ver-
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Ezra Mendelsohn, Interwar Poland: Good for the Jews or Bad for the Jews? in: Abramsky/ Jachimczyk/Polonsky (Hg.), The Jews in Poland, S. 136ff. Nach Friedrich, Juden, S. 539. Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, S. 6ff. Roman Wapi ski, Narodowa Demokracja 1893-1939. Ze studiów nad dziejami my li nacjonalistycznej, Wrocław u.a. 1980; ders., Roman Dmowski, Lublin 1988. Von den jüngeren Historikern vor allem Piotr Gontarczyk, Pogrom? Zaj cia polsko- ydowskie w Przytyku 9 marca 1936 r. Mity, fakty, dokumenty, Biała Podlaska 2000; Krzysztof Kawalec, Narodowa Demokracja wobec faszyzmu 1922-1939. Ze studiów nad dziejami my li politycznej obozu narodowego, Warschau 1989; ders., Roman Dmowski, Warschau 1996.
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schwörung gegen den wiedergeborenen polnischen Staat zuschrieben.36 Ähnlich wurde die nationaldemokratische Theorie von der Zusammenarbeit von Juden und Kommunisten interpretiert. Der Antisemitismus des Nationalen Lagers wurde ferner als eine Reaktion auf den anwachsenden Zionismus in Polen gewertet.37 Die Hauptursache der antijüdischen Ausschreitungen in den 1930er Jahren sieht die bisherige Forschung in der Verelendung der polnischen Bevölkerung infolge der Weltwirtschaftskrise. Solcherart wird der polnisch-jüdische Konflikt als wirtschaftlicher Konkurrenzkampf gedeutet.38 Der Einfluß des Nationalsozialismus, insbesondere der NS-Rassentheorie, wird demgegenüber als eher gering eingestuft.39 Darauf, daß der polnische Antisemitismus komplexer ist, rassistische Elemente beinhaltet und nicht nur auf die Nationaldemokratie zu beschränken ist, haben Włodzimierz Mich und Michał liwa in ihren Arbeiten zwar hingewiesen, versäumten es aber, diese Thematik zu vertiefen.40 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß es trotz einer intensiven Forschung über die Juden und die „jüdische Frage“ im Polen der Zwischenkriegszeit deutliche Forschungslücken gibt. Unberücksicht bleiben bisher die Fragen nach dem Stellenwert und der Rolle des Antisemitismus im polnischen innenpolitischen Diskurs, der Funktionalisierung des Antisemitismus in der Innenpolitik, seiner Rezeption bzw. Ablehnung durch die Parteien und verschiedene Gesellschaftsschichten, schließlich auch nach der Reaktion der Betroffenen, d. h. der Juden selbst. Weitgehend unerforscht ist darüber hinaus die Wahrnehmung des NS-Antisemitismus in Polen sowie die Beurteilung der Judenfeindschaft und der „jüdischen Frage“ in Polen durch die Nationalsozialisten im Dritten Reich.
Über die Formen des Antisemitismus in Polen in der Zwischenkriegszeit Der Antisemitismus in Polen in der Zwischenkriegszeit war eine Mischung von judenfeindlichen Strömungen aus Mittel- und Osteuropa, sicherlich hatte er auch Eigenschaften, die durch die historische Entwicklung des polnischjüdischen Verhältnisses bestimmt waren. Seit den 1870er Jahren nahm der in 36 37 38
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Roman Wapi ski, Polska i małe ojczyzny Polaków. Z dziejów kształtowania si wiadomo ci narodowej w XIX i XX wieku po wybuch II wojny wiatowej, Breslau u.a. 1994, S. 361-364. Roman Wapi ski, Historia polskiej my li politycznej XIX i XX wieku, Danzig 1997, S. 192ff. Krzysztof Kawalec wiederholt in seinem neuesten Buch die Argumentation von Wapi ski: Krzysztof Kawalec, Spadkobiercy niepokornych. Dzieje polskiej my li politycznej 19181939, Breslau u.a. 2000, S. 224f. Kawalec, Narodowa Demokracja, S. 179. Włodzimierz Mich, Obcy w polskim domu. Nacjonalistyczne koncepcje rozwi zania problemu mniejszo ci narodowych 1918-1939, Lublin 1994; Michał liwa, Obcy czy swoi. Z dziejów pogl dów na kwesti ydowsk w Polsce w XIX i XX wieku, Krakau 1997; Ders., Polska my l polityczna w I połowie XX wieku, Breslau 1993.
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ganz Europa verbreitete traditionelle Judenhaß, der in religiösen und sozialen Antagonismen wurzelte, den Charakter des politischen Antisemitismus an. In Deutschland und in der Habsburgermonarchie entwickelte sich eine radikalere und langfristig gefährlichere Richtung eines nationalistischen, rassistischen und pangermanischen Antisemitismus. In Osteuropa bildete der Nationalismus die Grundlage für den – insbesondere im vorrevolutionären Rußland – staatlich unterstützten offiziellen Antisemitismus. Mit dem Erscheinen der infamen „Protokolle der Weisen von Zion“ im Jahre 1905 entstand der Mythos von einer jüdischen „Weltverschwörung“ mit dem Ziel der Weltherrschaft des Judentums. In der Ukraine und in Litauen wurden die Juden als Träger der „Russifizierung“, in Österreich-Ungarn von der slavischen Bevölkerung als Träger der „Germanisierung“ oder „Magyarisierung“, im geteilten Polen der „Germanisierung“ oder der „Russifizierung“ verunglimpft. Die staatliche Unabhängigkeit fiel in Polen, Rumänien und Ungarn mit Pogromen zusammen. In allen diesen Ländern und in Litauen wurde in den 1930er Jahren eine antijüdische Gesetzgebung verabschiedet, zumeist noch vor der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland. Selbst in der Tschechoslowakei, wo bis zur Mitte der 1930er Jahre die Nationalitätenkonflikte völlig in den Hintergrund getreten waren, konnten antijüdische Ausschreitungen unter Tschechen, Slowaken und Sudetendeutschen nicht verhindert werden.41 Die polnische Bevölkerung in allen drei Teilungsgebieten strebte nach der Wiederherstellung eines polnischen Staates, und zwar eines Nationalstaates, eines „Polen für die Polen“, in dem die polnische Nation als Souverän die Alleinherrschaft besitzen würde. Aber die 1918 ausgerufene Republik Polen, deren Grenze im Versailler Friedensvertrag festgelegt wurde, war ein Vielvölkerstaat, in dem über 30% der Bevölkerung einer der nationalen Minderheiten angehörte. Von allen Minderheiten waren es die Juden, die der Gründung eines polnischen Nationalstaates mißtrauisch entgegensahen. Grund dafür gab ihnen der insbesondere in den östlichen Gebieten Polens anwachsende Antisemitismus, dessen Folge eine Reihe von Judenpogromen mit zahlreichen Todesopfern war, die in den Jahren 1918 und 1919 u. a. in Lemberg, Pi sk und Tschenstochau stattfanden.42 Die Judenpogrome und der Druck der jüdischen internationalen Organisationen veranlaßten die Teilnehmer der Pariser Konferenz, den in Polen lebenden Minderheiten einen besonderen Minderheitenschutz zu gewähren, den die polnische Regierung zusammen mit dem Friedensvertrag unterschreiben mußte. Im Jahre 1939 lebten in Polen über 3,4 Mio. Juden; sie bildeten einen Anteil von etwa 10% der Gesamtbevölkerung und waren die zweitgrößte 41
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Robert Wistrich, Antisemitismus im 20. Jahrhundert. Ein Überblick, in: Peter Bettelheim/Silvia Prohinig/Robert Streibel (Hg.), Antisemitismus in Osteuropa. Aspekte einer historischen Kontinuität, Wien 1992, S. 17-20. Jerzy Tomaszewski, Rzeczpospolita wielu narodów, Warschau 1985, S. 144ff.
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Minderheitengruppe. Etwa 80% von ihnen wohnte in den Städten, nur 20% auf dem Lande, überwiegend in den östlichen Wojewodschaften. Ein Viertel der jüdischen Bevölkerung wohnte in den Städten Warschau, Lodz, Wilna, Krakau und Lemberg.43 Die ersten antijüdischen Parolen verkündete Roman Dmowski, Gründer der polnischen Nationalen Partei, ihr führender Ideologe und Schöpfer des polnischen Nationalismus, bereits im Jahre 1912.44 Die Nationaldemokraten betonten später mit Stolz, die damals von Dmowski begonnene antijüdische Propaganda sei eine der ersten antisemitischen Aktionen in der Welt gewesen.45 In den darauf folgenden Jahren formulierte Dmowski das Programm des polnischen Antisemitismus in vielen Publikationen, die in zwei Büchern „Die Nachkriegswelt und Polen“ (1931) und „Umbruch“ (1934) zusammengefaßt wurden.46 Seine Meinungen zur jüdischen Frage übten einen entscheidenden Einfluß auf die Mitglieder und Anhänger des sogenannten Nationalen Lagers aus, dem die meisten nationalistischen Gruppierungen und Parteien angehörten. Dmowski stammte aus dem russischen Gebiet des geteilten Polens, in dem die Beziehungen zwischen der polnischen und jüdischen Bevölkerung eine wichtige Rolle spielten. Um die Wende zum 20. Jahrhundert wurde das Königreich Polen zum Schauplatz eines heranwachsenden Konfliktes, hauptsächlich im wirtschaftlichen Bereich, zwischen dem polnischen städtischen Bürgertum und der jüdischen Bevölkerung.47 Die Grundlage des Antisemitismus des Nationalen Lagers bildete die Überzeugung von der angeblichen wirtschaftlichen Expansion der jüdischen Bevölkerung, die die Polen von ihren Arbeitsplätzen verdrängen sowie die Entwicklung des nationalpolnischen Bürgertums verhindern oder erheblich erschweren würde. Der katholische Mały Dziennik nannte für das Jahr 1936 für den Anteil der Juden in verschiedenen Berufszweigen folgende Zahlen: 62% der Handwerker, 74% der selbständigen Kaufleute, 58% der Ärzte und 61% der Rechtsanwälte.48 Unter Berufung auf diese Angaben forderten die Nationaldemokraten die „Polonisierung“ der freien Berufe und kündeten den „Kampf um polnischen Handel und Gewerbe“ an, dem massive Boykottaktionen gegen die jüdischen Geschäfte in den Jahren 1936 bis 1939 folgten. Der Boykott nahm unterschiedliche Formen an, z. B. Wachtposten vor jü43 44 45 46 47
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Szyja Bronsztejn, Ludno ydowska w Polsce w okresie mi dzywojennym. Studium statystyczne, Breslau u.a. 1963, S. 112-119; Tomaszewski, Zarys, S. 10f. Karol Wierczak, Wierzy i walczy , Warschau o. J., S. 5. J drzej Giertych, O wyj cie z kryzysu, Warschau 1938, S. 120f. Roman Dmowski, wiat powojenny i Polska, Warschau 1931, S. 319ff; Ders., Przewrót, Warschau 1934, S. 229ff. Roman Wapi ski, Z dziejów tendencji nacjonalistycznych. O stanowisku Narodowej Demokracji wobec kwestii narodowej w latach 1893-1939, in: Kwartalnik Historyczny 80, Nr. 4, 1973, S. 817-844, hier S. 825. Ewa Bana -Zadoro ny, Problematyka ydowska i maso ska na łamach „Małego Dziennika“, in: Napiórkowski, A bli niego, S. 77f.
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dischen Geschäften und Veröffentlichung der Namen von Polen, die bei Juden kauften. Im Rahmen der Boykottaktion veröffentlichte die Presse Listen polnischer Firmen, bei denen die Polen ausschließlich kaufen sollten.49 Bereits seit Anfang der 1920er Jahre forderte die Nationale Partei eine Verdrängung der Juden aus Polen durch Emigration. Diesen Vorschlag soll als erster ein katholischer Priester, Kazimierz Lutosławski, unterbreitet haben.50 Die katholische Geistlichkeit spielte vor allem in den dreißiger Jahren eine wichtige Rolle bei der Gestaltung des nationaldemokratischen Programms in der jüdischen Frage. Die antijüdische Propaganda des Nationalen Lagers nahm immer mehr an Intensität zu und eskalierte in vielen Zwischenfällen und Ausschreitungen gegen die jüdischen Mitbürger. Die Ursache dafür lag vor allem in der Radikalisierung der jungen Generation, die die Mißerfolge der alten Parteiführung im politischen Machtkampf gegen das Regierungslager sowie deren Untätigkeit und Liberalismus heftig kritisierte. Die geheimen „Politischen Informationsberichte des polnischen Innenministeriums“ enthalten eine Fülle von Angaben über die antijüdischen Aktionen und Maßnahmen der Nationaldemokraten. Im Mai 1932 wurde u. a. über die Bildung eines speziellen „Judenreferats“ beim Zentralbüro der Allpolnischen Jugend in Warschau berichtet, dessen Aufgabe die Koordinierung der antijüdischen Aktionen von jugendlichen Anhängern des Nationalen Lagers war.51 In den Polizeiberichten im Sommer und Herbst 1933 wurde auf die Verschärfung der nationaldemokratischen antijüdischen Aktionen hingewiesen, was mit der Radikalisierung der polnischen Nationaldemokratie nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland begründet wurde.52 Es wurden auch Äußerungen von Mitgliedern der nationaldemokratischen Jugendorganisationen zitiert, die auf eine Nachahmung der nationalsozialistischen Kampfmethoden hinwiesen.53 Die Nationaldemokraten hätten Arbeitslose und sogar Verbrecher zur Durchführung von Boykottmaßnahmen und Überfällen auf Juden angeworben.54 Die antijüdische Stimmung innerhalb der polnischen Gesellschaft wurde durch die Ereignisse in der damaligen Studentenbewegung bestärkt. Im Laufe des Jahres 1931 kam es an den meisten polnischen Hochschulen zu anti49 50
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Biega ski, Mniejszo , S. 122-128. Ewa Maj, Mniejszo ci narodowe w my li politycznej Narodowej Demokracji (1918-1939), in: Jan Jachymek (Hg.), Mniejszo ci narodowe w polskiej my li politycznej XX wieku, Lublin 1992. Archiwum Akt Nowych w Warszawie, Akta Ministerstwa Spraw Wewn trznych (Archiv der Neuen Akten Warschau. Akten des Innenministeriums – AAN, MSW), Nr. 850, Politischer Informationsbericht des Innenministeriums Nr. 6, 1.-31.5.1932. Zum Beispiel: AAN, MSW, Nr. 851, Politische Informationsberichte des Innenministeriums Nr. 5, 1.-30.4.1933, Nr. 7, 1.-30.6.1933. AAN, MSW, Nr. 856, Quartalsbericht des Innenministeriums über die Tätigkeit der polnischen legalen Organisationen und Vereine, 1.4.-30.6.1933. AAN, MSW, Nr. 851, Politischer Informationsbericht des Innenministeriums Nr. 9, 1.31.8.1933.
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jüdischen Ausschreitungen. Sie wurden durch die sich rasch nach rechts radikalisierenden Aktivisten nationaldemokratischer Studentenorganisationen, der Allpolnischen Jugend und der Akademischen Abteilung des Lagers des Großen Polens, die zu dieser Zeit als Massenorganisationen eine bedeutende Rolle spielten, verursacht. Bereits in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre stellten beide Organisationen die Forderung nach einem numerus clausus für Juden bei der Zulassung zum Universitätsstudium, was jedoch damals durch das zuständige Ministerium verhindert wurde. Im November 1931 wurde während der antijüdischen Ausschreitungen an der Universität Wilna ein polnischer Student, Stanisław Wacławski, durch Mitglieder einer jüdischen Selbstschutzorganisation getötet. Die Ereignisse gaben einem Publizisten der Zeitschrift My l Narodowa Anlaß, die Einführung des numerus nullus für jüdische Studenten an polnischen Hochschulen vorzuschlagen.55 In den Jahren 1932 bis 1939 ging durch Polen eine Welle von antijüdischen Demonstrationen und Ausschreitungen, die durch die Nationale Partei geschürt wurden. Manche Autoren weisen zu Recht auf einen Zusammenhang zwischen der Machtübernahme und der darauf folgenden Diskriminierung der Juden im Dritten Reich hin. Die Universitäten in Warschau, Krakau, Lemberg und Wilna wurden zu Schauplätzen erbitterter Auseinandersetzungen zwischen den nationaldemokratischen sowie den sozialistischen und jüdischen Studentenorganisationen um die Einführung eines numerus clausus und eines Sitzbankghettos in den Hörsälen, was einen erheblichen Rückgang der Anzahl jüdischer Studenten zur Folge hatte. Die Mehrheit der Aktivisten aus den nationalistisch gesinnten studentischen Organisationen bildete später die Elite der Splittergruppen, die sich nach 1934 von der Nationalen Partei trennten und verschiedene rechtsradikale Gruppierungen und Parteien gründeten.56 Ein Teil der polnischen Professoren unterstützte die antijüdischen Ausschreitungen ihrer Studenten, insbesondere diejenigen, die der Nationalen Partei nahestanden.57 Die meisten verhielten sich passiv, nur wenige Professoren und akademische Lehrer zeigten Zivilcourage und verfaßten Proteste an das Ministerium für Religiöse Konfessionen und Volksaufklärung bzw. erhoben ihre Stimme öffentlich in der Presse und in Versammlungen. Im März 1934 wurde einer der bekanntesten polnischen Historiker jüdischer Abstammung, Prof. Marceli Handelsmann, von polnischen Studenten überfallen und schwer mißhandelt, weil er als Betreuer des Historikerzirkels an der Warschauer Universität die Abschaffung des „Arierparagraphen“ dort durchgesetzt hatte. Die Geschichts- und Jurastudenten der Warschauer Universität waren die Vorkämpfer des „Arierparagraphen“, der in den Historiker- und Juristenzirkeln bereits im Jahre 1922 eingeführt und durch die Uni55 56 57
Wapi ski, Z dziejów, S. 840f. Ausführlich darüber Szymon Rudnicki, Rozbicie ruchu młodzie owego „Obozu Narodowego“, in: Dzieje Najnowsze 1, 1977, S. 23-46. AAN, MSW, Nr. 856, Quartalsbericht des Innenministeriums vom 1.10.- 31.12.1933.
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versitätsbehörden geduldet wurde. Einen besonders starken Druck auf die Einführung des numerus clausus und des Sitzbankghettos gab es in den Fächern Medizin und Rechtswissenschaft. Die jüdischen Studenten wurden – meistens unter Anwendung von Gewalt – gezwungen, in den Hörsälen die Bänke auf der linken Seite einzunehmen, die rechte Seite war für die Polen reserviert. Einige der antijüdischen Einschränkungen nahmen geradezu groteske Formen an: Im Wintersemester 1934/35 wurden die jüdischen Medizinstudenten in Warschau zu den anatomischen Übungen nicht zugelassen, weil es angeblich zu wenig jüdische Leichen für wissenschaftliche Zwecke gab, die polnischen Studenten verlangten aber, daß sich die jüdischen Kommilitonen nicht mit polnischen Leichen beschäftigten.58 Die antijüdischen Ausschreitungen an den Universitäten hielten bis zum Wintersemester 1938/39 an und führten zur offiziellen Einführung des „Sitzbankghettos“ durch die Rektoren der polnischen Universitäten in Warschau, Wilna, Krakau und Lemberg. Die Einführung des numerus clausus wurde zwar öffentlich bestritten, bei den Einschreibungen für die neuen Studenten aber allgemein praktiziert. Die Studentenunruhen, aber auch die Entwicklung im Dritten Reich sowie die Kündigung des Minderheitenschutzvertrages durch Polen trugen zur Verschärfung der Kampfmethoden und zur Radikalisierung des Antisemitismus bei. Nach einem Polizeibericht vom Februar 1934 soll während einer Versammlung der Nationalen Partei in Lemberg über die Einführung des „Arierparagraphen“ abgestimmt worden sein, wonach der Partei nur Christen angehören durften, deren Ehepartner ebenfalls „rein arischen Blutes“ waren.59 Die Einführung des „Arierparagraphen“ spiegelte die damalige Einstellung der polnischen Öffentlichkeit gegenüber den Juden wider. Das Beispiel des nationaldemokratischen Vorgehens in dieser Frage fand Widerhall in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens, vornehmlich unter den Vertretern der freien Berufe, in deren Reihen die nationalen Rivalitäten und Gegensätze am stärksten auftraten. Viel Aufsehen erregte im Oktober 1937 ein Beschluß der Generalversammlung des polnischen Ärzteverbandes über die Aufnahme des „Arierparagraphen“ in die Satzung. Dieser Schritt rief, nach einem Bericht des deutschen Generalkonsuls aus Posen, nicht nur heftige Diskussionen in der polnischen Presse hervor, sondern trug auch wesentlich dazu bei, daß viele andere Berufsorganisationen ähnliche Maßnahmen planten oder auch durchführten.60 Einige der bereits aufgeführten Beispiele deuten auf eine gewisse Konvergenz der antijüdischen Ausschreitungen in Polen, die durch die nationaldemokratischen Organisationen geschürt wurden, mit ähnlichen 58 59 60
Natkowska, Numerus clausus, S. 60. AAN, MSW, Nr. 852, Politischer Informationsbericht des Innenministeriums Nr. 3, 1.28.2.1934. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin (PAAA), R 104149, Politik Pol. V, Bd. 1, Bericht des deutschen Generalkonsulats Posen an das Auswärtige Amt vom 22.10.1937.
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zeitgenössischen Ereignissen im Dritten Reich hin. Die Presse des Nationalen Lagers war in dieser Hinsicht ein empfindliches Barometer. In den ersten Zeitungsberichten über die antijüdischen Maßnahmen der nationalsozialistischen Regierung hielt man sich noch auffallend zurück. Stanisław Kozicki, der „Deutschlandexperte“ der Nationalen Partei, und Jerzy Drobnik, Berliner Korrespondent der Gazeta Warszawska, betonten übereinstimmend, der deutsch-jüdische Konflikt sei eine interne Reichssache. Zugleich traten beide gegen jegliche Intervention der polnischen Regierung gegen die Judenverfolgung auf, da sie eine Aufnahme von jüdischen Emigranten in Polen verhindern wollten.61 Kozicki zeigte unverhüllt seine Zufriedenheit darüber, daß den Juden in Deutschland ein offener Kampf angesagt wurde.62 Die nationaldemokratischen Zeitungen polemisierten gegen den Teil der polnischen Presse, der die antijüdischen Maßnahmen in Deutschland kritisierte. Ein ausgesprochen aggressiver Antisemitismus zeichnete die Texte von Stanisław Pie kowski aus, Publizist der nationaldemokratischen Zeitschrift My l Narodowa. Die Verfolgung der Juden im Dritten Reich – meinte er – werde der deutschen Nation Einheit und moralische Kraft geben. Pie kowski befürchtete zugleich, daß das Dritte Reich die jüdische Flüchtlingswelle nach Polen steuern werde, um die polnischen wirtschaftlichen Probleme zu vergrößern. Den Juden lastete er alles nur Erdenkliche an, wie die Organisation der revolutionären Bewegungen und die Entfesselung des polnisch-sowjetischen Krieges 1920. Wie primitiv und schäbig sein Antisemitismus war, verdeutlicht folgendes Zitat aus einem seiner Artikel: „Die Juden sollen sich ihre eigenen purpurroten, vom Blut der ermordeten Opfer klebrigen Pfoten anschauen, anstatt zu weinen und zu klagen.“63 Die Meinungen zur jüdischen Frage, die Dmowski in seinem Buch „Umbruch“ im Jahre 1934 veröffentlichte, hatten großen Einfluß auf die Radikalisierung des Antisemitismus des Nationalen Lagers. Dmowski gab den Juden die Schuld an den Mißerfolgen polnischer Innen- und Außenpolitik nach dem Ersten Weltkrieg und an der einsetzenden Wirtschaftskrise. Neben dieser Sündenbockthese hing er der Verschwörungstheorie an, der amerikanische Präsident Wilson und der britische Ministerpräsident Lloyd George seien als Gestalter der Versailler Friedensordnung nur Werkzeuge in jüdischen Händen gewesen. Lloyd George habe während der Pariser Friedenskonferenz im Jahre 1919 als „jüdischer Agent“ gehandelt, als er den Anschluß von Danzig, Schlesien, Ostpreußen mit Marienburg, Stuhm und Marienwerder an Polen verhinderte. Die Geschichte der Weimarer Republik sei – so Dmowski – nach jüdischem Diktat geschrieben.64 61 62 63 64
Gazeta Warszawska, Nr. 75, 12.3.1933; Nr. 77, 14.3.1933; Nr. 99, 1.4.1933; My l Narodowa, Nr. 17, 9.4.1933. Stanisław Kozicki, Niemcy i ydzi, Gazeta Warszawska, Nr. 97, 30.3.1933. My l Narodowa, Nr. 22, 14.5.1933. Dmowski, Umbruch, S. 231.
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Im Sinne seiner antijüdischen Phobie verurteilte Dmowski die Juden auch als Anstifter der drei Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhunderts (1772, 1793, 1795). Sie hätten eine Vorreiterrolle bei dem deutschen „Drang nach Osten“ gespielt. Die Machtübernahme in Deutschland durch Hitler sollte, so Dmowski, den Untergang des Judentums bedeuten. Von der Feststellung ausgehend, die Realisierung der deutschen Expansionspolitik sei ohne jüdische Unterstützung nicht durchführbar, sah der Gründer der Nationalen Partei zwei Alternativen für die weitere Entwicklung des Dritten Reiches: eine Fortführung der deutschen Ostpolitik in Allianz mit den Juden oder eine Abschiebung der Juden aus Deutschland und damit einhergehend den Verzicht auf die Eroberungspläne im Osten. Dmowski war der Meinung, aus ideologischen Gründen würde sich Hitler für die zweite Alternative entscheiden.65 Nach den ersten antijüdischen Maßnahmen der nationalsozialistischen Regierung in Deutschland kam Dmowski zu der Überzeugung, Hitler strebe die Erneuerung der deutschen Nation und den Kampf gegen die Juden an, er werde deshalb seine Forderungen in Osteuropa einschränken müssen. Dieser Feststellung folgte die Theorie eines fortschreitenden Entvölkerungsprozesses in Deutschland und von einer umfassenden wirtschaftlichen Krise, die die Deutschen – wie er prophezeite – am stärksten treffen werde. In diesen Theorien, die von einer ganzen Generation von Nationaldemokraten übernommen und propagiert wurden, liegt sicherlich eine der Ursachen der Fehleinschätzung der Entwicklung des Nationalsozialismus durch das Nationale Lager.66 In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre blieb die nationaldemokratische Publizistik unter dem Einfluß des Antisemitismus von Dmowski. Zugleich gewann der Rassismus immer mehr an Bedeutung, besonders unter der jungen Generation der Nationaldemokraten. Einer von ihnen, Klaudiusz Hrabyk, formulierte die Theorie vom polnischen „begrenzten Rassismus“. In seinem 1934 erschienenen Buch „Neue Wege in der nationalen Politik“ plädierte er für eine strenge Ausgrenzung der Juden aus der polnischen Gesellschaft, lehnte aber dabei den Rassismus als ein Kriterium dieser Selektion ab. Er hielt es für möglich, diejenigen Juden zu assimilieren, die den christlichen Glauben annehmen und die polnischen nationalen Interessen vertreten würden. Hrabyk glaubte, den einzelnen Juden assimilieren zu können, da er von der Anziehungskraft und Attraktivität der polnischen Kultur überzeugt war. Er zeigte sich zugleich als entschiedener Gegner einer pauschalen Massenassimilierung oder von Eheschließungen zwischen Juden und Katholiken selbst dann, wenn der jüdische Ehepartner zum Katholizismus übertreten sollte. Hrabyk pran-
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Ebd., S. 236. Bohdan Halczak, Cele polityki endeckiej wobec mniejszo ci ydowskiej w Polsce w latach 1919-1939, in: Biuletyn ydowskiego Instytutu Historycznego 3/95-2/96, 1995/1996, S. 3747.
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gerte auch die Nachahmungsversuche in der Rassenideologie durch einige Extremisten aus den Splitterparteien an.67 Die radikal antisemitischen Parolen erschienen vor allem in der Publizistik derjenigen Organisationen, die sich von der Nationalen Partei getrennt hatten. Es handelte sich hier hauptsächlich um das National-Radikale Lager und seine Nachfolgegruppen. Bereits vor der Gründung des Lagers rief einer seiner späteren Aktivisten zur Einführung einer „gesunden“ nationalen Staatsverfassung in Polen auf, unter Aberkennung der bürgerlichen Rechte für Juden. Diese Forderung wurde in das Parteiprogramm des National-Radikalen Lagers übernommen und wie folgt formuliert: „Ein Jude darf nicht Bürger des polnischen Staates sein. Er ist nur als Staatsuntertan anzusehen, solange er sich im polnischen Staatsgebiet aufhält.“68 In einer kurz danach veröffentlichten propagandistischen Schrift des Lagers, die für breite Bevölkerungskreise bestimmt war, wurde diese Forderung in die Propagandasprache umgesetzt: „Der Jude ist der größte Feind, weil die Juden in Polen die Stütze des kapitalistischen Systems sind, weil die Juden in Polen den Kapitalismus und den Sozialismus organisatorisch und finanziell unterstützen und weil jeder Jude einen den Polen gehörenden Platz und das Brot wegnimmt. Die Beseitigung jedes einzelnen Juden ist ein Schritt in die Zukunft der national-radikalen Revolution.“69
Das Wort „Jude“ in der oben zitierten Broschüre wurde übrigens klein geschrieben, im Gegensatz zum Wort „Pole“, das man immer groß schrieb. Dieselbe Schreibweise galt mit wenigen Ausnahmen für das gesamte Schrifttum des Nationalen Lagers in der Zwischenkriegszeit. Das diente selbstverständlich einem bestimmten Zweck, dem Leser sollte optisch die angebliche Minderwertigkeit der jüdischen Rasse im Gegensatz zu den anderen verdeutlicht werden. Es ist dabei zu bemerken, daß alle anderen Nationalitäten, vor allem Ukrainer und Deutsche, immer groß geschrieben wurden, obwohl ihnen das Nationale Lager ebenfalls feindlich gegenüberstand. Am weitesten ging Michał Howorka, ein junger Aktivist der Nationalen Partei, dessen Buch „Der Kampf um das neue Polen“ aus dem Jahre 1935 von einem krankhaften Antisemitismus gekennzeichnet war. Er betrachtete die Juden nicht als eine konfessionelle oder nationale Minderheit, sondern als eine minderwertige Rasse. Howorka stellte fest, daß die Juden die Unterwerfung der Gesellschaft und die Ausrottung der arischen Nationen anstrebten, deshalb sollte man sie nach dem Vorbild der Nationalsozialisten in Konzen-
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Klaudiusz Hrabyk, Nowe drogi w polityce narodowej, Warschau 1934, S. 85-88. Tadeusz Dumin, Nacjonalizm i antysemityzm w programie Obozu Narodowo-Radykalnego, in: Studia nad faszyzmem i zbrodniami hitlerowskimi 3, 1977, S. 345f. AAN, MSW, Nr. 868, Propaganda-Broschüre des National-Radikalen Lagers von 1934.
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trationslager sperren. Die Juden müßten zur Emigration gezwungen werden, wie er schrieb: „Erst müssen sie aber bankrott sein und danach emigrieren. Wir dürfen sie nicht anders gehen lassen als am Bettelstab. Wir dürfen nicht sentimental sein. Wir dürfen in unserem Streben nach dem Sieg über solche Gegner keine Opfer und keine Mühe scheuen. Man darf keine Rücksicht nehmen, weder auf Eigentum noch auf Personenrechte, noch auf das Leben. [sic!] Wir müssen dieses Judendickicht bei uns vernichten.“70
Ende 1938 ging eine Welle des Antisemitismus durch ganz Europa, was die nationaldemokratische Presse mit Genugtuung registrierte.71 Es wurde eine internationale Diskussion zur Frage der organisierten umfassenden Übersiedlung der Juden erwartet. In einer am 27. November 1938 verfaßten Denkschrift des Hauptvorstandes der Nationalen Partei wurde festgestellt, daß die antijüdische Politik Deutschlands und Italiens sowie die antisemitischen Ausschreitungen in Ungarn und in der Tschechoslowakei zur Internationalisierung der jüdischen Frage und zu Deportationen der Juden aus Europa führen würden.72 My l Narodowa berichtete mit Genugtuung von der geplanten Beschleunigung der Durchführung der Nürnberger Gesetze im Dritten Reich, vor allem aber über die Bildung von Ghettos und die Einführung spezieller Kennzeichnung der Juden in Form eines gelben Armbandes. Die Zeitung sprach von einer „Völkerschlacht“, die die Juden sicher verlieren würden und fügte klagend hinzu, der erfolgreiche Kampf des Nationalsozialismus gegen das Judentum werde das Dritte Reich stärken, worüber Polen sich nicht freuen könne.73 Die drohende Kriegsgefahr und die wachsenden Expansionsbestrebungen des Dritten Reiches blieben ohne größeren Einfluß auf die antijüdischen Aktionen des Nationalen Lagers.74 Es zeichnete sich jedoch eine neue Tendenz ab. Immer öfter wurden die Nationalsozialisten mit den Juden verglichen, und es wurde auf die angebliche Verwandtschaft dieser Ideologie mit der jüdischen Religion und Weltanschauung hingewiesen. Jan wierzowicz schrieb in der My l Narodowa, der Nationalsozialismus sei deformiert und nehme krankhafte Formen an. Die Deutschen hätten von den von ihnen verfolgten Juden die Idee vom auserwählten Volk und der Überlegenheit über alle anderen Nationen sowie die Verachtung der Schwächeren übernommen und hätten damit ihr eigenes deutsches Ghetto geschaffen, das sie von der westlichen Kulturwelt trenne.75 70 71 72 73 74 75
Michał Howorka, Walka o Wielk Polsk , Warschau 1934, S. 104f. Urszula Jakubowska, Oblicze ideowo-polityczne „Gazety Warszawskiej“ i „Warszawskiego Dziennika Narodowego“ w latach 1918-1939, Warschau/Lodz 1984, S. 133. Biblioteka PAN Kraków, Teki J. Zieli skiego, Nr. 43, rkps. 7826, Presseausschnitt, Warszawski Dziennik Narodowy, Nr. 328a, 29.11.1938. My l Narodowa, Nr. 51, 27.11.1938. Jakubowska, Oblicze, S. 134. My l Narodowa, Nr. 20, 8.5.1938.
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Der Antisemitismus der Nationaldemokraten wurde tatkräftig durch den katholischen Klerus unterstützt, insbesondere durch zahlreiche Geistliche, die der Nationalen Partei nahe standen, und auch durch hohe kirchliche Würdenträger. Auch wenn der polnische Episkopat in der Öffentlichkeit zunächst offiziell keine Stellung zur „jüdischen Frage“ bezog, zeigten doch zahlreiche Artikel verschiedener geistlicher Autoren in der nationaldemokratischen und kirchlichen Presse die eindeutig negative Einstellung kirchlicher Kreise gegenüber den Juden. Bereits zu Beginn der zwanziger Jahre stellten sich die geistlichen Publizisten in den Dienst des kämpferischen Antisemitismus, indem sie die Forderung der Endecja nach Beschränkung des jüdischen Einflusses im wirtschaftlichen und kulturellen Bereich unterstützten. Sowohl der Domherr Pr dzy ski in Posen als auch ein anderer Priester, Pfarrer Kruszy ski aus Wloclawek, propagierten die Emigration der Juden als wirksames Mittel zur „Lösung der jüdischen Frage“.76 In einzelnen Fällen nahmen Geistliche sogar an antijüdischen Ausschreitungen teil, z. B. wurde Pfarrer Szepietowski aus dem Dorf Sokoły in der Wojewodschaft Warschau im August 1935 wegen aktiver Teilnahme an antijüdischen Ausschreitungen verhaftet.77 Die Religion war eine der Grundlagen des polnischen Antisemitismus und stellte in der Zwischenkriegszeit für die katholische Kirche in Polen das einzige Kriterium des Judentums dar. Die Kirche war vor allem an der Missionierung und Bekehrung der Juden interessiert; die Taufe bedeutete den Bruch mit dem Judentum, die Folge war eine völlige Anerkennung der Konvertiten als Christen und zugleich als Polen nach dem Stereotyp Pole – Katholik, nicht nur durch die katholische Kirche, sondern auch durch die Antisemiten. Dies änderte sich – zumal bei den radikalsten Rechten – unter dem Einfluß des Nationalsozialismus in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre. Ein Beweis dafür ist ein Zwischenfall aus dem Jahr 1936, der großes Aufsehen in der Öffentlichkeit erregte. Ein Priester jüdischer Herkunft, Tadeusz Puder, wurde in seiner Kirche in Warschau öffentlich geohrfeigt. Für die demokratischen Kreise der polnischen Gesellschaft und für die Regierung war das ein Zeichen, daß auch in Polen der Rassismus langsam Fuß zu fassen versuchte.78 Die katholische Geistlichkeit unterstützte die Parole „Polen für die Polen“ insbesondere im wirtschaftlichen Bereich und rechtfertigte damit den Boykott der jüdischen Geschäfte. Oftmals gingen die geistlichen Publizisten noch viel weiter in ihrer gehässigen antijüdischen Propaganda. Priester Franciszek Błotnicki beschuldigte z. B. die Juden des Alkoholismus, der Unsittlichkeit und der religiösen Gleichgültigkeit. Er rief die polnische Gesellschaft zum Boykott der Juden auf und betonte, dies stehe nicht im Gegensatz zur 76 77 78
Horoszewicz, Przez dwa millenia, S. 273. yndul, Zaj cia, S. 17. Krajewski, ydzi, S. 159.
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christlichen Ethik. Sein Zeitungsartikel aus dem Jahre 1935 war ein krasses Beispiel einer ausgesprochen obszönen antisemitischen Propaganda, die in katholischen Kreisen in Polen zu diesem Zeitpunkt nicht selten betrieben wurde.79 Ein anderer, der bereits erwähnte Priester, Domherr Pr dzy ski, forderte die polnischen Familien auf, sich von den jüdischen Einflüssen zu befreien, denn man brauche mehrere Generationen, um sich „von der Beimischung jüdischen Blutes reinigen zu können“. Pr dzy ski rechtfertigte die antijüdischen Maßnahmen im Dritten Reich, nannte sie zwar rücksichtslos, aber gerecht. Sie stimmten – fügte er demagogisch hinzu – grundsätzlich mit den apostolischen Konstitutionen, den bischöflichen Hirtenbriefen und den Synodalbestimmungen der katholischen Kirche überein. Der Einfluß der NSRassentheorie ist in diesem Fall eindeutig zu erkennen. In den Polizeiberichten über die Beschattung der Mitgliederversammlungen der Nationalen Partei wurden des öfteren katholische Priester erwähnt, die in ihren Reden die nationalsozialistischen antijüdischen Maßnahmen im Dritten Reich guthießen.80 Ein besonders düsteres Kapitel in der Einstellung der katholischen Kirche zur jüdischen Frage schrieben die Veröffentlichungen des Franziskanerklosters in Niepokalanów, das unter der Führung des 1983 heilig gesprochenen Maximilian Maria Kolbe zu einem der größten polnischen Pressekonzerne aufgestiegen war (1,5 Mio. Tagesauflage).81 Insbesondere der seit April 1935 herausgegebene Mały Dziennik setzte sich zum Ziel, Juden, Freimaurer und Liberale in Polen aufzuspüren und rücksichtslos zu bekämpfen. Noch kurz vor dem Krieg berief sich das Blatt auf die 1923 von einem ausgesprochen antisemitischen Verein „Rozwój“ in polnischer Sprache veröffentlichten „Protokolle der Weisen von Zion“, und das, obwohl diese Publikation bereits zum Zeitpunkt der polnischsprachigen Ausgabe längst als Fälschung gebrandmarkt worden war.82 Mały Dziennik unterstützte alle antijüdischen Maßnahmen des Nationalen Lagers und öffnete seine Spalten für die radikalsten nationaldemokratischen Antisemiten und die priesterlichen Publizisten, vor allem Prälat Stanisław Trzeciak. Dieser pries noch 1939 im Mały Dziennik die nationalsozialistische Judenpolitik als eine von der Vorsehung bestimmte Mission: „Hitler schöpft seine Gesetze aus den päpstlichen Enzykliken [...], er nimmt sich ein Beispiel an den berühmten Päpsten“.83 Im Februar 1936, in der Zeit der verstärkten antisemitischen Propaganda und antijüdischen Ausschreitungen, meldete sich der Oberhirte der katho79 80 81
82 83
Franciszek Błotnicki, Antysemityzm a religia, in: Warszawski Dziennik Narodowy, Nr. 336, 7.12.1936. AAN, MSW, Nr. 851, Politischer Informationsbericht des polnischen Innenministeriums vom 1.-31.3.1935. Ute Caumanns/Mathias Niendorf, wi ty Maksymilian Maria Kolbe a sprawy ydowskie na łamach prasy niepokalanowskiej (1918-1939), in: Biuletyn ydowskiego Instytutu Historycznego 4, 1998, S. 20-33. Paul Zawadzki, Protokoły M drców Syjonu w polskiej my li antysemickiej, in: Biuletyn ydowskiego Instytutu Historycznego 3-4, 1993, (Nr. 167/168), S. 63-82. Horoszewicz, Przez dwa millenia, S. 218.
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lischen Kirche in Polen, Primas Kardinal August Hlond, zu Wort. In seinem Hirtenbrief „Über die katholischen Moralprinzipien“ nahm er eine eindeutige Stellung in der jüdischen Frage ein. Hlond betonte, die Juden kämpften gegen die katholische Religion und gegen die Kirche, sie seien die Avantgarde der Gottlosigkeit, die einen verheerenden Einfluß auf die Sittlichkeit der Gesellschaft ausübten, das jüdische Verlagswesen propagiere Pornographie, und die jüdischen Jugendlichen beeinflußten die katholische Jugend in den Schulen im religiösen und ethischen Sinne negativ. Der Primas schrieb weiter: „Es gilt, sich den schädlichen moralischen Einflüssen von Seiten des Judentums zu verschließen [...] und vor allem die jüdische Presse, das jüdische, demoralisierende Verlagswesen zu boykottieren [...]“. Er sagte aber zugleich: „ [...] man darf aber Juden nicht überfallen [...] es ist nicht erlaubt, jüdische Läden zu verwüsten und jüdische Waren zu vernichten[...]“.84 Der Hirtenbrief des Kardinals Hlond wurde mit Genugtuung von den Nationaldemokraten als offizielle Stellungnahme des polnischen Episkopats in der jüdischen Frage begrüßt und in der Öffentlichkeit ausführlich kommentiert. Eine kirchliche Auslegung bot der führende polnische Theologe, Jesuitenpater Jan Rostworowski, in den Spalten der populären „Allgemeinen Rundschau“ an. Er betonte, daß die kirchlichen Behörden den Antisemitismus als ein wirksames Mittel zur Lösung der jüdischen Frage ausdrücklich befürworteten. Die Propaganda des konsequenten Antisemitismus sei zu empfehlen als eine der wichtigsten Dienste, die man der Kirche und dem Vaterland erweisen könne. Rostworowski bezeichnete diesen durch die Kirche propagierten Antisemitismus als „moralisch zulässig.“85 Die Ähnlichkeit mit den Meinungen der jungen Generation des Nationalen Lagers mit ihrem „katholischen Nationalismus“ ist geradezu verblüffend. Den „Ruck nach rechts“ der katholischen Kirche kann man auch am Beispiel der Diskussion um die Einführung des gesetzlichen Schächtungverbots erkennen. Eine Gesetzesvorlage, die ein grundsätzliches Verbot der Schächtung im polnischen Staat vorsah, wurde im polnischen Parlament im Februar und März 1936 diskutiert. Die kirchlichen Abgeordneten nahmen an der parlamentarischen Diskussion zwar nicht teil, aber als der Priester ongołłowicz, Vizeminister für Religiöse Konfessionen und Volksaufklärung, unter Berufung auf die verfassungsgemäße Konfessionsfreiheit die Einschränkung des neuen Gesetzes vorschlug, wurde ihm von Seiten des Episkopats ein Verzicht auf sein Ministeramt nahe gelegt.86
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85 86
Der Text des Hirtenbriefes in: Kardynał August Hlond, Prymas Polski. Na stra y sumienia narodu. Wybór pism i przemówie z przedmow prof. dr. O. Haleckiego, Ramsey/N.J. 1951, S. 154-173. Horoszewicz, Przez dwa millenia, S. 213. yndul, Zaj cia, S. 70f.
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Die polnische Regierung und vor allem Marschall Piłsudski nahmen zum Antisemitismus der Nationaldemokratie eine ablehnende Haltung ein.87 Zum einen war die konfessionelle und nationale Freiheit der Minderheiten im polnischen Staat in der Verfassung der Polnischen Republik von 1921 festgeschrieben. Piłsudski wollte mit seiner Konzeption einer staatlichen Loyalität, die im krassen Gegensatz zum Nationalstaatsgedanken der Endecja stand, alle Minderheiten am Aufbau eines starken, multinationalen Staates teilnehmen lassen. Loyale und ordnungsgemäße Erfüllung aller Pflichten gegenüber dem Staat sollte die Grundlage der Gleichberechtigung aller Staatsbürger bilden. Zum anderen wurde der Antisemitismus als ein Herd öffentlicher Unruhe und innenpolitischer Destruktion als Kampfmittel der politischen Opposition angesehen und daher von der Regierung bekämpft.88 Die Polizei sowie die Wojewodschafts- und Kreisbehörden beobachteten zwar die Entwicklung in der jüdischen Frage, alle Erscheinungen der Intoleranz und des Antisemitismus wurden registriert, aber bis zu den Studentenunruhen und antijüdischen Ausschreitungen am Beginn der dreißiger Jahre wurde nicht direkt eingegriffen. Die Tätigkeit der antijüdischen Vereine, wie der bereits erwähnte Verein „Rozwój“, als auch der antisemitischen Presse wurde auf Regierungsebene hingenommen. Die Behörden sorgten vor allem dafür, daß der öffentliche Frieden nicht durch Ausschreitungen gestört wurde. Die Lösung der jüdischen Frage sah das Regierungslager in der Sanierung der wirtschaftlichen Verhältnisse, in der Assimilierung der jüdischen Bevölkerung durch Polonisierungsmaßnahmen und in der Akkulturation der Juden in die polnische Gesellschaft. Da sich diese Ziele als unrealisierbar erwiesen und die Regierung kein konstruktives Programm für eine Minderheitenpolitik entwickeln konnte, suchte man in Warschau einen Ausweg in den internationalen Verhandlungen über die Emigration der Juden. Während der Studentenunruhen und antijüdischen Ausschreitungen in den dreißiger Jahren, die im wesentlichen durch die Nationaldemokratie geschürt wurden, griff der Staatsapparat hart durch und verhaftete die Anstifter der Unruhen. Viele Studenten und Mitglieder der Nationalen Partei wurden in das berüchtigte polnische Straflager in Bereza Kartuska eingeliefert, insbesondere in den Jahren 1935 und 1936, als die Nationaldemokratie versuchte, mit Hilfe des Antisemitismus die Gesellschaft für den Kampf um die Macht nach dem Tode von Marschall Piłsudski zu mobilisieren. Die Eskalation des politischen Kampfes der Opposition nach dem Tode Piłsudskis im Mai 1935, aber auch die Radikalisierung der jungen Generation im Regierungslager der Sanacja sowie der Einfluß des Totalitarismus auf das politische Machtsystem in Polen waren die Hauptursachen einer Wandlung 87
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Waldemar Paruch, Od konsolidacji pa stwowej do konsolidacji narodowej. Mniejszo ci narodowe w my li politycznej obozu piłsudczykowskiego (1926-1939), Lublin 1997, S. 231234. Andrzej Chojnowski, Koncepcje polityki narodowo ciowej rz dów polskich w latach 19211939, Breslau u.a. 1979, S. 71.
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der Regierung nach rechts. Die Opposition wurde dadurch gelähmt, daß sich die regierende Sanacja das politische Programm der Nationaldemokraten, insbesondere die Idee des Nationalstaates, zu eigen machte. Offiziell hatte sich die Einstellung der Regierung zum Antisemitismus zwar nicht geändert, es gab aber im Regierungslager eine deutliche Polarisierung in der Behandlung der jüdischen Frage. Seit 1937 wurden die Überlegungen zu Möglichkeiten und Formen einer organisierten Emigration der Juden aus Polen intensiviert. 1938 schickte der polnische Außenminister Beck einen hohen Ministerialbeamten nach Madagaskar, um die Bedingungen für eine eventuelle staatlich organisierte Massenemigration der Juden zu prüfen.89 Im Januar 1939 stellte der polnische Ministerpräsident, General Sławoj-Składkowski, in Beantwortung einer Interpellation der Sejmabgeordneten des Regierungslagers fest, die Regierung sei sich dessen bewußt, daß die Organisierung einer Emigration der polnischen Juden ein Verlangen der gesamten polnischen Gesellschaft sei. So wolle sich die Regierung mit der Frage der radikalen Reduzierung der Anzahl der Juden in Polen intensiv befassen.90 Um den möglichen Vorwürfen des Antisemitismus vorzubeugen, begründete man diese Bemühungen mit der Überbevölkerung des polnischen Staates und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Die staatlichen Pläne zur Emigration der Juden wurden durch die katholische Kirche tatkräftig unterstützt. Domherr Józef Pr dzy ski, ein engagierter Anhänger der Nationalen Partei, verlangte in der Tageszeitung Kurier Pozna ski bereits im September 1935 eine zügige Aussiedlung aller Juden in schwach bevölkerte Länder wie Argentinien und Äthiopien. Er schlug die Zwangsaussiedlung der jüdischen Bevölkerung in konstanten Jahresquoten und die Aufnahme einer ähnlichen Anzahl polnischer Emigranten vor, die hauptsächlich aus Südamerika in die Heimat zurückgeholt werden sollten. Nach seiner Schätzung würden dadurch etwa vier Millionen Emigranten nach Polen zurückkehren, um dort „das Polentum zu stärken“. Pr dzy ski rief zu „humaner Behandlung“ der jüdischen Aussiedler auf und betonte, nach der vollzogenen Aussiedlung werde die Abneigung der Polen gegen die Juden verschwinden.91
Fazit Der Antisemitismus in Polen in der Zwischenkriegszeit fand einen günstigen Nährboden. Er hatte vor allem den Charakter eines wirtschaftlichen und 89 90 91
Gabriela Zalewska, Sprawa emigracji ydowskiej z Polski w drugiej połowie lat trzydziestych w wietle materiałów polskiego MSZ, in: Dzieje Najnowsze 1, 1988, S. 85-118. Krajewski, ydzi, S. 170; Marian Wojciechowski, Stosunki polsko-niemieckie 1933-1938, Pozna 1980, S. 57; Zalewska, Sprawa, S. 103ff. Warszawski Dziennik Narodowy, Nr. 128, 2.10.1935, Nachdruck des Artikels von Domherr J. Pr dzynski aus dem Kurier Pozna ski.
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politischen Kampfes einer Nation, die nach 123 Jahren der Teilung unter die Nachbarmächte ihre verlorene Unabhängigkeit zurück erlangt hatte und bestrebt war, einen Nationalstaat aufzubauen. Der traditionelle religiöse Antisemitismus wurde nunmehr durch die Vorurteile gegenüber den Juden, die man der antipolnischen Tätigkeit bezichtigte, in den Hintergrund gedrängt. Der Jude war der innere Feind, der immer bereit war, sich mit den Gegnern Polens, seien es die Deutschen oder seien es die Kommunisten, bei günstiger politischer Konstellation zu verbünden. Ausdruck dieser Vorurteile waren die Judenpogrome am Ende des Ersten Weltkrieges. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Verschwörungstheorie, von der besonders Roman Dmowski, der Schöpfer des modernen polnischen Nationalismus, geradezu besessen war. Zu Beginn der dreißiger Jahre wurden die Juden zum Sündenbock der tiefen wirtschaftlichen Krise erklärt, da Polen besonders stark durch die Weltwirtschaftskrise betroffen war. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde die jüdische Frage durch die nationaldemokratische Opposition im Lande instrumentalisiert und für politische Zwecke ausgenutzt. Der Verschärfung des politischen Kampfes nach dem Tod von Marschall Piłsudski fielen auch die Juden zum Opfer, vor allem die jüdische Intelligenz, der Handel und das Gewerbe. Die antijüdischen Maßnahmen im Dritten Reich und im faschistischen Italien fanden Akzeptanz und Nachahmung bei der sich rasch nach rechts radikalisierenden jungen Generation des Nationalen Lagers. Auch angesichts der Kriegsgefahr im Jahre 1939 blieb der Antisemitismus eines der schwierigsten innenpolitischen Probleme der polnischen Republik. In diesem Zusammenhang ist das am Anfang erwähnte Judenpogrom in Jedwabne im Jahre 1941 als ein Produkt des polnischen Antisemitismus der Zwischenkriegszeit zu sehen.
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Die Politik gegenüber den Juden in Litauen in der Zwischenkriegszeit EGLÈ BENDIKAITE Die vorbehaltlose Erforschung der Geschichte der Juden in Litauen und der litauisch-jüdischen Beziehungen war in Litauen lange Zeit ein Tabuthema. Es überrascht deshalb nicht, daß ein und dieselbe Geschichte in jüngerer Zeit häufig auf unterschiedliche Art und Weise erzählt worden ist. Zum einen kann die litauische Politik gegenüber den Juden so erzählt werden, als ob die Beziehungen zwischen Litauern und Juden in der Zwischenkriegszeit problemlos gewesen wären. Die litauischen Behörden erließen bis zum Ausbruch des Krieges nicht ein antisemitisches Gesetz. Erst zwischen 1940 und 1941 explodierte etwas in der litauischen Gesellschaft, so daß es schließlich auch hier zu einem Völkermord an den Juden kam. Diese Art der Geschichtsschreibung war in den 1990er Jahren äußerst populär, bis allmählich neue Fakten der litauischen Geschichte bekannt wurden. Es zeigte sich allerdings, daß die litauische Gesellschaft nicht bereit war, diese anzuerkennen. Die Tatsache, daß Litauen kein antisemitischer Staat war, der die jüdische Gemeinschaft systematisch diskriminierte oder antisemitische Aktionen offiziell tolerierte, war die Grundlage des Mythos vom „paradiesischen Leben“ der Juden im Litauen der Zwischenkriegszeit. Dem steht eine andere Lesart entgegen: Die Historiker Joyce Appleby, Margaret Jacob und Lenn Hunt aus den Vereinigten Staaten interpretieren die Geschichte der Juden in Litauen von ihrem katastrophalen Ende her. In allen Epochen der Geschichte dieses zuvor vermeintlich glücklichen Zusammenlebens sei dieses Ende bereits angelegt gewesen.1 Einige jüdische Autoren und einige populärwissenschaftliche Artikel folgten dieser Richtung und erklärten die gesamte litauisch-jüdische Geschichte aus der Perspektive der Shoah. Lange Zeit konnten die litauischen Leser, die sich über die Geschichte der Juden in Litauen informieren wollten, nur auf die Monographie von Augustinas Janulaitis zurückgreifen.2 Da diese Darstellung aber im Jahre 1923 endet, erfährt man nur sehr wenig über das jüdische Leben in der Zwischenkriegszeit. Während der sowjetischen Herrschaft in Litauen gab es einige
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Joyce Appleby/Lenn Hunt/Margaret Jacob, Tiesos sakymas apie istorija, Wilna 1998, S. 263; dies., Telling the Truth about the History, New York/London 1995. Augustinas Janulaitis, Žydai Lietuvoje, Kaunas 1924.
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Versuche von jüdischen Emigranten, eine Geschichte der litauischen Juden zu verfassen, die nicht den gängigen Stereotypen folgte.3 Das Fehlen akademischer Forschungen wurde notdürftig durch journalistische Artikel kompensiert, die zumeist im Gefolge politischer Ereignisse veröffentlicht wurden. Als man in den 1990er Jahren begann, von den „weißen Flecken“ in der litauischen Geschichte zu sprechen, geriet die Frage nach dem Schicksal der litauischen Juden immer häufiger in den Mittelpunkt. Stereotype und emotionsgeladene Erinnerungen bestimmten diese Form der Geschichtserzählung, gegenseitige Schuldzuweisungen waren an der Tagesordnung.4 Die auf archivalischen Quellen beruhende akademische Forschung begann zwar parallel zu den populistischen journalistischen Artikeln, gelangte aber – aus offensichtlichen Gründen – weitaus langsamer an die Öffentlichkeit. Nun, 15 Jahre nach der Unabhängigkeit, gibt es endlich zahlreiche Bücher und akademische Artikel, die sich mit den verschiedenen Aspekten der litauischjüdischen Geschichte beschäftigen.5 Die wissenschaftlichen Arbeiten folgen, mit wenigen Ausnahmen, zwei Herangehensweisen: eine Schule konzentriert sich auf den nicht vorhandenen Antisemitismus auf der staatlichen Ebene, während die andere die Situation der jüdischen nationalen Minderheit in Litauen in der Zwischenkriegszeit beschreibt und versucht, diese „besondere Art“ der gesellschaftlichen Beziehungen zu analysieren. Auch das Zusammenführen dieser beiden Stränge der Geschichtsschreibung wird nicht erklären, wie es möglich war, daß nahezu 94% der jüdischen Bevölkerung in einem Staat ermordet werden konnten, in dem es offiziell weder Antisemitismus gab noch irgendeine Form seiner Tolerierung. Die Tatsache, daß der Antisemitismus kein Teil der herrschenden Ideologie war, heißt nicht, daß es keine antijüdische Politik gab. Im folgenden sollen die herrschende Ideologie des litauischen Behörden- und Regierungsapparates und die verfassungsmäßigen Rechte der nationalen Minderheiten den Handlungen der politischen Klasse – also der tatsächlichen Politik – gegenübergestellt werden. Im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen soll die Lebens3
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Naujoji viltis, Nr. 13, 1980: Zenonas Ivinskis, Lietuva ir žydai istorijos šviesoje; darüber hinaus ein Artikel von Tomas Venclova, ebenfalls in der litauischen Presse veröffentlicht, der auf seiner Vorlesung in München 1978 basiert. Respublika, Nr. 69, 1995: J.Avyžius, Kam prezidentas tikras t vas?; Lietuvos aidas, Nr. 51, 1995: G. Griškien , K galvoja lietuvis?; Lietuvos rytas, Nr. 55, 1995: A. Kubilius, Atgailos žodžiai jau ištarti. Tik tiesa nutyl ta; Lietuvos rytas, Nr. 66, 1995: V. Antanaitis, Kas atsiprašys lietuvi už kommunistinius nusikaltimus?; Respublika, Nr. 57, 1995: A. Jasukaityt , Vis m s kalt ?. Hier die wichtigsten kürzlich erschienenen Werke zur jüdischen Geschichte in Litauen: Emanuelis Zingeris/Markas Zingerris (Hg.), Atminties dienos, Wilna 1995; Salomonas Atamukas, Lietuvos žyd kelias nuo XIV a. iki XX a. pab., Wilna 1998; Lietuvos Moksl Akademijos Metraštis XIV, Wilna 1999; Dov Levin, Trumpa žyd istorija Lietuvoje, Wilna 2000; Yves Plasseraud/Henri Minczeles (Hg.), Lietuvos žydai 1918-1940, Wilna 2000; Alfonsas Eidintas, Lietuvos žyd žudyni byla, Wilna 2001; Alfonasas Eidintas, Žydai, lietuviai ir holokaustas, Wilna 2002; Šar nas Liekis, A State within a State? Jewish Autonomy in Lithuania 1918-1925, Wilna 2003.
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wirklichkeit der jüdischen Minderheit in Litauen in der Zwischenkriegszeit analysiert werden.
Sympathie oder Bequemlichkeit Die litauische Politik gegenüber den Juden begann nicht erst im Jahr 1918. Kooperation oder Konfrontation zwischen den sozialen und ethnischen Gruppen in Litauen standen in direktem Bezug zu den Aussichten für den zukünftigen litauischen Staat. Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Litauen verfolgten unterschiedliche politische Ziele, die nicht nur von ihren eigenen Vorstellungen, sondern auch von der gesamteuropäischen Politik beeinflußt wurden. Zentraler Streitpunkt der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen war die Frage nach der Formierung des zukünftigen litauischen Staates, seines Territoriums und seines Status. In der Praxis war gänzlich ungeklärt, was und wo Litauen sein könnte. Die meisten litauischen Führer plädierten für „offene Türen“, um Litauens Zukunft und die seiner unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu planen. Von den nationalen Minderheiten forderten die Litauer Assimilation an die litauische Nation und versuchten, sie als Teil der litauischen Nationalbewegung zu vereinnahmen, oder aber sie betrachteten sie als Fremde, die der litauischen Sache schadeten. Die Juden waren die größte und einflußreichste national-ethnische Gruppe. Sie hielt zur litauischen Nationalbewegung Distanz und nahm an den für Litauen bedeutenden Ereignissen der Jahre 1917 und 1918 praktisch nicht teil. Das Engagement der jüdischen Gemeinschaft im politischen Leben des werdenden Litauen begann erst, nachdem die Unabhängigkeit erklärt worden war. Der erste Präsident der litauischen Republik, Antanas Smetona, hob dieses Engagement hervor: „Die Juden unterstützten das unabhängige Litauen bereitwillig und bewiesen diese Unterstützung durch Beteiligung an der litauischen Taryba (Litauischer zentraler Rat), dem litauischen Ministerialkabinett und den litauischen Delegationen bei den Friedensverhandlungen in Paris und Moskau.“6
In der provisorischen litauischen Taryba waren sechs Sitze für ethnische Minderheiten reserviert, aber die Litauer bestanden auf strengen Bedingungen für ein solches Entgegenkommen. Angehörige der Minderheiten in der Taryba mußten von der Taryba ernannt werden, die neuen Mitglieder mußten die litauische Unabhängigkeit unterstützen, sie durften keine antilitauischen Aktivitäten durchgeführt haben und mußten der litauischen Sprache mächtig sein.7 Die Taryba geriet allerdings in der Zeit der deutschen Okkupation im Ersten Weltkrieg in den Verdacht, ein Instrument der deutschen Besatzungsmacht zu 6 7
Antanas Smetona, Lithuania Propria, in: Darbai ir Dienos 2, 1996, S. 207. Šiaur s At nai, Nr. 28, 18.7.1998: Tomas Balkelis, Politin tautini mažum partneryst .
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sein. Deshalb beschlossen die Juden, zunächst einen allgemeinen Kongreß aller Juden in Ober-Ost, einem Territorium, das die Deutschen 1915 gebildet hatten und das den territorialen Maximalforderungen der Litauer für einen eigenen Staat entsprach, zu veranstalten. Dort sollte entschieden werden, ob sie sich an der Taryba, so wie sie von den Litauern geplant war, beteiligen sollten.8 Die deutsche Besatzungsmacht verweigerte diesem Kongreß ihre Zustimmung. Dennoch nahmen drei jüdische Repräsentanten an der provisorischen Taryba teil. Diese jüdischen Mitglieder der provisorischen Taryba waren parteilos. Sie sollten später auch der ersten Regierung angehörten: Yakov Wygodski wurde der erste Minister ohne Geschäftsbereich für jüdische Angelegenheiten, Simon Rosenbaum stellvertretender Minister für Auswärtige Angelegenheiten und Nachman Rachmilewitz, stellvertretender Minister für Handel und Industrie.9 In den diplomatischen Verhandlungen jener Jahre waren die politischen Führer Litauens darauf angewiesen, einflußreiche politische Verbündete zu suchen, die sie bei ihrem Kampf um die litauische nationale Sache unterstützten. Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus war Litauen eine rückständige Provinz des Russischen Reiches gewesen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die jüdische Intelligenz unter dem Einfluß der russischen Kultur aufgewachsen. Zusätzlich zum Jiddischen sprachen die Juden in Litauen häufig Russisch, Polnisch oder Deutsch, aber sie assimilierten sich nicht an die litauische Kultur, die als bäurisch und unkultiviert galt und einer unsicheren Zukunft entgegensah. Juden und Litauer hatten auf diesem Territorium keine Gemeinsamkeiten, sie teilten weder die Religion noch einen gemeinsamen Lebensraum, da die Juden in ihrer großen Mehrheit in den Städten lebten und eine in gewisser Weise „urbane“ Mentalität herausbildeten.10 Bei der jüdischen Entscheidung, das neu entstehende Litauen zu unterstützen, spielten stattdessen vor allem außenpolitische Faktoren eine Rolle. Die wiedergeborene polnische Republik war ein polyethnischer Staat mit einer monoethnischen Ideologie. Die Pogrome im Russischen Reich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zerstörten die jüdischen Hoffnungen auf eine Integration in die russische Gesellschaft. Von daher war es ganz einfach leichter, mit der kleinen litauischen Nation in einem Staat zusammenzuleben, die zu politischen Zugeständnissen bereit war.11 Außerdem waren die Juden, im Gegensatz zu anderen Minderheiten, die einzigen, die keine Einwände gegen die Souveränität Litauens hatten. Nach kurzer Überlegung akzeptierten die jüdischen Politiker die Unabhängigkeit Litauens als unvermeidbares Faktum. 8 9 10 11
Mokslo Lietuva, Nr. 11, 1.9.1993: Algirdas Jakub ionis, Lietuvos žydai Respublikos k rimo laikotarpiu. Atamukas, Lietuvos žyd kelias, S. 123. Ezra Mendelsohn, ydzi Europy rodkowo-Wschodniej w okresie mi dzywojennym, Warschau 1992, S. 292-295. Paul Radensky, Žyd reikal ministerija ir žyd tautin autonomijy Lietuvoje 1919-1923, in: Lietuvos istorijos metraštis 1995/1996, S. 84.
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Am 5. August 1919 wurde die Erklärung zugunsten der litauischen Regierung auf der Pariser Friedenskonferenz dem Komitee der jüdischen Delegierten präsentiert. Die Erklärung garantierte gleiche politische, nationale und bürgerliche Rechte für die Juden in Litauen, ihre Beteiligung an der Parlamentsarbeit und in den gesetzgebenden Organen, ihre Autonomie und die Gründung eines Ministerium für jüdische Angelegenheiten in der litauischen Republik.12 Obwohl betont wurde, daß diese Erklärung ohne äußeren Druck zustandegekommen war, ist zu bezweifeln, daß sie ihre Entstehung allein einer tiefverwurzelten litauischen Toleranz oder der Fortschrittlichkeit der neuen litauischen Regierung verdankte. Die den Juden gegenüber eingegangenen Verpflichtungen waren eine der Bedingungen für die Anerkennung des nach dem Ersten Weltkrieg neu gegründeten Staates, die de jure in Versailles vorgenommen wurde. Außerdem waren sie Teil des Schutzes der Rechte nationaler Minderheiten, den die Großmächte von jenen Ländern forderten, die Mitglied im Völkerbund werden wollten.13 Der Schritt der litauischen Regierung war also wohlkalkuliert. Litauen als demokratischer Staat versuchte, eine pluralistische Politik aufrechtzuerhalten. Es war außenpolitisch isoliert und deshalb gezwungen, die Unterstützung internationaler jüdischer Organisationen zu gewinnen. Diese neuen Verbündeten wurden gebraucht, um Litauens Ansprüche auf jene Gebiete zu rechtfertigen, in denen der größere Teil der Bevölkerung keine Litauer waren. Dies galt vor allem für die östlichen Gebiete. In dem neu gegründeten Litauen sollte die jüdische Gemeinschaft mehr als zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Ein vielversprechender Anfang Jiddische Schriftzeichen, die eine gewisse Zeit in den Straßen zu finden waren, lebendiges Leben der jüdischen Gemeinschaft in zwei Sprachen, die jüdische Beteiligung an den Wahlen zu demokratischen Parlamenten und lokalen Verwaltungen, sieben Sitze für jüdische Vertreter im konstituierenden Sejm (Parlament), der Posten eines Ministers ohne Geschäftsbereich für jüdische Angelegenheiten, nationale Autonomie und die sogenannten jüdischen Parlamente waren der Beweis, daß die litauische Regierung ihre Versprechen einhielt. Die Erklärung auf der Pariser Friedenskonferenz vom 5. August 1919 schuf mit der Etablierung unterschiedlicher Institutionen nationaler Selbstverwaltung den historischen Präzedenzfall für die jüdische nationale Autonomie und damit eine neue Dimension jüdischen Lebens in der Diaspora. 12
13
Lettres adressés par la délégation de Lithuanie à la conférence de la Paix au Comité des délégations Juives, Paris, in: Lietuvos centrinis valstyb s archyvas – LCVA (Litauisches Zentrales Staatsarchiv), F. 648, In. 1. Akte 192, S. 1-4. Žaltvykst , Nr. 11, 1.11.1993: Imantas Melianas, Mažum teisi apsaugos tarpukario patirtis.
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Die autonomen Institutionen wurden auf der Basis von „provisorischen Maßnahmen“ und der Instruktionen des Ministers für jüdische Angelegenheiten ins Leben gerufen. Dennoch waren der Minister und sein Büro kein Teil des Systems der jüdischen nationalen Autonomie. Sie konnten von den jüdischen autonomen Institutionen in spezifisch jüdischen Angelegenheiten beraten werden, aber das Ministerium repräsentierte nicht die jüdische Autonomie im Kabinett. Die Mitglieder der jüdischen Fraktion im litauischen Parlament wurden proportional von den Repräsentanten der jüdischen Bürger in Litauen gewählt und ihr Einfluß hing von ihrer Kooperation mit der Parlamentsmehrheit ab.14 Zu Beginn der 1920er Jahre entstand in Litauen ein weitverzweigtes System von gesetzlich anerkannten kehillot (Gemeinden). Am 5. Januar 1920 fand die erste Konferenz der Gemeinden, an der 141 Delegierte teilnahmen, in Kaunas statt. Dort wurde ein jüdischer Nationalrat ernannt, der, in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für jüdische Angelegenheiten, die autonomen jüdischen Institutionen verwalten sollte. Der Nationalrat war in allen Bereichen des jüdischen Lebens aktiv. In den ersten Jahren seines Bestehens kümmerte er sich hauptsächlich um die Unterstützung jüdischer Kriegsflüchtlinge, die aus Rußland bzw. der Sowjetunion nach Litauen kamen oder gekommen waren.15 Im März 1920 wurde ein kehillot-Statut veröffentlicht, das die Gemeinde als reguläre, rechtsverbindliche und öffentliche Institution anerkannte, die das Recht hatte, Steuern einzufordern und das Budget für religiöse Angelegenheiten, Wohlfahrt, Sozialhilfe, Erziehungsinstitutionen etc. aufzustellen. Die Gemeinschaft war außerdem für die Registrierung jüdischer Neugeborener zuständig. Der Gemeinderat wurde auf der Grundlage demokratischer Prinzipien gewählt. Jeder Bürger, aus dessen persönlichen Dokumenten hervorging, daß er jüdisch war, war automatisch Mitglied einer Gemeinde.16 Die zweite Gemeindekonferenz, die am 14. Februar 1922 in Kaunas eröffnet wurde, besuchten 130 Repräsentanten aller jüdischen Gemeinden in Litauen. Eines der zentralen Themen dieses Kongresses war das jüdische Erziehungswesen, wobei Schwerpunkte auf dem Curriculum, der ideologischen Ausrichtung und dem Mitbestimmungsrecht der Eltern lagen.17 Die Blütezeit der jüdischen Autonomie endete aber bereits im Jahr 1923. Die Finanzierung des Büros des jüdischen Ministers wurde abgeschafft und am 31. März ein neues Gesetz über die jüdischen nationalen Gemeinden erlassen. Die reaktionären klerikalen Gruppen, die damals an der Spitze des Staates standen, initiierten – zunächst geheim, später offen – eine Kampagne gegen die jüdische Autonomie. Die Verfassunggebende Versammlung entfernte die Bestimmungen über die Ministerien für nationale Minderheiten und 14 15 16 17
Liekis, A State within a State?, S. 102f. Atamukas, Lietuvos žyd kelias, S. 129f. Ebd., S. 128. Mendel Sudarsky, Jews in the Independent Lithuania between the two World Wars, in: Ders. (Hg.), Lite, New York u.a. 1951, S. 144.
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die Minderheitenrechte, wie die Zweisprachigkeit in öffentlichen Angelegenheiten, aus dem Verfassungsentwurf. Für diesen Kurswechsel gab es mehrere Gründe. Die Christdemokraten, die zu dieser Zeit die Mehrheit stellten, warnten vor einem jüdischen „Staat im Staate“. Dieser würde einen Präzedenzfall für andere nationale Minderheiten schaffen. Der jüdische Nationalrat wurde, als er sich am 17. September 1924 zu einer Sondersitzung versammelte, von der Polizei aufgelöst und existierte in der Folgezeit nicht mehr.18 Die jüdische Autonomie, die so vielversprechend begonnen hatte, wurde nun immer stärker beschnitten. Diese Entwicklung hing stark von den politischen Veränderungen innerhalb und außerhalb des Landes ab. 1923 erkannte der Völkerbund Polens Rechte auf Wilna an. Dieser Schritt war ein schwerer Schlag gegen das Projekt der jüdischen Autonomie in Litauen. Die Republik Litauen ohne Wilna war bereits von vielen Ländern in der ganzen Welt anerkannt. Auf dieser politischen Grundlage gab es für Litauen wenig Anreiz, nach dem Verlust von Wilna einen multi-ethnischen Staat anstelle eines litauischen Nationalstaates zu errichten. Dennoch konnten die Juden einen Teil ihrer kulturellen Autonomie, d.h. ihre eigenen Schulen, sowie kulturelle, religiöse, Wohlfahrts- und politische Organisationen bis zum Zweiten Weltkrieg erhalten. Die jüdischen Grundschulen wurden darüber hinaus sogar vollständig über den Staatshaushalt finanziert. Mittelschulen und Gymnasien wurden aus verschiedenen Quellen finanziert, aber ein Teil von ihnen erhielt ebenfalls Unterstützung vom Staat.19 Die litauische Sprache mußte in den jüdischen Schulen als separates Fach unterrichtet werden. Dabei behielten sich die Behörden vor, den Lehrbetrieb zu inspizieren, Lebensläufe zu überprüfen und die Examina zu kontrollieren. Die „Litauisierungs“-Politik wurde im Laufe der Jahre verstärkt. So unternahm z.B. der Erziehungsminister Versuche, die jüdischen Schulleitungen „zu überzeugen“, mehr Themen in litauischer Sprache zu unterrichten – dieses Ansinnen scheint allerdings nicht sehr erfolgreich gewesen zu sein. So fragte der Inspekteur des Erziehungsministeriums in einem Bericht am Ende der 1930er Jahre: „Erziehen wir Bürger für Litauen oder Palästina? Schüler können kaum die einfachsten Sätze in Litauisch bilden, vom patriotischen Geist in diesen Klassen ganz zu schweigen.“20 Die Bereitschaft der litauischen Regierung, das unabhängige jüdische Erziehungswesen weiterhin zu unterstützen, muß als Entscheidung für das kleinere Übel verstanden werden. So schien es sinnvoller, daß die litauischen Juden Jiddisch oder Hebräisch sprachen und ihre eigene Kultur fortentwickelten, als daß sie das Polnische oder Russische propagierten. Außerdem diente es einer noch größeren kulturellen Trennung von Litauern und 18 19 20
Radensky, Žyd reikal ministerija, in: Lietuvos istorijos metraštis 1995/1996, S. 86; Liekis, A State within a State?, S. 105. Saulius Kaubrys, National Minorities in Lithuania, Wilna 2002, S. 157f. Taurag s mokytoj seminarijos direktoriaus M. Ma ernio pranešimas Švietimo ministerijai, 5.9.1934, in: LCVA, F. 391, In. 2. Akte 1651, S. 30.
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Juden. Fehlende Kenntnisse in der Staatssprache ermöglichten es dem litauischen Behörden- und Regierungsapparat, Juden von der Partizipation an der Führung des Landes fernzuhalten bzw. sie davon abzuhalten, größeren politischen Einfluß zu gewinnen. Zu Beginn der 1920er Jahre – zur Zeit des politischen Pluralismus in Litauen – machte keine politische Partei oder Persönlichkeit eine antisemitische Äußerung, verfocht antisemitische Propaganda oder tolerierte antisemitische Aktionen. Einhellige Ansicht war, daß es vielleicht Unstimmigkeiten zwischen Litauern und Juden gäbe, aber keine Diskriminierungen oder einen wie auch immer gearteten Antisemitismus. Die Struktur des politischen Lebens in der Zwischenkriegszeit in Litauen ähnelte der in anderen Staaten von Ostmitteleuropa. Der Militärputsch unterbrach die Entwicklung der Demokratie in Litauen und das autoritäre Regime von Antanas Smetona übernahm Ende 1926 die Herrschaft. Die Politik gegenüber den Juden in der Zeit des autoritären Regimes trug zunächst die Handschrift des Präsidenten Antanas Smetona. Die jüdische Presse beschrieb den Präsidenten als toleranten litauischen Politiker. Aber die Regierung erntete bereits in den späten 1930er Jahren die Früchte der nationalen Ideologie. Auch wenn sie es gerne gewollt hätte, konnte sie nicht alle Bereiche des öffentlichen Lebens und der gesellschaftlichen Entwicklungen kontrollieren.
Verfassungsmäßige und faktische Gleichheit Sogenannte ungeschriebene Gesetze beeinflußten die Gesellschaft mehr als die offiziellen Paragraphen der Verfassung: „Die Bestrebungen einer dominierenden Mehrheit werden hinter schönen Formulierungen versteckt [...], diese Bestrebungen werden in verfassunggebenden Nischen praktiziert, aber nicht in der Verfassung niedergeschrieben.“21 Den Vereinbarungen von Versailles entsprechend durfte weder die Minderheitengesetzgebung noch das Regierungshandeln den internationalen Vereinbarungen bezüglich der Rechte nationaler Minderheiten entgegenstehen. Sechs Verfassungen – drei provisorische und drei endgültige – wurden in Litauen in der Zwischenkriegszeit angenommen. Der konstituierende Sejm verabschiedete die erste litauische Verfassung am 1. August 1922.22 Die jüdische Parlamentsfraktion war an den Arbeiten zu den Paragraphen, welche die Rechte nationaler Minderheiten betrafen, beteiligt. Die christlich-demokratische Parlamentsmehrheit lehnte den von der jüdischen Fraktion vorgeschlagenen Artikel ab, und es blieben lediglich zwei Paragraphen, welche die
21 22
Mykolas R meris, Valstyb ir jos konstitucin teis , Bd. I.2, Wilna 1995, S. 244. Ders., Lietuvos valstybes konstitucijos, Wilna 1990, S. 103.
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Rechte nationaler Minderheiten betrafen, in der Verfassung übrig.23 Diese bestimmten: „Jene nationalen Minderheiten, die einen bedeutenden Teil der Gesamtbevölkerung ausmachen, haben das Recht, sich autonom um ihre nationale Kultur, Erziehung und Wohlfahrt zu kümmern; sie haben ihre Vertreter, die sie entsprechend der gesetzlichen Vorschriften wählen; die nationalen Minderheiten haben das Recht, Abgaben von den Mitgliedern ihrer Gemeinschaften zu erheben, um die Bedürfnisse ihrer nationalen Kultur zu befriedigen und einen gerechten Teil des von Staat und Gemeinden zur Verfügung gestellten Geldes für erzieherische und wohltätige Zwecke zu verwenden, wenn diese Bereiche nicht vom Staat und von den Gemeinden unterhalten werden.“24
Das Problem war, daß niemals genauer definiert wurde, wie groß eine nationale Minderheit sein mußte, um „einen bedeutenden Teil“ der Gesamtbevölkerung auszumachen. Das litauische Parlament hatte guten Grund, diese Größe nicht zu spezifizieren, da zu diesem Zeitpunkt bereits offensichtlich war, daß die jüdische Bevölkerung kleiner war als in der Vorkriegszeit. Nur ein Teil war aus Rußland zurückgekehrt. Außerdem war auch vor 1923 höchst zweifelhaft, ob die jüdische Gemeinschaft in Wilna, die den prozentualen Anteil der jüdischen Bevölkerung stark gesteigert hätte, zu Litauen gehören würde. Die staatliche Existenz Litauens in der Zwischenkriegszeit gründete, wie auch in anderen Ländern Ostmitteleuropas zu dieser Zeit, auf dem Konzept der Nation, nicht aber auf dem Konzept des Staatsbürgers. Nationalität und Staatsbürgerschaft – zwei gleichermaßen wichtige Faktoren – wurden in eins gefaßt. Der litauische Bürger war in der Zwischenkriegszeit Teil der „führenden Ehtno-Nation“, deren Ziele mit den Staatszielen identisch waren.25 Der pluralistische litauische Staat, der er noch zu Beginn der 1920er Jahre gewesen war, veränderte sich langsam zum litauischen Nationalstaat am Ende der 1920er Jahre. Die junge Generation der Tautininkai-Partei (Nationalisten) beklagte, daß die litauische Nation in der Verfassung von 1922 in keiner Weise privilegiert worden sei. Sie sei: „im Geist der klassischen Demokratietheorie niedergeschrieben und der sogenannten Staatsnation gewidmet [...] Die litauische Nation schämte sich dafür, daß Litauen kein Staat der Litauer war, sondern einfach nur ein Staat seiner Einwohner, von Bürgern ohne spezifische Charakteristika.“26
Die letzte Verfassung von 1938 enthielt keine Paragraphen über die Rechte der nationalen Minderheiten mehr. Sie enthielt aber Paragraphen vorangegangener Verfassungen über „die Rechte und Pflichten litauischer Bürger“, die erklärten, daß „alle Bürger Litauens vor dem Gesetz gleich seien“. 23 24 25 26
Kaubrys, National minorities, S. 62f. Kazmieras Valan ius (Hg.), Lietuvos valstybes konstitucijos, Wilna 1989, S. 28. Mykolas R meris, Teisin s minties palikimas, Wilna 1990, S. 269. Akademikas, Nr. 17/18, 1937: Vladas K. Naus das, Politin tautos s voka, S. 375f.
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Niemand sollte aufgrund seines Geschlechts, seiner Nationalität, Religion und seines sozialen Status diskriminiert werden.27 Die hier ausgedrückte Sorge um jeden litauischen Bürger verbot ausdrücklich die Diskriminierung von Personen jüdischer oder anderer Nationalität, aber die Praxis zeigte, daß diese Rechte durch ungeschriebene Gesetze unterlaufen wurden. Als im Jahr 1936, nach zehnjähriger Unterbrechung, wieder ein Parlament zusammentrat, hatte es keine jüdischen Delegierten mehr.28 Es war Juden nicht verboten, sich um Anstellungen im Staatsdienst oder andere offizielle Ämter zu bewerben, aber es gab nur wenige Juden, die solche Positionen innehatten. Personen jüdischer Herkunft waren in strategischen Positionen wie Post, Eisenbahn, Zollbehörden, Grenzüberwachung und Armee eher die Ausnahme.29 Der Staatssicherheitsdienst „suchte sorgfältig“ die loyalsten und vertrauenswürdigsten Kandidaten aus, und nur die „besten Litauer“ konnten diese Posten übernehmen. Jeder Versuch, die jüdische nationale Identität zu betonen (sei es im politischen oder kulturellen Bereich) bzw. ihre Rechte festzuschreiben, wurde vom litauischen Behörden- und Regierungsapparat als separatistische Bestrebung und somit als eine Bedrohung für den litauischen Staat wahrgenommen.
Die junge Generation im Nationalstaat Die Früchte der von Präsident Antanas Smetona, des selbsternannten „Führers der Nation und der TP“, verfochtenen nationalen Ideologie konnten bereits Mitte der 1930er Jahre gesehen werden. Rassismus und nationaler Egoismus kamen immer häufiger in den Reden der jungen Ideologen der TP vor. Patriotismus, litauische Sprachenpolitik, der Kult des Führers der Nation, „litauisch“ zu sein, im Fühlen wie im Denken, diese Dinge bildeten das ideologische Fundament der selbstbestimmten litauischen Jugend. Die Köpfe der jungen litauischen Generation waren nicht nur offen für die Lehren ihres Führers, sondern auch für faschistische Ideen und für den Antisemitismus – die sogenannte „moderne europäische Seuche“.30 Die einmal vom nationalistischen Geist infizierte junge litauische Generation war bereit, alle ihr vorgetragenen nationalen Ideale zu übernehmen, auch wenn dies eine Radikalisierung bedeutete.31 Die Jugendorganisation Jaunoji Lietuva (Junges Litauen) – die dem
27 28 29 30 31
R meris, Valstyb , Bd. I.2, S. 252. 1 iškilmingas pos dis 1936 m. rus jo 1d., in: Seimo Stenogramos 1.11.1936-30.11.1936, Kaunas 1936, S. 5. Liudas Truska, Antanas Smetona ir jo laikai, Wilna 1996, S. 298. Akademikas, Nr. 10, 1935: Zenonas Blynas, Romos avangardas, S. 250. Akademikas, Nr. 10, 1935: Socialinis gyvenimas, S. 261.
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Präsidenten Smetona treu ergeben war – kämpfte mit allen Mitteln dafür, „daß Litauer in allen Lebensbereichen in Litauen die Hauptrolle spielen“.32 Ein weiterer Aspekt der Regierungspropaganda betraf die ökonomische Neuorientierung der jungen Generation: „Die litauischen Jugendlichen sollen Unternehmer werden und auf ihnen muß die ökonomische Unabhängigkeit Litauens beruhen. Wir wollen uns nicht mehr mit dem unproduktiven akademischen Proletariat befassen“33 Die litauische Regierung sah ihre Aufgabe darin, die junge Generation in Litauen angemessen zu beschäftigen, damit sie sich nicht „auf die Suche nach ihrem Glück“ in andere Länder begab. Der angestrebte Wohlstand sollte auch die kulturelle Entwicklung stimulieren und wieder mehr Litauer motivieren, ein Universitätsstudium aufzunehmen. Im akademischen Bereich waren Litauer nicht entsprechend ihres Anteils an der Bevölkerung repräsentiert. An den Universitäten wurden die alltäglichen Beziehungen langsam zu offenen Konflikten zwischen litauischen und jüdischen Studenten. Die antijüdische Einstellung der jungen Litauer ergab sich aus den unterschiedlichsten wirtschaftlichen oder beruflichen Interessen. Darüber hinaus hatte sie auch psychologische Hintergründe. Die Schwierigkeiten, eine Anstellung im Staatsdienst zu finden, die Stagnation auf dem Agrarsektor sowie scharfer Wettbewerb im Handel und bei Freiberuflern führten dazu, daß radikal eingestellte litauische Studenten auf drastischen Maßnahmen gegenüber ihren jüdischen Mitstudenten bestanden. Mitglieder radikal-nationalistischer litauischer Organisationen sagten Litauen eine „traurige Zukunft“ voraus, wenn nichts unternommen würde, um die Situation an den Universitäten zu verändern. Wie in anderen Ländern Ostmittel- und Südosteuropas wurde auch hier die Einführung eines numerus clausus gefordert. „Aufgrund unserer Toleranz sehen heute manche Fakultäten aus wie ein Stadtteil von Tel Aviv, aber nicht wie die Vytautas Magnus Universität (VMU)“.34 Tatsächlich lag die Zahl der jüdischen Studenten an der medizinischen Fakultät 56 mal höher als der Prozentsatz der jüdischen Minderheit in Litauen.35 (Vgl. Tab. 1, S. 112)
32 33 34 35
Talka, Nr. 7, 1937: Jaunajai Lietuvai pakeliui su kooperacija, S. 3. Verslas (Geschäft), 5.5.1932: Ugdykime lietuviu verslinink luom ; Verslas, 5.7.1934: Kenstavi ius, Ekonomin nepriklausomyb . Jaunasis Prekybininkas, Nr. 5, 1934: Inteligent nedarbas ir m s prekyba, pramon ir amatas, S. 3. Naujoji viltis, Nr. 13, 1980: Zenonas Ivinskis, Žydai ir lietuviai istorijos šviesoje, S. 58.
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Tabelle 1: Prozentualer Anteil der Studenten an der Vytautas Magnus Universität nach Nationalität im Jahre 1933, in: J. Balys, Antropologin ir sociologin žydijos problema, in: Akademikas, Nr. 2, 1934
Fakultät Geisteswissenschaftliche Juristische Medizinische
Nationalität Litauisch 67,8 % 77,9 % 51,5 %
Jüdisch 25,2 % 16,4 % 41,7 %
Die litauische Regierung ging über die Forderungen nationalistischer Litauer nach der Einführung von Nationalitätenquoten bei der Immatrikulation für ein Hochschulstudium hinweg. Allerdings wurde eine verbindliche litauische Sprachprüfung für Ausländer eingeführt. Nach Meinung der Mitglieder der litauischen Studentenverbindung Neues Litauen war aber „die Aufgabenstellung in der Prüfung so einfach, daß nur ein absoluter Esel sie nicht bestehen würde.“36 Sie appellierte an die litauische Regierung und Gesellschaft, die „einheimische“ litauische Intelligenz zu unterstützen, weil „für uns [Litauer; E.B.] keine Gefahr besteht, daß es zu einem Überschuß an litauischer Intelligenz kommt; der Wettbewerb mit der nichtlitauischen Intelligenz aber bleibt unsicher.“37 Der traurige Höhepunkt des Antisemitismus an den Universitäten wurde 1939 erreicht, als die Wortführer der ethnisch-litauischen Studenten bei der Universitätsverwaltung gesonderte Bänke, sogenannte Sitzbank-Ghettos, für ihre jüdischen Kommilitonen durchsetzen konnten.38 Die Zahl jüdischer Studenten war aufgrund der ökonomischen Krise, der zweifelhaften Zukunftsperspektiven und aus anderen Gründen während der drei Jahre von 1932 bis 1935 rapide auf 60,5% in Jura, 36,6% in Medizin, 47,3% in den Ingenieurwissenschaften und 71% in der geisteswissenschaftlichen Fakultät gesunken. Zwischen 1926 und 1935 sank der Anteil jüdischer Studenten an der Gesamtzahl der Studierenden an der VMU von 27,1% auf 16,4%.39 Die zwei wichtigsten und einflußreichsten nationalen Organisationen in Litauen in der Zwischenkriegszeit waren der Schützenverband (Šauli Sajunga) und die Jugendorganisation Jaunoji Lietuva (Junges Litauen), die von der TP gefördert wurden. Trotz ihrer Erklärung, ausschließlich in kulturellen Belangen tätig zu sein, hielten sie sich nicht „aus der Entwicklung des staatlichen Lebens“ heraus und versuchten, politisch zu agieren. Dies kam dem Regime Smetona entgegen, weil es mit Hilfe dieser Organisationen sein 36 37 38 39
Akademikas, Nr. 2, 1934: J. Balys, Antropologin ir sociologin žydijos problema, S. 42. Ebd. Lietuvos žinios, 2.11.1939: VDU Rektoriaus prof. Stasio Šalkauskio pasikalb jimai su žurnalistais. Apžvalga (Rundschau), Nr. 5, 2.2.1936: E. Kravecas, Lietuvos universitete žyd skai ius sumaž jo per pus .
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Programm für die Einigung der litauischen Nation und ihre „Reinigung“ vom Einfluß Fremder durchführen konnte. Im Schützenverband gab es nur wenige jüdische Mitglieder, während das Jaunoji Lietuva sich zu hundert Prozent aus Litauern zusammensetzte. In der Ideologie und Praxis dieser beiden Organisationen existierten latente Formen des Antisemitismus. Die Unkenntnis der litauischen Sprache wurde als Geringschätzung des litauischen Staates verstanden. Die ungleiche Verteilung der beiden Bevölkerungsgruppen in verschiedenen Beschäftigungszweigen galt als Relikt aus vergangenen Zeiten. Die Ideologen des Schützenverbandes wiesen darauf hin, „nicht gegen die Juden“, sondern gegen „destruktive jüdische Verhaltensweisen“ zu kämpfen, „um die Juden aus der Wirtschaft zu eliminieren und zugleich die Position der Litauer zu unterstützen.“40 Im Anschluß an die Russifizierungspolitik des späten russischen Zarenreichs galten alle erzieherischen und kulturellen Aktivitäten zunächst der Pflege der litauischen Nation. Das galt selbstverständlich auch für die Politik der Regierung. Aber in Litauen, wie in anderen Ländern Ostmitteleuropas auch, verwischten sich die Grenzen zwischen Patriotismus und Chauvinismus.
Das Streben nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit Zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert hatten Juden industrielle und gewerbliche Fertigkeiten in die Provinzstädte gebracht und die Entwicklung des Kapitalismus gefördert. Das traditionelle jüdische Monopol auf dem Gebiet von Handel und Handwerk, das sich über einen langen Zeitraum entwickelt hatte, galt in der unabhängigen litauischen Republik zunehmend als unerwünscht. Litauen war ein Agrarstaat, die meisten Menschen lebten in Dörfern, in denen die Beschäftigungsmöglichkeiten begrenzt waren. Nach der Unabhängigkeit aber zogen immer mehr Litauer in die Städte, in denen ursprünglich eher Angehörige anderer ethnischer Gruppen gewohnt hatten. Daraus entwickelten sich neue Gesellschaftsstrukturen und neue wirtschaftliche Beziehungen. Dem Zensus von 1923 läßt sich entnehmen, daß 31,9% der litauischen jüdischen Bevölkerung im Handel tätig waren. Für den gesamten litauischen Handel zu dieser Zeit machte das 77% aus. 2% der litauischen Juden arbeiteten in der Industrie, 5,3% waren im öffentlichen Dienst angestellt und 3% im Transportwesen.41 Die Anstrengungen der Regierung, die nationale Mehrheit in allen Lebensbereichen, besonders dort, wo sie bisher nur eine geringe Rolle spielte, zu unterstützten, wurde als strategisches Interesse der litauischen 40 41
XVIII-tos Šauli rinktin s vadui 1930 m. Spaudos propaganda, in: LCVA, F. 561, In. 2. Akte 4407, S. 175. Lietuvos gyventojai, 1923 m. rugs jo 17 d. surašymo duomenys, Kaunas 1923, S. 295.
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Nation verstanden. Die Entwicklung der Litauer zu einer ökonomisch voll funktionsfähigen modernen Gesellschaft wurde zu einer der wichtigsten Aufgaben jeder litauischen Regierung in der Zwischenkriegszeit. In den 1930er Jahren, nach der großen Wirtschaftskrise, wuchs die Anzahl der Litauer in Handel und Industrie. Weil Litauen ein kleines Agrarland war, das weder Kohle noch Öl, Mineralien, Schwermetalle oder andere Bodenschätze besaß, war die protektionistische Politik der Regierung auf die Entwicklung der Agrarindustrie gerichtet. Diese Einseitigkeit verlangsamte das Wachstum von Industrie und städtischer Wirtschaft. So konnte die Vollbeschäftigung der Bevölkerung nicht gesichert werden. Deshalb wurde die Expansion der litauischen Bevölkerung in nicht-agrarischen Bereichen auf Kosten anderer nationaler Gruppen gefördert. Diese Umverteilung ging hauptsächlich zu Lasten der jüdischen Bevölkerung.42 Premierminister Juozas T belis konstatierte: „Zwar sollte private Initiative in der Wirtschaft nicht unterdrückt werden, aber dennoch muß der Staat die Ökonomie des Landes aufrechterhalten.“43 Ein nationales Regierungsprogramm, das mit Zustimmung der litauischen Bevölkerungsmehrheit ins Leben gerufen wurde, werteten die Juden als Angriff auf sie und ihre Aktivitäten.44 Im Rahmen eines Genossenschaftssystems wurden eine Reihe von litauischen Unternehmen mit einem hohen Anteil staatlichen Kapitals gegründet: Maistas (Lebensmittel), Liet kis (Litauische Wirtschaft), Linas (Flachs), Pienocentras (Molkereien) und Lietuvos cukrus (Litauischer Zucker).45 Die Genossenschaften verdrängten jüdische Großhändler und Mittelsmänner aus dem agrarischen Sektor. Zwischen 1923 und 1936 wuchs die Zahl litauischer Unternehmen um 6.000 – von 13% auf 43%. In der Zwischenzeit hatte sich der Anteil jüdischer Firmen auf weniger als 9% reduziert. Ende der 1930er Jahre wurden noch 32% der Industrie- und Handelsunternehmen von Juden kontrolliert, wohingegen die Anzahl der litauischen Eigentümer auf 60% gestiegen war.46 Zwischen 1926 und 1940 erließen die jeweiligen TP-Regierungen mehr als ein Dutzend Verfügungen oder Änderungen der bestehenden Gesetze; wie das Preisregulierungsgesetz, Regulierungen zur Ausübung freier Berufe, wie Ärzte oder Anwälte oder Zusätze zu den Gesetzen über Im- und Exporte.47 Diese Verordnungen richteten sich nicht speziell gegen Juden, aber mit dem Wissen um die soziale Staffelung der Gesellschaft in Litauen ist es nicht schwierig zu 42 43 44 45 46 47
Kazmieras Meškauskas, Lietuvos kis 1900-1940, Wilna 1992, S. 226f.; Naujoji viltis, Nr. 13, 1980: Ivinskis, Lietuva ir žydai, S. 59, 61. Apžvalga, Nr. 21, 27.10.1935: Juozas T belis, Apie priemones kovoje su krize. Apžvalga, Nr. 21, 27.10.1935: J. Leš inski, Apie ekonomin žyd b kl Lietuvoje. Meškauskas, Lietuvos kis, S. 144-147; Naujoji viltis, Nr. 13, 1980: Ivinskis, Lietuva ir žydai, S. 60. Verslas, 6.8.1936: Butautis, Procesas vyksta; Encyclopedia Judaica, Bd. 11, Jerusalem 1996, S. 375. Artikel in Vyriausyb s žinios 1930-1939.
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erkennen, daß Juden als erste von diesen Einschränkungen betroffen waren und ihre wirtschaftlichen Betätigungsfelder dadurch am stärksten eingeschränkt wurden. Eines der Gesetze, das größte Unruhe innerhalb der jüdischen Gemeinschaft auslöste, war eine Qualifizierungsprüfung für Handwerker. Jeder, der dieses Qualifikationszertifikat für ein bestimmtes Handwerk erhalten wollte, mußte ein solches Examen in litauischer Sprache bestehen.48 Nach der Veröffentlichung dieses Gesetzes war die Empörung in den jüdischen Zeitungen groß. Die Autoren dieser Artikel konstatierten, daß dieses umstrittene Gesetz vor allem die Juden betreffen würde, für die ältere Generation würde dies den Verlust ihrer Existenzgrundlage bedeuten, weil nur wenige solch ein Examen bestehen könnten.49 Bei dem Erziehungsminister, der für die Ein- und Durchführung dieses neuen Gesetzes verantwortlich war, gingen zahllose Telegramme von Repräsentanten jüdischer Gemeinschaften aus allen Ecken Litauens ein. Diese am 4. April 1934 versandten Telegramme hatten fast alle den gleichen Inhalt und forderten den Minister auf, die Überprüfungen zu beenden.50 Nach einer langen, mehr als zwei Jahre dauernden Diskussion wurde entschieden, daß dieses Examen nicht für jene Personen verpflichtend sein sollte, die sich bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes in Industrie, Handel und Handwerk engagiert hatten. Das andere Gesetz, das in der Zwischenkriegszeit mehrfach überarbeitet, verbessert und verfeinert wurde, betraf Ferien und Feiertage. Es wurde zu Beginn der 1920er Jahre zusammengestellt und veröffentlicht, aber die dadurch ausgelösten Diskussionen und Unstimmigkeiten hatten auch am Ende der 1930er Jahre noch Auswirkungen auf das alltägliche Leben.51 Die Lage hatte sich zu einem Dauerkonflikt zwischen litauischen und jüdischen Gewerbetreibenden entwickelt, für den die Regierung keine endgültige Lösung finden konnte. Der Sonntag wurde zum offiziellen Ruhetag erklärt, aber die Juden, die sich keinem großen wirtschaftlichen Wettbewerb gegenübersahen, hielten, entsprechend ihrer eigenen religiösen Tradition, am Shabbat fest, d.h. sie ruhten am Samstag und gingen sonntags ihren Geschäften nach. Diese Situation veränderte sich in den 1930er Jahren, als die litauische wirtschaftliche Klasse an Bedeutung gewann. Es wurde versucht, die Juden zur Einhaltung der gesetzlich eingeführten Ferien und Ruhetage zu zwingen, so daß die 48 49 50 51
Vyriausyb s žinios, Nr. 440, 2.3.1934: Verslo egzamin komisijos statymas. Apžvalga, Nr. 13, 8.9.1935: Bendraslikimas mus riša; Gurvi ius, Apžvalga, Nr. 1, 5.1.1936: Kas turi tvarkyti amatus; Apžvalga, Nr. 16, 19.4.1936: Susipraskime kol nev lu. Amantinink kvalifikacijos reikalu 1934, in: LCVA, F. 605, In. 3. Akte 9, S. 35-39. Die zu diesem Thema im Organ der Geschäftsleute Verslas 1938 veröffentlichten Artikel: Šven i ir poilsio statymo klausimo svarbumu, Nr. 4; Ir vasario 16d. neturime poilsio, Nr. 7; Naujojoje konstitucijoje šven i ir poilsio statymas, Nr. 9; Šv sti šventes kaip tikri lietuviai negalime, Nr. 40-41; Šventadienis poilsis ir prekyba, Nr. 42; Ar bus kada išgirsti teisingi reikalavimai, Nr. 45.
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litauischen Geschäftsleute nicht an Sonntagen handeln durften und die Kunden die von ihnen gewünschten Waren an Samstagen kaufen konnten. Geschlossene Läden an Samstagen schienen den litauischen Geschäftsleuten kein Akt der „Toleranz, sondern eine Art sklavischer Preisgabe“ zu sein und der sonntägliche Handel „beleidige und demütige nicht nur den Staat, sondern die nationalen und religiösen Gefühle der Litauer“.52 Mittlerweile schien den Juden das komplette Verbot des Sonntagshandels als unfairer Wettbewerb, als dessen Ziele sie den Litauern unterstellten, nicht „ihre eigenen [christlichen; E.B.] Ruhetage zu erhalten, sondern vielmehr ihre jüdischen Mitbewerber zu zwingen, zwei Ruhetage pro Woche einzuhalten.“53 Alle Versuche, diese Frage gesetzlich zu regeln, scheiterten in der Praxis. Zusätzlich zu den Sonntagen gab es eine ganze Liste von Tagen, die zu Ferien- und Ruhetagen erklärt wurden. Von den 15 vorgeschriebenen Feiertagen waren elf dazu gedacht, religiöse katholische Traditionen zu pflegen. An diesen Tagen sollten die Menschen die Gottesdienste besuchen. Es war nicht gestattet, eine wie auch immer geartete kommerzielle oder wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben. Staat, Gemeinde- oder Stadtrat, private Organisationen und Schulen mußten an Neujahr, am 16. Februar (Litauischer Unabhängigkeitstag), Ostern, Pfingsten, Fronleichnam und Weihnachten geschlossen bleiben.54 Auf diese Weise mußten die Juden, die nach dem Gesetz Religionsfreiheit genossen, nicht nur litauische Staatsfeiertage beachten, sondern auch katholische. Der geschäftliche Wettbewerb wurde vom litauischen Nationalismus überlagert. Aussagen wie jene, daß „wir [Litauer; E.B.] nicht sagen ‚Boykottiert die Juden!’, sondern ‚Unterstützt eure eigenen Leute!’“ oder „Laßt uns in allen Lebensbereichen nur mit unsereins zusammenstehen!“ unterscheiden sich nur wenig von Parolen wie „Litauen den Litauern!“. Nationale Ideologien wurden propagiert und indirekt von der Regierung unterstützt. Die 1930 gegründete litauische Handelsorganisation sollte litauische Geschäftsleute, Handwerker und Händler vereinigen und Bestrebungen nach wirtschaftlicher Selbständigkeit unterstützen. Die neugegründete Organisation suchte Hilfe für ihre Aktionen bei der Regierung.55 Ihre Politik war gegen die vermeintliche Dominanz der Fremden gerichtet. Sie zielte vor allem auf eine Gruppe von Konkurrenten ab: die Juden.56
52 53 54 55 56
Verslas, 18.10.1934: B. Pusreikštis, Prekyba ir žydai. Apžvalga, Nr. 41, 12.11.1937: Iksas, Pavydi mums šabo. Vyriausyb s žinios, Nr. 328, 14.5.1930: Šven i ir poilsio dien statymas. Užklausimas Lietuvi Prekybinink Pramonink ir Amatinink Centro Valdybei 30.9.1933, in: LCVA. F. 605. In. 2. Akte 6, S. 163. Hier nur einige Titel zum Thema, das beständig auf den Seiten der Wochenzeitschrift der Händler, Verslas zu finden war: 23.6.1932: Žydiška logika ir košerna etika; 11.10.1934: A.K. Kauno prekyba „Handel, handel“; 15.10.1936: Tai nepirkite pas žydus; 18.2.1938: Reikia statym kurie sunormuot žyd klausimai.
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„Wir sind nicht mißgünstig, was das Einkommen der Fremden betrifft, [...] aber wir würden uns wünschen, daß der staatliche Organismus ausgewogener funktionieren würde. Um dies zu erreichen, wäre es am besten, die Trennung der unterschiedlichen Geschäftssphären nach Nationalitäten aufzuheben“,
so schlug es die Zeitschrift Verslas (Geschäft) der litauischen Geschäftsleute vor.57 Die Mitglieder der Handelsorganisation, die sich selbst als „moderne Kämpfer für die Nation“ bezeichneten, leugneten entschieden jede Form von Antisemitismus.58 Dieses Leugnen verband sie mit hohen Staatsbeamten, den Führern patriotischer litauischer Organisationen und bekannten Personen des öffentlichen Lebens, die einstimmig wiederholten, daß in Litauen kein Platz für Diskriminierung und Antisemitismus sei. Bei etwaigen Konflikten zwischen Litauern und Juden handele es sich lediglich um Mißverständnisse.59 Im deutlichen Gegensatz zu diesen Versuchen des Behörden- und Regierungsapparates, die ökonomischen Litauisierungsbestrebungen herunterzuspielen, muß festgehalten werden, daß in der litauischen Wirtschaftpresse offen antisemitische Artikel an der Tagesordnung waren.
Gewalttätige Übergriffe Unter einem Pogrom wird normalerweise ein Massenaufstand mit körperlichen Angriffen und Verwüstungen jüdischen Besitzes verstanden. Im Litauen der Zwischenkriegszeit gab es keine Ereignisse, die als Pogrome bezeichnet werden können. Trotzdem gab es gewalttätige Aktionen gegen Juden. Zu den größten antijüdischen Exzessen kam es 1929 in Vilijampole bei Kaunas und 1939 in Leipalingis. Zwischen 1934 und 1936 wurden in Žemaitija Fenster von jüdischen Häusern eingeworfen.60 Das Mantra der Wochenzeitschrift Apžvalga (Rundschau), dem Sprachrohr der Juden, die sich der litauischen Nationalbewegung gegenüber zur Loyalität verpflichtet fühlten, lautete: „Es gibt keine antijüdischen Exzesse, sofern die Regierung sie nicht unterstützt“.61 Aber Mitte der 1930er Jahre war die
57 58 59
60 61
Verslas, 25.2.1932: Ko mes norime? Verslas, 5.5.1932: J. Simonaitis, Antisemitizmo provokatoriai; Verslas, 19.5.1932: Ar ir ia antisemitai. Apžvalga, Nr. 5, 14.7.1935: Mykolas R meris, Apie žyd ir lietuvi santykius; Apžvalga, Nr. 4, 7.7.1935: Kauno miesto burmistras aktualiais klausimais; Apžvalga, Nr. 3, 30.6.1935: Paikalb jimai su Jaunalietuvi vadu B. Grebliausku. Kaip gali b ti pagerinti lietuvi ir žyd santykiai; Apžvalga, Nr. 5, 14.7.1935: Interviu su R. apliku; Apžvalga, Nr. 21, 3.11.1935: Ministras Pirmininkas p. J. T belis apie priemones kovoje su krize. Valstyb s Saugumo ir Kriminalin s Policijos Apygard biuletinis, 8.10.1935, in: LCVA, F. 378, In. 4. Akte 1548, S. 103-271. Apžvalga, Nr. 12, 1.9.1935: Rezensionsartikel; Apžvalga, Nr. 19, 20.10.1935: Rezensionsartikel.
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Situation soweit eskaliert, daß selbst ein geringfügiger Anlaß zu ernsten Komplikationen zwischen Litauern und Juden führen konnte. Präsident Antanas Smetona selbst und moderate Mitglieder der regierenden TP versuchten, die litauisch-jüdischen Spannungen abzubauen. Der Präsident betonte in seinen Reden, daß es „keine guten oder schlechten Nationalitäten gäbe“. Er bezeichnete die Juden als „gleichberechtigte Bürger Litauens“ und rief dazu auf, „dem zoologischen Nationalismus“ zu widerstehen.62 Jegliche Aktivitäten von Organisationen mit antisemitischem Charakter waren in Litauen verboten, die rassistische Ideologie wurde von der kulturellen und politischen Vorkriegselite verdammt, auch wenn die jungen Intellektuellen der TP wie Antanas Maceina, Stanislovas Tarvydas, Juozaz Girnius und andere nationalsozialistischen, rassistischen und totalitären Ideen äußerst aufgeschlossen gegenüberstanden. Polizisten wurden angehalten, auf die kleinsten antijüdischen Aktionen zu reagieren. Trotzdem scheint es, als ob die offiziell erklärte Ablehnung antisemitischer Äußerungen lediglich auf der Regierungsebene und in den regierenden Kreisen galt. Dem Regime gelang es nicht immer, die Presse zu kontrollieren. Manches Mal wurde zwar eine gesamte Auflage wegen Berichten, die die Stimmung anheizen konnten, konfisziert. Aber von Zeit zu Zeit erschienen sogar Sonderhefte voller antisemitischer Propaganda. „Der Antisemitismus kommt in Fahrt und die jüdische Frage gerät mehr denn je in den Mittelpunkt“ – so die akademische Jugendzeitschrift Akademikas (Der Akademiker). „Es kommt vor, daß Hitzköpfe dieses Problem nach dem Beispiel der Staaten zu lösen versuchen, in denen jegliche Form der Ausgewogenheit bereits verlorengegangen ist [z.B. Deutschland und Italien; E.B.]“.63 Bei der Betrachtung ausgewählter antisemitischer Vorfälle wird deutlich, daß die Exzesse sich auf fiktive Vorwände, Gerüchte und aufgeheizte Emotionen gründeten. Die Täter waren nicht nur „Hooligans“ oder unreife Jugendliche, die in der größeren Öffentlichkeit eher auf Ablehnung stießen, wie die Berichte der Ordnungskräfte glauben machen möchten.64 Die Presse schrieb z.B. in großer Aufmachung über Fälle von vermißten Kindern vor dem Pesachfest. Demgegenüber nahm das Ergebnis der polizeilichen Untersuchung nur wenige Zeilen ein, wenn es denn überhaupt in der Zeitung erschien.65 Solche Ereignisse zogen immer größere Kreise. So gab es immer wieder Fälle, in denen ein Kind aus unbekannten Gründen verschwand. Bereits am gleichen Abend oder während der folgenden Tage kam es zu Schlägereien, wurden Scheiben von Synagogen, Läden oder jüdischen Häusern in der näheren 62 63 64 65
Antanas Smetona, Rinktiniai Raštai, Kaunas 1990, S. 379, 478. Akademikas, Nr. 12, 1933: Tie, kurie visk ima, veik nieko neduoda, S. 311. Valstyb s Saugumo ir Kriminalin s Policijos apygard biuleteniai 1935-1936, in: LCVA, F. 383, In. 4. Akte 1548, S. 185, 227. Verslas, 16.1.1936: D l vyki Varniuose; Apžvalga, Nr. 19, 20.10.1935: Telši vyki atgarsis Lietuvos spaudoje; VSD biuletenis, Nr. 195, in: LCVA, F. 378, In. 4. Akte 1548, S. 129.
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Umgebung eingeworfen.66 Die antisemitische Gewalt war in Žemaitija am deutlichsten ausgeprägt. In der südwestlichen Region, nahe der Staatsgrenze, nahm die Unzufriedenheit mit dem herrschenden Regime andere Formen an. In Ostlitauen, wo die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung vielfältiger war, waren Ausschreitungen gegen Juden selten bzw. nahezu unbekannt. Die lokalen Ordnungskräfte, Polizei und manchmal sogar Armee, reagierten schnell auf solche antisemitischen Übergriffe. Sie waren gehalten, gegen die Aufrührer hart durchzugreifen.67 Die Täter konnten mit Geldstrafen oder Gefängnis belegt werden,68 aber in der Praxis hatten sie nur geringe Strafen zu erwarten. Die Mitarbeiter der Sicherheitspolizei teilten in ihren Berichten über die Stimmung in der Bevölkerung ihre Befürchtung darüber mit, daß „eine strenge Bestrafung der Aufrührer noch größere Exzesse zur Folgen haben könnte.“69
Schlußbemerkung Ohne Zweifel stellte sich die Situation für die Juden in Litauen in der Zwischenkriegszeit erheblich besser dar als in anderen ostmitteleuropäischen Ländern. Aber die Tatsache, daß es keinen staatlichen Antisemitismus gab, heißt nicht, daß es überhaupt keinen Antisemitismus in Litauen gab. Die litauische Gesellschaft, die am Ende der 1930er Jahre mit großer sozialer Ungleichheit, mit ökonomischen Problemen, dem Fehlen glaubwürdiger Informationen über die Lage des Landes und eingeschränkten demokratischen und bürgerlichen Rechten zu kämpfen hatte, suchte nach einem Schuldigen für diese Lage. Der Primat des Nationalstaates vermochte es nicht, eine Zivilgesellschaft entstehen zu lassen. Die Litauer waren nicht die einzigen in Ostmitteleuropa, die die Nation als höchsten Wert ansahen. Ihrer Ansicht nach benötigte ein kleiner Staat wie Litauen als Existenzgrundlage den ethnisch homogenen Nationalstaat. Als die Republik Litauen gegründet wurde, hatten die Litauer gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen einen Vorteil errungen. Die folgende Periode von Pluralismus und Demokratie währte nur sehr kurz. Bald wurde Litauen zum autoritären und zielbewußt „litauisierten“ Nationalstaat unter der Prägung von Antanas Smetona. 66
67 68 69
VSD biuletenis, Nr. 195, in: LCVA, F. 378, In. 10. Akte 88a, S. 155; VSD biuletenis, Nr. 228, in: LCVA, F. 378, In. 4. Akte 1548, S. 253; VSD biuletenis, Nr. 242, in: LCVA, F. 378 in 10. B., 88a, S. 311; VSD biuletenis Nr. 239, in: LCVA, F. 378, In. 4. Akte 1548, S. 130. VSD biuleteniai, in: LCVA, F. 378, In. 4. Akte 1548, S. 254; LCVA, F. 378, In. 10. Akte 23, S. 100. VSD biuleteniai, Nr. 228; Nr. 235. in: LCVA, F. 378, In. 4. Akte 1548. S. 254, 166; VSD biuletenis, Nr. 195, in: LCVA, F. 378, In. 10. Akte 88a, S. 1. VSD biuletenis, in: LCVA, F. 378, In. 10. Akte 158, S. 29.
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Präsident Antanas Smetona propagierte zwar sein Leben lang einen ausgeprägten litauischen Patriotismus, er stand dem Nationalsozialismus aber fern. Die jüdische Presse beschrieb den Präsidenten stets als toleranten litauischen Politiker. Die herrschenden Zirkel taten ihr bestes, den Antisemitismus zu bekämpfen, der aber unter der Oberfläche immer weiter gärte. Auf der anderen Seite bereiteten die Stagnation im herrschenden System, Ausflüchte und die Unfähigkeit, Reformen durchzuführen, um die anstehenden Probleme der Gesellschaft zu lösen, den Weg für die Polarisierung der Gesellschaft. Es war einfach, die Verantwortung für eigene Fehler jemand anderem zuzuschieben, der ohnehin immer als fremdartig angesehen wurde. Nach einem vielversprechenden Beginn der litauisch-jüdischen Beziehungen schränkten die litauische Nationalideologie und die Politik sowohl die jüdische Autonomie als auch die jüdische Partizipation und Integration in die litauische Gesellschaft ein – alles in dem vermeintlichen Bestreben, die litauischen nationalen Interessen in Politik, Wirtschaft und Kultur zu verteidigen. Aus dem Englischen übersetzt von Liane Boll.
Entwürfe und Wirklichkeiten: Die Politik gegenüber den Juden in der Ersten Tschechoslowakischen Republik 1918 bis 1938 MARTIN SCHULZE WESSEL Am 1. Februar 1919 schilderte Max Brod, einer der bekanntesten Vertreter des Zionismus in der Tschechoslowakei, in einem Brief an Franz Kafka folgenden Traum: „Heute z.B. träumte ich, daß ich in einer Schule war, wo ostjüdische Kinder, Mädchen u. Knaben, von Mönchen unterrichtet werden. [...] Ein Mädchen zeigte ein sauberes dickes Schreibbuch über Buchhaltungsaufgaben. Ich dankte den Geistlichen (innerlich) und freute mich, daß die Kinder zum praktischen Leben ausgebildet werden, zugleich mit Bewahrung ihres Volkstums. Da fragte ich einen schwarzlockigen Burschen: Und wo hält ihr in Religion? Er sagte zuerst, daß sie keine Rel. lernen, - dann aber zeigte er ein schwarzes Buch mit goldgepreßtem Kreuz auf dem Einband. Alle Kinder hier waren getauft, alle. Ich warf mich auf die Erde und weinte so heftig, daß ich davon erwachte.“1
Der Albtraum hatte mit der Wirklichkeit der Juden in der Tschechoslowakei nichts zu tun, zumindest in ihrem westlichen Landesteil. Hier fehlte nicht nur der christliche Missionswille, sondern auch Judenheiten, wie Brod sie als ostjüdische beschreibt. Kulturelle Gegensätze zwischen Juden und NichtJuden waren in den östlichen Staatsteilen, vor allem in der Karpatoukraine, sehr viel gravierender, daraus resultierten speziell in Schulfragen Konflikte um kulturelle Interessen. Brods Albtraum, die existenzielle Bedrohung jüdischer Kultur, wurde allerdings auch hier in der Zeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik nicht Wirklichkeit. In vieler Hinsicht teilte die Tschechoslowakische Republik bei ihrer Gründung die Ausgangssituation der anderen neu gegründeten Nachfolgestaaten der osteuropäischen Imperien: Es handelte sich um einen Nationalstaat mit (ausgesprochen starken) Minderheiten, der seine geschichtspolitische Legitimation auf eine einzige nationale Gruppe stützte. Die Nationalbewegung jener nun staatstragenden nationalen Gruppe hatte zeitweise durchaus markante antisemitische Züge gehabt, und die Gründungsjahre der Tschechoslowakei waren von virulenten antijüdischen Stimmungen geprägt. So gesehen glich die Zeitenwende von 1918 in der Tschechoslowakei den Umbrüchen in anderen ostmittel- und südosteuropäischen Ländern. Es liegt auf den ersten Blick daher nahe, auch im Hinblick auf die Tschechoslowakische Republik der plausiblen These Dan Diners zuzustimmen, daß die 1
Max Brod an Franz Kafka, 1.2.1919, in: Malcolm Pasley (Hg.), Max Brod, Franz Kafka. Eine Freundschaft, 2 Bde., Bd. 2: Briefwechsel, Frankfurt/M. u.a. 1989, S. 262.
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Welt der Imperien dem von Transterritorialität und Transnationalität geprägten Dasein der Juden mehr entsprochen hätte als die neu gegründeten Nationalstaaten.2 Doch bildet die Geschichte der Tschechoslowakischen Republik, betrachtet man sie in der gesamten Dauer ihres Bestehens, die Ausnahme von der Regel. Die rechtliche Stellung der Juden macht den Unterschied deutlich: In der Tschechoslowakei wurden die bürgerlichen Rechte der Juden, anders als in Polen oder in Rumänien, zu keinem Zeitpunkt der Ersten Tschechoslowakischen Republik (1918-1938) angetastet. Dabei hatte sich die tschechoslowakische Regierung im Vertrag mit den Ententemächten von Saint Germain vom 10. September 1919 erfolgreich geweigert, einen speziellen Minderheitenschutz für die Juden zu garantieren. Aus der Sicht des Außenministers Beneš war ein spezieller Schutz für die Juden „gegenstandslos“. Während andere ostmittel- und südosteuropäische Staaten wie Polen und Rumänien gegen die Minderheitenschutzverträge grundsätzliche Bedenken ins Feld führten, beschränkte sich die Position des tschechoslowakischen Staates auf den Widerstand gegen einen speziellen Minderheitenschutz für die Juden. Gerade die konsequente Einordnung der jüdischen Minderheit in die Reihe anderer Minderheiten begründete in der Verfassungsurkunde die Anerkennung einer jüdischen Nationalität, zu der es in keinem anderen europäischen Staat kam.3 Die Frage, weshalb die Tschechoslowakei weit weniger als z.B. Polen oder Rumänien von der politischen und gesellschaftlichen Exklusion der Juden gekennzeichnet war, entzieht sich einfachen Erklärungen. Irreführend ist es, die Tschechoslowakei als „kleines Imperium“ aufzufassen, das aufgrund der Vielzahl seiner Nationalitäten gewissermaßen die Vielvölkertradition in Ostmitteleuropa weitergeführt hätte. Ein „heteronomer Nationalstaat“ war die Tschechoslowakei zwar de facto, aber nicht in ihrer politischen Praxis und in ihrem Selbstverständnis, das sich auf die Kultur und Geschichte einer tschechoslowakischen Staatsnation stützte. Genauso wenig bietet die Sozialstruktur und Kultur der Juden in der Tschechoslowakei eine hinreichende Erklärung für die vergleichsweise hohe Integration der Juden in die Republik. Zwar unterschieden sich die Juden in den böhmischen Ländern (nicht in der 2 3
Dan Diner, Geschichte der Juden – Paradigma einer europäischen Historie, in: Gerald Stourzh (Hg.), Annäherungen an eine europäische Geschichte, Wien 2002, S. 85-104. Ladislav Lipscher, Die soziale und politische Stellung der Juden in der Ersten Republik, in: Ferdinand Seibt (Hg.), Die Juden in den böhmischen Ländern, München 1983, S. 269-280, hier S. 271; ders., Die Lage der Juden in der Tschechoslowakei nach deren Gründung 1918 bis zu den Parlamentswahlen 1920, in: East Central Europe 16/1-2, 1989, S. 1-38; ders., Die Pariser Friedensverhandlungen und der Minderheitenschutz für die Juden in der Tschechoslowakei, in: Hans Lemberg/Peter Heumos (Hg.), Das Jahr 1919 in der Tschechoslowakei und in Ostmitteleuropa, München 1993, S. 167-176; Rudolf M. Wlaschek, Juden in Böhmen. Beiträge zur Geschichte des europäischen Judentums im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990, 2. vollst. überarb. und erw. Auflage, München 1997; Kate ina apková, eši, N mci, Židé? Národní identita Žid v echách 1918-1938, Prag 2005.
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Slowakei und der Karpatoukraine) hinsichtlich ihrer Sozialstruktur und auch kulturell von den Juden anderer ostmittel- und osteuropäischer Länder und glichen eher Judenheiten in Mittel- und Westeuropa. Dies bot aber, wie der Vergleichsfall Deutschland zeigt, keine Gewähr für langfristige politische und gesellschaftliche Integration. Antisemitismus war also in der Tschechoslowakei hauptsächlich als ein Übergangsphänomen der Gründungszeit zu betrachten. Antisemitische Stimmungen spielten in der politischen Kultur der Republik keine dominierende Rolle. Das Entstehen und den raschen Rückgang von Antisemitismus in der SR zu erklären, bedarf einer Betrachtung des komplexen Verhältnisses von tschechischer Politik, jüdischen Identitätsentwürfen und internationaler Politik bzw. Öffentlichkeit. Komplex ist dieses Verhältnis, weil man weder von den Juden in der SR als homogener Gruppe noch von einer einheitlichen Politik gegenüber den Juden in der Tschechoslowakei sprechen kann. Bezüglich der Juden sind sowohl regional-kulturelle als auch politischidentifikatorische Unterschiede festzustellen, welche die in der Historiographie immer noch häufig gepflegte Rede von „den“ Juden der Tschechoslowakei sehr fragwürdig erscheinen läßt. Soziokulturell unterschieden sich die Juden im westlichen Staatsteil deutlich von den Juden in der Slowakei und vor allem in der Karpatoukraine. In den böhmischen Ländern waren Juden in höherem Maße sozial integriert und zeichneten sich durch einen hohen Säkularisierungsgrad aus. Sie verfügten über keine Sprachkenntnisse in jüdischen Sprachen, in Jiddisch oder Hebräisch. Da Böhmen und speziell auch die Hauptstadt Prag von der jüdischen Migration aus dem östlichen Europa unberührt geblieben war, bestand zwischen den Juden Böhmens und den osteuropäischen Juden kaum ein unmittelbarer Kontakt. Im Gegensatz dazu bildeten Juden im östlichen Staatsteil eine eigene kulturelle Gruppe, die sich nicht nur durch religiöse Riten, sondern auch sprachlich durch die Kenntnis des Jiddischen oder des Hebräischen von ihrer Umwelt unterschied. Bezeichnend für die Unterschiede zwischen den böhmischen Ländern einerseits und der Slowakei und der Karpatoukraine andererseits sind die Anteile an „Mischehen“ zwischen Juden und Nicht-Juden. Von den Ehen mit zumindest einem Partner, der sich zur jüdischen Religion bekannte, waren zwischen 1929 und 1933 in der Tschechoslowakei etwa 19% Mischehen, in Böhmen betrug dieser Anteil 43,8%, in Mähren 30,0%, in der Slowakei dagegen 9,2% und in der Karpatoukraine nur 1,3%. Die soziokulturelle Verschiedenheit der Juden im westlichen und im östlichen Staatsteil läßt sich durch eine Reihe weiterer Indikatoren, etwa in den Feldern von Bildung und Religion, belegen. Insgesamt ergibt sich der Befund, daß der Kontakt zwischen Juden und NichtJuden in den böhmischen Ländern wesentlich enger als in der Slowakei und der Karpatoukraine war und daß man für den Westen wie den Osten des Landes von gemeinsamen Trends der jeweiligen Mehrheits- und der jüdischen
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Minderheitsgesellschaft sprechen kann, etwa bezüglich des Grads der Säkularisierung.4 Neben den soziokulturellen Differenzen ist auch die Verschiedenheit der politischen Identitätsentwürfe zu bedenken, die kulturell-politische Orientierung an der tschechischen bzw. der deutschen Kultur und Gesellschaft und die Orientierung an einem eigenen jüdischen Nationsentwurf. In der Sprache der Akteure handelte es sich um Alternativen zwischen „Assimilation“ (in die tschechische oder deutsche Mehrheitsgruppe) und „Zionismus“. Die Grenzen zwischen den Sprachgruppen waren fließend; ein beträchtlicher Anteil von Juden war zweisprachig und als nationale „Utraquisten“ keiner der Sprachgruppen eindeutig zugehörig.5 Die Sprachgruppen waren selbstverständlich nicht identisch mit den politisch-kulturellen Gruppierungen der Verfechter einer „assimilatorischen“ Annäherung an die nationale Gruppe der Tschechen bzw. der Deutschen. Bis zur Jahrhundertwende definierten sich die „tschechischen Juden“ vor allem gegen die jüdischen Befürworter einer Akkulturation mit den Deutschen, seit der Jahrhundertwende und vor allem nach 1918 trat der Gegensatz zwischen „Assimilationisten“ und „Zionisten“ deutlicher hervor. Unter den „assimilatorischen“ Orientierungen gewann seit der Jahrhundertwende und insbesondere nach 1918 die tschechische zugunsten der deutschen Option an Boden. Die tschechisch-jüdische politische Gruppierung verfügte über einen traditionsreichen Verband, den bereits 1876 begründeten Spolek eských akademik žid (Verein der tschechischen Akademiker), zwei Minister der ersten Tschechoslowakischen Regierung, der inzwischen zum Christentum konvertierte Industrie- und Handelsminister Adolf Stránský und der Sozialminister Lev Winter, hatten dem Verband zeitweise angehört. Die nationalbewußte, zionistische Richtung war bei der Gründung der Tschechoslowakischen Republik institutionell durch den von Ludvík Singer und Max Brod geführten „Jüdischen Nationalrat“ präsent. Der Nationalrat forderte unmittelbar vor der Proklamation der SR vom neuen Staat die Anerkennung der jüdischen Nationalität und lehnte eine „fluktuierende, unaufrichtige Assimilation“ der Juden ab. Darüber hinaus verlangte man kulturelle Selbstverwaltung in innerjüdischen Fragen, wozu unter anderem die jüdische Erziehung und die Pflege der hebräischen Sprache gehörten. Die Gruppe der tschechisch-jüdischen „Assimilanten“ bestritt die Legitimität des „Jüdischen Nationalrats“ und wies dessen Forderungen nach 4
5
Siehe vor allem: apková, eši, S. 17-25; siehe auch: Wilma A. Iggers, Zeiten der Gottesferne und der Mattheit. Die Religion im Bewußtsein der böhmischen Juden in der ersten tschechoslowakischen Republik, Leipzig 1997; Fred Hahn, The Dilemma of the Jews in the Historic Lands of Czechoslovakia: 1918-1938, Asilomar/New York 1981. Hillel Kieval, The Making of Czech Jewry. National Conflicts and Jewish Society in Bohemia 1870-1918, New York/Oxford 1988; Robert Luft, Nationale Utraquisten in Böhmen. Zur Problematik ‚nationaler Zwischenstellungen‘ am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Maurice Godé (Hg.), Allemands, Juifs et Tchèques à Prague 1890-1924, Montpellier 1996, S. 37-51.
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der Anerkennung einer jüdischen Nation und kultureller Selbstverwaltung zurück.6 Was „Assimilation“ und was „Zionismus“ bedeutete, ist nur kontextuell zu bestimmen, die verschiedenen Gruppierungen definierten sich in Beziehung zueinander und zur habsburgischen bzw. tschechoslowakischen Politik. So bedeutete der Zionismus in der Tschechoslowakei angesichts der – später genauer darzustellenden – positiven staatlichen Politik gegenüber den Juden keineswegs die Absicht, das Land zu verlassen. Die Verbindungen zwischen den verschiedenen Gruppierungen, etwa hinsichtlich der gemeinsamen Loyalität zur Republik, sind ebenso zu bedenken wie die Gegensätze.7 Die Ausdifferenzierung des politischen Spektrums der Juden bleibt unverständlich, betrachtet man sie nicht im Kontext der politischen Strömungen in den Mehrheitsgesellschaften in der Habsburgermonarchie bzw. der Tschechoslowakei. Die rechtliche Stellung der Juden in der Tschechoslowakischen Republik wurde bereits angesprochen: Ein bedeutsames und weithin wahrgenommenes Merkmal der Rechtsstellung der Juden in der SR war die Möglichkeit, sich in Volkszählungen zur jüdischen Nation zu bekennen. Das hatte Voraussetzungen im Nationsbegriff der Verfassung und Auswirkungen z.B. auf die Praxis, nach der das Sprachenrecht gehandhabt wurde. Im Hinblick auf den Nationsbegriff der Verfassung war es bedeutsam, daß von Juden, die sich zur jüdischen Nation bekannten, keine Sprachkenntnisse oder religiöse Zugehörigkeit verlangt wurden. Der Nationsbegriff, der hier verwandt wurde, war radikal konstruktivistisch, allein das Bekenntnis zählte. Dementsprechend hieß es in der Begründung des § 128 der Verfassung zum Minderheitenbegriff: „Die Verfassung zählt die Minderheiten nicht auf, weil dann eine wissenschaftlich umstrittene Frage zu entscheiden wäre. Denn selbst der Begriff der Nation ist bislang nicht genau definiert. Umstritten ist z.B. die Frage, ob die Juden eine Nation sind. Indem die Verfassung die Wendung ‚ohne Hinsicht auf die Rasse, Sprache oder Religion‘ verwendet, überläßt sie es einem jeden zu entscheiden, worin er die Merkmale einer Nationalität erblickt und sich entsprechend frei zu entscheiden. Hält also jemand die Juden für eine eigenständige Nation, ist er berechtigt, sich zur jüdischen Nationalität zu bekennen, auch wenn er in religiöser Hinsicht ohne Bekenntnis ist und Tschechisch oder Deutsch als Muttersprache hat. Juden sind also bei Volkzählungen, Wahlen etc. nicht gezwungen, sich zu einer anderen als der jüdischen Nationalität zu bekennen.“8
6 7
8
Lipscher, Die Lage der Juden, S. 10. Kate ina apková, Charakter židovského nacionalismu v eských zemích a jeho recepce v prvorepublikovém eskoslovensku, in: Blanka Soukupová/Marie Zahradníková (Hg.), Židovská menšina v eskoslovensku ve dvacátých letech, Prag 2003, S. 65-76; dies., Specific Features of Zionism in the Czech Lands in the Interwar period, in: Judaica Bohemiae 38, 2002, S. 106-159; Blanka Soukupová, eši-Židé: židovství, ešství a eskoslovenství po vzniku eskoslovenské republiky. K identit a mentalit asimilující se menšiny, in: Studie k sociálním d jinám 9, 2002, S. 179-203. Zit. nach: apková, eši, S. 33.
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Das von dem sozialdemokratischen Abgeordneten František Krej í ins Parlament eingebrachte Gesetz zur Anerkennung der jüdischen Nationalität stieß auf erhebliche Widerstände. Die Gegenargumente lauteten, daß die jüdische Bevölkerung in der SR, zumindest in dem westlichen Staatsteil, keine eigene Sprache habe und ihr somit ein wesentliches Merkmal fehlte, das in objektivistischen Beschreibungen der Nation grundlegend ist. In der Tat war es erstaunlich, daß gerade den Juden in der Tschechoslowakei, die großenteils keine jüdische Sprache beherrschten und säkularisiert waren, das Recht zum Bekenntnis zur jüdischen Nationalität gegeben wurde, während Judenheiten im östlichen Europa, die nach einem objektiven Nationsverständnis aufgrund von Sprache, religiösen Riten etc. eine eigene Einheit bildeten, die Anerkennung als Nation versagt blieb. Der Grund dafür, daß die Juden der Tschechoslowakei das Recht erhielten, sich zur jüdischen Nationalität zu bekennen, lag paradoxerweise gerade darin begründet, daß sie sich nach einem objektiven Nationsbegriff von den Tschechen, Deutschen bzw. Magyaren der Republik kaum unterschieden. Eine von der Gesetzgebung intendierte Folge der Anerkennung lag darin, daß sich bei der Volkszählung der Anteil der großen nicht-tschechoslowakischen Minderheiten, insbesondere der Deutschen, verminderte, während eine relativ kleine nationale Minderheit, die jüdische, zusätzlich entstand. Diese Minderheit wurde in maßgeblichen Kreisen der tschechischen Politik um den Präsidenten Tomáš G. Masaryk von vorneherein als loyal gegenüber der Republik eingestuft, während in bezug auf die deutsche und auch die magyarische Minderheit Zweifel an ihrer Loyalität gegenüber dem neuen Staat bestanden, der aus dem Zerfall ÖsterreichUngarns hervorgegangen war. Zieht man die Volkszählung von 1910, die allerdings nicht nach nationalem Bekenntnis, sondern nach Sprachgebrauch fragte, als Vergleich heran, so kann man zeigen, daß bei der Volkszählung von 1921 die Option der jüdischen Nationalität tatsächlich proportional mehr von deutsch sprechenden als von tschechisch sprechenden Juden wahrgenommen wurde. Menschen israelischen Bekenntnisses gaben 1910 zu 51,5% den Gebrauch des Tschechischen und zu 48,8% den Gebrauch des Deutschen als Umgangssprache an. 1921 bekannten sich von der Bevölkerungsgruppe israelischen Bekenntnisses 49,5% zur tschechischen Nation, aber nur noch 34% zur deutschen Nation. Die neue Option, das Bekenntnis zur jüdischen Nation, war offenbar in erster Linie in der Gruppe der deutsch sprechenden Juden eine attraktive Option. Diese erlaubte es, mehr als ein nur konfessionelles Bekenntnis zur jüdischen Identität abzulegen und Loyalität gegenüber der Republik zu bekunden. Die Tatsache, daß insbesondere die sprachlich den Minderheiten zuzurechnenden Juden von dieser Möglichkeit Gebrauch machten, hatte teilweise unmittelbare Folgen für die Praxis der Sprachenpolitik. Den Status einer Sprachminderheit mit den dazugehörenden Sprachrechten erreichten nationale Gruppen, die in einem politischen Bezirk mindestens 20% der Bevölkerung umfaßten. Diesen Anteil erreichten die Juden auch in den östlichen Staatsteilen in keinem Bezirk, aber die Option des
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Bekenntnisses zur jüdischen Nationalität verringerte die Chancen der nationalen Minderheiten der Deutschen und Magyaren, die nötigen 20% in bestimmten Bezirken zu erreichen. So verfehlten die Ungarn bei der Volkszählung 1921 im Bezirk Košice mit 19,03% den Status der Sprachminderheit nur knapp, ein ausschlaggebender Anteil der Bevölkerung israelischen Glaubens hatte sich, obwohl ungarischsprachig, zur jüdischen Nationalität bekannt.9 Dennoch wäre es falsch, das Gesetz über die Anerkennung einer jüdischen Nationalität ausschließlich im Hinblick auf den numerischen Status der anderen nationalen Minderheiten zu diskutieren. Das freiwillige Bekenntnis zur jüdischen Nationalität barg für die deutsch sprechenden Juden die Möglichkeit, damit ihre Loyalität zur tschechoslowakischen Republik zu bekennen. Mit diesem politischen Bekenntnis war zugleich die Sprachenfrage entpolitisiert, anders gesagt: das nationale Bekenntnis zur jüdischen Nationalität, das als gleichbedeutend mit einem politischen Bekenntnis zur tschechoslowakischen Republik galt, ersparte den deutsch sprechenden Juden Loyalitätsbeweise auf der sprachlichen Ebene, also den Sprachwechsel zum Tschechischen. Die Option der jüdischen Nationalität enthob also die Juden der Wahlpflicht zwischen dem Tschechischen und dem Deutschen - damit war der Assimilationsdruck zugunsten der Mehrheitsnation der Tschechoslowaken gemindert. Wenn man kulturelle Homogenität als Strukturmerkmal des Nationalstaats auffaßt, kann man hier umgekehrt davon sprechen, daß die Tschechoslowakei mit der rechtlich geschützten Möglichkeit des Bekenntnisses zur jüdischen Nationalität ein Strukturmerkmal des Imperiums in den Nationalstaat hinübergerettet hatte.
*** Die erwähnten rechtlichen Bestimmungen belegen die normative Gleichberechtigung der Juden in der SR. Sie zeigen darüber hinaus, daß die Juden als eine – im Vergleich zu den Deutschen und Magyaren – besonders staatsloyale Minderheit galten, sonst wäre die Anerkennung einer jüdischen Nationalität sicherlich nicht erfolgt. Damit ist die Frage bereits angeschnitten, wie die Juden der SR – jenseits der rechtlichen Stellung – politisch und gesellschaftlich positioniert waren. Die normative Gleichberechtigung der Juden spiegelte den Willen einer politischen Führungsschicht, aber keinen umfassenden Konsens in der tschechischen Gesellschaft wider. Man kann sogar sagen, daß sich die politisch führende Elite der Tschechoslowakei gerade in der Frage der Haltung gegenüber den Juden von anderen tschechischen und slowakischen politischen Kräften unterschied. Die positive Einstellung zu den Juden der Republik wurde zu einem Kennzeichen der 9
apková, eši, S. 45-52.
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„Burg“, des informellen politischen Felds des Staatspräsidenten Tomáš G. Masaryk. Diese „Burg“, die für den Ort des Wirkens des Präsidenten, den Hradschin, und übertragen für die den Präsidenten umgebende politische Elite der SR stand, war in ihrem Selbstverständnis einer Politik der Anerkennung gegenüber den Juden verpflichtet, zugleich wurde sie in der Fremdbeschreibung nationalistischer und zum Teil katholischer Kräfte als philosemitisch beschrieben.10 Die den Staat repräsentierende Schicht galt also als judenfreundlich und war im politischen Meinungskampf gerade durch die Frage der Haltung zu den Juden von national oder konfessionell populistischen Kräften geschieden. Diese Lagerbildung hatte eine in das 19. Jahrhundert zurückreichende Konfliktgeschichte, die eng mit dem Namen des Gründungspräsidenten der Tschechoslowakischen Republik, Tomáš Masaryk, verbunden war. Ein antikapitalistisch und christlich-sozial geprägter Antisemitismus hatte sich bei Tschechen und Deutschen in den böhmischen Ländern spätestens seit der Wirtschaftskrise der 1880er Jahre verbreitet. Er wurde zu einem Code, in dem nationalistische Spannungen zwischen Tschechen und Deutschen verschärft wurden, in dem aber auch politische und ethnische Gegensätze zwischen Deutschen und Tschechen, zwischen Katholiken und Laizisten zeitweise zugunsten eines antisemitischen Konsenses zurückgedrängt wurden. 1883 war in Prag ernsthaft zwischen tschechischen, deutschen und magyarischen Parteipolitikern über eine „Aussöhnung der Völker auf der Grundlage des Antisemitismus“ verhandelt worden.11 Auch der Konflikt zwischen den sonst unversöhnlichen Lagern von tschechischen Klerikalen und tschechischen Laizisten war auf einer antideutschen und antisemitischen Basis zeitweise durchaus beizulegen.12 Eine neue Lagerbildung zwischen Antisemitismus und aufgeklärtem Humanismus entstand in der Folge eines Ritualmordprozesses, der 1899 gegen den Juden Leopold Hilsner aufgenommen wurde. Masaryk, der um 1900 als Intellektueller und Führer einer numerisch bedeutungslosen Partei über keinerlei Machtmittel verfügte, wurde zu dem prominenten publizistischen Verteidiger Hilsners und setzte sich dabei den wütenden Angriffen einer breiten Phalanx von nationalistischen und christlich-sozialen Antisemiten aus, unterstützt nur von einer kleinen Schar Intellektueller und der noch übernationalen Sozialdemokratie. Die Bedeutung, welche die Hilsner-Affaire auf längere Sicht für die politische Kultur der böhmischen Länder hatte, läßt sie durchaus 10
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Christoph Stölzl, Die „Burg“ und die Juden. T. G. Masaryk und sein Kreis im Spannungsfeld der jüdischen Frage: Assimilation, Antisemitismus und Zionismus, in: Karl Bosl (Hg.), Die „Burg“. Einflußreiche politische Kräfte um Masaryk und Beneš, Bd. 2, München/Wien 1974, S. 79-110. Stölzl, „Burg“, S. 83. Martin Schulze Wessel, Die Konfessionalisierung der tschechischen Nation, in: HeinzGerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hg.), Nation und Religion in Europa. Mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M./New York 2004, S. 135-150.
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vergleichbar mit der Dreyfuß-Affaire erscheinen. In beiden Fällen waren die Konstellationen von staatlicher Macht, katholischem und nationalistischem Antisemitismus einerseits und intellektuellem Humanismus andererseits ähnlich; in beiden Fällen entstanden daraus langfristig wirksame Lagerbildungen, die noch die Kultur der Zwischenkriegszeit in Frankreich und der Tschechoslowakei prägten.13 Diese internationalen Bezüge herzustellen ist kein Artefakt der historischen Rekonstruktion, sie bestanden bereits für die politischen und intellektuellen Akteure der Zeit. Masaryk jedenfalls war sich sicher der internationalen Wirkungen seiner Politik bewußt, als international vernetzter Wissenschaftler und Intellektueller und als tschechischer Politiker vermochte er das machtpolitische Potential der entstehenden Weltöffentlichkeit einzuschätzen. Das Projekt der tschechischen Nation war als ein antisemitisches in der Weltöffentlichkeit nicht vermittelbar. Masaryk verfolgte das Ideal einer von der böhmischen Reformation geprägten, humanistischen, dezidiert nicht antisemitischen tschechischen Nation. Um 1900 war dieses Projekt weniger geeignet, die zu erheblichen Teilen von antisemitischen Mythen befangene tschechische Nation im Inneren zu mobilisieren, als politische Unterstützung für die Idee einer im Masarykschen Sinne aufgeklärten tschechischen Nation im englischen und amerikanischen Ausland zu gewinnen.14 Dies wurde im Ersten Weltkrieg relevant, als Tomáš Masaryk und Edvard Beneš als politische Köpfe der tschechischen Emigration in Verhandlungen mit den Politikern der Entente die Gründung eines tschechoslowakischen Nationalstaats betrieben. Jetzt setzten sich führende jüdische Persönlichkeiten der Ententemächte – wie Louis D. Brandeis, Richter am Obersten Bundesgerichtshof der USA, der außerordentliche Gesandte Großbritanniens in Washington, Lord Reading, und Henri Bergson, der außerordentliche Kommissar Frankreichs in den USA – für die Anerkennung der Tschechoslowaken als kriegsführende Macht ein, worin eine wesentliche Voraussetzung für die spätere Gründung eines tschechoslowakischen Staates lag. In welchem Maße internationale Verbindungen zwischen jüdischen Organisationen die Gründung des tschechoslowakischen Staates und dessen konkrete Interessen, z.B. im Bereich der Lebensmittelversorgung, förderten,
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Zum tschechischen Antisemitismus vor 1918 gibt es umfangreiche Literatur, siehe: Michal Frankl, The Background of the Hilsner Case, in: Judaica Bohemiae 36, 2000, S. 34-118; ders., „Can we, the Czech Catholics, be Antisemites?“ Antisemitism at Dawn of the Czech Christian-Social Movement, in: Judaica Bohemiae 33, 1998, S. 47-71; ders., eský antisemitismus 1879-1900 v mezinárodním kontextu, Prag 2006, Manuskript; Christoph Stölzl, Zur Geschichte der böhmischen Juden in der Epoche des modernen Nationalismus, in: Bohemia Jahrbuch 14, 1973, S. 179-221 und Bohemia Jahrbuch 15, 1974, S. 129-157. Stölzl, „Burg“, S. 87; Frank Hadler (Hg.), Weg von Österreich! Das Weltkriegsexil von Masarýk und Beneš im Spiegel ihrer Briefe und Aufzeichnungen aus den Jahren 1914 bis 1918. Eine Quellensammlung, Berlin 1994.
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ist bei einem Treffen zwischen dem Präsidenten Masaryk und dem Jüdischen Nationalrat am 22. März 1919 dokumentiert worden.15 Die Rückwirkung dieser jüdischen Unterstützung für die Staatsgründung auf die Stellung der Juden in der SR darf man nicht überbewerten. In der tschechischen Massenpresse kam es in den ersten Nachkriegsjahren zu keiner angemessenen Würdigung der jüdischen Hilfe für die „Befreiung“. Bedeutsam aber ist, daß Masaryk und Beneš an ihrer Politik festhielten, die Politik gegenüber den Juden in einen systematischen Zusammenhang mit dem Entwurf der tschechoslowakischen Nation zu setzen. Dies war grundlegend dafür, daß die offizielle Politik der Tschechoslowakei konsequent an ihrer positiven Haltung gegenüber den Juden festhielt. Die Verknüpfung der „jüdischen Frage“ mit der Frage der eigenen Nation und des eigenen Nationalstaats wurde von den führenden Politikern auf zwei Ebenen hergestellt: 1. Für Masaryk und Beneš war das Verhältnis der Tschechen und Slowaken zu den Juden die entscheidende Bewährungsprobe der zivilisatorischen Reife der neuen Staatsnation. Diese Reife symbolisierte sich topographisch: Es ging bei dem Verhältnis der tschechoslowakischen Nation zu den Juden um die Frage, wie „westlich“ die neu gegründete Tschechoslowakei war. So erklärte Außenminister Beneš 1919 im Zusammenhang mit den Verhandlungen über Minderheitenrechte, die korrekte Behandlung der Juden sei für ihn der Prüfstein, an dem der junge Staat beweisen werde, daß er dem „westlichen Kulturkreis“ angehöre.16 Auch für Tomáš Masaryk war die Beziehung zu den Juden ein entscheidender Faktor für die zivilisatorische Verortung der Tschechoslowakei. Er externalisierte gewissermaßen den tschechischen Antisemitismus, indem er ihn als ein Produkt des in der Habsburgermonarchie herrschenden Klerikalismus ausgab. „Entösterreicherung“ – jenes Schlagwort, das Masaryk in den Gründungsjahren der Tschechoslowakei in vielerlei Hinsicht als Richtlinie ausgab – hatte auch hier seine Bedeutung: Die Lösung der engen, aus der Habsburgerzeit herrührenden Beziehungen zwischen Staat und Kirche war danach die entscheidende Voraussetzung für das Abstreifen des tschechischen, aber eigentlich österreichischen Antisemitismus. „Entösterreicherung“ war für Masaryk gleichbedeutend mit dem politischen und zivilisatorischen Anschluß der Tschechoslowakei an die westliche Welt.17 Das Deutungs15 16 17
Lipscher, Die Lage der Juden, S. 14. Zit. nach Stölzl, „Burg“, S. 99. Josef Machar/Tomáš Masaryk, Dichter Machar und Professor Masaryk im Kampfe gegen den Klerikalismus, I. Konfiszierte Partien aus dem Volkslesebuche J. S. Machars, II. Die Interpellation Professor Th. G. Masaryks und der Zusammenstoß mit den Klerikalen im Österreichischen Abgeordnetenhause am 17. Mai 1912, hg. und eingel. von Emil Saudek, Wien/Leipzig 1912.
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muster, daß die tschechoslowakische Nation als zivilisierte, „westliche“ Nation eigentlich nicht antisemitisch oder zumindest nicht radikal antisemitisch sei, wurde auch in jüdischen Presseveröffentlichungen aufgegriffen. Besonders deutlich kommt das in der Zeitschrift Selbstwehr zum Ausdruck, in der Felix Weltsch 1928 über die Tschechen schrieb: „Dieses Volk ist nicht dumpf, sondern wach, es liebt die Freiheit auch im Denken, es hat einen starken Willen zum Fortschritt und zu westlicher Kultur, also: der tschechische Antisemitismus ist ein erträglicher Antisemitismus.“18 Antijüdische Pogrome, wie sie in den Gründungsjahren der Tschechoslowakischen Republik vereinzelt vorkamen, waren aus der Sicht der politischen Elite auch deshalb bedenklich, weil sie die Einstellung der westlichen Öffentlichkeit gegenüber der Tschechoslowakei negativ beeinflussen konnten. Nach einem antijüdischen Pogrom in Holešov appellierte der tschechoslowakische Justizminister František Soukup an seine Landsleute, daß sie durch antijüdische Hetze die Öffentlichkeiten der westlichen Verbündeten gegen sich aufbringen könnten: „Es wäre traurig, wenn das tschechische Volk, das im Ausland so viele Sympathien genießt, die Aufmerksamkeit der Verbündeten nach polnischem Beispiel gegen sich lenken würde.“19 Die Einstellung der tschechoslowakischen Staatselite gegen Antisemitismus war also nicht nur eine Frage der Weltanschauung, sondern auch der Staatsräson. Die offizielle Tschechoslowakei verstand sich als westlicher Staat und suchte die Verbindung mit den Öffentlichkeiten Westeuropas und der USA. Aus der Sicht der führenden politischen Akteure waren die (tschechische) Einstellung gegenüber den Juden und die (westliche) Einstellung gegenüber den Tschechoslowaken eng miteinander verbunden. Selbst Václav Klofá , vor dem Krieg ein bekannter Antisemit, warnte als Führer der tschechischen Sozialisten 1918 vor den empfindlichen Rückwirkungen, die antisemitische Ausschreitungen in der Öffentlichkeit und in den politischen Eliten der Ententemächte haben könnten.20 Die Haltung gegenüber den Juden in der Tschechoslowakei hatte zumindest auf der Ebene der tschechoslowakischen Eliten einen ausgeprägten transnationalen Aspekt. 2. Die Verknüpfung von jüdischer Identität mit tschechischer Identität ging im Nationskonzept Masaryks noch weiter: Seine Konzepte der tschechischen (bzw. tschechoslowakischen) und der jüdischen Nation berührten und beeinflußten sich stark gegenseitig, was konkrete Auswirkungen auf die positive Haltung des Staatspräsidenten gegenüber dem Zionismus und seine ablehnende Haltung gegenüber jüdischer Assi18 19 20
Selbstwehr, Nr. 43, 26.10.1928, zit. nach: Stölzl, „Burg“, S. 101. Selbstwehr, Nr. 3, 17.1.1919: Plünderungen. Interview Klofá s mit dem Korrespondenten des Amsterdamer Telegraaf, in: Selbstwehr, Nr. 5, 31.1.1919.
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milation hatte. Masaryks Idee von der tschechischen Nation war nicht in erster Linie eine ethnische, sondern, wie er bereits 1894 festgestellt hatte, eine religiöse.21 Aufgrund der quasi-religiösen Aufladung der Masarykschen Idee der tschechischen Nation wurde diese vergleichbar mit der zionistischen Konzeption jüdischer Identität. In beiden Fällen handelte es sich um territorialisierte und zugleich religiöse (oder quasireligiöse) Identitätskonzeptionen mit einem hochgradig emanzipatorischen Anspruch, in beiden Fällen war sittliche Erneuerung das Ziel. Während Masaryks Partei in ihrem Programm von 1912 noch die Lösung der „jüdischen Frage“ von der Assimilation der Juden in die tschechische Kultur und Gesellschaft erwartete, wies Masaryk immer wieder darauf hin, daß sittliche Erneuerung nicht aus der spannungsreichen Verbindung von tschechischer Nationalität und jüdischer Konfession, sondern nur aus einem religiös gespeisten jüdischen Nationalgefühl möglich sei.22 Die enge Beziehung, die Masaryk zwischen tschechischer Wiedergeburt und jüdischem Zionismus sah, wird z.B. in folgendem Beitrag aus der Zeitschrift Selbstwehr deutlich: „Was die zionistische Bewegung betrifft, so kann ich nur meine Sympathie für sie und die nationale Bewegung im jüdischen Volk im allgemeinen ausdrücken, weil sie von großem moralischen Wert ist. Ich beobachte die zionistische und die nationaljüdische Bewegung in Europa und in unserem Lande und ich weiß, daß sie keine Bewegung des politischen Chauvinismus ist, sondern die moralische Wiedergeburt Ihres Volkes [...] Ich bin sicher, daß Sie mit unserer Auffassung des Nationalismus als des wirksamsten Mittels wirklicher Befreiung und allgemeiner Brüderlichkeit übereinstimmen.“23
Dies hatte konkret zur Folge, daß Masaryk nach 1918 nicht mehr die Gruppierung der „Tschechojuden“, die Befürworter der Assimilation, unterstützte, sondern vor allem den Kontakt zu den tschechischen Zionisten pflegte und deren Ziele unterstützte. Daß die Staatsspitze der Tschechoslowakei den Antisemitismus konsequent ächtete, war zweifellos ein wesentlicher Faktor für den Rückgang von antijüdischen Stimmungen in der Ersten Tschechoslowakischen Republik und, damit einhergehend, für das Entstehen politischer Gestaltungsräume jüdischer Politik. Die offizielle Anerkennung, welche die Juden und speziell die Zionisten in der Tschechoslowakei erfuhren, erlaubte es den politischen Vertretern der Juden, positive politische Ziele zu verfolgen. Als anerkannte nationale Minderheit konnten die Juden Mittel für jüdische Kultur- und Bildungsarbeit aus dem Staatsbudget beantragen. Demgegenüber mußten sich die Zionisten anderer ostmittel- und südosteuropäischer Staaten in erster Linie auf die 21 22 23
Tomáš G. Masaryk, eská otázka [8.Aufl.], Naše nyn jší krize [7.Aufl.], Jan Hus [9.Aufl.], Prag 2000. Stölzl, „Burg“, S. 103; apková, eši, S. 34. Selbstwehr, Nr. 46, 6.12.1918, zit. nach Stölzl, „Burg“, S. 93.
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Verteidigung orthodoxer Lebensformen, z.B. die Einhaltung des Shabbats, konzentrieren.24
*** Daß mit Tomáš Masaryk ein bekannter Gegner des Antisemitismus zum Helden des antiösterreichischen Widerstands und dann zum Gründerpräsidenten der Tschechoslowakei wurde, bedeutete aber nicht, daß sich die politische Kultur der böhmischen Länder, der Slowakei und der Karpatoukraine mit dem Tag der Staatsgründung plötzlich grundlegend geändert hätte. Im Gegenteil, es war in den ersten Jahren der Tschechoslowakei sogar ein Wiederaufleben des Antisemitismus festzustellen.25 Hatten vor dem Ersten Weltkrieg alle politischen Parteien der böhmischen Länder (mit Ausnahme der klerikalen Parteien) Erklärungen gegen den Antisemitismus abgegeben, so wurde nach 1918 in der Presse nicht nur der klerikalen Partei, sondern auch der nationalen und agrarischen Parteien der Antisemitismus virulent. Die Themen des neuen Antisemitismus verweisen auf die Nachkriegssituation der Tschechoslowakei: Eines der gängigsten Topoi der antisemitischen Presse war der Lebensmittelwucher, ein Vorwurf, der, wie der Journalist Ferdinand Peroutka treffend schrieb, davon ablenken sollte, welchen Anteil die Anhänger der Agrarpartei selbst am Schwarzhandel mit Lebensmitteln hatten.26 Ein weiteres Thema antisemitischer Agitation war die Verknüpfung von Judentum und Bolschewismus. Dieser Topos wurde sowohl von anerkannten Intellektuellen wie Josef Peka als auch von der Massenpresse bedient. Peka , der führende konservative tschechische Historiker seiner Zeit, stellte fest, daß mit den bol’ševikischen Revolutionen in Rußland und Ungarn zwei jüdische Staaten in Europa entstanden seien. Die pogromartigen antijüdischen Ausschreitungen, zu denen es in Ungarn nach der Niederlage der Räteregierung gekommen war, bewertete Peka nur als eine unvermeidliche Folge der Niederlage der kommunistischen, eigentlich jüdischen Revolutionsmacht. Die Verknüpfung von Judentum und Revolution naturalisierte der Historiker sogar, indem er nicht Gesinnung, sondern Rasse für die revolutionäre Einstellung verant24 25
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Zum Vergleich der politischen Tätigkeit tschechischer und polnischer Zionisten siehe: apková, eši, S. 38. Blanka Soukupová, eská identita po vzniku eskoslovenské republiky. Antisemitismus jako faktor upevn ní jsoucnosti? 1918-1920, in: Blanka Soukupová/Marie Zahradníková (Hg.), Židovská menšina v eskoslovensku ve dvacátých letech, Prag 2003, S. 21-35; Dies., eský antisemitismus ve dvacátých letech 20. století. Antisemitismus jako složka eské identity? in: ebd., S. 36-50; Jan Rataj, eský antisemitismus v prom nách let 1918-1945, in: Jerzy Tomaszewski/Jarolsav Valenta (Hg.), Židé v eské a polské ob anské spole nosti, Prag 1999, S. 45-64; Frank Hadler, „Erträglicher Antisemitismus“? – Jüdische Fragen und tschechoslowakische Antworten 1918/19, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 1, 2002, S. 169-200. Ferdinand Peroutka, Boje o dnešek, Prag 1925, S. 266-268.
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wortlich machte. Die Juden hätten „es halt im Blut, und zwar seit den Zeiten Jesu Christi“.27 Durch Peka s Publizistik wurde eine antisemitische Hetze salonfähig, die in der Massenpresse ohnehin schon gängig war. Nicht zuletzt die agrarische Zeitung Venkov (Das Land) tat sich immer wieder durch antisemitische Artikel hervor, die zum Teil eine kaum verhüllte Aufforderung zur antisemitischen Tat enthielten. So warnte die Zeitung die Juden in einem Leitartikel mit dem Titel „Pogrome“ davor, „im letzten Augenblick noch ihre auswärtigen Glaubensgenossen nachzuahmen und sich an die Spitze des Bolschewismus zu stellen. Tun sie dies doch, so werden sie sich ihr Schicksal selbst bereiten.“28 Handlungsleitende Funktion hatte die antisemtische Presse auch insofern, als sie zum Boykott jüdischer Waren und Dienstleistungen aufrief. Während im westlichen Staatsteil die antisemitischen Stimmungen ab 1920 deutlich nachließen, war die Situation in der Slowakei komplexer. Zwar glich sich die Lage insofern, als auch hier das Wiederaufflammen des Antisemitismus mit den Kriegsfolgen einherging. Doch waren Plünderungen hier ein sehr viel häufigeres Phänomen. Der Hauptunterschied zum westlichen Staatsteil liegt darin, daß die Staatsmacht sich in der Slowakei nicht eindeutig von antisemitischen Ausschreitungen distanzierte, sondern teilweise daran mitwirkte. Das tschechoslowakische Militär beteiligte sich an Plünderungen und ließ sich vereinzelt offenbar auch Mordtaten an Juden zu Schulden kommen. Der Staat deckte auch insofern die antijüdischen Ausschreitungen, als der Minister für die Verwaltung der Slowakei bezüglich der privatrechtlichen Schadensersatzforderungen ein „Moratorium“ aussprach, das Ansprüche Geschädigter unterdrückte. Statt dessen wurde ein staatlicher Schadensersatz für Pogromopfer vorgesehen, der allerdings nur in ganz wenigen Fällen jüdischen Opfern eine geringe Entschädigung gewährte.29 Selbst ein hervorragender Vertreter des Staates und Vertrauter Masaryks, der Minister für die Verwaltung der Slowakei Vavro Šrobár, schürte die antisemitische Stimmung, indem er am 4. August 1919 vor den versammelten Abgeordneten und Komitatsvorstehern der Slowakei von den Juden pauschal als „Kettenhändler, Volksaussaugern und Verrätern“ sprach.30 Im westlichen Staatsteil wäre diese Äußerung eines hohen Staatsvertreters undenkbar gewesen; da sie in der Slowakei fiel, blieb sie ohne politische Folgen. Noch deutlicher ist der Unterschied der politischen Praxis zwischen dem westlichen Staatsteil und der Karpatoukraine, dem östlichsten Staatsteil. Hier unterschied sich die Ausgangssituation beträchtlich von der im westlichen Staatsteil: Die Juden in der Karpatoukraine sprachen in großer Mehrheit Jiddisch und bildeten national-kulturell erkennbar eine Einheit. Damit traten, 27 28 29 30
Josef Peka , Židé a bolševictví, in: Národní listy, 31.8.1919. Venkov, 26.9.1920: Pogromy. Lipscher, Die Lage der Juden, S. 24-38. Zit. nach: Lipscher, Die Lage der Juden, S. 34.
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im Unterschied zur Situation im westlichen Staatsteil, andere politische Ziele auf die Agenda: Die politischen Vertreter der Juden der Karpatoukraine waren vor allem an einer Verbesserung des jüdischen Schulwesens interessiert, etwa an der Förderung des von freiwilligen Beiträgen aufgebauten hebräischen Gymnasiums in Muka evo. Ungeachtet der Tatsache, daß jüdische Kultureinrichtungen im westlichen Staatsteil gefördert wurden, blieb die Unterstützung durch den Staat oder das Land hier aus, nur einige Volksschulen mit hebräischer Sprache erhielten geringfügige staatliche Unterstützung. Teilweise wurden jüdische Schulgründungen von den Behörden verhindert, um so den tschechischen Schulen eine genügende Zahl von Schülern zu sichern. Im Schuljahr 1932/33 waren auf tschechischen Volks- und Bürgerschulen der Karpatoukraine insgesamt 18.469 Schüler, davon nur 4.572 tschechischer Nationalität, aber 12.403 jüdischer Nationalität. Die Politik der Verhinderung oder zurückhaltenden Genehmigung von jüdischen Schulen machte die Situation der Juden prekär: Die Vertreter der Jüdischen Partei der Karpatoukraine erkannten die Gefahr, daß Juden von der ukrainischen Bevölkerungsmehrheit als Verbündete des Staatsvolkes der Tschechoslowaken gesehen wurden. Insofern drohte hier die Gefahr, daß sich die ethnischen Spannungen, wie sie vor 1918 zwischen dem ungarischen Staatsvolk, der ukrainischen Bevölkerungsmehrheit und den Juden herrschten, einfach unter neuen Bedingungen fortsetzten.31 Die positive Politik gegenüber den Juden, die Masaryk und seine politischen Weggefährten so programmatisch betrieben, hatte also sehr verschiedene Wirkungen in den drei Staatsteilen. In den böhmischen Ländern hatte die dezidiert positive Politik gegenüber den Juden offenbar die deutlichste Wirkung: Den Rückgang des Antisemitismus nach 1920 muß man nicht zuletzt Masaryk und seinem Kreis zuschreiben, die jegliche Äußerungen des Antisemitismus hier entschieden zurückwiesen. Die Anerkennung einer jüdischen Nationalität hatte in den böhmischen Ländern eine größere Vielfalt von Identifizierungsmöglichkeiten zur Folge. In der Slowakei und in der Karpatoukraine, in denen sich jüdisches Leben kulturell stärker von dem der Mehrheitsgesellschaft unterschied, waren dagegen zumindest zeitweise ein staatlich geduldeter oder sogar geförderter Antisemitismus und die Zurücksetzung von jüdischen Kulturinteressen festzustellen. Hier verliefen alte Konfliktlinien unter einer neuen staatlichen Herrschaft weiter, die nicht die Ressourcen und das Interesse hatte, das Programm einer neuen, positiven Politik gegenüber den Juden unter viel komplexeren Bedingungen als im westlichen Staatsteil zu realisieren.
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Lipscher, Die soziale und politische Stellung der Juden, S. 275f.
Die Juden im bol’ševikischen System: Zwischen sozialem Wandel und Intervention HEINZ-DIETRICH LÖWE Selbst für einen Aufsatz, der sich mit den Juden in der Sowjetunion in der Zwischenkriegszeit beschäftigt, kann es nützlich sein, die Judenpolitik des zarischen und des bol’ševikischen – dieser grundlegend verschiedenen politischen Systeme – zu vergleichen. Die zarische Politik gegenüber den Juden blieb, zumindest bis 1881, durch drei Prinzipien des aufgeklärten Absolutismus gekennzeichnet: Integration, Produktivierung und Bildung, auch wenn diese nur halbherzig angewendet wurden. In der Praxis hieß dies, bestimmte soziale Gruppen, von denen einige erst noch geschaffen werden mußten, in das System zu kooptieren, d.h. zu versuchen, mehr Juden in Handwerk und Landwirtschaft zu beschäftigen, obwohl die Ansiedlung als Bauern nur ein relativ geringes Ausmaß erreichte, und jüdische Schüler in staatliche Schulen zu schicken. Einige, allerdings nur sehr zögerlich betriebene Versuche religiöser Reformen begleiteten diese Politik.1 Die meisten dieser Elemente der „Rekonstruktion“ lassen sich auch in der Politik der Bol’ševiki finden.2 In der Sowjetunion strebte man ebenfalls nach der Integration der Juden in das System, auch wenn diese für gewöhnlich Sowjetisierung genannt wurde, und wie zu Zeiten der Zaren blieb diese Integration, zumindest eine gewisse Zeit lang, sozial exklusiv.3 Die bol’ševikische Revolution garantierte keinesfalls allen Juden gleiche Rechte, sondern nur den arbeitenden jüdischen Massen.4 Beide Systeme, das zarische und das 1
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Heinz-Dietrich Löwe, The Tsars and the Jews. Reform, Reaction and Anti-Semitism in Imperial Russia 1772-1917, Chur 1993; Benjamin Nathans, Beyond the Pale. The Jewish Encounter with Late Imperial Russia, Berkeley u.a. 2002; Michael Stanislawski, Tsar Nicholas I and the Jews. The Transformation of Jewish Society in Russia 1825-1855, Philadelphia 1985. Heinz-Dietrich Löwe/Frank Grüner, Die Juden und die jüdische Religion im bolschewistischen Rußland, in: Christoph Gassenschmidt/Ralph Tuchtenhagen (Hg.), Politik und Religion in der Sowjetunion 1917-1941, Wiesbaden 2001, S. 167-205. Zur Politik gegenüber den Juden und der ökonomischen Stellung der Juden immer noch sehr wertvoll: Solomon M. Schwarz, The Jews in the Soviet Union, Syracuse/NY 1951; ders. [Solomon M. Švarc], Antisemitizm v Sovetskom Sojuze, New York 1952; über die Politik der neuen Ordnung und insbesondere der Evsekcii gegenüber den Juden während der ersten Dekade der Sowjetunion vgl. Zvi Yechiel Gitelman, Jewish Nationality and Soviet Politics. The Jewish Sections of the CPSU 1917-1930, Princeton 1972; ein guter, wenn auch etwas veralteter Überblick über die Entwicklungen in der Sowjetunion ist Lionel Kochan (Hg.), The Jews in Soviet Russia Since 1917, 3. Aufl., Oxford 1978. Ju. Larin, Intelligentskij i buržuaznyj antisemitizm v SSSR, in: Gleb V. Alekseev/Konstanitin A. Bol’šakov (Hg.), Protiv antisemitizma, Leningrad 1930, S. 22-46, hier S. 22f. Selbst der Eintrag in einer unveröffentlichten Enzyklopädie vermerkt: „Die Oktoberrevolution garantierte den jüdischen Arbeitern vollkommene Gleichheit“. Vgl. Liudmilla DymerskayaTsigelman/Mark Kipnis, Jewish History and Culture in a Destroyed Soviet Encyclopedia, in:
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bol’ševikische, sahen sich mit dem Problem konfrontiert, daß diejenigen Gruppen, die man zu integrieren suchte, innerhalb der jüdischen Gesellschaft relativ klein und unbedeutend waren. Vom Standpunkt des zarischen Systems aus betrachtet, fehlte den Juden der Adel und eine moderne Oberschicht. Vom sowjetischen Standpunkt aus erwies sich das proletarische Element, das leicht integriert werden konnte, bevor die Phase beschleunigter Industrialisierung einsetzte, als verschwindend gering. Beide Systeme mußten innerhalb der jüdischen Gesellschaft erst solche Gruppen schaffen, auf die sie sich verlassen konnten, und das taten sie auch. Der zarische Behörden- und Regierungsapparat versuchte, eine im ökonomischen Sinne moderne Oberschicht und eine Bildungselite hervorzubringen, die sich beide in das System integrieren ließen. Die Bol’ševiki wiederum bedienten sich des ökonomischen Drucks und der sozialen Veränderungen, aber auch der offenen Unterdrückung, um ein starkes und wachsendes proletarisches Element innerhalb des Judentums zu schaffen, das ein Teil der neuen sowjetischen Gesellschaft werden konnte. Produktivierung war das erklärte Ziel beider Systeme. Beide versuchten, das große handeltreibende Element innerhalb der jüdischen Bevölkerung zu reduzieren oder gar zu beseitigen, das von beiden gleichermaßen als unproduktiv und von den Bol’ševiki darüber hinaus als systemfeindlich angesehen wurde. Bei dem Versuch beider Systeme, die jüdische Bevölkerung zu produktivieren, spielte die landwirtschaftliche Ansiedlung eine wichtige Rolle. In dieser Hinsicht erwies sich das Sowjetsystem als erfolgreicher als die Politik des Zarenreiches, scheiterte aber letztlich ebenfalls. Das zweite Element der Produktivierung unterschied sich in beiden Systemen erheblich voneinander. Die zarische Regierung versuchte, mehr Juden für das Handwerk zu begeistern, das als das einzig produktive Element der jüdischen Gesellschaft galt. Das Sowjetsystem betrieb demgegenüber vorbehaltlos die Proletarisierung der jüdischen Massen und sah die jüdischen Handwerker als ein feindliches Element, das noch am ehesten toleriert werden konnte, wenn die jüdischen Handwerker keine Angestellten einstellten oder sich in Kooperativen zusammenschlossen, um einer sozialistischen Produktionsform zumindest nahezukommen.5
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Jews and Jewish Topics in the Soviet Union and Eastern Europe 13, 1990, S. 22-38, hier S. 30. Hilfe aus dem Ausland konnte nur dann akzeptiert werden, wenn sie an Arbeitskollektive gegeben wurde, verlangte Evobkom (Evrejskaja obš estvennaja komissija). Die Evobkom war eine Organisation, die auf Verlangen internationaler jüdischer Organisationen eingerichtet worden war, aber von den Kommunisten dominiert wurde, vgl. Boris Zinger/Lilia Belenkaia, Stages in the Formation of Policy on the Jewish Question in the Communist Party of the Soviet Union 1917-1928, in: Shvut 3 (19), 1996, S. 112-146, hier S. 130; Kooperativen, besonders wenn sie von den Juden selbst gegründet wurden, unterlagen immer noch den lähmenden Steuern, die ihre Gründung nahezu unmöglich machten. Aleksandr Bragin/Michail Kol’cov, Sud’ba evrejskich mass v Sovetskom Sojuze, Moskau 1924, S. 8. Man empfand dieses tiefe Mißtrauen, obwohl 50,6% aller jüdischen kustari Ein-PersonenBetriebe waren, 13,9% nur Familienangehörige und gerade einmal 7,9% Angestellte
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Beide Systeme nutzten die Erziehung an staatlichen Schulen dazu, größere Teile der jüdischen Gesellschaft den Einflüssen des sozialen und politischen Systems zu öffnen. Das bei weitem größere Vertrauen in ihre eigenen Möglichkeiten und ihre feste Überzeugung, daß die historische Entwicklung auf jeden Fall für sie sprach, machte es den Bol’ševiki erheblich leichter, ein dezidiert jiddisches Schulsystem6 zu entwickeln, wohingegen das zarische System nur schüchterne Versuche hinsichtlich einer besonderen staatlichen Erziehung für Juden unternahm. In den zarischen Schulen lernten die Juden in russischer Sprache, was aus praktischen Gründen Ende der 1870er Jahre wieder aufgegeben wurde.7 Als ein gänzlich auf Modernisierung bedachtes System entwickelte das sowjetische System durchaus eine gewisse Anziehungskraft auf Juden, die nach neuen Lebensformen suchten. Dazu gab es unter der zarischen Regierung, die der Modernisierung stets zwiespältig gegenüber stand, keine Entsprechung. Die zarische Politik unterstützte zwar zunächst halbherzig die Versuche jüdischer Aufklärer, den jüdischen Glauben und die traditionalen Formen der Religionsausübung zu reformieren und zu modernisieren, stellte diese Bemühungen aber spätestens Anfang der 1880er Jahre ein. Am Ende, vor allem nach der ersten Revolution der Jahre 1905/06, mußte dieses Vorgehen einer Politik weichen, die sich auf Nadelstiche gegen unabhängige innerjüdische Reformen, Reformbewegungen und Reforminstitutionen beschränkte.8 Die Bol’ševiki verfolgten demgegenüber zu keiner Zeit das Ziel religiöser Reformen. Die wenigen lokal begrenzten Experimente mit der „lebendigen Synagoge“ schlugen ebenso fehl wie die mit der „lebendigen Kirche“ für die russisch-orthodoxen Gläubigen. Selbst vor Ort gab man diese Versuche schnell auf, die Zentrale hat sie nie gebilligt. Es scheint, als ob moderne
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beschäftigten, im Durchschnitt zwei Arbeiter, vgl. L. G. Zinger, Evrejskoe naselenie v Sovetskom Sojuze. Statistiko- konomi eskij obzor, Moskau/Leningrad 1932, S. 57. Harold R. Weinstein, Language and Education in the Soviet Ukraine, in: The Slavonic YearBook 1 (=The Slavonic and East European Review 20), 1941, S. 124-148; Schwarz, The Jews, S. 130ff.; Ja. Kantor, Nacional’noe stroitel’stvo sredi evreev SSSR, Moskau 1934, S. 173f.; Elias Schulman, A History of Jewish Education in the Soviet Union, New York 1971; Zvi Lipset, Yiddish Schools in the Soviet Union, in: Bulletin on Soviet and East European Jewish Affairs 5, 1970, S. 71-77. Vgl.das Stichwort cheder, in: Evrejskaja nciklopedija, St. Petersburg 1909ff. Es gibt keine Studie zur Politik der russischen Regierung hinsichtlich der Reform des Judaismus, deshalb müssen Belege aus einer Fülle verschiedener Quellen herangezogen werden, vgl. Mikhail Polishchuk, Was there a Jewish Reform Movement in Russia, in: Shvut 8 (24), 1999, S. 1-35; Jacob S. Raisin, The Haskala Movement in Russia, Philadelphia 1913; Josef Meisl, Haskala. Geschichte der Aufklärungsbewegung unter den Juden in Rußland, Berlin 1919; für Kongreßpolen vgl. Raphael Mahler, Hasidism and the Jewish Enlightenment. Their Confrontation in Galicia and Poland in the First Half of the Nineteenth Century, Philadelphia 1985. Zur Politik der Nadelstiche kurz Heinz-Dietrich Löwe, Russian Nationalism and Tsarist Nationalities Policies in Semi-Constitutional Russia, 1905-1914, in: Robert B. McKean (Hg.), New Perspectives in Modern Russian History. Selected Papers from the Fourth World Congress for Soviet and East European Studies, Harrogate, 1990, Basingstoke/London 1992, S. 250-277, hier S. 261.
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Formen des Judentums auf die Machthaber mindestens so beunruhigend wirkten wie die traditionelle Orthodoxie. Deshalb wurden auch die reformorientierten Richtungen Opfer zeitweiliger Bedrückung und Verfolgung und seit 1928 Gegenstand durchgehender Repression.9 Ein großer Unterschied zwischen dem zarischen und dem sowjetischen System lag darin, daß die Integration bestimmter Elemente unter den Bol’ševiki erheblich weiter gehen konnte als unter den Zaren. Staat und Parteiorganisationen standen Juden, die als Individuen zur Kooperation mit dem System zu dessen Bedingungen bereit waren, weit offen. Innerhalb der jüdischen Bevölkerung entwickelte sich eine große Gruppe von Angestellten. Während der N P machte das System zumindest zeitweise, wenn auch nur zögerlich, seinen Frieden mit einigen handeltreibenden Elementen unter den Juden. In den meisten Zweigen von Bürokratie, Industrie und Handel ließ man Juden uneingeschränkt zu, wenn sie auch in einigen Branchen durch völlige Abwesenheit auffielen. Dieser Trend verstärkte sich noch mit der Aufstellung des ersten Fünfjahresplanes. So stiegen große Teile der jüdischen Gesellschaft in die neue sowjetische Mittelklasse auf.10 Im Unterschied zur vorrevolutionären Zeit arbeiteten die jüdischen Angestellten fast ausschließlich in einem größtenteils nicht-jüdischen Milieu. Dieser Trend wurde auch durch die großen Säuberungen in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre nicht unterbrochen, auch wenn istki auf lokaler und zentraler Ebene versuchten, die sogenannten „Menschen der Vergangenheit“ (byvšie ljudi) aus den Reihen der jüdischen Angestellten auszumerzen. Der große Unterschied zwischen dem zarischen und dem bol’ševikischen System lag darin, daß die Mehrheit der zarischen Eliten sich wenig von der Zukunft erhoffte, und keine von Zuversicht getragene Vision für den weiteren Gang der Weltgeschichte besaß, in der ihr System hätte erfolgreich sein können. Sie lebten in einer Welt, auf die sie sich keinen Reim machen konnten und die sowohl ihrer Kontrolle als auch ihrer intellektuellen Aufnahmefähigkeit entglitt. Die Bol’ševiki dagegen glaubten die Kraft der Geschichte auf ihrer Seite und vertrauten darauf, daß sie letztlich ihre Ziele erreichen würden, wenn sie den Mächten des sozialen Wandels nur ihren „natürlichen“ Lauf ließen. Dieses Wissen schloß allerdings Formen aktiver Intervention in den Gang der Entwicklung, wie etwa Propaganda, repressive Maßnahmen 9
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Zur sowjetischen Politik gegenüber der jüdischen Religion im allgemeinen vgl. Joshua Rothenberg, The Jewish Religion in the Soviet Union, New York 1971; ders., Religion in the Soviet Union, in: Kochan, The Jews, S. 168-196; Avraham Greenbaum, The Jewish Religion in the Soviet Union in the 1930s, in: Shvut 1/2 (17/18), 1995, S. 146-160; Löwe/Grüner, Die Juden und die jüdische Religion, S. 188; Micha l’ Beizer, Religious Reform. An Option for the Jews of Russia in the First Quarter of the 20th Century? The Example of St. PetersburgLeningrad, in: Proceedings of the Twelfth World Congress of Jewish Studies, Division B. History of the Jewish People, Jerusalem 2000, S. 199-208; zu einem Experiment mit der „lebenden Synagoge“ vgl. Gitelman, Jewish Nationality, S. 302f. Dieser Trend wurde schon im Zensus von 1926 deutlich, vgl. Zinger, Evrejskoe naselenie, S. 32ff.
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oder schließlich sogar die völlige Unterdrückung einzelner sozialer Gruppen und vor allem der Religion, nicht aus, um den Lauf der Welt zu beschleunigen. Die Gewißheit, mit dem Gang der Geschichte zu gehen, schloß auf der anderen Seite nicht das Gefühl aus, ernstzunehmenden Feinden aus der Mitte der jüdischen Gesellschaft gegenüberzustehen – der alten oberen Mittelschicht und den Zionisten, die in der Lage waren, die jüdische Bevölkerung politisch bis zu einem erstaunlichen Grad zu mobilisieren, dem „Bund“ („Allgemeiner jüdischer Arbeiterbund in Litauen, Polen und Rußland“) und anderen sozialistischen Grupppen. Später kamen noch die traditionellen Formen jüdischer religiöser Bewegungen hinzu, vor allem der Hasidismus, die sich als überraschend langlebig erwiesen. Soziale Veränderungen waren keine Erfindung der Bol’ševiki. Schon unter zarischer Herrschaft betrafen sie die Juden in einem hohen Maße. Zunächst können wir beobachten, daß sinkende Wachstumsraten und massive Emigration jegliches natürliche Wachstum bereits vor der Revolution unter der jüdischen Bevölkerung zum Stillstand gebracht hatten. Zwischen 1897 und 1923 verringerte sich die jüdische Bevölkerung in absoluten Zahlen um 74.000 Personen, zum großen Teil aufgrund der massenhaften Auswanderung, zu einem kleineren Teil auch durch sinkende Geburtenraten und die Verluste durch Krieg, Bürgerkrieg und Pogrome. Im Gegensatz dazu wuchs die Gesamtbevölkerung während des gleichen Zeitraumes um 30 Prozent. In den 1920er Jahren entwickelte sich die jüdische Bevölkerung im Gleichschritt mit der Gesamtbevölkerung.11 Dagegen hatte sie im 19. Jahrhundert die allgemeine Wachstumsrate um das Zweifache übertroffen.12 Die Geburtenrate variierte bei den Juden, auch wenn sie während der Sowjetzeit immer geringer blieb als die der anderen Bevölkerungsgruppen, entsprechend der Region, in der sie lebten. Im Jahr 1926 lag sie in der Region, die sozial und ökonomisch als besonders rückständig galt, in Weißrußland, am höchsten, auf einem mittleren Stand in der Ukraine und besonders niedrig in der RSFSR. Ein spezifisches Phänomen allerdings blieb bestehen: Während die Geburtenrate unter den Juden stets geringer war als beim Rest der Bevölkerung, entsprach ihr natürliches Wachstum seit ungefähr 1900 in etwa dem aller anderen Gruppen zusammengenommen. Dies bedeutet, daß die Kindersterblichkeit bei den Juden niedriger lag als beim Rest der Bevölkerung.13 11
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Zinger, Evrejskoe naselenie, S. 7; während z.B. zwischen 1901 und 1910 55 von 10.000 Polen Kongreßpolen verließen, taten dies 135 Juden, M. Kipper, Evrejskoe meste ko Ukrainy, Char’kov 1930, S. 8f.; einen allgemeinen Überblick bietet Alec Nove/John A. Newth, The Jewish Population. Ethnographic Trends and Occupational Patterns, in: Kochan, The Jews, S. 132-167. Löwe, The Tsars and the Jews, S. 86f. Zinger, Evrejskoe naselenie, S. 26f.; das Bevölkerungswachstum war von 1,99% im Jahr 1897 auf 1,97% im Jahr 1900/4 und auf 1,53% im Jahr 1926 gesunken, die Geburtenrate fiel entsprechend von 3,99% auf 3,44% und 2,46%. Deshalb setzte der „demographische Übergang“ schon vor der Revolution ein.
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Die Verstädterung intensivierte sich ebenfalls bereits vor der Revolution deutlich. Unter den Juden zeigte sich eine ausgeprägte Tendenz, in die größeren Städte und vor allem in die Metropolen zu ziehen. Aber schon zu dieser Zeit nahm der prozentuale Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung der großen Städte ab, weil andere Gruppen in noch größerer Zahl dorthin drängten. Dies betraf die größten und am schnellsten wachsenden Städte wie Odessa, Minsk, Ekaterinoslav, Berdi ev, Kremen ug und andere, während man in kleineren Städten, besonders wenn sie nicht ganz so schnell wuchsen, weil sie in Gebieten mit geringerem ökonomischem Wachstum lagen, tatsächlich einen steigenden Anteil von Juden innerhalb der Gesamtbevölkerung feststellen kann. Diese Tendenz bedeutete schon vor der Revolution eine bemerkenswerte Änderung im Ansiedlungsmuster der Juden, die in beträchtlicher Anzahl in jene beiden Gruppen von Städten mit der höchsten bzw. zweithöchsten Einwohnerzahl zogen.14 Dieser Trend hielt auch während der 1920er Jahre an, so daß im Jahre 1926 ungefähr 60,3% aller Juden in großen Städten lebten und 28,5% im shtetl, wohingegen es 1897 noch 40,8% bzw. 33,5% gewesen waren. Trotzdem blieb die Prozentzahl von Juden auf dem Land innerhalb der Gebiete des früheren jüdischen Siedlungsrayons gleich. Indessen waren nach der Beseitigung des jüdischen Ansiedlungsrayons 15,7% aller Juden in die RSFSR gezogen, von denen 90,2% sich in den Städten niederließen. Insgesamt lebten 1926 17,8% aller Juden außerhalb des früheren Siedlungsrayons auf dem Gebiet der UdSSR. Der Prozentsatz der Juden auf dem Land blieb in Weißrußland am höchsten. Hier lebten 1926 26,8% aller Juden in Orten mit weniger als 10.000 Einwohnern. Diese Zahl unterstreicht die relative Rückständigkeit dieses Gebietes und sie blieb auch während des gesamten Zeitraumes hier höher als anderswo.15 In Weißrußland und in einigen Gebieten der Ukraine erwies sich das traditionelle Milieu des shtetl, ein sterbendes soziales Phänomen, als am langlebigsten. Der Prozeß der Verstädterung beschleunigte sich zwischen 1926 und 1939 deutlich. Lebten 1926 82,4% aller Juden in Städten, waren es 1939 schon ungefähr 87%.16 Der Trend, in die großen Städte zu ziehen, trat immer deutlicher hervor: 1939 lebten 39,8% aller Juden in Städten mit mehr als 500.000 Einwohnern, aber nur 11,8% in Kleinstädten mit weniger als 20.000 Einwohnern.17 Besonders in den großen Städten vermischten sich die Juden zunehmend mit der allgemeinen Bevölkerung. Insgesamt ging ihr prozentualer 14 15 16 17
Vgl. die statistischen Tabellen in Evrejskoe naselenie Rossii po dannym perepisi 1897 g. i po novejšim isto nikami, Petrograd 1917; Löwe, The Tsars and the Jews, S. 87. Kantor, Nacional’noe stroitel’stvo, S. 16f.; Švarc, Antisemitizm, S. 12. A. A. Jusupov, Nacional’nyj sostav naselenija SSSR, Moskau 1964, S. 23. Mordechai Altshuler, Soviet Jewry on the Eve of the Holocaust. A Social and Demographic Profile, Jerusalem 1998, S. 29, 35. Es gab bemerkenswerte Unterschiede hinsichtlich des Prozentsatzes entsprechend der Größe der Städte: 2,2% aller Juden lebten in Städten zwischen 300.000 und 500.000 Einwohnern, 29,6% in solchen zwischen 200.000 und 300.000, in jenen zwischen 20.000 und 100.000 lebten 17,9%, in solchen mit weniger als 20.000 Einwohnern 11,8% aller sowjetischen Juden.
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Anteil in den Städten der UdSSR zwischen 1926 und 1939 von 8,2% auf 4,7% zurück, in der Ukraine von 22,7% auf 11,7%, in Weißrußland von 40,2% auf 23,9% und in der RSFSR von 3,1% auf 2,2%.18 Die jüdischen shtetlGemeinschaften verschwanden sogar fast noch schneller. Die Auflösung dieses traditionellen Milieus begann wahrscheinlich bereits vor der Revolution, beschleunigte sich dann und nahm während der 1930er Jahre dramatische Ausmaße an.19 Die regionale Verteilung der Juden änderte sich ebenfalls dramatisch. Lebten 1897 noch 60,8% aller Juden in der Ukraine, ging diese Zahl auf 58,9% im Jahre 1926 und 50,6% im Jahre 1939 zurück; jedoch geben diese Zahlen noch keinen Hinweis auf die bemerkenswerten Wanderungsbewegungen in die Ukraine hinein bzw. aus ihr heraus. Während des gleichen Zeitraumes sank der Prozentsatz von Juden, die in Weißrußland lebten, von 18,8% über 15,2% auf 12,4%20, wohingegen der Prozentsatz von Juden, die außerhalb des früheren jüdischen Siedlungsrayons lebten, von 17,8% im Jahre 1926 auf 36,9% im Jahre 1939 anstieg. All dies muß einen beträchtlichen Einfluß auf Einstellungen und Verhalten der Juden gehabt haben. Einige Zahlen liefern sprechende Beweise dafür, z.B. die Tatsache, daß 1926 bereits 25,01% aller Ehen von jüdischen Männern mit nicht-jüdischen Partnerinnen geschlossen wurden und umgekehrt 16,53% aller Ehen jüdischer Frauen mit nicht-jüdischen Partnern. 1927 beliefen sich diese Zahlen auf 27,20% respektive 19,82%. Im Vergleich zur RSFSR blieben Ehen zwischen Juden und Nicht-Juden in der Ukraine immer noch ziemlich selten und noch seltener in Weißrußland. Die Zahl der Frauen, die nicht-jüdische Männer heirateten, lag hier, wenn auch insgesamt niedrig, dennoch etwas höher als bei den jüdischen Männern, die nicht-jüdische Frauen ehelichten.21 Im Jahre 1936 heirateten in der RSFSR 42,3% aller jüdischen Männern und 36,8% aller jüdischen Frauen einen nicht-jüdischen Partner. In der Ukraine erreichten diese Ehen lediglich einen Anteil von 15,3% in beiden Fällen, in Weißrußland 12,6% bzw. 10,5%.22 Zahlen aus einem anderen Bereich deuten in die gleiche Richtung. Während 1897 noch rund 97% Jiddisch als ihre Muttersprache angaben, fiel dieser Prozentsatz bis 1926 auf 70,4%23 und bis 1939 auf 39,7%.24 In den Städten ging diese Veränderung schneller vonstatten: 18 19 20
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Švarc, Antisemitizm, S. 49. L. G. Zinger, islennost’ i geografi eskoe razmeš enie evrejskogo naselenija SSSR, in: Zacharij L. Mindin (Hg.), Evrei v SSSR, Moskau 1929, S. 38-55, hier S. 41, Tabelle 7. Altshuler, Soviet Jewry, S. 14; Schwarz, The Jews, S. 15; Die Zahlen von Schwarz für die Ukraine in den Jahren 1926 und 1939 sind um 0,2% höher als die von Altshuler, dessen Zahlen ich in diesen zwei Fällen benutzt habe. Nacional’naja politika VKP(b) v cifrach, Moskau 1930, Tabelle 4, S. 41. Altshuler, Soviet Jewry, S. 74; 1939 waren die Zahlen für die Ukraine auf 18,1% für Männer und auf 15,8% für Frauen gestiegen. Švarc, Antisemitizm, S. 17 auf Basis einer Veröffentlichung von Zinger aus dem Jahre 1941, wohingegen Zinger in seiner Veröffentlichung von 1932 die Zahl mit 72,6% angibt. Poljakov, Jurij A. (Hg.), Vsesojuznaja perepis’ naselenija 1939 goda. Osnovnye itogi, Moskau 1992, S. 80; Benjamin Pinkus, The Educational System of Extra-Territorial
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Hier erklärten 1926 68% der Juden Jiddisch zu ihrer Muttersprache, während es auf dem Land noch 93,8% waren25; jüdische Arbeiter zeigten einen noch größeren Grad der Anpassung, da 1927 lediglich 58,2% Jiddisch als ihre Muttersprache angaben.26 In den Städten der RSFSR betrug dieser Anteil 48% im Jahre 1926, davon in Leningrad 31% und in Moskau 34%, wobei der Anteil in der Moskauer Innenstadt, innerhalb des Gartenrings, sogar nur 27,4% betrug. 1939 erklärten in Leningrad lediglich 20,5%, in Moskau 18,5% Jiddisch zu ihrer Muttersprache.27 Die Zahlen für 1939 zeigen, daß 20,1% aller Juden mit jiddischer Muttersprache auf dem Land lebten, aber nur 13,1% der Juden insgesamt.28 Aufgrund ökonomischer Veränderungen, aber auch als Folge der in praktische Politik umgesetzten ideologischen Muster der Bol’ševiki, hatte sich die berufliche Verteilung der Juden bereits zwischen 1897 und 1926 in wichtigen Aspekten bemerkenswert verändert. Ins Auge fällt vor allem der dramatische Rückgang ihres Anteils am Handel. 1897 arbeiteten rund 31% der wirtschaftlich aktiven Juden als selbständige Händler, Ladenbesitzer oder Hausierer. Diese Zahl sank auf 11,8% im Jahre 1926, die der selbständigen Handwerker pendelte zwischen 18% und 19%. Der Anteil lohnabhängiger Arbeiter in Handwerksbetrieben sank ebenfalls dramatisch von 11% auf 3,6%.29 Dies kann nicht allein mit der Enteignung kapitalistischer Elemente in der jüdischen Gesellschaft erklärt werden, sondern deutet auf konstanten politischen und wirtschaftlichen Druck hin, der auf selbständige und vom Staat unabhängige jüdische Händler und Handwerker ausgeübt wurde. Die allgemeine Einstellung gegenüber diesen ökonomischen Elementen unter den Juden macht ein Memorandum der ukrainischen GPU an den Parteivorsitzenden der Ukraine, Lazar Kaganovi , aus dem Jahre 1925 deutlich:
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27 28 29
Minorities in the Soviet Union: Germans and Poles, in: Avraham Greenbaum (Hg.), Minority Problems in Eastern Europe Between the World Wars with Emphasis on the Jewish Minority, Jerusalem 1988, S. 123, kommt auf eine erheblich höhere Zahl für 1939 (54,6%), aber er zeigt, daß die Beibehaltung der Muttersprache bei Deutschen und Polen in der Sowjetunion erheblich höher war. Im Heer gaben 1939 lediglich 20,1% der jüdischen Soldaten Jiddisch als ihre Muttersprache an, vgl. Mordechai Altshuler, A Note on Jews in the Red Army on the Eve of the Second World War, in: Jews and Jewish Topics in the Soviet Union and in Eastern Europe 18, Nr. 2, 1992, S. 37ff. Zinger, Evrejskoe naselenie, S. 28f. Zinger/Belenkaia, Stages, S. 143f.; nach Gitelman, Jewish Nationality, S. 369f. standen jüdische Arbeiter dem Jiddischen ablehnend gegenüber, weil sie Russisch als notwendig für ihr Vorankommen betrachteten. Gabriele Freitag, Nächstes Jahr in Moskau. Die Zuwanderung von Juden in die sowjetische Metropole 1917-1932, Göttingen 2004, S. 118f., 121. Altshuler, Soviet Jewry, S. 29; Poljakov (Hg.), Vsesojuznaja perepis’ naselenija 1939 goda, S. 81. Schwarz, The Jews, S. 20. Lokalstudien bestätigen im allgemeinen jene Zahlen, aber sie verzeichnen einen erheblich größeren Prozentsatz von kustari im shtetl, Leonid Smilovitsky, A Belorussian Border Shtetl in the 1920s and 1930s: The Case of Turov, in: Jews in Russian and Eastern Europe 50, Nr. 1, 2003, S. 109-137.
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„Die jüdische Bevölkerung im Shtetl, die ungefähr 2 Millionen Menschen umfaßt, muß durch den Lauf der geschichtlichen Ereignisse zwangsläufig Opfer unserer Wirtschaftspolitik werden. Unser Kampf gegen das Kleinbürgertum auf den Märkten des Shtetls und in den Kleinstädten, der auf eine direkte Verbindung zu den Bauern zielt, um ihre Bedürfnisse mit Produkten unserer Groß- und Kleinindustrie zu befriedigen – all dies ist generell der Kampf gegen die jüdischen Massen, die tatsächlich als eine nahezu reine Verkörperung des Kleinbürgertums gelten können.“30
Der Kampf gegen das jüdische Kleinbürgertum wurde nicht allein mit rein ökonomischen Mitteln aufgenommen. Dies zeigt die Tatsache, daß 1925/26 72,3% aller städtischen Juden und 29,7% aller auf dem Land lebenden Juden in der Ukraine sogenannte lišency waren, d.h. Menschen, denen ihre Rechte als sowjetische Bürger genommen worden waren. Dies alles reichte jedoch noch nicht aus, und die Evsekcija der UdSSR verfaßte einen „Fünfjahresplan zur Rekonstruktion der Sozialstruktur der jüdischen Bevölkerung in der UdSSR“, der im Dezember 1926 von der Sechsten Allrussischen Konferenz der Evsekcii angenommen wurde.31 Ein weiteres auffälliges Merkmal des sozialen Wandels, den die Revolution und die ersten Jahre der sowjetischen Herrschaft mit sich brachten, war das Anwachsen der Zahl der Gehaltsempfänger, die von 10% im Jahre 1897 auf 23,2% im Jahre 1926 anstieg.32 Insbesondere das Ende der offiziellen Diskriminierung der Juden als Juden kann hier festgestellt werden. Jüdische Angestellte profitierten auch von der Tatsache, daß Juden im allgemeinen viel besser ausgebildet waren als Angehörige anderer Bevölkerungsgruppen.33Auf der anderen Seite veränderte sich die Zahl der Lohnempfänger, die als „Proletarier“ bezeichnet werden konnten, nicht. Sie lag, einschließlich der Arbeiter in Handwerksbetrieben, in Handel, Dienstleistungen und Transport etc., bei 15% im Jahr 1897 und bei 14,7% im Jahr 1926. 1926 arbeiteten immer noch erst 6,9% der jüdischen Lohnempfänger in der Industrie und im Baugewerbe. Bemerkenswerte Zuwächse konnten bei den Landwirten verzeichnet werden, deren Prozentsatz von 2,2% auf 9,1% stieg. Es verblieb eine größere Zahl von Personen ohne dauerhafte oder bestimmte Beschäftigung. Die Zahl derjenigen mit unspezifischer Arbeit bzw. von früheren Arbeitnehmern oder Selbständigen, die 1897 23,4% betragen hatte, sank bis 1926 leicht auf 20,6%.34 Die meisten von ihnen waren Tagelöhner oder sogar 30 31 32 33
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Zinger/Belenkaia, Stages, S. 141. Ebd., S. 142. Schwarz, The Jews, S. 20. Zinger, Evrejskoe naselenie, S. 30; 71% der Juden konnten lesen, im Gegensatz zu 46,8% der Gesamtbevölkerung (1926). 26% aller Studenten in der Ukraine waren Juden, in der Medizin lag ihr Anteil bei 44,8% (in der RSFSR bei 15,3%), im industriell-technischen Bereich betrug er 31,9% (RSFSR: 14,7%), in den Sozialwissenschaften 32,9% (RSFSR: 17,3%), in den künstlerischen Bereichen erreichte der prozentuale Anteil 28,5% respektive 21,3%; diese Zahlen beziehen sich auf 1926, Larin, Intelligentskij i buržuaznyj antisemitizm, S. 28f. Schwarz, The Jews, S. 20.
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arbeitslos.35 Diese Zahlen belegen, daß das Sowjetsystem bereits bis zur zweiten Hälfte der 1920er Jahre die traditionelle ökonomische Struktur der jüdischen Gesellschaft entscheidend geschwächt, wenn nicht sogar zerstört hatte. Als Antwort darauf konnte der sowjetische Staat, wenn man die Lohnarbeiter außer acht läßt, keine neuen wirtschaftlichen Betätigungsfelder für diesen Teil der jüdischen Bevölkerung bereitstellen, vor allem nicht innerhalb der Arbeiterschaft. Das shtetl-Milieu befand sich offensichtlich unter einem enormen Druck, und es erwies sich als äußerst schwierig für Juden, neue Wege zu finden, um einträglich beschäftigt zu werden. Ein zeitgenössischer Beobachter konstatierte, daß die Bevölkerung des shtetl schlechter dran sei als vor der Revolution.36 Die Arbeitslosenquote unter den Juden betrug durchschnittlich 9,3%, in den Städten 11,3%.37 Aber diese Zahlen untertreiben die tatsächliche Situation eher. Um die alte sogenannte jüdische Bourgeoisie davon abzuhalten, ihre Position zurückzugewinnen, wurde das shtetl bewußt dem ökonomischen Tod ausgeliefert. So erklärte eine Veröffentlichung der Evsekcija: „Die Scherenkrise wird logischerweise und mit historischer Notwendigkeit den armen jüdischen Massen alle Mittel rauben, ihren Lebensunterhalt zu verdienen und dadurch das shtetl zerstören.“38 Zählungen, die in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in 43 shtetl durchgeführt wurden, zeigen, daß lediglich ein Drittel derjenigen, die sich im arbeitsfähigen Alter befanden, einen festen Beruf hatte oder auf einem bestimmbaren Arbeitsgebiet tätig war. Junge Leute, insbesondere junge Männer, wanderten in großer Zahl ab – an manchen Orten nahezu 50%.39 Selbst die kustari, die einzige Stütze der jüdischen Bevölkerung in der produktiven Welt, wie Mitglieder der jüdischen Intelligencija sie vor der Revolution genannt hatten, befanden sich in einer schlechten Position. 19% der jüdischen Bevölkerung verdienten ihren Lebensunterhalt als Handwerker, davon waren 50,6% sogenannte astniki oder odino ki, d.h. sie arbeiteten ohne jegliche Hilfe. 13,9% stellten Familienmitglieder an, 10,6% kooperierten mit anderen Handwerkern und lediglich 7,9% verfügten über einen eingestellten Arbeiter. Diese Zahlen verdeutlichen die schwierige Situation der jüdischen 35 36 37 38 39
Smilovitsky, A Belorussian Border Shtetl, gibt unter Punkt 2d an, daß 23% keine spezifische Beschäftigung hatten, d.h. grundsätzlich ohne regelmäßige Beschäftigung waren. Bragin/Kol’cov, Sud’ba evrejskich mass, S. 8. Zinger, Evrejskoe naselenie, S. 76; die Arbeitslosigkeit wuchs bis 1929 um fast 25%. In den größten Städten war sie auch am höchsten. Bragin/Kol’cov, Sud’ba evrejskich mass, S. 4 und 17. Zvi Gitelman, A Century of Ambivalence. The Jews of Russia and the Soviet Union, 1881 to the Present, New York 1988, S. 124. Der stellvertretende Premierminister von Weißrußland machte eine ähnliche Äußerung, Pravda, Nr. 148, 1.7.1926. Rabkrin aus der Ukraine sprach von 25% der Bevölkerung der shtetl, die 1925 keine feste Beschäftigung hatten, Pravda, Nr. 289, 18.12.1925. Eine kurze Studie über ein shtetl veröffentlichte I. Zalesskij, Meste ko Uzda, in: Materialy po demografii i konomi eskomu položeniju evrejskogo naselenija v SSSR 8, (Juni 1930), S. 60-85.
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Handwerker. Dennoch machten sie 1926 noch immer 32,8% aller selbständigen Handwerker in der UdSSR aus.40 Kustari arbeiteten immer noch fast ausschließlich in den traditionellen Beschäftigungszweigen der Juden – in der Herstellung von Nahrungsmitteln, im Schneiderhandwerk, in der Metallbearbeitung und in der Textilbranche. Hohe Steuern verhinderten eine Verbesserung der Lage der kustari und sehr häufig auch die Bildung von Kooperativen.41 In Weißrußland hatten sich 1929 erst 5% von ihnen zu solchen Kooperativen zusammengeschlossen.42 Um 1920 boten amerikanische Hilfsorganisationen wie „Joint“ den traditionellen jüdischen Handwerkern Hilfe an. Diese wurde aber nur unter der Voraussetzung erlaubt, daß die jüdischen Handwerker sich in Kooperativen organisierten. Aber selbst dieser Versuch scheiterte wegen der Hungersnot der Jahre 1921/22 und wurde später auch nicht wieder aufgegriffen.43 Mit dem Beginn des ersten Fünfjahresplans gerieten das shtetl und seine Sozialstruktur – besonders die kustari – noch stärker unter Druck. Deren Zahl wuchs um mehr als 25% in den wenigen Jahren bis 1930, ein Anstieg, der ihre Situation weiter verschlechterte. Vor allem Ältere arbeiteten im Handwerk.44 Grund dafür war, daß der Druck auf die verbliebenen handeltreibenden Elemente unter den Juden noch stärker wurde, so daß sehr viele sich als ungelernte Handwerker versuchten und als odino ki arbeiteten. Aber das konnte lediglich eine Übergangslösung sein. Der größte Teil derjenigen, die in den kustari arbeiteten, versuchte, Arbeit in der Industrie oder als Büroangestellte zu bekommen. Durch außergewöhnlich hohe Steuern wurden sowohl Händler als auch Kleinhandwerker aus dem Geschäft herausgedrängt oder gezwungen, in staatliche Kooperativen einzutreten. Viele Händler und kustarniki suchten deshalb vorübergehend Arbeit in der Landwirtschaft, verließen diesen Erwerbszweig aber bald wieder, um in anderen Bereichen zu 40
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Zinger, Evrejskoe naselenie, S. 56f.; wie Zinger betont, und lokale Studien bestätigen, war der Prozentsatz der kustari in den kleinen Orten am höchsten, vor allem im shtetl-Milieu, vgl. Smilovitsky, A Belorussian Border Shtetl, Punkt 2a, der ihren Anteil mit 36% beziffert; . L. Škol’nikova, Transformacija evrejskogo meste ka v SSSR v 1930gg., Internet edition: http://www.jewish-heritage.org/prlstr.htm, hier: Kapitel 2, Tabelle 3 (vgl. Fußnote 39) gibt für Weißrußland eine Zahl von 31,6% an. Bragin/Kol’cov, Sud’ba evrejskich mass, S. 8; Die Arbeiter- und Bauerninspektion (Rabkrin) der Ukraine berichtete sogar, daß die lokalen Organe illegale Steuern von den jüdischen Händlern erhoben, Pravda, Nr. 233, 16.10.1921. Tribuna Evrejskoj sovetskoj obš estvennosti 10.2.1929, S. 15, zit. nach Škol’nikova, Transformacija. Die Evsekcija wollte tatsächlich die kustarniki überreden, sich zu Kooperativen zusammenzuschließen, aber lokale Aktivisten ignorierten und widerriefen diese Versuche häufig, Gitelman, Jewish Nationality, S. 358ff. Zinger/Belenkaia, Stages, S. 130. Hilfe für die hungernde – nicht-jüdische – Bevölkerung von Evobkom kam hauptsächlich von „Joint“ und anderen internationalen jüdischen Organisationen. Sie wurde nicht nur angenommen, sondern sogar als Hilfe über die Nationalitätsgrenzen hinweg gefeiert, Pravda, Nr. 233, 16.10.1921. Zinger, Evrejskoe naselenie, S. 61, 75. 1929 arbeiteten 38,42% der ukrainischen Juden in kustari, Nove/Newth, Demographic Trends, S. 164, Tabelle i.
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arbeiten.45 Der Prozentsatz der Händler unter den Juden sank schon bis 1929 auf 5%, bis zur Mitte der 1930er Jahre verschwanden sie fast völlig.46 Die Proletarisierung der jüdischen Gesellschaft begann streng genommen erst mit dem ersten Fünfjahresplan. Bis dahin verharrten die Juden größtenteils in den ökonomischen Bereichen, in denen sie traditionell gearbeitet hatten. Der Verdacht liegt nahe, daß sie auch nach der Proletarisierung hauptsächlich in ihren traditionellen Tätigkeitsbereichen arbeiteten. Der Unterschied bestand darin, daß nun Staat, Kooperativen oder sozialisierte Institutionen sie beschäftigten.47 Dies traf besonders auf die Bevölkerung des shtetl zu. Außerdem arbeiteten jüdische Proletarier, vor allem innerhalb des ehemaligen Ansiedlungsrayons, wie auch schon vor der Revolution, lange Zeit hauptsächlich in rückständigen, unmodernen Fabriken und Werkstätten. Der Anteil von Juden in ihren traditionellen Tätigkeitsgebieten stieg entsprechend dem zeitweiligen Wachstum der kustari und Werkstätten. Dies zeigt, daß bis Mitte der 1930er Jahre kein wirklicher Wandel möglich war. Bis dahin machten jene, die im shtetl blieben, hauptsächlich politischen und ökonomischen Druck für den zu beobachtenden Wandel verantwortlich, nicht aber die ökonomische Entwicklung. Für jüdische Arbeiter galt offensichtlich der von altersher bekannte segmentierte Arbeitsmarkt zumindest noch für einen gewissen Zeitraum. Sie konnten keine Anstellung in großen und modernen Fabriken finden, wie es auch vor der Revolution der Fall gewesen war.48 Anders läßt sich nicht erklären, warum – bis in die 1930er Jahre – Juden in hauptsächlich rückständigen Werkstätten arbeiteten und außerdem sehr häufig in einigen Bereichen praktisch überhaupt nicht vertreten waren. Das gilt z.B. im gesamten Eisenbahnwesen und im Bergbau, wo sie lediglich eine äußerst geringe Anzahl von Arbeitern stellten.49 Am Anfang der 1930er Jahre 45
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Škol’nikova, Transformacija, Kapitel 2. Škol’nikova weist auch darauf hin, daß eine große Zahl von Handwerkerkooperativen nur auf dem Papier existierte und die Juden längere Zeit damit verbrachten, „schwarz“ zu arbeiten und nebenbei Geld zu verdienen. Sie trieben auch weiterhin Handel, allerdings unter dem Mäntelchen der Kooperativen. Zinger, Evrejskoe naselenie, S. 76, vgl. außerdem Škol’nikova, Transformacija, Kapitel 2. Dies ist meine Interpretation der Zahlen von Zinger, Evrejskoe naselenie, S. 76; vgl. außerdem Škol’nikova, Transformacija, Kapitel 2 und hier besonders Tabelle 4. Zum segmentierten Arbeitsmarkt (split–labour market) allgemein und für die vorrevolutionäre Zeit vgl. Yoav Peled, Class and Ethnicity in the Pale. The Political Economy of Jewish Workers’ Nationalism in Late Imperial Russia, Houndmills/Basingstoke 1989. Split-labour market hinsichtlich diskriminierter Bevölkerungsgruppen bedeutet, daß diese Minderheiten in ausschließlich von ihrer eigenen Minderheit unterhaltenen Betrieben arbeiteten, die zudem schlechtere Löhne und Arbeitsbedingungen aufwiesen. Švarc, Antisemitizm, S. 117f., 299; Nacional’naja politika, S. 177. Die Eisenbahnbetriebe standen schon vor der Revolution in dem Ruf, antisemitisch zu sein, vgl. Löwe, The Tsars and the Jews, passim (zu den Pogromen besonders); in den späten 1920er Jahren gab es lediglich 1.800 jüdische Eisenbahnarbeiter in der UdSSR, Zinger, islennost’, S. 9; Nove/Newth, Demographic Trends, S. 164, Tabelle 1; dies änderte sich auch in den 1930er Jahren nicht, Vetter, Antisemiten und Bolschewiki, S. 148, Anm. 84.
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begannen die Juden, in großer Zahl aus ihren früheren Siedlungsgebieten in die Fabriken und zur Büroarbeit in die großen Städte zu ziehen. Dabei entwickelten vor allem die Städte der RSFSR eine große Anziehungskraft. Dort hatten Juden bis 1915, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht siedeln dürfen.50 Vom Ende der 1920er bis in die frühen 1930er Jahre verlief die relative Zunahme der jüdischen Proletarier erheblich schneller als die der Angestellten, aber in absoluten Zahlen wuchs die Zahl der Angestellten immer noch erheblich stärker als die der jüdischen Arbeiterklasse. Zu Begin der 1930er Jahre arbeiteten 18,9% der Juden als Arbeiter, 27,8% als Angestellte, 22,1% waren in den kustari beschäftigt, 11,1% wirtschafteten als Bauern und 2,3% als Händler. Der hohe prozentuale Anteil von Bauern erwies sich als ein lediglich vorübergehendes Phänomen, weil viele schon bald wieder die Landwirtschaft verließen, um anderweitig Beschäftigung zu suchen. Der Prozentsatz von Arbeitern insgesamt lag 1926 bei 38,8%, 1930 bei 40,4% und 1931 bei 43,5% aller Lohn- und Gehaltsempfänger. Mitte der 1930er Jahre, auf dem Höhepunkt der Proletarisierung der jüdischen Massen, lag der prozentuale Anteil der Lohnempfänger wahrscheinlich leicht höher als der der Gehaltsempfänger, aber dies war ein kurzlebiger Trend, der sich bald wieder umkehrte und eine Entwicklung andeutete, die sich nach dem Krieg fortsetzte und der die jüdische Bevölkerung zu einem wichtigen Teil der sowjetischen Mittelklasse machte, den Prozentsatz der jüdischen Arbeiter dagegen rasch sinken ließ. Die Beschäftigungsstruktur der Juden im Jahr 1939 sah in etwa so aus: 30,2% waren Arbeiter, 40,8% Angestellte, 16,1% Handwerker in Kooperativen und 4,0% kustarniki im nicht-sozialisierten Sektor, 5,8% arbeiteten in der Landwirtschaft.51 Den Trend hin zur Mittelklasse beeinflußte 50 51
Schwarz, The Jews, S. 169ff.; Zinger, Evrejskoe naselenie, S. 34, 38; Ders., Nacional’nyj sostav proletariata SSSR, Moskau 1934, S. 86f. Der Löwenanteil der jüdischen Arbeiter lebte in der RSFSR, wohingegen in der Ukraine nur 9,4% und in Weißrußland lediglich 8,9% aller Juden Arbeiter waren, Benjamin Pinkus, The Jews of the Soviet Union. The History of a National Minority, Cambridge 1988, S. 95; L. Zinger, Dos ufgerichte Folk, Moskau 1948, S. 38; Jakov Leš inskij, Dos sovetishe idntum, New York 1941, S. 123, 170f., beide zitiert nach Škol’nikova, Transformacija, Kapitel 1, Fußnote 34, 37; Schwarz, The Jews, S. 169f. Seine Zahlen für Handwerker sind offensichtlich zu hoch. In Moskau betrug der prozentuale Anteil von jüdischen Arbeitern 1938 nur 11,9%, Freitag, Nächstes Jahr in Moskau, S. 131, zufolge machte jedoch eine große Zahl von Arbeitern keinerlei Angaben zu ihrer Nationalität, ebd., S. 137, Anm. 47. In den großen Zentren war der Anteil jüdischer Arbeiter vermutlich erheblich größer, in Moskau erreichte er 1939 82,5%, Freitag, Nächstes Jahr in Moskau, S. 131. Die Studie zu Leningrad von Micha l’ Beizer, Evrei Leningrada 1917-1939. Nacional’naja žizn’ i sovetizacija, Jerusalem/Moskau 1999 enthält keine entsprechenden Zahlen für 1939. In der Ukraine, in Weißrußland, Georgien und Aserbaidschan waren 26,17% aller Juden Arbeiter, 51,85% Angestellte, 13,05% Handwerker in Kooperativen, 3,15% kustari im nicht-sozialisierten Bereich und 5,3% (Kollektiv-)Bauern in der Landwirtschaft, Altshuler, Soviet Jewry, S. 146; diese Zahlen stimmen nicht mit den oben erwähnten von Pinkus überein, auch wenn Pinkus möglicherweise sich nur auf Industriearbeiter bezieht; als Ernährer gibt Altshuler die Zahlen
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sicherlich die Tatsache, daß die Juden sich immer noch als erheblich besser ausgebildet erwiesen als die anderen, selbst wenn trotz schnell wachsender absoluter Zahlen der prozentuale Anteil jüdischer Studenten von 14,4% in den Jahren 1928/29 auf 13,3% im Jahr 1935 sank.52 1939 verfügten 5,71% der Juden über eine Universitäts- oder Fachhochschulbildung, 26,8% hatten eine weiterführende Schule besucht.53 1937 waren, laut Molotov, 7,7% aller geistigen Arbeiter, 15,9% aller Ärzte, 10,1% aller Journalisten und 10,7% aller Künstler, 7,7% aller Buchhändler und 8,8% aller Wissenschaftler Juden.54 Die Entwicklung der jüdischen Angestellten verlief – zumindest zum Teil – entlang traditioneller Linien. Die große Ausnahme bildeten die staatliche Bürokratie und die Parteiorganisationen. 1926 arbeiteten 30,2% aller jüdischen Angestellten im Handels- und im Kreditgeschäft in staatlichen oder in sozialisierten wirtschaftlichen Organisationen, 44,4% standen im Dienst von Institutionen (Partei, Regierungsbürokratie, Gewerkschaften o.ä.) und lediglich 13% arbeiteten als Angestellte in Fabriken. Es ist anzunehmen, daß diese Zahlen vor dem Krieg relativ unverändert blieben. Im Jahr 1926 – und wahrscheinlich auch später – erwiesen sich die jüdischen Angestellten als relativ jung, 58% waren 34 Jahre alt oder jünger.55 Ein bemerkenswerter Erfolg wurde in der landwirtschaftlichen Ansiedlung von Juden erzielt. Seit 1918 hatte es Versuche gegeben, mehr Juden im agrarischen Sektor in den kleinen „suburbanen“ Siedlungen (hier hatten viele Juden traditionell immer schon etwas Land bebaut oder Milch produziert) zu beschäftigen, in denen es zunehmend kollektivierte landwirtschaftliche Betriebe gab. Die meisten gaben diese Betätigung nach 1930 auf, weil sich neue Möglichkeiten eröffneten. Juden verließen diese nicht besonders erfolgreichen Kolchosen. In den weißrussischen und ukrainischen Republiken unternahm man 1924 einen neuen Versuch, Juden im Agrarbereich zu beschäftigen. Juden wurde Gleichheit beim Landkauf zugestanden, und die Regierung ließ zu diesem Zweck ausländische Hilfe zu. „ORT“, „EKO“ und „Joint“ finanzierten diesen Versuch, die jüdischen Massen zu produktivieren, mit ausländischen Devisen.56 Eine Produktivierung der jüdischen Bevölkerung
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von 26,1%, 52,1% und 21,0% für Handwerker, kolchozniki und private Bauern insgesamt für das Jahr 1939 an, ebd., S. 144. Nove/Newth, Demographic Trends, S. 162, Tabelle G. Die Anzahl jüdischer Studenten während dieser fünf Jahre stieg von 23.400 auf 74.900 an. Poljakov (Hg.), Vsesojuznaja perepis’ naselenija 1939 goda, S. 86f.; 7,78% der Gesamtbevölkerung hatten eine weiterführende Schule besucht, 0,64% eine Universitäts- oder sonstige „höhere Ausbildung“. Švarc, Antisemitizm, S. 199f. Zinger, Evrejskoe naselenie, S. 54f. Daß Juden verstärkt im Staatsdienst auftraten, war ein neues Phänomen im Gefolge der Revolution . Zinger/Belenkaia, Stages, S. 134f. Diese Hilfe wurde öffentlich anerkannt, vgl. Pravda, Nr. 164, 20.7.1926; zu „Joint“ siehe . Ioffe/B. Mel’cer, Džoint v Belarusi, Minsk 1999. Zur Politik landwirtschaftlicher Ansiedlung im allgemeinen vgl. Schwarz, The Jews, S. 160ff.; eine kurze Darstellung mit einigen Statistiken auch in Kantor, Nacional’noe stroitel’stvo, S.
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durch ihre Beschäftigung im agrarischen Bereich wurde vor allem deshalb angestrebt, weil es für die Zukunft keine Perspektive zu geben schien, eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen für Juden in der Industrie zu schaffen.57 Trotzdem hat man diese Politik nicht mit letzter Konsequenz betrieben. Zumindest in der Ukraine unterlagen die jüdischen Bauern einer doppelten Besteuerung.58 Hier begann die Ansiedlung um Cherson, Zaporož’e und Krivoj-Rog (wo die jüdischen Bauern sogar die Mehrheit stellten) und erfolgte zum großen Teil in Kollektiven.59 Auf der Krim wurde ein jüdischer nationaler Bezirk für 400.000 neu anzusiedelnde Juden geplant, der sich zu einer jüdischen Autonomen Republik weiter entwickeln sollte. Aber Produktivisierung und „Sowjetisierung“ – nicht etwa „Nationalisierung“ – blieben die vorherrschenden Ziele des Systems.60 Zwischen 1926 und 1930 gelang es, fast 100.000 Juden als Bauern anzusiedeln. Für dieses Unternehmen zahlten hauptsächlich ausländische Organisationen, die zwei Drittel der finanziellen Mittel bereitstellten.61 Doch fast die Hälfte der neu angesiedelten Juden verließ die landwirtschaftlichen Gemeinschaften wieder, und 1928, als in den jüdischen Siedlungen eine Hungersnot ausbrach, sabotierten lokale und zentrale Institutionen die Anstrengungen von „Agro-Joint“ und „EKO“, Hilfe bereitzustellen. Jüdische Bauern verließen scharenweise ihre Siedlungen.62 Es scheint, daß die Ansiedlung von Juden auf dem Land zumindest von einigen als Mittel propagiert wurde, den Status einer Nation innerhalb der hirarchischen Struktur der sowjetischen Nationalitäten zu erreichen. So sollte wohl verhindert werden, daß die erwartete schnelle Industrialisierung mit ihren massiven Umwälzungen die Basis für eine besondere ethnische Identität der Juden zerstören würde.63 Kalinin, der den jüdischen Belangen stets ein wenig offener gegenüberstand als andere Bol’ševiki, erklärte: „Den jüdischen Menschen steht die große Aufgabe bevor, ihren nationalen Charakter zu erhalten. Dazu aber ist es notwendig, einen großen Teil der
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56ff.; auch Jonathan Dekel-Chen, Farming the Red Land. Jewish Agricultural Colonization and Local Soviet Power, 1924-1941, New Haven 2005. Kalinin in einem Kommentar gegenüber der Presse bei der Gründung einer besonderen Kommission unter dem CIK der UdSSR am 25. September 1925, Pravda, Nr. 223, 30.9.1925. Zinger/Belenkaia, Stages, S. 137f. Pravda, Nr. 223, 30.9.1925, Pravda, Nr. 179, 9.8.1924. Nach G. L’vovi war die Ansiedlung von Juden in der Landwirtschaft dazu geeignet, die Unterstützung des jüdischen Kleinbürgertums für das Sowjetsystem zu erhöhen, Pravda, Nr. 283, 12.12.1924: Zemleustrojstvo evreev v Belorussii. Zinger/Belenkaia, Stages, S. 142; vgl. auch Leonid Smilovitsky, The Jewish Farmers in Belarus during the 1920s, in: Jewish Political Studies Review 9, Nr. 1-2, 1997, S. 59-72. Zinger/Belenkaia, Stages, S. 144; einen allgemeinen Überblick bietet Allan Kagedan, Soviet Zion. The Quest for a Russian Jewish Homeland, New York 1994; außerdem Dekel-Chen, Farming the Red Land. Der 28. August wurde für jüdische Kolonisten zum Kollektivierungstag erklärt, d.h. bis zu diesem Tag mußten sie komplett kollektiviert sein, Gitelman, Jewish Nationality, S. 387. Unter den Aktivisten der Evsekcija war dieses Gefühl weit verbreitet, siehe Gitelman, Jewish Nationality, S. 321ff.
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jüdischen Bevölkerung in eine fest angesiedelte, kompakte ländliche Bevölkerung umzuwandeln, die wenigstens ein paar Hunderttausend umfassen sollte. Nur unter solchen Umständen können die jüdischen Massen auf eine Fortführung ihrer nationalen Existenz hoffen. [...] Falls die jüdische Nation nach einem Vaterland sucht, muß sie es innerhalb der Sowjetunion finden.“
Das spezifisch jüdische Problem, kein Territorium zu haben, das allein innerhalb der sowjetischen Ordnung der Dinge die Basis sein konnte, nationale Autonomie bzw. den Status einer Nation zu erreichen, wäre also, laut Kalinin, nur durch großangelegte ländliche Ansiedlungsprojekte zu lösen gewesen.64 Die Hoffnungen auf eine kompakte Ansiedlung irgendwo in der südlichen Ukraine zerschlugen sich, aber mit der Idee, eine Autonome Jüdische Republik im Fernen Osten, in Birobidžan, zu errichten, schien ein Ersatz gefunden. Diese Idee kam allerdings hauptsächlich deswegen ins Spiel, weil man die geostrategische Position der Sowjetunion im Fernen Osten stärken wollte. Das Ziel, die Juden als Nationalität zu erhalten, bzw. als sowjetische Nationalität neu zu konstituieren, spielte wohl kaum eine Rolle. Das Experiment erwies sich nicht als erfolgreich, zum einen weil die Regierung es sorgfältig vermied, an ein besonderes jüdisches Nationalgefühl zu appellieren, und zum anderen wegen der sehr reservierten Haltung breitester Kreise unter den Juden gegenüber diesem Projekt.65 1928 wurden die jüdischen Kolonien im Süden Rußlands (Ukraine) und in Weißrußland kollektiviert und Stück für Stück in größere, sogenannte „internationale“ kolchozy integriert, so daß sie ihren nationalen Charakter verloren.66 64
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Pravda, Nr. 273, 25.11.1926; Švarc, Antisemitizm, S. 67. Es gab dennoch Juden innerhalb der Evsekcija, die bald davor warnten, daß diese Idee eine gefährliche Illusion sei. Sie betonten, daß sich auf diese Weise ein neuer Nationalismus des jüdischen Kleinbürgertums entwickeln könne. Die Betonung müsse nun auf Industrialisierung und Proletarisierung gelegt werden. Der einzige Weg zum Sozialismus sei der direkte, so Aleksandr emeriskij und Ester (Marja Ja. Frumkina). Schwarz, The Jews, S. 163f., der die entsprechenden Reden von Alfarbandische Baratung fun di idishe sektsies fun der AlKP (b) (Dezember 1926), Moskau 1927, S. 47f., 129 zitierte. Gitelman, Jewish Nationality, S. 435f. Weitere Details bei Kagedan, Soviet Zion; Antje Kuchenbecker, Zionismus ohne Zion. Birobidžan-Idee und Geschichte eines jüdischen Staates in Sowjet-Fernost, Berlin 2000; Robert Weinberg, Stalin’s Forgotten Zion. Birobidzhan and the Making of a Soviet Jewish Homeland, Berkeley 1998; Chimen Abramsky, The Biro-Bidzhan Project 1927-1959, in: Kochan, The Jews, S. 64-77. Der prozentuale Anteil der Juden, die schnell zurückkehrten, war offensichtlich sehr hoch. Nach Informationen, die der Zensor aus einem Artikel in der Tribuna strich, betrug er zwischen 1928 und 1934 71%. Arlen Bljum, Evrejskaja tema glazami sovetskogo cenzora, in: D. A. l’jaševi (Hg.), Evrei v Rossii. Istorija i kul’tura, St. Petersburg 1995, S. 186-196, hier S. 187. Jonathan Dekel–Chen, Up From the „Ash Heap“?, in: Columbia Journal of Historiography 2003, Bd. 1, bestreitet diese von den meisten Historikern vertretene Ansicht. Aber der Rückgang der Juden in der Landwirtschaft war zu groß, als daß sich dieser Prozeß allein auf Weißrußland beschränkt haben könnte, wie er behauptet. Immerhin wird doch deutlich, daß es hier noch zu Beginn des Zweiten Weltkrieges eine beträchtlich größere Zahl von rein jüdischen Kolchosen gegeben haben muß, als bisher angenommen.
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Die Konsequenzen zeigten sich rasch: Zwischen 1933 und 1939 halbierte sich die Anzahl der Juden in der Landwirtschaft von 11,1% auf 5,8%. Bis hierhin standen die sozialen Veränderungen im Mittelpunkt dieses Aufsatzes, mit gelegentlichen Verweisen auf politischen und wirtschaftlichen Druck, der ausgeübt wurde, um diesen Prozeß zu beschleunigen. Der Druck wuchs sich häufig zu regelrechter Unterdrückung aus und komplizierte eine ohnehin politisch, sozial und ökonomisch äußerst schwierige Situation zusätzlich durch den Versuch, die jüdische Sozialstruktur komplett zu verändern. Ein wichtiges Element bei der Intervention in die jüdische Gesellschaft war die Schaffung der sogenannten lišency (Menschen, denen ihre Bürgerrechte genommen worden waren).67 Die zur Verfügung stehenden Daten unterscheiden sich sehr, aber sie geben einen guten Eindruck, wie drückend die Hand des bol’ševikischen Systems auf den jüdischen Gemeinschaften gelegen haben muß. Die Zahl der lišency veränderte sich im Laufe der Jahre. Manchmal liberalisierte das System seine Einstellung, aber nur um die Schraube dann umso fester anzuziehen. Die gelegentlichen kurzen Phasen der Milde hatten lediglich den Zweck, die Position der sogenannten bourgeoisen oder kleinbürgerlichen Elemente (selbst wenn sie sehr arm waren) wirtschaftlich weiter zu destabilisieren und sie von jeglichen Initiativen oder politischer Teilhabe auszuschließen. 1926 waren 44,6% aller lišency in der Ukraine Juden, 1927 „nur noch“ 29,1% – ihr Anteil an der Bevölkerung lag demgegenüber bei höchstens 5,43%. Aber selbst in Momenten der relativen Liberalität – oder möglicherweise des wachsenden Drucks auf Nicht-Juden – stellten die Juden 45% aller sogenannten „deklassierten“ Menschen in vielen shtetl. Im darauf folgenden Jahr stieg die Zahl der lišency dramatisch an, so daß 1928/29 ungefähr ein Drittel der jüdischen Bevölkerung im wahlfähigen Alter von den Bürgerrechten ausgeschlossen blieb. Im Jahr 1931, als die Basis des traditionellen jüdischen Wirtschaftslebens bereits mehr oder weniger zerstört worden war, führte eine gewisse Liberalisierung zu einer Senkung dieses Anteils auf 24% der jüdischen Gesamtbevölkerung, wenn man denn dies als Rückgang bezeichnen möchte.68 Aber selbst als die sogenannte Stalin67
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Allgemein dazu Golfo Alexopoulos, Stalin’s Outcasts: Aliens, Citizens, and the Soviet State 1926-1936, Ithaca 2003; vgl. auch A.I. Dobkin, Lišency 1918-1936, in: Zven’ja 2, 1992, S. 600-610, der den besonders hohen prozentualen Anteil der Juden betont, S. 606. Die Einschränkungen, die mit dem Status eines lišenec einhergingen, gingen weit über den Verlust politischer Rechte hinaus. Der Status der lišency wurde auf die Kinder übertragen, so lange sie mit den Eltern zusammenlebten oder finanziell von diesen abhängig waren. Lišency konnten weder Gewerkschafts- noch Klubmitglieder werden oder Lebensmittelkarten erhalten; lišency waren außerdem alle „Diener im Kult“, vom Rabbi abwärts. Salo W. Baron, The Russian Jews under Tsars and Soviets, New York 1964, S. 190; Kantor, Nacional’noe ustroistvo, S. 38-40; Škol’nikova, Transformacija, Kapitel 1; Smilovitsky, A Belorussian Border Shtetl, beziffert unter Punkt 2d den Anteil der lišency im shtetl Turov im Jahr 1924 auf 26,8% aller Juden im wahlberechtigten Alter; seine Zahlen ergeben einen Prozentsatz von ungefähr 33% im Jahr 1927/28; vgl. auch Michael Hickey, Disenfranchised Jews and State Power in Smolensk in the 1920s, S. 2 und passim in: http://www.irex.org/programs/stg/ research/04/hickey.pdf (letzter Zugriff 28.3.2007).
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Verfassung von 1936 nahezu allen das Wahlrecht zurückgab, die es zuvor verloren hatten, behielten zwischen 4% und 11% der Juden, nun vornehmlich in den Städten, diesen Status. Wirtschaftlicher Druck kam beständig zum Tragen. Im Widerspruch zu der erklärten Absicht, Juden im Agrarbereich anzusiedeln, mußten die jüdischen Bauern das Doppelte des normalen Steuersatzes zahlen. Die hohen Steuern machten es selbständigen jüdischen Händlern und Handwerkern nahezu unmöglich, ihr Geschäft weiterzuführen oder auszubauen. Erneut zerstörten mit dem Ende der 1920er Jahre, besonders seit 1927, drastisch erhöhte Steuern, häufige Konfiskationen sowie wachsender Wettbewerb von staatlichen Geschäften und Kooperativen, die ökonomische Basis für kustari und Händler, selbst wenn sie lediglich noch als odino ki oder astniki (jene, die allein und unabhängig arbeiteten) ihr Geschäft betrieben, und drängte sie in verschiedene andere Beschäftigungen, wenn sie solche denn überhaupt finden konnten. Je nach Region gestaltete sich dies sehr schwierig, weil neue Unternehmen häufig Angehörige der jeweiligen Titular-Nationen den Juden gegenüber bevorzugten. Deshalb verödeten in vielen Regionen die shtetl.69 In den großen wirtschaftlichen und industriellen Zentren wie beispielsweise Moskau, aber auch anderenorts, wurden auf demonstrative Weise Razzien und Inhaftierungswellen gegen die sogenannten n pm ny vorgenommen, und Juden hatten unter diesen Angriffen auf den privaten Handel vermutlich mehr zu leiden als andere, da es innerhalb der Bevölkerung und den unteren Parteikadern eine Tendenz gab, Juden mit n pm ny gleichzusetzen.70 Die Geschichte der Unterdrückung aller unabhängigen jüdischen Parteien und Organisationen ist zu bekannt, als daß sie hier im Detail wiedergegeben werden müßte. Die meisten jüdischen Parteien wurden sehr früh verboten, unter ihnen vor allem der „Bund“ und die Zionisten. Die letzte halbunabhängige Organisation, die sogenannte jüdische kommunistische Partei Poalej Zion, wurde 1928 unterdrückt.71 Allerdings hatte man ihr schon zuvor die Luft zum Leben genommen. Die einzige wichtige jüdische Institution im
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Škol’nikova, Transformacija, Kapitel 1 und 2; in Turov sank die jüdische Bevölkerung von 2.171 im Jahr 1926 auf 1.528 im Jahr 1939 oder, in Prozentwerten, von 40,3% auf 18% der Gesamtbevölkerung, Smilovitsky, A Belorussian Border Shtetl, Tabelle 1. Zu dieser Identifizierung vgl. Alan M. Ball, Russia’s Last Capitalists, Berkeley 1987, S. 99f., 165. Baruch Gurevitz, Un cas de communisme national en Union Soviétique, Le Poale Zion, 19181929, in: Cahiers du monde russe et soviétique 15, 1974, S. 333-361, ders., The Liquidation of the Last Independent Party in the Soviet Union, in: Canadian Slavonic Papers 18, 1976, S. 179-186; Gitelman, Jewish Nationality, S. 151ff.; Schwarz, The Jews, S. 97ff.; diese Entwicklungen spiegelten sich in der Pravda, besonders der Modus der Aufnahme in die RKP(b), die nur individuell und nach Prüfung des Lebenslaufs jener, die um eine Mitgliedschaft nachsuchten, erfolgte, Pravda, Nr. 69, 31.3.1921; Pravda, Nr. 70, 1.4.1921; Pravda, Nr. 53, 9.3.1923. Die Machenschaften im Hintergrund dieser Auflösungen und Zusammenschlüsse wurden selbstverständlich nicht erwähnt.
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Lande, die innerhalb der Partei speziell für die Juden wirkenden Evsekcii, wurde 1930 abgeschafft. Mit der Februarrevolution 1917 hatte das jüdische politische Leben einen höchst erstaunlichen Aufschwung genommen.72 Daher war die Evsekcija als ein widerwilliges Zugeständnis ins Leben gerufen worden, um den überwältigenden Einfluß nicht-kommunistischer Gruppen, besonders der Zionisten und des „Bund“ zu bekämpfen. Die sekcii galten nicht als Parteiorganisation, sondern nur als Sektionen innerhalb der Partei, auf jeder Stufe den entsprechenden Parteiorganen untergeordnet. Sie sollten keineswegs nationale Ziele verfolgen, obwohl dies in der Realitiät vor Ort für viele häufig anders ausgesehen haben wird. Die Idee, eine sowjetische nationale Identität zu begründen, mag bei einem Teil der Aktivisten populär gewesen sein.73 Als die durch die forcierte Industrialisierung hervorgerufenen massiven sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen begannen, das traditionelle jüdische Milieu und seine wirtschaftlichen Strukturen völlig zu zerstören, brauchte man die Evsekcii nicht mehr und löste sie unter dem Vorwand der nationalistischen Abweichung auf.74 Jüdische Selbsthilfeorganisationen, insbesondere die säkularen, wurden durch den äußeren Druck ebenfalls ausgelöscht.75 Hier waren die Kreditkooperativen besonders wichtig gewesen, die sich während der letzten Jahrzehnte des alten Regimes sprunghaft entwickelt hatten. Sie versorgten vor dem Ersten Weltkrieg zwischen 40% und 50% der jüdischen Bevölkerung.76 Dennoch fristeten lokale jüdische Selbsthilfe- und Wohlfahrtseinrichtungen zur Zeit der N P oftmals noch eine dürftige Existenz. Aber die Beschlagnahme von Kapital und Eigentum jüdischer karitativer Organisationen und deren Weitergabe an staatliche Stellen kamen selbst während der weniger 72
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Ein regionales Beispiel solcher Entwicklungen gibt Arkadii Zeltser, Jews in the Political Life of Vitebsk. Temporary Revival 1917-1918, in: Jews in Eastern Europe 34, Nr. 3, 1997, S. 527; Gitelman, Jewish Nationality, S. 69ff. Sogar ein Artikel in der Pravda zum Jahrestag des Bestehens von Der Emes gab zu, daß es sehr schwer war, das jüdische Proletariat in die Revolution hineinzuziehen, und daß die Zeitung am Anfang von jüdischen Journalisten und Schriftstellern boykottiert worden war, Pravda, Nr. 51, 7.3.1923. Die Verbreitung dieser Zeitung war tatsächlich ziemlich gering, Gennadij strajch, Evrejskie sekcii kompartii. Po materialam byvšego central’nogo partarchiva, in: Vestnik Evrejskogo Universiteta v Moskve 6, Nr. 2, 1994, S. 35-45, hier S. 36f. Zinger/Belenkaia, Stages, S. 118f.; Schwarz, The Jews, S. 92ff., 100ff. Sie wurden im Januar 1930 verboten, zum Kontext vgl. Gitelman, Jewish Nationality, S. 466ff.; neues Material zu den Evsekcii bei strajch, Evrejskie sekcii, S. 35-45. Freitag, Nächstes Jahr in Moskau, S. 193ff. Nach Freitag gab es in Moskau zwei KreditKooperativen, eine wurde von „Joint“ unterstützt und von der Moskauer Evsekcija nicht ganz zu Unrecht als Zentrum der Aktivitäten der ehemals führenden Elemente der jüdischen Gesellschaft und der religiösen Zirkel angesehen, welche die Integration der jüdischen Moskauer Handwerker in die sowjetische Gesellschaft behinderten. Beide Kooperativen wurden 1929 aufgelöst. Arteli jüdischer Handwerker waren ebenfalls in Betrieb, an die sich jüdische Mitglieder als Zentren jüdischer Solidarität erinnerten, ebd. S. 256ff. Heinz-Dietrich Löwe, From Charity to Social Policy: The Emergence of Jewish ‚Self-Help’ Organizations in Imperial Russia, in: East European Jewish Affairs 27, Nr. 2, 1997, S. 53-76.
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repressiven Jahre von 1923 bis 1927 häufig vor. 1926 gab es lediglich 300 kassy gegenseitiger Hilfe, die 85.000 Mitgliedern dienten – eine zu vernachlässigende Zahl im Vergleich zu vorrevolutionären Zeiten. Ihre Aktivitäten blieben dadurch und durch die Tatsache, daß sie sich in Kreditfragen fast ausschließlich auf staatliche Institutionen verlassen mußten, stark eingeschränkt. In den folgenden Jahren lösten sie sich rasch auf. Örtlich begrenzt gab es einige arteli für arme jüdische Handwerker, von denen einige noch 1930 gegründet wurden. Aber auch sie verschwanden schnell oder integrierten sich in allgemeine Kooperativen.77 Individuell mußten Juden, die es vorzogen, die bestehenden Verhältnisse zu akzeptieren, im allgemeinen kaum Diskriminierungen erdulden. Sie waren in der Partei gut repräsentiert, äußerst sichtbar in den Gewerkschaften in der Ukraine und in Weißrußland, häufig sogar im Verhältnis zur Zahl jüdischer Arbeiter in bestimmten Berufsgruppen überrepräsentiert. 1929 stellten die Juden 20,1% der Mitglieder der Stadtsowjets in der Ukraine, aber in den Rayon- und volost’-Kongressen der Sowjets nur noch 3,8%, was zumindest zum Teil Folge des hohen Prozentsatzes jüdischer lišency in den shtetl gewesen sein mag. Hier wird abermals deutlich, daß das System die traditionellen Elemente der jüdischen Gesellschaft massiv diskriminierte. 1929 waren 8,6% aller politischen Kommissare in der Roten Armee Juden, 2,2% aller Offiziere oder 3,4% der höheren Ränge, wobei der Anteil von Juden in der Roten Armee insgesamt 2,1% betrug. 20,6% der sozialisierten Konsumkooperativen befanden sich in jüdischer Hand, aber lediglich 1,9% in der ländlichen Ukraine.78 Hier wird erneut ein hohes Maß von Diskriminierung 77
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Baron, Russian Jews, S. 209; Oleg Kozerod, Perelomnye gody. Evrejskaja obš ina Ukrainy v pervoe poslevoennoe desjatiletie (1919-1929gg.), Char’kov 1998, S. 64f., 69f., 102; dennoch funktionierten illegale Wohlfahrtsfonds glücklicherweise wenigstens bis in die Mitte der 1930er Jahre, obwohl ein Gesetz vom 9. April 1929 alle solche Aktivitäten untersagt hatte. Avraham Greenbaum, The Jewish Religion in the Soviet Union in the 1930s, in: Shvut 1/2 (17/18), 1995, S. 146-160, hier S. 146, 153; es gab aber von der Regierung unterstützte jüdische Konsumkooperativen, hauptsächlich in den Städten, Nacional’naja politika VKP(b), S. 311, Tabelle 4; die am längsten tätige jüdische Wohlfahrtsorganisation, die ursprünglich gegründet worden war, um Kriegsopfern zu helfen, die Moskauer MEVOPO, wurde zu Beginn des Jahres 1931 aufgelöst, OPE, ORT, OZE und EKO hatten ihre Tätigkeit eingestellt oder waren vom System übernommen worden und bereits lange zuvor verschwunden, Freitag, Nächstes Jahr in Moskau, S. 193ff., 266ff., Schwarz, The Jews, S. 133f., vgl. auch Beizer, Evrei Leningrada, S. 236ff. Diese Zahlen stammen aus Nacional’naja politika VKP(b), S. 137, 178, 194, 209, 311. Es scheint dennoch, zumindest in der Ukraine, eine Politik gegeben zu haben, die Anzahl jüdischer Parteimitglieder zu reduzieren. In einem Bericht an die Komintern erklärte Zinov’ev: „Als wir schließlich in der Ukraine auf unseren Füßen standen, sagte Lenin: ‚In der Ukraine haben wir zu viele Juden in unseren Reihen. Um einen neuen Behörden- und Regierungsapparat zu schaffen, müssen wir uns auf treue ukrainische Arbeiter und Bauern verlassen.’ Sicher kann ein solcher Anspruch leicht Antisemitismus hervorrufen, aber wir sind stark genug, uns bereits mit jeglicher Form des Chauvinismus zu messen.“ Merežin, Mitglied des zentralen Büros von Evsekcii, erklärte 1926: „Seit dem 12. Parteikongreß [1923] verfolgen wir eine Politik, die Juden aus Führungspositionen zu entfernen“, strajch,
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gegenüber dem traditionellen shtetl eine entscheidende Rolle gespielt haben. Die Tatsache, daß Juden individuell nicht als Juden benachteiligt wurden, trotz einiger Klagen, daß die istki der 1920er Jahre besonders auf Juden abzielten,79 belegt der hohe prozentuale Anteil von Juden unter den Universitätsstudenten und akademisch Gebildeten. Aber das System diskriminierte bestimmte Gruppen von Juden und außerdem sah man Juden in manchen Bereichen nicht besonders gern. Das System wollte sichergehen, daß die alte jüdische Gesellschaftsstruktur nicht in der einen oder anderen Form innerhalb des sowjetischen institutionellen Rahmens wiedererstehen konnte. Eine der vielen Formen des auf Juden ausgeübten Drucks waren Enteignungen.80 Zwar betrafen diese bekanntermaßen nicht allein Juden, dennoch ist es bemerkenswert, daß sogar Opfer von Pogromen, die aus ihren Häusern vertrieben worden waren, ihr Eigentum nach ihrer Rückkehr nicht wiedererlangen konnten. Das oberste ukrainische Gericht übertrug es vielmehr dem Staat, den örtlichen Sowjets, den Arbeiterklubs oder anderen kulturellen Institutionen.81 Der kommunistische Behörden- und Regierungsapparat nutzte die enteigneten Besitztümer, darunter auch Synagogen und Wohnungen von Pogromopfern, um ein organisiertes Netzwerk paralleler Kulturinstitutionen innerhalb des jüdischen Milieus zu organisieren, mit denen sie sowohl in die traditionelle als auch in die moderne nicht-sowjetische jüdische Gesellschaft einzudringen vermochten. Gerade die wohl bewußt äußerst unpräzise Verwendung von Begriffen wie Zionismus, Bourgeoisie, Klerikalismus, Obskurantismus, Spekulanten und anderen ermöglichte es, Druck auf die jüdische Gesellschaft auszuüben. Die Regierung gab vor, nur auf einige bestimmte Phänomene der jüdischen Gesellschaft zu zielen, besonders auf solche, die man des Obskurantismus, des Klerikalismus oder des Nationalismus bezichtigte. In den meisten Fällen galten diese willkürlichen Kampagnen, was immer auch als Grund herhalten mußte, ganz gezielt allen unabhängigen jüdischen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Aktivitäten. Gerade die Willkür und der sprunghafte Charakter der Kampagnen verstärkten deren Wirkung.
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Evrejskie sekcii, S. 42; Zinov’evs Äußerungen zeigen, wie wenig es die Bol’ševiki interessierte, ob ihre Politik antisemitische Tendenzen verstärkte. Socialisti eskij Vestnik 99, Nr. 5, 19.3.1925, S. 16 berichtete, daß 80% derjenigen, die aus der Universität Kiev vertrieben wurden, Juden waren. Es scheint keine Studien zur Enteignung von Mitgliedern der jüdischen Bourgeoisie und des Kleinbürgertums und deren Konsequenzen zu geben. Nur teilweise wird darauf Bezug genommen, Kipper, Evrejskoe meste ko, S. 15. Der Ukrainische Oberste Gerichtshof verweigerte Pogromopfern das Recht, ihren Besitz zurückzufordern und übergab ihn dem Staat, Zinger/Belenkaia, Stages, S. 137. Zur Konfiszierung von Gebäuden, Greenbaum, The Jewish Religion, S. 147, 152; Kozerod, Perelomnye gody, S. 64f., 67, 102f., 105; Nora Levin, The Jews in the Soviet Union since 1917. Paradox of Survival, London/New York 1988, Bd. 1, S. 72ff.
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Judaismus als Religion erfuhr in der Zwischenkriegszeit zeitweise auch eine relativ milde Behandlung.82 Allerdings galt jede kollektive Manifestation jüdischer Religion, darunter auch jede Form organisierter religiöser Unterweisung, als unzulässig. Zumindest phasenweise erging es jüdischen Gläubigen besser als den Anhängern der russisch-orthodoxen Kirche. Aber eine latente Drohung repressiver Maßnahmen, die sich jederzeit verstärken konnten und dies von Zeit zu Zeit auch taten, schwebte dennoch über den Gläubigen. Der Wechsel zwischen Unterdrückung und relativer Toleranz machte die Einmischung in die religiösen Angelegenheiten der Juden wahrscheinlich viel effektiver, als eine kohärente und kontinuierliche Politik der Unterdrückung und antireligiöser Kampagnen es je hätte sein können. Synagogen und andere jüdische Institutionen sowie deren Eigentum bildeten häufig das Ziel „spontaner“ Arbeiterkampagnen mit der Forderung, dieses „nützlicheren“ Zwecken wie Arbeiterklubs, öffentlichen Büchereien oder ähnlichen Organisationen zuzuführen. Der Behörden- und Regierungsapparat versuchte, die Anzahl der Synagogen möglichst niedrig zu halten, indem er diese zwang, sich erneut registrieren zu lassen.83 Zudem bemühte er sich, die Führung der religiösen Gemeinschaften den N P-Elementen aus der Hand zu nehmen und sie der bednota, der jüdischen Armut, zu übergeben.84 Ein besonderes Ziel der antireligiösen Politik war das Netzwerk der religiösen Wohlfahrtsorganisationen, die lange ein wichtiges Element für den Zusammenhalt der jüdischen Gemeinschaften dargestellt hatten. Der Staat übernahm ihr Eigentum und setzte es für die Ziele der Sowjets oder anderer kommunistischer Organisationen ein. Schauprozesse gegen die chedarim und die Schächter oder repressive Maßnahmen gegen religiöse Regeln und Riten, Prozesse gegen Rabbiner und Aktivisten jüdischer religiöser Gemeinschaften kamen in bestimmten Intervallen immer wieder auf die Gemeinden zu, obwohl sie, besonders zu einem frühen Zeitpunkt, wegen des ernsthaften Widerstands der lokalen jüdischen Aktivisten und Gläubigen gelegentlich auch nach hinten losgingen. Heftige antireligiöse Kampagnen, die mit der Schließung der meisten Synagogen einhergingen, begleiteten die Politik der Kollektivierung und erzwungenen Industrialisierung in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren.85 82
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Einen Überblick bieten Greenbaum, The Jewish Religion; Joshua Rothenberg, The Jewish Religion in the Soviet Union, New York 1971; Aryeh Yodfat, Jewish Religious Communities in the UdSSR 1917-1970, in: Soviet Jewish Affairs, Nr. 2, 1971, S. 61-67; ders., The Closure of Synagogues in the Soviet Union, in: ebd., Nr. 1, 1973, S. 48-56; Löwe/Grüner, Die Juden und die jüdische Religion, S. 185ff. 1926 gab es 1.103 organisierte jüdische religiöse Gemeinschaften mit 133.427 eingetragenen Mitgliedern, Bayron, Russian Jews, S. 28. Kozerod, Perelomnye gody, S. 102. Mordechai Altshuler, Religion in the Soviet Union in the late 1930s in the Light of Statistics, in: Jews and Jewish Topics in the Soviet Union and Eastern Europe, Nr. 1, 1991, S. 23-26; Beizer, Evrei Leningrada, S. 212ff.
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Der Terror von 1937 und 1938 erfaßte auch die jüdischen Religionsgemeinschaften. Während dieser Zeit wurden viele Rabbiner und religiöse Aktivisten hingerichtet.86 Diese Politik der unregelmäßigen Repressionen, sicherlich kein Zeichen nachsichtiger Gleichgültigkeit, scheint vom Standpunkt des Regimes aus gesehen relativ erfolgreich gewesen zu sein. 1937 erklärten lediglich zwischen 13% und 15% der jüdischen Bevölkerung, gläubig zu sein, wohingegen unter dem Rest der Bevölkerung dieser Anteil 47% betrug.87 Ein Teil dieser Diskrepanz mag mit dem überwältigend städtischen Charakter der Juden zu erklären sein. Aber sie kann auch ein Indikator dafür sein, wie sehr die Juden der Sowjetunion die Regierungspolitik als Ausdruck entschlossener Verfolgung ihrer Religion wahrnahmen. Wahrscheinlich lag die tatsächliche Zahl der Gläubigen beträchtlich höher. Eine einfache Überlegung mag dies zeigen: die auf dem Land und in den sehr kleinen shtetl lebenden Juden machten ungefähr 13% aller Juden aus;88 höchstwahrscheinlich war die große Mehrheit immer noch gläubig und praktizierte ihre Religion, soweit unter den gegebenen Umständen möglich, meist wohl zuhause. Zudem gibt es zahlreiche Berichte von Juden, die den alten Traditionen verpflichtet blieben und selbst in den großen Städten die Synagogen in beträchtlicher Zahl besuchten.89 Zusammen mit den auf dem Lande lebenden Juden würde das schon einen erheblich größeren Prozentsatz ausmachen als der im Zensus von 1937 genannte. Aller Wahrscheinlichkeit nach zogen es viele Juden einfach vor, sich als ungläubig zu bezeichnen, um ernsthaften Probleme aus dem Weg zu gehen. Der latente Antisemitismus auch der Sowjetgesellschaft hatte sicherlich schwerwiegende Auswirkungen auf die sowjetische jüdische Gesellschaft. Es gab niemals, vielleicht mit Ausnahme der letzten Jahre der zwanziger und der frühen dreißiger Jahre, wirklich ernsthafte und vor allem umfassende Kampagnen, ihn zu bekämpfen und die Bevölkerung aufzuklären.90 Manchmal 86
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1938 wurden der Rabbi von Leningrad und 20 religiöse Aktivisten erschossen, Greenbaum, The Jewish Religion, S. 156f.; Kozerod, Perelomnye gody, S. 156f. Die tatsächliche Zahl ermordeter Rabbis und anderer, die aufgrund ihres Glaubens getötet wurden, ist immer noch unbekannt; Beizer, Evrei Leningrada, S. 224ff. Berechnet nach V. B. Žiromskaja/I. N. Kiselev/Ju. A. Poljakov, Polveka pod grifom ‘sekretno’. Vsesojuznaja perepis’ naselenija 1937 goda, Moskau 1966, S. 88, 99; Dan Havruv, The Jewish Population of the Soviet Union According to the Census of 1937. Some Statistical Data, in: Jews and Jewish Topics in the Soviet Union and Eastern Europe 14, Nr. 1, 1991, S. 14-22, hier S. 21, geht von 13,8% aus. Jusupov, Nacional’nyj sostav, S. 23. Greenbaum, The Jewish Religion, S. 154f. Švarc, Antisemitizm, S. 74ff., 84ff.; M. Rjutin gab im Moskauer Parteiorgan zu, daß nicht genug getan wurde, um dem Antisemitismus entgegenzuwirken, ebd., S. 82f.; Freitag, Nächstes Jahr in Moskau, S. 299ff.; Uglanov, der Führer der Moskauer Parteiorganisation, widmete eine kurze Passage seiner aufschlußreichen Rede auf dem II. Plenum der Moskauer Organisation dem Antisemitismus, den er als Ergebnis der Stärkung des Kleinbürgertums und der Agitation orthodoxer Priester sah, Pravda, Nr. 73, 1.4.1927; es gab einige prominentere Artikel gegen Antisemitismus von Bucharin, Preobraženskij, Sosnovskij und anderen in der
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bekommt man den Eindruck, daß er als eine weitere Waffe in den Auseinandersetzungen um die Sowjetisierung des jüdischen shtetl und der jüdischen Gesellschaft sowie gegen die jüdischen Händler zumindest nicht ganz unwillkommen war. Auf jeden Fall galt er als unvermeidbare, vielleicht sogar notwendige Begleiterscheinung der Wirtschaftspolitik des Sowjetsystems, die sich gegen die Zwischenhändler und hier besonders gegen die jüdischen Zwischenhändler richtete. Scherenkrisen und die Rolle des jüdischen Handels im Austausch zwischen Stadt und Land sah man als Grund für einen starken ländlichen Antisemitismus, der – zumindest einigen – als natürliches Ergebnis eines für den Kapitalismus typischen sozialen Konfliktes galt, der es deshalb nicht wert war, bekämpft zu werden, weil der Kapitalismus als Verursacher des Antisemitismus innerhalb der neuen Ordnung eine sterbende soziale Formation war.91 Daß Ende der zwanziger Jahre der Antisemitismus vielfach als antisowjetisch galt, bedeutete nicht notwendigerweise eine Anerkennung seines negativen Potentials. Die sowjetische Perspektive öffnete den Blick auf zwei unterschiedliche Formen des Antisemitismus. Der eine war gefährlich, denn er war das Ergebnis der Agitation der bürgerlichen oder kulakischen Klasse gegen das System. Der andere galt als entschuldbar und weniger gefährlich, da er von den
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Pravda; Umfang und Ergebnis der Kampagne gegen den Antisemitismus in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren bleiben dennoch unklar; für einen Überblick über diese Kampagne siehe Vetter, Antisemiten und Bolschewiki, S. 131-140; Vetter weist die Annahme eines offiziellen Antisemitismus zurück. Bragin/Kol’cov, Sud’ba evrejskich mass, S. 9f.; die Erklärung des Antisemitismus als Ergebnis jüdischer ökonomischer Aktivitäten kommt dem alten antisemitischen Stereotyp, „die Juden sind für den Antisemitismus selbst verantwortlich“, gefährlich nahe, besonders wenn die jüdischen Zwischenhändler für die mißliche Lage der jüdischen shtetl verantwortlich gemacht werden, Zinger/Belenkaia, Stages, S. 137; Larin, Intelligentskij i buržuaznyj antisemitizm, verdeutlicht, daß Antisemitismus nicht als wirklich schwerwiegendes Problem wahrgenommen wurde. Larin erklärte, daß eine Allianz mit den unterdrückten Völkern nicht möglich sein würde, wenn der Chauvinismus die Oberhand bekäme, deshalb sei es nötig, den Antisemitismus zu bekämpfen, ebd., S. 25; auch Schwarz, The Jews, S. 274ff; Levin, The Jews, Bd. 1, S. 261ff.; dagegen ist die Neigung hoher sowjetischer Funktionäre, den Antisemitismus mit Konzepten, die lediglich alte Stereotypen verstärken konnten, zu erklären, bezeichnend: Preobraženskij erklärte den Antisemitismus in der Pravda, Nr. 62, 17.3.1927, als ein Mittel der antisowjetischen Arbeit der Bourgeoisie, die ein Element ihrer eigenen Natur, das jüdische, ausschalte. Dieses Argument nähert sich erneut sehr jener Einstellung an, die alle Juden als feindliche bourgeoise Elemente ansah. Das Hauptziel seiner Angriffe war aber die N P und die interne Konterrevolution. Noch deutlicher wird die Kontinuität antisemitischer Vorurteile in den Ausführungen M. Gorevs, der die geringe Zahl von jüdischen Eisenbahnarbeitern mit ihrer Konfrontation mit jüdischen Spekulanten in Zügen und auf Bahnhöfen erklärte, Vetter, Antisemiten und Bolschewiki, S. 132, 148f., Anm. 84. Selbst Der Emes wiederholte bei seinen Angriffen auf den jüdischen Klerikalismus antisemitische Stereotype: traditionelle jüdische Organisationen wurden demnach vom „Welt-Judentum“ organisiert; diejenigen, die Synagogen besuchten, galten als n pm ny und die Moskauer Choralsynagoge als Handelszentrum bzw. Börse der Spekulanten. Krumme Nasen erschienen häufig in karikierenden Darstellungen von Juden, Freitag, Nächstes Jahr in Moskau, S. 205.
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unaufgeklärten und fehlgeleiteten Arbeitern kam, die „einen natürlichen Klassenhaß gegen den jüdischen N P-Mann zeigten:“92 „Wir müssen lernen, zwischen dem Klassenfeind und dem unbewußten und irrenden Arbeiter einen Unterschied zu machen. Wo wir den Feind ins Licht zerren und seinen konterrevolutionären Charakter demaskieren müssen, sollten wir unter keinen Umständen den Arbeiter unterdrücken, der sich noch nicht von antisemitischen und chauvinistischen Stimmungen befreit hat. Im ersten Fall müssen wir durch entschlossenen Kampf, im zweiten vor allem durch Überzeugungen und Erziehung wirken.“93
Zumindest einige sowjetische Texte schienen indirekt zu empfehlen, daß diese zweite und aus sowjetischer Perspektive vergleichsweise harmlose Form des Antisemitismus bei der Bekämpfung der jüdischen Kleinbourgeoisie eine, wenn auch unbedeutende Rolle spielen könnte. Die Attacken auf den privaten Handel in den großen Städten, besonders in Moskau und Leningrad, hatten oft jüdische Händler zum Ziel und ließen den populären Antisemitismus wieder erstarken. Außerdem gab es einen großen Prozentsatz von Händlern unter den jüdischen lišency. Das Regime kümmerte sich nicht darum, ob seine Aktionen alte Vorurteile verstärkten oder nicht. Die genauen Ziele der bolschewistischen Nationalitätenpolitik in bezug auf die Juden sind umstritten. Diese Frage kann hier im Rahmen eines kurzen Aufsatzes zwar nicht geklärt werden, aber einige Fakten gilt es festzuhalten. Vor 1917 betrachteten führende kommunistische Theoretiker die Juden nicht als eine Nationalität, sondern als eine soziale Kaste, die verschwinden würde, sobald die Widersprüche des Kapitalismus sich aufgelöst hätten. Insbesondere Lenin und Stalin entwickelten diese Ansicht und die meisten anderen folgten ihnen.94 Keine der Erklärungen über die Rechte der unterdrückten Völker, die in den Jahren vor und nach 1922 veröffentlicht wurden, erwähnt die Juden als solche.95 Die Juden waren innerhalb der Hierarchie der sowjetischen Völker eine Gruppe ohne geschlossenes Territorium, das die Voraussetzung für die Schaffung einer nationalen Autonomen Republik darstellte, und verfügten deshalb nicht über die politischen Institutionen, mit deren Hilfe sich andere Nationalitäten Gehör verschaffen konnten. Stalin erklärte 1925 die Politik der Förderung nationaler Kulturen einerseits und die der Assimilation andererseits zu einem dialektischen Prozeß, der – wie er 1930 verkündete – schließlich in
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G. Ledat, Antisemitizm i antisemity, Leningrad 1929, S. 40, zit. nach Vetter, Antisemiten und Bolschewiki, S. 172. Es hing deshalb von der Klassenzugehörigkeit des Angreifers ab, ob er vor ein Gericht gestellt wurde oder nicht, Tribuna, Nr. 4, 1929, S. 3; A. strin, Ugolovnoe pravo SSSR i RSFSR, Moskau 1931, S. 82ff., beide zitiert nach Vetter, Antisemiten und Bolschewiken, S. 203. Schwarz, The Jews, S. 24-58; siehe auch Jacob Miller, Soviet Theory on the Jews, in: Kochan (Hg.), The Jews, S. 46-63. Zinger/Belenkaia, Stages, S. 118f.
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einer gemeinsamen sowjetischen Kultur münden würde.96 Die Aktivisten der Evsekcija hatten diese ambivalenten Maximen in praktische Politik umzusetzen.97 Stalin zeichnete als Volkskommissar für Nationalitäten bereits zu einem frühen Zeitpunkt für die Formulierung und Durchführung bol’ševikischer Nationalitätenpolitik verantwortlich. Er besaß die Entscheidungsgewalt über diese Fragen während des größten Teils der zwanziger Jahre und hatte in den dreißiger Jahren in fast allen politischen Bereichen das letzte Wort. Die Realität wich, wie so häufig, von den theoretischen Überlegungen ab. Das Sowjetsystem mußte anfangs seinen jüdischen Bürgern nicht unbeträchtliche Zugeständnisse machen, weil die nicht-sowjetischen Elemente unter ihnen einen fast überwältigenden Einfluß hatten. Besonders die Zionisten erwiesen sich als überraschend stark und zumindest zu Beginn waren sowohl die Mitglieder des „Bund“ als auch die sozialistischen Zionisten eine Kraft, mit der gerechnet werden mußte. Deshalb durften sich die Evsekcii über einen relativ langen Zeitraum im jüdischen Milieu entwickeln und agieren (im Gegensatz zu den kurzlebigen jüdischen Kommissaren und den eher unbedeutenden jüdischen Sowjets). Als jüdisches Milieu galt dabei der Jiddisch sprechende Teil der Bevölkerung.98 Das Zentrum mußte den jüdischen Kommunisten Zugeständnisse machen, um den Einfluß der anderen jüdischen Parteien zu bekämpfen und den Kommunismus bol’ševikischer Prägung „in der jüdischen Gasse“ populär zu machen. Die Evsekcii entwickelten, obwohl in sich tief zerstritten, ihre Aktivitäten entlang strenger sozialistischer und proletarischer Grenzen. Viele ihrer Aktivisten strebten eine sowjetische jüdische Kultur an, deren Hauptelement die jiddische Sprache sein sollte. Jiddisch galt als einzig mögliche Sprache einer sowjetisch-jüdischen Kulturpolitik, während das Hebräische als Sprache der jüdischen Klerikalen und des bürgerlichen Nationalismus denunziert wurde. Die jüdischen Kommunisten verfolgten die Produktivierung, die man als Proletarisierung verstand, und kämpften in den 1920er Jahren, faut de mieux, für die Förderung jüdischer Landwirtschaft, weil eine Proletarisierung unter den gegebenen Umständen lediglich in sehr begrenztem Rahmen möglich schien. Die Evsekcii verteidigten das Jiddische aggressiv gegenüber dem Hebräischen. Sie setzten das Verbot, an jüdischen Schulen Hebräisch zu lehren, durch und verhinderten außerdem erfolgreich die Entstehung einer russischen jüdischen 96 97 98
Zitiert nach Schwarz, The Jews, S. 39, 41. Gitelman, Jewish Nationality, S. 327ff., 405ff.; Schwarz, The Jews, S. 116ff. Ihre Arbeit wird am besten in Gitelman, Jewish Nationality geschildert; zur Regelung, daß sie nur unter solchen Juden arbeiten sollten, die lediglich jiddisch sprachen, siehe S. 497; strajch, Evrejskie sekcii, S. 36; Aleksandr emeriskij warnte vor den Tendenzen, die Arbeit der Evsekcii als national zu betrachten, ebd. S. 43; auch Schwarz, The Jews, S. 95ff. und passim, Zinger/Belenkaia, Stages, S. 118, sehen die Etablierung der Evsekcii als unmittelbare Konsequenz des zionistischen Versuchs, in einer Allrussischen Jüdischen Konferenz zusammenzukommen.
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Kultur, indem sie besondere Schulen für Juden, an denen aber in russischer Sprache unterrichtet wurde, schließen ließen.99 Doch bereits die Umsetzung der politischen Ziele sowjet-jiddischer Kulturpolitik ließ Zweifel daran zu, ob die Entwicklung einer sowjetischen jüdischen Identität tatsächlich erwünscht war. Zwar entwickelte man ein ausgedehntes jiddisch-sprachiges Schulsystem für jüdische Kinder,100 allerdings vor allem in den Gebieten, in denen die shtetl-Kultur noch intakt und das sowjetische System lediglich begrenzt eingedrungen war.101 Juden außerhalb dieser Gebiete fanden für ihre Kinder meist keine jiddischsprachigen Schulen.102 Insgesamt erhielten, trotz der großen Bedeutung, die der Erziehung in jiddischer Sprache beigemessen wurde, lediglich zwischen ungefähr 25% und 33% aller Juden im entsprechenden Alter jiddischsprachigen Schulunterricht. Selbst in Gebieten mit ausgesprochen dichter jüdischer Besiedlung unterrichteten lediglich 5% der Berufsschulen und sehr wenige der anderen weiterführenden Schulen in jiddischer Sprache.103 Nachdem die ukrainische Regierung in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre beschlossen hatte, kein höheres Schulwesen in jiddischer Sprache zu organisieren, verlor das jiddische Schulsystem an Attraktivität.104 Jeder, der eine Universität, bzw. höhere technische Kurse oder ähnliche Institutionen besuchen wollte, zog es vor, eine russische Schule zu besuchen. Viele Juden schickten ihre Kinder nicht in jiddische Schulen, weil sie Russisch als grundlegend für das weitere Vorankommen ihrer Kinder betrachteten. Außerdem lehnten wegen des antireligiösen und antitraditionellen Geistes, der in den staatlichen jiddischen Schulen vorherrschte, gerade die religiösen Eltern diese entschieden ab und versuchten, ihre Kinder in russisch-sprachige Schulen zu schicken. Die Entwicklung einer jiddischen Sowjetkultur scheint ein taktisches, vorübergehendes („dialektisches“) Phänomen gewesen zu sein. Sie befand sich in Übereinstimmung mit einer Nationalitätenpolitik, die Stalin im 99
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Ebd., S. 119, 121f., zur Einstellung der Evsekcii gegenüber dem Hebräischen ebenfalls Gitelman, Jewish Nationality, S. 277-284; zum Schicksal des Hebräischen, Yehoshua A. Gilboa, A Language Silenced. The Suppression of Hebrew Literature and Culture in the Soviet Union, New York 1982. Elias A. Shulman, A History of Jewish Education in the Soviet Union, New York 1971; Leonid Smilovitsky, Jewish National Schools in Belorussia, 1920-1930, in: Shvut 20, Nr. 4, 1996, S. 59-78; ders. [Leonid Smilovickij], Škola na idiše v pervye desjatiletija sovetskoj vlasti v Belorussii, 1921-1941, in: Novaja Evrejskaja škola 11, 2002, S. 171ff. Dies ist nach den Zahlen von Schwarz, The Jews, S. 135ff. offensichtlich. Vgl. auch Inna Gerasimova, Evrejskoe obrazovanie v Belarusi v 20-30 godach XX v., in: Evrei Belarusi. Istorija i kul’tura 2, 1998, S. 8-75. Schwarz, The Jews, S. 136: In den sechs größten Städten der Ukraine wurden 1927 lediglich 5,5% der schulpflichtigen jüdischen Kinder in jiddischer Sprache unterrichtet. Die Zahlen unterscheiden sich: Zinger/Belenkaia, Stages, S. 143 nennen für 1926 24,6% in der Ukraine; Nacional’naja politika VKP(b), S. 278 behauptet, daß 55% aller jüdischen Kinder, die eine staatliche Schule in Weißrußland besuchten, in jiddische Schulen gingen, 49% in der Ukraine und lediglich 8% in der RSFSR. Zinger/Belenkaia, Stages, S. 143.
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Heinz-Dietrich Löwe
Jahr 1930 lediglich als Mittel, eine uniforme sowjetische Kultur zu schaffen, charakterisiert hatte. Ab der Mitte der 1930er Jahre ging das jiddische Schulsystem zahlenmäßig langsam zurück. Die Regierung verstärkte diesen Prozeß entschlossen, indem sie ihn durch die Schließung von zahlreichen Schulen beschleunigte.105 Ein vergängliches Phänomen stellten auch die 1930 aufgelösten Evsekcii dar.106 Radioübertragungen in jiddischer Sprache über politische Themen wurden 1937 eingestellt.107 Daß der Gebrauch des Jiddischen und der scheinbare Versuch, eine jüdische Sowjetkultur zu entwickeln, in hohem Maße auch eine Demonstration für die nicht-sowjetische Außenwelt darstellte, zeigt die Tatsache, daß man die Veröffentlichung jiddischer Zeitungen auf Druck der Evsekcija auf Moskau konzentrierte, obwohl die jiddische Presse im ehemaligen Ansiedlungsrayon auf zwei ausgesprochen erfolgreichen jiddischen kommunistischen Zeitungen aufbauen konnte.108 Tatsächlich rechtfertigte die Evsekcija diesen Wandel mit dem Wunsch, die jüdische Welt jenseits des direkten sowjetischen Einflusses zu beeinflussen. Jedem, der mit der Angelegenheit befaßt war, mußte klar sein, daß die Wirkung der neuen zentralen jiddischen Zeitung – wegen ihrer geringeren Verfügbarkeit – in den Zentren jüdischen Lebens in der Sowjetunion weitaus schwächer sein mußte als vor dem Umzug.109 Ebenso zeigt die Politik, jüdische Kolchosen mit größeren „internationalen“ zu vermischen, daß das Ziel, eine eigene sowjetisch-jüdische Identität zu schaffen – falls dies an der Spitze der Partei je ernsthaft betrieben worden ist – spätestens mit dem Jahr 1930 endete. Die Frage, wieviel Raum das sowjetische System einer eigenen sowjetischjüdischen Identität zugestehen wollte, ist nicht endgültig geklärt. Sie soll anhand des Projektes zu einem dreibändigen Lexikon zur jüdischen Geschichte und Kultur, das als nciklopedi eskij slovar’ von der sowjetischen Zensur verhindert wurde, etwas detaillierter betrachtet werden.110 Dieses Lexikon, von M. Vol’fson als verantwortlichem Herausgeber betreut, zeichnete erstmals ein klares und exaktes Bild der Geschichte der Juden. Es beschrieb ihr Schrifttum in all ihren Sprachen als Teil der Entwicklung einer gemeinsamen jüdischen Kultur und stand schon deshalb im Widerspruch zu den anderen ideologisch und politisch instrumentalisierten sowjetischen Enzyklopädien. Zumindest in bezug auf jüdische Angelegenheiten erwies sich 105
106 107 108 109 110
The Liquidation of Yiddish schools in Belorussia and Jewish Reaction. Documents introduced and annotated by Viacheslav Selemenev and Arkadii Zeltser, in: Jews in Eastern Europe 42, Nr. 1, 2000, S. 74-111. Die Autoren beziffern den Anteil jüdischer Schulkinder, die jiddische Schulen besuchten, mit 25% bis 30%, in Städten als „offensichtlich niedriger“, ebd., S. 76. Gitelman, Jewish Nationality, S. 472ff. Oktjabr’, 16.10.1937, zit. nach Škol’nikova, Transformacija, Kapitel 2, Anm. 11. David Shneer, Yiddish and the Creation of Soviet Jewish Culture, New York 2004, S. 97f. Es gab tatsächlich nur eine geringe Verbreitung jiddischer Zeitungen, Gitelman, Jewish Nationality, S. 33f. Dymerskaya-Tsigelman/Kipnis, Jewish History and Culture, S. 22-38.
Die Juden im bol’ševikischen System
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das kleine dreibändige nciklopedi eskij slovar’ als ideologisch gänzlich unorthodox. Es nannte den „Bund“ eine genuine Organisation der jüdischen Arbeiterklasse und nicht etwa, wie es bereits seit vorrevolutionärer Zeit bol’ševikische Sprachregelung war, eine kleinbürgerliche Partei. Zumindest bis zu einem gewissen Grad hätte die geplante Enzyklopädie den Juden eine intellektuelle und psychologische Heimat im Kosmos der sowjetischen Ideen und einen festen Platz im System der sowjetischen Nationalitätenhierarchie gegeben. Sie hätte die jüdischen Sowjetbürger in die große sowjetische Meistererzählung über Ursprung und historische Entwicklung aller sowjetischen Nationen integriert, die sich während dieser Zeit entwickelte.111 Einer der wesentlichen Diskurse dieser Meistererzählung ist die Unveränderlichkeit des „Wesens“ und der Kontinuität der Geschichte jedes einzelnen Volkes, das auf seinem Weg durch die Zeiten, trotz aller Hindernisse, stets mit sich selbst identisch bleibt. Der zweite grundlegende Diskurs machte ebenfalls das Volk, narod, zum Helden der Geschichte, in diesem Falle aber nicht als ethnisch definierte Nation, sondern als „gequälte und ausgebeutete Masse“. Diesem zweiten Diskurs wäre in der unveröffentlicht gebliebenen Enzyklopädie mit der Beschreibung des „Bund“ als proletarischer Partei und damit als Verkörperung und Verfechter der Interessen der ausgebeuteten Massen, und des ersten durch die Wiedergabe der Geschichte des jüdischen Volkes von der Vorzeit bis in die Gegenwart als Kontinuum, wie in der Tradition der russisch-jüdischen Historiographie, Genüge getan worden. Mit der Durchsetzung der Sichtweise dieser Enzyklopädie hätte sich möglicherweise die Position der Juden in der Hierarchie der sowjetischen Nationen entscheidend verbessert. Da dies aber nicht geschah, blieben die Juden, da sie über kein Territorium verfügten, am untersten Ende der Hierarchie. Durch direkte Intervention Stalins wurde die Enzyklopädie verboten, obwohl ihr erster Band bereits komplett gedruckt worden war. Auch wenn er es in öffentlichen Verlautbarungen vermied, auf den antijüdischen Aspekt seiner Ablehnung einzugehen, kann nicht ausgeschlossen werden, daß hier der eigentliche Grund von Stalins Einmischung lag. Die dreibändige Enzyklopädie stand für den Versuch, den Juden eine intellektuelle und psychologische „Heimat“ innerhalb des sowjetischen Kosmos zu geben, der aber durch das Verbot des Lexikons zunichte gemacht wurde. Innerhalb der sowjetischen Ordnung der Dinge sollte es für die Juden als Nation, auch als sowjetische Nation, keine Überlebenschance geben. Aus dem Englischen übersetzt von Liane Boll. 111
Hier folge ich der kurzen Wiedergabe der sowjetischen „master narrative“ von Vladimir Solonari, Creating a „People“: A Case Study in Post-Soviet History-Writing, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 4, Nr. 2, 2003, S. 411-448, hier besonders S. 412-416.
Juden und andere Minderheiten: Die jugoslawische Politik gegenüber Juden in VardarMakedonien in der Zwischenkriegszeit KRISTINA TOMOVSKA
Einleitung Das zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts sah große politische Veränderungen in Südosteuropa. Als Resultat der Balkankriege zwischen 1912 und 1913 und des Ersten Weltkrieges zerfielen zwei große Reiche – das osmanische und das österreichisch-ungarische –, und es entstanden mehrere neue, unabhängige Staaten oder sie erhielten Gebietszuwächse. Auf der einen Seite repräsentierten diese neuen oder vergrößerten Staaten die erfolgreiche Lösung ihrer nationalen Konflikte, die im vorangegangenen Jahrhundert entstanden waren und die von Anfang an auf einer nationalen Ideologie basierten. Auf der anderen Seite „erbten“ diese neuen Staaten eine Anzahl von Minderheiten, einschließlich der Juden, die entsprechend der internationalen Minderheitenschutzgesetze, wie sie auf der Pariser Konferenz 1919 proklamiert worden waren, behandelt werden mußten. In der Zwischenkriegszeit prallte die neue Logik des Nationalstaates mit jener der Minderheitenschutzgesetze aufeinander. Im folgenden sollen die Geschichte und Politik bezüglich der Juden in der Zwischenkriegszeit auf einem Gebiet, das der serbisch-jugoslawische Staat vom Osmanischen Reich nach den Balkankriegen von 1912 bis 1913 annektiert hatte, dargestellt werden. Dieses Gebiet wurde zu dieser Zeit als Südserbien oder Vardar-Makedonien/Banovina bezeichnet und entspricht ungefähr der heutigen Republik Makedonien.1 Um den Kontext dieses Themas deutlich zu machen, werde ich auch kurz die allgemeine Politik in Serbien/Jugoslawien hinsichtlich dieses Gebietes sowie die Situation anderer Minderheiten in der Provinz diskutieren.
1
Südserbien, Altserbien, Vardar-Makedonien, Jugoslawisch-Makedonien und VardarBanovina waren die offiziellen Bezeichnungen für das Gebiet, das der früheren türkischen Provinz Makedonien nach den Balkankriegen genommen und Serbien angegliedert worden war.
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Der serbische/jugoslawische Staat 1918 proklamierte Prinzregent Alexander Karadjordjevi das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, das später Königreich Jugoslawien genannt wurde. 1921 wurde die Verfassung dieses neuen Landes angenommen. Während der Zwischenkriegszeit verfolgte das Königreich Jugoslawien zwei Ziele: Zum einen mußte es seine internationale Position im Auge behalten, auf der anderen Seite kämpfte es innerhalb seiner Grenzen, um sein Ideal des einheitlichen jugoslawischen Staates aufrechtzuerhalten: ein Ideal, das weit von der Wirklichkeit entfernt war, wenn man die politischen, ökonomischen, ethnischen und religiösen Unterschiede in Jugoslawien bedenkt. Der jugoslawische Staat war multinational, vielsprachig und bestand aus Regionen mit unterschiedlichen historischen Vermächtnissen. Diejenigen, die vorher unter österreichisch-ungarischer Herrschaft gestanden hatten, waren von der deutsch-österreichischen oder der ungarischen Sprache und Kultur beeinflußt. Die Bevölkerung des ehemaligen Osmanischen Reiches hatte sich unter türkischen Einflüssen entwickelt. Nach der Etablierung des jugoslawischen Nationalitätenstaates mußten sich diese Völker einem neuen System anpassen und sich an der Schaffung der neuen „Nation“ beteiligen. Dabei mußten sie sich den serbischen Richtlinien beugen. Das jugoslawische Königreich machte seinen Untertanen das Angebot, „Jugoslawen“ zu werden. Die Werbung für die jugoslawische Idee wurde hauptsächlich von den Serben unterstützt, die im „Jugoslawismus“ eine Art Schirm sahen, der alle Probleme bedecken würde. Doch konnten weder die Juden noch Angehörige anderer Minderheiten, wie Makedonier, Türken, Albaner, Roma etc., die unzufrieden mit dem jugoslawischen Regime waren, jemals die jugoslawische Identität annehmen.2 Die von serbischer Seite propagierte zentralistische Staatsidee stieß auf heftigen Widerstand bei den Kroaten, die ein föderales Modell für den jugoslawischen Staat vorschlugen, ebenso wie bei den Slowenen, Muslimen, Montenegrinern sowie bei makedonischen und albanischen Gruppen, die alle Teil des heterogenen jugoslawischen Königreichs waren und dem serbischen Nationalismus und dessen Assimilierungsbestrebungen während der Zwischenkriegszeit stark ausgesetzt waren. Als Ergebnis seiner territorialen Expansion im Süden und Norden hatte das Land zusätzliche ethnische Minderheiten gewonnen. In der Vojvodina kam eine starke deutsche und ungarische Minderheit hinzu. In Bosnien und Hercegovina lebten die Bosniaken. Durch Einverleibung eines Teils des historischen Gebiets von Makedonien wurde Jugoslawien die Heimat einer 2
In Jugoslawien überwogen ethnische und religiöse Identitäten stark die jugoslawische Identität. So wie es keine Osmanen im Osmanischen Reich gab, gab es keine Jugoslawen in Jugoslawien. Stattdessen gab es Kroaten, Serben, Slowenen und auch Deutsche, Ungarn, Rumänen, Tschechen, Albaner, Makedonier und Türken. Marc Cohen, Last Century of a Sephardic Community. The Jews of Monastir 1839-1943, New York 2003, S. 146.
Juden und andere Minderheiten in Vardar-Makedonien
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Reihe weiterer Minderheiten: Makedonier, Türken, Albaner, Wallachen, Juden, Roma, Armenier und Griechen. Wie diese äußerst heterogene Bevölkerung kulturell assimiliert werden konnte, wurde zur entscheidenden Frage.3 Um mit dieser Herausforderung fertig zu werden, ergriff der jugoslawische Staat, über die offiziellen Verfassungsdokumente hinaus, sogenannte „besondere Maßnahmen“ für die neu angegliederten Gebiete. Diese Maßnahmen zielten auf eine schnellere und effizientere Homogenisierung der neuen Teile und schließlich auf deren vollständige Vereinigung mit den alten Gebieten des Königreichs Jugoslawien. Darüber hinaus schien die jugoslawische Kulturpolitik das beste Mittel zu sein, diese unterschiedlichen ethnischen Gruppen zusammenzubringen, die kulturelle Integration der neuen Teile zu fördern und den Prozeß der Distanzierung zwischen der Bevölkerung und den bestehenden historischen Gebieten zu beenden und zu einer politischen Einheit zu führen.4 In Wirklichkeit hatte der Staat weder die Kapazitäten noch die Möglichkeiten, die neuen Gebiete, die aus einer Vielzahl nationaler und ethnischer Gruppen zusammengesetzt waren, kulturell zu integrieren. Kulturelle Assimilation ist ein langandauernder Prozeß, der mehr als die fünfzehn oder zwanzig Jahre benötigt, die der jugoslawische Staat existierte, um greifbare Ergebnisse zu präsentieren. Nachdem die jugoslawische Regierung erkannt hatte, daß die Vereinigung der neuen Teile länger dauern würde, entschied sie, repressive Maßnahmen zu ergreifen, insbesondere gegenüber denjenigen, die gegen den jugoslawischen Nationalisierungsprozeß opponierten. Sie richtete Polizeikontrollen in den sogenannten betroffenen Gebieten entlang der Grenzen zu Bulgarien ein, enteignete Land und kolonisierte die neuen Gebiete, indem sie deren demographische Struktur grundlegend veränderte. Die Politik der sogenannten „besonderen Maßnahmen“ hatte enorme Auswirkungen auf die soziale, ökonomische und politische Entwicklung der neu angegliederten Gebiete und die dort lebenden Menschen.
Vardar-Banovina und seine Minderheiten Das historische Gebiet von Makedonien, das bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine geographische Einheit war, war eine der letzten Bastionen des Osmanischen Reiches in Südosteuropa. Alle Nachbarländer, die sich 3
4
Die nationale und ethnische Zusammensetzung des jugoslawischen Königreiches war äußerst heterogen, es gab 43% Serben, 23% Kroaten, 8,5% Slowenen, 6% bosnische Muslime, 5% makedonische Slaven und 3,6% Albaner, die übrigen rund 10% verteilten sich auf andere Minderheiten: Deutsche, Ungarn, Wallachen, Juden und Roma. Barbara Jelavich, History of the Balkans. Twentieth Century, Bd. 2, Cambridge 1983, S. 175. Ljubodrag Dimi , Kulturna Politika u Kraljevini Jugoslaviji 1918-1941, Bd. II: Škola i crkva, Belgrad 1997, S. 109.
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vorher in der Balkanallianz zusammengefunden hatten, erhoben territoriale Ansprüche auf das osmanische Makedonien und führten deswegen gegeneinander Krieg. Im Gefolge der Balkankriege (1912-1913)5 wurde Makedonien zwischen Bulgarien, Griechenland und Serbien aufgeteilt. Albanien gewann ebenfalls einen kleinen Teil des makedonischen Gebietes.6 Durch diesen territorialen Zuwachs wuchs die Bedeutung Serbiens, so daß es zum Seniorpartner im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen nach dem Ersten Weltkrieg werden konnte. Während der Pariser Friedenskonferenz von 1919 behandelten die Serben die makedonische Frage als ein Thema von größter nationaler Bedeutung: „Südserbien zu verlieren, würde das größte Unglück für das serbische Volk bedeuten, selbst Bosnien und Hercegovina zu verlieren, wäre nicht so schmerzhaft.“7 Der Teil des historischen Gebietes Makedoniens, der Serbien und damit später dem jugoslawischen Königreich inkorporiert wurde, hatte unterschiedliche Namen. In der ersten Verfassung wurde es als Teil des sogenannten südserbischen Gebietes bezeichnet, in der zweiten Verfassung von 1931 bildete es den größten Teil von einer der neun Banschaften – der Vardar-Banovina. Im folgenden Text werden die Begriffe JugoslawischMakedonien oder Vardar-Banovina bzw. Vardar-Makedonien benutzt. Vardar-Banovina umfaßte rund 36.672 Quadratkilometer und war damit territorial die zweitgrößte Banschaft. Mit 1.574.143 Menschen repräsentierte es 1931 von der Bevölkerung her gesehen die drittstärkste Provinz in Jugoslawien.8 Die Makedonier, zu dieser Zeit auch Südserben genannt, stellten die größte ethnische Gruppe in Vardar-Makedonien. Neben den Makedoniern gab es Albaner, Türken und Roma, daneben auch kleinere Gruppen von Juden, Wallachen, Armeniern, Griechen u.a.9 Die Minderheiten lebten hier in friedlicher Koexistenz und entwickelten unter den gegebenen politischen und sozioökonomischen Bedingungen eine spezifische Identität. 5
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Während des ersten Balkankrieges begannen serbische Militärs, Völkermordverbrechen an Albanern, Bosniaken und Makedoniern in den eroberten Gebieten zu begehen. Die Verfolgung nicht-serbischer Bürger ging, nachdem die Serben die Macht erlangt hatten, weiter und führte zu großen Auswanderungen, die eine Veränderung in der demographischen Struktur mit sich brachten. Dženana Efendi -Semiz, Serbian Land Reform and Colonisation in 1918. International Symposium „South-Eastern Europe 1918-1995“, Zagreb 1995. Mit der Bukarester Vereinbarung von 1913 wurde die Teilung Makedoniens besiegelt. Die Griechen annektierten 52%, Serbien 38% und Bulgarien 10% des makedonischen Gebietes. Vladan Jovanovi , Jugoslovenska država i Južna Srbija 1918-1929, Belgrad 2002, S. 147. Nada Boškovska, Jugoslawisch-Makedonien in der Zwischenkriegszeit. Eine Randregion zwischen Repression und Integration, Zürich 2001, S. 73. Nach dem Bevölkerungszensus von 1921 lebten auf dem Gebiet von Vardar-Banovina 1.386.000 Menschen, das entspricht 11% der Gesamtbevölkerung des jugoslawischen Königreiches. Die Orthodoxen stellten mehr als 61,1% der Bevölkerung, die Muslime 36,8%, Römisch-katholische 1%, Juden 1,4%. 64,8% der Bevölkerung sprachen serbokroatisch (einschließlich makedonisch als lokalem Dialekt), 22,5% albanisch, 10,2% türkisch, 0,7% rumänisch. Almanah Kraljevine Jugoslavije 1929-1931, o.O. o.J., S. 610.
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Während Juden, gemeinsam mit Griechen, Wallachen, Armeniern und Roma, als loyale Bürger des neuen Staates angesehen wurden, galten Türken, Albaner und besonders Makedonier als Unruhestifter. Die Türken waren zahlreich vertreten, emigrierten aber allmählich in die Türkei. Die Regierung nahm sie wohlwollend als eine Gruppe wahr, die keine Illusionen hinsichtlich der Rückkehr der osmanischen Herrschaft mehr hatte und den neuen Staat als ihren eigenen akzeptierte. Die Türken durften nationale Schulen besuchen, in deren Rahmen sie die religiöse Unterweisung im Koran in ihrer eigenen Sprache fortführen durften. Die ebenfalls zahlreich vertretenen Albaner wurden häufig gezwungen, türkische Schulen zu besuchen. Sie wurden als „unsichere Elemente“ wahrgenommen bzw. als Gruppe ohne eigene Identität. Das Selbstbild der Albaner zu dieser Zeit beschränkte sich auf ihre religiöse Identität als Muslime. Das häufig als rebellisch betrachtete albanische Element wurde sorgfältig beobachtet.10 Ende der 1920er Jahre bestanden die serbischen Behörden darauf, daß christliche und muslimische Schulkinder gemeinsam lernen sollten, um gegenseitige Toleranz zu entwickeln. An dieser Maßnahme wird die ideologische und politische Bedeutung der Schulen in Vardar-Banovina deutlich. Die Roma lebten in durchaus beachtenswerter Zahl über ganz VardarBanovina verstreut. Sie zeigten keine besonderen Charakteristika als Gruppe. Grundsätzlich waren sie ein leichtes Ziel für die Assimilierung, durch welches Regime auch immer. Sie akzeptierten die muslimische und die christliche Religion gleichermaßen. Mit einer solchen Einstellung gehörten sie zu den loyalen Volksgruppen in Vardar-Banovina. Die Wallachen (Nachkommen der alten römischen Bevölkerung, leicht zu assimilieren und offen für Akkulturation) identifizierten sich selbst hauptsächlich mit den Griechen. Griechen und Armenier wurden als weniger bedeutende Gruppen angesehen. Der Staat nahm sie nicht als mögliche Feinde wahr und übte deshalb auch keinen besonderen Druck auf sie aus. Die Juden machten 0,5% der gesamten Bevölkerung in Vardar-Banovina aus und repräsentierten eine ziemlich ambivalente Minderheitengruppe. Zum einen brachten die neuen Gegebenheiten sie in Konflikt mit ihrer kulturellen Identität, die aus den Juden in dieser Region während der Osmanischen Herrschaft eine Gemeinschaft gemacht hatte. Dazu zählte vor allem ihre traditionelle Art zu leben, die Pflege des Ladino als Alltagssprache und die patriarchalischen Prinzipien bei der Erziehung ihrer Kinder. Zum anderen mußten sich die Juden in ihrem Streben nach größerer Autonomie entscheiden,
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Die staatliche Kulturpolitik hatte kein Interesse daran, Serben oder Kroaten aus den Türken oder Albanern zu machen, was eine Entnationalisierung bedeutet hätte, sondern loyale Bürger des Königreiches mit Hilfe religiöser Toleranz und Kohabitation, Dimi , Kulturna Politika, Bd. II: Škola i crkva, S. 110.
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ob sie sich der staatlichen Politik anschließen sollten oder der größten ethnischen Gruppe in Vardar-Banovina, den Makedoniern. Die serbischen Juden nahmen ihre makedonischen Glaubensbrüder als rückständige und streng isolierte Gemeinschaft wahr. Während der Zwischenkriegszeit gewannen sie den Status einer religiösen Minderheit, so daß sie in dieser Hinsicht ihr Gemeindeleben organisieren konnten. Einige Juden paßten sich dem neuen Regime an, aber eine große Zahl zog es vor zu emigrieren. Grundsätzlich war ihre Situation in Vardar-Banovina günstiger als die anderer Minderheiten, obwohl sie dennoch einem Assimilierungsprozeß ausgesetzt waren. Die Unterstützung der jüdischen Gemeinschaft in Vardar-Banovina durch den jugoslawischen Staat diente lediglich der Durchführung der serbischen Kolonial- und Herrschaftspolitik und zielte darauf ab, die sezessionistischen Ideen unter den „ruhelosen Elementen“ in diesem Gebiet zu unterdrücken. Die Makedonier schließlich, die die größte Gruppe in Vardar-Banovina bildeten, waren gleichzeitig die am wenigsten erwünschte Gruppe. Da ihnen eine eigene nationale Identität verweigert wurde, befanden sie sich in einer viel schlechteren Situation als die Juden in Jugoslawien in der Zwischenkriegszeit. Die Makedonier realisierten bald, daß die gerade vergangenen Kriege nicht in die Freiheit geführt, sondern lediglich die osmanischen Herren durch ein serbisches Regime ersetzt hatten. Sie wurden als Südserben bezeichnet, und ihre Sprache galt als südserbischer Dialekt.11 Darüber hinaus wurden sie als rebellische Elemente dargestellt und oft als „bugaraši“ – Bulgarien nahestehend – bezeichnet. Der „nationalen Erziehung“ dieser Volksgruppe wurde besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Die Schule wurde als einzige Möglichkeit gesehen, diesen Teil der Bevölkerung zu verändern und zu assimilieren. Es zeigte sich aber, daß die Schule ein unzureichendes Mittel war, um die Einstellung der Menschen zu verändern. Die Makedonier bestanden weiterhin auf ihrer besonderen Identität, einer, die sich von der der Serben, Kroaten oder Bulgaren unterschied. Der Staat betonte ausdrücklich die großen ethnischen Unterschiede in der Provinz als Gegengewicht zur makedonischen Mehrheitsbevölkerung. Die Juden wurden ebenfalls Teil dieser Art staatlicher Kulturpolitik. Sie wurden ermutigt, ein bestimmtes Niveau von Gemeindeorganisation zu entwickeln, um das multikulturelle Konzept von Vardar-Banovina zu verstärken. Ziel dieser Politik war es nicht, den Zusammenhalt der einzelnen ethnischen 11
Der Serbische Kultur-Klub in Belgrad sollte großserbische Propaganda verbreiten und den serbischen Charakter in Makedonien betonen. Die Bezeichnung Makedonien wurde abgelehnt oder als Produkt ausländischer Propaganda dargestellt. Man bestand darauf zu beweisen, daß dieses Gebiet von Serben besiedelt war, indem man die Sprache, Sitten und Gebräuche und die Klöster als Argumente vorbrachte. Die Existenz von Makedoniern wurde ebenfalls verneint, wohingegen über die makedonische Sprache gesagt wurde, daß sie seit tausenden von Jahren ausgestorben sei. Ljubodrag Dimi , Kulturna Politika u Kraljevini Jugoslaviji 1918-1941, Bd. I: Društvo i država, Belgrad 1977, S. 514.
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Minderheiten zu stärken, sondern mit Hilfe der Betonung der Multikulturalität die separatistischen Tendenzen der makedonischen Mehrheitsbevölkerung zu unterminieren.
Serbische Nationalisierungspolitik: Landreform und öffentliche Erziehung Nachdem die Osmanen vom Balkan vertrieben worden waren, nahm die Mehrheit der ethnischen Makedonier die Serben als neue Herrscher, anstatt als Befreier (wie die Serben sich selbst bezeichneten), wahr. Dennoch tendierte die makedonische Bevölkerung anfänglich dazu, zu glauben, das „slavische Brudervolk“ würde sie in eine bessere Zukunft führen. Dieser Glaube wurde unterminiert, als die Serben damit begannen, „besondere Maßnahmen“ zur Beschränkung der Rechte und Freiheiten der Menschen in den „befreiten“ Gebieten zu implementieren. Diese Politik verdeutlichte die Trennung zwischen der Bevölkerung der alten und der neuen Teile des Staates. Diese Maßnahmen, durch die die Regierung die sozioökonomische, politische und kulturelle Eingliederung der befreiten Gebiete in die anderen Teile des Königreiches beschleunigen wollte, betonten in der Realität lediglich die Kluft zwischen den beiden Landesteilen. Einschränkungen der Bewegungsfreiheit der Menschen, hohe Abgaben und das Verbot von öffentlichen und politischen Organisationen sowie von Demonstrationen gehörten zu den „besonderen Maßnahmen“, die von der Regierung in den neu dem Königreich angegliederten Teilen eingeführt wurden. Sie betrafen jedermann, auch die Juden aus Vardar-Banovina.12 Diese Maßnahmen verschlechterten die Situation der Menschen aus dem jugoslawischen Makedonien, die bereits unter schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen und fehlenden Möglichkeiten im Gefolge der Kriege litten, zusätzlich. Es war ihnen strengstens verboten, in andere Teile des Königreiches zu reisen und dort nach besseren Lebensbedingungen zu suchen. Darüber hinaus war Vardar-Banovina, wo mit 54.700 Polizisten und Soldaten über die Hälfte der verfügbaren Sicherheitskräfte im jugoslawischen Staat stationiert war, in der Tat ein besetztes Land. Die serbischen Sicherheitskräfte „kümmerten sich“ um unerwünschte Elemente im Land und
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Die einzige Zeitung, die offen gegen die Einführung der sogenannten „besonderen Maßnahmen“ protestierte, war Radni ke Novine (Arbeiterzeitung), die offizielle Zeitung der sozialdemokratischen Partei Serbiens. Die Partei protestierte gegen die ungleiche Behandlung der Völker der neuangegliederten Gebiete, die traditionell als serbisch angesehen wurden. Svetozar Naumovski, Vesnikot “Radni ke Novine” za položbata vo Makedonija po balkanskite vojni do po etokot na Prvata svetska vojna (1912-1914), in: Makedonija vo vojnite 1912-1918. Prilozi od nau not sobir održan vo MANU na 16 i 17 noembri 1988 godina, Skopje 1991, S. 185-195 (mit einem englischen Summary), hier S. 189.
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schützten die Grenzen vor illegalen Gruppen und „Eindringlingen“ aus Bulgarien oder anderswoher.13 Zu den berüchtigsten Reformen der jugoslawischen Regierung gehörte die Land- und Siedlungsreform, die sowohl zum Wandel in der demographischen Struktur Vardar-Banovinas als auch zur ökonomischen Ausbeutung dieser Gegend führte. Die Landreform von 1919 ebnete der serbischen Kolonisation durch die Konfiszierung der Güter der Verbannten den Weg. Zu den davon am stärksten betroffenen Gruppen gehörten Bosnier islamischen Glaubens, Albaner, Türken und Makedonier, weil drei Viertel des gesamten, vom jugoslawischen Staat konfiszierten Landes ihnen gehörte.14 Die Juden, die keine Bauern waren und gewöhnlich auch nicht auf dem Land lebten, waren von dieser Reform nicht besonders betroffen. Allerdings ist die Tatsache, daß die Juden stärker in städtischen Zentren vertreten waren zu einem großen Teil das Ergebnis der Politik der vorherigen serbischen Regierungen, die den Juden verboten hatten, sich auf dem Land niederzulassen.15 Ein weiterer Grund, warum die makedonischen Juden es in der Zwischenkriegszeit vermieden, sich auf dem Land niederzulassen war, daß es zu gefährlich geworden war, dort zu leben. Die Bauern und ihr Land wurden zum Ziel albanischer, bulgarischer und türkischer Deserteure, Plünderer und organisierter Räuberbanden.16 Nachdem das Land der Vardar-Makedonier enteignet worden war, begann die erneute Kolonisation. Die ersten Siedler erhielten große Vorteile: organisierte Transporte und Baumaterialien, drei bis sieben Morgen Land, bürgerliche Freiheiten und Steuerbefreiung für drei bis fünf Jahre. Die Kolonisten waren zumeist Freiwillige, Siedler oder etniks. Die serbische Regierung ermutigte die serbischen Juden ausdrücklich, am Kolonisierungsprozeß teilzunehmen. Sie ließ verlauten: „Die neu von Serbien übernommenen Gebiete sind nur dünn besiedelt. Die Einwohner können keine Landwirtschaft betreiben oder ihr Land bestellen, weil ihnen personelle Ressourcen dazu fehlen und weil ihr kulturelles Niveau darüber hinaus vergleichsweise niedrig ist. Wir würden uns sehr freuen, wenn die Juden intensiv am Kolonisierungsprozeß der von Serbien eroberten Gebiete teilnehmen würden.“17 Im Gegenzug war die serbische Regierung bereit, Einzelpersonen und Rabbinern finanzielle Unterstützung zu gewähren und den Bau von Synagogen zu fördern. Trotzdem zogen die Juden nicht in den Süden und die, die sich für ein Leben in den 13 14 15
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Boškovska, Jugoslawisch-Makedonien, S. 62. Efendi -Semiz, Serbian Land Reform. Nachdem 1859 Fürst Miloš in Serbien an die Macht gekommen war, durften die Juden auf dem Land leben und die gleichen Berufe wie der Rest der Bevölkerung ausüben. Nach 1877 durften sich die Juden nicht in Innerserbien niederlassen, was für sie ein Zeichen war, in den Städten zu bleiben. Jeshua Kajon, Jevreji kao Zasti ena Manjina, in: Godišnjak „La Benevolencia“ i „Potpora“, Sarajevo 1933, S. 304. Jovanovi , Jugoslavenska Država, S. 177. Ženi Lebl, Plima i Slom: iz istorije Jevreja Vardarske Makedonije, Gornji Milanovac 1990, S. 208.
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neuen Gebieten entschieden, waren hauptsächlich Lehrer, Ärzte, Unternehmer und Journalisten. Um die politische Integration der neuen Landesteile zu erreichen, begannen die politischen Parteien Serbiens, Strategien zu entwickeln, um die Unterstützung der Bevölkerung dieser Gebiete zu gewinnen. JugoslawischMakedonien wurde bald ein attraktives Feld für alle politischen Parteien: die Radikale Partei, die Demokraten, die Džemijet, die Kommunisten und die republikanische Partei. Alle politischen Parteien waren in ethnische und religiöse Fragen involviert. Die Radikalen und die Kommunisten wurden die populärsten Parteien in Vardar-Makedonien. Die Radikale Partei, die größte pro-serbische Partei, zog hauptsächlich die muslimische Bevölkerung an (kleine Händler, Bauern usw.), während die Demokratische Partei ihre Wähler vor allem unter der christlichen Bevölkerung rekrutierte und die Kommunistische Partei sich zum großen Teil auf unzufriedene Makedonier stützen konnte. Die serbische Regierung behauptete, daß die Kommunistische Partei von Albanern und Bulgaren unterstützt und beeinflußt würde, besonders nachdem sie die Mehrheit der Wählerstimmen während der Parlamentswahlen von 1919 erlangt hatte.18 Trotz aller Hindernisse und besonderer Maßnahmen gegen die Aktivitäten der Kommunistischen Partei während der Lokalwahlen von 1920 gewann diese Partei große Unterstützung in den größeren Städten Jugoslawisch-Makedoniens. Dies ist nachvollziehbar, weil das Wahlprogramm der Kommunistischen Partei nicht nur die Interessen der armen Bevölkerung repräsentierte, sondern auch insbesondere jener, die Autonomie für Makedonien forderten. Unter den Förderern der Kommunistischen Partei waren auch makedonische Juden, die ihr in den Lokalwahlen von 1920 ihre Stimmen gaben. Als direkte Folge davon wurden Juden verfolgt und ins Gefängnis gesteckt.19 Den Kommunisten gelang es, die Unterstützung der Juden aus den unteren sozialen Schichten zu gewinnen. Mit der Intensivierung der antisemitischen Ideen in den anderen Teilen des jugoslawischen Königreiches und besonders in Kroatien, begann eine große Zahl makedonischer Juden, kommunistischen Ideen gegenüber aufgeschlossen zu reagieren.20
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In Vardar-Makedonien kam es zu unerwarteten Ergebnissen: die bürgerlichen Parteien wurden verdrängt und die Kommunistische Partei gewann entscheidende 20% der Stimmen, die Partei der Demokraten 16%, die Nationalrepublikanische Partei 14% und Džemijet 1,6% der Stimmen. Das Ergebnis der Wahlen war wegen der zahlreichen Behinderungen und Verfolgungen wie auch Agitationen gegen die Kommunistische Partei überraschend. Jovanovi , Jugoslovenska Država, S. 171. Aleksandar Matkovski, Istorija na Evreite vo Makedonija, Skopje 1983, S. 73. Vor den Lokalwahlen von 1920 titelte ein Journalist des Bijelovar, Milan Obradovi , in seinem Pamphlet: „Wie soll die jüdische Frage gelöst werden?“ und versuchte darin, die Öffentlichkeit vor der „Gefahr“ zu warnen, die von den Juden und den Kommunisten ausging, die immer präsenter in Europa würden, und schlug vor, ein Gesetz zu übernehmen, das
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Zur gleichen Zeit wandten sich andere makedonische Juden, die dem Bürgertum angehörten, der Radikalen Partei zu und unterstützten serbische Ansichten unter den dort ansässigen Juden.21 Dabei wurden sie von serbischen Juden unterstützt, die sogar serbischen Nationalismus in Ladino propagierten, um ihre Brüder aus dem Süden zu überzeugen, die Radikalen zu wählen, die zu dieser Zeit die stärkste serbische Partei war. Letztlich konnte die Radikale Partei aber nicht so viele makedonische Juden für sich gewinnen wie die Kommunistische Partei. Das wichtigste Instrument der nationalen Assimilierung und „Serbisierung“ Vardar-Banovinas unmittelbar nach dem Ende der Balkankriege war die Erziehung. Die während der osmanischen Zeit bestehenden Privatschulen wurden der Verbreitung ausländischer, hauptsächlich bulgarischer Propaganda beschuldigt und geschlossen.22 Die serbischen Behörden wollten aus politischen Gründen keine anderen privaten Schulen neben den staatlichen serbischen Schulen dulden. Diese Position wurde entschieden verfochten, denn man nahm an, daß die Makedonier und andere Minderheiten versuchen würden, die staatliche nationale Erziehung zu umgehen, wenn der Besuch anderer Schulen möglich wäre. Tatsächlich konnte keine private Schule ohne die Zustimmung des serbischen Erziehungsministeriums den Betrieb aufnehmen. Die Schließung privater religiöser Schulen aller Richtungen und Konfessionen erregte die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Doch trotz internationaler Kritik behielt die serbische Regierung ihren Kurs bei. Um weiter arbeiten zu dürfen, mußten diese Schulen die serbische Sprache in ihr Lehrprogramm aufnehmen. Dennoch waren die meisten aus politischen oder aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen zu schließen. Lediglich den rumänischen Privatschulen wurde nach einer staatlichen Vereinbarung zwischen Rumänien und Serbien eine gewisse Autonomie zugestanden. Dies betraf allerdings nur einige wenige Schulen, die vom rumänischen Staat finanziert wurden. Auch die jüdisch-französische Schule der Alliance Israélite Universelle (AIU) wurde zum Thema diplomatischer Auseinandersetzungen zwischen Serbien und Frankreich im Gefolge der Balkankriege. Der französische Vertreter in Serbien reagierte augenblicklich auf die neue serbische Politik hinsichtlich der öffentlichen Schulen mit einem Vermerk, daß die jüdischfranzösischen Schulen in Skopje und Bitola ihr Programm beibehalten und weiterhin in französischer Sprache unterrichten sollten. Die serbischen
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den Juden verbieten würde, sich selbst als Kroaten mosaischen Glaubens zu bezeichnen und ihre geschäftlichen Aktivitäten einschränken würde u.a. Matkovski, Istorija, S. 74. Die jüdische Handelsbourgeoisie aus Jugoslawisch-Makedonien begann bereits 1920 mit der serbischen Regierung zusammenzuarbeiten. Sie warb für den serbischen Nationalismus und unterstützte die Radikale Partei innerhalb der jüdischen Wähler. In diesen Teilen Makedoniens wechselte während der Balkankriege die serbische und bulgarische Herrschaft mehrfach.
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Diplomaten in Paris versprachen den Vertretern der Alliance Israélite Universelle in Frankreich, eine angemessene Lösung dieser Frage zu finden und erklärten, daß das Erlernen der französischen Sprache in den Schulen in keinster Weise die serbischen Interessen in Vardar-Makedonien gefährden könnte, sondern vielmehr den Modernisierungsprozeß in dieser Region unterstützen würde. Im Rahmen der Verhandlungen zwischen dem serbischen Abgesandten und dem Vorstand der AIU in Paris einigten sich beide Parteien darauf, daß die Allianz die serbischen Interessen gegenüber den Rumänen in der Frage des Banats, wo ebenfalls einige Juden lebten, unterstützen würde, falls dieses Gebiet von Österreich-Ungarn abgetrennt werden würde. Im Gegenzug würde die serbische Regierung die Fortführung der Arbeit der jüdischen Schulen in Vardar-Makedonien erlauben. Am Ende fügte der Ministerpräsident der serbischen Regierung, Nikola Paši , eine Bedingung hinzu. Er billigte die Arbeit der jüdischen Schulen in Vardar-Makedonien (finanziert durch die AIU in Paris) in französischer Sprache mit der Auflage, daß Sprachunterricht, Geographie und Geschichte in der Staatssprache (Serbisch) stattfinden würde. Diese Entscheidung vom 20. Juni 1915, die es den jüdischen Schulen ermöglichte, mit ihrer Arbeit fortzufahren, wurde an die lokalen Behörden in Bitola und Skopje gesandt.23 Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte aber die Arbeit der jüdischfranzösischen Schulen zu diesem Zeitpunkt bereits unterbrochen. Auch türkische Schulen hatten vor den Balkankriegen in großer Zahl existiert. Mit den Friedensvereinbarungen zwischen dem Osmanischen Reich und Serbien im Jahre 1914 hatte Serbien offiziell die Institutionen der muslimischen religiösen Gemeinschaft anerkannt, ihnen das Recht der religiösen Rechtsprechung in Zivilangelegenheiten zugestanden und die Arbeit religiöser Schulen der türkischen Minderheit erlaubt.24 Dieser Vereinbarung entsprechend war der Gebrauch der türkischen Sprache in den islamischen Privatschulen in Jugoslawisch-Makedonien erlaubt. Wie sich zeigte, waren dies aber nur kurzlebige Garantien. Nachdem das Osmanische Reich sich wenige Monate nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges den Mittelmächten angeschlossen hatte, annullierte die serbische Regierung diese Vereinbarung, und die Kinder der türkischen Minderheit wurden gezwungen, staatliche Schulen zu besuchen. Auch den Albanern (muslimischer wie katholischer Religion) wurde das Recht, in ihrer Sprache zu lernen, genommen. Von 1918 bis 1941 gab es im Gebiet von Vardar-Makedonien ausschließlich serbische Schulen mit einem Lehrplan in Serbisch, mit Ausnahme des Religionsunterrichts, der in der Sprache der religiösen Minderheit erteilt wurde. Die Religionslehrer an den staatlichen Schulen wurden vom Staat bezahlt. Private Gemeindeschulen durften ebenfalls bestehen, mußten 23 24
Gligor Todorovski, Makedonija po Balkanskite Vojni 1912-1915, Skopje 1981, S. 392. Ebd., S. 403.
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aber, nachdem das Gesetz über die Privatschulen angenommen worden war, von der Gemeinde selbst finanziert werden. Die jüdische Gemeinde gründete ebenfalls solche Schulen, in denen jüdische Religion, jüdische Geschichte und Hebräisch ebenso wie Französisch als Hauptfächer unterrichtet wurden. Allerdings hatte die verarmte jüdische Gemeinde, die immer noch unter den Kriegsfolgen litt, Schwierigkeiten, die normale Arbeit dieser Schulen zu finanzieren. Die ungünstige finanzielle Situation bedrohte generell die Existenz der privaten Schulen. Trotz der enormen Anstrengungen, die Menschen aus Vardar-Makedonien kulturell zu assimilieren, blieben diese Versuche wenig erfolgreich. Das Fehlen geeigneten Lehrpersonals und die geringen finanziellen Mittel auf der einen Seite sowie der Widerstand der lokalen Bevölkerung gegen die serbische Sprache auf der anderen, unterminierten die Assimilierungspolitik und führten manchmal sogar dazu, sie ins Gegenteil zu verkehren.
Die jugoslawischen Juden: Ashkenasim und Sephardim Ebenso wie der jugoslawische Staat in zahlreiche ethnische Gruppen aufgesplittert war, waren es die jugoslawischen Juden. Die Trennungen verliefen entlang ethnischer, religiöser, schichtspezifischer, kultureller und geographischer Linien. Im Königreich Jugoslawien lebten rund 70.000 Juden, die ungefähr 0,5% der Gesamtbevölkerung ausmachten. Von diesen waren 60% Ashkenasim und 40% Sephardim. Einige wenige gehörten den Orthodoxen an. Die Mehrheit der jugoslawischen Juden lebte in den Städten. Die Ashkenasim lebten hauptsächlich in den vormals österreichisch-ungarischen Gebieten, einschließlich Zagreb, gehörten der Reformbewegung an und mehr als 70% von ihnen sprachen serbokroatisch. Einige wenige sprachen auch deutsch oder ungarisch. Die Sephardim waren vor allem in Belgrad, Sarajevo und in den südlichen Teilen des Königreiches vertreten.25 Die Juden aus Vardar-Banovina waren zu fast 99% Sephardim und sprachen Ladino.26 Sowohl die ashkenasische als 25
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Während der ersten Jahre des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen benutzten die Behörden zwei Kriterien hinsichtlich der Juden. Die Loyalität der serbischen Juden, von denen viele während des Ersten Weltkrieges tapfer in der serbischen Armee gekämpft hatten, wurde nie in Frage gestellt. Die bosnischen Sepharden wurden als autochthones und indigenes Element angesehen, dem dank seiner vierhundertjährigen Tradition in dieser Region gewisse Sonderrechte zustanden. Die serbischen Juden gehörten zu „uns“, sie sprachen serbisch (Ladino war zum großen Teil vergessen), wohingegen die Muttersprache einiger „ausländischer“ Juden, von denen die meisten Ashkenasim waren, deutsch oder ungarisch (besonders in der Vojvodina) war. Ivo Goldstein, The Jews in Yugoslavia 1918-1941, in: Jewish Studies at the Central European University, Budapest 2002, S. 52. Sephardische Juden waren diejenigen, die im 14. und 15. Jahrhundert aus Spanien und Portugal vertrieben worden waren. Ein bedeutender Teil von ihnen hatte sich erfolgreich innerhalb des Osmanischen Reiches niedergelassen, wo sie willkommen gewesen waren.
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auch die sephardische jüdische Gemeinschaft setzten sich dafür ein, den gegenseitigen Antagonismus zu überwinden, bis es ihnen schließlich 1919 gelang, sich in der Vereinigung Jüdisch-Religiöser Gemeinden zusammenzuschließen. Damit erhielten die Juden einen offiziellen religiösen Status im jugoslawischen Staat. Die Vereinigung sollte ihre Rechte schützen und ihre Interessen den staatlichen Autoritäten gegenüber repräsentieren.27 Darüber hinaus wurde eine separate Union orthodoxer religiöser Gemeinden gegründet. Das 1929 verabschiedete Gesetz über die jüdischen Religionsgemeinschaften faßte die Rechte der Juden in Jugoslawien zusammen.28 Ihre Institutionen und Programme hatten die jugoslawischen Juden allerdings schon lange vor 1929 etabliert. Dadurch, daß sie den Status einer religiösen Gemeinschaft erhielten, konnten die jugoslawischen Juden ihr religiöses, soziales und kulturelles Leben im Rahmen ihrer Gemeinden organisieren. Ein über die Grenzen hinweggehender Austausch mit anderen jüdischen Gemeinden wurde ebenfalls gefördert. Zionistische Organisationen waren erlaubt und verbreiteten nationalpolitische Ideen unter der jüdischen Bevölkerung. Zur gleichen Zeit waren die jugoslawischen Juden verpflichtet, staatliche serbische Schulen zu besuchen, an denen die Primarschulausbildung verpflichtend war. Das Gesetz über die jüdischen Religionsgemeinschaften von 1929 erlaubte die Eröffnung privater Schulen wie Talmud-Thora Schulen, die durch Gemeinschaftsfonds finanziert wurden. Die offizielle Korrespondenz- und Verwaltungssprache der Gemeinde war serbisch. Die jüdischen Religionslehrer an den staatlichen Schulen wurden durch das Kultusministerium ernannt, während die Privatschulen mit Zustimmung der Gemeinde Lehrer unabhängig von staatlichen Stellen einstellen konnten. Im Rahmen desselben Gesetzes bildete das staatliche jüdisch-theologische Seminar in Sarajevo Religionslehrer sowohl für den Staat als auch für die Privatschulen aus. Darüber hinaus erhielten die jüdischen Gemeinden staatliche Subventionen, die von der Vereinigung der jüdischen Gemeinden in Jugoslawien verwaltet und verteilt wurden. Außerdem finanzierten sich die Gemeinden durch ihre eigenen Einnahmen aus Kultussteuern, verschiedenen Abgaben und Geschenken oder Schenkungen verschiedener politischer Vereinigungen. Die Juden mußten Militärdienst leisten wie alle anderen auch, aber für ihre religiösen Feiertage gab es bestimmte Ausnahmen. Die jüdischen Soldaten mußten nicht, ebensowenig wie staatliche und öffentliche Bedienstete, an pesach, shavuot, Rosh-Hashana oder Neujahr, Jom Kippur und sukkot arbeiten.29 27
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Von allen Juden wurde erwartet, zu einer jüdischen Gemeinschaft zu gehören, und die jüdischen Gemeinschaften mußten entweder der Vereinigung Jüdisch-Religiöser Gemeinschaften oder der Orthodoxen Union angehören. Službene Novine Kraljevine Jugoslavije. Zakon Jevrejske Verske Zajednice Kraljevine Jugoslavije, Belgrad 1929. Ebd., S. 102.
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Trotz dieser Privilegien der jugoslawischen Juden, hielten die jugoslawischen Behörden am Verbot von Handelsaktivitäten am Sonntag fest, so daß die jüdischen Läden geschlossen bleiben mußten. Da religiöse Juden gleichzeitig am shabbat, dem Samstag, keinerlei Aktivitäten ausüben durften und ihre Geschäfte geschlossen blieben, erlitten sie große finanzielle Einbußen. Das Gesetz über die jüdischen Religionsgemeinschaften bedeutete für die jugoslawischen Juden einen gewissen Ausdruck von Demokratie. Sie lobten ihre bevorzugte Stellung in der Gesellschaft und waren bereit, die neue nationale Identität zu akzeptieren. Außerdem nahmen sich viele serbische Juden selbst eher als eine „nationale“ als eine „religiöse“ Gruppe wahr.30 Die Einstellung jugoslawischer Juden zum jugoslawischen Nationalismus hing sowohl von der Region, in der sie lebten, als auch von anderen Umständen ab. Serbische Juden, die stärker in die Gesellschaft integriert waren, unterstützen die nationale jugoslawische Identität und wurden deshalb dazu aufgerufen, den serbischen Nationalismus in den neu angegliederten Gebieten – z.B. in Jugoslawisch-Makedonien – zu verbreiten. Juden, die serbische Patrioten sein wollten, sollten einerseits zum Aufbau eines neuen „nationalen Lebens“ beitragen, andererseits aber sollten sie sich ihrer Wurzeln bewußt sein. Ein Jude, der in der Öffentlichkeit ein guter Serbe sein wollte, mußte zunächst ein guter und stolzer Jude im Privatleben sein. Dies war die berühmte Philosophie der sogenannten „Serben mosaischer Religion“.31
Vardar-Banovina: Die Juden aus Skopje, Bitola und Štip Die makedonischen Juden hatten während der 1920er Jahre mit den meisten anderen jugoslawischen Juden keinen Kontakt, ebenso wenig wie mit jüdischen Gemeinden auf der anderen Seite der Grenzen in Griechenland und Bulgarien. Die Juden aus Vardar-Banovina waren eine geschlossene Gemeinschaft, die mit ihrer sephardischen Tradition in Konflikt geriet und sich nur langsam den neuen Möglichkeiten öffnete. Sie begannen erst spät, die serbische Sprache zu lernen und anstatt die jugoslawisch-jüdischen Zeitungen zu lesen, lasen sie weiterhin die Zeitungen aus Saloniki, die in Ladino erschienen. Das jugoslawische Nationalgefühl blieb den makedonischen Juden zunächst fremd.32 Zu Beginn der 1930er Jahre und durch das Anknüpfen von Beziehungen mit anderen Juden in Jugoslawien im Rahmen der Vereinigung der jüdischen Gemeinden begannen die makedonischen Juden, sich der serbischen Sprache 30 31 32
Vita D. Kajon, Jevrejski gradjani Jugoslavije i njihov odnos prema državi, Zagreb 1922, S. 269. Lebl, Plima i Slom, S. 210. Für die Juden bedeutete dies, daß sie in Jugoslawien wie früher im Osmanischen Reich wiederum zuerst und einfach Juden waren. Cohen, Last Century, S. 152.
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und Kultur zuzuwenden. Diese Akkulturation war vor allem bei den Juden in Skopje festzustellen, welches das größte Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum Jugoslawisch-Makedoniens zu dieser Zeit war. Die Modernisierung der Juden war auch daran zu erkennen, daß sie statt der alten osmanisch-orientalischen Kleidung die städtische Kleidung übernahmen und in die repräsentativen Stadtviertel zogen, in denen sie sich mit dem Rest der Bevölkerung vermischten. Außerdem wurden sie Teil des lokalen Verwaltungsapparates. Die Mehrheit der Juden, die den ärmeren Teil der jüdischen Gemeinschaft bildete, widersetzte sich allerdings den sozialen Veränderungen. Bis in die späten 1930er Jahre wurde in Vardar-Jugoslawien Ladino gesprochen. In diesem Festhalten an der traditionellen jüdischen Alltagssprache zeigt sich eine in gewisser Weise widerstrebende Einstellung der makedonischen Juden gegenüber dem neuen Staat. Die erste serbische Zeitung in Jugoslawisch-Makedonien, Bitoljske Novine, gründete ein serbischer Jude, der gleichzeitig Herausgeber und Hauptverfasser der Artikel war. Diese Zeitung sollte ein machtvolles Werkzeug der serbischen Propaganda werden. Da aber die Mehrheit der Juden in Bitola kein Serbisch lesen konnte, war der Effekt dieser Zeitung nur gering, bis sie begann, ihre Artikel in Ladino zu verfassen und auf diese Weise die lokalen Juden erreichte.33 Diese Zeitung erschien nur zwei Jahre, bis zum Tod ihres Gründers. Zu den wichtigsten Akteuren des serbischen Nationalismus gehörten der Oberrabbiner von Belgrad, Jichak Alkalay, und der Armeekommandant David Albala. Sie finanzierten den Juden aus Jugoslawisch-Makedonien Besuche in Belgrad und gewannen Unterstützung bei der jüdischen Jugend, wohingegen die ältere Generation, die immer noch von den Traditionen der osmanischen Herrschaft beeinflußt war, die Veränderungen nur widerwillig akzeptierte. Albala stellte im Jahr 1931 Jugoslawien als ein einzigartiges Beispiel für einen toleranten multikulturellen und multireligiösen Staat dar. Das galt seiner Ansicht nach vor allem für den Antisemitismus, der seiner Auffassung nach in Jugoslawien, im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, so gut wie gar nicht existierte.34 Dieses Argument wurde von Albala offen während seiner „Werbetour“ für Serbien in den Vereinigten Staaten verbreitet. Diese Thesen sollten die jugoslawische Nationalidee unter den skeptischen makedonischen Juden fördern. Die serbischen Juden hatten ihren makedonischen Glaubensbrüdern häufig vorgeworfen, sich dem jugoslawischen Nationalismus gegenüber, der Modernität, Emanzipation und sozialen Aufstieg versprach, ablehnend zu verhalten. Dies war ein Grund für die Mißverständnisse und Streitigkeiten 33
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Johanan (Jovan) Mandil war Rechtsanwalt und arbeitete außerdem als Handelslehrer in Bitola. Hauptberuflich war er Journalist. Außerdem war er Mitbegründer der Zeitung Velika Srbija (Großserbien), dem Hauptorgan der serbischen Einwanderungsregierung. Židov, Nr.18, Zagreb 1931, S. 7.
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zwischen den Belgrader und den makedonischen Juden. Einige serbische Juden bemühten sich aber auch, den Zionismus in Makedonien zu verbreiten. Deshalb war der Einfluß der serbischen Juden auf ihre Glaubensbrüder in Makedonien ambivalent. Die makedonischen Juden wiederum unterstützten zwar in der Folge teilweise den Zionismus, aber kaum je den jugoslawischen Nationalismus oder propagierten ihn gar unter der übrigen makedonischen Bevölkerung. Für den serbischen Behörden- und Regierungsapparat war die Assimilation der Bevölkerung der neu angegliederten Gebiete Teil ihrer Strategie, Jugoslawisch-Makedonien in das übrige Königreich zu inkorporieren. Die Serben erwarteten, daß die makedonischen Juden, ebenso wie die anderen Völker aus Vardar-Makedonien, gute jugoslawische Bürger wurden. Die serbischen Juden vertraten die gleiche Einstellung gegenüber den makedonischen Juden, sie sollten ebenso loyale Bürger des jugoslawischen Staates werden wie sie selbst. Im allgemeinen identifizierten sich weder die Juden noch die übrigen Völker in Vardar-Makedonien als jugoslawische Bürger. Das jugoslawische Königreich verdrängte die tatsächlichen Probleme in der Gesellschaft und überschätzte seine Möglichkeiten, eine tatsächlich jugoslawische Nation zu formen. Unter den gegebenen sozio-politischen und ökonomischen Bedingungen in dieser Provinz entwickelten die Juden aus Vardar-Banovina unterschiedliche Identitäten. Wir können sie in folgende vier Hauptgruppen unterteilen: Zionisten, Integrationisten, Traditionalisten und Kommunisten. Diese Einteilung soll der Beschreibung der Judenheit in den drei Städten von Vardar-Banovina – Skopje, Bitola und Štip – zugrundeliegen.
Skopje Die 3.000 Juden, die in Skopje, dem Verwaltungszentrum und Mittelpunkt des ökonomischen und sozialen Lebens in Jugoslawisch-Makedonien lebten, zählten in ihrer Mehrzahl zu den Integrationisten. Sie unterhielten in der Zwischenkriegszeit enge Verbindungen zu den Belgrader Juden. Sie waren in der örtlichen Verwaltung und im Justizwesen angestellt und hatten führende Positionen in der Nationalbank, der Handelskammer und in verschiedenen Ausschüssen inne. Sie engagierten sich stets besonders während der offiziellen Besuche von König Alexander, der von den serbischen Juden als Befreier und als derjenige, dem die bevorzugte Stellung der Juden im Königreich zu verdanken war, angesehen wurde. Diese integrationswillige Orientierung war häufig in der Mittelschicht, besonders bei den Juden, die vom Handel abhängig waren, zu finden. Die Traditionalisten dominierten bei den armen Juden. Ihre Lebensweise führte häufig zur Abschottung vom Rest der Bevölkerung. Der Generationenkonflikt war hier sehr stark, so daß die Eltern die Mitgliedschaften der jüdischen Jugendlichen in verschiedenen Klubs und Vereinigungen der unter-
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schiedlichsten Richtungen nicht unterstützten. Im Gegenteil, sie bestanden darauf, daß die Kinder die Familientradition fortsetzten. Die zionistische Bewegung hatte in der jüdischen Gemeinde in Skopje kaum Einfluß, trotz einiger Versuche der „Vereinigung jüdischer Gemeinden in Jugoslawien“ und einer Reihe von Besuchen und weiterer Aktivitäten. Die Unterstützung der zionistischen Bewegung wäre als ein Akt gegen den Staat empfunden worden, und die Juden aus Skopje wollten ihre Stellung in der Gesellschaft nicht riskieren. Deshalb erhielten Organisationen mit zionistischer Orientierung in Skopje keinerlei finanzielle oder andere Unterstützung durch die Gemeinde. Wegen ihrer antizionistischen Einstellung gerieten die Juden aus Skopje mit jenen serbischen Juden in Konflikt, welche die Zionisten unterstützten und für eine nationale Heimat in Palästina kämpften. Um den Zionismus in VardarBanovina zu verbreiten, wurde 1927 eine zionistische Zeitung gegründet, die zweisprachig in Ladino und Serbisch erschien. Die Zeitung erlebte aber nur eine Ausgabe. In dieser kritisierten die serbischen Zionisten die Juden aus Skopje wegen ihrer „Lethargie“, „Unkenntnis“ und „mangelnden Initiative“, den Zionismus in Vardar-Banovina zu verbreiten. Im Sinne der Gegenwartsarbeit propagierte die Zeitung das Konzept, daß die Juden in der Öffentlichkeit gute Jugoslawen, aber zu Hause nationale Juden sein sollten.35 Trotz aller Anstrengungen der Belgrader Zionisten wurde der Zionismus nie zu einer treibenden Kraft unter den Juden in Skopje. Damit bildeten die Juden in Skopje allerdings eher die Ausnahme unter den jüdischen Gemeinden in Makedonien.
Bitola Unter den Juden von Bitola,36 die unter den Verwüstungen der Balkankriege und des Ersten Weltkrieges gelitten hatten, entwickelte sich der Zionismus in der Zwischenkriegszeit zu einer starken Strömung. Mit ungefähr 7.000 Personen stellte Bitola die größte jüdische Gemeinde in Vardar-Makedonien vor 1912. Durch den Krieg und wegen der Auswanderung zahlreicher Juden sank diese Zahl auf 3.500. Die Juden von Bitola waren traditionell mit Saloniki verbunden, das vor den Kriegen das größte soziale, kulturelle und ökonomische Zentrum der Juden auf dem Balkan gewesen war. Von der traditionsreichen Gemeinde in Saloniki isoliert und unter dem wirtschaftlichen Zusammenbruch leidend, hatten sie keine andere Option, als sich dem Zionismus zuzuwenden, der Ansiedlung und den Beginn eines neuen Lebens 35 36
La Renassencia djudia en Escopia. Edita por la Organisation Sionista locala en Escopia, Skopje 1928, S. 4. Die Stadt ist auch unter dem Namen Monastir (der türkischen Bezeichnung) und Bitolj, der serbischen Variante des Namens von Bitola, bekannt.
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in Palästina versprach. Die zionistische Bewegung wurde außerdem als Ausweg aus der „Rückständigkeit“ gesehen. Zahlreiche Juden aus Bitola wanderten nach Palästina aus und entgingen möglicherweise aufgrund dieser Stärke der zionistischen Bewegung dem Holocaust. Von den 490 Juden, die im Laufe des Jahres 1930 aus Vardar-Makedonien nach Palästina auswanderten, kamen 429 aus Bitola.37 Außerdem zog es zahlreiche Juden aus Bitola in der Zwischenkriegszeit nach Süd- und Nordamerika. Die zurückbleibenden Juden mußten sich der neuen Realität stellen und einen Weg finden, sich dem neuen Regime anzupassen. Eine der ersten Reformen des serbischen Behörden- und Regierungsapparates war, die Schule der AIU zu schließen, die in Bitola bis zum Ersten Weltkrieg bestanden hatte. Trotz der Interventionen der französischen und britischen Gesandten und auch anderer internationaler Vertreter in Bitola, mußte die Schule bereits nach kurzer Zeit ihre Arbeit einstellen. Während dieser kurzen Zeitspanne wurde in serbischer Sprache unterrichtet. Die Schule der Alliance versuchte, das in Frankreich erfolgreiche Assimilationskonzept, nachdem die Juden Teil der sie umgebenden Gesellschaft werden sollten, zu fördern. Dieses Konzept wäre möglicherweise für die serbischen Juden erfolgversprechend gewesen, die im serbischen Nationalstaat eine Option für Emanzipation und Modernisierung sahen. Die makedonischen Juden nahmen die Politik des neuen Staates als Bedrohung ihrer traditionellen Werte und als Assimilationsdruck wahr. All dies mag ein zusätzlicher Grund gewesen sein, warum die Juden aus Bitola sich eher dem Zionismus als der Integration zuwandten. Während der 1920er Jahre waren Eltern, hauptsächlich aus traditionellen Gründen, kaum bereit, ihre Kinder in serbische Schulen zu schicken. Außerdem führte die weitverbreitete Armut und der tägliche Kampf um die Existenz eher dazu, daß junge Juden Geld verdienten, als daß sie studierten. Doch selbst diejenigen, die die Schule besuchten, standen großen Schwierigkeiten gegenüber, weil sie kaum serbisch sprechen konnten. Die verheerende soziale Situation der Juden in Bitola verlangte umfangreiche humanitäre Unterstützung. Es kam sogar die Idee auf, die gesamte jüdische Gemeinschaft nach Zagreb umzusiedeln, wo die wirtschaftliche Situation stabiler war. Die zionistischen Führer in Bitola lehnten diesen Vorschlag allerdings entschieden ab und forderten stattdessen mehr Ausreisegenehmigungen nach Palästina. Neben dem Zionismus begann der Kommunismus zunehmend das Interesse jüdischer Jugendlicher in Bitola zu wecken. Das galt besonders nach der Ankunft von Professor Arpad Lebl, der wegen der Verbreitung kommunistischer Ideen verfolgt wurde und häufig von einer zur anderen Schule wechseln mußte.38 Nachdem er in Bitola angekommen war, gelang es ihm, nicht nur das 37 38
Cohen, Last Century, S. 151. Gorgi Dimovski- olev, Bitolskite Evrei, Bitola 1993, S. 130.
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Interesse der jüdischen, sondern auch das der übrigen Jugendlichen zu erregen. Bald schon gerieten die Zionisten in Konflikt mit den Kommunisten. Beide Bewegungen entwickelten sich stark innerhalb der jüdischen Jugend. Alle linksorientierten zionistischen Organisationen schlossen sich noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mit den kommunistischen Organisationen zusammen.
Štip Die dritte und kleinste städtische Gemeinde bestand aus den 200 jüdischen Einwohnern der Stadt Štip. Auch diese Gemeinde war in die unterschiedlichen Lager aufgespaltet. Einerseits war der Zionismus weitgehend akzeptiert, andererseits hatten auch kommunistische Ideen einen ziemlichen Einfluß. Die jüdische Gemeinschaft in Štip war in der Vergangenheit erheblich größer gewesen, nach den Kriegen aber rapide geschrumpft. Fast alle Synagogen wurden zerstört. Dies führte dazu, daß zahlreiche Juden Štip verließen, um sich in Saloniki niederzulassen. Nachdem eine neue Synagoge gebaut worden war, kehrten einige dieser Juden nach Štip zurück. Die Jugend organisierte sich hier in verschiedenen Vereinigungen und Klubs, durch die sie mit anderen jüdischen Gemeinschaften im Königreich kommunizierte. Nur langsam entwickelten sich Verbindungen zu den Juden von Bitola und Skopje. Von einer konkreten Zusammenarbeit zwischen den drei jüdischen Gemeinden läßt sich aber nicht sprechen. Statt dessen verfolgte jede jüdische Gemeinde ihre eigenen Interessen. Es gab drei Organisationen, die unter den Juden in Štip und darüber hinaus unter denen im gesamten Gebiet von Vardar-Banovina besonders populär waren. Als erste Gruppe ist Hashomer Hatzair (Die Junge Garde) zu erwähnen, die – sozialistisch orientiert – die wichtigste unter den zionistischen Organisationen während der 1930er Jahre darstellte. Ebenfalls viele Anhänger hatte die Tehelet Lavan (Die Blau-Weißen), eine moderat linksorientierte Gruppe, die besonders bei der Arbeiterjugend populär war. Als dritte ist die rechte, revisionistische Betar-Organisation zu nennen. Zusammenfassend gesagt, wurden die Juden in Štip während der 1930er Jahre besonders vom Kommunismus beeinflußt. Der Kommunismus war generell äußerst populär in Vardar-Banovina. Das galt besonders für die Makedonier. Auch die anderen unzufriedenen Minderheiten von VardarBanovina sahen in der kommunistischen Bewegung eine Möglichkeit, sich von der serbischen Herrschaft zu befreien. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden die Kommunisten zur treibenden Kraft im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht in Serbien und in den übrigen Teilen des zerschlagenen Jugoslawien.
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Antisemitismus und Holocaust Antisemitismus war in Vardar-Banovina kaum verbreitet. Es gab zwar einige Ritualmordanschuldigungen, vor allem während jüdischer Feiertage und vor allem dort, wo die Bevölkerung besonders arm war. In Bitola, wo eine große Zahl verarmter Juden lebte und die Bevölkerung im allgemeinen stark unter den verheerenden Auswirkungen des Krieges litt, wurde mehr als eine Ritualmordbeschuldigung erhoben, eine davon während des Pesachfestes. Diese Fälle wurden allerdings friedlich beigelegt und hatten keine größeren Konsequenzen. Ernsthaftere antisemitische Ausfälle oder eine allgemein antisemitische Atmosphäre traten nicht zu Tage. Wie der Führer der Zionisten von Bitola der Vereinigung der jüdischen Gemeinden in Jugoslawien mitteilte, existierte Antisemitismus in Vardar-Banovina lediglich theoretisch. Erst in den späten 1930er Jahren begannen, unter dem Einfluß der von den Nationalsozialisten propagierten antijüdischen Politik, die ersten stärkeren Anzeichen von Antisemitismus in Jugoslawien sichtbar zu werden. Artikel mit antisemitischer Färbung erschienen in einigen jugoslawischen Zeitungen. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges entstand eine aktive Zusammenarbeit zwischen den jüdischen Gemeinden in Makedonien und jenen in Jugoslawien. Sie organisierten Proteste und sammelten Geld für Juden, die in Deutschland verfolgt worden waren und in Jugoslawien Unterschlupf gefunden hatten.39 Fast 30 Prozent der Abgaben der Gemeinschaften flossen an den Fonds des „Zentralen Hilfskomitees für Juden aus Deutschland“. Die Vereinigung der jüdischen Gemeinden in Jugoslawien entwickelte bemerkenswerte Aktivitäten, um den Juden, die aus Deutschland oder anderen Ländern fliehen mußten, zu helfen. Außerdem opponierte sie entschieden gegen die beginnenden Restriktionen, welche die jugoslawischen Juden betrafen. Während der Regierung von Dragiša Cvetkovi und Vlado Ma ek zwischen 1939 und 1940 wurden die antisemitischen Züge der jugoslawischen Politik deutlicher. Die Bürgerrechte der jugoslawischen Juden wurden drastisch eingeschränkt.40 Diese Gesetze waren die Vorboten bevorstehender Veränderungen. 1941 brach der jugoslawische Staat zusammen. Am 6. April 1941 griff Deutschland Jugoslawien ohne vorherige Ankündigung an. Skopje wurde noch am gleichen Tag bombardiert und am folgenden Tag marschierten dort deutsche Truppen ein. Innerhalb von zwei Wochen konnte Deutschland die schlecht vorbereiteten lokalen Truppen zur Kapitulation zwingen. Jugoslawien wurde zwischen Italien, Ungarn, Deutschland und Bulgarien aufgeteilt. Letzteres kontrollierte den größten Teil von Makedonien. Während eines Treffens in Wien am 22. April 1941 vereinbarten bulgarische und deutsche Minister, Vardar-Makedonien in zwei Teile zu 39 40
Izvestaj Jevrejske Verske Zajednice Skoplje, Skopje 1940, S. 6. Vgl. dazu ausführlich den Aufsatz von Milan Ristovi in diesem Band.
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teilen. Bulgarien erhielt den größeren und das unter italienischer Herrschaft stehende Albanien den kleineren Teil. Auf diese Weise besetzten bulgarische statt deutsche Truppen Makedonien. Die Juden in Makedonien erwarteten, daß sich ihre Situation unter der bulgarischen Besatzung verbessern würde. Tatsächlich aber war die bulgarische Regierung noch entschiedener entschlossen, die makedonischen Juden zu liquidieren. Dem „Gesetz zur Lösung der jüdischen Frage“ gab das bulgarische Parlament am 28. Juni 1943 seine endgültige Form. Der bulgarische Zar Boris III. stimmte ihm zu. Damit war das Schicksal der makedonischen Juden besiegelt. Es wurde eine besondere Kommission gegründet, die die jüdische Bevölkerung kontrollierte und repressive Maßnahmen durchführte. Die bulgarische Regierung sperrte alle jüdischen Konten bei bulgarischen Banken und zwang die Juden, die Kommission zu finanzieren.41 Die bulgarische Regierung liquidierte die Juden in drei Schritten: Zunächst wurden sie ökonomisch ausgebeutet, dann ihrer bürgerlichen Rechte beraubt und schließlich ermordet. Bereits im Februar 1941 erließ das bulgarische Regime in Makedonien eine „nationale Schutzregelung“, nach der die Juden als Staatsfeinde angesehen wurden. Mit dieser Regelung wurde den Juden verboten, Handel zu treiben und sich in der Industrie oder in anderen ökonomischen Bereichen zu betätigen. Das Vermögen jüdischer Familien wurde innerhalb von sechs Monaten konfisziert. Juden durften mit Einschränkungen in der Landwirtschaft, im Handel oder im Handwerk weiterarbeiten. Eine Beschäftigung in anderen ökonomischen Bereichen, einschließlich der Waffen- oder Filmproduktion sowie in den Medien, war ihnen vollständig untersagt. Sie mußten sich außerdem von pädagogischen und politischen Institutionen, Theatern, Kinos und allen Stellen, die zur Propaganda geeignet waren, fernhalten. Die „nationale Schutzregelung“ bedeutete die völlige wirtschaftliche „Liquidierung“ der makedonischen Juden, die seit Jahrhunderten in Handel und Industrie tätig gewesen waren. Über diese ökonomischen Beschränkungen hinaus enthielt die „nationale Schutzregelung“ auch einige weitere Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten, z.B. mußten sich die Juden innerhalb eines Monats bei der Polizei registrieren lassen, es war ihnen nicht möglich, bulgarischer Staatsbürger zu werden, sie mußten für das Recht, sich auf bulgarischem Gebiet aufzuhalten, eine Abgabe zahlen, sie besaßen weder ein aktives noch ein passives Wahlrecht und durften nicht in der bulgarischen Armee dienen.42 Gegen Ende des Jahres 1941 nahmen die bulgarische und die deutsche Regierung Gespräche über die Deportation der Juden auf. Diese 41 42
Das Dokument der Konfiskation der jüdischen Besitztümer und die einzelnen Artikel der „Nationalen Schutzregelung“ befinden sich im Staatsarchiv der Republik Makedonien. Žamila Kolonomos/Vera Veskovi -Vangeli (Hg.), Evreite vo Makedonija vo Vtorate Svetska Vojna 1941-1945. Zbornik na dokumenti, Skopje 1986, S. 125.
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Verhandlungen wurden 1942 intensiviert. Am 3. Februar 1943 wurde eine Vereinbarung unterzeichnet, die die Deportation von 20.000 Juden aus den neu besetzten Gebieten Bulgariens in die deutschen Ostgebiete regelte. Diese Vereinbarung wurde von Aleksandar Belev, dem Führer der „Kommission für jüdische Fragen“ und von Theodor Dannecker, dem deutschen Generalkonsul in Skopje und Gesandten Adolf Eichmanns, unterschrieben. Dannecker war einflußreich bei der Verbreitung antijüdischer Propaganda in Makedonien und bei den Verhandlungen mit bulgarischen Stellen über die Deportation makedonischer Juden.43 Viele bulgarische Bürger opponierten gegen die Deportationen bulgarischer Juden, deshalb kam die Mehrzahl der Opfer (7.144 Menschen) aus Vardar-Makedonien. Der Rest der insgesamt rund 20.000 deportierten Juden stammte aus Thrakien. Die Deportationen begannen am 11. März 1943. An diesem Tag wurden jüdische Männer, Frauen und Kinder aus Skopje, Bitola und Štip in das Lager „Monopol“ in Skopje gebracht, von dort aus wurden sie nach Treblinka deportiert.
Zusammenfassung Während der Zwischenkriegszeit erfreuten sich die jugoslawischen Juden, einschließlich der makedonischen Juden, eines relativ bevorzugten Status innerhalb des Königreiches Jugoslawien. Da sie lediglich 0,5% der Gesamtbevölkerung stellten, wurden sie weder als Bedrohung noch als Minderheit mit separatistischen Interessen wahrgenommen. Deshalb hielt der jugoslawische Staat die Juden im Vergleich zu anderen Minderheiten für loyale Bürger. Ihr offizieller Status war der einer religiösen Minderheit und als solcher standen ihr bestimmte Freiheiten und Rechte zu. In den ethnisch homogen besiedelten Gebieten Jugoslawiens wurden sie relativ schnell assimiliert. Dies galt vor allem für die serbischen Juden, die sehr bald zweisprachig lebten und um den Preis der Modernisierung und Akkulturation emanzipiert wurden. Entsprechend ihrer positiven Haltung gegenüber den Serben stützten die serbischen Juden das jugoslawische Ideal eines vereinigten Königreiches unter serbischer Führung. Darüber hinaus förderten sie in vielen Fällen aktiv den jugoslawischen Nationalismus in den neu hinzugekommenen Teilen des Königreiches wie in Vardar-Makedonien, wo die Menschen ihrer ethnischnationalen Zugehörigkeit nicht so sicher waren. In den multiethnisch besiedelten Gebieten zögerten die Juden, die Forderung nach einer jugoslawischen nationalen Identität zu akzeptieren. Diese Skepsis war unter den Juden in Bosnien und Hercegovina, in der Vojvodina und in Makedonien, wo jeweils zahlreiche ethnische Gruppen zusammenlebten, weit verbreitet. Trotz der ähnlichen Situation der Juden in allen Teilen des Königreiches, unterschieden sich ihre Einstellungen und ihr Verhalten als Folge der 43
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Juden und andere Minderheiten in Vardar-Makedonien
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gegebenen politischen und sozio-ökonomischen Umstände. Die makedonischen Juden sahen sich mit der gleichen Politik konfrontiert wie die Juden in anderen Teilen des Königreiches, aber sie nahmen sich selbst nie als Serben oder Jugoslawen jüdischen Glaubens wahr. Der Weg in die Moderne führte für sie über den Zionismus. Der Kommunismus, der für alle Minderheiten Makedoniens attraktiv und, vor allem zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, sehr populär war, zog die makedonischen Juden ebenfalls an. In Vardar-Banovina, wo eine Reihe unzufriedener ethnisch-nationaler Gruppen in scheinbarem Frieden zusammenlebte, verhielten sich die Juden ambivalent. Auf der einen Seite kooperierten sie mit dem jugoslawischen Staat, um zu überleben, auf der anderen Seite teilten sie die Interessen der unterdrückten Minderheiten in ihrer Umgebung. Die makedonischen Juden bildeten auf diese Weise häufig einen Puffer zwischen dem Staat und den anderen Minderheiten in Vardar-Makedonien. Die jugoslawische Politik beschäftigte sich in der Tat mehr mit separatistischen Ideen. Die Makedonier, als größte „Minderheit“ in VardarMakedonien, waren dabei der wichtigste Gegner. Bei seinen Versuchen, den Kampf für Autonomie und Unabhängigkeit zu unterdrücken, betonte der jugoslawische Staat stets die multikulturelle Zusammensetzung von VardarMakedonien. Darüber hinaus instrumentalisierte er alle anderen Minderheiten, um das sogenannte makedonische Problem, das während und nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal stärker auf die Tagesordnung kam, in den Griff zu bekommen. Aus dem Englischen übersetzt von Liane Boll.
„Unsere“ und „fremde“ Juden: Zum Problem der jüdischen Flüchtlinge in Jugoslawien 1938-1941 MILAN RISTOVI Die antijüdischen Maßnahmen, die im Dritten Reich festgelegt und durchgeführt wurden, waren bis zum „Anschluß“ Österreichs eine „rein innenpolitische Angelegenheit“.1 Erst durch die nationalsozialistische Expansion, die mit der Annexion Österreichs und des Sudetenlandes sowie mit der Gründung des Protektorats begann, und schließlich verbreitete sich die rassistische „Theorie und Praxis“ durch den Kriegsausbruch wie eine tödliche Epidemie. Sie griff auch auf solche Staaten über, in denen der Antisemitismus nicht besonders ausgeprägt war und nur eine marginale gesellschaftliche Erscheinung darstellte. Unter dem Druck von außen griffen nun auch Staaten wie das Königreich Jugoslawien aus Angst vor einem Flüchtlingszustrom und aus politischem Pragmatismus zu restriktiven Maßnahmen, vor allem was die Ausstellung von Visa und die Kontrolle der Einreise und des Aufenthalts von Juden mit ausländischer Staatsbürgerschaft betraf. Diese Maßnahmen sollten den Flüchtlingszustrom aus den mitteleuropäischen Ländern umleiten. Gleichzeitig kündigte die Errichtung dieser „bürokratischen Grenze“ den nächsten Schritt an, die Einführung von diskriminierenden und antisemitischen Gesetzen, die sich gegen Juden mit jugoslawischer Staatsbürgerschaft richteten.
I. Bereits seit 1933 sah sich das Königreich Jugoslawien mit dem Problem der jüdischen Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich konfrontiert. Nach dem „Anschluß“ Österreichs verschärfte sich das Problem, weil beide Länder über eine gemeinsame Grenze verfügten. Jugoslawien galt, auch wegen der relativ problemlosen Einreise, als eine Art „erste Station“ der jüdischen illegalen und legalen Emigration aus Mitteleuropa. Allerdings wurde seit der zweiten Hälfte der 1930er Jahre der wirtschaftliche und politische Einfluß des nationalsozialistischen Deutschlands auf den europäischen Südosten immer stärker und verdrängte die konkurrierenden Mächte Frankreich und Großbritannien. Dem außenpolitischen Durchbruch der Deutschen im Südosten Europas folgte die Übernahme von Teilen des deutschen „Modells“ der antisemitischen 1
Ladislav Lipscher, Die Verwirklichung der antijüdischen Maßnahmen in den vom Dritten Reich beeinflußten Staaten, in: Karl Bosl (Hg.), Das Jahr 1941 in der europäischen Politik, München 1971, S. 121.
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Gesetzgebung. Dies wirkte sich besonders katastrophal auf die Behandlung der jüdischen Flüchtlinge aus, die nach dem Novemberpogrom von 1938 in großer Zahl über die nordwestliche Grenze nach Jugoslawien flohen. Der Druck auf die Juden sollte zu einer Massenauswanderung aus dem Deutschen Reich führen. Bis zur ersten Hälfte des Jahres 1941 galt dies als offizielle politische Lösung der sogenannten Judenfrage.2 Durch staatlichen Terror wurde die Auswanderung von Juden forciert. Der Aufgabenbereich der „Reichszentrale für Jüdische Auswanderung“, an deren Spitze Adolf Eichmann stand, wurde nach dem „Anschluß“ Österreichs, der Annexion des Sudetenlandes und der Besetzung von Teilen der vormaligen Tschechoslowakei unter der Bezeichnung Reichsprotektorat Böhmen und Mähren durch die Eröffnung von Büros in Wien und Prag ausgeweitet.3 Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, ab September 1939, wurde die jüdische Bevölkerung Polens über die Demarkationslinie in die von der Sowjetunion besetzten Gebiete vertrieben. Seit Frühjahr 1938 hatte die Gestapo regelmäßig größere Gruppen von Juden aus Österreich ohne irgendwelche Dokumente über die jugoslawische Grenze abgeschoben. Die jugoslawischen Behörden wurden so gezwungen, jüdische Flüchtlinge, die lange an der Grenze ausharren mußten, aufzunehmen. Einheimische jüdische Organisationen kümmerten sich um die weitere Versorgung4 Die Länder Südosteuropas, und damit auch das Königreich Jugoslawien, waren wichtige Transitstationen der jüdischen legalen und illegalen Einwanderer nach Palästina oder Übersee. So entstand eine Situation, in der diplomatische Rücksichten auf das starke und aggressive Deutsche Reich einerseits sowie auf britische Interessen andererseits notwendig wurden. Großbritannien hatte zu Beginn des Krieges seine Immigrationspolitik vor allem in das Mandatsgebiet restriktiver gestaltet. Darüber hinaus verstärkte der Zustrom jüdischer Flüchtlinge die Angst vor innenpolitischen Problemen. Zumindest wurden diese Bedenken wiederholt als Vorwand benutzt. Durch die Veränderungen der außenpolitischen Situation entstand in Jugoslawien hinsichtlich der Politik gegenüber den Flüchtlingen Handlungsbedarf. Seit Anfang 1938 wurde darüber auf den Ebenen von Administration und Politik diskutiert. Eine angemessene Lösung sollte einerseits jugoslawische Staatsinteressen und die innere Sicherheit schützen, andererseits sollten die interessierten „Großmächte“ möglichst zufriedengestellt werden. Zwar wurden 2
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Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, Berlin, 1981, S. 3ff.; Bernard Wasserstein, Britain and the Jews of Europe, 1939-1945, London/Oxford 1979, S. 42. Peter Longerich (Hg.), Die Ermordung der europäischen Juden. Eine umfassende Dokumentation des Holocaust 1941-1945, München/Zürich 1989, S. 35. Yehuda Bauer, American Jewry and the Holocaust. American Jewish Joint Distribution Committee, 1939-1945, Detroit 1982, S. 62. Yehuda Bauer schreibt, daß das „Jewish Distribution Committee“ der Zagreber jüdischen Gemeinde und deren Komitee für Flüchtlingshilfe geholfen habe.
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auch die moralischen und ethischen Gesichtspunkte des Flüchtlingsproblems diskutiert, die politisch-pragmatischen Erwägungen behielten jedoch die Oberhand. Die Suche nach einem wirkungsvollen Ausweg aus diesem politischen Dilemma war langwierig und unbefriedigend, da sich alle vorgeschlagenen Lösungswege und Maßnahmen als problematisch erwiesen. Einig waren die Politiker sich lediglich in der Auffassung, daß die Einführung restriktiver Maßnahmen gegen Flüchtlinge unvermeidlich sei. An den Beratungen nahmen der Premierminister und sein Stab teil, Mitarbeiter verschiedener Ministerien, Militärs, Banschafts- und andere lokale Kräfte sowie die Vertreter der einheimischen und internationalen jüdischen Gemeinschaft und der Öffentlichkeit.5 Zwischen Frühjahr 1938 und Anfang 1941 wurde über unterschiedliche Kategorien von Einwanderern verhandelt. Als solche galten außer „echten“ Flüchtlingen und Emigranten auch „jüdische Touristen“ aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei und den südöstlichen europäischen Nachbarstaaten sowie aus Palästina.6 Die Versorgung (Aufnahme, Unterkunft, Ernährung und finanzielle Unterstützung) der zahlreichen jüdischen Flüchtlinge überließ die Regierung des Königreichs Jugoslawien stillschweigend der kleinen jugoslawischen jüdischen Gemeinschaft. Die jüdische Gemeinschaft in Jugoslawien hatte 1940 nach verschiedenen Schätzungen etwa 80.000 Mitglieder.7 Die Zagreber ashkenasische jüdische Gemeinde war mit ihren 10.000 Mitgliedern in ökonomischer und geographischer Hinsicht am besten für die Aufnahme der Flüchtlinge, die über die österreichischen Grenzen kamen, geeignet. Mit Zustimmung des Zentralorgans der jüdischen Gemeinschaft im Land, Savez Jevrejskih Veroispovednih Opština u Jugoslaviji (Bund der jüdischen religiösen Gemeinden in Jugoslawien; SJVOJ), hatte 1933 die Zagreber ashkenasische jüdische Gemeinde das Lokalni komitet za pomo izbjeglicama iz Njema ke (Lokales Hilfskomitee für die Flüchtlinge aus Deutschland) gegründet, an dessen Spitze Dr. Makso Pscherhof stand.
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Harriet Pass Freidenreich führt in ihrem Buch: The Jews of Yugoslavia. A Quest for Community, Philadelphia 1979, S. 180, an, daß der Savez Jevrejskih Veroispovednih Opština u Jugoslaviji (Bund der jüdischen religiösen Gemeinden in Jugoslawien) und die Zagreber jüdische Gemeinde, die zu einer Art Zentrum für die Flüchtlingshilfe bestimmt wurde, etwa 55.000 jüdischen Flüchtlingen geholfen hätten. Zum Tourismusproblem vgl. Milan Ristovi , Turisti pod sumnjom. O politici Kraljevine Jugoslavije prema jevrejskim izbeglicama 1938-1941, in: Vojnoistorijski glasnik Nr.2, 1998, S. 85-97. Zur Zahl der Juden im Königreich Jugoslawien vgl.: Jaša Romano, Jevreji Jugoslavije 19411945. Žrtve genocida i u esnici Narodno-oslobodila kog rata, Belgrad 1973, S. 13f. Etwa 30.000 Juden gehörten der sephardischen Gemeinde in Serbien, Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Dalmatien an. Die anderen Gemeinden, vor allem in den nördlichen und westlichen Gebieten, waren ashkenasisch.
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Dieses ehrenamtliche Komitee, das von Aleksandar Klein als Sekretär geleitet wurde, arbeitete eng mit Joint und dem HICEM zusammen.8 Während des Jahres 1933 kamen etwa 4.400 und im Jahre 1934 etwa 4.200 Flüchtlinge aus Deutschland.9 In Belgrad wurde 1936 das Centralni komitet za pomo Jevrejima iz Njema ke (Zentrales Hilfskomitee für Juden aus Deutschland) gegründet.10 Während der ersten zwei Jahre sammelte das Zagreber Lokalkomitee eine beträchtliche Summe Spendengelder.11 Bis zum „Anschluß“ Österreichs sank die Zahl der Flüchtlinge, um danach wieder rasch anzusteigen.12 Allein im Jahr 1938 waren 9.100 Flüchtlinge aus Wien und aus dem Burgenland über die Grenzen nach Jugoslawien gekommen. Zusätzliche 2.600 erreichten jugoslawisches Territorium mit Schiffen über die Donau oder das Mittelmeer.13 Trotz aller Bemühungen war es sehr schwer, Existenz und Unterkunft für die Flüchtlinge zu sichern. Das galt sowohl für jene, die nur auf der Durchreise waren, als auch für jene, die sich in Jugoslawien länger aufhalten wollten. Zusammen mit anderen Organisationen bemühten sich der SJVOJ und die „Zionistische Föderation“ (Cionisti ka federacija) Flüchtlingsunterkünfte zur Verfügung zu stellen. Die jugoslawischen jüdischen Organisationen suchten zudem Mittel und Wege, wenigstens provisorische Papiere für eine Aufenthaltserlaubnis für die Flüchtlinge zu bekommen. Die meisten Flüchtlinge wollten weiter nach Palästina. Der große Flüchtlingszustrom aus Österreich, Deutschland und dem Protektorat führte zur Organisation von Auffanglagern, die zwischen 1938 und 1940 3.210 Personen versorgten.14 Die einheimischen jüdischen Organisationen halfen auch jenen Tausenden von Emigranten, die mit gemieteten Schiffen über die Donau zu den montenegrinischen Häfen und von dort über das Mittelmeer nach Palästina zu gelangen versuchten. Anfang Mai 1938 empfing Prinzregent Paul Karadjordjevi in einer Audienz den Vizepräsidenten des SJVOJ, David Albala, der ihn darum bat, im 8
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„HICEM“ wurde 1927 durch die Verbindung mit einigen jüdischen Organisationen für Flüchtlingshilfe bei der Emigration gegründet: „HIAS“ (Hebrew Sheltering and Immigrant Aid Society) mit Sitz in New York, „JCA“ (Jewish Colonization Association) aus Paris und „Emigdirekt“ aus Berlin. Der Name entstand durch die Verbindung der drei Abkürzungen. Pass-Freidenreich, The Jews of Yugoslavia, S. 186. Jevrejski istorijski muzej, Zapisnici sednica Izvršnog odbora SJVOJ (weiter: Zapisnici) 1938, S. 56. Ebd., 1933 und 1934: 1.180.000 Dinar und 21.000 Dollar. Ebd., S. 187. Gabriele Anderl/Walter Manoschek, Gescheiterte Flucht. Der jüdische „Kladovo-Transport“ auf dem Weg nach Palästina 1939-1942, Wien 1993, S. 56. Die Statistik der Flüchtlingsbewegung stellt am vollständigsten vor: Pinkas jevrejskih opština Jugoslavije. Enciklopedija jevrejskih naselja od osnivanja do posle holokausta u Drugom svetskom ratu, Jad Vašem - Memorijalna ustanova za holokaust i herojstvo, Jerusalim 5748-1988, ins Serbische übers. von Eugen Verber, S. 496ff. Das Manuskript der Übersetzung aus dem Hebräischen befindet sich im JIM in Belgrad. Wasserstein, Britain and the Jews of Europe, S. 47.
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Falle der Flüchtlinge zu intervenieren. Wie Albala bezeugte, hatte Prinzregent Paul „ehrliche Symphatie für die jüdische Gemeinschaft in Jugoslawien ausgedrückt, und es auch nicht versäumt, sein Wohlwollen gegenüber dem jüdischen Volk insgesamt und gegenüber der Gründung des jüdischen Staates zu bekunden.“15 Ende Mai besuchte Albala auch den den Juden eher abgeneigten Innenminister Monsignore Anton Korošec, um das Problem einer Gruppe österreichischer Flüchtlinge, die im Aufnahmelager in Podravska Slatina untergebracht worden war, zu lösen.16 Durch seine Interventionen bei den Behörden gelang es dem SJVOJ in einigen Fällen, die Einreiseerlaubnis für Personen, für die keine Bürgschaften und Dokumente existierten, zu erreichen. So auch im Frühling 1938, als die nationalsozialistischen Behörden eine Gruppe von 80 österreichischen Juden ohne irgendwelche Dokumente über die Grenze abgeschoben hatten. Ihre Einreise wurde schließlich nach zweimonatigen Verhandlungen des SJVOJ von Innenminister Korošec genehmigt.17 Mitte September 1938 lenkte der Justizminister Milan Simonovi die Aufmerksamkeit der Führung des SJVOJ auf die steigende Zahl von Eheschließungen zwischen den Flüchtligen und jugoslawischen Staatsbürgern. Sogenannte fiktive Ehen waren eine Möglichkeit, eine Aufenthaltserlaubnis zu erwerben. Der SJVOJ wurde aufgefordert, die jüdischen Gemeinden ausdrücklich vor solchen Eheschließungen zu warnen.18 Nur eine Minderheit der Flüchtlinge konnte geregelte oder zumindest zeitweilige Arbeit in Jugoslawien finden und darauf eine neue Existenz aufbauen. Meist gelang dies nur mit der Unterstützung jugoslawischer Freunde oder Familienmitglieder.19 Am 21. Januar 1938 veranlaßten der rumänische König Carol II. und sein Ministerpräsident Octavian Goga ein „Gesetz zur Überprüfung der Staatsbürgerschaft“. Staatsbürger waren demnach alle, die bereits am 1. Dezember 1918 in Rumänien gelebt hatten oder von solchen Personen abstammten. Dieses Gesetz richtete sich vor allem gegen Menschen, die in Gebieten lebten, 15 16 17 18 19
JIM, Zapisnici, 1938, S. 60. Ebd., S. 63. Ebd., S. 58. Ebd., S. 79. Zahlreiche jüdische Künstler, die das auf einige Monate begrenzte Aufenthaltsrecht nutzten, blieben illegal länger im Land und finanzierten sich, indem sie Konzerte und ähnliches gaben. Ein weiterer Fall waren einige bedeutende jüdische Intellektuelle oder Personen, die in Deutschland in eine andere, „nichtarische“ Kategorie (sogenannte Mischlinge oder Halbjuden) fielen und in Jugoslawien einen Zufluchtsort gefunden hatten. Zum Beispiel der angesehene Philosoph und Pädagoge der Berliner Universität, Arthur Liebert, der von 1933 bis 1939 Professor an der Belgrader Philosophischen Fakultät war. Arthur Liebert redigierte in Belgrad die bekannte Zeitschrift „Philosophia“. Vgl. Danilo Basta, asopis „Philosophia“ i njegov osniva Artur Libert, in: Filozofski godišnjak. Glasnik Instituta za filozofiju Filozofskog fakulteta u Beogradu 5, 1992, S. 202-209. An der Belgrader Universität lehrte auch der bekannte Byzantinist Georgij Ostrogorskij aus Berlin, der aus einer russischjüdischen Familie stammte und nach der russischen Revolution nach Deutschland ausgewandert war.
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die erst nach dem Ersten Weltkrieg an Rumänien gefallen waren. Aufgrund dieses Gesetzes wurde 400.000 Juden die Staatsbürgerschaft aberkannt. Nicht nur in Rumänien wurden sie nun als Fremde behandelt. Für die jugoslawischen Behörden war dieses Gesetz ein Signal, rumänischen Juden ab sofort die Einreise zu verweigern.20 Der Exodus der österreichischen Juden begann bereits im Sommer 1938. In der kurzen Zeit zwischen dem „Anschluß“ Österreichs und dem Kriegsbeginn verließen 80.000 Personen das Land.21 Den Juden aus dem Reich schlossen sich bald auch die Juden aus dem Sudetenland, dem Protektorat und der Slowakei an.22 1939 emigrierten 118.000 Juden aus Böhmen und 26.000 aus Mähren, viele reisten über jugoslawisches Territorium.23 Die jugoslawische Regierung weitete sukzessive die Liste der Länder, aus denen jüdischen Flüchtlingen die Einreise verboten war oder die besonders kontrolliert werden sollten, aus.
II. Die ersten Schritte, die viele europäische Länder zur Eindämmung der Einwanderung unternahmen, waren verschärfte Kontrollen an den Grenzen und eine restriktive Politik bei der Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen oder Transitvisa für jüdische Flüchtlinge. Palästina und die Vereinigten Staaten waren die wichtigsten Ziele der jüdischen Flucht aus Europa. Allerdings waren sie aus zahlreichen politischen Gründen und gesetzlichen Beschränkungen schwer zu erreichen.24 Das britische Colonial Office wehrte 20
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Radu Ioanid, Anti-Semitism and the Treatment of Holocaust in Postcommunist Rumania, in: Randolph L. Braham (Hg.), Anti-Semitism and the Treatment of the Holocaust in Postcommunist Eastern Europe, New York 1994, S. 159-181. Noch 1920 trat in Ungarn der numerus clausus in Kraft und die Politik gegen die große ungarische jüdische Gemeinschaft wurde verschärft; siehe Livia Rotkirchen, Hungary an Asylum for the Refugees of Europe, in: Yad Vashem Studies VII, 1963, S. 127-142. 1941, nach der Einführung des „Dritten Jüdischen Gesetzes“, das eine Kopie der deutschen „Nürnberger Rassegesetze“ war, hatte die gesetzliche Regelung der ungarischen Politik gegen die Juden feste Formen angenommen, ebd., S. 134. Dalia Ofer, Escaping the Holocaust: Illegal Immigration to the Land of Israel, 1939-1944, New York 1990, S. 104f.; Anderl/Manoschek (Hg.), Gescheiterte Flucht, S. 18. Anderl und Manoschek führen an, daß nach dem „Anschluß“ Österreichs 17.000 Personen das Land durch illegale Kanäle in 50 Transporten verließen. Zu dieser Frage gibt es zahlreiche Werke. Informative Synthesen in: Wolfgang Benz (Hg.), Dimension des Völkermords: die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1996, S. 23-65, 67-93, 353-397. Fred Hahn, Anti-Semitism and the Treatment of the Holocaust in Postcommunist Czechoslovakia (The Czech Republik), in: Braham (Hg.), Anti-Semitism, S. 57-78, hier S. 60. Wasserstein, Britain and the Jews of Europe, S.46; Raul Hilberg, Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers, Frankfurt/M. 1994, S. 41f. In seinen Erinnerungen führt Raul Hilberg den Fall seiner Familie an, deren Angehörige in verschiedenen österreichisch-
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sich heftig gegen die jüdischen Einwanderer nach Palästina und in andere Territorien, die unter Verwaltung der britischen Krone standen.25 Die Regierung von Milan Stojadinovi bemühte sich, die Einreise von Juden nach Jugoslawien zu reglementieren, um die guten Beziehungen zu dem faschistischen Italien und seit 1938 zum Dritten Reich nicht zu gefährden.26 Am 4. Januar 1938 äußerte Stojadinovi , daß „die Erfahrung, die wir mit bisherigen Emigranten hatten, nicht die beste ist.“ Daher wolle die Regierung keine weitere „Einwanderung der Juden in unser Land“ ohne Rücksicht auf Herkunft oder Vermögen zulassen.27 Er sprach die Empfehlung aus, in Zukunft keine Einreisevisa für jüdische Flüchtlinge aus Deutschland mehr auszustellen.28 Das jugoslawische Außenministerium hatte am 30. März 1938, gleich nach dem „Anschluß“ Österreichs, streng vertraulich allen Bezirksbehörden verordnet, „die österreichischen Staatsbürger, die direkt aus Österreich oder aus einem anderen Staat in das Königreich Jugoslawien einreisen wollen, nicht in unser Land zu lassen.“29 Als Grund für diese veränderten Einreisebestimmungen wurde „das veränderte Vorgehen gegen die Juden in Österreich, bzw. in Deutschland und Rumänien“ angegeben. 30
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ungarischen Provinzen geboren worden waren. Ohne Rücksicht auf ihre österreichische Staatsbürgerschaft wurden sie von den amerikanischen Behörden wie Einwohner der Länder behandelt, in denen ihre Geburtsorte nun lagen, wodurch bei der Ausstellung der Visa die entsprechenden Quoten auf sie angewandt wurden. In den meisten Fällen wurde eine Bürgschaft von Verwandten oder Freunden gefordet, damit die Neuankömmlinge dem Staat nicht zur Last fielen. Siehe auch Raul Hilberg, Perpetrators, Victims, Bystanders, New York 1992, S. 253. Nach dem Juli 1940 war es für die jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland wegen der strengen Vorschriften fast unmöglich, ein amerikanisches Visum zu bekommen; Wasserstein, Britain and the Jews of Europe, S. 47. Über Milan Stojadinovi s Außenpolitik siehe: Živko Avramovski, Balkanska antanta 19341940, Belgrad 1986, S. 227-294; Dušan Luka , Tre i Rajh i zemlje Jugoisto ne Evrope, I. 1933-1941, Belgrad 1982, passim; Jacob B. Hoptner, Jugoslavija u krizi 1934-1941, Rijeka 1972, passim. Arhiv Jugoslavije (AJ), Poslanstvo Kraljevine Jugoslavije (PKJ) in Stockholm, f. 1/1938, Telegramm des Außenministeriums, streng vertraulich, Nr. 12, an die Botschaft des Königreichs Jugoslawien in Stockholm, 4. Januar 1938. Ebd. Die deutsche Übernahme vieler österreichischer und tschechischer Banken und Unternehmen mit weitverzweigten Geschäftsbereichen verstärkte nicht nur den Einfluß des Dritten Reichs in diesem Segment des Ergänzungswirtschaftsraumes, sondern auch die von außen schwer wahrnehmbaren Maßnahmen der „schleichenden Arisierung“. Juden wurden ohne Rücksicht auf ihre einheimische oder ausländische Staatsbürgerschaft aus allen jugoslawischen Firmen, die zu deutschem Eigentum gemacht worden waren – wie zum Beispiel Opšte jugoslovensko bankarsko društvo (Allgemeiner jugoslawischer Bankenverein) – entlassen und durch „Arier“ ersetzt, ohne daß die jugoslawischen Behörden darauf reagierten. Vesna S. Aleksi , Banka i mo . Socijalno-finansijska istorija Opšteg jugoslovenskog bankarskog društva a.d, 1928-1945, Belgrad 2002, S. 73-92. AJ, PKJ, Teheran, f 3/1938, Innenministerium, Konsular-wirtschaftliche Abteilung, K.P., Nr. 3073-319, Rundschreiben Nr. 31, Inhalt: Die Frage der ausländischen Juden. AJ, PKJ, Stockholm, vertraulich, Nr. 14346/1938.
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Ein Einreisevisum für Jugoslawien konnte den deutschen, österreichischen und rumänischen Staatsbürgern jüdischer Abstammung nur mit Genehmigung des Innenministeriums ausgestellt werden. Der Weg dahin führte über ein Gesuch an die jugoslawischen Vertretungen im Ausland. Vor Ausstellung eines Visums hatten die konsularischen Organe die Pflicht festzustellen, ob für den Antragsteller die Möglichkeit der Rückkehr in sein „Herkunftsland“ bestünde. Dies war bei der Mehrzahl der Juden, die Deutschland und Österreich verlassen hatten, nicht der Fall. Juden mit ausländischer Staatsbürgerschaft, die einen festen Wohnsitz im Königreich Jugoslawien besaßen und die den Staat aus geschäftlichen oder persönlichen Gründen verlassen hatten, wurde die Rückkehr erlaubt. Auch sollte Juden mit einer Staatsbürgerschaft von Staaten, mit denen das Königreich Jugoslawien „Handelsverträge hatte, außer Österreich, Deutschland und Rumänien“, erlaubt werden, das Land mit gültigem Visum zu betreten. Voraussetzung war eine Einreise aus geschäftlichen Gründen, ohne die Absicht sich anzusiedeln.31 Diese Verordnung bezog sich auch auf Juden, die Jugoslawien als Touristen oder wegen einer ärztlichen Behandlung bereisten. Die Polizeibehörden wurden angewiesen, An- und Abmeldungen dieser Personen besonders zu kontrollieren und diejenigen, die länger blieben, gegebenenfalls auszuweisen. Im Nachsatz des Schreibens heißt es, daß „Juden, die unsere Staatsbürger sind, den völligen Schutz unserer Behörden genießen. Die genannten Beschränkungen beziehen sich nicht auf sie.“32 Neue Erklärungen zu den Visabestimmungen folgten am 12. Juli 1938. Das Innenministerium legte fest, daß die Beschränkungen bei der Visavergabe an Juden mit ausländischer Staatsbürgerschaft nicht auf die Ausstellung von Transitvisa zu übertragen seien. Transitvisa, so das Innenministerium, könnten „die königlichen Vertretungen auch in Zukunft unbegrenzt ausstellen, allerdings unter der Bedingung, daß der Antragsteller ein gültiges Visum des Einreisestaates vorlegen kann.“33 Dem Innenministerium war im Interesse der Kontrolle der Transitreisenden daran gelegen, daß die konsularischen Vertretungen die Grenzbehörden über die ausgestellten Visa sofort informierten bzw. „wenigstens den Ort der Ein- und Ausreise auf dem Visum“ festhielten.34 Eine wesentliche Rolle bei der Visapolitik spielten die jugoslawischen staatlichen und privaten Reisebüros, die Schiffahrtsgesellschaften und die Touristenvereinigungen vor allem in Dalmatien, aber auch in vielen Kurorten, die in den zahlreichen unglücklichen „Reisenden“ und „Touristen“ aus Mittel31
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AJ, Innenministerium, 14-33-101, 840, Kraljevska Banska Uprava Dravske Banovine (Königliche Banschaftsverwaltung der Dravskaer Banschaft) an die Abteilung für Staatsschutz, 23. März 1939, Ljubljana, vertraulich II /2, Nr. 2402/1. Ebd. AJ, PKJ, Teheran, f 3/1938, Außenministerium, Konsular-wirtschaftliche Abteilung, K.P., Nr. 7202-319, Rundschreiben Nr. 72, Inhalt: Die Ausstellung der Transitvisa an Juden, Belgrad, 12. Juli 1938. Ebd.
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europa ein gutes Geschäft witterten, das auch in staatlichem Interesse ausgenutzt werden sollte.35 Am 21. Februar 1939 fand in Belgrad eine Besprechung der höheren Beamten des Innen- und Außenministeriums sowie der Abteilung für Tourismus des Ministeriums für Handel und Industrie statt. Der Vertreter des Innenministeriums forderte weiterhin eine restriktive Visapolitik gegenüber den ausländischen Juden. Er behauptete, daß die Juden unter verschiedenen Vorwänden nach Jugoslawien kämen, um sich dort niederzulassen, und erklärte, daß „auch hier, wie in allen anderen Ländern der Antisemitismus sein Haupt erheben wird, falls wir die jüdischen Emigranten ins Land lassen.“ Bei der Schilderung dieses Szenarios benutzte er das begriffliche Arsenal des Antisemitismus. Er erklärte, daß sein Ministerium „jeden Tag und aus allen Teilen des Landes“ Briefe von Geschäftsleuten bekäme, die sich über die Konkurrenz der jüdischen Ausländer beschwerten. Die Juden nähmen den Einheimischen die Arbeitsplätze weg. Darüber hinaus beschuldigte er die Mehrzahl der Juden des Devisenschmuggels. Außerdem stellte er die Frage, ob man für die jüdischen Touristen „die Deutschen und die Tschechen opfern sollte?“36 Sowohl die Vertreter des Außenministeriums als auch die der Abteilung für Tourismus argumentierten demgegenüber, daß man nicht in jedem Juden einen Feind Jugoslawiens sehen dürfe. Eine liberale Einreisepolitik liege nicht zuletzt auch im Interesse des Staates. Der Interessenkonflikt zwischen Innenministerium und Tourismusverbänden zeigte sich deutlich während des Jahres 1939. So gingen bei der Banschaftsverwaltung in Zagreb und bei der Regierung in Belgrad Beschwerden über die Verminderung der Besucherzahlen in den Küstenorten und Seebädern ein. Als Grund dafür wurden die neuen Einreisekontrollen und die restriktive Visapolitik, vor allem den jüdischen Gästen gegenüber, angegeben. Im Dezember 1939 lenkte die Združenje gostinskih podjetnikov na Bledu (Vereinigung der Tourismusunternehmer am Bleder See) die Aufmerksamkeit auf die für die Tourismusbranche desaströsen Resultate dieser Politik und führte dabei auch Beispiele für die absurde Vergabepraxis und die Schikanen von Seiten der Konsular- und Grenzbehörden an.37 Während der Saison 1938 hatten 1.600 Gäste aus Ungarn – „meist Juden“, die vorher in Österreich den Sommer verbracht hatten, – Ferien am Bleder See gemacht. Sie galten als „gute Gäste mit gesunder Valuta.“ Ebenso gerne gesehen waren auch Gäste aus der Levante – aus Syrien, Ägypten, Palästina und der Türkei –, die in den 35
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AJ, Innenministerium, 14-33-101-910, Dossier: Touristische und andere Visa - meist Juden aus verschiedenen Staaten, 1922-1941. Interministerielle Konferenzen der Konsular- und Wirtschaftsabteilung des Außenministeriums, Februar 1939. Ebd. AJ, Innenministerium, 14-33-101, 822, Združenje gostinskih podjetnikov na Bledu (Vereinigung der Tourismusunternehmer am Bleder See) an die Banschaftsverwaltung, Bled, 3. Dezember 1939.
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letzten Jahren in immer größerer Zahl gekommen waren und die, laut den Tourismusverbänden, „fast immer ausschließlich Juden waren.“ Ähnlich stellte sich die Situation auch bei Gästen aus anderen Ländern dar – „außer bei den Deutschen.“ Die Branche rechnete damit, daß Tausende jüdischer Emigranten aus dem Dritten Reich sich als potentielle Badegäste erweisen würden und diese Gäste dem Urlaubsland Jugoslawien den Vorzug vor Italien oder der Schweiz geben würden, bis sich die Gelegenheit zur Abfahrt nach Palästina bzw. in die verschiedenen überseeischen Einreiseländer bot.38 Gegen die restriktive Haltung des Innenministeriums konnte sich diese Ansicht jedoch nicht durchsetzen.39 Das Innenministerium beharrte auch auf der zweiten Ministerkonferenz am 21. März 1939 auf der Ansicht, daß die jüdischen Touristen und Transitreisenden eine Gefahr für den Staat darstellten. Ihr Aufenthalt im Land bringe dem Staat „nur kurzfristigen Nutzen.“ Auf lange Sicht würden die Einkünfte aus dem Tourismus wesentlich sinken, „weil wir zweifellos Gäste aus Deutschland, die schon im letzten Jahr wegen der zahlreichen Juden in unseren Urlaubsorten protestiert hatten, verlieren werden.“ Auf Intervention des Innenministeriums blieb es bei der restriktiven Einreisepolitik gegenüber den Juden.40 Mitte Juli 1938 lenkte die Abteilung für Staatsschutz des Innenministeriums die Aufmerksamkeit des Außenministeriums auf Regelverstöße bei der Einreisekontrolle jüdischer Ausländer.41 Dem Innenministerium wurde daraufhin vorgeschlagen, die Verweigerung der Einreiseerlaubnis in Verbindung mit den jeweiligen Personen allen Banschaftsverwaltungen und der Belgrader Stadtverwaltung verbindlich zu übermitteln. Darüber werde dann besonders Buch geführt, so daß „die ministeriale Entscheidung gleich nach der Meldung eines zugereisten jüdischen Ausländers bekannt sei und gegebenenfalls eine Ausweisung der betreffenden Person in die Wege geleitet werden könne.“42 Auch bei anderer Gelegenheit lenkte die Banschaftsverwaltung in Zagreb die Aufmerksamkeit auf Regelverstöße bei der Einreise jüdischer Deutscher oder Österreicher, die in anderen europäischen Ländern lebten. Die Grenzpolizei im kroatischen Koprivnica berichtete, daß sie einige deutsche Juden beim Versuch der Einreise aufgehalten habe, um sie mit dem ersten Zug nach Ungarn zurückzuschicken. Wieder in Budapest beantragten sie Einreisevisa in der jugoslawischen Vertretung. Das jugoslawische Konsulat stellte die 38
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AJ, Innenministerium, 14-33-101, 840, Kraljevska Banska Uprava Dravske Banovine (Königliche Banschaftsverwaltung der Dravskaer Banschaft) an die Abteilung für Staatsschutz, 23. März 1939, Ljubljana, vertraulich II /2, Nr. 2402/1. Ebd. AJ, Innenministerium, 14-33-101-837, Referat der interministeriellen Konferenz im Außenministerium vom 21. März 1939. AJ, PKJ, Teheran, f 3/1938, Außenministerium, Konsular-wirtschaftliche Abteilung, K.P., Nr. 7459-319, Rundschreiben Nr. 73, Inhalt: Mißachtungen der Vorschriften bei der Einreise der Juden in unser Land, Belgrad, 16. Juli 1938. Ebd.
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beantragten Einreisevisa mit der Bemerkung aus, daß sie „auf Intervention der deutschen Vertretung [sic] genehmigt werden, da die Antragsteller Kreditbriefe für Jugoslawien, versehen mit einem Aufenthaltsrecht von 30 Tagen, bei sich trugen.“43 Vom 6. bis zum 15. Juli 193844 fand zudem die Konferenz in Evian statt, die als Sieg der Verhältnisse, die die Nationalsozialisten eingeführt hatten, und zugleich als weitere diplomatische Niederlage der westlichen Länder angesehen werden kann. Evian gilt auch als zusätzlicher Antrieb für die Verschärfung der restiktiven Politik in jenen Ländern, die, wie das Königreich Jugoslawien, von der Flüchtlingsproblematik betroffen waren. Die Konferenz in Evian zeigte, daß weder in Europa noch auf der anderen Seite des Atlantiks ausreichend politischer Wille und moralische Kraft vorhanden waren, um eine Lösung für die immer größer werdende Gruppe von Menschen, die in die Flucht getrieben wurde, zu finden. Im August 1938 hatten die jugoslawischen Behörden bemerkt, daß einige „Juden aus Palästina mit palästinensischem/englischem Reisepaß“ in Belgrad eingereist waren. In allen Fällen ging es um ehemalige österreichische oder deutsche Staatsbürger, die nach Palästina ausgewandert waren. Sie besaßen Transitvisa der jugoslawischen Auslandsvertretungen und versuchten, sich mit deren Hilfe „unter verschiedenen Vorwänden“ in Jugoslawien aufzuhalten. Das Außenministerium wies daraufhin die Konsularabteilungen an, aus Palästina kommenden Juden zukünftig keine Einreisevisa mehr „ohne besondere Genehmigung des Innenministeriums“ auszustellen. Es ist davon auszugehen, daß diese Juden aus Palästina entweder Vertreter jüdischer Organisationen oder Familienangehörige von Flüchtlingen aus Deutschland oder Österreich waren, die für die Flüchtlingshilfe oder illegale Emigranten engagiert worden waren.45 Im Sommer 1938 änderte sich auch die italienische Politik gegenüber den Juden. Die faschistische antijüdische Gesetzgebung begann am 17. November 1938 mit dem Erlaß des königlichen Dekrets „über den Schutz der italienischen Rasse.“46 Diese Wendung des faschistischen Italiens hin zum Antisemitismus wirkte sich auch auf die Verabschiedung neuer Vorschriften gegenüber Juden mit ausländischer Staatsbürgerschaft in Jugoslawien aus. 43 44
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AJ PKJ Teheran, f 3/1939, Außenministerium, Konsular-wirtschaftliche Abteilung, K.P., Nr. 8097-319, Rundschreiben Nr. 77, Inhalt: Der legale Versuch der Einreise in unser Land. Susanne Heim, „Deutschland muß ihnen ein Land ohne Zukunft sein“. Die Zwangsemigration der Juden 1933 bis 1938, in: Arbeitsemigration und Flucht. Vertreibung und Arbeitskräfteregulierung im Zwischenkriegseuropa, in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik 11, Berlin/Göttingen 1993, S. 48-81. AJ, PKJ, Teheran, Außenministerium, Konsular-wirtschaftliche Abteilung, K.P., Nr. 9100319, Rundschreiben Nr. 88, Inhalt: Juden aus Palästina – Ausreise und Aufenthalt, Belgrad, 18. August 1938. Ernst Nolte, Fašizam u svojoj epohi, Belgrad 1990, S. 242f. (dt. Fassung: Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, 5. Aufl., München 2000).
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Schon am 17. August 1938 gab das Innenministerium bekannt, daß die italienischen Behörden „viele Juden, die ausländische Staatsbürger sind, zur Ausreise aus Italien innerhalb einer bestimmter Frist“ auffordern und daß erwartet werde, daß „die Mehrheit dieser Juden versuchen würde, nach Jugoslawien zu kommen.“47 „Um die obengenannten Fällen zu vermeiden“, wurde allen diplomatischen Vertretungen empfohlen, die bereits festgelegten Vorschriften über die Einreise jüdischer Flüchtlinge streng zu befolgen. Die neue Situation in Italien bedeutete die Vervollständigung einer antijüdischen „gesetzlichen Mauer“, welche die nördlichen und westlichen Grenzen Jugoslawiens umgab. Innerhalb weniger Wochen waren alle Juden, die italienische Staatsbürger waren, ebenso wie diejenigen Juden mit ausländischer Staatsbürgerschaft, die in Italien lebten, von der neuen Politik betroffen. Die Kettenreaktion antijüdischer Gesetzgebung in den europäischen Ländern setzte sich auch in der Verschärfung der restriktiven Politik der jugoslawischen Regierung gegenüber den Juden, die mit Reisepässen aus diesen Ländern ausgestattet waren, fort.48 Bald betrafen die Maßnahmen auch Juden aus Polen, dem Land mit der zahlreichsten jüdischen Bevölkerung. Am 5. Semptember 1938 verlangte das Außenministerium von der konsularischen Vertretung in Warschau, keine Einreisevisa für jüdische polnische Staatsbürger ohne besondere Genehmigung des Belgrader Innenministeriums auszustellen, „weil sie – mit Rücksicht auf das neue polnische Staatsbürgerschaftsgesetz – nicht wieder nach Polen ausgewiesen werden können.“49 Zusätzlich forderte das Außenministerium am 23. September 1938 „unter Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeit, daß sowohl tschechoslowakische Juden als auch ehemalige österreichische und deutsche Staatsbürger jüdischer Abstammung aus dem Sudetenland infolge der politischen Veränderungen versuchen werden, in unser Land zu kommen“, daß seine Konsularabteilungen Maßnahmen treffen sollten, um diese Juden ohne vorherige besondere Genehmigung des Innenministeriums an der Einreise und Ansiedlung im Königreich Jugoslawien zu hindern.50 Außerdem wurde darauf hingewiesen, daß „in letzter Zeit […] zahlreiche ungarische und tschechische Juden“ nach Jugoslawien eingereist seien. Vor allem ungarische Juden waren mit gewöhnlichen Touristenvisa für den Aufenthalt an der Adriaküste eingereist, dort aber nie angekommen, „sondern 47
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AJ, PKJ, Teheran. f 3/1938, Außenministerium, Konsular-wirtschaftliche Abteilung, K.P., Nr. 9043-319, Rundschreiben Nr. 86, Inhalt: Einreise der Juden aus Italien, Belgrad, 17. August 1938. AJ, PKJ, Teheran, Außenministerium, Konsular-wirtschaftliche Abteilung, K.P., Nr. 19287319, Rundschreiben Nr. 96, 17. September 1938. Ebd., K.P., Nr. 9856-319, Rundschreiben Nr. 96, Inhalt: Ausstellung der Einreisevisa für die polnischen Juden, Belgrad, 5. September 1938. Ebd., K.P., Nr. 11288-319, Rundschreiben Nr. 111, Inhalt: Die Frage der Sudeten-Juden, 1. Oktober 1938.
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hatten sich im gesamten Staatsgebiet verteilt.“51 Wieder forderte das Außenministerium stärkere Kontrollen und außerdem, „ausländischen Juden nur ausnahmweise Einreise- oder Transitvisa auszustellen.“ Darüber hinaus wurde der Vorschlag gemacht, den Hinweis auf die Pflicht, sich innerhalb von 24 Stunden persönlich bei den lokalen Polizeibehörden anzumelden, jedem Visum direkt beizulegen.52 Einiges deutet darauf hin, daß die jugoslawischen Behörden während des Jahres 1938 zu einer drastischen Demonstration ihrer Entschlossenheit gegenüber jüdischen Flüchtlingen neigten. Am 28. Mai 1938 wies das Außenministerium in einem Rundbrief alle Auslandsvertretungen an, „auf keinen Fall ein Einreisevisum für Edmond Schechter aus Wien auszustellen, der sich im Exil in Paris befindet und der nach Jugoslawien einreisen will, um hier neo-zionistische Organisationen ins Leben zu rufen.“53 In einigen ähnlichen Rundbriefen aus dem gleichen Jahr wurden weitere Namen von Personen jüdischer Abstammung, meist aus Österreich, angeführt, für die kein Einreisevisum nach Jugoslawien ausgestellt werden sollte.54 Außerdem kam es zu Ausweisungen. So wurde Ende November der Kaufmann Leon Vajdman, polnischer Staatsbürger, wegen angeblicher Teilnahme an einer antideutschen Demonstration in Sušak aus Jugoslawien ausgewiesen.55 Dieses Verhalten spiegelte den Wunsch der Regierung wider, von den nationalsozialistischen Nachbarn als konsequent und durchsetzungsstark gegenüber Personen, welche die „deutschen Interessen gefährden“, wahrgenommen zu werden. Ab Anfang Oktober 1938 wurden die Pässe jener deutschen Staatsbürger, die nach den nationalsozialistischen Rassegesetzen als jüdisch galten, mit einem „J“ für „Jude“ versehen. Außerdem wurden im Oktober 17.000 jüdische polnische Staatsbürger, die einen ständigen Wohnsitz im Deutschen Reich hatten,56 ausgewiesen. Dieser Krise folgte einerseits eine große Flüchtlingswelle und andererseits das Pariser Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst von Rath, das wiederum zum Anlaß für die überall im Reich organisierten Pogrome in der Nacht vom 9. und 10. November genommen wurde.57 51
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AJ, PKJ, Teheran, Außenministerium, Konsular-wirtschaftliche Abteilung, K.P., Nr. 11352319, Rundschreiben Nr. 110, Inhalt: Die ungarischen Juden – die Einreise in unser Land, 1. Oktober 1938. Ebd. AJ, PKJ in Teheran, f 3/1938, K.P., Nr. 4858-317, Rundschreiben des Vorstands der Konsular-wirtschaftlichen Abteilung des Außenministeriums, Nr. 57, 18. Mai 1938. Ebd., K.P., Nr. 5607, Rundschreiben des Außenministeriums, Nr. 62, 6. Juni 1938. Anweisung, das Visum für Schirmer Samuel und für Kasztl Emerich nicht auszustellen; Ebd., K.P., Nr. 6818, Rundschreiben des Außenministeriums, Nr. 69, 4. Juli 1938, für Balog Julij, geboren in Wien 1883; für den in Paris lebenden Eugene Gerö, geboren 1888 in Orade/Rumänien; Ebd., K.P., Nr. 9364-317, 25. August 1938, für Klaus Edgar, ehemaliger deutscher Staatsbürger aus Riga. Ebd., Nr. 13926-397, Rundschreiben des Außenministeriums, Nr. 237, 30. November 1938. Frank Golcewski, Polen, in: Benz (Hg.), Dimension des Völkermords, S. 417. Über die jüdische Emigration aus Deutschland siehe: Brita Eckert (Hg.), Die jüdische Emigration aus Deutschland 1933-1941, Die Geschichte einer Austreibung, Frankfurt/M. 1985.
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Nach dem schon gängigen Mechanismus führte diese Situation bei der jugoslawischen Regierung zu einer erneuten Verschärfung ihrer Vorschriften. Das Außenministerium übermittelte dem Innenministerium bereits am 14. November 1938 eine Stellungnahme zur veränderten Situation und die daraus resultierenden Maßnahmen in bezug auf eine neue jüdische Einreisewelle. Dabei glichen die Maßnahmen der jugoslawischen Regierung denen in den anderen europäischen Staaten, die in dieser Phase Durchgangsstation oder Zufluchtsort für Tausende von jüdischen Flüchtlingen waren. Das Schreiben gab der Ansicht Ausdruck, daß die Ereignisse, die auf das Pariser Attentat auf Ernst von Rath folgten, die Intensität der jüdischen Fluchtbewegung nach Jugoslawien verstärken werde.58 Deswegen gelte es, die Anträge auf Einreise- oder Transitvisa besonders streng zu kontrollieren und sie jüdischen Antragstellern zu verweigern.59 Am 1. Dezember 1938 entschied die Regierung über diese Änderung. Damit konnte für Juden aus Deutschland, Polen, Rumänien, Italien, Österreich, der Tschechoslowakei und Palästina weder ein Einreise- noch ein Transitvisum ohne besondere Genehmigung des Innenministeriums bzw. der Abteilung für Staatsschutz ausgestellt werden. Für Juden aus Ungarn, Griechenland und Bulgarien konnten Einreise- oder Transitvisa nur mit Genehmigung des Chefs der jugoslawischen diplomatischen Mission oder seines Stellvertreters ausgestellt werden, „wenn der Betreffende sich vergewissert, daß der Jude, dem er das Visum ausstellt, sich nach Ablauf der Frist, die auf dem Visum deutlich angegeben sein muß und die nicht mehr als EINUNDZWANZIG60 Tage betragen darf, nicht länger in Jugoslawien aufhalten wird.“ Die diplomatische Vertretung war verpflichtet, die Polizeibehörden oder den zuständigen Bezirksvorstand 48 Stunden vor Inkrafttreten des Visums über den Ort und die Dauer des Aufenthalts zu informieren und zu versichern, daß die Aufenthaltsdauer nicht verlängert werde. Für Juden aus Bulgarien, Ungarn und Griechenland durfte ein Transitvisum ausgestellt werden, wenn festgestellt wurde, daß sie für das Land, in das sie reisten, das erforderliche Einreisevisum besaßen. Diese Kategorie Reisender konnte das Visum längstens für zwei Monate und nur für einen Aufenthaltsort erhalten.61 Es wurde für die Behandlung von „Juden, die Staatsbürger solcher Länder waren, in denen es weder antisemitische Aktionen noch andere Einschränkungen gab“, darauf hingewiesen, daß „sowohl Einreise- als auch
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Die erste Welle der jüdischen Flüchtlinge bestand 1933 aus 37.000 Personen und danach jährlich bis 1938 aus zwischen 21.000 und 25.000 Personen. 1938 stieg die Zahl wieder auf 40.000 und 1939 auf 78.000 Personen, siehe: Arndt/Boberach, Deutschland, in: Benz (Hg.), Dimension des Völkermords, S. 34. AJ, PKJ, Teheran, K.P., Nr. 13247-319, Rundschreiben Nr. 126, Inhalt: Die deutschen Juden und das Verbot der Ausstellung eines Visums, 14. November 1938. Ebd. Ebd., Hervorhebung im Original. Ebd.
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Transitvisa ohne irgendwelche Einschränkungen“ ausgestellt werden könnten. Allerdings wurden die Botschafter aufgefordert, „alle politischen Veränderungen, die in den Ländern, in denen sie akkreditiert sind, durch die antisemitische Bewegung ausgelöst werden, zu melden.“62
III. Anfang 1939 hatten diese Maßnahmen die Aufmerksamkeit der ausländischen diplomatischen Vertreter im Königreich und die der internationalen jüdischen Organisationen auf die jugoslawische Politik gegenüber den Juden gelenkt. Die britische Botschaft hatte ihrer Regierung zwei vertrauliche Berichte über die vorgeschlagenen antijüdischen Maßnahmen weitergeleitet.63 Der Premierund Außenminister Milan Stojadinovi verteidigte in einem Interview mit der Pariser Zeitung Petit Parisien vom 23. Januar 1939, das auch in der jugoslawischen Presse veröffentlicht wurde, die Politik seiner Regierung.64 Er verwarf die Behauptung, daß irgendwelche besonderen Maßnahmen gegen jugoslawische Juden existierten. Die 80.000 jugoslawischen Staatsbürger jüdischer Herkunft seien ganz im Gegenteil vollständig gleichberechtigt. Die restriktive Visa-Politik rechtfertigte er mit der Bemerkung, daß der noch junge Staat Jugoslawien „keine über Jahrzehnte angesparten Ressourcen hätte, um zusätzlich zu allen anderen Ausgaben auch die Lasten für die große Zahl von Flüchtlingen zu übernehmen, die kaum ein Staat in solchem Maße tragen könne.“ Daher habe die Regierung gleichzeitig mit den politischen Änderungen in Mitteleuropa klarmachen müssen, daß Jugoslawien nicht als Einwanderungsland in Frage käme. Außerdem behauptete er, daß auch die jugoslawischen Juden gegen die Aufnahme jüdischer Flüchtige eingestellt seien, damit sich ein Antisemitismus, wie er in Jugoslawien bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht existiere, nicht durch die Flüchtlingsproblematik herausbilde. Weiter führte Stojadinovi aus, daß die Regierung, obwohl sie mit zahlreichen Emigranten an den westlichen Grenzen konfrontiert sei, keine besonderen Maßnahmen „zur Ausweisung oder zum Verbot der Einreise ins Land getroffen“ habe. Sie habe lediglich dafür Sorge getragen, daß temporäre Einreise- oder Transitvisa, die eigentlich für die weitere Reise nach Amerika gedacht waren, nicht zum dauerhaften Aufenthalt genutzt würden. 62 63 64
Ebd. PRO FO 371, 23740, Political, Southern General, Jews in the Balkans, R 469/214, General, Yugoslavia and the Jews, 19. Januar 1939. Politika, 24.1.1939. In einem seiner Berichte von Anfang Februar 1939 lenkte auch der britische Gesandte in Belgrad, Ronald Campbell, die Aufmerksamkeit auf Stojadinovi s Erklärungen in der französischen Zeitung. PRO FO 371, 237-40, Political Southern, General. Jews in Balkans, R 783/214/67, General, R. Campbell to FO, Jews in Yugoslavia, 2. Februar 1939.
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Stojadinovi zog die Schlußfolgerung, daß die restriktive Einreisepolitk nicht antisemitisch motiviert gewesen sei und daß es keine Änderungen der Politik gegenüber den jugoslawischen Juden geben werde, solange sie „ihre Loyalität so beweisen, wie es bei den Belgrader Juden immer der Fall war.65 Die Verschlechterung der Lage der Juden in fast allen europäischen Staaten löste auch bei den jugoslawischen Juden Zukunftsängste aus. Sie wurden durch immer häufiger auftretende Anzeichen von Antisemitismus verstärkt. Bemerkbar war dieser Stimmungswechsel besonders in den westlichen Teilen des Staates, vor allem in Kroatien. Geistige Brandstifter waren politische Organisationen der extremen nationalistischen, rassistischen und klerikalen Rechten.66 Einige antijüdische Ausfälle waren vor allem in Bosnien und Hercegovina von wirtschaftlicher Konkurrenz motiviert und gegen jüdische Geschäftsleute gerichtet. Rechte Presseorgane, wie z.B. die Blätter der deutschen Minderheit und der profaschistischen Zbor-Bewegung, veröffentlichten antijüdische Pamphlete. Aber die Beziehungen des Staates zur jüdischen Gemeinde galten ingesamt als gut. Die Behörden zeigten sich gegenüber den Forderungen der jüdischen Gemeindevertreter, Verleger und Autoren antijüdischer Schriften zu bestrafen und die gesetzlich garantierte Gleichberechtigung mit allen Mitteln zu gewährleisten, entgegenkommend. In den meisten Fällen blieb es aber bei Versprechungen.67 Ende 1938 kam ein Bericht der britischen Botschaft in Belgrad zu dem Ergebnis, daß in der breiten jugoslawischen Öffentlichkeit keine antisemitische Stimmung existiere. Allerdings zeigte die jugoslawische Regierung vor allem unter dem Einfluß des Innenministers Anton Korošec antisemitische Tendenzen.68 Besonders negativ fiel bei der Bewertung ins Gewicht, daß die jugoslawische Regierung es in einigen Fällen abgelehnt hatte, die Aufenthaltserlaubnis für ausländische Juden, die bei britischen Unternehmen beschäftigt waren, zu verlängern. Die Interventionen der Botschaft halfen nicht. Die jugoslawische Regierung erklärte, daß britische Interessen „auch von britischen oder jugoslawischen Bürgern gut vertreten werden können.“ Die britische Botschaft kam zu der Schlußfolgerung, daß das Innenministerium versuche, die Zahl der Juden, die sich zeitweilig in Jugoslawien aufhielten, stufenweise zu reduzieren.69
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Politika, 24.1.1939. An der medizinischen Fakultät der Universität Zagreb wurde noch 1940 nach dem ungarischen Modell versucht, einen numerus clausus für die „einheimischen Juden“ einzuführen und alle „ausländische Juden“ aus der Fakultät auszuschließen. Ivo Goldstein, Holokaust u Zagrebu, Zagreb 2001, S. 31-65. Ebd., S. 184. Über die antisemitischen und philosemitischen Publikationen in Belgrad, siehe: Nataša Djuka, Antisemitizam i kritika antisemitizma u beogradskim brošurama, in: Godišnjak za društvenu istoriju 1, 1994, S. 283-300. Živko Avramovski, Britanci o Kraljevini Jugoslaviji: godišnji izveštaji Britanskog poslanstva u Beogradu 1921-1938, Belgrad/Zagreb 1986, S. 683. Ebd.
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Im Jahresbericht der Botschaft für das Jahr 1939 hieß es, daß „die jugoslawische Regierung jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland, Österreich oder aus anderen Ländern den Aufenthalt in Jugoslawien verweigert hatte.“ Die jugoslawische Regierung hatte auf Anfrage des Hohen Kommissars für Flüchtlingsfragen beim Völkerbund, die durch Vermittlung der britischen Botschaft zugestellt wurde, „klar gesagt, daß sie ihre Position auf keinen Fall ändern wird […] und daß sowohl der Premier- als auch der Innenminister die Ausweitung der jüdischen Immigration mit allen Mitteln verhindern werde.“70 Im April 1939 reiste der Rabbiner Maurice L. Perlzweig als Vorsitzender der britischen Abteilung des World Jewish Congress und eine der führenden Persönlichkeiten der Jewish Agency for Palestine nach Jugoslawien und Rumänien.71 Nach dem Scheitern der Londoner Palästina-Konferenz (St.James-Konferenz) im Februar und März 1939, welche die europäischen Juden ausgerechnet in dem Moment, als der Antisemitismus in Europa einen neuen Höhepunkt erreichte und die Existenz der jüdischen Gemeinschaften bedrohte, einer der letzten Hoffnungen beraubte, sah er es als seine Aufgabe an, die jüdischen Gemeinden wieder aufzurichten.72 Auf dieser Reise, die ihn unter anderem nach Zagreb führte, wurde er auch vom neuen jugoslawischen Premierminister Dragiša Cvetkovi empfangen.73 Nach seiner Rückkehr nach Großbritannien berichtete er, daß die jugoslawische Regierung ihre Bereitschaft zum Schutz ihrer jüdischen Staatsbürger gezeigt habe. Demgegenüber habe die rumänische Regierung durch die Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts die Lage der jüdischen Gemeinschaft weiter verschärft. Rumänien versuche, die Zahl der Juden zu vermindern, indem es vielen Juden die Staatsbürgerschaft verweigere und sie daraufhin des Landes verwies.74 In den nächsten Monaten zeigte sich jedoch, daß auch die jugoslawische Regierung ihre jüdischen Staatsbürger diskriminierte. Ende Juni 1939 besuchte auch der Hohe Kommissar für Flüchtlingsfragen des Völkerbunds, Sir Herbert Emerson, Jugoslawien. Er sprach in Belgrad mit führenden Personen des SJVOJ, mit dem Präsidenten Friedrich Pops, dem 70
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Ebd. Antijüdische Ausfälle fanden Anfang 1939 auch in Bulgarien statt. In Sofia wurden Demonstrationen unter dem Slogan „kauft nicht von Juden“ durchgeführt. Die Vertreter der staatlichen Organe wehrten sich gegen diese Ausfälle und verurteilten sie, vertrieben aber dennoch Juden mit ausländischer Staatsbürgerschaft. Die Regierung Bogdan Filipovs wies während des Jahres 1940 Hunderte von Juden mit ausländischer Staatsbürgerschaft in die Türkei aus. Am 23. Mai 1939 sagte der bulgarische Präsident dem britischen Botschafter in Sofia, daß 4.000 bis 5.000 ausländische Juden „gebeten werden wegzugehen“. Frederic C. Chary, Anti-Semitism and Treatment of the Holocaust in Postcommunist Bulgaria, in: Braham (Hg.), Antisemitsm, S. 31-55, hier S. 36; PRO FO, R 1114/21/67, General, Chancery to Southern Department, 10. Februar 1939; Ebd., R 2144/214/67, Rendel from Sofia to FO, 23. März 1939. PRO FO 371, 23740, Jews, S. 110, Visit of the Rev. M. L. Perlzweig, confidential, April 1939. Ebd. JIM, Zapisnici, 1939, S. 66. Pass-Freidenreich,The Jews of Yugoslavia, S. 183.
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Oberrabbiner Isak Alkalaj und mit Simo Špicer. Die Vertreter des SJVOJ waren mit seinem Besuch unzufrieden, weil der Kommissar über „Auskünfte verfügte, die nicht der Realität entsprachen”. Negativ vermerkt wurde auch, daß er „in Bezug auf die Situation der Juden, die zwar ausländische Staatsbürger waren, von denen aber viele bereits seit 25 Jahre in Jugoslawien lebten, eine Position vertrat, die keine große Hoffnung auf Linderung der Probleme dieser armen Menschen zuließ.”75 Die Erlasse zur Ausweisung ausländischer Juden erstreckten sich eben auch auf solche, die bereits vor 1933 nach Jugoslawien gekommen waren. Der Sekretär der Zagreber jüdischen Gemeinde, Aleksandar Klein, bemühte sich in Rijeka (Fiume) und Triest um Ausnahmegenehmigungen für solche Fälle. Dazu erbat er die Hilfe des Vertreters des HICEM. Sowohl das HICEM als auch die jugoslawische Regierung betrachteten aber diese Juden nicht als Flüchtlinge, deshalb hatten sie auch kein Anrecht auf Hilfe.76 Etwa einen Monat nach Kriegsbeginn verbreitete die deutsche Regierung mit Hilfe amerikanischer Vermittler die Nachricht, das Deutsche Reich wolle die Politik der forcierten Auswanderung der Juden noch verstärken.77 Das einträgliche Geschäft mit dem Transport von Tausenden von Ausreisenden sollte die italienische staatliche Agentur CIT teilweise übernehmen, aber auch Agenturen aus neutralen Ländern verdienten mit. Priorität bei der Auswanderung hatten die Juden, die auf dem Territorium des Dritten Reiches lebten. Daraufhin schlug Adolf Eichmann vor, nur eine begrenzte Zahl von Transitvisa z.B. für die ungarischen Juden auszustellen, die über deutsches Territorium ausreisen wollten. Für Juden aus den besetzten Gebieten in Belgien und Frankreich war die Emigration verboten.78 Deswegen waren unter den Flüchtlingen, die in Jugoslawien ankamen, meist deutsche, österreichische und tschechische Juden. 79 Ende November lenkte ein Vertreter des staatlichen touristischen Büros des Königreichs Jugoslawien die Aufmerksamkeit seiner Regierung auf den Konkurrenzkampf der Reiseagenturen in den neutralen Ländern, die sich um den Transport der jüdischen Emigranten aus den mitteleuropäischen Ländern bemühten. Der jugoslawische Anteil an diesem lukrativen Geschäft war bis zu diesem Zeitpunkt unbefriedigend gewesen, weil der Transport über die Donau im bulgarischen Hafen Ruse endete. Der staatliche Reisekaufmann machte der jugoslawischen Regierung den Vorschlag, die Route Budapest–Koprivnica– Split mit dem Zug und von dort aus die Weiterreise mit jugoslawischen Schiffen nach Palästina anzubieten. Nach seiner Schätzung konnte man in dieser 75 76 77 78 79
JIM, Zapisnici, 1939, S. 66f. Ebd. Wasserstein, Britain and the Jews of Europe, S. 4. Ebd., S. 44f. Hahn, Anti-Semitism, in: Braham (Hg.), Anti-Semitism, S. 60. Von den 118.000 Juden, die in Böhmen, Mähren und Schlesien lebten, emigrierten 26.000 seit 1939. 77.000 Juden kamen im Holocaust um.
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Richtung bald zwischen 30.000 und 50.000 neue Reisende erwarten.80 Anfang Dezember 1939 wurden die Schiffe der Jugoslovenskog re nog brodarstva (Jugoslawische Flußschiffahrt) Teil des letzten großen Transportes über die Donau – des Kladovo-Transports. Der Generalsekretär des SJVOJ, Simo Špicer, mietete die Schiffe der Jugoslovenskog re nog brodarstva für den Agenten des Mossad, Mosche Agami.81 Die jugoslawische Regierung mußte auf den britischen diplomatischen Druck, der Flüchtlingstransporte aus Mitteleuropa nach Palästina verhindern sollte, reagieren. Vor dem Jahreswechsel 1939/1940 wurde dieser Druck besonders groß. Die britischen diplomatischen Vertreter überstellten in Bukarest, Sofia, Belgrad und Ankara die Forderung ihrer Regierung. Im Namen seiner Regierung verlangte der britische Botschafter in Sofia, George William Rendel, von der bulgarischen Regierung, die Flüchtlinge aufzunehmen, die auf bulgarischen Schiffen illegal transportiert wurden. Die rumänische Regierung versprach, künftig zu verhindern, daß Schiffe, die unter rumänischer Flagge fuhren, für den Transport von Flüchtlingen über die Donau zur Verfügung stünden.82 Der diplomatische Vorstoß war Teil der britischen Politik, eine massenhafte Einwanderung nach Palästina zu verhindern. Grundlage dieser Politik waren das Weißbuch von 1939 und die Palestine Land Transfer Regulations vom Februar 1940.83 So übte auch der britische Botschafter in Belgrad, Ronald Campbell, Druck auf die jugoslawische Regierung aus, um die Schließung des Haupttransportweges der illegalen Emigration über die Donau zu erwirken. Am 1. Dezember 1939 überreichte er der Regierung in Belgrad eine Note seiner Regierung wegen einer großen Gruppe jüdischer Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich, dem später so genannten Kladovo-Transport, in den jugoslawischen Territorialgewässern, die dort auf die Fortsetzung ihrer Reise zum Schwarzen Meer warteten. Die jugoslawische Regierung unterstrich den internationalen Charakter der Donau, verwies auf die Freiheit des Schiffsverkehrs und antwortete, daß sie diesen Transport nicht verhindern könne.84 Am 29. Januar und am 5. Februar 1940 wiederholte der britische Vertreter seine Forderung, die Flüchtlinge aufzuhalten.85 Am 19. Februar versuchte die jugoslawische Regierung, diesen Forderungen wenigstens teilweise zu entsprechen. Sie versprach, die Reisepässe aller Juden auf Schiffen, die unter jugoslawischer Flagge fuhren, stärker zu kon80
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AJ 14-33-101/917, Staatliches touristisches Büro des Königreichs Jugoslawien (Farkaš), Budapest, an das Ministerium für Handel und Industrie, Verwaltung für Tourismus, 28. November 1939. Es ging um drei kleine Dampfschiffe: „Car Nikola“, „Car Dušan“ und „Kraljica Marija“, die in Budapest die Reisenden von dem Schiff „Uranus“ übernahmen; Anderl/Manoschek, Gescheiterte Flucht, S. 52. Wasserstein, Britain and the Jews of Europe, S. 52f. Hilberg, Perpetrators and Victims, S. 228. Bauer, American Jewry and the Holocaust, S. 148f. Ebd.
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trollieren und festzustellen, ob die Transitreisenden das erforderliche Visum für die Ausschiffung nach Palästina besäßen, „mit besonderem Augenmerk auf die Reisepässe, die mit dem Buchstaben J gekennzeichnet waren.“ Zugleich wurde jedoch betont, daß diese Maßnahmen eine Reaktion auf die dringenden Forderungen der britischen Regierung darstellten, daß sie aber zweifellos den Interessen der jugoslawischen Verkehrsbetriebe schaden und sich negativ auf den Verkauf von Fahrkarten auswirken würden.86 Dieses Versprechen hatte keine Konsequenzen für das Vorgehen der jugoslawischen Behörden gegenüber den jüdischen Flüchtlingen und wirkte sich nicht weiter auf die ohnehin schon verschärften Grenzkontrollen aus.87 Sie können als Teil des komplizierten diplomatischen Balanceaktes angesehen werden, mit dem die jugoslawische Politik versuchte, der immer schwieriger werdenden außenpolitischen Lage zwischen den kriegführenden Großmächten Herr zu werden. Auf Vorschlag des Innenministers erließ der Ministerrat am 17. April 1940 eine neue „Rechtliche Verordnung über Reisen und Aufenthalt von Ausländern“, in der die Bedingungen des Aufenthalts, der Anmeldung und des Transits von Ausländern klar definiert wurden. Aus diesen Bestimmungen konnte man auch ohne ausdrückliche Erwähnung schließen, daß sie sich vor allem auf jüdische Flüchtlinge aus mitteleuropäischen Ländern bezogen.88 Diese Situation hatte dramatische Auswirkungen auf den KladovoTransport, der im Dezember 1939 auf seinem Weg nach Palästina an der jugoslawisch-rumänischen Grenze aufgehalten wurde. Sie führte dazu, daß einer der größten organisierten Transporte österreichischer, deutscher und tschechischer Juden statt in Palästina auf jugoslawischem Territorium beendet wurde, trotz größter Bemühungen der europäischen jüdischen Gemeinden und verschiedener zionistischer Organisationen, die an der Unternehmung ihren Anteil hatten. Etwa 1.100 Personen fuhren auf jugoslawischen Schiffen über die Donau bis zur rumänischen Grenze und wurden dort im Dezember 1939 aufgehalten, weil die rumänischen Behörden ihre Vorschriften über die Einreise ausländischer Juden inzwischen verschärft hatten. Diese Verhinderung der Weiterfahrt war vor allem auf britischen Druck zurückzuführen. Der Transport wurde vom Dezember 1939 bis Ende des Sommers 1940 in der kleinen Grenzstadt Kladovo an der Donau festgehalten. Im September 1940 wurden die Menschen aus Kladovo nach Šabac, einer Stadt an der Save, gebracht.89 Die jugoslawische jüdische Gemeinde kämpfte verzweifelt für die Fortsetzung 86 87 88 89
PRO FO 371, 25240/86 (W 3207/38/48), Übersetzung der jugoslawischen Note, 19. Februar 1940; auch Wasserstein, Britain and the Jews of Europe, S. 53. AJ PKJ, Teheran, f 3, ohne Nr., 12. Juli 1938. Službene novine Nr. 90, 18. April 1940. Über die Geschichte des „Kladovo-Transports“ und die Ursache seines Mißerfolgs siehe: Anderl/Manoschek, Gescheiterte Flucht; auch Mara Jovanovi , „Wir packen ein, wir packen aus...“, in: Zbornik Jevrejskog istorijskog muzeja 4, 1979, S. 246-279.
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des Transportes und für die Unterkunft und Ernährung der Flüchtlinge. Ihre Bemühungen blieben aber letztlich ohne Erfolg.90 Gemessen am Ausmaß war diese Flüchtlingskatastrophe größer und tragischer als der bekanntere Transport mit dem deutschen Schiff St. Louis. Der Kladovo-Transport blieb in Jugoslawien bis zum Überfall der Achsenmächte am 4. April 1941, und die solcherart in die Falle geratenen Flüchtlinge waren unter den ersten Opfern des Holocaust. Ingesamt 1.051 Mitglieder des Kladovo-Transports wurden im Rahmen der sogenannten Partisanenbekämpfung der deutschen Militärverwaltung ermordet.91 Der Krieg ereilte in Jugoslawien noch weitere Flüchtlingsgruppen und auch jugoslawische Juden. Die meisten teilten das Schicksal der Flüchtlinge des Kladovo-Transports. Nach Schätzungen wurden in Jugoslawien während des Krieges zwischen 3.000 und 5.000 Juden ausländischer Staatsangehörigkeit ermordet.92
IV. Im Oktober 1939 schien die neue serbisch-kroatische Koalitionsregierung von Dragiša Cvetkovi und Vladko Ma ek an einer Gesetzesvorlage zu arbeiteten, die alle Juden, die nach 1935 legal oder illegal nach Jugoslawien übergesiedelt waren, zwang, das Land zu verlassen. Allen anderen Juden ohne jugoslawische Staatsbürgerschaft wurde eine Frist für die Ausreise zwischen sechs Monaten und einem Jahr gewährt.93 Die regierungstreue Zeitungsagentur Avala dementierte bereits im April 1938, „daß ein besonderes Gesetz gegen die Juden in unserem Land vorbereitet wird.“94 Am 22. Februar 1939 empfing Premierminister Cvetkovi die Vertreter des Bundes der jugoslawischen jüdischen Gemeinden und versicherte ihnen, daß die jugoslawische jüdische Gemeinschaft „keinen Grund zur Beunruhigung hat.“95 Am 25. April wurde dem jugoslawischen Oberrabbiner Isak Alkalaj eine Audienz bei Hof gewährt. Alkalaj nutzte die Chance und legte dem Prinzregenten die Probleme dar, mit denen die jüdische Gemeinschaft in Jugoslawien zu kämpfen hatte. Besonders betonte er die Lage der über tausend
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Anderl/Manoschek, Gescheiterte Flucht, S. 54ff.; JIM, Zapisnici 1940/41, passim. Anderl/Manoschek, Gescheiterte Flucht, S. 255-268. Albert Vajs, 1905-1964. Spomenica, Belgrad 1965, S. 127. Die Opfer des „Kladovo-Transport“ müssen dazu gezählt werden. AJ, Bildungsministerium 66-74-204, Innenministerium, Verwaltungsabteilung an das Bildungsministerium, vertraulich III., Nr. 1889, Regulierung des Status der ausländischen Juden – Vorschlag; siehe auch Pass-Freidenreich, The Jews of Yugoslavia, S. 188, 306, Anm. 62. JIM, Zapisnici, 1938, S. 49. Savez Jevrejskih Veroispovednih Opština u Jugoslaviji. Spomenica 1919-1969, Belgrad 1969, S. 63.
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Flüchtlinge des Kladovo-Transports. Aus eben diesem Grund sprach er auch mit dem Innenminister Stanoje Mihaldži .96 Der außenpolitische Spielraum Jugoslawiens wurde durch die Okkupation Frankreichs, eines traditionellen Verbündeten Jugoslawiens, extrem eingeengt. Die französische Niederlage und die deutschen Eroberungen des Jahres 1940 hinterließen einen deprimierenden Eindruck und verstärkten das Gefühl, sich in einer ausweglosen Lage zu befinden. Die jugoslawische Regierung folgte dem Beispiel anderer europäischer Länder, die sich ebenfalls unter deutschen Einfluß begaben, und erließ am 5. Oktober 1940 zwei neue Verordnungen, mit denen die Gleichberechtigung der jüdischen Staatsbürger endgültig endete. Die erste Verordnung verbot Juden den Großhandel mit Lebensmitteln und führte Kommissare in jüdischen Nahrungsmittelfabriken ein. Die zweite schrieb einen numerus clausus für Schüler und Studenten „jüdischer Abstammung“ fest. Die Verordnung über den Handel mit Lebensmitteln schloß später auch getaufte Juden ein. Jedoch ermöglichte die Verordnung über den numerus clausus durch den Artikel zwei, denjenigen jüdischen Studenten, „deren Eltern Verdienste für die Heimat geleistet haben […] mit Genehmigung des zuständigen Schulamts“, eine Einschreibung ohne Rücksicht auf die Begrenzungen. Die Verordnung schloß außerdem eine mögliche Einschreibung ausländischer Juden an Schulen und Universitäten aus.97 Anfang September, noch vor Erlaß dieser Verordnungen, wurde auf Befehl von Monsignore Anton Korošec, der damals den Posten des Bildungsministers innehatte, angeordnet, keine jüdischen Kinder im neuen Schuljahr an einem Gymnasium einzuschreiben und ihnen auch nicht zu erlauben, den Unterricht zu besuchen. Ihnen wurde lediglich gestattet, die für die Einschreibung notwendigen Dokumente einzureichen. Oberrabbiner Alkalaj verlangte dafür eine Erklärung des Ministers, der sich zu dieser Vorschrift bekannte, ohne daß eine endgültige Entscheidung darüber getroffen wurde. Die Vertreter des SJVOJ legten Beschwerde bei Justizminister Mihajlo Konstantinovi ein, der versprach, ihre Bürgerrechte zu schützen. Die Sprecher der jüdischen Gemeinde versuchten, Erklärungen von Regierungsvertretern, dem Minister Branko ubrilovi (am 3. September), von Premierminister Dragiša Cvetkovi (am 25. September) und vom stellvertretenden Premierminister Vladko Ma ek (am 1. Oktober), zu bekommen. Außerdem wurde um eine neue Audienz bei Prinzregent Paul (am 23. September) ersucht.98 Darüber hinaus rang die jüdische Gemeinde um die Unterstützung jugoslawischer patriotischer Organisationen wie Sokolski savez
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JIM, Zapisnici, 1940/41, S. 48. Službene novine, Belgrad, 5. Oktober 1940; Pass-Freidenreich, The Jews of Yugoslavia, S. 109. JIM, Zapisnici, 1940/41, S. 83f.
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(Sokol-Verein) und Narodna odbrana (Volksverteidigung). All diese Bemühungen zeigten jedoch keine befriedigenden Resultate.99 Die anfängliche Unzufriedenheit einiger Regierungsmitglieder mit diesen verfassungswidrigen Maßnahmen geriet schnell in Vergessenheit. Für die Regierung war diese Frage nebensächlich und den einzelnen Mitgliedern dieser national heterogenen Regierung war nicht daran gelegen, ihr ohnehin problematisches Verhältnis durch diese Frage zusätzlich zu erschweren. Außenpolitisch versuchte die Regierung, einen modus vivendi zwischen den beiden kriegführenden Parteien zu finden, während sich innenpolitisch die Beziehungen zwischen den nationalen Gruppen und ihren politischen Eliten immer mehr verschärften. Die Einführung dieser diskriminierenden Maßnahmen kann als Teil eines „Pakets“ angesehen werden, von dem die Zusammenarbeit, insbesondere die Lieferung militärischen Materials aus dem Dritten Reich, abhing. Darüber hinaus fielen diese Maßnahmen in die Zeit, während der das Königreich Jugoslawien unter Druck gesetzt wurde, dem Dreimächtepakt beizutreten. Sie können sowohl als ein Signal der Schwäche als auch als ein Signal des guten Willens für Berlin gedeutet werden. Anton Korošec war der wichtigste Initiator dieser Verordnungen. Ein serbisches Regierungsmitglied klagte, daß diese nur ein Versuch seien, sich bei den Deutschen „anzubiedern“.100 Korošec selbst war eher deshalb unzufrieden, weil ihm die antijüdischen Maßnahmen nicht weit genug gingen. In der zweiten Oktoberhälfte bereits verlangte er, Juden auch aus anderen Bereichen des öffentlichen Lebens wie z.B. dem Zeitungs- und Verlagswesen auszuschließen.101 Mit diesen Verordnungen wurde den Juden im Königreich Jugoslawien, die immer loyale Staatsbürger gewesen waren, ein harter Schlag versetzt, der gleichzeitig eine ungewisse Zukunft ankündigte. Obwohl die antijüdischen Vorschriften in Jugoslawien im Vergleich zu denen in anderen Staaten vergleichsweise begrenzt waren, wurden sie doch als Zeichen des Nachgebens vor „dem neuen europäischen Geist“ wahrgenommen. Sie waren ein Zeichen der außenpolitischen „Gleichschaltung“, die vor allem im östlichen Europa in jener Zeit üblich war. Der SJVOJ protestierte in aller Form gegen diese Verordnungen und drückte seine Erbitterung und Enttäuschung angesichts des Vorgehens der
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Politika, 7.10.1940: Jevrejski glas; Politika, 16.10.1940: Uredbe i o uredbama protiv Jevreja. Zu den Reaktionen auf diese Verordnungen, besonders an der Belgrader Universität, siehe: Ljubinka iri -Bogeti , Beogradski Univerzitet protiv antisemitizma (1940-1941), Ideje i pokreti na Beogradskom Univerzitetu od osnivanja do danas. Saopštenja i prilozi sa Simpozijuma odžanog u Beogradu, 15.-17. November 1988, Bd. I, Belgrad 1989, S. 317-329. Mihailo Konstantinovi , Politika sporazuma. Dnevni ke beleške 1939-1941. Londonske beleške 1944-1945, Novi Sad 1998, S. 176, 178, 208f. Ebd., S. 208.
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Regierung aus.102 Auf der anderen Seite glaubten die Mitglieder des SJVOJ, daß ihre Interventionen Schlimmeres verhindert hatten. Deshalb fuhr die jugoslawische jüdische Gemeinschaft fort zu protestieren, bemühte sich aber gleichzeitig, ihre Loyalität dem Staat gegenüber nicht in Frage zu stellen.103 Die Einführung der antijüdischen Verordnungen zeitigte zum Teil unerwartete Folgen. Viele jüdische Lebensmittelgeschäfte gerieten auf diesem Wege in deutsche Hand. Der Vizepremier und Führer der Hrvatske selja ke stranke (Kroatische Bauernpartei), Vladko Ma ek, forderte, daß dieser unerwartete Nebeneffekt verhindert werden solle.104 In seinen Erinnerungen rechtfertigte er diese Maßnahmen damit, daß der Handel mit Lebensmitteln sozialisiert werden sollte, und behauptete zugleich, er sei gegen ähnlich restriktive Maßnahmen im Bereich des Druck- und Verlagswesens gewesen.105 Die antijüdischen Maßnahmen waren ein pessimistisch stimmendes Signal für die Juden in Jugoslawien. Erst Mitte 1943 erklärte die jugoslawische Exilregierung diese Verordnungen für ungültig.106 Von Ende 1940 bis zum Kriegsausbruch im April 1941 waren die Möglichkeiten der Einreise von Juden nach Jugoslawien sehr beschränkt. Für die zentraleuropäischen Juden war sie nur unter dem streng kontrollierten Siegel „Tourismus“ möglich. Ende Januar 1941 wies das kroatische Banschaftskabinett die Abteilung für Staatsschutz darauf hin, daß der Tourismus ausgeweitet werden müsse. Zugleich warnte es davor, „die Einreise von ausländischen Juden, bzw. Personen mit jüdischer Abstammung zu erlauben. Es ist bekannt, daß diese Ausländer dies in jeder Weise mißbrauchen, um sich in unserem Land anzusiedeln oder um junge Mädchen zu heiraten, um unsere Staatsbürgerschaft zu erhalten.“107
Der Überfall der Achsenmächte auf Jugoslawien am 6. April 1941 machte aus den jugoslawischen Juden, die sich zuvor dafür eingesetzt hatten, jüdischen Flüchtlingen aus anderen Ländern zu helfen, nun selber Flüchtlinge. Während des Krieges versuchten sich mehrere tausend Juden durch Flucht zu retten. Sie emigrierten legal oder illegal nach Palästina, in die USA oder nach Südamerika. Nur einem kleinen Teil der jüdischen Vorkriegsbevölkerung in Jugoslawien gelang es, sich durch die Flucht ins Ausland, durch Untertauchen in Jugoslawien selbst oder durch den Anschluß an Partisanenheiten zu retten. Die
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JIM, Zapisnici, 1940/41, S. 84. Pass-Freidenreich, The Jews of Yugoslavia, S. 188f. Ebd. Ivo Goldstein, Holokaust u Zagrebu, S. 75-78. Er betont, daß gerade die Zeitungen, die unter Kontrolle der Partei Ma eks standen, mit dessen Zustimmung die antijüdischen Verordnungen kommentierten und dabei gebräuchliche antijüdische Parolen verwendeten. AJ 103-216/220, f 44, vertraulich, Nr. 213, 10. Juni 1943. AJ Innenministerium, 14-33-101/993, Nr. 5026-1941, Telegramm des Banschaftskabinetts Zivilkroatiens an das Innenministerium - Abteilung für Staatsschutz, 28. Januar 1941.
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jugoslawische jüdische Gemeinschaft verlor im Holocaust etwa 80% ihrer Mitglieder. Etwa 60.000 Juden wurden ermordet. Aus dem Serbischen übersetzt von Lidija Kapetanovi .
Juden als Feinde Bulgariens? Zur Politik gegenüber den bulgarischen Juden in der Zwischenkriegszeit JENS HOPPE Anders als beispielsweise Jugoslawien, Polen und die Tschechoslowakei war Bulgarien nach Ende des Ersten Weltkrieges kein „neuer“ National(itäten)staat. Vielmehr gehörte das Land mit Deutschland und ÖsterreichUngarn zu den Verlierern des Weltkrieges. Dennoch rang auch die bulgarische Politik, wie die polnische oder die ungarische nach 1918, um die Staatsgrenzen. Ebenso wie Jugoslawien und Rumänien beherbergte das Land verschiedene Ethnien und/oder Religionsgemeinschaften. Wie in der Tschechoslowakei gehörten starke Minderheiten nicht zur Titularnation. Daher kann ein Blick auf die Politik gegenüber den bulgarischen Juden zwischen 1919 und 1944 einen Beitrag zur Erforschung der Geschichte von Homogenisierungsbestrebungen in Osteuropa nach dem Ersten Weltkrieg und deren Auswirkungen auf die neugeschaffene Staatenwelt leisten. Statt den als klassische Feinde angesehenen „Türken“ und „Griechen“1 wird im Folgenden die Politik gegenüber der vom Umfang her kleinen Minderheit der Juden untersucht. Das bulgarische Beispiel erfordert indes eine die Zwischenkriegszeit überschreitende Betrachtung unter Einschluß der Jahre des Zweiten Weltkrieges. Dadurch verlagert sich der Schwerpunkt des Beitrages. Zudem verlangt der Blick auf Bulgarien einen offenen Umgang mit Staatsgrenzen. Diese verschoben sich im Betrachtungszeitraum hinsichtlich der nach dem Ersten Weltkrieg nicht zu Bulgarien zählenden Süddobrudscha (bis 1940 rumänisch) sowie Teilen Makedoniens (bis 1941 jugoslawisch) und Thrakiens (bis 1941 griechisch). Sie sind in die Untersuchung insofern zu integrieren, als die Frage nach dem politischen Umgang mit den dort lebenden Juden durch die Entscheidungsträger Bulgariens je eigens beantwortet wurde. Die Forschungslage zur Politik gegenüber Juden in Bulgarien ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet: Zum einen wird vor allem das Schicksal der bulgarischen Juden während des Zweiten Weltkriegs thematisiert und dabei deren vermeintliche Rettung hervorgehoben. Hierzu zählen etwa Veröffentlichungen von Chaim D. Oliver,2 Wolf Oschlies3 und Gabriele 1
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Hans-Joachim Hoppe, Bulgarien – Hitlers eigenwilliger Verbündeter. Eine Fallstudie zur nationalsozialistischen Südosteuropapolitik, Stuttgart 1979, S. 93. Das lange Weiterbestehen des negativen Bildes der Türken in Bulgarien belegt Marina Liakova, Das Bild des Osmanischen Reiches und der Türken (1376-1878) in ausgewählten bulgarischen Schulbüchern für Geschichte, in: Internationale Schulbuchforschung 23, 2001, S. 243-258 deutlich für die 1990er Jahre. Chaim D. Oliver, Nie, spasente: ili Kak evreite v B lgarija bjacha iztr gnati ot lagerite na sm rtta: Chronika ot blizkozo minalo, Sofia 1967. Die deutsche Übersetzung dieses Werkes
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Nissim4. Zum anderen gibt es nur wenige kritische Stimmen, die um einen ausgewogeneren Blick bemüht sind. Diese Wissenschaftler haben vorwiegend in westlichen Staaten publiziert, etwa Frederick B. Chary,5 Vicki Tamir6 und Stefan Troebst.7 Allerdings ist bisher noch keine systematische Untersuchung der Politik gegenüber den Juden im Vergleich zu derjenigen gegenüber der türkischen oder griechischen Minderheit in Bulgarien vorgelegt worden. Auch dieser Aufsatz kann einen solchen systematischen Vergleich nicht bieten, versucht aber, vereinzelt auf Aspekte der Politik gegenüber anderen Minderheiten einzugehen, um so die bulgarische Politik gegenüber den Juden einordnen zu können. Bereits kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges spielte die Haltung der bulgarischen Regierung bzw. des bulgarischen Volkes zu den Juden eine Rolle in der Selbstdarstellung des Staates. In der Vorbereitung des Friedensvertrages mit Bulgarien beabsichtigten die vier Siegermächte einen Passus über die Lage der Juden in Bulgarien zwischen 1941 und 1944 aufzunehmen.8 Nathan Grinberg, ein Berater der bulgarischen Delegation für die Pariser Friedenskonferenz, stellte 1945 im Auftrag des Centralna Konsistorija na Evrejte v B lgarija (Zentrales Konsistorium der Juden in Bulgarien) einen Dokumentenband zur Situation der Juden während des Krieges zusammen.9 Dieser Band, der den vier Außenministerien zugeleitet wurde, soll es Bulgarien ermöglicht haben, jegliche Erwähnung des Schicksals der Juden aus dem Vertrag herauszuhalten.10 Frühzeitig nahm die Kommunistische Partei Bulgariens für sich in Anspruch, 1943 an der Verhinderung der Deportation der altbulgarischen Juden und damit an deren Rettung maßgeblich beteiligt gewesen zu sein.
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erschien im selben Jahr: ders., Wir, die Geretteten, oder: Wie die Juden in Bulgarien vor den Todeslagern bewahrt wurden, Sofia 1967; Ders., Borbata na BKP za spasjavane na b lgarskite evrei ot lagerite na sm rtta, in: Godišnik 19, 1984, S. 83-95. Wolf Oschlies, Bulgariens Juden in Vergangenheit und Gegenwart, Köln 1972; Ders., Bulgarien – Land ohne Antisemitismus, Erlangen 1976. In letzterer Arbeit werden die negativen Einstellungen nichtjüdischer Bulgaren gegenüber jüdischen schlicht ausgeblendet. Gabriele Nissim, L’uomo che fermo Hitler. La storia di Dimitar Pešev che salvò gli ebrei di una nazione interna, Mailand 1998. Die deutsche Übersetzung erschien zwei Jahre später: Gabriele Nissim, Der Mann, der Hitler stoppte. Dimit r Pešev und die Rettung der bulgarischen Juden, Berlin 2000. Frederick B. Chary, The Bulgarian Jews and the Final Solution 1940-1944, London 1972. Vicky Tamir, Bulgaria and Her Jews. The History of a Dubious Symbiosis, New York 1979. Diese Arbeit betont die negativen Seiten des Verhältnisses der nichtjüdischen Bulgaren zu den jüdischen unverhältnismäßig stark. Stefan Troebst, Antisemitismus im „Land ohne Antisemitismus“: Staat, Titularnation und jüdische Minderheit in Bulgarien 1878-1993, in: Mariana Hausleitner/Monika Katz (Hg.), Juden und Antisemitismus im östlichen Europa, Berlin/Wiesbaden 1995, S. 109-125. Oschlies, Bulgariens Juden, S. 44. Natan Grinberg, Dokumenti, Sofia 1945. Oschlies, Bulgariens Juden, S. 44. Siehe auch Treaties of Peace with Italy, Roumania, Bulgaria, Hungary and Finland, London 1947, S. 99-116.
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Todor Živkov reklamierte dies auch für seine eigene Person.11 In dem 1977 veröffentlichten Katalog zu der damals in Sofia als Dauerausstellung installierten Schau „Die Rettung der Juden in Bulgarien 1941-1944“ wird im Vorwort die Rolle der KP eindeutig bestimmt: „Die einzige jüdische Bevölkerung im besetzten Europa, die vollzählig am Leben geblieben ist, und das sogar im eigenen Lande, ist die in Bulgarien. Ein Wunder? Unbestreitbar! Ein Wunder jedoch, worin es gar nichts übernatürliches gibt, denn es ist das Ergebnis eines menschlichen Kampfes: der Kampf des bulgarischen Volkes gegen den Faschismus, der unter der Leitung der heroischen Bulgarischen Kommunistischen Partei volle 21 Jahre gedauert hat.“12
Dem standen Bemühungen anderer Personen gegenüber, die Rettung vor allem Zar Boris III. zuzuschreiben. Zu letzterer Gruppe gehörte etwa Benjamin Arditi, der in Israel lebte und publizierte.13 In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war die Suche nach dem „Retter“ der Juden in der historischen Forschung zur Geschichte der bulgarischen Juden bis 1944 ein zentraler Punkt. In Bulgarien selbst diente der Rettungs-Mythos der KP zur Legitimation, zur positiven Selbstdarstellung in aller Welt und damit als Werbeträger für das Land. Daher konnte in Bulgarien eine dieser Sichtweise kritisch gegenüberstehende historische Aufarbeitung nicht erfolgen. Außerhalb des Landes waren kritische Stimmen zu vernehmen, doch fehlte den Historikern ein freier Zugang zu den Archiven in Bulgarien und damit jegliche Auseinandersetzung mit den bulgarischen Originalquellen. Diese Situation änderte sich erst allmählich nach der politischen Wende von 1989. Beispielsweise erschien 1995 eine von David Koen zusammengestellte Sammlung von Dokumenten aus bulgarischen Archiven unter dem Titel Oceljavaneto (Überleben).14 Allerdings blieb die vermeintliche Rettung der bulgarischen Juden für die Selbstdarstellung der nunmehr demokratisch gewählten Regierungen zentral. Noch im April 2005 sagte Außenminister Joschka Fischer bei der Eröffnung einer Ausstellung über Fotografien jüdischer Familien in Bulgarien in Sofia nach Angaben der JTA: „The brave Bulgarians who took them in and protected their Jewish fellow countrymen 11 12 13
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Als ein Ausdruck dieser Position sei verwiesen auf Isak Naimovi , Koj spasi b lgarskite evrei ot lagerite na sm rtta, in: Godišnik 1, 1966, S. 63-79. Albert Koen/Anri Assa, Vorwort, in: Dies., Die Rettung der Juden in Bulgarien 1941-1944, Sofia 1977, unpaginiert. Benjamin Arditi, Roljata na car Boris III pri izselvaneto na evreite ot B lgarija, Tel Aviv 1952; Benjamin Arditi, Yehudei Bulgaria Bi-Shnot Hamishtar Hanatzi 1940-1944, Tel Aviv 1962. Ein später Ausdruck dieser Sicht ist die Erzählung von Jan Beazely/Thom Lemmens, King’s Ransom: a Novel Based on a True Story, Colorado Springs 2004, die „the heroic story of Tsar Boris III, king of Bulgaria, and his extraordinary efforts to save his country’s Jewish population from Hitler’s concentration camps“ (Einbandrückseite) erzählen und sich dabei vor allem auf Stéphane Groueff, Crown of Thorns. The reign of King Boris III of Bulgaria, 1918-1943, Lanham 1987, und Michael Bar-Zohar, Beyond Hitler’s Grasp. The heroic rescue of Bulgaria’s Jews, Avon 1998, als ihre „Bibeln“ stützen (Acknowledgments). Oceljavaneto. Sbornik ot dokumenti 1940-1944, bearb. von David Koen, Sofia 1995.
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deserve our highest respect, admiration and thanks today.“15 Auch hier findet sich kein Wort über die Ausgrenzung und die wirtschaftliche Ausplünderung der Juden durch dieselben „mutigen Bulgaren“ oder über die Zwangsarbeit zahlreicher Männer unter Bewachung von Bulgaren. Noch immer ist eine ausgewogene Beurteilung der Situation der Juden in Bulgarien eher die Ausnahme, denn die Regel. Eine moderne Untersuchung der bulgarischen Politik gegenüber den Juden sollte neben den Kriegsjahren die Zwischenkriegszeit einbeziehen, weil auf diese Weise Leitlinien des Verhältnisses der Titularnation zur Minderheit erkennbar werden. Einen ersten Überblick bietet hier Stefan Troebst, der dieser Frage für die Zeit der Staatsgründung bis 1993 nachgeht.16 Zum anderen sollte der Begriff Minderheit nicht statisch gesehen werden, denn das Nebeneinander beziehungsweise die Überschneidung von kulturellen und sozialen Räumen ermöglichen komplexe Identitätskonzeptionen, die mit dem Konzept Mehrheit-Minderheit nicht hinreichend erfaßt werden. Die Forschung hat darauf unter anderem mit dem Konzept der situativen Ethnizität oder im Hinblick auf Angehörige spezifischer Religionsgemeinschaften der situativen Religiosität geantwortet.17 Danach verändert sich je nach Situation die ethnische oder religiöse Selbst- und/oder Fremd-Zuschreibung. Im Folgenden wird in mehreren Schritten versucht, die bulgarische Politik und die Haltung der Gesellschaft gegenüber Juden in der Zwischenkriegszeit und den Kriegsjahren bis 1944 darzulegen. Nach einer Übersicht zur Struktur der jüdischen Bevölkerung Bulgariens folgt eine Betrachtung der Rolle der Juden im bulgarischen Nationscode und der Stellung des Antisemitismus im Land, bevor die Entstehung des Zakon za zaš ita na nacijata (Gesetz zum Schutz der Nation, ZZN) unter der Frage „deutscher Druck oder bulgarische Entscheidung“ näher betrachtet wird. Anschließend widmet sich ein weiterer Abschnitt der Judenverfolgung während des Zweiten Weltkriegs unter besonderer Betrachtung der von jüdischen Männern in Arbeitsbataillonen geleisteten Zwangsarbeit. Das Fazit setzt sich schließlich mit den bulgarischen Homogenisierungsbestrebungen hinsichtlich der Juden auseinander und versucht diese in einen größeren (osteuropäischen) Rahmen einzuordnen.
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Zitiert nach JTA, http://www.jta.org/page_print_story.asp?intarticleid=15365 (6.5.2005): Ruth Ellen Gruber, German, Bulgarian officials join to open show about Bulgarian Jews. Troebst, Antisemitismus. Zur situativen Ethnizität siehe Till van Rhaden, Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925, Göttingen 2000, S. 19f. Das Modell der situativen Religiosität wurde zum Beispiel auf der Tagung des Centrums für Jüdische Studien in Graz zu „Konzeptionen des Jüdischen – kollektive Entwürfe im Wandel“ im November 2005 von Petra Ernst und Ekaterina Emeliantseva verwendet. Eine Publikation zu dieser Tagung ist in Vorbereitung.
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Zur Struktur der jüdischen Bevölkerung Bulgariens Bereits bei der Frage nach dem Umfang der jüdischen Bevölkerung Bulgariens im Betrachtungszeitraum stellt sich das Problem der Staatsgrenzen, weil sich diese mehrfach veränderten. Laut der Volkszählung von 1920 gab es in Bulgarien unter den 4,847 Millionen Staatsbürgern 43.209 Juden, was einem Anteil von 0,89% entsprach. Bis 1926 verzeichnete die jüdische Bevölkerung ein Wachstum auf 46.558 Personen, doch sank der Anteil auf 0,85%.18 Der Zensus des Jahres 1934, der allerdings nicht nach Nationalität, sondern nach Religionszugehörigkeit fragte, verzeichnete unter 6,078 Millionen Einwohnern 48.398 Juden. Damit sank der Anteil der jüdischen Bevölkerung bei weiterhin steigenden Gesamtzahlen aufgrund des schnelleren Wachstums der nichtjüdischen Bevölkerung erneut auf nunmehr 0,80%.19 Für die Zeit nach der im Oktober 1942 dekretierten Annexion griechischer und jugoslawischer Gebiete20 liegt keine offizielle Statistik für das gesamte Staatsgebiet Bulgariens mehr vor. In Vorbereitung der Deportationen aus dem neuen Großbulgarien, in die Juden aus dem Süden und Osten des Staatsgebietes einbegriffen waren, ermittelte das Komisarstvo za evrejskite v prosi (Kommissariat für jüdische Fragen, KEV) die Anzahl der Juden in allen Orten Bulgariens. Danach gab es Ende 1942 63.403 Personen, die auf der Basis des ZZN vom Januar 1941 und den zugehörigen Ausführungsbestimmungen als Juden klassifiziert wurden.21 Im Unterschied zu den früheren Volkszählungen basierte diese Klassifizierung nicht auf freiwilliger Zuordnung der sich als Juden verstehenden Personen, sondern erfolgte durch Zuschreibung von außen. Bei einer geschätzten Bevölkerungszahl zwischen 8,707 und 9 Millionen22 betrug der Anteil der Juden somit zwischen 0,73% und 0,70%. Die größte jüdische Gemeinde Bulgariens bestand in Sofia. Dort lebten um die Jahreswende 1942/43 ungefähr 27.200 Juden.23 Bei einer Einwohnerzahl von rund 408.00024 ergibt sich damit ein Prozentsatz der jüdischen 18 19 20 21 22
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Nathan M. Gelber, Jewish Life in Bulgaria, in: Jewish Social Studies 8, 1946, S. 103-126, hier S. 106. Die Zahlenangaben folgen Chary, The Bulgarian Jews, S. 29. Zur Annexion siehe Troebst, Antisemitismus, S. 118. Die Zahlenangaben folgen Chary, The Bulgarian Jews, S. 204-207. Für die Bevölkerungszahl von 1942 liegen verschiedene Angaben vor: Hoppe, Bulgarien – Hitlers eigenwilliger Verbündeter, S. 124, nennt für das um die besetzten Gebiete erweiterte Bulgarien 8.595.451 Einwohner für 1941. In der Zeitspanne 1935 bis 1946 betrug das jährliche Bevölkerungswachstum in Bulgarien im Durchschnitt 1,3%. Auf dieser Grundlage ergibt sich nach Hoppe für 1942 eine ungefähre Bevölkerung in Bulgarien von 8,707 Millionen. Kurt Haucke, Bulgarien. Land – Volk – Geschichte – Kultur – Wirtschaft, Bayreuth 1942, S. 5, beziffert die Gesamtbevölkerung auf rund 9 Millionen. Chary, The Bulgarian Jews, S. 206. Haucke, Bulgarien, S. 7. 1934 betrug die Einwohnerzahl noch gut 287.000 und 1956 bereits über 644.000; siehe Ivan Stefanov/Ljubomir Dinev/Zdravko Koev, Bulgarien. Land – Volk – Wirtschaft in Stichworten, Wien 1975, S. 38.
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Bevölkerung der Hauptstadt von 6,7% und nicht, wie vielfach behauptet, von rund 10%.25 Betrachtet man die fünf größten bulgarischen Städte nach Angaben des Jahres 1934, also Sofia, Plovdiv, Varna, Ruse und Burgas, ergibt sich ein für die Verteilung der jüdischen Bevölkerung eindeutiges Bild: 39.171 oder 61,8% aller Juden lebten um 1942 in den fünf größten Städten des Landes. Bei der nichtjüdischen Bevölkerung waren die Verhältnisse umgekehrt: In der Zwischenkriegszeit wie in der Kriegszeit (um 1942) waren lediglich rund 20% Stadtbewohner und selbst 1946, also kurz nach der Betrachtungszeit dieses Aufsatzes, lag der Anteil der Stadtbevölkerung mit 24,7% nur geringfügig höher.26 Im Jahre 1934 hatten die fünf genannten größten Städte zusammen rund 546.200 Einwohner, bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 6,078 Millionen lebten damals folglich lediglich 9% hier.27 Juden waren in Bulgarien – wie in anderen Staaten in der Zwischenkriegszeit auch – Stadtbewohner und unterschieden sich im Siedlungsverhalten deutlich von Nichtjuden, mit Ausnahme der Armenier, die ähnlich verteilt siedelten. In Bulgarien bestand die jüdische Gemeinschaft vorwiegend aus Sephardim, während die Einwanderung von Ashkenasim gering blieb. Nach 1933 wohnten bis zu 4.000 Emigranten in dem Land, meist in der Hoffnung, in Bälde über den Balkan und die Türkei nach Palästina weiterreisen zu können. Für diese und andere ausländische Juden erließ die bulgarische Regierung im September 1939 ein Ausweisungsdekret.28 Allerdings gelang es nur, die griechischen und türkischen Staatsbürger abzuschieben sowie einige andere zur Weiterreise per Schiff nach Palästina zu bewegen.
25 26 27 28
Die Angabe von 10% für Anfang der 1940er Jahre findet sich etwa bei Hoppe, Bulgarien – Hitlers eigenwilliger Verbündeter, S. 93. Haucke, Bulgarien, S. 14 und Stefanov/Dinev/Koev, Bulgarien, S. 35. Stefanov/Dinev/Koev, Bulgarien, S. 28, 38. Hans-Joachim Hoppe, Bulgarien, in: Wolfgang Benz (Hg.), Dimension des Völkermords: die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1996, S. 275-310, hier S. 279.
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Juden als Feinde Bulgariens?
Tabelle 1: Jüdische Erwerbstätige in Bulgarien 1920, nach Erwerbszweig und Status Quelle: N[athan] M[ichael] Gelber, Jewish Life in Bulgaria, S. 108f.
Erwerbszweig Handel Produktions- und Transportgewerbe, Handwerk Akademiker, Staatsbedienstete Hausangestellte Landwirtschaft ohne Angabe Gesamt
Gesamtzahl
Selbständige
abhängig Beschäftigte absolut % 2.708 36,7 2.993 63,3
absolut 7.373 4.729
% 54,8 35,2
absolut 4.665 1.736
% 63,3 36,7
834
6,2
204
24,5
630
75,5
213 63 232 13.444
1,6 0,5 1,7 100,0
17 10 6.632
27,0 4,3 49,3
213 46 222 6.812
100,0 73,0 95,7 50,7
Die Berufsverhältnisse der Juden in der Zwischenkriegszeit waren durch eine starke Konzentration auf den Handelsbereich gekennzeichnet. „They were typical trades people and only in a few cases merchants of higher rank.“29 Im Jahre 1920 waren nach Zensusangaben 13.444 Juden erwerbstätig, darunter nur 1.922 Frauen (14,3%). Aus Tabelle eins wird ersichtlich, daß beinahe 55% der Beschäftigten im Bereich Handel tätig waren, davon wiederum die größte Gruppe als Selbständige. Die zweitgrößte Gruppe bildeten Personen im Produktionsgewerbe, Handwerk und Transportgewerbe, doch gab es hier beinahe zwei Drittel abhängig Beschäftigte. Nach 1920 veränderte sich die Berufsverteilung allmählich. Beispielsweise stieg die Anzahl der akademisch ausgebildeten Juden deutlich an. So gab es schon 1926 allein in Sofia mehr als doppelt so viele Ärzte wie 1920 in Bulgarien (74 zu 35) sowie mehr jüdische Zahnärzte in der Hauptstadt als sechs Jahre zuvor im ganzen Land (33 zu 25).30 Gleichzeitig läßt sich parallel zum Anstieg im Handwerk und Gewerbe während der 1920er Jahre ein leichter Rückgang der im Handelssektor tätigen Juden feststellen. Sehr deutlich wird der Unterschied in der Verteilung der Berufsfelder zu Nichtjuden in der Landwirtschaft: Waren dort 1934 rund 73% aller Beschäftigten tätig, spielt dieser Erwerbszweig unter Juden keine Rolle.31 Neben Juden gab es zahlreiche, zum Teil wesentlich größere Minderheiten in Bulgarien: Die größte ethnische Minderheit bildeten Türken, die um 1920 über 520.300 Personen und 1934 etwa 591.100 ausmachten,32 also deutlich 29 30 31 32
Gelber, Jewish Life, S. 108. Ebd., S. 109. Hoppe, Bulgarien – Hitlers eigenwilliger Verbündeter, S. 13; siehe auch Tabelle 1. Gerhard Seewann/Peter Dippold (Hg.), Bibliographisches Handbuch der ethnischen Gruppen Südosteuropas, München 1997, S. 1310. Allerdings gibt es von diesen Zahlen nach oben
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mehr als das Zehnfache der jüdischen Bevölkerung. Daneben gab es zahlreiche Zigeuner (1934: 149.385), Rumänen (1926: 69.080), Griechen (1926: 35.409) und Armenier (1926: 27.322)33, dazu kleine Gruppen Tataren, Russen und Deutsche, die knapp über oder sogar unter 10.000 Personen umfaßten. Zu den Bulgaren wurden die Pomaken, die moslemischen Glaubens sind, aber Bulgarisch sprechen, sowie die Gagausen, die zwar Türkisch sprechen, aber christlich-orthodoxen Glaubens sind, gerechnet.34 Nach den Grenzverschiebungen von 1940/41 veränderte sich auch die Struktur der Minderheiten, wobei die christlich-slavische Bevölkerung des annektierten Makedoniens als Bulgaren angesehen wurde. 1942 gab es rund 800.000 Türken (circa 8,9% der geschätzten 9 Millionen Einwohner), 470.000 Griechen (ungefähr 5,2%) sowie 30.000 Rumänen (etwa 0,3%).35 Besonders auffällig ist der starke Zuwachs der griechischen Bevölkerung des Landes, der durch die Annexion von größeren Teilen Thrakiens verursacht wurde. Auf dieser Basis bildete die jüdische Gemeinschaft nach den Zigeunern lediglich die viertgrößte Minderheit im Land.
Die Rolle der Juden im nationalen Code Bulgariens und der Antisemitismus Der jeweilige Nationscode findet eine seiner Ausformulierungen in den Konzeptionen der Staatsbürgerschaft.36 Hierin spiegelt sich die Grundannahme, daß die Definition der Nation ein abgrenzbares Anderes verlangt. Folglich kann an der Gestaltung von Ausschlußregelungen sowie an der Zuteilung von staatsbürgerlichen Rechten für ethnische und/oder religiöse Minderheiten deren Rolle in den Nationscodes untersucht werden. Zur Einordnung der bulgarischen Verhältnisse wird an dieser Stelle kurz auf die Situation in zwei Nachbarländern eingegangen. In Rumänien war der Antisemitismus vor dem Ersten Weltkrieg essentieller Bestandteil des Nationscodes und stellte eine wichtige Mobilisierungsressource dar. In der Zwischenkriegszeit behielt der Antisemitismus eine zentrale Stelle, doch hielt sich seine auf andere Minderheiten (etwa Ungarn und Ukrainer), die nach
33
34 35 36
abweichende Angaben, die nicht auf der offiziellen Statistik beruhen, sondern auf Schätzungen oder anderen Quellen. So nennt Hoppe, Bulgarien – Hitlers eigenwilliger Verbündeter, S. 13, für 1934 die Zahl von 618.000. Zur Anzahl der Rumänen und Griechen siehe Gelber, Jewish Life, S. 108, Anm. 6; zur Anzahl der Zigeuner und Armenier siehe Seewann/Dippold, Bibliographisches Handbuch, S. 1272, 1326. Stefanov/Dinev/Koev, Bulgarien, S. 30. Haucke, Bulgarien, S. 14. Dietmar Müller, Staatsbürger auf Widerruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzepte 18781941, Wiesbaden 2005, S. 21; vgl. dazu auch den Beitrag von Dietmar Müller in diesem Band.
Juden als Feinde Bulgariens?
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1919 einen hohen Prozentsatz in Rumänien ausmachten, verallgemeinernde Potenz in engen Grenzen. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre wurde den Juden dann die Zugehörigkeit zur rumänischen Nation nicht nur wegen ihrer religiösen Alterität, sondern auch aus einer kultur- und regimekritischen Perspektive heraus abgesprochen.37 Letztlich folgten auf diesen Diskurs erneute Änderungen des Status der Juden, die über die Staatsbürgerschaftsbestimmungen des Jahres 1924, welche etwa einem Fünftel die rumänische Staatsbürgerschaft wieder entzogen hatten, bei weitem hinausgingen: Bereits im Sommer 1940 wurden Juden aus öffentlichen Ämtern ebenso ausgeschlossen wie aus der Armee und aus freien Berufen. Weitere spezifische antijüdisch ausgerichtete Maßnahmen wie die Einziehung von Männern zur Zwangsarbeit sowie in Teilen des Landes die Ghettoisierung und spätere Deportation nach Transnistrien folgten.38 Beinahe konträr lagen die Verhältnisse in Serbien bzw. ab 1918 in dem serbischen Teil Jugoslawiens. Bis zum Auftreten der Zbor-Bewegung blieb der Antisemitismus eine Randerscheinung. Er verharrte auf gewachsenen Vorurteilen, wurde aber von staatlicher Seite nicht gefördert, sondern vielmehr bekämpft. Die Rolle des negativ besetzten Anderen wurde in Serbien nicht den Juden, sondern den Muslimen zugeschoben.39 Allerdings verbreiteten sich im Laufe der 1930er Jahre auch in Jugoslawien antisemitische Einstellungen. Entsprechende Publikationen wurden zum Teil durch Gelder aus dem Deutschen Reich ermöglicht. Im Oktober 1940 folgten dann die ersten antijüdischen Gesetze, die allerdings nicht so weitreichend wie in Rumänien waren, sondern „lediglich“ einen numerus clausus für Juden an Oberschulen und Universitäten sowie ein Handelsverbot mit bestimmten Nahrungsmitteln umfaßten.40 In Bulgarien hatte es um die Jahrhundertwende eine Reihe von Pogromen gegeben, etwa 1898 in Plovdiv, Kjustendil und Jambol, 1901 erneut in Kjustendil, wobei diesmal die Synagoge niedergebrannt, jüdische Wohnungen geplündert und sechs Juden gelyncht wurden, sowie 1904 in Lom.41 Diese Aktionen der Gewalt gegen Juden wurden dann jedoch durch Übergriffe gegen Griechen überlagert, die zu einer Massenauswanderung nach Griechenland führten: Ungefähr die Hälfte der griechischen Einwohner emigrierte zwischen 1905 und 1908.42 Parallel zu den Gewalttätigkeiten gegen Juden entwickelten sich eine antisemitisch ausgerichtete Presselandschaft mit über37 38 39 40
41 42
Ebd., S. 307, 327. Siehe Krista Zach, Rumänien, in: Benz (Hg.), Dimension des Völkermords, S. 381-409. Müller, Staatsbürger auf Widerruf, S. 141. Vgl. dazu die Beiträge von Milan Ristovi und Kristina Tomovska in diesem Band; Eberhard Jäckel/Peter Longerich/Julius H. Schoeps (Hg.), Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, München/Zürich 1995, S. 719f. Troebst, Antisemitismus, S. 113. Dietmar Müller, Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft in Südosteuropa. Der Staatsbürger in den „nationalen Codes“ Rumäniens, Bulgariens und Serbiens, in: Osteuropa 52, 2002, S. 752-773, hier S. 761.
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regionalen und örtlichen Zeitungen sowie ein entsprechender Buchmarkt. Zudem war die Diskriminierung von Juden im Staatsdienst und in anderen gesellschaftlichen Bereichen (wie dem Militär) erkennbar. Im Unterschied zu Rumänien fungierte der Antisemitismus aber nicht als parteiübergreifendes Erkennungssignal, denn diese Position hatte Makedonien inne.43 „Jahrzehntelang war die bulgarische Gesellschaft von der Vorstellung geprägt worden, daß es ihre wichtigste Aufgabe sei, alle Gebiete mit bulgarischer oder als bulgarisch geltender (Mazedonien) Bevölkerung im gemeinsamen Staat zusammenzuführen. Der Kriegsausgang und die im Zusammenhang mit dem Frieden von Neuilly erlittenen Gebietsverluste verwandelten dieses nationale Ziel in eine Art Idee-fixe.“44
Makedonien fungierte demnach als zentraler Mobilisierungsfaktor. Damit besaß in Bulgarien wie in Serbien die territoriale Dimension im Nationscode eine bedeutende Rolle. Neben diesem gleichsam positiv besetzten Anderen, das als das Eigene bestimmt wurde, gab es zudem zwei negativ besetzte Andere: Griechen und Türken. Noch am 26. November 1941 wies Außenminister Ivan Popov bei einer Besprechung mit Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop darauf hin, „daß Bulgarien in gleicher Weise, wie es seine politische Freiheit gegen die Türken erkämpfen mußte, seine geistige Freiheit gegen das Griechentum habe durchsetzen müssen“.45 Das nationale Programm sah daher nicht nur die territoriale Wiederherstellung des zweiten bulgarischen Zarenreiches vor, sondern auch die Verdrängung osmanischer und griechischer Eliten sowie die Re-Bulgarisierung der Kirchenorganisation und der Pomaken als vermeintlich verlorene christlich-bulgarische Söhne.46 Nach dem Ersten Weltkrieg waren es vor allem makedonische Emigrantenorganisationen wie die V trešna Makedonska Revoljucionna Organizacija (Innere Makedonische Revolutionäre Organisation), die Stellung gegen Juden bezogen. Beispielsweise wurden von wohlhabenden Juden Schutzgelder erpreßt und bei deren Zahlungsunwilligkeit auch deren Ermordung einkalkuliert.47 Seit Ende der 1920er Jahre traten dann rechtsextreme Splitterparteien offen antisemitisch auf, ab 1933 vom Deutschen Reich gefördert. Dies führte jedoch nicht zu einer Änderung der Staats43 44
45
46 47
Troebst, Antisemitismus, S. 116. Nikolaj Poppetrov, Flucht aus der Demokratie: Autoritarismus und autoritäres Regime in Bulgarien 1919-1944, in: Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919-1944, hg. von Erwin Oberländer in Zusammenarbeit mit Rolf Ahmann, Hans Lemberg und Holm Sundhaussen, Paderborn/München/Wien 2001, S. 379-401, hier S. 382. „United Restitution Organization“, Dokumentation Bulgarien (nicht publiziert), Dokument 4: Aufzeichnung über den Empfang des bulgarischen Außenministers Popoff durch den RAM in Berlin am 26.11.1941, Berlin, den 27.11.1941, S. 3. Müller, Staatsangehörigkeit, S. 760. Stefan Troebst, Nationalismus und Gewalt im Osteuropa der Zwischenkriegszeit. Terroristische Separatismen im Vergleich, in: Ders., Kulturstudien Ostmitteleuropas. Aufsätze und Essays, Frankfurt/M. 2006, S. 369-407, hier S. 381; zuerst abgedruckt in: Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte 3, 1996, S. 273-314; Ders., Antisemitismus, S. 117.
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bürgerschaftsregelung. Juden blieben Staatsbürger mit gleichen Rechten, die nicht per Gesetz beschnitten wurden. Auf den indes bestehenden Unterschied zwischen dem in südosteuropäischen Verfassungen regelmäßig genannten Grundsatz der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und den tatsächlichen Verhältnissen hat Dietmar Müller verwiesen. Er betonte, daß die Verfassungsväter, die diesen Grundsatz verankert haben, den „Staat als Eigentum der Titularnation beschrieben und somit den ethnischen Minderheiten den Platz als strukturelle Staatsbürger zweiter Klasse zuschrieben“.48 Im Laufe der 1930er Jahre steigerten sich die antisemitischen Äußerungen und Übergriffe in der bulgarischen Öffentlichkeit. Zum Beispiel gab es im Frühjahr 1934 Massenproteste gegen die Hochzeit einer Enkelin eines bulgarischen Generals mit einem Juden. Rund viereinhalb Jahre später, im September 1938, wurden im Stadtzentrum Sofias unter den Augen der Polizei zahlreiche jüdische Geschäfte verwüstet.49 Damit deutete sich zum Ende der Zwischenkriegszeit eine veränderte Stellung der Juden im Nationscode an. Mit der Ernennung von Pet r Gabrovski, einem früheren Mitglied der rechtsextremen und antisemitisch ausgerichteten Ratnici za napred ka na b lgarštinata (Vorkämpfer für den Fortschritt des Bulgarentums, kurz Ratniki), zum Innenminister im Februar 1940 schien sich auch eine rechtliche Neudefinition der Stellung der Juden abzuzeichnen. Nur kurze Zeit später machte Innenminister Gabrovski den aktiven Ratnik Aleksand r Belev zum Leiter der Gerichtssektion und der anfangs noch informellen Abteilung für Judenfragen. Im Juli 1940 kündigte die bulgarische Regierung unter Bogdan Filov Maßnahmen gegen die Juden an. Belev wurde deshalb ins Deutsche Reich geschickt, um die Judengesetzgebung Deutschlands zu studieren. Aus diesem Vorhaben erwuchs das am 7. Oktober 1940 dem Ministerrat vorgelegte und schließlich am 23. Januar 1941 von Zar Boris III. unterzeichnete ZZN.50 Hier wurden Juden als das Andere und das Fremde definiert. Während Juden aus der Süddobrudscha, die von Rumänien im Jahre 1940 an Bulgarien abgetreten worden war, noch die bulgarische Staatsbürgerschaft erwerben konnten, war dies für Juden aus dem griechischen Thrakien sowie dem jugoslawischen Makedonien und Pirot-Distrikt, die erst seit April 1941 unter bulgarische Oberhoheit geraten waren, nicht mehr möglich. Die Trennlinie markiert die Unterzeichnung des ZZN. Antisemitismus, wenn auch noch kein exterminatorischer, war nunmehr offizielle Staatspolitik geworden. Letztlich führte das Bestreben, eine imaginierte Einheit der ethnischen Nation mit ihrem Territorium und ihrer Geschichte wiederherzustellen, in Bulgarien dazu, daß sich keine politische Staatsbürgernation entwickelte. Vielmehr sahen sich verschiedene ethnische und/oder religiöse Minderheiten 48 49 50
Müller, Staatsbürger auf Widerruf, S. 478. Troebst, Antisemitismus, S. 117. Hoppe, Bulgarien – Hitlers eigenwilliger Verbündeter, S. 93ff.
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sowohl Maßnahmen der Assimilation als auch der Dissimilation ausgesetzt.51 Dies traf griechische Einwohner wie türkische und ab 1941 auch Juden. Der bulgarische Nationscode bot die Möglichkeit, zu unterschiedlichen Zeiten je nach Umständen unterschiedliche Minderheiten auszuschließen. Dabei konnten die ethnischen Zuschreibungen bei einer Minderheit wechseln, wie am Beispiel der Juden deutlich wird. Während im September 1940 Juden noch als Teil der Bulgaren angesehen wurden und daher bei der Übernahme der Süddobrudscha die Staatsbürgerschaft erhielten, galt dies für Juden, die im April 1941 durch die Besetzung weiterer Gebiete unter bulgarische Hoheit gelangt waren, nicht mehr. Sie wurden nunmehr von vornherein als ethnisch anders eingestuft.
Ein Beispiel für vorauseilenden Gehorsam: Die Entstehung des Gesetzes zum Schutz der Nation Der Wandel der Rechtsstellung der Juden, der sich zu Ende der Zwischenkriegszeit angedeutet hatte, vollzog sich schließlich im Lauf des Zweiten Weltkriegs. Auf die rechtliche Minderstellung im Januar 1941 folgten soziale Ausgrenzung, ökonomische Ausbeutung einschließlich Zwangsarbeit, das Aufgeben des Schutzes für jüdische Staatsbürger im besetzten Ausland sowie Deportation und Ermordung von vermutlich 11.34352 Menschen (also rund 17,9% aller Juden unter bulgarischer Oberhoheit). Die Basis für die weitere Verfolgung der Juden durch Bulgaren bot das ZZN. Doch welcher Handlungsspielraum bestand für die bulgarische Regierung und den Zaren? Oder andersherum gefragt, welchen eigenen Beitrag leisteten die bulgarische Regierung und der Zar? Grundlegend ist, daß in ganz Europa ein Erstarken antisemitischer Kräfte durch die Machtübernahme der NSDAP im Deutschen Reich beschleunigt wurde. In zahlreichen Ländern bestanden aber eigene antisemitische Traditionslinien. Auf Rumänien ist im vorherigen Kapitel kurz eingegangen worden. Aber auch in Ungarn gab es nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg eine breite antisemitische Strömung.53 In Bulgarien begann darüber hinaus mit der Einsetzung von Gabrovski als Eisenbahn- und besonders ab Februar 1940 als Innenminister das allmähliche Eindringen von Ratniki in den Teil des Regierungsapparats, der sich mit jüdischen Fragen befassen sollte. Der 1940 von Gabrovski berufene Aleksand r Belev organisierte seinen Apparat 51 52 53
Müller, Staatsangehörigkeit, S. 760. Zur Diskussion der Anzahl der Deportierten siehe Hoppe, Bulgarien – Hitlers eigenwiliger Verbündeter, S. 298. Siehe generell zur Judenverfolgung in Ungarn und ihrer Vorgeschichte Randolph L. Braham, The Politics of Genocide. The Holocaust in Hungary, New York 1981, und Brigitte Mihok (Hg.), Ungarn und der Holocaust. Kollaboration, Rettung und Trauma, Berlin 2005; vgl. auch den Beitrag von Krisztián Ungváry in diesem Band.
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seitdem verstärkt mit anderen Ratniki und unterhielt obendrein enge Kontakte nach Deutschland.54 Noch im Sommer 1940 reiste Belev ins Deutsche Reich, um die sogenannten Nürnberger Gesetze kennenzulernen. Nach seiner Rückkehr kündigte der Innenminister im Juli an, ein antijüdisches Gesetz vorzubereiten. Hieraus erwuchs das ZZN als Basis der weiteren Verfolgung. Zu der Zeit, als Belev zur Vorbereitung eines antijüdischen Gesetzes ins Deutsche Reich reiste, war Bulgarien indes kein abhängiger Achsenstaat wie etwa die Slowakei, die ihre Gründung dem Entschluß Hitlers zur Zerstörung der Tschechoslowakei verdankte. Noch im September 1940, nach dem Vertrag von Craiova, der die Rückgabe der Süddobrudscha von Rumänien an Bulgarien regelte, mußte die Reichsregierung in Berlin vielmehr feststellen, daß Bulgarien nicht in dem Maße wie Ungarn (durch die Gewinnung eines größeren Teils von Siebenbürgen) an das Reich gebunden war und sich gleichzeitig weigerte, eine nationale Regierung einzusetzen sowie sich eindeutig auf die Seite der Achse Berlin-Rom zu stellen.55 Die lavierende Politik des Zaren hatte dafür gesorgt, daß auch die Westmächte und die Sowjetunion diese Grenzverschiebung anerkannten, so daß sie im Friedensvertrag von 1947 nicht rückgängig gemacht wurde. Am 7. Oktober 1940 legte Innenminister Gabrovski dem Ministerrat den zuvor erarbeiteten Entwurf des ZZN zur Genehmigung vor. Nach dessen Zustimmung erfolgte die erste Lesung desselben im November im Parlament. Erst nach dem Abschluß des Dreimächtepaktes zwischen dem Deutschen Reich, Italien und Japan am 27. September 1940 begann das Reich, Druck auf Bulgarien zum Beitritt zu diesem Pakt aufzubauen. Hans-Joachim Hoppe schreibt, daß das ZZN erlassen worden sei, weil die bulgarische Regierung im Herbst 1940 dem Dreimächtepakt nicht beitreten wollte und daher quasi als Ausgleich eine innenpolitische Anpassung an die nationalsozialistische Politik anbot.56 Dies ist jedoch nicht überzeugend, weil bereits im Juli 1940 Vorbereitungen zu einem antijüdischen Gesetz getroffen worden waren, ohne daß es einen deutschen Druck hinsichtlich des damals noch nicht geschlossenen Dreimächtepaktes gegeben hatte. Demnach müssen andere Gründe als die auf deutschen Druck hin erfolgte Anpassung ursächlich gewesen sein, die zudem bereits im Frühsommer 1940 bestanden haben. Frederick B. Chary nennt ebenfalls als Grund für den Erlaß des ZZN deutsche Wünsche und verweist auf eine Äußerung des Zaren gegenüber einem Vertrauten bezüglich dieses Gesetzes, in der dessen Zweifel ausgedrückt werden.57 Diese Äußerung stammt allerdings vom 11. November 1940, also nachdem der Gesetzentwurf vom Ministerrat genehmigt worden war und kurz bevor die erste Lesung im Parlament begann. Da sie jedoch 54 55 56 57
Chary, The Bulgarian Jews, S. 36. Hoppe, Bulgarien – Hitlers eigenwilliger Verbündeter, S. 90f. Ebd., S. 92ff. Chary, The Bulgarian Jews, S. 36f.
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regelmäßig als Beleg für den deutschen Druck und das Nachgeben der bulgarischen Regierung angeführt wird, sei hier ausführlich aus dem Tagebuch des Zarenberaters Ljubomir Hristov Lul ev zitiert, um so den Kontext der Aussage deutlich zu machen: „Ich sprach zu ihm über das Gesetz. Er sagte mir, er habe es nicht gelesen, falls ich ihm etwas sagen wolle, dem er seine Aufmerksamkeit zuwenden solle. Ich las ihm einige Artikel vor und sagte ihm, daß auch jetzt viele Juden erpreßt würden, aber daß das Gesetz, so wie es verfaßt sei, zu viel Willkür und prinzipienlosen persönlichen und interessierten Entscheidungen Gelegenheit gebe. Anders ist es, wenn im Gesetz selbst Normen, konkrete, gegeben werden – wieweit etwas anständig und statthaft ist und wo die Unehrenhaftigkeit beginnt. So, wie es jetzt ist, kann jeder auch aus rein persönlichen Gründen angegriffen werden. Jetzt habe ich begriffen, sagte er mir, es müssen also Grenzen und Normen gesetzt werden, damit es keine Willkür gibt. Ich habe es lange aufgeschoben und wollte nicht, daß wir es auch machen, aber jetzt schließlich, nachdem man es in Rumänien, Ungarn und sogar in Frankreich hat, entschied ich, daß es besser sei, es von uns aus zu tun, als daß man uns dazu zwingt.“58
Dieser Text läßt zahlreiche Schutzbehauptungen erkennen, die entweder vom Zaren selbst aufgestellt wurden oder aus der Feder von Lul ev stammen. Zum Beispiel entspricht es nicht den Tatsachen, daß der Zar dieses Gesetz lange aufgeschoben habe: Die konkreten Vorbereitungen des Gesetzes begannen im Juni/Juli 1940 zu einer Zeit, als die Deutschen Bulgarien nicht zum Erlaß antijüdischer Gesetze drängten. Bereits drei Monate später lag der Entwurf dem Ministerrat vor und nur einen weiteren Monat später, zwischen dem 15. und 20. November 1940, erfolgte die erste Lesung im Parlament. Damit sind die einzelnen Schritte auf dem Weg zum Gesetz zügig und ohne größere Unterbrechungen erfolgt. Auch das weitere Vorgehen bis zur Veröffentlichung im Gesetzblatt zeigt dieses Muster. Trotz erheblicher Proteste gegen das Gesetz stimmte die Narodno S branie (Nationalversammlung) diesem nach der am 20. und 24. Dezember erfolgten zweiten Lesung zu. Am 15. Januar 1941 sandte der Innenminister das ZZN dem Zaren zu, der seine Unterschrift neben Gabrovskis setzte und damit die acht Tage später erfolgte Veröffentlichung im D ržaven Vestnik ermöglichte.59 Auch der Verweis auf die antijüdischen Gesetze in Rumänien und Frankreich greift zu kurz. In Rumänien wurden unter König Carol II. am 8. und 9. August 1940 zwei Gesetze erlassen. Das erste verbot sogenannte Mischehen und das zweite regelte die Staatsbürgerschaft der Juden, abhängig von der Dauer des Aufenthaltes in Rumänien, neu.60 In Frankreich wiederum schuf die Vichy-Regierung eine umfassende Regelung mit dem ersten Statut 58 59 60
Zit. nach Oliver, Wir, die Geretteten, S. 64. Das Original befindet sich im Centralen d ržaven istori eski archiv, Fond 95. D ržaven vestnik, Nr. 16, 23.1.1941. Abgedruckt in: Oceljavaneto, Dokument Nr. 41, S. 157163. Zach, Rumänien, S. 395.
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Juif am 3. Oktober 1940.61 Die Gesetze in beiden Ländern wurden also erst erlassen, nachdem in Bulgarien die prinzipielle Entscheidung zu einem antijüdischen Gesetz gefallen war. In Ungarn wiederum bestanden zwei sogenannte Judengesetze seit 1938 und 1939, die jedoch weitgehend ohne deutsche Einflußnahme entstanden waren. Ähnlich wie in Bulgarien artikulierten sich in Budapest deutliche Widerstände gegen den Erlaß der Gesetze.62 Beide liegen aber zeitlich so weit vor dem bulgarischen, daß kein direkter Zusammenhang festgestellt werden kann. Die Antwort auf die Frage nach den Gründen muß vielmehr in der militärischen Entwicklung während des Zweiten Weltkriegs gesucht werden. Nach der Niederlage Frankreichs im Juni 1940 scheint der bulgarischen Führung eine deutsche Dominanz des europäischen Kontinents wahrscheinlich gewesen zu sein. Entsprechend erfolgte der Besuch Belevs im Deutschen Reich im Zusammenhang mit der Ausarbeitung eines antijüdischen Gesetzes genau zu diesem Zeitpunkt. Es ist unvorstellbar, daß die Schritte hin zum ZZN ohne Zustimmung des Zaren eingeleitet wurden und er erst im Oktober 1940 (nach Erlaß des Statut Juif) entschieden habe, nun ein antijüdisches Gesetz als Beginn einer spezifischen Judenverfolgung erarbeiten zu lassen. Weil dieser seit 1938/39 ein autoritäres Regime, auch als Königsdiktatur bezeichnet63, mit Beamtenkabinetten unter seiner Leitung geführt hat, muß er an der Vorbereitung ab Juli 1940 beteiligt gewesen sein. Daher wird die Antwort in der Einschätzung der künftigen Machtverhältnisse in Europa durch den Zaren und seine von ihm abhängige Regierung zu finden sein. Es handelt sich bei dem Erlass des ZZN nicht um eine Maßnahme aufgrund deutschen Drucks, sondern aufgrund einer Haltung, die als vorauseilender Gehorsam beschrieben werden kann. Dies findet seine Bestätigung zudem darin, daß die bulgarische Führung das Gesetz beschlossen hat, obwohl das Deutsche Reich keine Macht gehabt hätte, dem Land ein solches aufzuzwingen. Anders als in Frankreich gab es in Bulgarien im Jahr 1940 keine Wehrmachtseinheiten als Besatzungstruppen, keine der bulgarischen Regierung übergeordnete Besatzungsverwaltung und keine im Land eigenständig tätig werdenden deutschen Sicherheitsorgane. Daß das antijüdische Gesetz gegen Widerstand aus dem Parlament, der Presse und der Kirche sowie trotz öffentlicher Proteste durchgesetzt wurde, bedeutet, daß die damalige Regierung und mit ihr der Zar bereit war, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen, wenn dies die vermeintliche Staatsräson nahelegte. Zu dieser Staatsräson gehörten selbstverständlich auch ökonomische Interessen wie die starke Ausrichtung auf die deutsche Wirtschaft und die Möglichkeit der Bulgarisierung im Land durch Entzug von Vermögen aus 61 62 63
Juliane Wetzel, Frankreich und Belgien, in: Benz (Hg.), Dimension des Völkermords, S. 105135, hier S. 112. László Vargas, Ungarn, in: ebd., S. 331-351, hier S. 332f. Poppetrov, Flucht aus der Demokratie, S. 394f.
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jüdischem Besitz, wie die erhofften territorialen Gewinne durch ein Bündnis mit der militärisch scheinbar stärksten Macht in Europa, die sich ebenfalls das Ziel der Revision der Pariser Friedensverträge gesetzt hatte.
Vermögensentzug, Deportation und Zwangsarbeit. Zur Judenverfolgung in Bulgarien während des Zweiten Weltkrieges Die Verfolgung der bulgarischen Juden ist an anderer Stelle bereits ausführlich beschrieben worden.64 Hier sollen lediglich wenige Aspekte hervorgehoben werden, die besonders bei Vertretern der Rettungsthese mißachtet oder nur am Rande betrachtet werden. Es handelt sich um die wirtschaftliche Ausplünderung der Juden, um die Deportationen bulgarischer Juden aus dem besetzten Europa und um die Zwangsarbeit jüdischer Männer innerhalb Bulgariens. Wie im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten erfolgten in Bulgarien ökonomische Ausplünderung und soziale Desintegration der Juden als erste Schritte der Verfolgung. Das ZZN bot hierfür die Grundlage und hatte einschneidende Folgen für die jüdische Bevölkerung Großbulgariens. Zum Beispiel regelte Paragraph 21, daß Ausländer die bulgarische Staatsbürgerschaft nicht erwerben konnten (dies wurde etwa auf die Juden der annektierten Gebiete angewandt). Derselbe Paragraph nahm allen Juden das aktive und passive Wahlrecht, verbot eine Anstellung beim Staat oder als Beamter, schloß sie vom Militärdienst aus und schuf stattdessen eine Arbeitsdienstpflicht und verbot Ehen mit Nichtjuden. Paragraph 23 untersagte den Wohnortwechsel ohne ausdrückliche polizeiliche Genehmigung, während Paragraph 24 Juden Grundbesitz verbot. Für Schulen, freie Berufe und bestimmte Wirtschaftszweige wurde ein numerus clausus eingeführt. Daneben legte Paragraph 26 fest, daß Juden ihr Vermögen zu registrieren hatten.65 Allerdings sah das Gesetz Ausnahmen für vor dem 1. September 1940 getaufte Personen, die auch aus jüdischer Sicht keine Juden mehr waren, und „Kriegshelden“ sowie deren Angehörige vor. Frederick B. Chary weist darauf hin, daß auch andere Ausnahmen zugelassen wurden, besonders im ökonomischen Sektor.66 Neben der Ausgrenzung der Juden (dem „sozialen Tod“) war die bulgarische Politik besonders an deren wirtschaftlicher Ausplünderung (dem „ökonomischen Tod“) interessiert. Bereits im Juli 1941 folgte eine besondere Steuer für Juden, die ähnlich der im Deutschen Reich nach den Novemberpogromen einen bestimmten Prozentsatz des Vermögens umfaßte. 64 65
66
Siehe zum Beispiel Chary, The Bulgarian Jews. Jan Rychlík, Zweierlei Politik gegenüber der Minderheit: Verfolgung und Rettung bulgarischer Juden 1940-1944, in: Wolfgang Benz/Juliane Wetzel (Hg.), Solidarität und Hilfe für Juden während der NS-Zeit. Regionalstudien 4: Slowakei, Bulgarien, Serbien, Kroatien mit Bosnien-Herzegowina, Belgien, Italien, Berlin 2004, S. 61-98, hier S. 70f. Chary, The Bulgarian Jews, S. 42f.
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Finanzminister Dobri Božilov begründete diese Regelung damit, daß Juden Bulgarien über 60 Jahre ausgeplündert hätten.67 Die Regelung sah vor, daß Juden für Vermögen von über 200.000, aber unter drei Millionen Leva 20% und für Vermögen über drei Millionen Leva 25% zahlen mußten. Dies galt sowohl für ausländische Juden in Bulgarien als auch für bulgarische Juden im Ausland. „Für die jüdischen Unternehmen kam die Steuer einer Liquidierung gleich, denn sie überstieg die finanziellen Möglichkeiten der meisten Unternehmer.“68 Als nächster Schritt auf dem Weg zur völligen Ausraubung folgte mit dem Dekret vom 26. August 1942 unter anderem die Einrichtung des KEV. Eine seiner Hauptaufgaben war die Liquidierung beziehungsweise „Bulgarisierung“ jüdischer Unternehmen. Zwischen September 1942 und März 1943 löste das KEV mindestens 242 Aktiengesellschaften, 459 Kommanditgesellschaften und 3.911 Firmen, die im Besitz jüdischer Privatpersonen gewesen waren, auf.69 Insgesamt führte die Ausplünderung der Juden dazu, daß der größte Teil der überlebenden Juden im September 1944 vollends verarmt war.70 Ebenfalls im Jahr 1942 begannen die Vorbereitungen zur Deportation von Juden aus Bulgarien. Das bereits genannte Dekret vom 26. August 1942 bestimmte in Paragraph 29, daß die Juden aus der Hauptstadt in die Provinz oder ins Ausland abgeschoben werden können.71 Bereits einen Monat zuvor hatte sich die bulgarische Regierung und damit auch Boris III. grundsätzlich damit einverstanden erklärt, „daß die in Deutschland und im deutschen Machtbereich wohnhaften Juden bulgarischer Staatsangehörigkeit in die gegen Juden geplanten Abschiebungsmaßnahmen einbezogen würden“.72 Hiermit war Bulgarien Vorreiter unter den Achsenstaaten im antijüdischen Sinn. Die Folgen dieses Desinteresses an den eigenen Staatsbürgern lassen sich etwa daran erkennen, daß allein aus Frankreich mindestens 140 bulgarische Juden nach Auschwitz deportiert wurden.73 Daß nicht alle Achsenmächte derart handelten, läßt sich an Ungarn zeigen. Die dortige Regierung, obgleich sie eine deutlich antisemitisch ausgerichtete Innenpolitik betrieb, widersetzte sich deutschem Druck zu einer ähnlichen Einverständniserklärung im Jahr 1942 wirkungsvoll. Noch am 9. März 1943, als in Bulgarien bereits die Deportation der Juden aus den annektierten Gebieten in die Vernichtungslager durchgeführt wurde, stellte das Auswärtige Amt fest: 67 68 69 70 71 72
73
Hier und im Folgenden Chary, The Bulgarian Jews, S. 43. Rychlík, Zweierlei Politik, S. 73. Ebd., S. 78, Anm. 52. Esther Benbassa/Aron Rodrigue, Die Geschichte der sephardischen Juden. Von Toledo bis Saloniki, Bochum 2005, S. 248. Rychlík, Zweierlei Politik, S. 75. United Restitution Organization, Dokumentation Bulgarien (nicht publiziert), Dokument 8: Schreiben der Deutschen Gesandtschaft Sofia an das Auswärtige Amt in Berlin betr. Absprache in der Judenfrage mit Bulgarien vom 6.7.1942. Siehe auch Hoppe, Bulgarien – Hitlers eigenwilliger Verbündeter, S. 285. Wetzel, Frankreich und Belgien, S. 134.
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„Um dem befreundeten Ungarn entgegenzukommen, hat Deutschland die Juden ungarischer Staatsangehörigkeit nicht den gleichen Maßnahmen unterworfen, wie sonstige Juden, sondern Ungarn die Möglichkeit zugestanden, die ungarischen Staatsangehörigen jüdischer Rasse zur Rückkehr nach Ungarn zu veranlassen.“ [Handschriftliche Randnotiz:] „Erst wenn eine solche Rückkehr nicht erfolgt, werden auch die Juden ungarischer Staatsangehörigkeit nach dem Osten verbracht werden.“74
Die von Bulgaren mit durchgeführten Deportationen der Juden im März 1943, auf die hier nicht weiter eingegangen wird, weil sie ebenfalls bereits ausführlich beschrieben wurden,75 setzte diese Politik des Desinteresses an Juden durch die bulgarische Regierung und den Zaren fort und steigerte sie insofern noch dadurch, daß bulgarische Organe nun selbst und direkt daran beteiligt waren. Festzuhalten bleibt indes nur, daß eine derartige DeportationsVereinbarung zwischen dem KEV und dem Deutschen Reich und die anschließende (zumindest teilweise) Umsetzung derselben ohne ausdrückliche Zustimmung der bulgarischen Regierung und Boris III. nicht möglich gewesen wäre. Ähnlich den Verhältnissen im Deutschen Reich, aber auch in Ungarn und Rumänien, wurden männliche Juden in Großbulgarien zur Zwangsarbeit herangezogen. Über diese Zwangsarbeit liegen vor allen Dingen beschönigende Beschreibungen vor. Nach Oschlies hätten etwa keine harten Lebensbedingungen bestanden, weil das Wachpersonal nicht antisemitisch eingestellt gewesen und sogar Zeit zur Erholung geblieben sei.76 Ähnlich argumentierte Gabriele Nissim, indem er behauptet, daß „sich das Leben in den Bataillonen für die meisten Juden einigermaßen erträglich gestaltete“, weil „dort nur selten ein antisemitisches Klima entstand und die Lagerkommandanten wenig Bereitschaft zeigten, Krieg gegen die Juden zu führen“.77 Dieses beschönigende Bild hat mit den damaligen Verhältnissen nur wenig gemein. An dieser Stelle soll daher ausführlicher auf die in speziellen Arbeitsbataillonen geleistete Zwangsarbeit durch jüdische Männer eingegangen werden.78 Das ZZN und die zugehörigen Ausführungsbestimmungen bildeten die Basis für den Zwangsarbeitsdienst für Juden. Noch im Mai 1941 wurden in der Armee dienende jüdische Soldaten in spezielle Arbeitsbataillone versetzt. Ebenfalls zu diesem Zeitpunkt erfolgte die Einberufung von noch nicht 74 75 76 77 78
Judenverfolgung in Ungarn. Dokumentensammlung vorgelegt von der „United Restitution Organization“, Frankfurt/M. 1959, S. 137. Beispielsweise von Chary, The Bulgarian Jews, und Hoppe, Bulgarien – Hitlers eigenwilliger Verbündeter. Oschlies, Bulgarische Juden, S. 31f. Nissim, Der Mann, der Hitler stoppte, S. 126f. Ausführlicher und umfassender wird die Zwangsarbeit behandelt durch Jens Hoppe, Zwangsarbeit von Juden in Bulgarien während des Zweiten Weltkriegs. Die jüdischen Arbeitsbataillone 1941-1944, in: Südost-Forschungen 63/64, 2004/5 (im Druck). Dieser Aufsatz bildet die Grundlage für den folgenden Abschnitt.
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dienenden Juden in Arbeitseinheiten, die allerdings nicht ausschließlich jüdisch zusammengesetzt waren, sondern auch Griechen, Türken und andere umfaßten. Bereits im Sommer 1941 protestierte der Reichsarbeitsdienst gegen diese Behandlung der Juden.79 Der deutsche Gesandte in Sofia, Adolph-Heinz Beckerle, traf sich daraufhin mit dem bulgarischen Außenminister Ivan Popov. In einem Telegramm vom 31. Juli 1941 berichtete er über das Treffen: „Ich habe heute mit dem Außenminister nochmals über die Juden im Arbeitsdienst gesprochen. Er sieht den deutschen Standpunkt vollkommen ein und sagt heute schon grundsätzlich zu, daß er sich um eine Entscheidung in unserem Sinne bemühen werde. Die Juden sollen danach außerhalb des Arbeitsdienstes zusammengefaßt werden, also nicht mehr zum Arbeitsdienst gehören, auch nicht mehr Uniform tragen dürfen, dagegen verschärft zu besonders schweren Arbeiten herangezogen werden. Er will mit den zuständigen Ministerien die Frage sofort klären und regeln.“80
Diese Zusage hat der Außenminister eingehalten, denn bereits am 12. August 1941 beschloß das Kabinett einen Erlaß über den Zwangsarbeitsdienst für Juden.81 Darin wurde verordnet, daß Juden Arbeitsdienst in Sondereinheiten, die dem Ministerstvo na obštestvenite sgradi, p tištata i blagoustrojstvoto (Ministerium für öffentliche Bauten, Straßen- und Städtebau) unterstanden, leisten und ein eigenes Abzeichen tragen mußten (ab September 1942 bestand die Pflicht zum Tragen des sogenannten Judensterns). Zudem hatten sie die bulgarischen Armeeuniformen abzugeben. Mit diesem Kabinettserlaß erhielt „die Dienstverpflichtung für die Juden den Charakter des Strafdienstes statt wie für die Bulgaren den einer ‚nationalen Ehrenpflicht’.“82 Letztlich verschärfte die Sonderbehandlung die Lebensbedingungen für die jüdischen Zwangsarbeiter ab August 1941 erheblich. Wie generell durch das ZZN waren sie nun auch im Arbeitsdienst Bürger minderen Rechts. Bereits Ende 1940 hatte sich eine Entwicklung angebahnt, die einen direkten deutschen Einfluß auf die Gestaltung des Einsatzes jüdischer Zwangsarbeiter ermöglichte. Bei einer Besprechung mit Adolf Hitler im November 1940 sagte der bulgarische Gesandte Draganov, daß für einen möglichen Krieg gegen Griechenland und die Türkei die Straßen und Brücken in Bulgarien ausgebaut werden müßten.83 Hierauf folgend kam es zu einem Abkommen mit der Organisation Todt (OT), die den Ausbau einiger Hauptverbindungsstraßen innerhalb Bulgariens übernahm und zwar auf den 79 80
81 82 83
Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, Berlin 1982, S. 509. Dokument NG 3255, Telegramm von Adolph-Heinz Beckerle vom 31.7.1941. Das Telegramm ist abgedruckt in: Max Münz, Die Verantwortlichkeit für die Judenverfolgung im Ausland während der nationalsozialistischen Herrschaft, Frankfurt/M. 1958, S. 123. Erlaß 113, abgedruckt in: Oceljavaneto, Dokument Nr. 52, S. 172f. Hoppe, Bulgarien – Hitlers eigenwilliger Verbündeter, S. 285. Siehe auch Chary, The Bulgarian Jews, S. 50. Franz W. Seidler, Die Organisation Todt. Bauen für Staat und Wehrmacht 1938-1945, Bonn 1998, S. 72.
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Strecken Sofia-Svilengrad, Nikopol-Harmanli und Ruse-T rnovo.84 Insgesamt diente die Erschließung des bulgarischen Raumes sowohl der Kriegsvorbereitung (Überfall auf Jugoslawien und Griechenland sowie auf die UdSSR) als auch der weiteren Kriegsführung. Der Ausbau der zentralen Verbindungen war im April 1941 keineswegs abgeschlossen, vielmehr wurden ab August 1941 verstärkt jüdische Zwangsarbeitslager etwa entlang der von der OT betreuten Strecke Sofia-Svilengrad eingerichtet. Weitere Baumaßnahmen in Großbulgarien betrafen die Verbindungen nach Makedonien und Griechenland. Für die Wehrmacht war der Ausbau der Fernstraße von Belgrad über Sofia zur türkischen Grenze zentral. Franz W. Seidler beschrieb die Bedeutung der OT hierfür lapidar: „Nach deutschen Plänen baute der bulgarische Arbeitsdienst an dem Projekt.“85 Neben den Straßenbau trat der Ausbau der Eisenbahnverbindungen. Hier war besonders Makedonien wichtig, weil die Verbindung nach Griechenland und damit ein Teil des Nachschubs für den Krieg in Nordafrika über Skopje lief. Entsprechend wurde in dieser Stadt eine Oberbauleitung der „OT-Einsatzgruppe Südost“ eingerichtet.86 Welche Strukturen hatte der bulgarische Zwangsarbeitsdienst für Juden? Wie sahen die Lebensbedingungen in den Arbeitseinheiten und Arbeitslagern aus? Nur durch die Betrachtung sowohl obrigkeitlicher Regelungen als auch der von Zwangsarbeitern geschilderten Lebenswirklichkeit kann die Verfolgung der männlichen Juden im Arbeitsdienst adäquat dargestellt werden. In dem ab August 1941 für den Arbeitseinsatz der Juden zuständigen Ministerium für öffentliche Bauten, Straßen- und Städtebau bestand eine Otdel vremenna trudova povinnost (Abteilung für den zeitweiligen Arbeitsdienst), die von den Obersten Chala ev und ab 1943 Mumdžiev geleitet wurde.87 Diese beiden bestimmten den Ablauf der Zwangsarbeit und die Ordnung in den Arbeitslagern. Das im August 1942 geschaffene und dem Innenministerium zugeordnete KEV gewann unter Aleksand r Belev Einfluß auch auf die jüdischen Arbeitsbataillone.88 Zum Beispiel regelte eine Verordnung des Ministerrates im März 1943, daß das KEV über die (zeitweilige) Befreiung vom Arbeitsdienst von Personen jüdischer Herkunft entschied, die a) der Lagerunterbringung unterlägen, b) bereits in Arbeitsgruppen dienten oder dienen sollten und c) zur Arbeit in staatlichen, kommunalen oder autonomen Institutionen und Privatbetrieben einberufen worden waren oder würden.89 84 85 86 87
88 89
Ebd. Ebd., S. 75. Hervorhebung durch den Verfasser. Ebd., S. 72, 75f. Siehe etwa United States Holocaust Memorial Museum (USHMM), Mikrofilm 1997.A.0333, Rolle 296, Anordnungen des Ministeriums für öffentliche Bauten, Straßen- und Städtebau, Abteilung zeitweiliger Arbeitsdienst, Nr. 3706 vom 14.7.1942 und Nr. 9748 vom 4.11.1943. Zur Rolle des Kommissariats für Judenfragen generell siehe Hoppe, Bulgarien – Hitlers eigenwilliger Verbündeter, S. 282-285. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0333, Rolle 296, 29. Verordnung des Ministerrats, Protokoll Nr. 34 vom 5.3.1943.
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Die Arbeitseinheiten hatten eine am Militär orientierte Struktur. Oberste Einheit bildete die Trudova družina (Arbeitsbataillon). Im November 1943 bestanden die Bataillone 1, 2, 5, 6 und 12 vollständig oder zum großen Teil aus jüdischen Zwangsarbeitern.90 Diese Arbeitsbataillone setzten sich wiederum aus Roti (Kompanien) zusammen, die in Otrijadi (Züge oder Abteilungen) unterteilt waren. Als unterste Einheit existierten die Trudovi rabotni grupi (Arbeitsgruppen, TRG), die den Zusatz „jüdisch“ erhielten, wenn in ihnen ausschließlich Juden arbeiteten.91 Jedes Arbeitsbataillon wurde von einem Na alnik (Leiter) geführt, der Vorgesetzter der Leiter der anderen Ebenen war. Auf der Gruppenebene gab es Leiter der einzelnen jüdischen Arbeitsgruppen sowie einen Gesamtleiter der Arbeitsgruppen eines Arbeitsbataillons.92 Aufgrund der topographischen und klimatischen Bedingungen wurden die jüdischen Zwangsarbeiter im Winter 1941 von ihren Bataillonen vorübergehend nach Hause geschickt, doch galten sie nicht als entlassen, sondern nur als in „unbefristeten Urlaub“ gesetzt.93 In den folgenden Jahren wurden die Männer in der Regel zwischen Ende Januar und Ende März erneut zur Zwangsarbeit in Arbeitsbataillone eingezogen, um jeweils zwischen Ende Oktober und Ende November desselben Jahres erneut in „unbefristeten Urlaub“ geschickt zu werden. Lediglich im Jahr 1944 endete der Arbeitsdienst bereits im September nach der Übernahme der Regierungsgewalt durch die Vaterländische Front. Die Altersgrenzen der jüdischen Zwangsarbeiter veränderten sich im Laufe der Jahre leicht. Im Juli 1941 war vorgesehen, Personen zwischen 20 und 44 Jahren einzuziehen, doch sind auch Wehrpflicht leistende Juden aus der Armee hinzugekommen, so daß bereits 18-jährige in den jüdischen Arbeitsgruppen zu finden waren.94 Genau ein Jahr später erfolgte die Erhöhung der oberen Altersgrenze auf 45 Jahre.95 Bereits im Februar 1943 sprach sich Belev dafür aus, Juden zwischen 18 und 48 Jahren in Arbeitslagern einzusetzen.96 Der Ministerrat erhöhte die obere Altersgrenze in einem Dekret vom 28. Mai 90
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94 95 96
Siehe USHMM, Mikrofilm 1997.A.0333, Rolle 296, Anordnung des Ministeriums für öffentliche Bauten, Straßen- und Städtebau, Abteilung zeitweiliger Arbeitsdienst, Nr. 9748 vom 4.11.1943. Siehe USHMM, Mikrofilm 1997.A.0333, Rolle 296, Erlaß des Ministeriums für öffentliche Bauten, Straßen- und Städtebau, Abteilung für den zeitweiligen Arbeitsdienst, Nr. 4170 vom 22.7.1942 und Verordnung des Ministeriums für öffentliche Bauten, Straßen- und Städtebau, Abteilung für den zeitweiligen Arbeitsdienst, Nr. 5557 vom 8.9.1942. Siehe USHMM, Mikrofilm 1997.A.0333, Rolle 296, Erlaß des Ministeriums für öffentliche Bauten, Straßen- und Städtebau, Abteilung für den zeitweiligen Arbeitsdienst, Nr. 4170 vom 22.7.1942. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0333, Rolle 296, Erlaß des Ministeriums für öffentliche Bauten, Straßen- und Städtebau, Abteilung für den zeitweiligen Arbeitsdienst, Nr. 9748 vom 4.11.1943. Tamir, Bulgaria and Her Jews, S. 176. Chary, The Bulgarian Jews, S. 66. Ebd., S. 78.
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1943 schließlich sogar auf 50 Jahre.97 Doch bestimmte eine Anordnung des Kriegsministeriums, daß als obere Altersgrenze vorerst 46 Jahre gelten sollte. Dem Heeresstab wurde aber das Recht eingeräumt, auch eine andere Altersgrenze festzulegen und damit doch bis zu 50-jährige einzuziehen.98 Die Arbeitsleistung der Juden in den Arbeitsbataillonen wurde vom Ministerium für 1941 und das erste Halbjahr 1942 als nicht zufriedenstellend angesehen. Die jüdischen Zwangsarbeiter hätten weder quantitativ noch qualitativ die gewünschte Arbeit erbracht, vielmehr sich illegaler Mittel bedient, um von der Zwangsarbeit befreit zu werden, etwa Krankheiten simuliert, und wären Anfang 1942 zahlreich aus den Arbeitslagern entflohen.99 Daher wurden die Strafen für Verstöße gegen bestehende Anordnungen verschärft. Neben den existierenden Disziplinarstrafen gab es ab sofort unter anderem a) keine Korrespondenz für bis zu drei Monate, b) keinen Urlaub für bis zu drei Monate, c) kein warmes Essen für bis zu zehn Tage, d) den Entzug der Matratze für bis zu 20 Tage und e) eine nur aus Brot und Wasser bestehende Ernährung für bis zu zehn Tage. Allerdings sollten höchstens drei dieser Sonderstrafen gleichzeitig auferlegt werden. Alle Juden unterstanden darüber hinaus den Militärgerichten, so daß – in Kriegszeiten üblich – auf schwere Verstöße die Todesstrafe stand. Zudem wurden spezielle Disziplinargruppen eingerichtet, die ein noch strengeres Lagerregime hatten. Außerdem kündigte das Ministerium an, daß diese nach Ende der Arbeitssaison (also spätestens Ende November) weiterarbeiten würden. Folglich sind viele Juden in den Jahren 1942 und 1943 erst nach dem 15. Dezember aus den Arbeitsbataillonen vorübergehend nach Hause geschickt worden. Beispielsweise wurden die jüdischen Zwangsarbeiter aus dem Lager Solu-Dervent (heute Momina Banja), in dem eine Disziplinargruppe des 2. Arbeitsbataillons zum Ausbau der Straße Sofia-Plovdiv untergebracht war, erst am 20. Dezember 1942 nach Hause entlassen.100 Die Arbeitslager für jüdische Zwangsarbeiter hatten eine eigene Organisation. An deren Spitze stand ein Kommandant, dem bulgarische Soldaten sowie ein spezielles Personal für die Lagerverwaltung und alle mit der Zwangsarbeit zusammenhängenden Aufgaben unterstanden. Vorgesehen waren zum Beispiel ein Unterleiter, ein Verwalter, ein Schreiber, ein Feld97 98 99
100
Tamir, Bulgaria and Her Jews, S. 176. Siehe USHMM, Mikrofilm 1997.A.0333, Rolle 296, Anordnung des Kriegsministeriums, Nr. IV.M 3776 vom Juni 1943, Abschnitt 13m. Hier und im folgenden USHMM, Mikrofilm 1997.A.0333, Rolle 296, Anordnung des Ministeriums für öffentliche Bauten, Straßen- und Städtebau, Abteilung für den zeitweiligen Arbeitsdienst, Nr. 3706 vom 14.7.1942. Amt für Wiedergutmachung Saarburg, Aktenzeichen 355686, Bescheinigung des Leiters der Disziplinargruppe in Solu-Dervent für David A. E. aus Sofia vom 20.12.1942. Laut BEGUnterlagen mußten auch Jako F. und Šabtai M. aus Šumen sowie Buko M. aus Gorna Džumaja (heute Blagoevgrad) in dem Arbeitslager Solu-Dervent bis 20. Dezember 1942 Zwangsarbeit leisten (Amt für Wiedergutmachung Saarburg, Aktenzeichen 295746). Die Einsicht in Unterlagen aus BEG-Verfahren verdanke ich Dr. Karl Brozik.
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scher und ein Helfer.101 Nach Erlaß des Ministeriums für öffentliche Bauten, Straßen- und Städtebau mußten die Lager der jüdischen Arbeitsgruppen abseits von Siedlungen errichtet werden, damit die Juden unter ständiger, strenger Kontrolle der Leiter zu halten waren. Zugleich war es den jüdischen Zwangsarbeitern verboten, sich in der Umgebung der Lager und Siedlungen frei zu bewegen.102 Damit sollte sichergestellt werden, daß jüdische Zwangsarbeiter weder Kontakt mit Nichtjuden noch mit Angehörigen aufnehmen konnten. Diese Trennung der Juden von ihrer Umwelt entsprach dabei den von deutscher Seite im Sommer 1941 geäußerten Vorstellungen über die Behandlung von Juden im Arbeitsdienst. Die in allen Lagern anwesenden Ingenieure hatten wie die Lagerleiter eine herausgehobene Position. Sie sollten dafür sorgen, daß die geplanten Arbeiten von den Juden ordnungsgemäß ausgeführt und die für jeweils ein Jahr vorgesehenen Maßnahmen an den Straßen, Eisenbahnstrecken oder auch Flußdämmen erfolgreich beendet wurden. Dadurch gelangten sie oft in eine Position als Verfolger der Juden. Der ehemalige Zwangsarbeiter Žak N. Primo gab im Februar 1945 zu Protokoll, daß die jüdische TRG in Ichtiman 1944 nicht von den militärischen Leitern, sondern durch den Ingenieur Ivan Gašarov geführt worden war.103 Dieser galt als Schrecken der Arbeitsdienstler und leitete das Lager durch ein Terrorsystem. Dabei stützte er sich auf systematische Verprügelungen (am Einsatzort der Arbeitsgruppe, im Lager und beim Appell), Zwangsarbeit bis zur Erschöpfung, die selbst von Kranken abgeleistet werden mußte, und die Einweisung in das örtliche Polizeigefängnis, in dem die Zwangsarbeiter auf seine Anordnungen hin weiter gequält wurden. Infolge des vorrangigen Einsatzes der jüdischen Zwangsarbeiter zu Bauarbeiten entstanden die Arbeitslager in der Nähe der Straßen- und Eisenbahnverbindungen oder an Flüssen. Mit Fertigstellung der jeweiligen Baumaßnahmen wurden die Zwangsarbeiter an andere Baustellen verlegt, weshalb einige Lager nur während einer oder zwei Bausaisons bestanden. Dieses „Baustellenprinzip“ existierte auch in Rumänien. Daher gab es in beiden Ländern viele Arbeitslager für Juden: Für Bulgarien können aus den diversen Quellenbeständen wie Zeugenaussagen, Unterlagen aus Verfahren nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) und anderen Entschädigungsprogrammen über 100 Arbeitslager für Juden nachgewiesen werden, wohingegen es in
101 102
103
USHMM, Mikrofilm 1997.A.0333, Rolle 296, 125. Verordnung des Ministerrats, Protokoll Nr. 94 vom 22.7.1942. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0333, Rolle 296, Erlaß des Ministeriums für öffentliche Bauten, Straßen- und Städtebau, Abteilung für den zeitweiligen Arbeitsdienst, Nr. 5691 vom 15.9.1942. Hier und im folgenden USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Žak N. Primo vom 24.2.1945.
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Rumänien entsprechend der Landesgröße und der Stärke der jüdischen Gemeinschaft bis zu 700 gegeben haben wird.104 Das ZZN sah vor, daß Juden, die körperlich nicht zur Ableistung von Zwangsarbeit in der Lage waren, als Ersatz eine Steuer bezahlen mußten.105 Daher bedurfte es einer Kontrolle der zur Zwangsarbeit einberufenen Juden, die durch eine Kontrollkommission in der vorgesehenen Arbeitsgruppe durchgeführt wurde.106 Diese Kommission entschied über die Tauglichkeit, wobei sie auch eine Einschränkung des Einsatzes auf physisch leichte Tätigkeiten innerhalb des Lagers aussprechen konnte. Zum Beispiel arbeiteten im April 1943 bei der 8. jüdischen TRG vier Juden in der Lagerküche, die von der Kontrollkommission zu leichten Lager- oder Schreibstubenarbeiten bestimmt worden waren.107 Die Kommissionen haben indes keine Kontrollen wie bei militärischen Musterungen durchgeführt, sondern Juden entsprechend ihres Status als Verfolgte in der Regel für tauglich befunden, so daß sich etwa im Arbeitslager Ichtiman 1944 zwei geistig Behinderte, mehrere Tuberkulosekranke und sogar ein Invalide, dem eine Kniescheibe fehlte und der als Kriegswaise eigentlich gesetzlich von der Ableistung von Zwangsarbeit befreit war, befanden und Zwangsarbeit leisteten.108 Wie hoch die Zahl der jüdischen Zwangsarbeiter in Bulgarien letztlich war, ließ sich aus dem zugänglichen Quellenmaterial nicht eindeutig klären. In einem Schnellbrief an das Auswärtige Amt vom 17. Mai 1943 heißt es, daß rund 6.000 Juden in Arbeitsgruppen im Einsatz seien und weitere 8.000 in Kürze eingezogen würden.109 Dies bedeutete, daß etwa 14.000 bulgarische Juden (oder rund 22,1% der 63.400 Juden in Großbulgarien) Zwangsarbeit auf diese Art geleistet hätten. Nach einer anderen Quelle gab es jedoch bereits im Mai 1942 8.500 jüdische Zwangsarbeiter,110 während Raul Hilberg für den Juni 1942 3.300 und für das Frühjahr 1943 etwa 10.000 jüdische Zwangs104
105 106 107 108 109
110
Aus den von mir eingesehenen Unterlagen konnten keine exakten Existenzzeiträume der Lager ermittelt werden. Hierzu bedürfte es intensiver Forschungen in bulgarischen Archiven. Zu Rumänien siehe Schreiben von Radu Ioanid, US Holocaust Memorial Museum Washington, an Peter Heuß, Claims Conference Frankfurt/M., vom 5.4.2001, in dem Ioanid in einer Liste der „Detasamente de exterioare de lucru“ weit über 300 Arbeitslager für rumänische Juden aufführt, die im Straßenbau oder bei Eisenbahntrassen eingesetzt wurden. Zugleich bemerkte er, daß diese Liste „unfortunately incomplete“ sei. Aufgrund von Zeugenaussagen in BEG-Verfahren lassen sich mehrere hundert weitere Lager in Rumänien identifizieren, so daß mit bis zu 700 Arbeitslagern der rumänischen Arbeitsbataillone gerechnet werden kann. Tamir, Bulgaria and Her Jews, S. 170. Siehe Yad Vashem, Fonds M.67, Aussage von Isidor Š. Natan vom 1.2.1945. Yad Vashem, Fonds M.67, Bericht des Hauptinspektors des zeitweiligen Arbeitsdienstes Rogušarov vom 12.4.1943. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Leon Ž. Olivenbaum vom 26.1.1945. United Restitution Organization, Dokumentation Bulgarien (nicht publiziert), Dokument 99: Schnellbrief des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD an das Auswärtige Amt vom 17.5.1943. Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht 18, 1967, S. 395.
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arbeiter angibt.111 Aufgrund der Literaturlage und dem Faktum, daß zwischen 1941 und 1944 jedes Jahr Juden zur Zwangsarbeit herangezogen wurden, darunter auch solche, die im Vorjahr noch nicht einberufen worden waren, kann von etwa 12.000 Juden (18,9% aller Juden) in den jüdischen Arbeitsgruppen ausgegangen werden. Nachdem der Rahmen der jüdischen Arbeitsbataillone abgesteckt worden ist, gilt es nun, an Beispielen die Lebenswirklichkeit der Zwangsarbeit leistenden Juden zu zeigen. Hierzu folgen Betrachtungen der äußeren Bedingungen in den Arbeitslagern, der Lagereinrichtungen, der Bewachung, der Arbeitsbedingungen, der medizinischen Versorgung und des Strafensystems. Die Lager der jüdischen TRG befanden sich regelmäßig außerhalb kleinerer oder größerer Ortschaften. Vereinzelt scheinen jüdische Gruppen auch in Schulgebäuden untergebracht worden zu sein. Allerdings ist eine derartige Unterbringung, die nicht den Vorgaben entsprach, regelmäßig nach kürzerer Zeit beendet worden, wie der Fall Svištov zeigt. Dort mußte die Arbeitsgruppe, nachdem Rajko Bo ev Kolevski die Leitung übernommen hatte, aus der Schule in ein Lager direkt an einem Sumpf umziehen. Die Juden wurden in großen Zelten untergebracht, doch fehlten Pritschen, weshalb sie auf dem Boden schliefen. Bei Regen lebten die Juden daher „in Wasser und Schlamm“.112 Das generelle Verbot, die Lager ohne Erlaubnis zu verlassen, wurde durch eine permanente Überwachung der Juden durch bulgarische Soldaten und in vielen Lagern durch die Errichtung eines Stacheldrahtzauns sichergestellt. Beispielsweise bestand eine Umzäunung im 1941 eingerichteten Arbeitslager Beli Izvor113 und 1942 in Transka Klisura, im bulgarisch besetzten Teil Jugoslawiens, in Rudnik und in Saranjevo.114 Dort, wo zumindest zeitweise kein Zaun bestand, kam es zu Übertritten des Verbots durch Zwangsarbeiter, denen in solchen Fällen eigentlich die Todesstrafe oder mindestens 15 Jahre Gefängnis drohte. Allerdings scheinen viele Leiter unerlaubtes Verlassen der Lager mit „lagerinternen“ Strafen geahndet zu haben: So wurde Marko Pinkas, der an einem Sonntag aus dem Lager Zvani evo in ein angrenzendes Feld gegangen war und sang (also keinen Fluchtversuch unternahm), vom Lagerleiter Georgi alemov auf dem Feld durch Schläge auf den Kopf und ins Gesicht gestoppt, dann ins Lager zurückgeschleppt und dabei weiterhin 111 112 113
114
Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, S. 509. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussagen von Žak Solomon Tadžev vom 28.1.1945 und Sami Ch. Alšech, o. D. (1945). Amt für Wiedergutmachung Saarburg, Aktenzeichen 359486, BEG-Antrag für Schaden an Freiheit von Moše S. aus Sofia und Aktenzeichen 406708, Eidesstattliche Erklärung von Žak O., o. D. (vor 1965). Amt für Wiedergutmachung Saarburg, Aktenzeichen 219590, BEG-Antrag für Schaden an Freiheit von Samuel F. aus Sofia (Transka Klisura) und Aktenzeichen 406708, Eidesstattliche Erklärung von Žak O., o. D. (vor 1965) (Saranjevo); Yad Vashem, P.37/197, Aussage von Azarja Solomon Aladžem (Rudnik). Den Hinweis auf diese Quelle aus dem Privatarchiv von Benjamin Arditi verdanke ich Sonja Levi aus Jerusalem.
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geschlagen und beschimpft.115 Ein anderes verbreitetes Mittel, Juden am unerlaubten Verlassen der Lager zu hindern, war die Drohung, daß deren Familien dafür leiden müßten bzw. ab 1943, daß diese nach Polen deportiert werden würden.116 Die jüdischen Zwangsarbeiter waren in den Lagern gewöhnlich in Zelten oder einfachen Baracken untergebracht. Im Lager Love schliefen sie 1943 in Zelten oder Erdbunkern und im Lager Bov 1941 in Zelten auf dem Erdboden.117 In den einzelnen Zelten waren etwa 30 bis 40 Mann untergebracht. Ein ehemaliger Zwangsarbeiter schilderte in seinem BEG-Verfahren die daraus resultierende Enge: „Man hatte kaum Platz nebeneinander zu sitzen, geschweige noch sich in der Nacht, nach verrichteter Schwerarbeit am Straßenbau, hinzustrecken.“118 Hingegen bestanden in den Lagern Michalkovo und Kosovo bei Provadija einfache Baracken, in denen die Juden ebenfalls in großer Enge untergebracht waren.119 Da die Unterkünfte keine hygienischen Einrichtungen besaßen, waren die Zwangsarbeiter auf Abortgruben und einfache Waschgelegenheiten im Freien angewiesen. So gab es im Lager Stare Orechovo lediglich einen Wasserhahn, der das Trink- wie auch das Waschwasser lieferte.120 Als eine Form der Schikane wurde etwa den Zwangsarbeitern der 6. jüdischen TRG, die in der Nähe von Sv. Vra (heute Sandanski) am Ausbau der Verkehrswege ins besetzte Griechenland arbeiteten, verboten, nachts zur Erledigung ihrer Notdurft das Zelt zu verlassen.121 Die Mahlzeiten wurden (wie für die Angehörigen der 16. jüdischen TRG im Jahr 1942 nachgewiesen) gewöhnlich in Essbaracken eingenommen.122 Allerdings gab es Fälle, wo das Essen zu den Baustellen gebracht wurde, sei es, weil die Lager zu weit entfernt waren123 oder als schikanöse Maßnahme124. Daneben bestanden lagertypische Einrichtungen wie Küche und Schreibstube, in denen einzelne Juden arbeiteten.
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118 119 120 121 122 123 124
Yad Vashem, M.67/169, Aussage von Nisim Aron Papo, o. D. (1945). USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Daniel Josiv Ovadija vom 2.2.1945 und Yad Vashem, M.67, Aussage von Marko Bochor Sorev vom 1.2.1945. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Aron Sabetai Aronov vom 23.2.1945 (Love ), Amt für Wiedergutmachung Saarburg, Aktenzeichen 222718, Eidesstattliche Erklärung von Nisim C. aus Ruse vom 7.3.1957 (Bov). Amt für Wiedergutmachung Saarburg, Aktenzeichen 157068, Eidesstattliche Erklärung von Izhak L. aus Pazardžik vom 15.7.1956. Ebd. und Aktenzeichen 406840, Eidesstattliche Erklärung von Jomtov M. aus Chaskovo. Yad Vashem, M.67, Aussage von Maks Aron Menachemov, o. D. (1945). Yad Vashem, M.67/169, Aussage von Bezalel Bochor Delarev, o. D. (1945). USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Meïr Solomon Kaneti, o. D. (1945). Polizeireport vom 27.8.1941. Den Hinweis auf diese Quelle verdanke ich Steven F. Sage aus Washington. Angehörige der 2. jüdischen TRG des 1. Arbeitsbataillons berichteten aus dem Lager Ichtiman, daß der Ingenieur Ivan Gašarov im September 1943 anordnete, das Essen zur Baustelle zu bringen. Vgl. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Gruppenaussage von 13 Juden, o. D. (1945).
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Die Bewachung organisierten die Lagerleiter, die zugleich Vorgesetzte der Wachen waren. Handelten Leiter in den Augen der Abteilung des zeitweiligen Arbeitsdienstes zu judenfreundlich oder waren die Arbeitsergebnisse mangelhaft,125 wurden sie regelmäßig durch strengere Leiter ersetzt. Dies geschah mit Georgi Markov, dem Leiter der 16. jüdischen TRG des 1. Bataillons in Transka Klisura, der 1942 durch Aleksej Ivan ev ersetzt wurde.126 Im Lager Gradešnica wechselten im ersten Halbjahr 1943 die Lagerleiter sogar mehrfach, bis mit Nikifov Pavlov ein antisemitischer Lagerleiter gefunden war.127 Zudem erging im August 1943 ein Geheimbefehl an alle Lagerkommandanten, in dem unter anderem darauf hingewiesen wurde, daß nur die ernsthaftesten und strengsten Kommandanten über jüdische Kompanien eingesetzt werden dürfen.128 Letztlich sind dadurch alle Lager (mit Ausnahme der Zeiten, in denen die „milden“ Leiter amtierten), entgegen der Behauptung von Wolf Oschlies, durch judenfeindlich gesinnte Leiter geführt worden. Die Lagerwachen waren ebenso bewaffnet wie die Eskorten aus bulgarischen Soldaten, die die jüdischen Zwangsarbeiter vom Lager zu den Baustellen begleiteten und dort bewachten. Ein ehemaliger Zwangsarbeiter charakterisierte die Bewacher 1945 als Säufer, deklassierte Leute, die nichts anderes fertigbrächten und ihr Brot auf andere Weise nicht verdienen könnten, sowie als Sadisten, die wegen einer schnelleren Karriere, einem Offiziersgrad und materiellen Vergünstigungen bereit gewesen seien, die Not der Juden auszunutzen.129 Andere wurden als Antisemiten, Faschisten und Schläger beschrieben, die Gefallen an der Ausübung von Macht über wehrlose Menschen gefunden hätten.130 Die Behandlung der Juden durch die Wächter war entsprechend der unter ihnen verbreiteten antisemitischen Einstellung in vielen Fällen grausam und unmenschlich. Dieses Verhalten wurde bereits dadurch gestützt, daß Juden durch das ZZN als auszugrenzende Fremde eingestuft wurden. Hinzu kam etwa die Charakterisierung der Juden als Menschen mit negativem und verbrecherischem Bewußtsein in einer Anordnung aus dem Juli 1942 und als windige Menschen, die nur ungern arbeiteten, die faul und unnütz seien, in
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USHMM, Mikrofilm 1997.A.0333, Rolle 296, Verordnung Nr. 8790 vom 14.8.1942. Das Ministerium für öffentliche Bauten, Straßen- und Städtebau monierte die zu geringe Arbeitsleistung der jüdischen Arbeitsgruppen im Lager Mikre und an der Straße VarnaBurgas und führte dies auf zu schwache Leiter zurück. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Isak Daniel Isakov, o. D. (1945). Yad Vashem, M.67, Aussage von Avram Santo Melamed, o. D. (1945). Geheimbefehl Nr. 28 vom 8.8.1943. Den Hinweis auf diese Quelle verdanke ich Shlomo Shaltiel aus Tel Aviv. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Aron Sabetai Aronov vom 23.2.1945. Yad Vashem, M.67, Aussagen von David Josif Davidov vom 17.1.1945 und Rafeal Albert akerov vom 28.1.1945.
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einem Geheimbefehl vom August 1943.131 Darüber hinaus hatte ein Erlaß 1942 festgelegt, daß bereits kleinste Verstöße bestraft werden mußten,132 so daß eine brutale Behandlung durch die Wächter durch verschiedene Anordnungen gedeckt war. Zeigte sich ein Bewacher gegenüber den Juden menschlicher, drohte ihm Schikanierung durch den Lagerleiter, wie es aus der 16. jüdischen TRG berichtet wird.133 Doch wie sah die Behandlung der Juden konkret aus? Die 1995 in Sofia erschienene Dokumentensammlung über die Verfolgung der Juden in Bulgarien vermerkt hierzu knapp, daß die Behandlung durch „harsh treatment and abuse“ gekennzeichnet war.134 Genauere Informationen bieten Zeugenaussagen ehemaliger Zwangsarbeiter aus dem Jahr 1945. Durch die Schilderungen aus der unmittelbar auf die Zwangsarbeit folgenden Zeit ist zudem auszuschließen, daß eine aus der Erinnerung verklärte Sicht geboten wird. Als erstes sei auf einen Fall aus dem Lager in Lozen-Zvani evo verwiesen: Der dortige Unterleiter Lesev schlug den Juden Moris N. Alfandari mit dem Griff der Hacke, bis dieser halb tot auf dem Boden lag. Gleichzeitig wurde von Lesev jegliche medizinische Hilfe untersagt. Am Abend desselben Tages wurde Alfandari, nachdem er beim Abendappell heraustreten mußte, erneut grausam verprügelt, bis er wiederum fast bewußtlos auf dem Boden lag. Danach trat der Unterleiter ihn mit Stiefeln, trampelte auf ihm herum und sprang sogar auf ihn.135 In Marikostino bei Sv. Vra wurde 1943 ein junger Jude namens Žak vom Lagerleiter, der die Zwangsarbeiter regelmäßig mit der Schaufel schlug, bis sie sich windend am Boden lagen, dermaßen verprügelt, daß er seine Zunge verschluckte und sich den Kiefer ausrenkte. Durch andere Zwangsarbeiter vor dem Ersticken gerettet, war es ihm eine Woche lang unmöglich, feste Nahrung zu sich zu nehmen.136 Zur alltäglichen Behandlung der Juden gehörten neben Prügel am Einsatzort und öffentlichen Verprügelungen vor den zum Appell angetretenen Zwangsarbeitern auch Verunglimpfungen, Beschimpfungen und Drohungen mit Erschießung oder Deportation. Zum Beispiel sagte der Leiter der 6. jüdischen TRG 1943, daß ihnen das gleiche passieren könnte wie sieben Mann vom 12. Bataillon, die zwei Jahre zuvor wegen Rebellion erschossen worden seien.137 Der neue Leiter der 7. jüdischen TRG in Gradešnica wiederum hielt nach seiner Ankunft eine Ansprache und erklärte, daß die Juden überall 131
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USHMM, Mikrofilm 1997.A.0333, Rolle 296, Anordnung des Ministeriums für öffentliche Bauten, Straßen- und Städtebau, Abteilung zeitweiliger Arbeitsdienst, Nr. 3706 vom 14.7.1942 und Yad Vashem, Geheimbefehl Nr. 28 vom 8.8.1943. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0333, Rolle 296, Erlaß des Ministeriums für öffentliche Bauten, Straßen- und Städtebau, Abteilung für den zeitweiligen Arbeitsdienst, Nr. 5691 vom 15.9.1942. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Meïr Solomon Kaneti, o. D. (1945). Oceljavaneto, S. 64. Yad Vashem, M.67, Aussage von Isak Juda Almalech, o. D. (1945). Yad Vashem, M.67, Aussage von Albert Ruben Baruch vom 7.2.1945. Yad Vashem, M.67/169, Aussage von Bezalel Bochor Delarev, o. D. (1945).
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vertrieben worden seien und nun auch aus Bulgarien vertrieben würden, daß sie von der Erde weggefegt werden würden und daß er der Mörder von neun Arbeitsdienstlern aus der 11. TRG sei, die der Rebellion beschuldigt worden waren.138 Zu den üblichen Beschimpfungen gehörten Aussagen wie Juden seien „Bolschewisten“, sie seien Schuld am Krieg, Scharlatane, korrupt; auch wurden sie als Pevrei (anstatt Evrei) und als griechisches Gift bezeichnet sowie dreckige Hunde, Gesindel, jüdisches Pack, dreckige Juden und Verräter genannt.139 Allerdings gab es einen Weg für Juden, die Geld mit ins Lager gebracht hatten oder organisieren konnten, sich Erleichterung zu verschaffen: Bestechung der Wachen. So war es möglich, zu leichteren Arbeiten eingeteilt zu werden, zusätzliche Nahrungsmittel und Getränke zu erhalten sowie für ein paar Tage aus dem Lager „in den Urlaub“ entlassen zu werden. Der vorübergehende Urlaub war ein Recht der allgemeinen Arbeitsdienstler, das im ersten Halbjahr 1941 auch Juden zustand, bevor ihnen der Erlaß vom 12. August 1941 dieses nahm. 1943 hatte Oberst Mumdžiev, der neue Leiter der Abteilung für den zeitweiligen Arbeitsdienst, das Urlaubsrecht erneuert und angeordnet, daß nach 105 Arbeitstagen sieben Tage Urlaub gewährt werden sollten.140 Von Ausnahmen abgesehen, haben die Lagerleiter Urlaub jedoch ausschließlich gegen Bestechung gewährt und dabei pro Urlaubstag 1.000 Leva genommen.141 Zu Zahlungen waren nur wohlhabende Juden in der Lage, folglich kam nur ein sehr kleiner Teil der jüdischen Zwangsarbeiter in den Genuß dieser Vergünstigung. Der Tagesablauf der Zwangsarbeiter wurde maßgeblich durch die zeitliche Verteilung der Arbeit bestimmt. Den Rahmen setzte hier das Ministerium für öffentliche Bauten, Straßen- und Städtebau. Für das Jahr 1943 bestimmte eine Anordnung, daß in den Monaten April, Mai, Oktober und November von Montag bis Freitag täglich achteinhalb Stunden Zwangsarbeit, in den Monaten Juni und September neun Stunden sowie im Juli und August neuneinhalb Stunden geleistet werden mußten.142 In allen Monaten sollte zudem an jedem Samstag noch einmal acht Stunden gearbeitet werden. Die Wege zur Baustelle galten dabei nicht als Arbeitszeit. Der Sonntag war für das Waschen der Männer und der Wäsche sowie für das Reinigen der Zelte vorgesehen. Der morgendliche Beginn der Zwangsarbeit lag zwischen 7 Uhr im Sommer und 8 138 139
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Yad Vashem, M.67, Aussage von Josif A. Bechar, o. D. (1945). Yad Vashem, M.67, Aussage von Isak N. Vidas, o. D. (1945); USHMM, Mikrofilm 1997. A. 0332, Rolle 7, Aussagen von Meïr Solomon Kaneti, o. D. (1945), Sami Josif Adato, o. D. (1945) und Perec Chaim Perec, o. D. (1945). Siehe USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Gruppenaussage von 13 ehemaligen Zwangsarbeitern der 2. jüdischen TRG des 1. Bataillons in Ichtiman, o. D. (1945). Yad Vashem, M.67, Aussagen von David Josif Davidov vom 17.1.1945, Benjamin Jakovlev Wajsberg vom 3.2.1945 und Albert Ruben Baruch vom 7.2.1945. Hier und im folgenden USHMM, Mikrofilm 1997.A.0333, Rolle 296, Anordnung des Ministeriums für öffentliche Bauten, Straßen- und Städtebau, Abteilung zeitweiliger Arbeitsdienst, Nr. 153 vom 3.5.1943.
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Uhr im Winter, während als Arbeitsende im Sommer 19 Uhr 30 und im Winter 18 Uhr bestimmt wurden. In der Realität haben sich zahlreiche Lagerleiter nicht an diese vorgeschriebenen Zeiten, die wohl als Mindestzeiten angesehen wurden, gehalten. Vielfach begann die Zwangsarbeit wesentlich früher und dauerte abends bis 22 Uhr.143 Mitunter haben die Leiter oder Ingenieure die Juden auch die Nacht über bei Laternenlicht weiterarbeiten lassen, vereinzelt sogar 36 Stunden ohne Unterbrechung wie in der 7. jüdischen TRG in Love .144 Die Regelarbeitszeit wurde systematisch mißachtet, um die Juden zu schikanieren, zu bestrafen und gleichzeitig die vorgegebenen Aufgaben in der vorgesehenen Zeit zu erledigen. In Zvani evo wurde wochenlang abends noch zwei bis drei Stunden zusätzlich gearbeitet, bis die tägliche Arbeitsnorm erfüllt war.145 Isak Avram Melamed berichtete, daß die Zwangsarbeiter der 7. jüdischen TRG 1943 ihr Tagespensum oft nicht schafften und daher abends weiterarbeiteten und die Angehörigen der 10. jüdischen TRG in Ichtiman im Jahr 1944 sogar um Mitternacht geweckt und anschließend zur Zwangsarbeit geführt wurden.146 Aber auch die freien Sonntage wurden ignoriert, wie das Beispiel der 2. jüdischen TRG des 1. Bataillons zeigt, bei der es zwischen Juli und November 1943 höchstens drei arbeitsfreie Sonntage gab.147 Die jüdischen Zwangsarbeiter wurden lediglich zu Beginn des Arbeitseinsatzes 1941 mit Uniformen ausgerüstet. In späterer Zeit arbeiteten sie in ihrer Privatkleidung, weshalb sie durch den Verschleiß der eigenen Kleidung bei gleichzeitigem Nichtersatz mangelhaft ausgestattet Zwangsarbeit leisteten. In einem kurzen Bericht über die Arbeitsbedingungen in der 11. jüdischen TRG vom August 1944 heißt es, daß die Juden mit zerrissener Oberund Unterbekleidung sowie barfuß herumliefen.148 Auf die besonderen Probleme bezüglich des Schuhwerks weisen auch verschiedene Zeugenaussagen des Jahres 1945 hin: Bezalel Bochor Delarev berichtet von der 6. jüdischen TRG, daß dort manche Zwangsarbeiter barfuß gehen und marschieren mußten. Diese wurden, weil sie so nicht gut marschieren konnten, wiederum besonders oft vom Gruppenleiter Pavlov mißhandelt.149
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Siehe USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Meïr Solomon Kaneti, o. D. (1945), der von der 16. jüdischen TRG berichtet, daß 1942 oft bis 21 oder 22 Uhr Zwangsarbeit geleistet wurde, während nach der Aussage von 41 ehemaligen Zwangsarbeitern die Juden im Lager Ichtiman oft bereits um 3 Uhr nachts aufstehen mußten und der Arbeitsbeginn entsprechend weit vor 7 Uhr lag. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Šmuel Josif Moše, o. D. (1945). USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Šelomo Josifov vom 20.1.1945. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Isak Avram Melamed vom 13.1. 1945. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Gruppenaussage von 13 ehemaligen Zwangsarbeitern der 2. jüdischen TRG des 1. Bataillons, o. D. (1945). Oceljavaneto, Dokument Nr. 131 vom 28.8.1944, S. 270f. Yad Vashem, M.67/169, Aussage von Bezalel Bochor Delarev, o. D. (1945).
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Juden, die aufgrund der schweren Arbeit, der unhygienischen Bedingungen im Lager oder aus anderen Ursachen erkrankten, wurden regelmäßig zur Zwangsarbeit gezwungen. Zwar sollten in den einzelnen Arbeitslagern Feldscher sein, doch ignorierten viele Gruppenleiter diese: Aleksej Ivan ev, Leiter der 16. jüdischen TRG, mißachtete die Anweisungen des dortigen sehr alten Feldschers. Vielmehr bestimmte er selbst, wer krank sei und damit im Lager zurückbleiben könne.150 Letztlich brachen viele Kranke, die trotzdem arbeiten mußten, an den Baustellen ohnmächtig zusammen. Žak Solomon Tadžev berichtete aus Svištov, daß im Jahr 1944 Kranke die Möglichkeiten hatten, a) sich nirgendwo behandeln und ausruhen zu können, vielmehr b) vom Gruppenleiter und seinen Helfern verprügeln zu lassen, c) zur Arbeit zu gehen und wie Gesunde zu arbeiten und falls einer das nicht konnte, d) verprügelt zu werden.151 Dies schildert auf drastische, aber wohl realistische Weise den Umgang mit kranken Juden in den Arbeitslagern. In Zvani evo starb ein erkrankter Zwangsarbeiter, weil ihm jegliche medizinische Hilfe versagt worden war.152 Dessen Bruder, der ebenfalls Zwangsarbeit leistete, sagte aus, daß der Leiter der jüdischen TRG diesen nicht ins Militärkrankenhaus ließ, weil sein Bruder keine Bestechungsgelder zahlen konnte.153 Dieser Fall verweist auf die Möglichkeit für die wenigen wohlhabenden Zwangsarbeiter, mittels Bestechung der Leiter eine medizinische Versorgung von außen zu erlangen. Bestätigt wird dies durch die Zeugenaussagen von Benjamin Jakovlev Wajsberg, der aus der 6. jüdischen TRG in Marikostino berichtete, daß ein dort kurzzeitig eingesetzter Lagerleiter für 2.000 Leva pro Person Juden Überweisungen in ein Militärkrankenhaus ausstellte.154 Doch welche medizinische Versorgung existierte in den Arbeitslagern selbst? Oftmals übernahmen jüdische Ärzte, die regulär zur Zwangsarbeit eingezogen worden waren, die Aufgaben des Feldschers. Allerdings hatten sie keine Mittel, Kranke von der Zwangsarbeit zu befreien, wenn die Lagerleiter dies nicht wollten. Entsprechend sagte Nikifov Pavlov dem von ihm selbst zum Sanitäter bestimmten Juden, daß er als Leiter keine Kranken anerkennen würde, weil alle zur Arbeit müßten; auf keinen Fall würde er jedoch mehr als zwei Kranke täglich im Lager belassen.155 Dies bedeutete, daß ein jüdischer Arzt lediglich einzelne vor der Ableistung solcher Arbeit und auch nur für einzelne Tage schützen konnte. Zudem waren die Ärzte stets von Mißhandlungen bedroht, wenn sie Zwangsarbeiter im Lager beließen. Beispielsweise wurde Simon Abramov schwer verprügelt, weil er Kranken
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USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Meïr Solomon Kaneti, o. D. (1945). USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Žak Solomon Tadžev vom 28.1. 1945. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Šelomo Josifov vom 20.1.1945. Yad Vashem, M.67, Aussage von Žak Zivi Natan vom 24.2.1945. Yad Vashem, M.67, Aussage von Benjamin Jakovlev Wajsberg vom 3.2.1945. Yad Vashem, M.67, Aussage von Marko Bochor Sorev vom 1.2.1945.
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Lagerruhe verordnet hatte.156 Aber auch Anordnungen von nichtjüdischen Sanitätern wurden ignoriert, wie der Fall der 16. jüdischen TRG belegt, deren nichtjüdischer Feldscher wegen Mißachtung seiner Anordnungen zur Lagerruhe seinen Dienst quittieren wollte.157 Allerdings konnten auch hier Zwangsarbeiter durch Bestechung Medikamente beschaffen. Zum Beispiel gelang es Chari Erš Rotholc 1944, mit Hilfe von 2.000 Leva für drei Tage aus dem Lager Love herauszukommen, um in einem Krankenhaus Medikamente gegen Malaria, die er sich im Lager Sv. Vra eingefangen hatte, zu erwerben.158 Die generelle Regelung der Strafen für jüdische Zwangsarbeiter in den Arbeitsbataillonen wurde bereits weiter oben kurz erwähnt. An den Verhältnissen in den Arbeitslagern läßt sich erkennen, ob und in welchem Maße diese vom Ministerium vorgesehenen Strafen angewandt wurden und ob andere Formen der Bestrafung bestanden. Als Grundprinzip galt die strengste Bestrafung für die kleinsten Ungehorsamkeiten oder Übertritte.159 Allen Strafen wurde eine „erzieherische Bedeutung“ beigemessen – nämlich die Bestraften zu verbessern und andere vor Übertritten abzuschrecken.160 Im Abschnitt zu den Wachen ist dargelegt worden, daß Schläge und Mißhandlungen zu den häufigsten Strafen gehörten. Entsprechend bezeugte Žak Solomon Tadžev, daß den Wachen in Svištov befohlen worden war, Juden aus jedem Anlaß und für alles zu schlagen.161 Daneben dürfte die zweithäufigste Strafe darin bestanden haben, zusätzliche Zwangsarbeiten auszuführen, also abends länger zu arbeiten, morgens früher anzufangen oder sogar ohne Pausen für einen langen Zeitraum durchzuarbeiten. Aus dem Lager in Gradešnica wird berichtet, daß eine gewöhnliche Strafe zusätzliche Arbeit war, während in Love weitere Touren mit der Lore auferlegt wurden.162 Nach einer Anordnung des Leiters des zeitweiligen Arbeitsdienstes Mumdžiev erhielten die Gruppenleiter das Recht, Zwangsarbeiter für fünf Tage bis zu einem Monat ins Gefängnis zu stecken, wobei hierzu die in benachbarten Ortschaften vorhandenen Gefängnisse genutzt werden sollten. Eingewiesene Zwangsarbeiter konnten zusätzlich fünf Tage ohne warmes Essen bleiben 156 157 158 159
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USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Isak Avram Melamed vom 13.1. 1945. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Meïr Solomon Kaneti, o. D. (1945). Yad Vashem, M.67, Aussage von Chari Erš Rotholc vom 2.2.1945. Siehe Vertrauliches Schreiben von Mumdžiev an den Hauptinspektor des zeitweiligen Arbeitsdienstes, Nr. 290 vom 30.7.1943, abgedruckt in: Eli Baruch, Iz istorijata na B lgarskoto evrejstvo. Nashite stradanija v Evrejskite trudovi lageri prez fašistkija režim v B lgarija 1941–1944, Tel Aviv 1960, S. 142. Siehe Vertrauliches Rundschreiben des Leiters des zeitweiligen Arbeitsdienstes, Nr. 3774 vom 16.5.1943, abgedruckt in: Baruch, Iz istorijata, S. 140. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Žak Solomon Tadžev vom 28.1.1945. Yad Vashem, M.67/169, Aussagen von Josif A. Bechar, o. D. (1945) sowie USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Isak Avram Melamed vom 13.1.1945.
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und/oder nur Wasser und Brot erhalten.163 Tatsächlich wurde die Einweisung in Karzer zur Standardbestrafung, wie sich aus vielen Zeugenaussagen des Jahres 1945 nachweisen läßt: In der 7. jüdischen TRG wurden die Zwangsarbeiter aus dem Lager Love oft für fünf bis sechs Tage in den Karzer gesteckt und erhielten dort nur Brot zum Essen.164 Aus Ichtiman wird bezeugt, daß Zwangsarbeiter massenhaft und ohne gewichtigen Grund für 24 Stunden auf dem örtlichen Polizeirevier eingesperrt wurden und dort auf Anordnung des Ingenieurs Gašarov von Polizisten regelmäßig geschlagen wurden.165 Neben diesen Bestrafungen bestand seit Sommer 1942 die Möglichkeit, Juden in besondere Strafeinheiten, auch „schwarze Arbeitsgruppen“ genannt, einzuweisen, in denen sie am Jahresende mehrere Wochen länger Zwangsarbeit verrichteten als in anderen Gruppen.166 Die Anwendung dieser Form der Bestrafung ist bereits seit dem Jahr ihrer Einführung nachweisbar: Den Juden im Lager Ichtiman wurde vom Leiter Invan ev mitgeteilt, daß er sie bei Verstößen gegen die Lagerordnung in solche Strafgruppen schicken würde, und er tat dies tatsächlich für „die kleinsten Sachen“.167 Allerdings scheint es für wohlhabende Juden die Möglichkeit gegeben zu haben, sich vor der Einweisung in Strafgruppen durch Bestechung zu schützen. Nach Aussage von Josif Avram Nino hat der Leiter der 8. jüdischen TRG in Love 1943 wenige Tage vor Abschluß der Arbeiten Listen erstellen lassen, weil je 20 Zwangsarbeiter pro Kompanie für die „schwarzen Einheiten“ zur Verfügung gestellt werden sollten.168 Durch die Freikäufe der Wohlhabenden kamen vor allem arme Juden dorthin. Nino stand anfangs nicht auf der Liste, doch hat ein anderer Zwangsarbeiter 500 Leva dafür gezahlt, daß er an dessen Stelle für 15 Tage in die Strafeinheit kam. Selbstverständlich gab es auch Kombinationen der Strafformen, etwa Mißhandlung und anschließende Einweisung in den Karzer, sowie Sonderformen, die ebenfalls häufiger vorkamen: Zum Beispiel wurden Zwangsarbeiter gezwungen, mit acht Hacken auf der Schulter in der brennenden Sonne stillzustehen.169 In diesem Fall folgte zusätzlich die spätere 163 164 165
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Vertrauliches Rundschreiben des Leiters des zeitweiligen Arbeitsdienstes, Nr. 3774 vom 16.5.1943, abgedruckt in: Baruch, Iz istorijata, S. 140. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Isak Avram Melamed vom 13.1. 1945. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussagen von Jomtov Simon Kovo vom 27.1. 1945 und Žak N. Primo vom 24.2.1945 sowie Gruppenaussage von 41 ehemaligen Zwangsarbeitern aus dem Lager Ichtiman vom 20.1.1945. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0333, Rolle 296, Anordnung des Ministeriums für öffentliche Bauten, Straßen- und Städtebau, Abteilung zeitweiliger Arbeitsdienst, Nr. 3706 vom 14.7.1942. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Šimon Ch. Ovadija, o. D. (1945). Hier und im folgenden Yad Vashem, M.67, Aussage von Josif Avram Nino vom 22.2.1945. Hier und im folgenden USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Isak Daniel Isakov, o. D. (1945) über die Verhältnisse in der 16. jüdischen TRG im Jahr 1942. Vergleiche USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Žak Avramov Malko, o. D. (1945), für das Lager Sv. Vra im Jahr 1943.
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Einweisung in eine Strafgruppe, von der sechs Wochen länger Zwangsarbeit geleistet wurde als in der ursprünglichen Arbeitsgruppe. Im Lager Zvani evo hingegen wurden Juden gezwungen, vor einem Wächter mit gezogener Waffe mit einer Schubkarre auf der Schulter in die Sonne blickend zwei bis drei Stunden stillzustehen.170
Fazit Die Untersuchung der bulgarischen Politik gegenüber den Juden des Landes zeigt, daß es seit Ende des 19. Jahrhunderts verschiedene Phasen der Inklusion und Exklusion gab. Während der ersten Hochphase des Antisemitismus zur Jahrhundertwende wurden Juden als Fremde angesehen. Doch endete diese als sich antigriechische Verfolgungen ausbreiteten. Trotzdem blieb es möglich, Juden erneut auszugrenzen. Dies geschah mit und nach dem Erlaß des ZZN. Die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestehenden bulgarischen Homogenisierungsbestrebungen richteten sich aber nicht nur gegen Griechen und Juden. Wie oben bereits angedeutet traf diese Politik ebenfalls die türkischen Bewohner des Landes. Dies zeigte sich auch an den Verhältnissen im Arbeitsdienst. Entsprechend berichtete Žak N. Primo 1945, daß sich der Ingenieur Gašarov Türken gegenüber ebenfalls wie in einem KZ verhalten und ihnen keinen Kontakt zur Außenwelt ermöglicht habe.171 Auch wurde im Mai 1943 eine gemeinsame Kontrolle der jüdischen TRG, die an der Straße SofiaPlovdiv arbeiteten, und der türkischen, die an der Straße Plovdiv-Chaskovo eingesetzt waren, durchgeführt.172 Ob die gemeinsame Kontrolle und die für alle erlassenen Strafen ein Indiz für generell ähnliche Verhältnisse in den Lagern ist, muß vorerst mangels Vergleichsquellen offen bleiben. Deutlich wird jedoch, daß die Politik gegenüber den Juden in den größeren Rahmen der gesamten Minderheitenpolitik eingeordnet werden muß. Diese wiederum stand unter dem Vorzeichen einer Homogenisierung der Bevölkerung durch Zwangsassimilation, Vertreibung (etwa der Griechen aus den besetzten Gebieten) oder in Teilen auch des Mordes (etwa der Juden aus den besetzten Gebieten). Darüber hinaus bedarf es eines Blickes auf die Nachbarstaaten, um Besonderheiten oder Gemeinsamkeiten aufzeigen zu können. Nicht nur in Bulgarien wurden im Parlament und in der Öffentlichkeit Proteste gegen den Erlaß antijüdischer Gesetze geäußert. Dies geschah, wie bereits erwähnt, auch in Ungarn. Die bulgarische Führung selbst bemühte sich um eine Angleichung der antijüdischen Politik mindestens mit Ungarn und Rumänien, den zwei 170 171 172
USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Šelomo Josifov vom 20.1.1945. USHMM, Mikrofilm 1997.A.0332, Rolle 7, Aussage von Žak N. Primo vom 24.2.1945. Vertrauliches Rundschreiben des Leiters des zeitweiligen Arbeitsdienstes, Nr. 3774 vom 16.5.1943, abgedruckt in: Baruch, Iz istorijata, S. 140.
Juden als Feinde Bulgariens?
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großen Achsenmächten in Südosteuropa. Beispielsweise wies der bulgarische Außenminister Popov bei einer Besprechung mit dem Reichsaußenminister Ende November 1941 darauf hin, daß die bulgarische Regierung Schwierigkeiten bei der Durchführung der gegen die Juden gerichteten Gesetze habe, weil viele von ihnen ungarischer, rumänischer oder sonstiger Staatsangehörigkeit seien und diese Staaten für ihre Juden dieselben Rechte wie für die übrigen Staatsbürger in Anspruch nähmen und sogar ausdrücklich nicht duldeten, daß ihnen die in den antijüdischen Gesetzen vorgesehene „Sonderbehandlung“ zuteil werde. Popov meinte, daß dies eine Frage sei, „die zwischen den europäischen Ländern gemeinsam geregelt werden müsse“.173 Daß die bulgarische Regierung den Tod der jüdischen Bulgaren nicht nur zwangsweise in Kauf nahm, zeigte sich an der frühen Bereitschaft, eigene Staatsbürger anders als Ungarn im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten nicht zu schützen. Dies betraf nicht nur die bereits erwähnten rund 140 Juden in Frankreich, sondern etwa auch einige Hundert im „Protektorat Böhmen und Mähren“.174 Gleichzeitig waren diese im Ausland lebenden Juden gezwungen worden, die im Juli 1941 erlassene Sondersteuer zu zahlen. Somit schließt die Bilanz der Todesopfer nicht nur die Deportierten ein, sondern auch diese im Ausland lebenden bulgarischen Juden sowie die im Land selbst während des Arbeitsdienstes umgekommenen. Auch die übrige Verfolgung macht deutlich, daß die Bulgaren sich an jüdischem Eigentum bereichert, Juden verfolgt, unterdrückt und beinahe jeden fünften Juden ermordet oder zur Ermordung überlassen haben. Der Abbruch der Deportationen aus dem Kernland Bulgariens erfolgte sicherlich auf Druck des Protestes in der S branie im März 1943. Doch bedeutete dies keineswegs das endgültige Aus. Dies kam erst im Laufe des Jahres und hierfür dürften, wie im Sommer 1940, militärische Gründe und die Einschätzung der Gesamtlage ausschlaggebend gewesen sein. So wie der Zar und die bulgarische Führung 1940 annehmen konnten, daß Deutschland die dominierende Macht in Kontinentaleuropa sein würde, konnte Mitte 1943 nach dem deutlichen Zurückweichen der Wehrmacht in der Sowjetunion, dem Sieg der Westalliierten in Nordafrika und deren beginnendem Vormarsch in Süditalien gesehen werden, daß Deutschland den Zweiten Weltkrieg militärisch nicht mehr gewinnen konnte. Hier zeigt der Vergleich mit Rumänien, daß Bulgarien keineswegs allein dasteht. Obgleich Antonescu im August 1942 sein Einverständnis zur Deportation der in Rumänien lebenden Juden gegeben hatte, widersetzte er sich im März 1943 bei einer Besprechung mit von Ribbentrop der erneuten Forderung nach 173
174
United Restitution Organization, Dokumentation Bulgarien (nicht publiziert), Dokument 4: Aufzeichnung über den Empfang des bulgarischen Außenministers Popoff durch den RAM in Berlin am 26.11.1941, Berlin, den 27.11.1941, S. 3. United Restitution Organization, Dokumentation Bulgarien (nicht publiziert), Dokument 7: Schreiben des Auswärtigen Amtes Berlin an die Deutsche Gesandtschaft Sofia betr. Behandlung europäischer Juden vom 19.6.1942.
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Jens Hoppe
Deportationen in die Vernichtungslager in Polen.175 Dies geschah zu einer Zeit, als aus Bulgarien, obwohl das Land nicht besetzt war, Juden deportiert wurden. Aus Ungarn erfolgten die Massendeportationen erst nach dem März 1944 und damit unter deutscher militärischer Besatzung. Somit ist Bulgarien kein Sonderfall, sondern hat ähnliche Entwicklungen durchlaufen wie andere Staaten in Südosteuropa; Unterschiede bestehen lediglich graduell.
175
Jäckel/Longerich/Schoeps, Enzyklopädie des Holocaust, S. 1256.
Paradigmatische oder unvergleichbare Minderheit? Juden im Nationscode und in der Minderheitenpolitik Rumäniens in der Zwischenkriegszeit DIETMAR MÜLLER
Methodische Vorbemerkungen zum Vergleich Die Judenheiten Ostmittel- und Südosteuropas als Einheiten und Ebene des Vergleichs heranzuziehen, um zu einer Analyse der Identitätspolitik und der vielfältigen Krisen dieser Staaten vorzudringen, ist ein vielversprechendes Unterfangen. Gleichwohl scheint dieser Ansatz eher aus dem Kontext einer jüdischen Geschichte gedacht zu sein und verspricht demnach durchaus wertvolle Ergebnisse in diesem Feld.1 Wenn der Fokus aber auf die Identitätspolitik und Krisenbewältigung der neuen Staaten in Ostmittel- und Südosteuropa gerichtet sein soll, so führt ein derartig konstruierter Vergleich zu gravierenden Disproportionen in der Wertung. Soll aus der Tatsache, daß z.B. in Litauen, Bulgarien, Serbien und der Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit eine relativ milde und integrative Judenpolitik praktiziert wurde, gefolgert werden, daß die Staatsbürgerschaftspolitik dieser Staaten so viel positiver war als die in Polen und Rumänien? Um das Erkenntnispotential des vergleichenden Ansatzes, das vornehmlich in der Relativierung idiosynkratischer Elemente der einzelnen Fälle liegt, zu bewahren, bedarf es einer Ausweitung und zugleich einer Fokussierung des Blickwinkels. Zunächst sollte der Analyserahmen nicht durch die Judenheiten der Staaten, sondern durch ethnische und religiöse Minderheiten generell konstituiert, das Untersuchungsfeld also die Minderheitenpolitik sein. Diese eignet sich hervorragend als Lackmustest für die staatsbürgerliche Integrationskapazität der neuen Staaten, für die Qualität ihres Parlamentarismus und für die Problemlösungsfähigkeit ihrer Eliten.2 Zugleich scheint es sinnvoll zu sein, die Minderheit als Vergleichseinheit auszuwählen, die aus der Sicht der Eliten der Titularnation die problematischste ist. Wie angedeutet, kann der wichtigste 1 2
Vgl. Ezra Mendelsohn, The Jews of East Central Europe Between the World Wars, Bloomington 1983; Heiko Haumann, Geschichte der Ostjuden, 5. Aufl., München 1999. Für Analysen der politischen Systeme Ostmittel- und Südosteuropas, in denen die Minderheiten eine gewisse, aber keine systematische Rolle spielen vgl. Joseph Rothschild, Eastern Europe Between the Two World Wars, Seattle 1974; Wolfgang Höpken, Strukturkrise oder verpaßte Chance? Zum Demokratiepotential der südosteuropäischen Zwischenkriegsstaaten Bulgarien, Jugoslawien und Rumänien, in: Hans Lemberg (Hg.), Ostmitteleuropa zwischen den beiden Weltkriegen (1918-1939). Stärke und Schwäche der neuen Staaten, nationale Minderheiten, Marburg 1997, S. 73-127.
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Dietmar Müller
Alteritätspartner in nationalen Identitätserzählungen „der Jude“ sein, muß es aber nicht. Ein derartig konstruiertes Vergleichsdesign kann zu so ungewöhnlichen Vergleichseinheiten wie Juden und Muslime,3 Polen und Juden oder Deutsche und Juden führen.4 Im Folgenden wird nun aber kein expliziter Vergleich gemacht. Gleichwohl wird die Judenheit Rumäniens aus den genannten strukturellen Gründen in der Zwischenkriegszeit als Minderheit präsentiert, die von den rumänischen Eliten aus historischen Gründen als die problematischste eingeschätzt wurde. Die Juden nahmen eine so dominante Rolle in deren politischen Phantasien, Phobien und Strategien ein, daß sie große Teile der Minderheitenpolitik durch das Prisma der „jüdischen Frage“ betrachteten und so handelten, wie sie und ihre politischen Vorbilder diese im „langen 19. Jahrhundert“ zu lösen versucht hatten. Ein weiteres implizites komparatives Element besteht somit darin, die Rolle der Juden im Vergleich zu den anderen Minderheiten Rumäniens als eine zu analysieren, die zuweilen als paradigmatisch, letztlich aber doch als unvergleichbar gelten kann. Aus Gründen, die zunächst für die Zeit zwischen dem Berliner Kongreß 1878 und dem Vorabend des Ersten Weltkrieges ausgeführt werden, galten die Juden als eine besondere Minderheit, als eine, die in dem national strukturierten Denken der rumänischen Eliten als Anomalie kategorisiert wurde.
Der rumänische Nationscode Die Achsenjahre des rumänischen Nationscodes, also eines Sets von Aussagen über die konfessionelle, ethnische und moralische Beschaffenheit des Rumänen, waren diejenigen von 1878 bis 1882.5 Im zeitlichen Umfeld des 3
4
5
Für einen derart dimensionierten Vergleich vgl. Dietmar Müller, Staatsbürger auf Widerruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzepte, 1878-1941, Wiesbaden 2005. Neben der Relevanz einer Minderheit als Alteritätspartner für die Titularnation sind weitere Parameter für die Auswahl der Vergleichspartner denkbar. So kann der Vergleich zwischen zwei Minderheiten in einem Staat gezogen werden, oder er kann – ob in einem Staat oder zwischen zwei Staaten – mit der Absicht geleistet werden, Gemeinsamkeiten oder Unterschiede herauszustreichen. Als erster Beitrag für eine Methode des historischen Vergleichs kann Marc Blochs Vortrag auf dem Internationalen Historikerkongreß in Oslo 1927 gelten. Vgl. Marc Bloch, Für eine vergleichende Geschichtsbetrachtung der europäischen Gesellschaften, in: Mathias Middell/Steffan Sammler (Hg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der ANNALES in ihren Texten 1929-1992, Leipzig 1994, S. 121167. Vgl. auch Heinz-Georg Haupt/Jürgen Kocka, Historischer Vergleich: Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einführung, in: Dies. (Hg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt/M./New York 1996, S. 9-45; Thomas Welskopp, Stolpersteine auf dem Königsweg. Methodenkritische Anmerkungen zum internationalen Vergleich in der Gesellschaftsgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte 35, 1995, S. 339-367. Die Denkfigur eines spezifischen nationalen Codes ist Rogers Brubaker verdankt, vgl. William Rogers Brubaker (Hg.), Immigration and the Politics of Citizenship in Europe and
Juden in der Minderheitenpolitik Rumäniens
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Berliner Kongresses verfestigten sich Begründungszusammenhänge aus den Themenfeldern Emanzipation der Juden, Zustand der rumänischen Wirtschaft und Rolle des Staates bei der (Wieder-) Herstellung eines nationalen Idealzustandes zu einer kohärenten und spezifischen Art und Weise, über Nation und Nationalität zu denken und zu sprechen. Das Junktim der europäischen Großmächte zwischen der Emanzipation der rumänischen Judenheit und der Anerkennung der rumänischen Souveränität hatte im Land eine parlamentarische und öffentliche Debatte von bis dahin unerreichter Länge und Intensität über den Charakter der rumänischen Nation sowie über die Zugangskriterien zu ihr angestoßen. In materieller Hinsicht stand an ihrem Ende die Möglichkeit der individuellen Naturalisierung nicht-christlicher Personen in einem äußerst komplizierten und voraussetzungsreichen Verfahren; bis 1912 wurden auf diesem Weg nur 189 Juden rumänische Staatsbürger, während rund 250.000 Juden auf dem Status von „Fremden ohne andere Staatsangehörigkeit“ verharren mußten.6 Der „signifikante Andere“, der in keiner nationalen Identitätserzählung fehlt, war im rumänischen Fall also „der Jude“. Das zentrale Element dieser Alteritäts-Identitätskonstruktion war die Ethnisierung großer Personenkollektive wie der Gemeinschaft der Juden und der Rumänen zu Abstammungsgemeinschaften sowie deren Ontologisierung, d.h. ihre Ausstattung mit historisch konstanten Wesensidentitäten.7 Aus den Gegensatzpaaren, welche die behauptete ethnisch-ontologisch fundierte Alterität des „jüdischen“ und des „rumänischen“ Volkes konstituierten, sei nur das wichtigste herausgegriffen: Es ist die Dichotomie zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, wobei die Rumänen für das erste Sozialmodell standen und die Juden für das zweite. Der zweite Ordnungstypus zerstöre durch Handel, Geldwirtschaft und Presse – also durch Liberalismus und Kosmopolitismus – die kulturelle, moralische und politische Einheit der rumänischen Gemeinschaft, bzw. behindere dessen nationalstaatliche Revitalisierung. In der sogenannten „Judenfrage“ differenzierte sich das politische Spektrum in radikale Ethnonationalisten und Zentristen aus. Während sich die beiden
6
7
North America. Lanham/London 1989; Ders., Staats-Bürger. Deutschland und Frankreich im historischen Vergleich, Hamburg 1994 (zuerst 1992). Vgl. auch Shulamit Volkov, Antisemitism as a Cultural Code: Reflections on the History and Historiography of Antisemitism in Germany, in: Leo Baeck Institute Year Book 23, 1978, S. 25-46. Vgl. S. Bernstein, Die Judenpolitik der rumänischen Regierung, Kopenhagen 1918, S. 37f.; 1912 wurden weitere 158 Juden eingebürgert, von denen der Großteil in der Dobrudscha ansässig war und bis dahin die erforderlichen Dokumente nicht beizubringen vermocht hatte. Vgl. Carol Iancu, Evreii din România (1866-1919). De la excludere la emancipare, Bukarest 1996 (zuerst Aix-en-Provence 1978), S. 213. Die folgenden Überlegungen schließen an den Soziologen Klaus Holz an, der für die Verwendung des Syntagmas „Nationaler Antisemitismus“ plädiert, da in Europa das Aufkommen des Antisemitismus in engem Zusammenhang mit der jeweiligen Nationsbildung stand. Vgl. Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001.
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Dietmar Müller
Gruppen in der Ethnisierung der Differenz zwischen Juden und Rumänen zunehmend einiger wurden, bestanden im Fall ihrer Ontologisierung deutliche Unterschiede. Die Liberalen rekurrierten auf ethnisch-ontologische Argumentationsmuster, die in der Tradition der Aufklärung standen: Das rumänische Volk habe als „lateinische Insel im slavischen Meer“ eine mission civilisatrice auf dem Balkan zu erfüllen und könne die „unzivilisierten Juden“ daher erst in seinen Nationalstaat aufnehmen, wenn diese sich zivilisiert, also assimiliert hätten. Die radikalen Ethnonationalisten bestritten grundsätzlich die Möglichkeit eines Wandels des „jüdischen Geistes“. Eine ganze Reihe Intellektueller, insbesondere der heute als Nationaldichter verehrte Schriftsteller-Journalist Mihai Eminescu, ebenso wie führende Politiker, wirkten mit an der Erstellung dieses Codes.8 In der Verfassungsdebatte hatte sich aber nicht nur ein elaborierter Nationscode herausgebildet, sondern auch ein politisches Handlungs- und Interaktionsmuster, das bis in die Zwischenkriegszeit hinein immer wieder wie folgt wirkungsmächtig wurde:9 Die jeweiligen Oppositionsnationalisten warfen der Regierung nationale Pflichtvergessenheit insbesondere in der „jüdischen Frage“ vor und übten damit Druck, oft im Zusammenspiel mit Nationalisten in der Regierungspartei, aus, dem diese wiederum nur durch verstärkte antisemitische Maßnahmen begegnen konnte. Nicht selten mündete solcher Druck aber auch in Regierungswechseln bzw. in der Inkorporation der Kritiker in staatliche Agenturen. Zwischen den politischen Lagern sowie zwischen gesellschaftlichen Akteuren, wie einzelnen Mitgliedern der Intelligencija (z.B. Nicolae Iorga), entstand somit eine sich gegenseitig verstärkende Dynamik des Antisemitismus.
Die Zwischenkriegszeit In großen Teilen der post-sozialistischen Historiographie und Kulturgeschichte gilt die Zwischenkriegszeit Rumäniens als goldenes Zeitalter des Parlamentarismus, als Blütezeit der Kultur und somit als eine kurze Epoche, in der auch die Minderheiten des Landes alle Möglichkeiten hatten, sich im egalitären staatsbürgerlichen Rahmen zu entfalten. Aufgrund der Größe der Integrationsaufgabe – durch die Inkorporierung der neuen Provinzen Siebenbürgen, Bukowina, Bessarabien und Süddobrudscha stieg der Anteil der Minderheitenbevölkerung in Großrumänien auf 30 Prozent –, aber mehr noch 8
9
Vgl. Dietmar Müller, Mihai Eminescu zu Identität und Alterität. Ein Beitrag zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität in Rumänien, in: Mircea Anghelescu/Larisa Schippel (Hg.), Im Dialog: Rumänische Kultur und Literatur, Leipzig 2000, S. 113-120. Zur Dynamik zwischen gouvernementalem und Oppositionsnationalismus vgl. Dietmar Müller, „Nationalisierte Zivilgesellschaft”. Ungleiche Staatsbürger in Rumänien, 1890-1910, in: Arnd Bauerkämper (Hg.), Die Praxis der Zivilgesellschaft. Akteure, Handeln und Strukturen im internationalen Vergleich, Frankfurt/M./New York 2003, S. 237ff.
Juden in der Minderheitenpolitik Rumäniens
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aufgrund der Integrationsresistenz mancher Minderheiten, so dieser Typus der patriotischen Geschichtsschreibung weiter, habe es durchaus auch Schwierigkeiten gegeben. Zweifellos gehörte das kulturelle Leben10 zu den Bereichen, in denen die rumänische Gesellschaft der Zwischenkriegszeit in quantitativer wie qualitativer Hinsicht bemerkenswerte Fortschritte erzielte. Mit George Enescu in der symphonischen Musik, Constantin Brâncu i in der bildenden Kunst sowie mit dem Essayisten Emil Cioran und dem Religionsphilosophen und -historiker Mircea Eliade arbeiteten in dieser Zeit Künstler und Wissenschaftler, die später Weltruhm erlangten. Für die größte Aufregung und die erregtesten Debatten in den Medien sorgten in den 1990er Jahren demnach Feuilletonartikel, wissenschaftliche Studien und Tagebuchpublikationen, die angeblich geeignet waren, zentrale Akteure der kulturellen Szene dieser Zeit, wie Nae Ionescu, Mircea Eliade, Emil Cioran oder Constantin Noica, in Mißkredit zu bringen.11 Die Diskussionen konzentrierten sich im wesentlichen darauf, ob und inwieweit die drei letztgenannten sowie andere Mitglieder der „Junge Generation“ genannten kulturellen Bewegung Sympathien für die faschistische Organisation der Legion „Erzengel Michael“ (Legiunea Arhangelui Mihail) gehegt hatten. Im Falle des intellektuellen Mentors der „Jungen Generation“, Nae Ionescu, steht in Frage, ob er deren Migration zur radikalen Rechten vorbereitet und aktiv gefördert hatte.12 Systematische Studien über den Ort der Minderheiten im politischen System und dem Nationscode Rumäniens sowie über die Kritik der kulturellen Intelligencija daran, sind demgegenüber nur in Ansätzen geleistet worden.
Der Minderheitenschutz in den Pariser Vorortverträgen: Die rumänische Perzeption Neben den Territorialfragen war auf der Pariser Friedenskonferenz diejenige des Schutzes der Rechte von Personen, die ethnisch und religiös von der rumänisch-orthodoxen Mehrheitsbevölkerung distinkt waren, von großer 10
11
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Überblicksartig dazu Sigrid Irimia-Tuchtenhagen, Ideologische Aspekte im Rumänien der Zwischenkriegszeit im Spiegel der wichtigsten Kulturzeitschriften, in: Südost-Forschungen 56, 1997, S. 319-340. Insbesondere die Publikation des bis dahin nur passagenweise bekannten Tagebuches des rumänischen Juden Mihail Sebastian, ein Freund vieler Mitglieder der „Jungen Generation“, in dem er deren Annäherung an die Ideen der „Eisernen Garde“ beschreibt, sorgte für heftige Diskussionen. Vgl. Mihail Sebastian, Jurnal 1935-1944, Bukarest 1996. Die Diskussion ist dokumentiert bei Iordan Chimet, Dosar Mihail Sebastian, Bukarest 2001. Vgl. auch Alexandra Laignel-Lavastine, Cioran, Eliade, Ionesco, Uitarea fascismului. Trei intelectuali români în vâltoarea secolului, Paris/Bukarest/Jerusalem 2004 (zuerst Paris 2002). Vgl. Marta Petreu, Die Legionärsdoktrin und die Intelligentsia der Zwischenkriegszeit in Rumänien, in: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik 13, 2001, S. 11-32. Vgl. auch: Intelectualitatea i mi carea fascist din România. Atitudini. Controverse, in: Constantin Petculescu/ Alexandru Florian (Hg.), Ideea care ucide. Dimensiunile ideologiei legionare, Bukarest 1994, S. 139-176.
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Dietmar Müller
Bedeutung. Offiziell wurde der Minderheitenschutz auf der Pariser Friedenskonferenz am 1. Mai 1919 zum ersten Mal thematisiert, als Woodrow Wilson auf einer Sitzung der „Großen Vier“ dessen Notwendigkeit damit illustrierte, daß er an die Verfolgungen der Juden in Polen und deren Mangel an staatsbürgerlichen Rechten in Rumänien erinnerte.13 Argumentativ unterfüttert durch ein Memorandum des Komitees der Jüdischen Delegationen bei der Friedenskonferenz14 vom 10. Mai beabsichtigten die „Großen Vier“, Minderheitenschutzbestimmungen in allen Friedensverträgen zu verankern, an denen Nachfolgestaaten der untergegangenen ost- und mitteleuropäischen Vielvölkerimperien beteiligt waren. Auf den beiden Plenarsitzungen am 29. und 31. Mai, auf denen der Friedensvertrag mit Österreich abschließend beraten werden sollte, kam es zu dem vom rumänischen Delegationsleiter und Ministerpräsidenten, Ion I. C. Br tianu angeführten „Aufstand der kleinen Mächte“, wie der Protest der Tschechoslowakei, Polens, Rumäniens und des SHS-Staates unter anderem gegen die Minderheitenschutzklauseln genannt wurde.15 Br tianu widersetzte sich der Verankerung des Minderheitenschutzes in den Friedensverträgen im Allgemeinen und insbesondere der Aufnahme zweier speziell die Juden erwähnender Artikel in den Minderheitenschutzvertrag, den Rumänien unterzeichnen sollte. Sein Widerstand ging so weit, daß er weder den Friedensvertrag mit Österreich noch den rumänischen Minderheitenschutzvertrag unterzeichnete und es statt dessen vorzog, die Pariser Konferenz aus Protest zu verlassen und sogar von seinem Amt als Regierungschef zurückzutreten.16 Es sollte dem neuen Leiter der rumänischen Delegation in Paris, Alexandru Vaida Voevod, der seit dem 5. Dezember auch neuer Regierungschef war,17 vorbehalten bleiben, die neuen Kompromißbedingungen auszuhandeln, unter denen Rumänien doch zu einem Einlenken bereit war.
13
14 15
16 17
Vgl. Lucian Leu tean, România, Ungaria i Tratatul de la Trianon 1918-1920, Ia i 2002, S. 95; Carol Iancu, Emanciparea Evreilor din România (1913-1919). De la inegalitatea civic la drepturile de minoritate. Originalitatea unei lupte începând cu r zboaile balcanice i pân la Conferin a de Pace la Paris, Bukarest 1998 (zuerst Montpellier 1992), S. 313. Der Wortlaut des Memorandums in: Leon Chasanowitsch/Leo Motzkin (Hg.), Die Judenfrage in der Gegenwart. Dokumentensammlung, Stockholm 1919, S. 74-81. Vgl. Leu tean, România, S. 96f.; Iancu, Emanciparea Evreilor, S. 317ff; Sherman David Spector, Romania at the Paris Peace Conference. A Study of the Diplomacy of Ioan I. C. Br tianu, Ia i 1995 (zuerst New York 1962), S. 175ff. Der Redebeitrag Br tianus auf der achten Plenarsitzung am 31.5.1919 im französischen Original und der rumänischen Übersetzung in: Ioan Scurtu/Liviu Boar (Hg.), Minorit ile na ionale din România 1918-1925, Bukarest 1995, S. 130-158. Vgl. Gheorghe I. Br tianu, Ac iunea politic i militar a României în 1919 în lumina coresponden ei diplomatice a lui Ion I. C. Br tianu, Bukarest 2001 (zuerst 1939), S. 129. Zu der Regierung des „parlamentarischen Blocks“ unter der Leitung von Alexandru Vaida Voevod vgl. Mircea Mu at/Ion Ardeleanu, România dup Marea Unire, Bd. 2/1, 1918-1933, Bukarest 1986, S. 244ff.; Ion Mamina/Ioan Scurtu, Guverne i guvernan i 1916-1938, Bukarest 1996, S. 33ff.
Juden in der Minderheitenpolitik Rumäniens
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Der neuen Delegation gelang es schließlich, einige Änderungen im rumänischen Minderheitenschutzvertrag vorzunehmen. Die Anspielung darauf, daß Rumänien sich bereits nach dem Berliner Kongreß 1878 geweigert hatte, den Juden die Emanzipation zu gewähren, obwohl das die Vorraussetzung der rumänischen Unabhängigkeit gewesen war, wurde aus der Präambel gestrichen.18 Statt dessen wurde dem Vertrag die Erklärung vorangestellt, wonach Rumänien „aus freiem Willen wünsche, sowohl allen Einwohnern des Altreiches als auch jenen aus den kürzlich transferierten Territorien sichere Garantien der Freiheit und der Gerechtigkeit zu geben, ohne Ansehen ihrer Ethnie [race], Sprache oder Religion“.19 Weiterhin wurden aus dem ersten Entwurf des Vertrages die Artikel gestrichen, die speziell auf die Juden des Landes Bezug nahmen und ihnen Autonomie bei der Verteilung der Staatsgelder für ihr Schulwesen ebenso zugesichert hatten wie die Respektierung des shabbat.20 In Art. 1 verpflichtete sich Rumänien, die in Art. 2 bis 8 enthaltenen Bestimmungen als Grundgesetz anzuerkennen, mit der Wirkung, daß sie Vorrang vor jeglichem rumänischen Gesetz, Verordnung oder Verwaltungsakt habe. Zusätzlich wurden die Bestimmungen der ersten elf Artikel in Art. 12, soweit sie Belange von Personen einer „völkischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit betreffen“,21 insofern unter den Schutz des Völkerbundes gestellt, als daß Änderungen der Bestimmungen nur mit der Zustimmung der Mehrheit des Völkerbundrates geschehen konnten. Jedes Mitglied des Völkerbundrates sollte einerseits ferner befugt sein, auf drohende oder tatsächliche Verstöße gegen die genannten Bestimmungen aufmerksam zu machen, sowie der Rat andererseits, Maßnahmen dagegen zu treffen. Der Kern des Art. 2 verpflichtete die rumänische Regierung, „allen Einwohnern ohne Unterschied der Geburt, der Staatsangehörigkeit, der Sprache, der Ethnie [race] und der Religion den umfassendsten Schutz ihres Lebens und ihrer Freiheit zu gewähren“.22 Laut Art. 3 erkannte „Rumänien als gleichberechtigte rumänische Staatsangehörige und ohne jede Förmlichkeit“23 all jene Personen an, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Minderheitenschutzvertrages ihren Wohnsitz auf rumänischem Territorium hatten. In Art. 4 wurden weiterhin alle österreichischen und ungarischen Staatsangehörigen, die beim Inkrafttreten des Vertrages zwar nicht in Rumänien gewohnt hatten, die aber selbst oder deren Eltern in den angeschlossenen Territorien geboren worden 18 19 20
21 22 23
Vgl. G. I. Br tianu, Ac iunea politic , S. 123; Leu tean, România, S. 139. Vgl. Scurtu/Boar (Hg.), Minorit ile na ionale din România 1918-1925, S. 174. Vgl. Ephraim Natanson, Romanian Governments and the Legal Status of the Jews Between the Two World Wars, in: Romanian Jewish Studies 1, 1987, S. 51-66, S. 53; Iancu, Emanciparea Evreilor, S. 323f. Vgl. Scurtu/Boar (Hg.), Minorit ile na ionale din România 1918-1925, S. 178. Ebd., S. 175. Im französischen Original: „[L]a Roumanie reconnaît comme ressortissant roumains, de plein droit et sans aucune formalité.“ Ebd., S. 169.
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Dietmar Müller
waren, als rumänische Staatsangehörige anerkannt. Gleichzeitig wurde dem in Art. 3 und 4 genannten Personenkreis das Optionsrecht für eine andere Staatsangehörigkeit eingeräumt, und Rumänien verpflichtete sich in Art. 5, dessen Ausübung keinerlei Hindernisse in den Weg zu stellen. In Art. 6 wurde der Grundsatz des ius soli festgeschrieben: „Die rumänische Staatsangehörigkeit (nationalité) erwirbt man von Rechts wegen durch die einfache Tatsache der Geburt auf rumänischem Territorium durch jegliche Person, die keine andere Staatsangehörigkeit durch Geburt reklamieren kann.“24 Der Inhalt des Art. 7 kann als Niederlage der rumänischen Diplomatie eingeschätzt werden, da er einem Eingeständnis gleichkam, daß die bisherigen Schritte zur Emanzipation der Juden des Landes – auch die Dekretgesetze Br tianus zur Staatsangehörigkeit aus dem Jahr 1913 – ungenügend gewesen waren. Zudem fand sich in keinem anderen Minderheitenschutzvertrag der Nachfolgestaaten ein ähnlicher Artikel.25 Rumänien verpflichtete sich, alle auf rumänischem Territorium wohnhaften jüdischen Einwohner, die keine andere Staatsangehörigkeit besaßen, als gleichberechtigte Staatsbürger und ohne jegliche Formalitäten anzuerkennen. Art. 8 beschäftigte sich mit der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung der rumänischen Staatsbürger hinsichtlich ihrer bürgerlichen und politischen Rechte und sicherte diese als Gleichheit vor dem Gesetz allen seinen Staatsangehörigen zu, ungeachtet ihrer Ethnie, Sprache oder Religion. Die durch die genannten Kategorien bestehenden Differenzen zu der Mehrheitsbevölkerung sollten kein Hindernis für die Ausübung der bürgerlichen und politischen Rechte darstellen, insbesondere nicht bei der Zulassung zu öffentlichen Ämtern, Tätigkeiten und Ehrenstellungen sowie für die Tätigkeit in verschiedenen Berufen und Gewerben. Auch der freie Gebrauch einer anderen Sprache als der offiziellen wurde für den privaten, wirtschaftlichen und religiösen Bereich garantiert. Weiterhin wurden Erleichterungen für den Gebrauch einer Minderheitensprache vor Gericht in Aussicht gestellt. Während die territorialen Fragen im Wesentlichen zur Zufriedenheit der rumänischen Delegation in Paris entschieden worden waren, traf dies auf den Minderheitenschutz nur mit großen Einschränkungen zu. Trotz heftiger Gegenwehr des Delegationsleiters Br tianu mußte Rumänien schließlich doch einen Minderheitenschutzvertrag unterschreiben. Die Analyse der Perzeption der Minderheitenfrage sowie der Argumente, mit denen dessen Notwendigkeit in Rumänien bestritten wurde, zeigt, daß der Nationscode fest in den Köpfen der rumänischen Politiker verankert war und ihr Handeln bestimmte. Während vor der Konferenz der gute Ton der Diplomatie beachtet worden war, erscheint die Minderheitenfrage im internen Schriftverkehr unverblümt als 24
25
Im französischen Original: „La nationalité roumaine sera acquise de plein droit, par le seul fait de la naissance sur la territoire roumain, à toute personne ne pouvant se prévaloir d’une autre nationalité de naissance“. Ebd., S. 170. Vgl. Erwin Kendi, Minderheitenschutz in Rumänien. Die rechtliche Normierung des Schutzes der ethnischen Minderheiten in Rumänien, München 1992, S. 25, Anm. 5.
Juden in der Minderheitenpolitik Rumäniens
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„jüdische Machenschaft“, wie aus einem Brief vom 12. Februar 1919 hervorgeht, den Br tianu an seinen in Bukarest verbliebenen Stellvertreter Mihail Pherechyde richtete: „Unter dem Einfluß der Vorschläge und Dokumentationen, die sie aus Rumänien erhalten, beurteilen die Juden hier unser Naturalisierungsdekret als nicht ausreichend. Sie bemängeln vor allem, die Naturalisierung bleibe eine individuelle, da sie zu vielen Verzögerungen und komplizierten Formalitäten unterworfen sei und zudem den negativen Beweis verlange, daß keine fremde Schutzuntertänigkeit vorgelegen habe, was allen juristischen Prinzipien widerspricht.“26
Ende April begann die Minderheitenfrage zum Gegenstand der öffentlichen Konferenzverhandlungen zu werden, und Br tianus Einschätzung und Strategie lautete wie folgt: „Es ist die jüdische Frage, die in dieser neuen Form wieder auftaucht. Ich werde antworten, daß Rumänien entschlossen ist, den Minderheiten absolute Gleichheit und weite politische Freiheiten zu gewähren sowie Autonomie in der Lokaladministration zuzusichern, aber keinesfalls eine Einmischung fremder Staaten in seine inneren Angelegenheiten akzeptiert. Allenfalls kann es sich den Konditionen unterwerfen, die auch allen anderen Mitgliedsstaaten des Völkerbundes auferlegt sind.“27
Als Anfang Juni schließlich die Unterzeichnung des Friedensvertrages mit Österreich anstand, artikulierte er seine Vorstellungen über Gegnerschaft und Einfluß der Juden explizit: „Ich habe versucht, unseren Beitritt [zu dem Friedensvertrag mit Österreich, D.M.] abzulehnen, ohne den definitiven Konflikt zu provozieren, aber wir können uns keine Illusionen machen. Wir sind mit den Ressentiments der Juden und dem Appetit der Trusts konfrontiert, die hinter dem Rücken Wilsons die Entscheidungen treffen.”28
Wenige Tage später richtete er einen Brief an Wilson, in dem er gegen die Minderheitenklauseln im Friedensvertrag mit Österreich protestierte und den Grund erläuterte, weshalb solche Maßnahmen für Rumänien unnötig, ja schädlich seien: „So weit ich verstanden habe – und die Andeutungen Clemenceaus bestätigen mich darin –, ist der entscheidende Grund für diese Klauseln die jüdische Frage. Die beiden beiliegenden Annexe [...] werden Ihnen beweisen, daß diese Frage in Rumänien nicht mehr existiert. Sie ist tot und begraben; sie in irgendeiner Form wieder auszugraben, würde niemandem nutzen, aber die Atmosphäre des Landes zum Schaden aller vergiften.“29
26 27 28 29
Ion. I. C. Br tianu, zitiert nach G. I. Br tianu, Ac iunea politic , S. 45ff. Ebd., S. 64. Ebd., S. 68. Ebd., S. 70.
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Einen wichtigen Hinweis auf die Dominanz des Antisemitismus im rumänischen Nationscode bietet die Tatsache, daß die Minderheitenfrage von der Pariser Delegation wie auch von den im Land verbliebenen Politikern ausschließlich als jüdische Frage wahrgenommen wurde.30 Dies hatte zur Folge, daß Perzeptionsmuster und Politikelemente, die sich an der jüdischen Frage herausgebildet hatten, auf die rumänische Minderheitenpolitik als Ganzes Anwendung fanden. Der Stiefsohn Ion I. C. Br tianus, der Historiker und liberale Politiker Gheorghe I. Br tianu, verfaßte 1939 auf der Grundlage der Korrespondenz der rumänischen Politiker zwischen Paris und Bukarest eine Studie über die politischen und militärischen Aktionen seines Landes im Jahr 1919. Diesem Text selbst kommt ebenfalls Quellencharakter zu, da er, die Motivation seiner Parteifreunde und Familienmitglieder deutend und kommentierend, wiederum die Persistenz des Nationscodes und insbesondere seiner antisemitischen Anteile am Ende der parlamentarischen Phase der Zwischenkriegszeit widerspiegelt. So war es für Gheorghe I. Br tianu von besonderer Signifikanz, daß die Frage des Minderheitenschutzes zu dem Zeitpunkt Thema der Konferenz wurde, als über den Zugang ausländischer, insbesondere amerikanischer Firmen zum polnischen und rumänischen Erdölmarkt verhandelt wurde.31 Der Minderheitenschutz war aus seiner Perspektive ein Instrument der Großmächte, mit dem sie sich dauerhafte Einflußmöglichkeiten in interne Angelegenheiten der neuen Staaten verschafften, um sie wirtschaftlich ausbeuten zu können. Die Verbindung dieser beiden Themen sah er durch jüdische Finanzkreise gegeben: „Die jüdische Frage, als per Definition ein internationales Problem, mit ihren vielfältigen und verschiedenen Verbindungen, die die Situation Kleinrumäniens auf dem Berliner Kongreß erschwert hatte, stand uns nun auf der Pariser Friedenskonferenz erneut im Weg. In dem Moment, in dem wir zur Verteidigung unseres Landes die Hilfe der Alliierten gebraucht hätten [...], hätte die Feindschaft dieser so eng mit der Großfinanz Europas und Amerikas verbundenen Kreise die schwersten Konsequenzen haben können.“32
Wie 1878/79 so auch 1919 und wieder 1939 war also die „jüdische Frage“ das Prisma, durch das rumänische Politiker internationale politische und wirtschaftliche Zusammenhänge betrachteten. Der Viitorul (Die Zukunft), als Parteiblatt der PNL (Partidul Na ional Liberal) die offiziöse Zeitung der Regierung, veröffentlichte im Juli und August 1919 zahlreiche Artikel, in denen die „Finanzsatrapen Baruch und Baumann“ als Widergänger von Bleichröder erschienen. Dementsprechend sei das, „was uns Bismarck 1878 aufgezwungen hat“, identisch mit dem, was „die Alliierten uns 1919
30 31 32
Vgl. dazu auch die Bemerkung von Leu tean, România, S. 96, Anm. 207. Vgl. G. I. Br tianu, Ac iunea politic , S. 63. Ebd., S. 46.
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aufzwingen wollen“, nämlich eine „phanariotische Politik“33 und eine, in denen Sonderrechte für die Juden und andere Minderheiten des Landes sowie wirtschaftlicher Einfluß der Großmächte wie zu Zeiten der Schutzuntertänigkeit durch die Konsulate gesichert werden sollten.
Die Definition des rumänischen Staatsbürgers: Die Verfassung 1923, das Staatsangehörigkeitsgesetz 1924 und die Repräsentation jüdischer Interessen Die Verfassung für „Großrumänien“ wurde von der federführenden Nationalliberalen Partei (PNL) als eine im technischen Sinne notwendige Anpassung an die neuen Verhältnisse konzipiert und nicht als ein Dokument des Neubeginns, das die regionalen und ethnisch-religiösen Spezifika der neuen Provinzen reflektierte.34 Wie die Verfassung kann auch das Staatsangehörigkeitsgesetz als ein Element alt-rumänischer Kontinuität interpretiert werden, da es bezüglich der Judenheiten in den neuen Provinzen wiederum anders verfuhr als mit „normalen Minderheiten“, nämlich auf Bahnen, wie sie im antisemitisch strukturierten Nationscode im 19. Jahrhundert gelegt worden waren. Aufgrund der Dominanz und Intransigenz der Nationalliberalen legten die Parteien, die ihren Schwerpunkt in den neuen Provinzen oder im ländlichen Raum hatten, zwar noch Verfassungsentwürfe vor, verabschiedeten sich aber aus der Verfassungsdebatte bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt. Die einzig signifikanten kritischen Debattenbeiträge zu Fragen der Konstituierung des Bürgers kamen demnach aus dem Lager der Minderheitenvertreter sowie, als Entgegnungen, aus dem der PNL und der Nationaldemokratischen Partei (Partidul Na ional Democrat; PND) Nicolae Iorgas. Quantitativ mußte das Minderheitenproblem in der Verfassungsdiskussion in- und außerhalb des Parlamentes ein Randthema bleiben, da die liberaldemokratische Verfassungstradition, der sich die rumänischen Eliten verpflichtet fühlten, ein solches nicht kannte. Aus der Sicht der Minderheiten 33 34
Ebd., S. 130. Zu dieser Auffassung vgl. Ernst Schmidt, Die verfassungsrechtliche und politische Struktur des rumänischen Staates in ihrer historischen Entwicklung, München 1932, S. 72ff.; D. M. Kauschansky, Die neue Verfassung vom 28. März 1923, in: Zeitschrift für Öffentliches Recht 5, 1926, hier zitiert nach einem Reprint Frankfurt/M. 1969, S. 117-120; Romulus Boila, Die Verfassung und Verwaltung Rumäniens seit dem Weltkriege, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart 18, 1930, S. 335ff. Zu der Frage ob es sich um eine neue Verfassung oder um eine Revision der alten handelt vgl. die neuere verfassungsgeschichtliche rumänische Sekundärliteratur: Eleodor Foc eneanu gibt an, daß 57 Artikel aus der Verfassung von 1866 unverändert, 11 leicht verändert und weitere 19 mit einigen Auslassungen übernommen wurden. Lediglich 21 Artikel seien stark verändert und 24 Artikel völlig neu formuliert worden. Vgl. Eleodor Foc eneanu, Istoria constitu ional a României (1859-1991), Bukarest 1992, S. 61f.
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stellte sich dies als Weigerung der rumänischen politischen Klasse dar, auf ihre Belange mehr als nur deklamatorisch einzugehen, und letztlich als eine drohende Aussicht auf eine Existenz als Bürger zweiter Klasse. Diesen Eindruck gewannen sie anhand der impliziten Definition des rumänischen Staatsbürgers, der im Verfassungsentwurf der PNL schlicht mit dem Ausdruck „Rumäne“ vorgenommen wurde. Die politischen Vertreter der Deutschen, Ungarn und Juden plädierten dagegen für den Begriff „rumänischer Staatsbürger“. Der erste Begriff habe ein ethnisches Substrat und ziele auf eine Nationskonzeption ab, der allein die rumänische Ethnie zugrundeliege, so daß sich die Minderheiten nicht berücksichtigt und somit diskriminiert sähen. Der jüdische, zionistisch orientierte Deputierte aus Bessarabien, Jehuda-Leib irelsohn, meinte, daß die Verwendung bloß des Begriffes „Rumäne“ in Art. 5 und anderen die klare Absicht andeute, alle Minderheiten zu assimilieren.35 Auf diese Argumentation war der Bericht des Senates über die Beratungen seiner Ausschüsse bereits insofern eingegangen, als er die Präzisierung des Begriffes „Rumäne“ mit dem Zusatz „ohne Ansehen der ethnischen Abstammung, der Sprache oder der Religion“36 empfahl. Weiterhin versuchte die PNL-Regierung durch N. Hasna , den Stellvertreter ihres offiziellen Berichterstatters, C. G. Dissescu, eine weitere vermeintliche Präzisierung einzuführen, indem gleiche Staatsbürgerrechte „Rumänen und rumänischen Staatsbürgern“37 zugesichert werden sollten. Dieser vorsichtig lancierte Vorschlag wurde schließlich nicht als Amendement formuliert, deutet aber auf die Brüchigkeit des nationalliberalen Verständnisses von Gleichheit hin. Die Argumentationslinie der PNL baute auf der Behauptung auf, der Begriff „Rumäne“ sei gewählt worden, um sämtliche Einwohner Rumäniens zu bezeichnen, also auch Frauen, Minderjährige und Häftlinge, die über keine politischen Rechte verfügten. Der von den Minderheiten vorgeschlagene Begriff „rumänischer Staatsbürger“ habe also den engeren Bezugskreis der politischen Rechte und werde daher abgelehnt.38 George G. Mârzescu, Minister für Gesundheit, Arbeit und Soziales, erklärte denselben Sachverhalt in direkter Bezugnahme auf die Bedeutung der französischen Begriffe ressortissant und citoyen, wobei der zweite Begriff eine Teilmenge des ersten sei.39 Die PNL-Parlamentarier weigerten sich, die Sorgen der Minderheiten ernst zu nehmen, und bestanden vielmehr darauf, die Verwendung des Begriffes „Rumäne“ sei zum einen der Problematik der bürgerlichen und politischen Rechte geschuldet, und zum anderen läge ihm ein politisches 35
36 37 38 39
Vgl. A. Lascarov-Moldoveanu/Sergiu D. Ionescu, Constitu ia României din 1923 – adnotat cu desbateri parlamentare i jurispruden e, Bukarest 1925, S. 20. Biographische Angaben über Jehuda-Leib irelsohn in: Parlamentari evrei în forul legislativ al României (19191940). Documente (extrase), Bukarest 1998, S. 414. Vgl. Lascarov-Moldoveanu/Ionescu, Constitu ia României din 1923, S. 17. Ebd., S. 19. Vgl. Emil Pangrati, ebd. Vgl. G. G. Mârzescu, ebd., S. 21.
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Nationsverständnis zugrunde.40 Es sei also ein Zeichen beleidigenden Mißtrauens, daß die Minderheiten dem guten Willen der rumänischen Staatsmänner und der Toleranz des rumänischen Volkes entgegenbrächten, wenn sie Art. 5 die Bedeutung zumäßen, die Minderheiten entnationalisieren zu wollen.41 Die Redebeiträge zur parlamentarischen Verfassungsdiskussion der jüdischen Abgeordneten Salo Weisselberger (Senator, PNL) und Adolphe Stern (Deputierter im Wahlkartell der Bauernpartei, Partidul r nesc; P )42 beschäftigten sich mit drei eng miteinander verknüpften Problemen. Sie kritisierten, daß Art. 133 sich nur auf die Juden des Altreichs bezog und zudem willkürliche und restriktive Stichdaten und Bedingungen festlegte, mahnten die Inkorporierung der Staatsangehörigkeitsgesetze von 1918/19 in die Verfassung an und erklärten sich nur widerwillig bereit, auf ihre alte Forderung, nämlich die kollektive Einbürgerung der Juden, zu verzichten. Weisselberger zeichnete den Weg nach, den die Bestimmungen zur Einbürgerung der Juden im Laufe der Parlamentsdiskussion genommen hatten, und kam zum Ergebnis, daß sich die Aussicht der Juden, die rumänische Staatsangehörigkeit zu erhalten, dabei zunehmend verschlechtert habe.43 Zunächst habe Dissescu der Gemischten Parlamentskommission einen mit den Bestimmungen des Pariser Minderheitenschutzvertrages übereinstimmenden Vorschlag unterbreitet, wonach alle Personen, die am 9. Dezember 1919 ihren legalen Wohnsitz in Rumänien hatten, ohne jegliche Formalität zu rumänischen Staatsangehörigen erklärt wurden, es sei denn, sie besäßen eine andere als die ungarische oder österreichische Staatsangehörigkeit. Die Gemischte Parlamentskommission habe diesen Text insofern verschlechtert, als der Stichtag auf den 2. August 1914 vorverlegt, der Kreis der potentiellen Antragsteller auf Einwohner Altrumäniens beschränkt und der negative Nachweis gefordert wurde, keine fremde Staatsangehörigkeit besessen zu haben. Die Ausschüsse der Parlamentskammern hätten sich weder für die eine noch für die andere Lösung entscheiden können und so den Art. 133 im Verfassungskapitel „Übergangs- und Zusatzbestimmungen“ geschaffen, der schlicht die drei Dekretgesetze zur Einbürgerung aus den Jahren 1918/19 sowie alle bis dahin erfolgten individuellen Einbürgerungen nach der
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41
42 43
Der Vorschlag des Senators Constantin Crupenschi, Art. 5 möge wie folgt beginnen, „Rumänen, Frauen wie Männer, ohne Unterschied der […]“ wurde von Dissescu als „unnötig und gefährlich“ bezeichnet und abgelehnt. Vgl. Monitorul Oficial (MO), Desbaterile Adun rii Na ionale Constituante a Senatorilor (DANCS), Nr. 45, 19.3.1923, S. 717. Der theoretisch mögliche Kompromißvorschlag, „Rumänische Staatsbürger, Frauen wie Männer, [...] “ wurde nicht formuliert. N. D. Chirculescu, in einem erläuternden Begleittext zu seinen Beiträgen in der Verfassungsdiskussion; Raportul i cuvânt rile D-lui N. D. Chirculescu asupra proiectului de constitu iune în Adunarea Deputa ilor, Foc ani 1923, S. 12, 50ff., 81ff. Zur politischen Biographie der jüdischen Abgeordneten vgl. Parlamentari evrei, S. 412ff. Ebd., S. 31f.
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Verfassungsmodifikation von 1879 ratifizierte.44 Weisselberger argumentierte – das Element des Nationscodes aufnehmend, wonach die Juden schlechte Staatsbürger Rumäniens seien, weil sie gerade in Krisenmomenten die Hilfe fremder Staaten in Anspruch nähmen – für die Inkorporierung der Pariser Minderheitenschutzbestimmungen in die rumänische Verfassung, weil sie Teil eines Vertrages seien, der die Unterschrift der rumänischen Regierung trage. Ihrer Aufnahme stehe somit nichts im Wege, sondern gerade dadurch werde der Bezugspunkt der Juden die Verfassung Rumäniens und nicht fremde Institutionen oder Staaten. Auch Adolphe Stern, der langjährige Vorsitzende der Union der Einheimischen Juden (Uniunea Evreilor P mânteni; UEP), die im Februar 1923 in Union der Rumänischen Juden (Uniunea Evreilor Români; UER) umbenannt wurde,45 ging auf das Argument ein, der Minderheitenschutz sei Rumänien auferlegt worden.46 Er betonte die Mitgliedschaft Rumäniens im Völkerbund aus freien Stücken und sprach seine Hoffnung aus, daß sich das rumänische Parlament zu seinen internationalen Verpflichtungen bekennen und sowohl den restlichen Juden aus dem Altreich, die noch nicht die Staatsangehörigkeit des Landes hatten, als auch den Juden aus den neuen Provinzen diese verleihen werde. Zu dem Zeitpunkt seiner Rede am 15. März 1923 mußte Stern allerdings bereits daran zweifeln, daß sich seine Hoffnung erfüllen würde, denn als assoziiertes Mitglied der Gemischten Parlamentskommission hatte er den von Weisselberger geschilderten Prozeß der Verschlechterung der Aussichten auf eine unproblematische und kollektive Einbürgerung der Juden miterlebt. Insbesondere konnte ihm nicht entgangen sein, daß jeglicher Bezug47 auf den Minderheitenschutzvertrag vom Premierminister und Parteichef der PNL, Ion I. C. Br tianu, mit der Begründung abgeblockt wurde, „einige der Punkte dieses Vertrages sind für uns eine noch offene seelische Frage“.48 Welches diese Punkte seien, teilte der selbstherrlich über Partei und Regierung herrschende Br tianu nicht mit, aber angesichts seiner antisemitischen Familien- und Parteitradition besteht kein Zweifel daran, daß es um die vom Minderheitenschutzvertrag auferlegte kollektive Einbürgerung 44
45 46 47
48
Vgl. Christian Ionescu, Dezvoltarea constitu ional a României. Acte i documente 17411919, Bukarest 2000, S. 574. Weiterhin wurde im letzten Absatz des Art. 133 die Frist für diejenigen Juden Altrumäniens um drei Monate nach Inkrafttreten der Verfassung verlängert, die bisher ihre Einbürgerung nach den Bestimmungen des restriktiven Br tianuDekretgesetzes vom 12. August 1919 nicht beantragt hatten. Vgl. Iancu, Evreii din România 1919-1938, S. 90. Vgl. Parlamentari evrei, S. 35-38. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Anträge von Adolphe Stern selbst gestellt wurden oder z. B. von Br tianus Justizminister Ioan Th. Florescu, dessen sehr weitgehender Antrag scheiterte, daß alle Juden, die vor 1916 ihren Wohnsitz in Altrumänien oder in den neuen Provinzen hatten, nun ohne weitere Formalitäten rumänische Staatsbürger sein sollten. Vgl. Claudia Ursu iu, Dezbaterea statutului juridic al evreilor în parlamentul României (19191924), in: Studia Universitatis Babe -Bolyai, Historia 45, 1-2, 2000, S. 152. Ion I. C. Br tianu, zitiert nach Ursu iu, ebd.
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der ethnischen Minderheiten der neuen Provinzen im Allgemeinen und der Juden im Besonderen ging. Eine der schärfsten Reaktionen auf die Anliegen der Juden stammte von Nicolae Iorga, der sich auf einen Wortwechsel mit Stern einließ, weil dieser ihn persönlich nach seiner Meinung gefragt hatte, ob es angebracht sei, eine Frage, die so viele Menschen in Rumänien beträfe, in einem Artikel des Kapitels „Übergangs- und Zusatzbestimmungen“ zu erledigen, der lediglich Dekretgesetze ratifiziere. Iorga bekannte darauf, er habe dieser ungewöhnlichen Vorgehensweise ebenfalls zugestimmt, weil die Juden wieder zu impertinent seien: „[I]ch bin der Meinung, daß jemand, der wie Sie das repräsentiert, was er repräsentiert, schlechten Geschmack uns gegenüber beweist und denjenigen, die er vertritt einen Bärendienst, wenn er hier die Verträge hochhebt und sie mit einer Nuance der Bedrohung interpretiert.“49
Auch der Minister für Gesundheit, Arbeit und Soziales, George G. Mârzescu, antwortete Stern, indem er seinen Regierungschef paraphrasierte und somit auch die offizielle Position der PNL zum Ausdruck brachte: „Wir sind damit einverstanden, alle [Bürger unseres Staates, D.M.] gleich zu behandeln, aber man soll von uns nicht verlangen, den Minderheiten im Verhältnis zu der Mehrheit der Bevölkerung rumänischen Ursprungs eine privilegierte Situation zu verschaffen […]. Herr Dr. Stern soll anerkennen, daß es nicht jener seelischen Solidarität […] dient, daß zwei Kategorien von Staatsbürgern geschaffen werden: die einen, rumänischen Ursprungs, genießen nur den Schutz des rumänischen Staates, und die anderen, fremden Ursprungs, genießen neben dem Schutz des rumänischen Staates auch internationale Protektion.“50
Am Tag der Abstimmung über die Verfassung war es wiederum Nicolae Iorga, der der nationalliberalen Regierung vorwarf, sie habe mit der UEP Geheimverhandlungen hinsichtlich der Einbürgerung der Juden geführt, was in doppelter Hinsicht moralisch illegitim sei: Eine Verfassung verhandele man nicht stückchenweise und schon gar nicht mit einer Organisation, die es gar nicht mehr geben dürfte, da sich ihre raison d’être mit der Einbürgerung der Juden erledigt habe. Die „jüdische Frage“ werde „in der Seele des rumänischen Volkes gelöst“, und die Juden würden die „große und endgültige Einbürgerung“ nur erlangen, wenn sie auf jeglichen „Makkabäismus sowie auf Tendenzen verzichten“ würden „zwei Heimaten haben zu wollen“.51 Am 26. März wurde schließlich die Verfassung mit 247 Stimmen bei zwei Enthaltungen und acht Gegenstimmen in der Deputiertenkammer52 und am 27.
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Ebd., S. 39, FN 2. G. G. Mârzescu, in: MO, Desbaterile Adun rii Na ionale Constituante a Deputa iilor (DANCD), Nr. 46, 15.3.1923, S. 1195. Nicolae Iorga, vgl. MO, DANCD, Nr. 56, 26.3.1923, S. 1603. Vgl. MO, DANCD, Nr. 56, 26.3.1923, S. 1604.
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März im Senat53 mit 137 Stimmen bei zwei Enthaltungen und zwei Gegenstimmen angenommen. Die Gegenstimmen in beiden Kammern stammten von den ungarischen und deutschen Abgeordneten sowie vom jüdischen PNL-Deputierten aus der Bukowina, Benno Straucher. Die anderen sechs jüdischen Abgeordneten stimmten der Verfassung doch noch zu – nachdem sie zuvor ihre Ablehnung signalisiert hatten –, weil Justizminister Ioan Th. Florescu am Tag der Abstimmung in der Deputiertenkammer noch versichert hatte, das Fehlen von Bestimmungen bezüglich der Juden aus Siebenbürgen, Bessarabien und der Bukowina in Art. 133 hätte keine Konsequenzen für sie, da deren Staatsangehörigkeit sich mit der Vereinigung der neuen Provinzen mit Altrumänien automatisch geklärt habe.54 Der Wert dieser Zusicherung stellte sich schon bald als sehr gering heraus, als am 13. Oktober 1923 eine „Verordnung über die Anwendung der Bestimmungen der Friedensverträge und ihrer Anhänge betreffend den Erwerb und den Verlust der rumänischen Staatsangehörigkeit“ verabschiedet wurde.55 Die Verordnung verstieß in mehrfacher Hinsicht gegen Geist und Buchstaben des Pariser Minderheitenschutzvertrages, den eine rumänische Regierung unterzeichnet und das rumänische Parlament in Gestalt des Friedensvertrages von St. Germain-en-Laye am 20. September 1920 ratifiziert hatte. Ohne Zweifel wollten die Großmächte in Paris die „jüdische Frage“ in Großrumänien durch eine unproblematische, kollektive Einbürgerung gelöst sehen, als in Art. 3 formuliert wurde, „Rumänien erkennt als gleichberechtigte rumänische Staatsangehörige und ohne jede Förmlichkeit alle Personen an, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Vertrages ihren Wohnsitz in Rumänien, oder in Gebieten haben, die ihm durch die Friedensverträge mit Österreich und Ungarn übergeben werden […]“.56
Bereits im Aufbau der Verordnung spiegelt sich die doppeldeutige Haltung der nationalliberalen Gesetzgeber gegenüber dem Minderheitenschutzvertrag wider. Gleich auf den ersten Artikel, in dem dadurch positiv auf den Minderheitenschutzvertrag Bezug genommen wird, daß „[d]ie gleichberechtigte rumänische Staatsangehörigkeit ohne weitere Formalitäten jenen in den Friedensverträgen und ihren Anhängen vorgesehenen Personen anerkannt“57 53 54
55
56 57
Vgl. MO, DANCD, Nr. 52, 27.3.1923, S. 827. Vgl. Ursu iu, Dezbaterea statutului juridic, S. 161; Iancu, Evrei din România 1919-1938, S. 94. Diese Mitteilung muß jüdischen Abgeordneten mündlich gemacht worden sein, da einerseits Ursu iu und Iancu mit der jüdischen Zeitung Curierul Israelit vom 1. April 1923 dieselbe Quelle zitieren und andererseits im Amtsblatt des Parlamentes, Monitorul Oficial, kein derartiger Vermerk zu finden ist. Regulamentul pentru aplicarea tratatelor de pace i anexelor lor cu privire la constatarea dobândirii i pierderii na ionalit ii române. Vgl. auch Erwin Wolloch, Die geschichtliche Entwicklung des Staatsangehörigkeitsrechtes in Rumänien, Frankfurt/M. 1988, S. 100ff.; Ursu iu, Dezbaterea statutului juridic, S. 163f.; Iancu, Evrei din România 1919-1938, S. 97f. Übersetzt nach dem französischen Original in: Scurtu/Boar (Hg.), Minorit ile na ionale din România 1918-1925, S. 169. Vgl. Scurtu/Boar (Hg.), Minorit ile na ionale din România 1918-1925, S. 164.
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wird, folgen viele Artikel mit Bedingungen und Formalitäten, die insgesamt einem glatten Dementi der proklamierten Absicht gleichkommen. So wurde die im Minderheitenschutzvertrag vorgesehene Domizilsklausel (im frz. Original: toute personne domiciliée) dahingehend interpretiert, daß nicht der Wohnsitz in Orten der an Rumänien abgetretenen Provinzen Österreichs, Ungarns und Rußlands ausschlaggebend sei, sondern das Heimatrecht (Indigenat) in diesen Gemeinden. Das russische Pendant zum österreichischungarischen Heimatrecht sollte der legale, administrative Wohnsitz am 27. März 1918 sein. Weiterhin sollten Personen als rumänische Staatsangehörige anerkannt werden, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der die jeweiligen Provinzen betreffenden Friedensverträge zwar ihren wie oben definierten Wohnsitz nicht dort hatten, aber deren Eltern diese Bedingung erfüllten. Schließlich sollten ungarische und österreichische Staatsbürger sowie Personen ohne Staatsbürgerschaft, die ihren Wohnsitz im genannten Sinne auf dem Territorium Großrumäniens hatten, als rumänische Staatsbürger anerkannt werden. Zunächst ist hervorzuheben, daß mit der Einführung des Heimatrechtes bzw. des legalen, administrativen Wohnsitzes als ausschlaggebende Bedingung der entscheidende Schritt weg von einer kollektiven Einbürgerung der Bewohner dieser Provinzen gemacht wurde. Denn nun mußte de facto der Einzubürgernde Beweise erbringen, daß er in dem entsprechenden Ort nicht nur lebte, sondern Vollbürger dieser Gemeinde war. Im österreichischen wie im ungarischen Fall hatte das Heimatrecht zwar durchaus eine staatsangehörigkeitsrechtliche Dimension, indem man erst in einer Gemeinde Heimatrecht haben konnte, bevor man die nationale Staatsangehörigkeit erhielt.58 Aber es spielte keine Rolle, ob diese Gemeinde sich in der Bukowina oder in Oberösterreich bzw. in Siebenbürgen oder im Raum Budapest befand. Unmittelbarer Zwang, bei einem Wohnsitzwechsel das Heimatrecht der neuen Gemeinde zu erwerben, bestand nicht. Die zweite Dimension des Heimatrechtes war die der Armenversorgung, hatten doch nur Mitglieder mit Indigenat das Recht auf soziale Unterstützung durch ihre Gemeinde. Die Folge dessen war, daß die Gemeinden auch in Zeiten der Reise- und Niederlassungsfreiheit mit dem Heimatrecht nicht freigiebig umgingen.59 Im Falle Rußlands sollte der legale, administrative Wohnsitz durch die Vorlage von Einträgen in diverse Register, Wahl- oder Matrikellisten nachgewiesen werden.60 In allen drei Fällen kann von großen Schwierigkeiten bei der Beschaffung dieser Nachweise durch die Antragsteller ausgegangen werden, die 58
59 60
Vgl. Hannelore Burger, Paßwesen und Staatsbürgerschaft, in: Waltraut Heindl/Edith Saurer (Hg.), Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750-1867, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 104ff., 164ff. Vgl. Harald Wendelin, Schub und Heimatrecht, in: Heindl/Saurer (Hg.), Grenze und Staat, S. 173-343, hier S. 188, 195ff., 215. Vgl. Wolloch, Geschichtliche Entwicklung, S. 101, Anm. 9.
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zum einen aus den Zerstörungen vieler Archive im Ersten Weltkrieg resultierten und zum anderen daraus, daß dem Heimatrecht nachträglich eine Bedeutung für die Staatsangehörigkeit zugemessen wurde, die es vor 1918 nicht gehabt hatte. Kurz nach dem Inkrafttreten dieser Verordnung brachte der Justizminister George G. Mârzescu das „Gesetz über den Erwerb und den Verlust der rumänischen Staatsangehörigkeit“61 in den Senat und die Deputiertenkammer ein, wobei sich die Verordnung, beinahe unverändert, darin als Art. 5662 des Gesetzes wiederfand. Aus der Analyse eines von Mârzescu verfaßten Textes, in dem das Gesetz begründet wurde (expunere de motive; Motivbericht), ebenso wie aus seinen Redebeiträgen in der Diskussion des Gesetzes in der Deputiertenkammer, kann geschlossen werden, daß der nationalliberale Gesetzgeber die Zugangsbedingungen zur rumänischen Staatsangehörigkeit für die Juden der neuen Provinzen, wie sie in der Verordnung formuliert worden waren, gerade aufgrund der zu erwartenden Schwierigkeiten, sie zu erfüllen, in das neue Staatsangehörigkeitsgesetz übernehmen wollte. In dem Motivbericht begründete Mârzescu das vorliegende Gesetz mit „der nationalen und administrativen Notwendigkeit, die Zusammensetzung der Bevölkerung des rumänischen Staates nach der Vereinigung zu kennen und zu wissen, welche Einwohner die Staatsangehörigkeit gehabt oder erhalten haben [...]“.63 Dies sei zumal wichtig, wenn man „die Immigrationsflut“ bedenke, die „sich vor und während des Weltkrieges sowie nach der Vereinigung“ ins Land ergossen habe, so daß „wir uns mit einer kompakten Masse an Fremden im Land wieder finden, die kein reales Recht auf die rumänische Staatsangehörigkeit haben, die sich aber eine derartig vorteilhafte Situation geschaffen haben, daß es uns bei deren Prüfung schwer genug fallen wird, zwischen rumänischen Staatsangehörigen und Fremden zu unterscheiden.“64
Dann beschrieb er drei Möglichkeiten, wie man sich administrativ Akten beschaffen könne, die einem den Weg in die rumänische Staatsangehörigkeit ebnen konnten, ohne daß man dazu berechtigt sei und ohne sie direkt zu beantragen. Solcherart suggerierte er, daß die aus Quellen der Polizei und des Sicherheitsdienstes (Siguran a) nachfolgend angegebenen 408.282 Menschen mit fremder Staatsangehörigkeit und 36.526 ohne oder mit unklarer Staatsangehörigkeit in Bessarabien, der Bukowina, Siebenbürgen und dem Banat sämtlich nach einem illegalen Hintertürchen in die rumänische Staatsan61
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Lege privitoare la dobândirea i pierderea na ionalit ii române din 24 Februarie 1924, in: Codul General al României. Colec ia Hamangiu. Legi noui de unificare 11-12, 1922–1926, Bukarest, S. 280-288. Siehe auch Art. 2 der Ausführungsbestimmungen zum Gesetz. Vgl. Regulamentul privitor la constatarea na ionalit ii române din 24 Februarie 1924, in: Codul General 11-12, 1922-1926, S. 289f. Expunere de motive, in: MO, DANCD, Nr. 55, 19.2.1924, S. 1529. Ebd., S. 1530.
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gehörigkeit suchten.65 Damit hatte Mârzescu die Zielgruppe umrissen, auf welche die restriktiven Zugangsbeschränkungen zur rumänischen Staatsangehörigkeit gemünzt waren. Das Prozedere, wie die individuelle Prüfung der Staatsangehörigkeit theoretisch aller Einwohner der neuen Provinzen zu geschehen habe, regelte Art. 64.66 Er sah die Konstituierung von Verwaltungskommissionen an den Appellationsgerichten des Landes vor, die Staatsangehörigkeitslisten anlegen sollten. Fand sich eine Person in diesen Listen nicht verzeichnet, so blieben ihr 40 Tage Zeit, die notwendigen Unterlagen beizubringen.67 Gelang dies nicht, so blieb nur der Weg über die in den ersten beiden Kapiteln des Gesetzes geregelten individuellen Naturalisierungen von Landesfremden.68 Wie viele Personen welcher Ethnie schließlich durch diese bürokratische Schikane von der rumänischen Staatsangehörigkeit ausgeschlossen blieben, kann nicht mehr geklärt werden.69 Als ursprüngliche Zielgruppe dieser Maßnahme scheinen aber die Juden der neuen Provinzen und zu einem geringeren Teil auch die Ungarn70 festzustehen, denn unter den von Mârzescu genannten rund 400.000 Personen mit unklarer oder fremder Staatsangehörigkeit in Rumänien, die sich die rumänische angeblich erschleichen wollten, machten die Juden mehr als die Hälfte und die Ungarn ein Viertel aus. Die Indigenatsklausel des Staatsangehörigkeitsgesetzes schien das geeignete Instrument, den Kreis derjenigen ohne Rechtsanspruch auf Einbürgerung unter den Bedingungen der Friedensverträge möglichst groß zu ziehen. 65 66
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70
Ebd., S. 1531f. Vgl. Lege privitoare la dobândirea i pierderea na ionalit ii române din 24 Februarie 1924, in: Codul General 11-12, 1922-1926, S. 287 sowie die Art. 38-40 der Ausführungsbestimmungen, vgl. Regu-lamentul privitor la constatarea na ionalit ii române din 24 Februarie 1924, in: Codul General 11-12, 1922-1926. Vgl. Wolloch, Geschichtliche Entwicklung, S. 105; Ursu iu, Dezbaterea statutului juridic, S. 171. Siehe auch die Ausführungsbestimmungen zur individuellen Einbürgerung. Regulament privitor la dobândirea na ionalit ii române prin naturalizare i la redobândirea acestei na ionalit i din 16 Mai 1924, in: Codul General 11-12 (1922-1926), S. 302-338. Carol Iancu gibt die geschätzte Zahl von 20.000 jüdischen Familien an, die als Folge der Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihrer rumänischen Staatsangehörigkeit diese verloren hätten, nachdem sie endgültig aus den Staatsangehörigkeitslisten gestrichen worden waren. Nach einer anderen von ihm zitierten Schätzung seien dies 80.000 bis 100.000 Personen gewesen. Vgl. Iancu, Evrei din România 1919-1938, S. 102. In einem für den rumänischen Außenminister, Nicolae Titulescu, im Mai 1924 erstellten Memorandum des Außenministeriums wurde die Zahl der nicht in die Staatsangehörigkeitslisten aufgenommenen Personen für Siebenbürgen und die Bukowina mit insgesamt 16.644, davon höchstens 5.500 Juden angegeben. Wie sich diese Zahlen zu denen der „flottierenden“ Bevölkerung ohne klare Staatsangehörigkeit in den beiden Provinzen verhalten, bleibt unklar. Vgl. Minorit ile na ionale 1918-1925, S. 747. Nach Angaben der Polizei und des Sicherheitsdienstes führte der Justizminister, George G. Mârzescu, die Zahl der Ungarn anderer Staatsangehörigkeit in Siebenbürgen und dem Banat mit 65.000 Personen auf, unklarer Staatsangehörigkeit wären 10.000 Personen und 30.000 gehörten zu der „flottierenden fremden“ Kategorie. Expunere de motive, in: MO, DANCD, Nr. 55, 19.2.1924, S. 1533.
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Der Wert, den die regierenden Nationalliberalen internationalen Verträgen beizumessen bereit waren, wurde vom Justizminister Mârzescu in der Diskussion des Gesetzes in der Deputiertenkammer taxiert. Laut seiner Argumentation habe die Ratifikation des Minderheitenschutzvertrages, respektive des Friedensvertrages von St. Germain-en-Laye, keine bindende Wirkung für den rumänischen Gesetzgeber, da es sich dabei um internationale Verträge handele,71 die Regelung der Staatsangehörigkeit aber eine unbestreitbare Angelegenheit des Nationalstaates sei.72 Weiterhin führte er an, daß, selbst wenn man den Minderheitenschutzvertrag beachte, sich sein Gesetzesprojekt auf sicherem Boden befände, verweise doch dessen Art. 3 auf die Friedensverträge mit Ungarn und Österreich. Sowohl Art. 76 des Vertrages von St. Germain-en-Laye als auch Art. 61 des Vertrages von Trianon verlange aber das Heimatrecht als Vorbedingung für die entsprechende Staatsangehörigkeit. Wohlweislich verschwieg Mârzescu aber, daß die beiden Artikel nicht das Heimatrecht einer bestimmten Gemeinde verlangten, wie dies das rumänische Gesetz vorsah, sondern irgendeines auf dem ehemaligen Gebiet Österreichs oder Ungarns. Zu diesen Erklärungen sah sich Mârzescu gezwungen, weil der bereits in der Verfassungsdiskussion aufgefallene Adolphe Stern ihn durch beharrliches Nachfragen dazu aufgefordert hatte. Da alle anderen jüdischen Abgeordneten – auch die aus den neuen Provinzen – an der Diskussion des Gesetzesvorschlages im Senat wie in der Deputiertenkammer nicht teilnahmen, war Stern der Fürsprecher für alle regionalen Gruppen der Judenheit in Großrumänien.73 Genau dies aber verübelten ihm Mârzescu und der Berichterstatter des Gesetzes in der Deputiertenkammer, Vladimir Atanasovici, bzw. sprachen ihm das Recht dazu ab. Der Justizminister fragte in die Runde, was wohl ein Jude aus Altrumänien in einer Diskussion zu suchen habe, in der es gar nicht um die Belange seiner Gruppe ginge, seien diese doch in Art. 133 der Verfassung geregelt worden.74 Atanasovici erweiterte dieses Repräsentationsverbot angeblich fremder Interessen um eine Aufgabe, die Stern zu erfüllen habe, wenn er ein guter rumänischer Staatsbürger sei. Er solle „seinen Glaubensbrüdern abraten“, weiterhin „eigene Zeitungen und Gesellschaften zu haben sowie Versammlungen abzuhalten“, denn all das zeige, daß sie schlechte Staatsbürger seien, wenn sie weiterhin „andere, distinkte Interessen“ verfolgten, anstatt „mit allen Interessen des gesamten Staates solidarisch zu sein“75. Diese Gedanken Mârzescus und Atanasovicis umreißen das Nationsverständnis der PNL in wünschenswerter Klarheit. Sie geben auch Aufschluß darüber, wie sich die Nationalliberalen die Repräsentation von Minderheiten71 72 73 74 75
Vgl. MO, DANCD, Nr. 55, 19.2.1924, S. 1561f. Diesen Gedanken entwickelte er auch in seinem Motivbericht, vgl. Expunere de motive, in: MO, DANCD, Nr. 55, 19.2.1924, S. 1523f. Vgl. Parlamentari evrei, S. 42-50. Vgl. MO, DANCD, Nr. 55, 19.2.1924, S. 1564. Vladimir Atanasovici, vgl. MO, DANCD, Nr. 57, 20.2.1924, S. 1592.
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interessen, insbesondere jener der Juden, vorstellten. Demnach sei es für Bürger eines Nationalstaates illegitim, ethnisch-religiös strukturierte Interessen zu haben und sie zu vertreten, da die individuelle Gleichberechtigung aller Bürger bereits gesichert sei. Denselben Grundgedanken hatte Nicolae Iorga bereits in der Verfassungsdiskussion geäußert, als er der UER im neuen Rumänien die Existenzberechtigung abgesprochen hatte. Es wird deutlich, daß signifikante Teile der politischen Elite Rumäniens soziale Realitäten gänzlich in eine „totalisierende Matrix der Nation“76 hineinzwängten, mit der Folge, daß die „Interessen des Staates“ identisch waren mit denen der rumänischen Ethnonation. Insgesamt waren die rumänischen Eliten nicht bereit oder in der Lage, die teilweise divergenten Tendenzen in den verschiedenen Judenheiten Großrumäniens zu verstehen bzw. zu akzeptieren, die in Gestalt des Beharrens auf national-kulturellen Gruppenrechten und des Zionismus einerseits und der Akkulturationsoption andererseits auf eine „Normalisierung“ dieser Gruppe in minderheitentheoretischer Hinsicht hinausliefen. In der Definition des rumänischen Staatsbürgers in der Verfassung und dem Staatsangehörigkeitsgesetz sowie in den Tendenzen zu einem Repräsentationsverbot ethnisch-religiös strukturierter Interessen, vor allem hinsichtlich der Juden des Landes, sind die ethnische Grundierung des rumänischen Nationsbegriffes sowie die engen Grenzen der Demokratie deutlich geworden. Die Juden und die anderen Minderheiten wurden eingebürgert bzw. als Staatsbürger Rumäniens anerkannt, und ihnen wurden gleiche Rechte wie allen anderen Bürgern zuerkannt, aber nur unter Vorbehalt. Hinsichtlich der Juden waren die Vorbehalte tief im rumänischen Nationscode verankert, der sie als den Rumänen wesensfremd beschrieb. Erneut sollten sie nun, und zwar immer wieder und tagtäglich, unter Beweis stellen, daß sie solche Anomalien wie das Streben nach „zwei Heimaten“ oder „internationaler Protektion“ abgelegt hätten und sich der Zugehörigkeit zu einem die Moderne und die Zivilisation verkörpernden Nationalstaat würdig erwiesen. Auch in der parlamentarischen Debatte wurde deutlich, wie dünn der Firniß war, der als neuer politischer Nationsbegriff über den traditionellen, den ethnonationalen gelegt worden war. Die „endgültige Einbürgerung“ der Juden fand nämlich in den Worten Iorgas nicht durch die Verfassung oder sonstige Gesetze statt, sondern „in der Seele des rumänischen Volkes“, was als Hinweis darauf gelten kann, daß die Juden und die Rumänen nach wie vor als ethnisch-ontologische Entitäten gesehen wurden, die sich maximal einander annähern, aber nie in einer politischen Nation verschmelzen könnten. Die stabile Verankerung eines mühsam kaschierten ethnischen Nationsverständnisses, gepaart mit dem Unitarismus und Zentralismus des Nationalstaates im Denken der bestim76
Vgl. Walter Hildebrandt, Die Problematik der Nation als totalisierende Matrix im Kontext des Strukturpluralismus Südosteuropas, in: Klaus-Detlev Grothusen (Hg.), Ethnogenese und Staatsbildung in Südosteuropa, Göttingen 1974, S. 230-253.
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menden nationalliberalen Eliten, stellte auch für die anderen Minderheiten Großrumäniens ein schlechtes Vorzeichen dar. Der Pariser Minderheitenschutzvertrag wurde nicht in die Verfassung inkorporiert, statt dessen wurde auf das individuelle Gleichheitsversprechen in der Tradition der liberaldemokratischen Tradition verwiesen. Damit wähnten sich die nationalliberalen Eliten ganz und gar aufgehoben im fortschrittlichen Zeitgeist, der nun auch in Südosteuropa als Triumph des Nationalstaates zu verspüren sei. Jegliche Tradition und jeglicher Ansatz, wie z.B. der Autonomiegedanke, die dem Nationalstaat, wenn auch nur scheinbar, zuwiderliefen, wurden als mittelalterlich, rückwärtsgewandt und den status quo destabilisierend gebrandmarkt.
Die „Junge Generation“ und ihre Lehrer: Zwischen Oppositionsnationalismus und Zivilisationskritik Wenn im abschließenden Teil der Fokus auf den außerparlamentarischen Raum und zugleich auf die zweite Dekade der Zwischenkriegszeit verschoben wird, so erlaubt dies, mehreren Fragen nachzugehen: Wie wurde die rumänische Nation in kulturellen Debatten der 1930er Jahre definiert, welcher Ort wurde den Minderheiten darin zugewiesen, welche Rolle sollte der Staat dabei einnehmen und welches politische Regime war am besten für diese Aufgabe geeignet? Zu Ermessen, welche Wirkung das Denken von Intellektuellen wie Nae Ionescu und seiner Schüler der „Jungen Generation“ auf die öffentliche Meinung und letztlich auf die politische Agenda der Regierungen hatte, ist ein schwieriges Unterfangen, denn der Weg eines Gedankens über eine Handlungsabsicht bis hin zu ihrer Ausführung, zumal Denkende und Handelnde nicht identisch sein müssen, ist schwerlich als linear zu konzipieren. Jedoch muß jedem zielgerichteten sozialen Agieren größeren Ausmaßes ein kognitiver Prozeß vorausgehen. Eine Analyse des Nationsdiskurses der „Jungen Generation“ erlaubt Einblicke in die gegenseitige Beeinflussung der Politik und der Kultur, in die Krise des Parlamentarismus der 1930er Jahre und schließlich in die Rolle, die den Intellektuellen in ihrer Radikalisierung entlang ethnonationaler und antisemitischer Linien dabei zukam.77 Nae Ionescu war einer der wichtigsten rumänischen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit. Als Philosophieprofessor in Bukarest übte er durch seinen charismatischen Vorlesungsstil großen Einfluß auf die „Junge Generation“ aus,78 ebenso wie als Leiter und häufiger Autor der Tageszeitung Cuvântul auf 77 78
Vgl. Leon Volovici, Nationalist Ideology and Antisemitism. The Case of Romanian Intellectuals in the 1930s, Oxford u.a. 1991. Von seiner ungemein großen intellektuellen Anziehungskraft legen die gängigen Äußerungen seiner Schüler wie „unser Lehrer“, „der Professor“ Zeugnis ab, oder wie sein wohl bekann-
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die öffentliche Meinung. Bereits 1926 konzipierte er das Verhältnis der Titularnation zu den Minderheiten als eines der Herrschaft und der Unterordnung: „[I]ch bejahe die Rechte meiner Nation auf ihre entschlossene Entwicklung im Rahmen unseres Staates und setze fest, daß sich die anderen Völker der Mehrheitsnation anpassen müssen.“79 Im August desselben Jahres wandte er sich gegen den Versuch „der Intellektuellen [...] aus dem [als in jüdischen Händen geltenden Bukarester Zeitungsviertel, D.M.] S rindar“,80 in Rumänien eine demokratische Tradition der Staatsbürgerschaft zu behaupten, die sich auf die Programme der Revolutionäre von 1848 gründete. Die Demokratie an sich sei als Negierung der Tradition unhistorisch und würde die Gesellschaft „atomisieren“ und „arithmetisieren“. Um diese Vorstellungen als Ideologie zu kennzeichnen, verwandte er Begriffe wie „Demokratismus“ sowie den schwer zu übersetzenden „Staatsbürgerschaftismus“ (cet enismul). Diese noch auf der Ebene der Theorie verbleibende Polemik Nae Ionescus erhielt im Herbst 1933 eine politische Signifikanz, da er sich offen der faschistischen Legion „Erzengel Michael“ anzunähern begann.81 In der verbleibenden Zeit bis zum Verbot seines viel gelesenen Cuvântul im Januar 1934 standen seine Seiten offen für antisemitisches und faschistisches Gedankengut.82 Den Regierungsantritt eines neuen nationalliberalen Kabinetts unter Ion G. Duca 1933 nahm Ionescu zum Anlaß, das Nationsverständnis dieser für die moderne rumänische Geschichte so wichtigen Partei zu analysieren. Einleitend hält er fest, der Nationalismus als politische Doktrin manifestiere sich auf zwei Arten: „[E]inerseits in ethnizistischer Hinsicht als Versuch, einen Staat durch die Valorifizierung der spirituellen [Hervorhebung im Original, D. M.] Kräfte der
79 80 81 82
tester Schüler, Mircea Eliade, sich ausdrückte, „der große Lehrer seines Volkes“. Vgl. Mircea Eliade, … i un cuvânt al editorului, in: Nae Ionescu, Roza Vînturilor 1926-1933, Mircea Eliade (Hg.), Chi in u 1993 (zuerst Bukarest 1937), S. 272. Vgl. auch die biographische Skizze eines weiteren Ionescu-Schülers, Mircea Vulc nescu, Nae Ionescu. A a cum l-am cunoscut, Bukarest 1992. Nae Ionescu, Reac iune i altceva, in: Nae Ionescu, Între ziaristic i filosofie. Texte publicate în ziarul Cuvîntul (15. august 1926 - 26. martie 1938), Ia i 1996, S. 16. Nae Ionescu, Tradi ionalism i democra ie, in: Ionescu, Roza Vînturilor, S. 232f. Vgl. Z. Ornea, Anii treizeci. Extrema dreapt româneasc , Bukarest 1996, S. 220ff. Die sich 1933 ändernde ideologische Ausrichtung Nae Ionescus fand ihre Entsprechung in einem Cuvântul, dessen Gepräge sich wandelte. Waren unter der Leitung Ionescus seit 1927 bis zum Herbst 1933 von der Zeitungsleitung abweichende Meinungen erlaubt und Polemiken zwischen Redaktionsangehörigen an der Tagesordnung, so legte Ionescu seinen jüdischen Redakteuren Mihail Sebastian und Ion C lug ru nahe, die Zeitung zu verlassen, da sich diese ideologisch eindeutig für die Legion „Erzengel Michael“ positioniert habe. Mit Vasile Marin trat nun ein bekannter „Legionär“ in die Redaktion des Cuvântul ein. Vgl. Daniel CristeaEnache, Nae Ionescu – Mihail Sebastian: O influen decisiv , in: Chimet, Dosar Mihail Sebastian, S. 217f. und Ornea, Anii treizeci, S. 226.
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Mehrheitsnation und andererseits in [...] aufklärerischer Hinsicht, also dem Versuch, die Nation als Gesamtheit der Einwohner eines Staates“83
zu konstituieren. Zuletzt sei der Cuvântul in einer Reihe von illustren Vorgängern wie Mihai Eminescu und Nicolae Iorga für ein ethnisches Nationsverständnis eingetreten, während die aktuelle Verfassung ein politisches festgesetzt habe. Die Spannung zwischen Verfassungstext und -realität bzw. Rhetorik und Politik der Liberalen Partei einschätzend, kam Ionescu aber zu dem Urteil, die politische Linie der Partei der Br tianus sei bisher „einem ‚durch uns selbst‘ gefolgt, das nicht nur bedeute, ‚durch uns aus diesem Land‘, sondern vor allem ‚der Rumänische Staat durch die Rumänen seines Territoriums‘.“84 Nicht zu Unrecht sei die Nationalliberale Partei als im Kern antisemitisch eingeschätzt worden. Diese stolze Tradition des „ethnischen Vitalismus“ der Br tianus sei nun zu Ende, denn unter der Regierung Duca sei die PNL „zu einem Helfershelfer fremder Finanzinteressen gegen die nationale Ökonomie und der alogenen Elemente gegen die autochthonen geworden.“85 Die Regierung Duca war mit dem Versprechen angetreten, extremistische Bewegungen zu bekämpfen, was Nae Ionescu als Angriff auf den Extremismus der „antisemitischen Nuance“86 verstand. Die tatsächlich eingeleiteten repressiven Maßnahmen, wie die Suspendierung einiger einschlägiger Zeitungen, wurden von der Presse aus dem „S rindar“ begrüßt,87 was Ionescu zum Anlaß nahm, „den Rückzug aller Juden aus politischen Führungspositionen“88 zu fordern. Die Juden in den Führungspositionen der „demokratischen Presse“ würden ihr „Jüdischsein“ mit ihrer Rolle im öffentlichen Leben in einer Weise vermischen, die den „staatsbürgerlichen Frieden“ bedrohe.89 Wenn also einer Zeitung wie dem Adev rul, auf den Ionescu sich offenbar bezog, Philosemitismus erlaubt sei, müsse auch Antisemitismus im öffentlichen Raum möglich sein. Ionescu empörte sich insbesondere, daß der Adev rul, anders als der Curierul israelit, nicht einmal als offiziöses „Blatt der jüdischen Nation“ firmierte. Mit dieser Formulierung verdeutlichte er sein ethnisches Nationsverständnis, das die Zugehörigkeit der Juden zu ihrer Minderheitengruppe festschrieb und ihnen den Weg in die rumänische Nation 83 84 85
86 87
88 89
Nae Ionescu, Român i rumân – Abdic rile liberalismului românesc, in: Nae Ionescu, Între ziaristic i filosofie, S. 162. Ebd., S. 163. Ebd., S. 164. In diesem Kommentar machte Ionescu sich nicht die Mühe, seine Anschuldigungen zu belegen, sondern ließ es bei dem Hinweis bewenden, die Liberalen hätten Verhandlungen mit dem Nationalisten Octavian Goga platzen lassen. Vgl. Nae Ionescu, ... i un cuvînt de pace, in: Ionescu, Între ziaristic i filosofie, S. 160. Vgl. Armin Heinen, Die Legion „Erzengel Michael“ in Rumänien. Soziale Bewegung und politische Organisation. Ein Beitrag zum Problem des internationalen Faschismus, München 1986, S. 253. Nae Ionescu, ... i un cuvînt de pace, in: Ionescu, Între ziaristic i filosofie, S. 161. Ebd.
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für immer versperrte. In einer Polemik90 mit dem Journalisten und zionistischen Denker A. L. Zissu über die Berechtigung bzw. den Charakter des Philo- und Antisemitismus brachte Nae Ionescu seine Haltung auf die paradox anmutende Formel: „Was ist die Lösung? Eine einzige: Das Verschwinden des Philosemitismus. Also das Ersetzen der Rumänen mosaischen Glaubens durch Juden rumänischer Staatsangehörigkeit. Also die Beendigung der sinistren Komödie der Assimilation.“91
Führt man sich Ionescus weiter oben analysierte Hierarchisierung der Staatsbürger vor Augen, so verliert das vermeintliche Integrationsangebot der Formel „Juden rumänischer Staatsangehörigkeit“ jeglichen Wert und verweist im Gegenteil eben auf die Problematik einer lediglich individuell gesicherten Gleichberechtigung aller Staatsbürger vor dem Gesetz in einem Staat, der sich auf ethnonationaler Grundlage konstituiert hat. Mit seiner Qualifizierung der Assimilation als „sinistre Komödie“ wollte Ionescu den Juden schließlich auch den Weg des individuellen Eintritts in die rumänische Nation versperren. Die wohl wichtigste, weil von den Zeitgenossen am intensivsten rezipierte Auseinandersetzung Ionescus mit dem Thema Judentum und Assimilation stellte sein Vorwort zu dem Roman „Seit zweitausend Jahren“92 seines jüdischen Schülers Mihail Sebastian (Pseudonym von Iosif Hechter) dar.93 Sebastian, er gehörte dem Herausgebergremium des Cuvântul an,94 schilderte in dem stark autobiographischen Roman den Zwiespalt eines assimilierten Juden zwischen seinem orthodox-jüdischen Ursprung und einer rumänischen Umwelt, die ihm zahlreiche Demütigungen zufügte. Das Buch erschien samt dem Vorwort Ionescus im Jahr 1934 und löste einen literarischen und politischen Skandal aus. Ionescu rechtfertigte das Leiden der Juden und den Antisemitismus der Christen mit dem religiösen Argument, die Juden hätten „Jesus geboren (und) gesehen“, ihn aber trotzdem als Hochstapler gekreuzigt. Juden und Christen seien seither zwei einander „fremde Körper“, [...] zwischen denen nur durch das Verschwinden des einen oder des anderen Frieden herrschen“ könne.95 Es existierten „christliche und jüdische Werte in allen Lebensbereichen“, angefangen bei „der politischen Organisation einer Nation“ über die „Schaffung und Verteilung materieller Güter“ bis hin zum 90
91 92 93 94 95
Die Beiträge Nae Ionescus dazu: Între „agresivitate“ antisemit i „pasivitate“ filosemit – R spuns dlui A. L. Zissu, in: Ionescu, Între ziaristic i filosofie, S. 168-170; „Trascendentalism“ i politic – Al doilea r spuns dlui A. L. Zissu, in: Ionescu, Între ziaristic i filosofie, S. 171-173 und „Zdorbitoarea majoritate“ a evreilor na ionali – Replic la r spunsul dlui A. L. Zissu, in: Ionescu, Între ziaristic i filosofie, S. 174ff. Nae Ionescu, Între „agresivitate“ antisemit , in: Ionescu, Între ziaristic i filosofie S. 170. Mihail Sebastian, De dou mii de ani, Bukarest 1995 (zuerst 1934). In einem Nachfolgeband „Cum am devenit huligan“ stellte Sebastian eine Materialsammlung der zahllosen Reaktionen auf seinen Roman bzw. auf das Vorwort Ionescus zusammen. Vgl. Ioan Petru Culianu, Mircea Eliade und die blinde Schildkröte, in: Hans Peter Duerr (Hg.), Die Mitte der Welt. Aufsätze zu Mircea Eliade, Frankfurt/M. 1984, S. 237. Sebastian, De dou mii de ani, S. 22.
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„generellen Verständnis des Seins“.96 Die Juden würden sich von den Christen nicht nur freiwillig isolieren, sondern seien auch eine Gefahr „für die christliche Ordnung“.97 Er sprach schließlich den Romanautor, sein Pseudonym „Mihail Sebastian“ ignorierend, um somit auch das Vergebliche und Unmögliche seiner Assimilation offen zu legen, direkt an: „Iosif Hechter fühlt, daß Juda leidet und gar nicht anders kann. [...] Du bist krank Iosef Hechter. Du bist substantiell krank, denn Du kannst nicht anders als leiden; [...] Iosif Hechter, fühlst Du nicht, wie Dich die Kälte und die Dunkelheit umfaßt?“98
Zwischen dieser metaphysischen Rechtfertigung des Antisemitismus und den ersten Zeichen seiner entschiedenen Annäherung an die inzwischen in „Eiserne Garde“ umbenannte Legion „Erzengel Michael“ im Herbst 1933 war Nae Ionescu samt einiger Redaktionskollegen inhaftiert und ihre Tageszeitungen verboten worden.99 Ihnen wurde die moralische Mitverantwortung an der Ermordung des liberalen Ministerpräsidenten Duca am 29. Dezember 1933 durch eine Gruppe junger Legionäre auf dem Bahnhof von Sinaia zur Last gelegt. Als zwei der berühmtesten Schüler Nae Ionescus können Mircea Eliade und Emil Cioran eingeschätzt werden, die außerhalb Rumäniens aber bis vor kurzem nicht mit ethnozentrischem und antisemitischem Gedankengut in Verbindung gebracht wurden. Eliade plädierte für eine Nation, die durch „Taten der Bürger“ und „Werke der Intellektuellen“100 wachse. Nur durch einen „neuen Prophetismus“ der kulturellen und geistigen Tat im Rahmen eines „organischen Staates“101 und keineswegs durch die Politik könne die geistige Krise überwunden werden. Die „junge Generation“ habe begriffen, daß der „neue Prophetismus“, die „Mission Rumäniens“ sich nicht mehr, wie seit dem Ersten Weltkrieg, im „Primat der Politik“ erschöpfen dürfe, sondern „als Land und als Volk total [Hervorhebung im Original, D.M.] unter dem Zeichen des Kreuzes“ zu leben wage.102 In einer Reihe von Texten im Jahre 1935 deutete sich an, welcher Ort für ethnische und religiöse Minderheiten in der von Eliade propagierten Kulturnation und dem „organischen Staat“ vorgesehen war. In einem dynamischen Nationalstaat sei kein Minderwertigkeitskomplex gegenüber Minderheiten mehr am Platze, so wie er sich in der rumänischen Geschichte 96 97 98 99 100 101 102
Ebd., S. 21. Ebd., S. 22. Ebd., S. 24. Vgl. Hans-Christian Maner, Parlamentarismus in Rumänien (1930-1940). Demokratie im autoritären Umfeld, München 1997, S. 158ff.; Heinen, Legion „Erzengel Michael“, S. 255f. Mircea Eliade, Cultur sau politic , in: Mircea Eliade, Profetism românesc. Bd. 2: România în eternitate, Bukarest 1990, S. 64. Ebd., S. 65. Mircea Eliade, De unde începe misiunea României?, in: Mircea Eliade, Textele „legionare“ i despre „românism“, Klausenburg 2001, S. 47f.
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vor allem bezüglich der Juden manifestiert habe. Die Angst, zu viele Juden hätten in Rumänien „Kommandoposten“ inne, sei übertrieben, denn „von dort werden wir sie durch Konkurrenz, durch unsere eigenen Kräfte, wenn es sein muß durch Verwaltungsgesetze vertreiben [...]“.103 In seinen Artikeln seit Ende 1936 in der Vremea und der Buna Vestire kam ein sich zunehmend verengender Horizont Eliades in der nationalen Frage zum Ausdruck. Sein Glaube an die Widerstandsfähigkeit und „Assimilationskraft der rumänischen Zelle“104 in kultureller Hinsicht wurde abgelöst durch immer apokalyptischere Zustandsbeschreibungen der rumänischen Gesellschaft und ihres Staates. Sarkastisch plädierte er dafür, die Aufenthaltszeit des Schnellzuges aus Paris in Großwardein/Oradea Mare auf eine Minute zu reduzieren, damit die Passagiere den tristen Zustand des Bahnhofs, aber auch seinen immer noch wenig rumänischen Charakter nicht sehen müßten.105 Seit 1937 habe schließlich ein „Kampf zwischen den ‚Generationen‘“, ja mehr noch „ein Kampf zwischen zwei Welten“ begonnen: „[A]uf der einen Seite die Welt, die an den Bauch glaubte (Primat der Wirtschaft und der Politik) und auf der anderen Seite die neue Welt, die an den Geist zu glauben wagt (Primat der Spiritualität).“106 In einem vehement xenophoben und auf dem antijudaistischen Topos des „blinden Juden“107 aufbauenden Artikel verwandte Eliade zahlreiche der seit Eminescu im Nationscode etablierten Elemente zum Angriff auf die politische Klasse. Diese, von Eliade in ihrer Zusammensetzung und in ihrem Wesen als „mehr oder weniger rumänisch“ bezeichnete Klasse, sei „bis ins Mark ihrer Knochen vom Politikastertum befallen“.108 Sie habe seit 1918 zugelassen, „daß das nationale Bürgertum zugunsten der alogenen Elemente zerstört wurde, [...] daß die freien Berufe entnationalisiert worden sind“, kurz gesagt, seien sie „blinde Kapitäne des Staatsschiffes“, weil sie den „staatlichen Instinkt“ verloren hätten.109 In einer interessanten Inversion der Rolle des Blinden und des Sehenden seien nun nicht mehr die Juden, sondern die Rumänen die Blinden. Während die politische Klasse Rumäniens den Minderheiten aus staatsmännischer Blindheit sogar dabei geholfen habe, „sich einen Staat im Staate zu schaffen“,110 wären diese nun klarsichtig genug, auf ihre beherrschende Stellung in Wirtschaft und Politik nicht mehr zu verzichten. Eliade 103 104 105 106 107
108 109 110
Mircea Eliade, Românismul i complexele de inferioritate, in: Eliade, Profetism românesc 2, S. 85. Mircea Eliade, Restaurarea demnit ii române ti, in: Eliade, Profetism românesc 2, S. 118. Vgl. Mircea Eliade, Miracolele din România Mare, in: Eliade, Profetism românesc 2, S. 164ff. Mircea Eliade, Revolu ia cre tin , in: Eliade, Textele „legionare“, S. 50. Blind seien die Juden, weil sie zwar Augen hätten, diese aber vor der „messianischen Realität Jesu Christi“ verschlossen hätten. Vgl. Andrei Oi teanu, Imagina evreului în cultura românesc , Bukarest 2001, S. 253ff. Mircea Eliade, Pilo ii orbi, in: Eliade, Textele „legionare“, S. 57. Ebd., S. 52. Mircea Eliade, Pilo ii orbi, in: Eliade, Textele „legionare“, S. 56.
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unternahm eine Bestandsaufnahme der Beziehungen und der Kräfteverhältnisse der Minderheiten und der Mehrheitsnation Rumäniens und kam zu alarmierenden Resultaten:111 Die sich noch bis 1918 nicht verstehenden Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben seien heute gegen die Rumänen geeint. In zahlreichen Gegenden und Städten Siebenbürgens und der Bukowina hätten die Ungarn und insbesondere die Juden ihre Positionen auf Kosten der Rumänen ausbauen können. Als Rettung aus dieser Krise evozierte Eliade die politischen Schriften Eminescus112, weil er die darin vorgenommene Analyse der Gründe für die Dekadenz der rumänischen politischen Klasse, für die erbärmliche Lage der Bauern sowie für die Schwäche des Staates als hilfreich für das Verständnis seiner Zeit einschätzte. Eminescu wäre in der Zwischenkriegszeit aber ein Unverstandener: „Seine [Eminescus, D.M.] politische Intransigenz hätte ihm [heute, D.M.] die Bezeichnung ‚hooligan’ eingebracht. [...] Sein wilder Antisemitismus und Nationalismus hätte eine Kohorte Kritiker und Moralisten gegen ihn aufgebracht, die ihn bestenfalls auf die Verpflichtungen Rumäniens gegenüber den Minderheiten, auf den Humanitarismus, unser Bündnis mit Frankreich usw. aufmerksam gemacht hätten.“113
In der Herrschaft des „Politikastertums“ in der Zwischenkriegszeit sah Eliade wohl einen späten Ausläufer der von Eminescu diagnostizierten „zweiten Phanariotisierung“ Rumäniens. Hatte Eminescu aber lediglich die Bauern als produktive Klasse gelten lassen, so erweiterte Eliade den Kreis der Produktiven um die Intellektuellen: „Die Instinkte dieser beiden Gruppen sind identisch. Der Instinkt der Abwehr und der Freiheit des Bauern (Verteidigung des Bodens, nationale und soziale Freiheit) korrespondiert mit dem Instinkt der Abwehr und der Kreation des Intellektuellen.“114
Die Kraft der „biologischen Assimilation“ der Bauern fände ihre Entsprechung in der „spirituellen“ Absorption fremder Werte und Formen der Intellektuellen.115 Als Kronzeugen für diese Fähigkeit nannte Eliade erneut die von Eminescu angeführte Ahnenreihe von Intellektuellen, an deren Ende er sich und die „Junge Generation“ sah. Ohne es jemals direkt und unmißverständlich öffentlich ausgesprochen zu haben,116 hoffte Eliade wohl, 111 112
113 114 115 116
Im Folgenden Eliade, Pilo ii orbi, in: Eliade, Textele „legionare“, S. 54ff. Vgl. auch die rumänische Fassung des Vorwortes zu einer in Lissabon 1950 erschienenen Gedichtsammlung Mihai Eminescus. Mircea Eliade, Eminescu – poetul neamului românesc, in: Revista de istorie i teorie literar 34, 1986, 2-3, S. 109-113. Mircea Eliade, Mai multe feluri de na ionali ti ..., in: Eliade, Profetism românesc 2, S. 162. Mircea Eliade, Restaurarea demnit ii române ti, in: Eliade, Profetism românesc 2, S. 118. Ebd., S. 119. Die Debatte, ob und in welchem Ausmaß Mircea Eliade ein Anhänger der Legion „Erzengel Michael“ und Zelea-Codreanus war, hat sich auf die Frage fokussiert, ob er der Autor eines Artikels (in: Buna Vestire, Jahrgang 1, Nr. 144, 17.12.1937: De ce cred în biruin a legionar )
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ebenso wie Nae Ionescu und andere, intellektueller Wegweiser der Legion „Erzengel Michael“ werden zu können. Deren Aufstieg als politische Kraft begleitete er als „glücklicher Zeitgenosse [...] der wichtigsten Wandlung, die das moderne Rumänien je erfahren habe: die Schaffung einer neuen Aristokratie“.117 Die bäuerliche Klasse, die all ihre Minderwertigkeitskomplexe abgelegt habe, bringe nun Söhne voll Männlichkeit, Kampfbereitschaft und Todesverachtung hervor, die sich ihrer „historischen Mission“, nämlich „der Erlösung des rumänischen Volkes“ durch eine „christliche Revolution“118 bewußt seien. Da Eliade im Juni 1937 das „rumänische Volk“ als christliche „Blutsgemeinschaft“119 definierte, blieb auch in seiner Konzeption keine Perspektive für die Herausbildung einer politischen Nationsvorstellung. In Emil Ciorans frühem Hauptwerk trieben ihn die Gründe für den ausgeprägt defensiven Charakter des rumänischen Nationalismus um. Er fand sie in der Orthodoxie, dem prädominanten ländlichen Raum und schließlich in einem sterilen Antisemitismus. Wer oder was hinderte die Rumänen nun, einen messianischen Nationalismus zu entwickeln, für den er ebenso plädierte wie für eine Volksdiktatur. Diese Frage, der er ein ganzes Kapitel120 widmete, beantwortete er vorderhand nicht einfach mit „die Juden“ oder „die Fremden“, sondern betonte: „Selbst wenn wir alle Fremden beseitigen, wäre Rumäniens Problem nicht weniger schwerwiegend. (…) Sie auf ein Abstellgleis zu stellen, ist eine Notwendigkeit; aber das darf sich der Nationalismus nicht zur Hauptaufgabe machen, weil ein allzu intensives Starren auf die Fremden die eigenen Realitäten, unsere essentielle Misere aus dem Blick zu verlieren bedeutet.“121
Gleichwohl hob er hervor, daß infolge des „tausendjährigen“ Leidens der Rumänen unter den Fremden sowie aufgrund der „jüdischen Invasion der letzten Jahrzehnte“, die Feindschaft gegenüber Fremden zu einem Charakteristikum des rumänischen Nationalgefühls und „der Antisemitismus zum essentiellen
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in einer Zeitung der Legionäre, der Buna Vestire, war. In einem Gespräch mit seinem Biographen Linscott Ricketts Anfang der 1980er Jahre bestritt Eliade, den Artikel verfaßt zu haben. Vgl. Mircea Handoca in einem editorischen Vorwort zu Eliade, Textele „legionare“; siehe auch Ornea, Anii treizeci, S. 205ff. Zu der Debatte seit den 1980er Jahren zu diesem Thema vgl. Sorin Antohi, Culianu i Eliade. Vestigiile unei ini ieri, in: Culianu, Mircea Eliade, S. 302ff. Kein Gedanke, der im inkriminierten Artikel geäußert wird – sei er nun von Eliade oder von einem anderen Autor – kann in anderen zitierten Texten Eliades, deren Autorschaft unumstritten ist, nicht auch gefunden werden. Mircea Eliade, Noua aristocra ie legionar , in: Eliade, Textele „legionare“, S. 72. Ebd., S. 73. Mircea Eliade, Revolu ia cre tin , in: Eliade, Textele „legionare“, S. 51. Das mit „Nationaler Kollektivismus“ (colectivism na ional) überschriebene Kapitel fehlt in der Auflage von 1990. Im Folgenden wird aus der Erstausgabe von 1936 zitiert. Vgl. Emil Cioran, Schimbarea la fa a României, Bukarest 1936. Ebd., S. 155.
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Wesenszug unseres Nationalismus“122 geworden sei. Es sei aber geradezu eine Schwäche des rumänischen Nationalismus, daß er zu sehr als Derivat des Antisemitismus praktiziert werde. Die Präsenz der Juden in einem Land und der gegen sie gerichtete Antisemitismus könne nicht mehr als eine den Nationalismus katalytisch beeinflussende Wirkung haben, ähnlich einer „notwendigen Dose Gift“,123 die den Organismus zur Produktion von Gegenstoffen provoziere. Gänzlich innerhalb des etablierten Nationscodes befand Cioran sich dann, wenn er die Ursachen für den Antisemitismus der Rumänen nicht etwa in Krisenerscheinungen in der rumänischen Gesellschaft auf sozialem und politischem Gebiet suchte, welche die oppositionellen und gouvernementalen Nationalisten antisemitisch erklärten, sondern im angeblichen Wesen der Juden.124 Ein Abgrund trenne „den Juden“ von „dem Rumänen“, der nicht überbrückt werden könne, da es sich dabei um „zwei essentiell unterschiedliche Wesen“ handele.125 Sobald ein Volk sich dessen und somit seiner selbst bewußt werde, sei ein Konflikt mit den Juden eine Zwangsläufigkeit: „Die immerwährende, latente Feindschaft zwischen den Juden und dem betreffenden Volk aktualisiert sich im entscheidenden Moment […], wobei die Juden aus der Nation ausgeschlossen werden. […] Es existieren historische Momente, in denen die Juden zwangsläufig als Verräter erscheinen. Aufgrund der besonderen Struktur ihres Geistes und ihrer politischen Orientierungen, die sich jeglichen Bewegungen zu einem nationalen Selbstbewußtsein entgegenstellen, unterscheiden sie sich an bestimmten Wegkreuzungen so sehr von der entsprechenden Nation, daß die gegenseitige Feindschaft einer Lösung bedarf.“126
Es liegt auf der Hand, daß Cioran sich als Zeitgenosse einer solchen „Wegkreuzung“ sah, denn im weiteren identifizierte er die Juden als Protagonisten dessen, was er beseitigt sehen wollte: die parlamentarische Demokratie und den Kapitalismus. Die Juden hätten sich in der Zwischenkriegszeit jeglicher nationaler und politischer Konsolidierung widersetzt und aus der an sich schon schädlichen Demokratie ein ihnen passendes System gemacht: „Das demokratische Regime Rumäniens hat keinen anderen Zweck gehabt, als die Juden und den judeo-rumänischen Kapitalismus zu schützen.“127 Er beklagte die zentrifugalen Tendenzen der Demokratie, die bei kleinen Nationen, wie der rumänischen, eine wahrhafte Katastrophe darstellten.128 122 123 124
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Ebd., S. 154f. Ebd., S. 159. „Die Juden sind das einzige Volk, das sich nicht an die Landschaft [Hervorhebung im Original, D.M.] gebunden fühlt. Keine Ecke der Welt hat ihren Geist geformt; daher bleiben sie dieselben, in jedem Land und auf jedem Kontinent.“ Emil Cioran, Schimbarea la fa , S. 158. Ebd., S. 156. Ebd., S. 158. Hervorhebung wie im Original. Ebd., S. 161. Ebd., S. 177.
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Anders als in großen Nationen hätten die dem Kapitalismus und der Demokratie zugrundeliegenden Werte und Mechanismen, wie „der Konkurrenzgeist, die Spekulation und die individuelle Atomisierung“, dazu geführt, daß „die Fremden die Rumänen in einem erstaunlichen Ausmaß beherrschten“.129 Den unterschiedlichen Grad abschätzend, zu dem dies den verschiedenen Minderheiten gelungen sei, betonte er die besondere Gefährlichkeit der Juden. Zum einen resultiere sie aus ihrer besonderen Vitalität und ihrem Willen zum Erwerb: „Gäbe man den Juden vollständige Handlungsfreiheit, würden sie in weniger als einem Jahr sogar den Namen des Landes ändern.“130 Zum anderen würden die Juden, anders als die Siebenbürger Sachsen und die Ungarn, gegen die Rumänen von innen, „aus unserem Zentrum“131 agieren. Die damit zweifellos angesprochene kulturelle Assimilation der Juden in Rumänien hielt Cioran somit für ein Manöver, das die Rumänen über die Entfremdung ihrer Heimat hinwegtäuschen solle. Direkte Politikempfehlungen sprach der Essayist Cioran nicht aus. Es besteht aber kein Zweifel daran, daß die von ihm propagierte „nationale Revolution“132 mit dem Ziel einer „Volksdiktatur“ insbesondere gegen die Juden gerichtet war. Seine Kritik am Liberalismus und Kapitalismus beruht auf einer Gleichsetzung der ihnen zugrundeliegenden Werte mit dem angeblichen „jüdischen Geist“. Ebenso wurde die Demokratie dafür kritisiert, daß sie durch die Einbürgerung der Juden sowie durch die Gewährung des allgemeinen Wahlrechts den Juden Wege ins Zentrum der politisch und ethnisch verstandenen rumänischen Nation geöffnet habe. Somit bedürfe es erst einer erneuten klaren Grenzziehung zwischen „den Juden“ und „den Rumänen“, mit anderen Worten, eines Abbruchs und einer Umkehrung der Politik der Assimilation, bevor die Rumänen zu ihrer historischen Mission finden könnten. Zwar kritisierte Cioran den rumänischen Nationalismus als lediglich bewahrend und defensiv, wenn er die Funktion der Rumänen als antemurale christianitatis und Repräsentanten romanischer Kultur in Südosteuropa betonte, gleichwohl befand er sich mit seiner Grundthese inmitten des Nationscodes: Die ethnisch verstandene rumänische Nation hat eine Mission in Südosteuropa zu erfüllen und sie wird von den Juden des Landes daran gehindert, insbesondere wenn diese mittels Assimilation das Wesen der Rumänen negativ zu beeinflussen drohen. Um den Stellenwert des Antisemitismus im Nationscode der Zwischenkriegszeit richtig einzuschätzen, bedarf es Überlegungen, ob und wie die Juden von den Diskursagenten als paradigmatische Minderheit perzipiert wurden, so daß andere religiöse und ethnische Minderheiten durch das antisemitische Prisma gesehen wurden. Weiterhin ist die Kritik an der politischen 129 130 131 132
Ebd., S. 175f. Ebd., S. 174. Ebd., S. 173. Vgl. ebd., S. 160.
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Klasse Rumäniens, am politischen Regime und am Wirtschaftssystem sowie an den diesen Ordnungen zugrundeliegenden Werten und Verfahren daraufhin zu analysieren, ob und inwiefern die Juden mit diesen „unrumänischen“ Phänomenen assoziiert wurden. In Frage steht also zum einen die Ausstrahlungskraft des Antisemitismus im Kontext Großrumäniens auf die Perzeption anderer Minderheiten und zum anderen seine Persistenz als Vehikel der Zivilisations- und Regimekritik. Die Stärke der antisemitischen Anteile im rumänischen Nationscode des „langen 19. Jahrhunderts“, ebenso wie die Etablierung eines oppositionsnationalistischen Verhaltensmusters basierend auf der „jüdischen Frage“, legte die Frage nach der Ausstrahlungskraft des Diskurses nahe. Wie die Analyse der „Jungen Generation“ und ihres Lehrers aber gezeigt hat, behielt der Antisemitismus zwar eine zentrale Stelle im Nationscode der Zwischenkriegszeit, seine auf andere Minderheiten verallgemeinernde Potenz hielt sich aber in engen Grenzen. Die Juden blieben, was sie bereits seit der Herausbildung des Nationscodes gewesen waren, nämlich die Anomalie im Europa der Nationen und Nationalstaaten, und zwar aus assimilatorischer sowie antiassimilatorischer Perspektive, bzw. aus der Sicht einer politischen und aus der der Ethnonation. Während die Empathie der rumänischen Intellektuellen ausreichte, um sich den fehlenden Willen anderer Minderheiten im Land, wie etwa der Deutschen, Ukrainer, Bulgaren und Ungarn, zur schnellen und restlosen kulturellen Assimilation als „normal“ zu erklären, war dies im Falle der Juden anders. Jetzt waren die Juden doch rumänische Staatsbürger, so fragte etwa der zum politischen Nationsverständnis konvertierte Nicolae Iorga, warum bestanden sie gleichwohl auf der Repräsentation eigener Interessen in Verbänden und Parteien? Weshalb solidarisierten sie sich in manchen Fragen mit den Minderheiten, die doch in kultureller Hinsicht wenigstens Teil „richtiger“ Nationen waren? Diese pro-assimilatorische und ansatzweise einem politischen Nationsverständnis verpflichtete Frageperspektive wurde von der „Jungen Generation“ mit der alten These von der wesenhaften Andersartigkeit der Juden beantwortet. Zwischen Christen und Juden klaffe ein Abgrund, der durch Assimilation nicht überbrückt, sondern lediglich bemäntelt werde. Assimilation sei also nicht zu fördern, sondern zu verhindern, denn für die rumänische Nation und den Nationalstaat sei die offene Gegnerschaft der „normalen“ Minderheiten weniger gefährlich als die verdeckte der Juden „von innen heraus“. Die Perzeption der Juden als Anomalie unter den Nationen verstärkte sich in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, in einer Zeit, die etwa von Emil Cioran als „nationale Revolution“ empfunden wurde. Die jüdische Präferenz in ganz Europa für eine liberale Wirtschaftsordnung und die parlamentarische Demokratie offenbare ihre ethnisch-ontologisch begründete A-Nationalität, ihre prinzipielle Gegnerschaft zu einer nationalen Erneuerung. Damit wurde den Juden nicht nur, wie etwa bei Nae Ionescu, die Zugehörigkeit zur rumänischen Nation aufgrund religiöser Alterität abgesprochen, sondern aus
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einer kultur- und regimekritischen Perspektive. Die Mitte der rumänischen Kultur neu zu bestimmen sowie einen Regimetyp zu etablieren, der dies in Realität verwandeln könne, war nach der Vorstellung Mircea Eliades seiner Generation vorbehalten und keineswegs den „blinden Staatslenkern“ der Demokratie.
Die „Judenfrage“ in der Sozial- und Siedlungspolitik: Zur Genese antisemitischer Politik in Ungarn KRISZTIÁN UNGVÁRY
Einleitung Zwischen den beiden Weltkriegen war die als ungelöst angesehene „Judenfrage“ neben der Revision der Versailler Friedensordnung das wichtigste Thema in der ungarischen Gesellschaft. Der antisemitische gesellschaftliche Diskurs begann jedoch schon vor dem Ersten Weltkrieg und seine Nachwirkungen sind bis in die heutige Zeit zu spüren. Für die beispiellose Dynamik des Antisemitismus in Europa sind zahlreiche Erklärungsmodelle vorgelegt worden. Nach dem bekannten AntisemitismusEssay von Jean-Paul Sartre verbreitete sich die Ansicht, Antisemitismus sei nichts anderes als eine Projektion ohne Erfahrung.1 Der Antisemit reagiert auf bedrückende gesellschaftlichen Konflikte mit der Antropomorphisierung der Ursachen und greift zur Gestalt des „bösen Juden“. Aus ähnlichen Überlegungen entstand die Deutung des Antisemitismus als „Zerstörung der Vernunft“.2 Nach Ágnes Heller ist der „Holocaust die absolute Sinnlosigkeit“. Der Holocaust kann demnach weder erklärt, noch verstanden werden.3 Claude Lanzmann oder Elie Wiesel wehren sich vehement dagegen, den Holocaust als integralen Teil der Geschichte darzustellen, weil ihnen in diesem Fall „Verstehen“ gleichbedeutend mit „Tolerieren“ erscheint. Aus der Perspektive der Überlebenden sind solche Deutungen verständlich. Es gibt jedoch durchaus Erklärungsmodelle, die den Antisemitismus als ein soziologisch beschreibbares Phänomen behandeln. Stellvertretend für diese Lesart sei hier die Auffassung von István Bibó4 angeführt. Bibó hat darauf hingewiesen, daß die unterentwickelten gesellschaftlichen Strukturen der präkapitalistischen ungarischen Gesellschaft eine Umgebung schufen, in der 1
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Jean-Paul Sartre, Réflexions sur la question juive, Paris 1946; dt. Fassung: Überlegungen zur Judenfrage, in : Ders., Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Politische Schriften, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 1994. Diese Meinung vertraten die Intellektuellen um György (Georg) Lukács. Siehe dazu Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, in: Georg Lukács, Werke, Bd. 9, Neuwied am Rhein u.a. 1962. Ágnes Heller, Auschwitz és Gulág, Budapest 2002, S. 27. István Bibó (1911-1979). Ungarns bedeutendster Politologe im 20. Jahrhundert. Zwischen 1945 und 1946 Abteilungsleiter im Innenministerium, bis 1949 Professor an der Universität Szeged, während der Revolution 1956 Minister ohne Portefeuille, zwischen 1957 und 1963 im Gefängnis, nachher im inneren Exil.
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Juden und Nichtjuden als einander fremde Gruppen aufeinander trafen. Bestimmte soziale Entwicklungsphasen bilden einen ungünstigen Kontext für die Interaktion von von Juden und Nichtjuden.5 So werden Juden von vielen Nichtjuden für das Aufkommen des Kapitalismus, und dabei vor allem für dessen negative Folgen, verantwortlich gemacht. Das führte wiederum bei den Juden zu negativen Erfahrungen mit Nichtjuden. Außerdem erklärt es, warum gerade die linken Bewegungen eine so großen Anziehungskraft für manche durch antisemitische Erfahrungen frustrierte Intellektuelle bilden konnten. Diese Deutung erklärt allerdings nicht alle häufig irrationalen Züge des Antisemitismus. In Ungarn sind aus denselben sozialen Gründen strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Antisemitismus und Deutschfeindlichkeit zu erkennen. Sicherlich ist der Grad des Antisemitismus nicht primär von der Anzahl der Juden abhängig, sehr wohl aber von der gesellschaftlichen Rolle, die sie spielen. Diese Rolle kann als Voraussetzung für eine wirksame Vorurteilsbildung angesehen werden. Andreas Biss6 wies auf diesen Zusammenhang hin: „Mit dem Wohlstand der Juden wuchs auch der Neid auf sie – ein Neid, der bei genauem Hinsehen primär dem Wohlstand und erst in zweiter Linie denen galt, die über ihn verfügten. Das ist eine elementare, geradezu reflexartige Regung: ‚Tüchtige’ Minderheiten bekommen sie zu allen Zeiten und überall in der Welt zu spüren, die Chinesen im indischen Raum ebenso wie die Deutschen in Osteuropa und sogar in Amerika oder die Griechen und Armenier in der Türkei. Daß sich diese feindselige Haltung gegen die Juden in erster Linie entwickelte, weil sie wohlhabend und nicht weil sie Juden waren, findet seine indirekte Bestätigung darin, daß gleichzeitig im selben Maße und aus denselben Gründen wie der Antisemitismus die Deutschfeindlichkeit zunahm.“7
Die westliche und vor allem die deutsche Forschung neigt dazu, die Ursachen des Holocaust aus deutscher Perspektive zu erklären. Dabei wird den Motiven der Verbündeten wenig Aufmerksamkeit gewidmet und die kumulative Wirkung dieser Motive auf die deutschen Entscheidungsträger oft außer acht gelassen. Eine Besonderheit unter den Ereignissen der Vernichtung bildet die Tragödie der ungarischen Juden, von denen 437.000 in kürzester Zeit im Sommer 1944 nach Auschwitz deportiert und größtenteils sofort ermordet wurden. Dieser „beschleunigte“ Massenmord, bzw. die ungarischen Motive, die ihn überhaupt ermöglichten, bedarf einer Erklärung. Ungarn erwies sich in der Gestaltung der antisemitischen Politik als höchst autonom. Das Dritte Reich übte auf die antisemitischen Maßnahmen in Ungarn bis 1941 keinen 5 6
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István Bibó, Zsidókérdés Magyarországon 1944 után, in: István Bibó, Válogatott tanulmányok 1944-1949, Bd. II, S. 621-809. Der ungarische Jude Andreas Biss war im Jahre 1944 verantwortlicher Sprecher des jüdischen Rettungskomitees Waadah in Budapest und Mitarbeiter von Rezs Kasztner und Raoul Wallenberg. Andreas Biss, Geschäft mit dem Henker. Die Endlösung in Ungarn, in: Der Monat, August 1960, S. 59.
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wesentlichen Einfluß aus, und auch die Deportationen im Jahre 1944 waren das Ergebnis einander überlagender Absichten von deutschen und ungarischen Entscheidungsträgern.8 Im folgenden versuche ich, zwei Thesen nachzuweisen: Die Politik gegenüber Juden wurde in Ungarn primär durch die gesellschaftlichen Gegensätze und durch die Funktion der Juden in einer sich modernisierenden Gesellschaft bestimmt. Anderen Minderheiten gegenüber erwiesen sich dieselben Vorurteile als trag- und funktionsfähig, wenn diese Minderheiten ähnliche gesellschaftliche Funktionen innehatten wie die Juden. Der Holocaust ist zwar ein singuläres Ereignis, seine Vorgeschichte kann jedoch für die Genese vonVorurteilen und die daraus resultierende Politik gegenüber als fremd empfundenen gesellschaftlichen Gruppen als typisch gelten.
Staatlicher Nationalismus 1918 bis 1920 und die Frage der Magyarisierung In Ungarn gelang es im 19. Jahrhundert im Grunde genommen nur zwei Gruppen vollständig, sich am Verbürgerlichungsprozeß zu beteiligen. Die Verbreitung der bürgerlichen Lebensweise auf dem Lande galt als Erfolgsgeschichte der in Ungarn als „Schwaben“ bezeichneten Ungarndeutschen,9 die in den Städten hingegen wurde den Juden zugeschrieben. Die sich freiwillig assimilierenden Juden und Ungarndeutschen bildeten die Mehrheit des ungarischen Bürgertums. Nach 1919 wurde es jedoch zum Allgemeinplatz zu behaupten, das Wohlergehen des Magyarentums habe zwei innere Feinde, „die in die intellektuelle Laufbahn hineindrängenden Juden“ und die „den Boden aufkaufenden Schwaben“.10 8
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Die Vernichtung der ungarischen Juden ist von vielen Autoren untersucht worden. Das Standardwerk legte Randolph L. Braham mit seiner zweibändigen Studie vor: The Politics of Genocide. The Holocaust in Hungary I-II, New York 1981. Ferner die Quellenbände: Randolph L. Braham, The Destruction of Hungarian Jewry. A Documentary Account, 2 Bde., New York 1963. (Im folgenden benutze ich die ungarische Ausgabe: A népirtás politikája. A holocaust Magyarországon, Budapest 1997). Die Monographie von Götz Aly/Christian Gerlach, Das letzte Kapitel. Die Vernichtung der ungarischen Juden, München 2002, behandelt die kumulative Wirkung des ungarischen Antisemitismus, untersucht jedoch in erster Linie die deutschen und weniger die ungarischen Motive. Zu den ungarischen Aspekten siehe Krisztián Ungváry, Robbing the Dead: The Hungarian Contribution to the Holocaust, in: Beate Kosmala/Feliks Tych (Hg.), Facing the Nazi Genozide: Non-Jews and Jews in Europe, Berlin 2004, S. 231-262, ferner: Krisztián Ungváry, Der Getriebene und der Treiber. Das Verhältnis zwischen ungarischer Politik und deutschen Deportationsplänen, in: Brigitte Mihok (Hg.), Ungarn und der Holocaust, Berlin 2005, S. 41-54. Diese Bezeichnung wurde dadurch verbreitet, daß die meisten deutschen Siedler in Ungarn nach den Türkenkriegen aus Baden, aus Württemberg und aus Bayern nach Ungarn gezogen sind. Obwohl auch aus dem Rheinland und aus Hessen Einwanderer geworben wurden, war es immer eine Voraussetzung, daß sie katholischen Glaubens waren. Die erste literarische Ausarbeitung dieser These stammt von dem bekanntesten Literaten seiner Zeit, Dezs Szabó. Siehe dazu Krisztián Ungváry, Antisemitismus und Deutsch-
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Vorurteile gegenüber Juden sind bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts politisch artikuliert worden. Vorschläge für eine forcierte Auswanderung gab es seit den 1880er Jahren. Der Antisemitismus dieser Zeit erwies sich jedoch nicht als wirkungsvoll. Die zwei Vorurteilsquellen waren die alten kirchlichen Klischees einerseits und die Ängste vor den Begleiterscheinungen der gesellschaftlichen Modernisierung (Verbürgerlichung, Säkularisierung und Kapitalisierung) andererseits. Die ersten waren seit tausend Jahren vorhanden, reichten jedoch alleine nie für eine umfassende, radikale und ständige antisemitische Bewegung aus. Die Angst vor der Modernisierung war zwar neu, aber in der „Gründerzeit“, in der die ungarische Gesellschaft die wirtschaftlichen Veränderungen überwiegend positiv erlebte, noch nicht wirklich überzeugend. Deshalb war die Wirkung dieser Vorurteile gering, obwohl sich trotz fortgeschrittener Assimilationsbekundungen Juden und Nichtjuden nicht miteinander vermischten. In dieser Phase schien sich auch ein ungeschriebener Assimilationsvertrag zwischen Juden und Nichtjuden abzuzeichnen. Das Assimilationsangebot der magyarischen Gesellschaft beinhaltete die vollständige Integration der Juden in der Wirtschaft und schloß im Gegensatz dazu bestimmte Zweige der Politik aus. Die Juden Ungarns bildeten eine besondere Gruppe unter den nichtmagyarischen Bevölkerungsteilen. Nur ein Prozent aller Juden, überwiegend in Ostungarn, bekannte sich zur jüdischen Orthodoxie und sprach jiddisch als Muttersprache.11 Die überwiegende Mehrheit der Juden lebte in den Städten, beherrschte ungarisch als Muttersprache und kleidete sich wie die Magyaren. Ihre Assimilation war aber nur scheinbar. Obwohl im Jahre 1938 bereits rund 13% der Juden in Ehen mit Nichtjuden lebten und etwa genau so viele Juden sich taufen ließen, blieb ihre Abgesondertheit weiter bestehen. Eine Ehe mit einem Christen bedeutete vielfach lediglich die Heirat mit einem getauften Juden. Juden bildeten in der ungarischen Gesellschaft nach Wohnort, politischer Gesinnung und Berufszweigen weiterhin eigene Gruppen. Dadurch entstanden Lebensräume, Gesinnungen und Berufsgruppen, die als typisch jüdisch galten.12 Wenn z.B. jemand in der Budapester Neu-Leopoldstadt lebte, liberal gesinnt und Psychiater, Arzt oder Bankkaufmann von Beruf war, oder im Dorf ein Warengeschäft betrieb, dann war die Wahrscheinlichkeit, daß es sich dabei um eine Person mit jüdischem Hintergrund handelte, größer als 50-
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feindlichkeit. Der Zweifrontenkrieg, in: Suevia Pannonica 39, 2002, S. 105-119; Johann Weidlein, Das Bild des Deutschen in der ungarischen Literatur, Schorndorf 1977. Meine Ausführungen beziehen sich auf die Verhältnisse in Ungarn im Jahre 1920. Nach 1939 wurden mit den Gebietsabtretungen größere Gruppen orthodoxer Juden an Ungarn angegliedert, die Zahl der Orthodoxen wuchs auf ca. 130.000. Zwischen 1896 und 1916 traten jährlich ca. 500 Personen aus dem mosaischen Glauben aus. Zwischen 1919-1921 gab es 10.000 Austritte, die Zahl der Konvertiten stabilisierte sich danach jährlich bei 450-600 Personen und verdreifachte sich nach der Machtübernahme der NSDAP in Deutschland. Einzelheiten in: Ferenc L. Lendvai/Anikó Sohár/Pál Horváth (Hg.), Hét évtized a hazai zsidóság életében, Budapest 1990, S. 194f.
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70%, obwohl in der gesamten Gesellschaft nur sechs Prozent Juden lebten. Sicherlich fiel die überwiegende Mehrheit der Juden nicht in diese Kategorien, aber auch sie lebten von der nichtjüdischen Gesellschaft mehr oder weniger isoliert. Unter den ärmsten Schichten, in der drei Millionen starken Gruppe des Landproletariats, gab es überhaupt keine Juden. Dadurch verliefen die sozialen Gegensätze auf dem Lande entlang religiös-kultureller Linien, da Landpächter und Großhändler überwiegend Juden waren. Als es während der Wirtschaftskrise zu Zwangsversteigerungen kam, konnten die Opfer dieser Versteigerungen mit großer Wahrscheinlichkeit damit rechnen, daß der Prozeß von einem jüdischen Advokaten geführt werden würde, während unter den Kleinbesitzern kaum Juden anzutreffen waren. Die Wahrnehmung der Juden durch Nichtjuden wurde durch diese Gruppen geprägt, vor allem weil es diese Gruppen waren, die am ehesten mit Nichtjuden in Kontakt kam. Dagegen waren andere Assimilanten, wie z.B. Ungarndeutsche, weitaus weniger als Gruppe erkennbar. Deutsche oder slavische Assimilanten vermischten sich durch Konnubium wesentlich schneller mit der magyarischen Bevölkerung, sie gehörten derselben Religion an wie die Ungarn und waren nur in Militär und Verwaltung überrepräsentiert. Sie galten daher nicht als Träger der Modernität – einer vermeintlich „schädlichen Entwicklung“. Eine Zusammenarbeit zwischen Juden und anderen Minderheiten konnte aus vielerlei Gründen nicht stattfinden. Das größte Hindernis war, daß Juden sich selbst nicht als „Minderheit“ wahrnahmen. Sie bestanden daruf, als vollwertige Magyaren akzeptiert zu werden. Dies ging so weit, daß sie nach 1920 jeglichen ausländischen Protest wegen des numerus clausus ablehnten, weil sie dadurch ihre „Treue“ dem ungarischen Staat gegenüber beweisen wollten. Jedoch gab es zwischen Juden und anderen Minderheiten auch in kultureller Hinsicht keine gemeinsamen Interessen, da Juden sich die ungarische Sprache vollständig angeeignet hatten. Die Situation des „Burgfriedens“ zwischen Juden und Nichtjuden veränderte sich am Ende des Ersten Weltkrieges schlagartig. Die Räterepublik bot vielen Juden die Möglichkeit, maßgeblich am politischen Leben mitzuwirken. Bedingt durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bestand die Führung der Arbeiterbewegung in erster Linie aus Personen, die von den Nichtjuden als Juden identifiziert wurden. Obwohl die Führer der Räterepublik sich keinesfalls als Juden verstanden und jede Form von Religion und Kapitalismus verfolgten, entstand auch in Ungarn der Mythos der „Judäokommune“. Die Tatsache, daß die Volkskomissare fast alle jüdischer Abstammung waren, verlieh diesen Wahnvorstellungen Glaubwürdigkeit, obwohl Juden nicht nur unter den Tätern, sondern auch besonders zahlreich unter den Opfern der Räterepublik waren. Zwischen 1920 und 1924 wurden im ungarischen Parlament antisemitische Gesetze zur Abstimmung gebracht, die in ihrer Radikalität den Nürnberger Rassegesetzen nicht nachstanden. Die Politik der Bethlen-Regierung und die
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Erwartungen der Westmächte ließen diese Gesetze damals noch nicht zu, lediglich der numerus clausus, der die Anzahl jüdischer Studenten begrenzte,13 wurde vom Parlament angenommen. Ministerpräsident István Bethlen konnte mit Hilfe autoritärer Methoden weitere antisemitische Maßnahmen verhindern. Unter der scheinbaren Ruhe des ungarischen autoritären Parlamentarismus gärte jedoch das antisemitsche Gewaltpotential weiter. Bester Beweis dafür waren die immer wiederkehrenden Krawalle an den Universitäten, an denen „arische“ Studenten ihre jüdischen Kommilitonen psychisch und physisch terrorisierten. Im Jahre 1920 konnten in Budapest wegen der permanenten Schlägereien überhaupt keine Juden an der Universität studieren und in den folgenden Jahren wiederholte sich der Terror der „arischen“ Studenten im Dreijahresrhythmus derart, daß die Universitäten wegen der Krawalle für Tage oder gar für eine Woche geschlossen werden mußten. Eine Folge dieser Zustände war die Abwanderung jüdischer Studenten nach Deutschland und später in die USA.14 Im Vergleich zu den antisemitischen Ausschreitungen erwies sich die Germanophobie in der ungarischen Gesellschaft als weniger wirksam. Im Gegensatz zum „jüdischen Bolschewismus“ war die Legende einer deutschen „Verschwörung“ gegen das Magyarentum schwerer zu belegen, obwohl entsprechende Schriften von Dezs Szabó und anderen Autoren bereits nach dem Ersten Weltkrieg publiziert worden waren. Mit dem Erstarken NSDeutschlands und mit den von populistischen Autoren verfaßten Hetzschriften gewannen diese Erklärungsmuster jedoch ab Anfang der 1930er Jahre stark an Glaubwürdigkeit. In der populistischen Publizistik dieser Zeit herrschte die Meinung vor, Juden und Schwaben würfen sich gleichermaßen gierig und hemmungslos auf magyarische Güter. Darin waren sich Völkische, Pfeilkreuzler und Kommunisten einig. Arbeitsteilung entstand nur in der Frage, wer welche Gruppe zu schmähen habe: „Vor hundert Jahren haben sie die magyarische Sprache erlernt, damit sie Geschäfte machen können. Ihr diesbezüglicher Eifer ist auch Fremden aufgefallen“, schrieb der Kommunist Ferenc Agárdy und geißelte den „Rassendünkel“ der Schwaben. Dabei bemerkte er nicht einmal, daß seine Argumentation genau dem antisemitischen Erklärungsmodell entsprach.15 Als 13
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Das Gesetz maximierte die Zahl der verschiedenen „Rassen und Nationalitäten” unter den Studenten, wobei diese Maßnahme nur gegenüber Juden angewendet wurde. Die Prozentzahl der Juden an den Universitäten durfte ihre Prozentzahl in der Gesamtbevölkerung nicht übersteigen. Als Ergebnis sank der Anteil der Juden an der Universität in Budapest von ca. 35-40% auf 6-10%. Ein Paradoxon, das einerseits dazu führte, daß diese Studenten, wie die Leiter des USAtomprogramms Edward Teller, Leó Szilárd, etc. dadurch immer in der Avantgarde der Naturwissenschaften studieren konnten, andererseits wurde jedoch Ungarn durch die Vertreibung ihrer besten Studenten seiner Nobelpreisträger beraubt. Von den elf in Ungarn geborenen Nobelpreisträgern im 20. Jahrhundert hat nur einer, Albert Szent-Györgyi, seinen Preis in Ungarn entgegennehmen können. Ferenc Agárdi, A svábok bejövetele, Budapest 1946, S. 287.
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früherer „Rasseschützer“ konnte Endre Bajcsy-Zsilinszky seine Isolierung auch durch Steigerung seiner Hetze gegen die Deutschen nicht kompensieren. Während die Völkischen in ihren Blättern „Rassen-Statistiken“ über Juden publizierten, legte Bajcsy-Zsilinszky in seinem Blatt Elöörs (Vorposten) Statistiken über Deutschstämmige vor.16 Gyula Illyés, der wohl bekannteste Dichter in Ungarn zwischen 1930 und 1970, beklagte sich in der Ausgabe der Zeitschrift Nyugat (Westen) vom August 1932 über die geistige Hegemonie des „judäo-germanische[n]“ Budapest.17 Zum ersten Judengesetz bemerkte er, es sei zum Schutz der magyarischen Kultur notwendig, und daß er sich „zu schade sei“ für Lakaien-Bühnendichter, Revolver-Journalisten und Mädchenhändler den „Heldentod zu sterben“.18 Daß die Judengesetze die Menschen nicht nach ihren Fähigkeiten, sondern nach ihrer Abstammung bewerteten, kritisierte Illyés damals noch nicht. István Vásáry, Abgeordneter der Kleinbauernpartei, muß über seherische Kraft verfügt haben, als er in der parlamentarischen Debatte über das erste Judengesetz sagte, der Lösung der Judenfrage werde die Lösung der Schwabenfrage unmittelbar folgen.19 Im Programm der Nationalen Bauernpartei (1939) wurde die „zur Macht strebende Mittelschicht schwäbischer, jüdischer und mährischer Herkunft“ gleichermaßen als Gefahr bezeichnet.20 Diese Hysterie hatte insofern einen scheinbar rationalen Kern, da die ungarische Intelligenz zum erheblichen Teil aus Assimilanten bestand. Alajos Kovács,21 der führende Statistiker des Landes, publizierte im Jahre 1930 die folgende Statistik über den Anteil der verschiedenen „Rassen“ an den ungarischen Mittelschichten:
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Elöörs brachte z. B. eine Statistik über in- und ausländische Stipendiaten des Jahres 1937 und stellte fest, daß von den 242 Stipendiaten 98 fremde Namen, darunter 44 deutsche, hätten; siehe Agárdi, A svábok bejövetele, S. 273. György Litván, München, Gyula Illyés und Hatvany, in: Élet és Irodalom, 10.3.2000. Unter dem Eindruck der Judenverfolgung revidierte Illyés seinen früheren Standpunkt. Ab 1941 veröffentlichte er regelmäßig Werke jüdischer Autoren. Gyula Illyés, Magyarok - naplójegyzetek, Budapest 1938, S. 276f. Fels házi Napló 1935-1940, Bd. III, Sitzung Nr. 63, 10.3.1938, S. 210. Magyarországi pártprogramok 1919-1944, hg. von Jenö Gergely/Ferenc Glatz/Ferenc Pölöskei, Budapest 1991, S. 484. Alajos Kovács (1877-1963), Statistiker, Präsident der Zentralen Statistischen Behörde und stellvertretender Staatssekretär (1924-1936), statistischer Berater aller Regierungen zwischen 1920 und 1942, Vorbereiter der antisemitischen Gesetzgebung, Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Im Jahre 1941 leitete Kovács auch die Volkszählung, wobei die Frage der Ungarndeutschen mit besonderer Sorgfalt behandelt wurde, da die ungarische Regierung Unterlagen für eine „Heim-ins-Reich“-Aktion sammeln wollte. Nach dem Krieg wurde er einerseits zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, seine statistischen Erhebungen über die Ungarndeutschen sind andererseits zur Grundlage der Vertreibung der Ungarndeutschen genommen worden.
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Tabelle 1: Anteil der verschiedenen „Rassen“ an den ungarischen Mittelschichten (1930)
Prozentzahl der verschiedenen „Rassen“: Rassen törzsökösök/ Stamm-Magyaren Arier davon Deutscharier Slawarier sonstige Arier Juden Zusammen
Beamtenstand 42,2 56,1 33,0 17,6 5,5 1,7 100,0
Freie Berufe
Wirtschaft und Handel 34,9 23,9
46,5 27,3 14,6 4,6 18,6 100,0
31,9 18,7 10,0 3,2 44,2 100,0
Alajos Kovács war ein international anerkannter Fachmann seiner Zeit. Er lieferte zwischen 1920 und 1944 die verschiedensten Statistiken zur Begründung antisemitischer Maßnahmen und war damit auch einer der Vordenker der Judengesetze. Die ungarische Forschung hat die Statistiken Kovács’ mehrfach überprüft und weitgehend als zutreffend akzepiert. Aus der Statistik ist zu ersehen, daß die „Arier“ besonders im Beamtenstand überproportional vertreten waren, während das Judentum in Wirtschaft und Handel überwog. Besonders hoch war der Anteil der Ungarndeutschen im Offizierskorps, wogegen in der Ministerialbürokratie die traditionelle ungarische Elite, der Kleinadel, relativ stark vertreten war. Auffallend ist die niedrige Zahl der Juden im Beamtenstand; mit 1,7% waren sie gegenüber ihrem Anteil von 6% in der ungarischen Gesellschaft deutlich unterrepräsentiert. Die kleine Zahl der Juden in der Verwaltung war ein Ergebnis der seit den 1920er Jahren forcierten „Wachablösung“22 in der ungarischen Gesellschaft. Obwohl diese „Wachablösung“ sowohl gegen Juden als auch gegen „Schwaben“ gerichtet war, konnte sie gegen die letzte Gruppe kein Ergebnis erzielen, denn die ungarndeutschen Assimilanten bildeten eine zu große und zu wichtige Gruppe, die einfach unentbehrlich war. Außerdem waren deutsche Assimilanten nicht anhand ihrer Religion zu unterscheiden, wogegen die überwiegende Mehrheit der Juden ihrer Religion treu blieb und auch nur selten Ehen mit Nichtjuden einging. Die Mobilität der ungarischen Gesellschaft blieb jedoch bis zum Zweiten Weltkrieg minimal, was die „Wachablösung“ wesentlich einschränkte. Es gab keine magyarische Elite, die in den führenden Stellungen die propagierte „Wachablösung“ einfach durchführen konnte. 22
Das Wort „Wachablösung“ war ein Terminus technikus seiner Zeit. Sowohl ein Kinofilm als auch mehrere Bücher trugen diesen Titel.
Zur Genese antisemitischer Politik in Ungarn
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Judengesetzgebung, Sozialpolitik und Aussiedlungsfragen Das jüdische und das deutsche Vermögen und die ungelösten sozialen Fragen spornten die ungarischen Sozialpolitiker zur Planung einer Neuaufteilung an. Die Aussiedlung beider Gruppen hätte das Nationalvermögen beträchtlich vermehrt, da die Betroffenen ihr wichtigstes Kapital, den Boden und die wirtschaftliche Infrastruktur, auf keinen Fall hätten mitnehmen können. Ohnehin dachte man an eine mehr oder weniger entschädigungslose Enteignung. Die Debatte über die ungelöste „Judenfrage“, die nach der Konsolidierung während der Bethlen-Ära nur indirekt erörtert werden konnte, flammte nach dem Tode von Ministerpräsident Gyula Gömbös im Jahre 1936 langsam, aber mit stetig zunehmender Intensität, auch im Parlament auf. Kultusminister Bálint Hóman23 und Finanzminister Béla Imrédy24 fertigten im Jahre 1937 Pläne zur Lösung der Frage der Arbeitslosigkeit unter der Intelligenz auf Kosten der jüdischen Arbeitnehmer und über die mögliche Finanzierung der Aufrüstung und Modernisierung des Landes durch Inanspruchnahme des jüdischen Industriekapitals. In diesen Vorschlägen wurde auch eine generelle „Lösung der Judenfrage“ gefordert. Ähnliche Schriften verfaßten auch der Verteidigungsminister Jenö Rátz und Generaloberst a.D. Károly Soós.25 Beide schickten ihre Vorschläge in Form eines Memorandums an Horthy. Das erste Judengesetz, das das Judentum nicht konsequent als Rasse definierte, wurde von Anfang an durch die rassistisch eingestellten Kräfte angegriffen, ein entsprechender Veränderungsvorschlag wurde noch im selben Jahr angenommen. Es ist bezeichnend, daß nur eine Minderheit im Parlament ihre Stimme gegen das Gesetz erhob. Viele Abgeordnete fanden den Gesetzentwurf nicht radikal genug, dehalb stimmten z.B. die ungarischen Nationalsozialisten und Pfeilkreuzler in ihrer Mehrheit mit Nein. Das zweite Judengesetz wurde im Parlament ähnlich behandelt. Ziel des Gesetzes war eindeutig die erzwungene „freiwillige“ Auswanderung der „überfüssig“ gewordenen Juden und die Umverteilung ihrer Besitztümer. Dies wurde auch in der Präambel festgehalten. Mehrere Abgeordnete der rechten Opposition und der Regierungspartei reichten noch radikalere Gesetzentwürfe ein. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Struktur des ungarischen Judentums ist in zahlreichen Abhandlungen untersucht worden und muß hier 23 24
25
Bálint Hóman (1885-1951) Historiker, Politiker. Nach 1918 Mitglied der Akademie der Wissenschaften, zwischen 1932 und 1944 Kultusminister. Béla Imrédy (1891-1946) Bankier, Rittmeister der Reserve. Zwischen 1932 und 1935 Finanzminister, zwischen 1935 und 1938 Präsident der Ungarischen Nationalbank, von 1938 bis 1939 Ministerpräsident, danach Führer der „Magyar Élet Mozgalom“ und der „Partei der Ungarischen Erneuerung“, nach der deutschen Besatzung für kurze Zeit „Spitzenminister für die Wirtschaft“. Im Jahre 1946 in Budapest zum Tode verurteilt und hingerichtet. Lóránd Dombrády/Sándor Tóth, A magyar királyi honvédség, Budapest 1987, S. 110; ferner Carlile A. Macartney, October Fifteenth. A history of modern Hungary, Edinburgh 1956, S. 212-214.
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deshalb nicht in allen Einzelheiten ausgeführt werden. Die in der Fachliteratur vielfach behauptete angebliche Armut der Mehrheit der Juden26 wird anhand von statistischen Erhebungen relativiert. Sicherlich waren die meisten Juden nicht reich, sie waren jedoch auf eine signifikante Weise wohlhabender als die Nichtjuden in Ungarn. Unter den Ärmsten, den drei Millionen Landarbeitern, gab es z.B. keine Juden, wogegen sie in den mittleren Schichten und unter den reichsten Bürgern überproportional vertreten waren.27 Diese Tatsache motivierte zahlreiche ungarische Politiker zur Verkündung einer „Wachablösung“, einem Austausch der bürgerlichen Eliten. Bürger jüdischer Abstammung besaßen rund 20 bis 25% des nationalen Vermögens, während sie nur 6% der Gesamtbevölkerung ausmachten. Jüdisches Vermögen war besonders in der Industrie und in Immobilien angelegt. Das wichtigste Motiv der Judengesetze war eine rassistisch motivierte Sozialpolitik, die „Neuverteilung“ der Sachwerte. Der Staatssekretär für Arbeit, István Kultsár, war schon seit 1938 damit beauftragt, christliche Bewerber auf Kosten von Juden in Betrieben und Behörden einzusetzen.28 Bis 1942 wurden durch Arisierungen über 100.000.000 Pengö umverteilt und rund 90.000 Personen aus ihren Stellen entfernt. Insgesamt verloren, einschließlich der Familienmitglieder, um die 250.000 Personen wegen der Judengesetze ihre Existenz, jeder dritte Jude war also von den Judengesetzen schon lange Zeit vor den Deportationen existentiell hart getroffen.29 Dafür gab es genauso viele Nichtjuden, die aus diesen Gesetzen erheblichen Profit ziehen konnten. Da es sich bei den umverteilten Stellen um bessere Positionen handelte, ist diese Zahl als hoch zu bewerten. Im Gegensatz zu Deutschland, wo die Anzahl der Juden und ihr Vermögen relativ gering war, war die „Beute“ in Ungarn gewaltig. Dadurch wurden die mittleren Schichten weitaus stärker zu Nutznießern der antisemitischen Maßnahmen. Diese Umverteilung wurde als „Wachablösung“ 26
27
28
29
Braham, A népirtás politikája, Bd. I. S. 77 und zuletzt auch Aly/Gerlach, Das letzte Kapitel, S. 51. Leider verwendeten die letztgenannten Autoren überhaupt kein statistisches Material über die materiellen Verhältnisse der Juden, obwohl dazu eine Fülle von ungarischen Publikationen vorliegt. Für Budapest siehe: Lajos Illyefalvy (Hg.), Vagyonadóval megrótt személyek száma és vagyona a székesf városban. Statisztikai Közlemények. 90.1, Budapest 1939; ders. (Hg.), Jövedelemadóval megrótt egyének száma és jövedelme a Székesf városban 1937. Statisztikai Közlemények 90.3., Budapest 1939; Laky Dezs : A háztulajdon alakulása Budapesten, Budapest 1939. Statisztikai Közlemények 90.2. Eine allgemeine Zusammenfassung auf Ungarisch: Kádár Gábor/Vági Zoltán, Aranyvonat. Fejezetek a zsidó vagyon történetéb l, Budapest 2001. 34% der Ärzte, 49,2% der Juristen, 31% der Wissenschaftler, 59% der Bankangestellten waren Juden. 39% der in Budapest versteuerten privaten Vermögenswerte waren im Besitz von Juden, obwohl sie in Budapest nicht mehr als 20% der Einwohner ausmachten. Siehe: Illyefalvy,Vagyonadóval, S. 23. Braham, A népirtás politikája, Bd. I, erwähnt auf S. 152, 250.000 von den Judengesetzen betroffene Personen. Der ungarische Staat bevorzugte christliche Bewerber. Für die Betriebsfinanzierung wurden Sonderfonds eingerichet. Für die Übernahme, besser gesagt, für die „Arisierung“ jüdischer Betriebe wurden in Schnellkursen Bewerber umgeschult. Braham, A népirtás politikája, Bd. I, S. 152.
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gepriesen. Die getroffenen Maßnahmen erwiesen sich als sehr populär.30 Sándor Márai, ein scharfer Beobachter seiner Zeit, beklagt in seinem Tagebuch, daß „die ungarische Mittelschicht von der Judenfrage betrunken und verrückt geworden“ sei.31 In der Historiographie neigt man dazu, die Judengesetze als „dem deutschen Muster folgend“ zu bezeichnen. Manche ungarischen Autoren sehen darin bereits ein Zugeständnis an deutsche Forderungen.32 Bei näherer Betrachtung wird aber deutlich, daß davon keine Rede sein kann. Erstens wurden antijüdische Gesetze in Ungarn bereits seit 1919 gefordert. Zweitens argumentierten die Gesetzgeber in ihrer Begründung mit speziellen, nur in der ungarischen Gesellschaft vorhandenen sozialen Zuständen. Das erste Gesetz strebte laut seiner Präambel die Herstellung eines „Gleichgewichtes“33 an – davon war in den Nürnberger Gesetzen keine Rede. Bereits zu diesem Zeitpunkt stand die Zwangsauswanderung für diejenigen, die außerhalb des „Gleichgewichts“ standen, auf der Agenda. Auch das zweite Judengesetz argumentierte mit speziell ungarischen Verhältnissen, dementsprechend wurden z.B. Ausnahmeregelungen ganz anders ausgelegt als in Deutschland. Das Gesetz zielte nun offen auf die Zwangsauswanderung der Juden in Ungarn ab. Von deutschem diplomatischen Druck konnte zu dieser Zeit noch keine Rede sein. Außerdem gibt es kein einziges Schriftstück, das dies beweisen würde. Die ungarischen Judengesetze waren in vielerlei Hinsicht strenger als die Nürnberger Rassegesetze: Im Gegensatz zu Hitler hatte Horthy keine Möglichkeit, Juden zu „arisieren“, und vor dem siebten Lebensjahr getaufte sogenannte „Mischlinge“ ersten Grades galten nach dem dritten Judengesetz in bestimmten Fällen als „Volljuden“, in Deutschland dagegen nicht. Miteinander verheiratete „Mischlinge“ zweiten Grades galten ebenfalls als „Volljuden“. In der Armee wurden sogar Offiziere, die mit „Mischlingen“ zweiten Grades verheiratet waren, zurückgestuft und von bestimmten Beförderungen und Aufgabenbereichen ausgeschlossen.34 Seltsamerweise ist davon zu den deutschen Entscheidungsträgern kaum etwas durchgedrungen: Legationsrat Eberhard von Thadden behauptete z.B. in einer Aufzeichnung
30 31 32 33 34
Siehe dazu Ungváry, Robbing the Dead. Sándor Márai, Napló 1943-1944, Budapest 1990, S. 156. Mária Schmidt, Diktatúrák ördögszekerén. A civil kurázsi elsorvasztása, Budapest 1998, S. 87; János Gyurgyák, A zsidókérdés Magyarországon, Budapest 2001, S. 151 Darunter verstand man, daß Juden in den verschiedenen Stellungen nur soweit vertreten sein sollten, wie es ihrer Präsenz in der gesamten Gesellschaft entsprach. Dies waren etwa 6%. So z.B. die Verordungen in der Armee, die alle Offiziere, die selbst zwar nicht Juden waren, jedoch mit einem „Mischling” zweiten Grades verheiratet waren, von weiteren Beförderungen ausschlossen und ihre Karriere beschränkten. Zu den antisemitischen Gesetze siehe Róbert Vértes, Magyarországi zsidótörvények és rendeletek 1938-1945, Budapest 1997.
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vom 26. Mai 1944, daß die ungarischen antijüdischen Gesetze den Begriff des „Halbjuden“ nicht kennen.35 Es wirkte sich besonders verheerend aus, daß der Antisemitismus der einzige gemeinsame Nenner zwischen Regierungspartei, Pfeilkreuzlern und anderen rechtsgerichteten Gruppierungen war. Hierbei muß betont werden, daß diesbezüglich nicht die Pfeilkreuzler die treibenden Kräfte waren. Im Parlament betrug die Anzahl der rechtsradikalen Abgeordneten 49 gegenüber 298 Abgeordneten der Regierung. Die „linke“ Opposition bildeten 28 Kleinlandwirte, Sozialdemokraten, Liberale und Legitimisten. Schon Ministerpräsident Pál Teleki hatte es für notwendig erachtet, eine Blanko-Ermächtigung für die Auflösung des Parlaments vom Reichsverweser einzufordern, weil er nicht einmal seiner eigenen Partei trauen konnte, und während mancher Debatten mußte er diese Blanko-Ermächtigung aus der Tasche nehmen und drohend herumzeigen, damit die Abgeordneten sich mäßigten. Als Ministerpräsident Miklós Kállay das erste Mal die Fraktion der Regierungspartei traf, erkannte er sofort, daß er sich „kein offenes und ehrliches Wort zu sagen“ erlauben konnte.36 Nach Schätzung der Polizei waren 75% aller Abgeordneten „unerbittliche Antisemiten“.37
Deportationsanregungen Hans Mommsen stellte die These der „kumulativen Radikalisierung“ über die Genese des Holocaust auf, wonach die verschiedenen Ämter und Amtsträger sich nach und nach gegenseitig radikalisierten. Die deutsche HolocaustForschung neigt dazu, kumulative Elemente überwiegend oder gar nur innerhalb des deutschen Machtbereichs zu suchen, obwohl diese auch aus anderen Ländern kommen konnten. Die antijüdischen Maßnahmen der Verbündeten werden zwar in den meisten Arbeiten erwähnt, ihre Interpretation bleibt jedoch meistens aus. Die gegenseitige Radikalisierung ist auch an den ungarisch-deutschen Verbindungen nachzuzeichnen. Ministerpräsident Teleki,38 der ansonsten als „anglophil“ bekannt war, forderte 1940 von Hitler, anläßlich seines Besuches in Berlin, die gesamteuropäische Lösung der „Judenfrage“, ohne vorher von Hitler auf dieses 35
36 37
38
György Ránki/Ervin Pamlényi/Lóránt Tilkovszki u.a. (Hg.), A Wilhelmstrasse és Magyarország. Német diplomáciai iratok Magyarországról 1933-1945, Budapest 1968, S. 855. Miklós Kállay, Magyarország miniszterelnöke voltam, Bd. I, Budapest 1991, S. 96. Magyar Országos Levéltár (Ungarisches Staatsarchiv, MOL), KÜM Békeel készít III/2/121, József Sombor-Schweinitzer, A magyarországi nemzeti szocialista mozgalmak története, S. 107. Pál Teleki (1879-1941), Geologe, Universitätsprofessor, im Jahre 1917 Begründer der „Ungarischen Bevölkerungspolitischen und Rassegesundheitlichen Gesellschaft“, von 1920 bis 1921 und 1939 bis 1941 Ministerpräsident.
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Thema überhaupt angesprochen worden zu sein.39 Er schickte auch seinen Mitarbeiter János Makkai40 im Frühjahr 1940 mit dem Auftrag in die USA, die Aufnahmebereitschaft für die auszusiedelnden Juden zu erkunden. Der Ministerrat besprach am 17. April 1940 die Modalitäten der Abwicklung einer solchen Aktion.41 Bis 1941 war also die ungarische Regierung auf dem Gebiet der selbständigen Planung von antisemitischen Maßnahmen in Ungarn nicht hinter denen des Dritten Reichs zurückgeblieben, im Gegenteil, sie war manchmal sogar die treibende Kraft. Das Nationale Fremdenkontrollbüro (KEOKH) führte die Kontrolle aller Ausländer nach altbewährtem Schweizer Muster ein. Staatenlose Juden wurden bereits ab 1927 in landesweiten Razzien konzentriert und des Landes verwiesen. Im Jahre 1938 verfügte das KEOKH über 8.000, im Jahre 1941 bereits über 90.000 Karteikarten von Auszuweisenden – ein Zeichen dafür, daß die übereifrigen Bürokraten den Begriff „staatenlos“ zunehmend breiter auslegten. Die ungarische Regierung zögerte bis 1944, trotz der vorhandenen Bereitschaft der politischen Elite und weiter Teile der Bevölkerung, radikale soziale Umverteilungen auf Kosten der Juden einzuleiten. Ethische Traditionen und konservative Werte machten Horthy und seine Vertrauensleute mißtrauisch gegenüber einer radikaleren „Lösung“. Horthy teilte in einem Brief an Ministerpräsident Teleki schon 1940 mit, daß er weitergehende antisemitische Gesetze ablehne und auch bei seinen späteren Gesprächen mit Hitler versuchte er, die deutschen Forderungen zu mildern. Von der Spannung zwischen konservativer Elite, Regierung und den Vertretern der Forderung nach rigorosen antijüdischen Maßnahmen zeugen auch die Ereignisse, die zum Massenmord bei Kamienec-Podolsk führten. Im Sommer 1941 wurden über 18.000 Juden, die von den ungarischen Behörden als „Staatenlose“ in die ukrainische Stadt Kamienec-Podolsk abgeschoben worden waren, unter dem Befehl des Höheren SS- und Polizeiführers Friedrich Jeckeln ermordet. In dem zwischen 1938 und 1939 zurückgewonnenen Gebiet von Kárpátalja (die heutige Karpatoukraine) hatten zehntausende Juden wegen der Judengesetze ihren Arbeitsplatz verloren. Die örtliche Verwaltung versuchte, des „Problems“ dadurch Herr zu werden, daß sie diesen Juden zunächst die freiwillige Auswanderung nach Galizien anbot. Allerdings nahmen die Ungarn zu diesem Zweck keinen Kontakt mit den deutschen Behörden auf. Alle Juden, deren Staatsbürgerschaft nicht geklärt war, wurden demgegenüber 39 40
41
Aufzeichnung von Legationsrat Schmidt über das Gespräch von Hitler mit Teleki und Ciano, in: Ránki/Pamlényi/Tilkovszki u.a. (Hg.), A Wilhelmstrasse, S. 551. János Makkai (1905-1994) Publizist, Parlamentsabgeordneter zwischen 1939 und 1944. Er nahm maßgeblich an der Vorbereitung der Judengesetze teil. Nach 1941 entwickelte er sich aus antideutschen Motiven zu einem Antifaschisten, während der deutschen Besatzung wurde er deshalb verhaftet und nach Mauthausen verschleppt. Nach dem Krieg lebte er in amerikanischer Emigration. Zu Makkai siehe Ervon Csizmadia, Makkai János, Budapest 2001. MOL, K 27 Schachtel 206, 17.4.1940.
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gewaltsam über die Grenze nach Rumänien und in die Sowjetunion abgeschoben. Dieser Maßnahme schlossen sich auch andere Komitate an. Auch seitens der Regierung war die Deportation der staatenlosen Juden geplant und die Finanzierung der Maßnahme Ende Juni 1941 auf der Ministerratsitzung besprochen worden. Sowohl der Chef des Generalstabes, Generaloberst Henrik Werth, als auch Innenminister Ferenc Keresztes-Fischer42 und Ministerpräsident László Bárdossy43 hatten Kenntnis von den geplanten Maßnahmen. Der Statthalter von Kárpátalja, Miklós Kozma, hielt bereits am 1. Mai 1941 – also vor dem Ausbruch des Krieges mit der Sowjetunion – im Kreise der Regierungspartei einen Vortrag zum Thema „Die Judenfrage als eine europäische Frage“ und sagte dabei: „Was sollen wir denn machen? Brutalere Maßnahmen, wie sie in Reservate einzuweisen oder sie ins Wasser zu werfen, sind derzeit unmöglich. […] Die Judenfrage kann im Moment nicht ernsthaft und endgültig gelöst werden, aber sie muß so lange aktuell gehalten werden, bis sie nach dem Krieg gelöst wird.“44
Laut Protokoll wurde diese Aussage mit „allgemeiner Heiterkeit“ aufgenommen. Dementsprechend nutzten Gendarmerie und örtliche Verwaltungen die nach dem 22. Juni 1941 entstandene Möglichkeit, die bereits listenmäßig erfaßten Juden loszuwerden und alle nach Galizien zu deportieren. Auch in Budapest wurde ein Sammellager eingerichtet. Die Initiative dazu kam von höchster Regierungsstelle. Dem scharfen Beobachter Kozma mußte sehr wohl bewußt sein, daß diese Maßnahme zwangsläufig im Massenmord enden würde, denn er notierte bereits ein halbes Jahr vorher bei seinem Besuch im Generalgouvernement, daß „Himmler, Heydrich und die Radikalen machen, was sie wollen. In Polen ist ein Genozid im Gange. Das polnisch-jüdische Ghetto um Lublin löst wegen des massenhaften Sterbens zum Teil die Judenfrage.“45 Die deutsche Führung protestierte scharf gegen die Abschiebung. Der Versuch, die Ungarn zur Rücknahme der Abgeschobenen zu bewegen, scheiterte. Die deutsche Seite erreichte nicht einmal, daß die Deportationen eingestellt wurden. Der ungarische Verbindungsoffizier beim Befehlshaber des Rückwärtigen Heeresgebietes Süd versuchte, die empörten deutschen Stellen mit der Erklärung zu täuschen, daß es sich bei den Deportierten um Personen handele, die zwei Jahre zuvor aus Polen nach Ungarn geflüchtet seien. Davon konnte jedoch in den meisten Fällen keine Rede sein. Bezeichnenderweise deportierten die örtlichen Verwaltungen auch diejenigen Juden, 42
43 44 45
Ferenc Keresztes-Fischer (1881-1948) zwischen 1921 und 1931 Obergespan in verschiedenen Komitaten, zwischen 1931 und 1944 Innenminister, nach der deutschen Besatzung von der Gestapo verhaftet. László Bárdossy (1890-1946), Diplomat, zwischen 1941 und 1942 Ministerpräsident. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er in Ungarn hingerichtet. MOL, K 429, Kozma-Schriften, Schachtel 15, ohne Paginierung. MOL, K 429, Kozma-Schriften Filmrolle Nr. 3934, Aufzeichnung über die Reise in Polen 11.5.-12.6.1939.
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die im Besitz einer Aufenthaltsbewilligung oder gar der ungarischen Staatsbürgerschaft waren. Erst als die Deportationen Proteste beim Reichsverweser auslösten, wurde die Aktion gestoppt. Hervorzuheben ist, daß weder die Armeeführung, die vor Ort über beste Informationen verfügt haben muß, noch die ungarischen Verwaltungsbehörden bereit waren, die Aktion zu beenden, die Zehntausende von Juden bereits im Sommer 1941 in den Tod schickte. Das Massaker von Kamienec-Podolsk war vor allem eines an ungarischen Juden, die den Deutschen von den ungarischen Behörden ausgeliefert worden waren.
Verknüpfung der Juden- und der Deutschenfrage Auch das ungarndeutsche Vermögen veranlaßte die ungarischen Sozialpolitiker der Zwischenkriegszeit zur Planung einer Umverteilung. Hier sind die Wurzeln der Vertreibung der Ungarndeutschen nach 1945 zu suchen. Obwohl das Schicksal der Ungarndeutschen ein ganz anderes war, ist es interessant, sich in die Perspektive der Täter hineinzuversetzen und die Argumente der Juden- und Deutschenaussiedlung zu vergleichen. Eine Aussiedlung der Ungarndeutschen hätte das Nationalvermögen beträchtlich vermehrt, da sie ihre wichtigsten Werte, den Boden und die landwirtschaftliche Ausrüstung, auf keinen Fall hätten mitnehmen können. 55,4% der Ungarndeutschen verdienten ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft, und die Besitzstruktur der Ungarndeutschen war wesentlich ausgewogener als die der Ungarn. Unter den drei Millionen Besitzlosen waren die Ungarn absolut überrepräsentiert, wohingegen bei Bauernhöfen über zehn Hektar eine Überrepräsentation der Ungarndeutschen feststellbar war. In Ungarn lebten vor dem Zweiten Weltkrieg über 450.000 Personen, die als Muttersprache Deutsch angaben. Von diesen waren 55% in der Landwirtschaft beschäftigt.46 Nach verschiedenen Schätzungen besaßen die Ungarndeutschen um die 600.000 Katastraljoch Boden.47 Bei einer immer unausweichlicher scheinenden Bodenreform wäre das als wichtiger Posten ins Gewicht gefallen. Die tatsächlichen Besitztümer der Ungarndeutschen wurden in der damaligen Publizistik oft weit übertrieben dargestellt: István Dénes schrieb in seiner antideutschen Hetzschrift „Retten wir Transdanubien“, daß sich angeblich bereits über 1.080.000 Katastraljoch Boden im Besitz der Ungarndeutschen befunden hätten.48 46
47
48
Norbert Spannenberger, Der Volksbund der Deutschen in Ungarn 1938-1944 unter Horthy und Hitler, München 2002; Loránt Tilkovszky, Ungarn und die deutsche „Volksgruppenpolitik” 1938-1945, Wien/Budapest 1981, S. 9. Imre Kovács publizierte diese Zahl am 22. September 1936 in der Zeitung Szabad Föld. Er stützte sich allem Anschein nach auf die statistischen Erhebungen von Alajos Kovács, der im Jahre 1936 über „die Lage der Deutschen in Rumpfungarn” eine Arbeit publizierte. István Dénes, Mentsük meg a Dunántúlt, Budapest 1936, S. 37.
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Stark fiel auch die schon erwähnte „Wachablösung“ ins Gewicht. Wie bereits erörtert, stammten maßgebliche Teile der ungarischen Elite, besonders in der Verwaltung und beim Militär, aus der Gruppe der Ungarndeutschen. Das ungarndeutsche Erbrecht, nach dem nur der älteste Sohn erbberechtigt war, vergrößerte die Notwendigkeit der ungarndeutschen Bauernfamilien, ihre nachgeborenen Söhne zur Ausbildung in die Städte zu schicken, anders als bei den Magyaren, bei denen jeder Sohn die gleiche Erbschaft bekam. Wesentliche Teile der gesellschaftlichen Aufsteiger wurden somit von den Ungarndeutschen gestellt. Bei einer Aussiedlung der deutschen Bauern wären die Quellen des deutschen „Mobilitätsdrucks“ auf die höheren gesellschaftlichen Klassen versiegt. Eine Zwangsaussiedlung der Ungarndeutschen war bis 1945 – aus außenpolitischen Gründen – nicht möglich. Der Gedanke daran tauchte aber schon in den 1930er Jahren auf; und parallel zu den Judengesetzen war auch eine Neigung zur Diskriminierung der „Schwaben“ vorhanden. Dies war freilich – mit Rücksicht auf das Dritte Reich – nur in verdeckter Form möglich. Ein gutes Beispiel für diese inoffizielle administrative Benachteiligung sowohl der Deutschen als auch der Juden ist die Verhandlung über das Bodengesetz im August 1938, als im Ministerrat beschlossen wurde, über das Verbot für Juden, Immobilien zu erwerben, zunächst „nicht ausdrücklich zu verfügen. […] Der Judenfrage muß im Antrag möglichst die Spitze genommen werden, und zwar so, daß der Landwirtschaftsminister oder der Obergespan den jüdischen Bodenerwerb auf dem Verwaltungswege – bei der Bewilligung – auf ein Mindestmaß herabdrückt. Genauso muß auch die Expansion der deutschen Nationalität eingedämmt werden“.49
Nach 1939 hielt Kultusminister Bálint Hóman eine Konzentration der deutschen Siedlungen innerhalb Ungarns für unerläßlich. Die Dissimilierung der in ethnisch gemischten Dörfern wohnenden „Schwaben“ begriff er als Gefahr.50 Reichsverweser Miklós Horthy unterstützte dagegen den Plan, die Deutschen auszusiedeln. Er nannte Hitlers Rede vom 6. Oktober 1939, in der er ganz allgemein von einer Rücksiedlung der Auslandsdeutschen ins Reich gesprochen hatte, eine „ausgezeichnete Idee“ und betonte in seinem Brief an Hitler, daß diese Methode auf alle Minderheiten angewendet werden müsse. Er hob eigens hervor, welch ein Gewinn es für Deutschland wäre, wenn es „unsere braven Schwaben“ bekäme, „die wir immer schon sehr gern hatten und die bestimmt die tüchtigsten unter allen Landwirten sind, deren Repatriierung geplant ist“.51 Auch in der Frage der Namensmagyarisierung warf er Juden und Schwaben in einen Topf; sie sei hinderlich für die „Rassenveredelung“ und deshalb schädlich. Hitlers Äußerung war übrigens in Ungarn wohlbekannt, da 49 50 51
MOL, K 27, Schachtel Nr. 197. Ministerratssitzung, 17.8.1938, Punkt Nr. 7. Budapesti F városi Levéltár, Szálasi-Prozeß, Nb. 293/1945, S. 7444, 7508. Horthys Brief an Hitler vom 3. November 1939, in: Ránki/Pamlényi/Tilkovszki u.a. (Hg.), A Wilhelmstrasse, S. 458.
Zur Genese antisemitischer Politik in Ungarn
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jener Teil seiner Rede, in welchem er darauf hinwies, daß es in „Europas Osten und Südosten nicht zu haltende deutsche Volkssplitter gibt“, und daher einen allgemeinen Bevölkerungsaustausch in Aussicht stellte, in der Zeitung Magyarország vom 7. Oktober 1939 veröffentlicht worden war. So kam der Ministerrat am 12. Januar 1940 auf die Idee, die der Assimilation ausgesetzten burgenländischen Magyaren gegen Ungarndeutsche auszutauschen. Deutscherseits war man diesem Gedanken gegenüber nicht abgeneigt. Gescheitert ist dieses Vorhaben, weil die deutsche Seite Karpatendeutsche gegen Magyaren austauschen wollte, während die ungarische Regierung lieber die schwieriger zu magyarisierenden Deutschen um Ödenburg loszuwerden trachtete. Damit wiederum waren die Deutschen nicht einverstanden, die außerdem kritisierten, daß aus Ungarn – sofern der Austausch zustandekommen sollte – nur „Proleten“, aus dem Burgenland dagegen reiche Bauern umsiedeln würden. Da die Unterbringung der aus der Sowjetunion, dem Baltikum und Bessarabien umgesiedelten Auslandsdeutschen das Deutsche Reich in jener Zeit vor ernsthafte Probleme gestellt hatte, forcierte die Regierung die Umsiedlung der burgenländischen Magyaren unter diesen Umständen nicht gerade. Zu einer einseitigen Zwangsumsiedlung war die ungarische Regierung nicht in der Lage.52 Eine Rücksiedlung der ausgewanderten Magyaren war bereits seit dem Jahr 1922 Bestandteil des Regierungsprogramms. Die Bedeutung eines raschen Bevölkerungswachstums wurde sowohl von rechten als auch von linken Autoren immer wieder betont. Mihály Szabados schrieb im Jahre 1938 ein Buch mit dem Titel: „Holen wir die Magyaren aus Amerika zurück!“53 Darin stellte er fest, daß Ungarn zwischen dem deutschen und dem slawischen Imperialismus zerrieben zu werden drohe, und daß nicht zuletzt deshalb die Vermehrung der biologischen Kräfte des Magyarentums für den Fortbestand des Landes eine unabdingbare Voraussetzung sei. Seiner Meinung nach würden die Magyaren aus den USA schon wegen der Arbeitslosigkeit gerne nach Hause kommen. Im Jahre 1937 gab es 5,5 Millionen, im Herbst 1938 acht Milionen Arbeitslose in den USA. Die Rücksiedlung liege auch im Interesse der Vereinigten Staaten, da solcherart Arbeitsplätze frei werden könnten. Im Jahre 1942 erschien der Band „Rückführung der Bukowina-Székler. Neue Aufgaben“ in der Reihe der Ungarischen Außenpolitischen Gesellschaft. Der Verleger galt als Sprachrohr der ungarischen Regierungspolitik. György Gombos proklamierte in dieser Arbeit „die Verstärkung des durch Liberalismus verschlafenen magyarischen Rassismus“ als eine zentrale Aufgabe der Gegenwart und berief sich dabei auf Alajos Kovács, der nachwies, daß die Geburtsraten in allen Nachbarstaaten wesentlich höher ausfielen als die der Magyaren in Ungarn. Danach behandelte er das Problem der Auslands52 53
MOL, K 27, Karton 204, 12.1.1940, Punkt 38. Mihály Szabados, Hozzuk haza az amerikai magyarokat, Budapest 1938.
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Krisztián Ungváry
magyaren. Neben denen in den direkten Nachbarstaaten wies er weitere 1,116 Mio. Magyaren außerhalb Ungarns nach: „Viel Blut in der Fremde und zu viele Nationalitäten und unerwünschte Elemente zu Hause“, klagte er und schrieb, daß „die Nachkriegskrise“ es erfordern würde, die Magyaren aus den USA „Heim ins Reich“ zu holen. Für die unmittelbare Gegenwart empfahl er folgendes Vorgehen: „Wir sollten uns bereits jetzt informieren, welche Positionen die auszusiedelnden Juden in der Wirtschaft genau einnehmen, denn diese werden nach der Aussiedlung dieser Feinde Europas, die auf jeden Fall kommen wird, von einem auf den anderen Monat freiwerden. […] Auf die künstlich geförderte Auswanderung [der Magyaren] muß nun die Zwangsaussiedlung derjenigen folgen, die seit der Mitte des vorherigen Jahrhunderts in die Heimat des mutwillig in der Welt verstreuten Magyarentums eingesickert sind. […] Die Vorbereitungen der Rücksiedlung müssen sowohl in der Heimat als auch im Ausland bereits jetzt von den staatlichen Institutionen in Angriff genommenwerden. […] Diese Frage gehört zu jenen, die […] nur während der großen Umwälzung der Welt gelöst werden können“. 54
Zwar wäre es verfehlt, Gombos und seinen Gesinnungsgenossen angesichts dieser Überlegungen eine Bejahung des Völkermordes vorzuwerfen. Es muß aber festgehalten werden, daß ihnen das Schicksal der als fremd empfundenen Einwohner Ungarns nach ihrer Aussiedlung völlig gleichgültig war. Diese Gleichgültigkeit erleichterte die Arbeit der Mörder. Nicht alle europäischen Zwangsumsiedlungen haben direkt in den Massenmord geführt. Dennoch ist es sinnvoller zu untersuchen, welche Maßnahmen den Umsiedlungsplanern im jeweils konkreten Fall praktikabel erschienen, als allein bei den Tätern moralische Einwände zu erheben.
54
György Gombos, A bukovinai székelyek hazatelepítése. Újabb tennivalók, Budapest 1942, S. 31ff.
Abkürzungsverzeichnis AAN – Archiwum Akt Nowych (Archiv der Neuen Akten) a.D. – außer Diensten AIU – Alliance Israélite Universelle AJ – Arhiv Jugoslavije (Jugoslawisches Archiv) Anm. – Anmerkung ao. – außerordentlich(er) Art. – Artikel Aufl. – Auflage Bd., Bde. – Band, Bände BEG – Bundesentschädigungsgesetz betr. – betreffend bulg. – bulgarisch bzw. – beziehungsweise CIK – Central’nyj Ispolnitel’nyj Komitet (Zentrales Exekutivkomitee) CIT – Compagnia Italiana Turismo (Italienische Gesellschaft für Tourimus) CKEB – Centralna Konsistorija na Evrejte v B lgarija (Zentrales Konsistorium der Juden in Bulgarien) SR – Tschechoslowakische Republik DANCD – Desbaterile Adun rii Na ionale Constituante a Deputa iilor (Debatten der Konstituierenden Nationalversammlung der Abgeordneten) DANCS – Desbaterile Adun rii Na ionale Constituante a Senatorilor (Debatten der Konstituierenden Nationalversammlung der Senatoren) ders. – derselbe d.h. – das heißt dies. – dieselbe dt. – deutsch ebd. – ebenda EKO – Evrejskoe Kolonizacionnoe Obš estvo (Jüdische Kolonisationsgesellschaft) erw. – erweitert etc. – et cetera f., ff. – folgend, folgende F., f – Fond FN – Fußnote FO – Foreign Office g., gg. – god, gody (Jahr, Jahre) GPU – siehe Glossar hebr. – hebräisch Hg., hg. – Herausgeber, herausgegeben HIAS – siehe HICEM HICEM – Verbindung der drei Abkürzungen HIAS (Hebrew Sheltering and Immigrant Aid Society) mit Sitz in New York, JCA (Jewish Colonization Association) aus Paris und Emigdirekt aus Berlin. In. – Inventar ital. – italienisch JCA – Jewish Colonization Association JDC – siehe Joint
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jidd. – jiddisch JIM – Jevrejski istorijski muzej (Jüdisches historisches Museum, Belgrad) Joint – American Jewish Joint Distribution Committee (auch JDC), siehe Glossar JTA – Jewish Telegraphic Agency KEOKH – Külföldieket Ellenörzö Országos Központi Hatóság (Nationales Fremdenkontrollbüro) KEV – Komisarstvo za evrejskite v prosi (Kommissariat für jüdische Fragen) KPP – Kommunistische Partei Polens kroat. – kroatisch KÜM – Magyar Köztársaság Külügyminisztérium (Ungarisches Außenministerium) KZ – Konzentrationslager LCVA – Lietuvos centrinis valstyb s archyvas (Litauisches Zentrales Staatsarchiv) MEVOPO – Moskovskoe Evrejskoe Obš estvo Pomoš i (žertvam vojny) (Moskauer Jüdische Gesellschaft zur Hilfe für die Opfer des Krieges) Mio. – Millionen MO – Monitorul Oficial ( Rumänisches Gesetzblatt ) MOL – Magyar Országos Levéltár (Ungarisches Staatsarchiv) MSW – Ministerstwo Spraw Wewn trznych (Innenministerium) MSZ – Ministerstwo Spraw Zagranicznych (Außenministerium) N P – Novaja konomi eskaja politika (Neue ökonomische Politik), siehe Glossar NF – Neue Folge NS – Nationalsozialistisch NSDAP – Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei o.D. – ohne Datum o.J. – ohne Jahr ONR – Obóz Narodowo-Radykalny (Nationalradikales Lager) o.O. – ohne Ort OPE – Obš estvo dlja rasprostranenija prosveš enija meždu evrejami v Rossii (Gesellschaft zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden in Rußland) ORT – Obš estvo remeslennogo i zemledel’ eskogo truda sredi evreev v Rossii (Gesellschaft für landwirtschaftliche und handwerkliche Arbeit unter den Juden in Rußland) OT – Organisation Todt OWP – Obóz Wielkiej Polski (Lager für ein Großes Polen) OZE – Obš estvo ochranenija zdorov’ja evrejskogo naselenija (Gesellschaft zur Erhaltung der Gesundheit der jüdischen Bevölkerung) PAAA – Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes PAN – Polska Akademia Nauk (Polnische Akademie der Wissenschaften) PKJ – Poslanstvo Kraljevine Jugoslavije (Botschaft des Königreichs Jugoslawien) Pl. – Plural PND – Partidul Na ional Democrat (Nationaldemokratische Partei) PNL – Partidul Na ional Liberal (Nationalliberale Partei) Poalei Zion – Evrejskaja social-demokrati eskaja rabo aja partija Poalej Cion (Jüdische sozial-demokratische Arbeiter Poalei Zion) poln. – polnisch PPS – Polska Partia Socjalistyczna (Polnische Sozialistische Partei) PRO – Public Record Office, London, Kew PT – Partidul r nesc (Bauernpartei) RAM – Reichsaußenminister
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Ratniki – Ratnici za napred ka na b lgarštinata (Vorkämpfer für den Fortschritt des Bulgarentums) RKP (b) – Rossijskaja Kommunisti eskaja Partija (bol’ševiki) (Russische Kommunistische Partei (Bolš’eviki)) RSFSR – Rossijskaja Sovetskaja Federativnaja Socialisti eskaja Respublika (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) rum. – rumänisch russ. – russisch S. – Seite SD – Sicherheitsdienst serb. – serbisch SHS-Staat – Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen SJVOJ – Savez Jevrejskih Veroispovednih Opština u Jugoslaviji (Bund der jüdischen religiösen Gemeinden in Jugoslawien) SN – Stronnictwo Narodowe (Nationalpartei) sog. – sogenannt SSSR – Sojuz Socialisti eskich Sovetskich Respublik (Union der Sozialistischen Sovetrepubliken) Sv. – Svati, Sveti (heilig) TP – Tautinink Partija (Nationalistische Partei) TRG – Trudovi rabotni grupi (Arbeitsgruppen) u.a. – unter anderem, und andere überarb. – überarbeitet übers. – übersetzt UEP – Uniunea Evreilor P mânteni (Union der Einheimischen Juden), ab Februar 1923 UER UER – Uniunea Evreilor Români (Union der Rumänischen Juden) unveröff. – unveröffentlicht USHMM – United States Holocaust Memorial Museum vgl. – vergleiche VKP (b) – Vsesojuznaja Kommunisti eskaja Partija (bol’ševiki) (Allunionskommunistische Partei (Bol’ševiki)) VMRO – V trešna Makedonska Revoljucionna Organizacija (Innere Makedonische Revolutionäre Organisation) VMU – Vytautas Magnus Universitetas (Vytautas Magnus Universität) vollst. – vollständig VSD – Valstyb s Saugumo departamentas (Abteilung für Staatssicherheit) YIVO – Institute for Jewish Research, New York zit. – zitiert ZLN – Zwi zek Ludowo-Narodowy (Volks-Nationaler Verband) z.T. – zum Teil ZZN – Zakon za zaš ita na nacijata (Gesetz zum Schutz der Nation)
Glossar Alijah – (hebr.) „Aufstieg, Aufruhr“; ursprünglich Bezeichnung für die Wallfahrt zum Tempel, seit Aufkommen des Zionismus als moderner politischer Bewegung steht der Begriff für die Einwanderung nach Erez Israel. Alliance Israélite Universelle – (AIU) internationale jüdische Hilfsorganisation; 1860 in Paris mit dem Ziel gegründet, eine Vereinigung der Juden der Welt zu bilden. Vorrangiges Ziel der AIU war der Kampf gegen den Antisemitismus, besonders gegen die Pogrombewegung in Osteuropa, und für die Emanzipation der Juden in einzelnen Ländern. Darüber hinaus leistete die AIU humanitäre Hilfe etwa in Fragen der Emigration und erwarb sich große Verdienste mit ihrer Erziehungsarbeit. Ansiedlungsrayon – (russ.) „ erta postojannoj evrejskoj osedlosti“; ein den Juden von 1791 an in Etappen zugewiesenes Gebiet im Russischen Reich, das sich über die westlichen (ehemals polnischen) und südwestlichen (neurussischen) Gouvernements erstreckte. Außerhalb des Ansiedlungsrayons, der bis 1915 bestand, genossen Juden keine Freizügigkeit. Artel’, Pl. arteli – (russ.) Zusammenschluß von zumeist gleichberechtigten ArbeiterProduzenten, teils auch von Handwerkern im zarischen Rußland, der nur noch in der Anfangsphase der Sowjetunion existierte Ashkenasim – von hebr. ashkenas (Enkel des Noach; seit dem Mittelalter in der Bedeutung „deutsch“), Selbstbezeichnung der europäischen Juden, die eine gemeinsame Sprache (Jiddisch) und Kultur verbindet, kulturelle und ethnische Unterscheidung von den sephardim machen diese beiden Hauptstränge des Diasporajudentums zu zwei voneinander abgrenzbaren Identitäten. Banschaft – territoriale Verwaltungseinheit in Jugoslawien Bednota – (russ.) „Armut“ Betar – (hebr.) rechte, revisionistische zionistische Organisation Bund – auch algemajner jidischer arbeter-bund fun Rusland, Pojln un Lite (jidd.) „Allgemeiner jüdischer Arbeiterbund in Rußland, Polen und Litauen“ entstand 1897 in Wilna und repräsentierte die jüdische Sozialdemokratie im Ansiedlungsrayon, bis zur Revolution von 1905/06 die mitgliederstärkste Partei im Russischen Reich. Parteien waren im Russischen Reich erst nach der Revolution von 1905/06 legal und existierten bis dahin nur im Untergrund. astniki – (russ.) Privathändler, -unternehmer etniks – (serb./kroat./bulg.) Mitglieder einer Freischar, entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Makedonien und Bulgarien im Kampf gegen die osmanische Herrschaft. Nach der Zerschlagung Jugoslawiens im April 1941 entstandene Bewegung unter Oberst Draža Mihailovi im Kampf gegen die Besatzer; eine sehr heterogene Bewegung, die von den kommunistischen Partisanen bekämpft wurde. Im kommunistischen Jugoslawien galten die etniks als Kriegsverbrecher und Kollaborateure. Nach dem Zerfall Jugoslawiens in Serbien rehabilitiert und teils kultisch verehrt. Chedarim – (hebr.) Lehrer am cheder Cheder – (hebr.) „Zimmer“; jüdische Elementarschule für Jungen (nur selten auch für Mädchen); hier lernten die Kinder Bibel-Hebräisch und studierten Torah und Talmud. istka, Pl. istki – (russ.) Säuberung, gemeint sind die „Parteisäuberungen“ vor allem in den späten 1930er Jahren in der Zeit des „Großen Terrors“.
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Džemijet – politische Partei der Kosovo-Albaner und Sandžak-Muslime im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Sie wurde 1919 gegründet und nahm an den Wahlen im Königreich Jugoslawien in den Jahren 1920 und 1923 teil. Eiserne Garde – Faschistische Bewegung in Rumänien, die 1927 von Corneliu Zelea Codreanu und wenigen Anhängern als ordensartige „Legion des Erzengels Michael“ ins Leben gerufen und ab 1930 zu einer auf Wahlkampf und Massenmobilisierung ausgerichteten Organisation ausgebaut wurde; ab Herbst 1933 in Eiserne Garde umbenannt, von September 1940 bis Januar 1941 war sie im sogenannten Nationallegionären Staat an der Regierungsmacht beteiligt. Endecja – (poln.) Narodowa Demokracja (Nationale Demokratie), eine polnische nationalkonservative Bewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts auf Initiative von Roman Dmowski entstand und bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges existierte. Nach dem Maiputsch von Marschall Józef Piłsudski 1926 von der regierenden Sanacja systematisch bekämpft. Grundsätzlich trat die Bewegung für einen Staat im Interesse der Polen ein und richtete sich gegen alle antinationalen und antichristlichen (antikatholischen) Weltanschauungen, politische und wirtschaftliche Unterdrückung nationaler Minderheiten, vor allem der Juden und Ukrainer. Erez Israel – (hebr.) „Land Israel“; biblische Bezeichnung für das den Juden verheißene Land und – vor der Gründung des Staates Israel – unter Juden gebräuchlich für das moderne Palästina. Evsekcija, Pl. Evsekcii – Evrejskaja sekcija (Jüdische Sektion). Jüdische Abteilung innerhalb der RKP(b) (Rossijskaja kommunisti eskaja partija bol’ševikov, Russische Kommunistische Partei der Bol’ševiki) bzw. VKP(b) (Vsesojuznaja kommunisti eskaja partija bol’ševikov, Kommunistische Allunionspartei der Bol’ševiki), existierte zwischen 1918 und 1930. Folkisten – Folki ci; eine gängige polnische Bezeichnung für die Mitglieder der 1917 in Polen gegründeten Jüdischen Volkspartei (Jidysze Folks-Partaj in Pojlen). Die Partei trat ein für eine kulturelle und nationale Autonomie der polnischen Juden sowie für die Anerkennung von Jiddisch als Mutter- und Staatssprache. GPU – Gosudarstvennoe Politi eskoe Upravlenie (Staatliche Politische Verwaltung) Bezeichnung für die Geheimpolizei in den 1920er Jahren, dann OGPU (Ob-edinennoe Gosudarstvennoe Politi eskoe Upravlenie, Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung), seit 1934 NKVD (Narodnyj Komissariat Vnutrennich Del, Volkskommissariat des Innern). Haredim – (hebr.) „Gottesfürchtige“; ultraorthodoxe Juden, Untergruppe der orthodoxen Juden, zu den haredim gehören sowohl hasidim als auch misnagdim, die sich von anderen Teilen der Orthodoxie dadurch unterscheiden, daß weltliches Wissen als unwesentlich angesehen wird. Hashomer hatzair – (hebr.) „Die Junge Garde“, zionistische Organisation mit sozialistischer Orientierung Hasidim – (hebr.) „Fromme“; Anhänger einer im 18. Jahrhundert in Osteuropa aufgekommenen mystischen Richtung des Judentums. HICEM – wurde 1927 durch den Zusammenschluß dreier jüdischer Organisationen für Flüchtlingshilfe HIAS (Hebrew Sheltering and Immigrant Aid Society) mit Sitz in New York, JCA (Jewish Colonization Association) aus Paris und „Emigdirekt“ aus Berlin gebildet. Der Name entstand durch die Verbindung der drei Abkürzungen. Hovevei Zion – (hebr.) „Freunde Zions“; Anhänger der Zionsidee in Osteuropa seit den Pogromen von 1881.
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Jishuv – (hebr.) „bewohntes Land“; die Gesamtheit der jüdischen Siedlungen und Einwohner in Palästina vom Beginn der zionistisch motivierten Einwanderung (um 1882) bis zur Gründung des Staates Israel Joint – American Jewish Joint Distribution Committee (JDC); ursprünglich gegründet 1914 zur Hilfe der Juden in Palästina während des Ersten Weltkrieges, weiteten sich die Hilfsprojekte des Joint danach immer mehr aus. Jom Kippur – (hebr.) „Versöhnungstag“; der wichtigste jüdische Feiertag im Jahr. Kahal, kehilla – (hebr.) „Versammlung“; jüdische Gemeinde, Gemeindevorstand (Pl. kehillot) Kassy – (russ.) Unterstützungskassen der jüdischen Bevölkerung zur Hilfe untereinander. Katastraljoch – österreichisches Feldmaß, in Ungarn gebräuchlich; 1 Katastraljoch = 5.755 m² Kulak – (russ.) wörtlich: die Faust; bezeichnete in den 1920er und 1930er Jahren polemisch die reichen und begüterten Bauern; wurde im Prozeß der Kollektivierung der Landwirtschaft am Ende der 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre zunehmend auf alle bäuerlichen „Feinde“ der Sowjetmacht angewandt. Ihr Besitz wurde enteignet, die Menschen zumeist ohne Hab und Gut vertrieben. Kustar’ – (russ.) „Heimarbeit“; die kustar’-Industrie war eine im vorrevolutionären Rußland verbreitete Form der vorindustriellen Produktfertigung in den bäuerlichen Haushalten, die sich im 19. Jahrhundert immer stärker zu einer tragenden Säule der Volkswirtschaft entwickelte und zur Zeit der N P erneut eine kurze Blütephase erlebte. Lišenec, Pl. lišency – (russ.) In der Sowjetunion der 1920er Jahre Menschen, denen ihre Bürgerrechte genommen worden waren. lit. – litauisch Ministerstvo na obštestvenite sgradi, p tištata i blagoustrojstvoto – (bulg.) „Ministerium für öffentliche Bauten, Straßen- und Städtebau“ Misnagdim – (hebr.) „Gegner“; ursprünglich Bezeichnung für die Gegner der hasidim. Die misnagdim vertraten unter den litauischen und weißrussischen Juden des 19. Jahrhunderts die dominante traditionelle rabbinische Orthodoxie. Mossad – Diese Organisation wurde bereits 1937 in Palästina gegründet, um auch mit sicherheits- und geheimdienstlichen Methoden die Überführung europäischer Juden nach Palästina zu ermöglichen. Nach der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 wurde der heutige Mossad (der Name bedeutet Institut für Nachrichtenwesen und besondere Aufgaben) im April 1951 unter der Federführung des damaligen Premierministers David Ben Gurion wiedergegründet. Na alnik, na al’nik – (bulg./russ.) „Leiter, Vorsteher“ Narodno S branie – (bulg.) „Nationalversammlung“ Novaja konomi eskaja politika – (N P) (russ.) „Neue ökonomische Politik“; von Lenin 1921 durchgesetzte wirtschaftspolitische Neuorientierung nach der Zeit des Kriegskommunismus durch eine Liberalisierung von Handel, Landwirtschaft und Industrie mit dem Ziel, Eigeninitiative und Gewinnstreben zu befördern, Marktstrukturen zuzulassen und auf diese Art zur Konsolidierung der am Boden liegenden Wirtschaft beizutragen. Ab 1928 setzte Stalin das Konzept der Planwirtschaft durch. Numerus clausus – (lat.) „begrenzte Zahl“; Beschränkung der Zulassung zum Universitätsstudium nach bestimmten Kriterien; in der Zwischenkriegszeit im östlichen Europa wurde vor allem der Zugang jüdischer Studierender zu den Hochschulen eingeschränkt bis hin zum numerus nullus, nach dem gar keine jüdischen Studierenden mehr aufgenommen wurden.
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Glossar
Obergespan – Gespan und Obergespan waren in Serbien, Kroatien und Ungarn die Vorsteher von Verwaltungseinheiten. Odino ki – (russ.) wörtlich: Einzelgänger. Menschen, die ohne Hilfe, ohne Kollektiv arbeiten. Otdel vremenna trudova povinnost – (bulg.) „Abteilung für den zeitweiligen Arbeitsdienst“ Otrijadi – (bulg.) „Züge oder Abteilungen“ Pengö – Ungarische Währungseinheit zwischen 1925 und 1946 zu 100 Fillér (Heller) Pesach – (hebr.) „Vorübergehen“; jüdischer Feiertag: jährliches feierliches Gedenken an den Auszug aus Ägypten. Rabkrin – (russ.) Abkürzung für Rabo e-krest’janskaja inspekcija, auch als RKI bezeichnet, Arbeiter- und Bauerninspektion, bestand von 1920 bis 1934 zur Bekämpfung der Bürokratisierung des Staatsapparates und der Einhaltung der Gesetze in der Verwaltung. Rosh-Hashana – (hebr.) „Kopf des Jahres“; das jüdische Neujahrsfest. Roti – (bulg.) „Kompanien“. Sanacja – (von lateinisch sanatio: Heilung) Bezeichnung für das Regierungslager in Polen unter Marschall Józef Piłsudski zwischen 1926 und 1939, abgeleitet von den Parolen des Maiputsches 1926, die zur moralischen Heilung der Gesellschaft aufriefen, verkörpert vor allem durch den „Parteilosen Block der Zusammenarbeit mit der Regierung“, bekämpfte den Kommunismus, propagierte einen autoritären Regierungsstil und suchte die Opposition durch Parteispaltungen zu schwächen. Sephardim – abgeleitet von der hebr. Bezeichnung für die Iberische Halbinsel, Selbstbezeichnung der Juden, deren Vorfahren bis zur Vertreibung 1492 in Spanien und Portugal ansässig gewesen waren und die eine gemeinsame Sprache (Ladino) und Kultur verbindet. Nach der Vertreibung ließ sich ein großer Teil der sephardim in Nordafrika oder Südosteuropa nieder, kulturelle und ethnische Unterschiede von den ashkenasim machen diese beiden Hauptstränge des Diasporajudentums zu zwei voneinander abgrenzbaren Identitäten. Shabbat – (hebr.) „Ruhepause“; wöchentlicher Ruhetag für die Juden, der vom Sonnenuntergang des Freitags bis zum Sonnenuntergang des Samstags andauert. Shavuot – (hebr.) „Wochen“; Bezeichnung für das jüdische Wochenfest, das sieben Wochen nach pesach in Erinnerung an den Empfang der Zehn Gebote am Berg Sinai gefeiert wird. Shtetl – jiddische Bezeichnung für eine kleine Stadt mit einem relativ hohen jüdischen Bevölkerungsanteil, Synonym für eine typische Lebenswelt der Juden in Osteuropa vor ihrer Vernichtung. Šiauli s junga – (lit.) „Schützenverein“; eine nationalistische, paramilitärische Organisation, die vor allem in der Zwischenkriegszeit von großer Bedeutung war, so beteiligte sich die Šiauli s junga erfolgreich an der Besetzung des Memellandes; neben der militärischen Bedeutung galt eine Mitgliedschaft im Šiauli s junga in der Zwischenkriegszeit als sehr prestigeträchtig. Sukkot – (hebr.) „Laubhüttenfest“; gilt als das größte Freudenfest im Jahresverlauf, erinnert an die Wanderung des Volkes Israel durch die Wüste. Tarbut – (hebr.) „Kultur“, mit dem Aufkommen des Zionismus als einer modernen jüdischen Nationalbewegung entstand ein Netz von hebräischsprachigen Schulen im ehemaligen Ansiedlungsrayon, die sog. tarbut-Schulen. Taryba – (lit.) „Zentraler Rat“; tagte von 1917 bis 1920 in Litauen, zunächst unter deutscher Besatzung und darüber hinaus mit dem Ziel, einen unabhängigen litauischen Staat ins Leben zu rufen.
Glossar
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Tehelet Lavan – (hebr.) auch „Blau-Weiße“, moderat linksorientierte und unter der Arbeiterjugend populäre zionistische Organisation Trudova družina – (bulg.) „Arbeitsbataillon“ ydokomuna – Judäokommune, ein polnischer Neologismus für den Mythos des „jüdischen Bolschewismus“, der in den 1920er Jahren entstand und im Bewußtsein der Polen fest verankert ist. In dieser Form wird die Bezeichnung in Polen in der Propaganda und vor allem in der politischen Agitation benutzt. Früher diente dieser Begriff der Bezeichnung von linken Gruppen und Parteien mit tatsächlichem oder vermeintlichem Übergewicht von Juden an den Parteispitzen oder als Synonym für kommunistische und sozialistische Funktionäre jüdischer Herkunft. Im heutigen Polen wird dieser Terminus von nationalistischen Parteien für die Bezeichnung liberaler Gruppierungen und Strömungen verwendet, die aus der ehemaligen kommunistischen Partei hervorgegangen sind.
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Autorinnen und Autoren Eglè Bendikaite, geboren 1976, Promotion 2004 in Kaunas mit einer Arbeit zum Thema: Idee und Politik des Zionismus in Litauen 1906-1940, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Litauischen Institut für Geschichte in Wilna, Litauen, und als Dozentin am Wilner Yiddisher Institut, Wilna; wichtigste Veröffentlichungen: Expressions of Litvak Pro-Lithuanian Political Orientation, ca. 1906 to ca. 1921, in: A. Nikžentaitis/S. Schreiner/D. Staliunas (Hg.), The Vanished World of Lithuanian Jews, Amsterdam/New York 2004; Nauja kolektyvinës tapatybës dimensija: sionistinis sàjûdis Lietuvoje XIX a. pab. – XX a. pr., in: Istorija 61, 2004; Sionistinis sàjûdis Lietuvoje, Wilna 2006. Dittmar Dahlmann, geboren 1949, Promotion 1983 in Düsseldorf mit einer Arbeit über agrarrevolutionäre Bewegungen im Vergleich, Habilitation 1994 in Freiburg über die Dumawahlen in Rußland 1906-1914, seit 1996 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn; zuletzt erschienen: Das Unternehmen Otto Wolff. Vom Alteisenhandel zum Weltkonzern (1904–1929), in: P. Danylow/U. Soénius (Hg.), Otto Wolff. Ein Unternehmen zwischen Wirtschaft und Politik, München 2005, S. 13-97; als Herausgeber: Schimanski, Kuzorra und andere. Polnische Einwanderer im Ruhrgebiet zwischen der Reichsgründung und dem Zweiten Weltkrieg, Essen 2005, 2. Aufl., 2006; poln. Fassung Thorn 2006; Überall ist der Ball rund. Zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa, Essen 2006; Unfreiwilliger Aufbruch. Migration und Revolution von der Französischen Revolution bis zum Prager Frühling, Essen 2007. Klaus-Peter Friedrich, geboren 1960, Promotion 2003 in Köln mit einer Arbeit zum Thema: Der nationalsozialistische Judenmord in polnischen Augen: Einstellungen in der polnischen Presse 1942-1946/47, seit 2005 Mitarbeiter des Editionsprojektes „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945“ (vgl. www.edition-judenverfolgung.de); wichtigste Veröffentlichungen: Collaboration in a „Land without a Quisling”: Patterns of Cooperation with the Nazi German Occupation Regime in Poland during World War II, in: Slavic Review 64, 2005, S. 711-746; The Murder of the Jews by the Nazis as Perceived in the Polish Press, 1942-1947, in: Yad Vashem Studies 34, 2006, S. 125176; Der nationalsozialistische Judenmord und das polnisch-jüdische Verhältnis im Diskurs der polnischen Untergrundpresse (1942-1944), Marburg 2006. Anke Hilbrenner, geboren 1972, Promotion 2003 in Bonn mit einer Arbeit zum historischen Werk Simon Dubnows, arbeitet als wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn; zuletzt erschienen: Orte des jüdischen St. Petersburg, in: K. Schlögel/F. Schenk/M. Ackeret (Hg.), Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte, Frankfurt/Main 2007, S. 77-93; Diaspora-Nationalismus. Zur Geschichtskonstruktion Simon Dubnows, Göttingen 2007; als Herausgeberin: Überall ist der Ball rund. Zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa, Essen 2006. Jens Hoppe, geboren 1970, Promotion 2001 in Münster mit einer Arbeit über nichtjüdische Museologie des Jüdischen in Deutschland, arbeitet als Historiker bei
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Autorinnen und Autoren
der Conference on Jewish Material Claims against Germany, Office for Germany, Frankfurt/M.; Veröffentlichungen: Jüdische Geschichte und Kultur in Museen. Zur nichtjüdischen Museologie des Jüdischen in Deutschland, Münster/New York/München/Berlin 2002; Raub oder Rettung? Historische Museen in Deutschland und die Aneignung von Judaica in der NS-Zeit, in: Sabine Mecking/Stefan Schröder (Hg.), Kontrapunkt. Vergangenheitsdiskurse und Gegenwartsverständnis. Festschrift für Wolfgang Jacobmeyer zum 65. Geburtstag, Essen 2005, S. 347-361; Zwangsarbeit von Juden in Bulgarien während des Zweiten Weltkriegs. Die jüdischen Arbeitsbataillone 1941-1944, in: Südost-Forschungen 63/64, 2004/5 (im Druck). Albert S. Kotowski, geboren 1949, 1981 Promotion in Posen mit einer Arbeit über das deutsche Theater in Posen und Pommerellen 1918-1939, 1996 Habilitation in Freiburg über Polens Politik gegenüber seiner deutschen Minderheit in der Zwischenkriegszeit, seit 2003 Professor an der Abteilung für Osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn; zuletzt erschienen: Polen in Deutschland. Religiöse Symbolik als Mittel der nationalen Selbstbehauptung (1870-1918), in: Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hg.), Nation und Religion in Europa. Mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M./New York 2004, S. 253-279; Polens Politik gegenüber seiner deutschen Minderheit 1918-1939, Thorn 2002; Hitlers Bewegung im Urteil der polnischen Nationaldemokratie, Wiesbaden 2000; als Herausgeber: Schimanski, Kuzorra und andere. Polnische Einwanderer im Ruhrgebiet zwischen der Reichsgründung und dem Zweiten Weltkrieg, Essen 2005, 2. Aufl. 2006; poln. Fassung Thorn 2006. Albert Lichtblau, geboren 1954, Promotion 1980 in Wien mit einer Arbeit zur Wiener Wohnungspolitik in den Jahren 1892 bis 1918, Habilitation an der Universität Salzburg 1994 zum Thema „Antisemitismus und soziale Spannung in Berlin und Wien 1867-1914“, ao. Univ. Prof. am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg und stellvertretender Leiter des Zentrums für jüdische Kulturgeschichte der Universität Salzburg; zuletzt erschienen: zusammen mit Ingrid Bauer/Helga Embacher/Ernst Hanisch/Gerald Sprengnagel (Hg.), Kommunikation, Kultur & Macht. Sechster österreichischer Zeitgeschichtetag 2003, Innsbruck u.a. 2004; zusammen mit Eveline Brugger/Martha Keil/Christoph Lind/Barbara Staudinger, Geschichte der Juden in Österreich, Wien 2006; Ursprung und Transformation. Leben und Werk der Malerin Charlotte Lichtblau/Origin & Transformation. Life and Art of the Painter Charlotte Lichtblau, Graz 2005; „Salzburg“, in: Historikerkommission (Hg.), „Arisierungen“, beschlagnahmte Vermögen, Rückstellungen und Entschädigungen in Salzburg, Wien/München 2004. Heinz-Dietrich Löwe, geboren 1944, Promotion 1976 in Freiburg mit einer Arbeit über Antisemitismus im zarischen Rußland, Habilitation 1986 in Freiburg über die Lage der Bauern in Rußland 1860-1910, Fellow des Oxford Centre for Postgraduate Hebrew Studies und Research Fellow des Wolfson College (1987-1990), Faculty Lecturer und Fellow des St. Antony’s College (1990-1992), seit 1992 Ordinarius für Osteuropäische Geschichte an der Universität Heidelberg, Direktor des dortigen Seminars für Osteuropäische Geschichte und Wissenschaftlicher Direktor des AnInstituts für Siebenbürgische Landeskunde an der Universität Heidelberg; wichtigste Veröffentlichungen: mehrere Beiträge zum Handbuch der Geschichte Rußlands; Antisemitismus und reaktionäre Utopie. Russischer Konservatismus im Kampf gegen den Wandel von Staat und Gesellschaft, 1890-1917, Hamburg 1978; Die Lage
Autorinnen und Autoren
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der Bauern in Rußland, 1880-1905. Wirtschaftliche und soziale Veränderungen in der ländlichen Gesellschaft des Zarenreiches, St. Katharinen 1987; The Tsars and the Jews. Reform, Reaction and Anti-Semitism in Imperial Russia 1772-1917. Chur 1993; Stalin. Der entfesselte Revolutionär, Göttingen 2002; als Herausgeber: Volksaufstände in Rußland. Von der Zeit der Wirren bis zur „Grünen Revolution“ gegen die Sowjetherrschaft, Wiesbaden 2006. Ezra Mendelsohn, geboren 1940, Promotion 1966 an der Columbia University, N.Y. mit der Arbeit: Class Struggle in the Pale; Professor Emeritus am Institute of Contemporary Jewry, Hebrew University, Jerusalem; wichtigste Veröffentlichungen: Class Struggle in the Pale. The Formative Years of the Jewish Labor Movement in Russia, Cambridge 1970, On Modern Jewish Politics, Oxford 1991; The Jews of East Central Europe Between the World Wars, Bloomington1982; To Paint a People. Maurycy Gottlieb and Jewish Art, Hanover 2002 (hebräische Ausgabe 2005). Dietmar Müller, geboren 1969, Promotion 2004 in Berlin mit einer Arbeit zum Thema: Juden und Muslime im rumänischen und serbischen Nationscode, arbeitet als wissenschaflicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig an der Durchführung und Koordination des von der VolkswagenStiftung geförderten Projektes: Bodenrecht, Kataster und Grundbuchwesen im östlichen Europa 1918-1945-1989. Polen, Rumänien und Jugoslawien im Vergleich; wichtigste Veröffentlichungen: Staatsbürger auf Widerruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzeptionen, 1878-1941, Wiesbaden 2005; Agrarpopulismus in Rumänien. Programmatik und Regierungspraxis der Bauernpartei und der Nationalbäuerlichen Partei Rumäniens in der Zwischenkriegszeit, St. Augustin 2001; Southeastern Europe as a Historical Meso-Region: Constructing Space in 20th Century German Historiography, in: European Review of History 10, 2003, S. 393–408; Demokratie ganz unten. Die Rumänisierung der kommunalen Ebene Siebenbürgens in der Zwischenkriegszeit, in: Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas 6, 2004, S. 65-86. Milan Ristovi , geboren 1953, Promotion 1991 in Belgrad mit einer Arbeit zum Thema: Die deutsche „neue Ordnung“ und Südosteuropa, arbeitet als Professor und Leiter des Lehrstuhls für Neuere Geschichte an der Philosophischen Fakultät in Belgrad; wichtigste Veröffentlichungen: Nema ki „novi poredak“ i Jugoisto na Evropa 1940/41-1944/45. Planovi o budu nosti i praksa, Belgrad 1991. (2. Aufl. 2005); U potraži za utocištem. Jugoslovenski Jevreji u bekstvu od holokausta 19411945, Službeni list SRJ, Belgrad 1998; A Long Journey Home. Greek Refugee Children in Yugoslavia 1948-1960, Saloniki 2000; Crni Petar i balkanski razbojnici. Balkan i Srbija u nema kim satiri nim asopisima – Black Peter and the Balkan Brigands. The Balkans and Serbia in German Satirical Magazines 1903/1918, Belgrad 2003. Martin Schulze Wessel, geboren 1962, Promotion 1994 an der FU Berlin mit einer Arbeit über die Geschichte der Preußenpolitik und öffentlichen Preußenrezeption in Rußland bzw. der Sowjetunion zwischen 1697 und 1947, Habilitation 2001 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zum Thema: Revolution und religiöser Dissens. Der römisch-katholische und russisch-orthodoxe Klerus als Träger
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religiösen Wandels in den böhmischen Ländern und der Habsburgermonarchie bzw. in Rußland 1848-1922, seit dem Sommersemester 2003 Professor für Geschichte Osteuropas an der Ludwigs-Maximilians-Universität München und Leiter des Collegium Carolinum, Forschungsstelle für die böhmischen Länder, München; zuletzt erschienen: Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert, hg. zusammen mit Jörg Requate, Frankfurt/M. 2002; Loyalitäten in der Tschechoslowakischen Republik. Politische, nationale und kulturelle Zugehörigkeiten, München 2004; Die Deutschen Christen im Nationalsozialismus und die Lebendige Kirche im Bolschewismus – zwei kirchliche Repräsentationen neuer politischer Ordnungen, in: Journal of Modern European History 3, 2005, S. 147-163; Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation in Ostmittel-, Südost- und Osteuropa im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006. Kristina Tomovska, geboren 1974, Sudium in Skopje und Athen, erlangte ihren MA (Master of Arts) 2000 mit einer Arbeit zum Thema: Die mazedonische Regionalpolitik als Faktor der europäischen Integration, seit 2003 Doktorandin am Institut für Jüdische Studien, Universität Basel mit einer Arbeit zum Thema: Die sephardischen Juden in Makedonien in der Zwischenkriegszeit 1918-1941. Eine Fallstudie zum Übergang ethnischer Gemeinschaften von einem vormodernen transnationalen Imperium zu einem neuen Nationalstaat. Krisztián Ungváry, geboren 1969, Promotion 1998 mit einer Arbeit zum Thema: Die Belagerung Budapests, arbeitet als Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für die Erforschung der ungarischen Revolution 1956; wichtigste Veröffentlichungen: A magyar honvédség a második világháborúban, Budapest 2005; A második világháború. Quellenedition, Budapest 2005; Echte Bilder – problematische Aussagen. Eine quantitative und qualitative Fotoanalyse der Ausstellung „Vernichtungkrieg, Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 10, 1999, S. 584-595; Die Schlacht um Budapest, 4. Aufl., München 2005.